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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist unbegründet. Aus der Antragsbegründung, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht dem Antrag hätte stattgeben müssen.
3Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe keinen Anspruch darauf, die mit Wirkung vom 1. Juli 2020 in Kraft getretene Änderung der Geschäftsverteilung aufzuheben und ihm die Zustellungen nach Dienstregister I gegenüber der VR-Bank S. -T1. e. G. und dem Finanzamt T. zu belassen. Er sei als Obergerichtsvollzieher Beamter im Dienst des Antragsgegners. Ein Beamter habe keinen Anspruch auf unveränderte und ungeschmälerte Ausübung des ihm übertragenen konkret-funktionellen Amtes (Dienstpostens). Der Dienstherr könne aus jedem sachlichen Grund den Aufgabenbereich des Beamten verändern, solange dem Beamten ein seinem statusrechtlichen Amt angemessener Aufgabenbereich verbleibe und kein Ermessensmissbrauch vorliege. Bei der Entscheidung über die Änderung des Aufgabenbereiches des Beamten sei dem Dienstherrn kraft seiner Organisationsgewalt ein weit gespanntes Ermessen eingeräumt, das gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sei.
4Gemessen an diesen Grundsätzen begegne die Änderung der Geschäftsverteilung mit Wirkung zum 1. Juli 2020 keinen rechtlichen Bedenken. Dem Antragsteller verbleibe auch nach Änderung der Geschäftsverteilung ein seinem statusrechtlichen Amt eines Obergerichtsvollziehers entsprechender Aufgabenbereich. Er sei weiterhin als Gerichtsvollzieher sowohl für Zustellungsaufträge (Dienstregister I) als auch für Vollstreckungssachen (Dienstregister II) zuständig. Zum Ausgleich einer unterdurchschnittlichen Belastung und für den Wegfall von Zustellungsaufträgen solle seine örtliche Zuständigkeit erweitert werden.
5Ein Ermessensmissbrauch des Antragsgegners liege nicht vor. Dieser habe für die geänderte Geschäftsverteilung einen sachlichen Grund angegeben. Er habe mitgeteilt, dass aufgrund der zu vereinnahmenden Gebühren und Auslagen bei einer größeren Anzahl von Zustellungsaufträgen gegenüber Großdrittschuldnern wie Banken und Finanzämtern in einem Gerichtsvollzieherbezirk eine Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Arbeitsbelastung und dem Gebührenaufkommen eines Gerichtsvollziehers bestehe. Da der ursprüngliche Bezirk des Antragstellers den Sitz der Kreissparkasse L. , der VR-Bank S. -T1. e. G. und des Finanzamts T. umfasst habe, habe bei dem Antragsteller eine besonders günstige Einnahmesituation vorgelegen. So habe er im Jahr 2015 50.624 €, im Jahr 2016 59.996 € und im Jahr 2017 61.632 € Gebührenanteile erwirtschaftet, während der durchschnittliche Gebührenanteil je Gerichtsvollzieher 2015 bei 36.565 €, 2016 bei 30.500 € und 2017 bei 33.911 € gelegen habe. Eine erhöhte Arbeitsbelastung des Antragstellers habe hingegen nicht vorgelegen. In der Folge sei es zu Beschwerden anderer Gerichtsvollzieher gekommen. Daraufhin sei zur Erreichung einer einvernehmlichen Lösung ein Mediationsverfahren durchgeführt worden. Das Ergebnis dieses Mediationsverfahrens sei in der Rahmenvereinbarung vom 28. März 2018 festgehalten worden. Diese sehe eine Übertragung der Zuständigkeit für Zustellungsaufträge an die Kreissparkasse L. ab dem 1. April 2018 und an die VR-Bank S. -T1. e. G. und das Finanzamt T. ab dem 1. Juli 2020 in einen Zustellungspool vor, aus dem diese im wöchentlichen Wechsel unter allen interessierten Gerichtsvollziehern verteilt würden. Der Antragsteller habe die Rahmenvereinbarung unterzeichnet. Der Geschäftsverteilungsplan sei sodann entsprechend der Vereinbarung zunächst mit Wirkung zum 1. April 2018 und dann erneut zum 1. Juli 2020 geändert worden.
6Der Antragsteller habe selbst nicht geltend gemacht, dass der vom Antragsgegner geltend gemachte Grund lediglich vorgeschoben sei. Er habe vielmehr eingewandt, dass den zusätzlichen Einnahmen auch Ausgaben gegenüber gestanden hätten und er bereits seit der ersten Änderung der Geschäftsverteilung mit Wirkung zum 1. April 2018 geringere Gebührenanteile als andere Kollegen erwirtschafte. Dies stehe aber einer im Ermessen des Dienstherrn liegenden Änderung der Geschäftsverteilung nicht entgegen. Ein Anspruch auf ein Gebührenaufkommen in bestimmter oder auch nur durchschnittlicher Höhe bestehe nicht. Aus einem langjährig erwirtschafteten überdurchschnittlichen Gebührenanteil folge kein Anspruch für die Zukunft. Der Antragsgegner habe die Änderung der Geschäftsverteilung außerdem nicht lediglich mit dem hohen Gebührenaufkommen des Antragstellers, sondern auch mit der Umsetzung der unter Mitwirkung des Antragstellers abgeschlossenen Vereinbarung und dessen geringer tatsächlicher Arbeitsbelastung begründet.
7Er habe die Interessen des Antragstellers bei seiner Entscheidung hinreichend berücksichtigt. Die Entscheidung sei das Ergebnis eines Mediationsprozesses, an dem der Antragsteller selbst beteiligt gewesen sei. Er habe der geplanten Änderung der Geschäftsverteilung durch Unterzeichnung der Rahmenvereinbarung vom 28. März 2018 ausdrücklich zugestimmt. Auf die Teilnahme an der turnusmäßigen Verteilung der Zustellungsaufträge an die drei Großschuldner habe der Antragsteller verzichtet, obwohl ihm diese nach Auskunft des Antragsgegners angeboten worden sei. Insofern erscheine die Berufung des Antragstellers auf finanzielle Einbußen letztlich auch treuwidrig.
8Die Änderung der Geschäftsverteilung sei auch nicht deshalb willkürlich, weil sie den Regelungen in § 10 GVO widerspreche. Der Verstoß gegen die Regelung führe schon nicht zu einer Verletzung der Rechte des Antragstellers. Im Übrigen sei ein Verstoß gegen § 10 Abs. 1 GVO auch nicht gegeben, insbesondere liege die gemäß § 10 Abs.1 Satz 4 GVO NRW erforderliche Genehmigung des Präsidenten des Landgerichts Bonn vor.
9Diese Erwägungen zieht die Beschwerde nicht durchgreifend in Zweifel.
10Der Antragsteller macht vergeblich geltend, das Verwaltungsgericht habe "die Diskrepanz zwischen Arbeitsbelastung und erwirtschafteten Gebühren falsch eingeschätzt bzw. gänzlich unberücksichtigt gelassen". Das Vorbringen führt schon deshalb nicht zum Erfolg der Beschwerde, weil diese die insoweit selbständig tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts, die Berufung des Antragstellers auf finanzielle Einbußen erscheine angesichts seiner Zustimmung im Mediationsverfahren letztlich auch treuwidrig, nicht angreift. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, inwieweit es den Antragsteller in seinen Rechten verletzten könnte, wenn die Neuverteilung der Geschäfte bei ihm zu geringeren oder gar keinen finanziellen Einbußen führt, weil - so die Beschwerde - seine Personalkosten so hoch gelegen haben, dass "keine günstige", sondern "eher eine schlechtere Einnahmesituation" vorgelegen habe, was er in Kauf genommen habe, um trotzdem den ordentlichen Geschäftsablauf in seinem Gerichtsvollzieherbüro zu gewährleisten.
11Das Vorbringen, es sei für den Antragsteller "problematisch, wenn er nach § 33 GVO verpflichtet wird, Bürokräfte einzustellen und dann entgegen § 10 GVO 'Wegnahme von Aufträgen' die Bürokräfte wieder entlassen muss", ist schon nicht verständlich. In § 10 GVO findet sich die Wendung 'Wegnahme von Aufträgen' nicht. Mit der hier vorgenommenen Neuverteilung der Geschäfte ist im Übrigen ersichtlich beabsichtigt, der Vorgabe des § 10 Abs. 1 Satz 2 GVO gerecht zu werden, wonach eine gleichmäßige Verteilung der Geschäfte erfolgen soll. Dass bei einer Neuverteilung mit diesem Ziel bei einzelnen Gerichtsvollziehern ein organisatorischer Anpassungsbedarf entstehen kann, steht dieser nicht grundsätzlich entgegen.
12Der Antragsteller beanstandet ferner vergeblich einen Verstoß gegen § 10 GVO. Die Beschwerde verhält sich wiederum schon in keiner Weise zu der insoweit selbständig tragenden Erwägung des Verwaltungsgerichts, wonach er sich darauf nicht berufen kann. Abgesehen davon setzt sie sich mit den ins Einzelne gehenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts dazu, dass den Vorgaben des § 10 GVO überdies entsprochen sei, nicht substantiiert auseinander. Der Vortrag, die "Verteilung der DR I Aufträge Geschäftsverteilung" werde "ausschließlich von der Pool Gruppe vorgenommen", bleibt - soweit überhaupt verständlich - ohne jede Substanz.
13Inwieweit es für den Streitfall von Belang sein sollte, dass der Direktor des Amtsgerichts - im Übrigen zugunsten des Antragstellers - die Vereinbarung gebrochen haben soll, indem er dem Antragsteller weitere "DR II Sachen Vollstreckungsaufträge nach Abnahme der VR Bank und Finanzamt T. übertragen" hat, ist weder dargelegt noch sonst erkennbar.
14Ebenso wenig legt die Beschwerde den Erfordernissen nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechend dar, welche Relevanz für die Entscheidung des Streitfalls dem Umstand zukommen soll, dass die "Großdrittschuldner" nicht zahlenmäßig festgelegt seien.
15Schließlich stellt es die Feststellung des Verwaltungsgerichts, es bestehe kein Anspruch auf ein Gebührenaufkommen in bestimmter oder auch nur durchschnittlicher Höhe, ersichtlich nicht in Frage, dass - so die Beschwerde - die anderen Gerichtsvollzieher, die sich am Pool beteiligen, geltend gemacht hätten, aufgrund des angeblich überdurchschnittlichen Gebührenaufkommens des Antragstellers benachteiligt zu sein. Zur Überprüfung steht im Streitfall nicht ein Anspruch anderer Gerichtsvollzieher, sondern die (beanstandungsfreie) Ermessensausübung des Antragsgegners.
16Die Frage, ob der für den Erfolg des Antrags erforderliche Anordnungsgrund anzunehmen ist, kann vor diesem Hintergrund auf sich beruhen. Mit dem Vortrag, es habe (gemeint wohl: vor der Neuverteilung der Geschäfte) "keine günstige", sondern "eher eine schlechtere Einnahmesituation" vorgelegen, stellt der Antragsteller diesen allerdings selbst in Abrede.
17Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG.
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 19. Mai 2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg – Einzelrichter der 15. Kammer – wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
Gründe
1
Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg zuzulassen, mit dem dieses seine auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote gerichtete Klage abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.
2
Der von dem Kläger, einem arabischen Volkszugehörigen sunnitischen Glaubens aus Mossul, allein geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist nicht hinreichend dargelegt worden bzw. liegt nicht vor.
3
Eine Rechtssache ist grundsätzlich bedeutsam i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn sie eine höchstrichterlich oder – soweit es eine Tatsachenfrage betrifft – obergerichtlich noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsfähig wäre und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.
4
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt dementsprechend, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage bezeichnet und erläutert wird, weshalb sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und – im Fall einer Tatsachenfrage – welche (neueren) Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur die Senatsbeschlüsse vom 4.3.2019 – 9 LA 189/19 –; vom 31.1.2019 – 9 LA 126/19 –; vom 15.1.2019 – 9 LA 107/19 –; vom 8.1.2019 – 9 LA 97/19 – m. w. N.). Die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage setzt eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus. Es reicht nicht, wenn der Zulassungsantragsteller sich lediglich gegen die Würdigung seines Vorbringens durch das Verwaltungsgericht wendet und eine bloße Neubewertung der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel verlangt (hierzu Senatsbeschluss vom 3.1.2018 – 9 LA 163/17 –).
5
Gemessen hieran ist die Berufung nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
6
Der Kläger hält zum einen folgende Frage für klärungsbedürftig:
7
„Ist die Gefahr für irakische Staatsangehörige mit sunnitischem Glauben einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich gestützte Rechtsgüter derartig vorhanden, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, so dass für diese eine Gruppenverfolgung angenommen werden kann?“
8
Das Verwaltungsgericht hat sich für die Begründung seiner Auffassung, der Kläger sei im Irak als Sunnit keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt, auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Januar 2018 (– 20 ZB 17.30839 – juris Rn. 10) bezogen, wonach für die Annahme einer Gruppenverfolgung gegenüber den Sunniten im Irak „nicht annähernd ausreichende Hinweise“ sprächen. Erkenntnisse, die zu einer Neubewertung des Sachverhalts zwingen könnten, hat der Kläger nicht benannt. Er bezieht sich zur Darlegung eines Zulassungsgrundes auf den Überfall des sog. IS auf Mossul im Jahr 2014, auf Berichte des UNHCR aus Mai und November 2016 sowie auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 22. November 2017 (– 25 K 3.17 A – juris) und somit allein auf Erkenntnisquellen, die bei Erlass des von dem Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bereits vorlagen. Eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung unterbleibt zudem. Den vorstehend wiedergegebenen Vorgaben des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügt der Kläger damit nicht.
9
Im Übrigen teilt der Senat die Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, dass irakische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens aktuell im Irak nicht mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit einer (Gruppen-)Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG rechnen müssen (Senatsbeschluss vom 11.9.2020 – 9 LA 447/19 –). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat hierzu in seinem Beschluss vom 29. April 2020 (– 5 ZB 20.30994 – juris Rn. 4 und 5) Folgendes ausgeführt:
10
„Die Frage ist – auch wenn sich nach Berichten von internationalen Organisationen und Medien die Verhältnisse im Irak insbesondere durch das Zurückdrängen des sog. „IS“ auch mit Hilfe schiitischer Milizen und durch die „Verfolgung“ von IS-Kämpfern und IS-Anhängern oder auch entsprechender Verdachtspersonen geändert haben – nach wie vor zu verneinen (vgl. auch VGH BW, U. v. 5.3.2020 – A 10 S 1272/17 – juris Rn. 24 ff. zu einem sunnitischen Kurden). Insbesondere weisen die Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht auf. Auch kann der Versuch, (ehemalige) IS-Kämpfer und IS-Anhänger aufzuspüren und ihrer habhaft zu werden, nicht ohne weiteres mit einer Verfolgung von Sunniten wegen ihres Glaubens gleichgesetzt werden, auch wenn diese in der Regel sunnitische Glaubensangehörige sind.
11
Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAS 2009, 173; U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVwerGE 126, 243). Auch unter Berücksichtigung der von den Klägern in der Zulassungsbegründung geschilderten Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, und der dort genannten Zahlen von zum Tode verurteilten und getöteten Sunniten ist eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte von Sunniten im Irak nicht zu erkennen. Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Das gilt auch, wenn man nur die Zahl der arabischen (unter Ausschluss der kurdischen) Sunniten betrachtet. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65 Prozent aus arabischen Schiiten, zu 17 bis 22 Prozent aus arabischen Sunniten und zu 15 bis 20 Prozent aus (überwiegend sunnitischen) Kurden zusammen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 12.1.2019, S. 6; vgl. auch Lagebericht vom 2.3.2020 S. 7 f.). Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 38 Mio. Einwohnern (vgl. www.auswaertiges-amt.de – Länderinfos Stand Mai 2019) würde das bedeuten, dass über 6 bis 8 Mio. arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es trotz der Bekämpfung des „IS“ und trotz der teilweise erhebliche Spannungen entlang der Konfessionslinien innerhalb der irakischen Bevölkerung, die in Einzelfällen auch zu Bedrohungen, Verletzungen und Todesfällen allein aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit, insbesondere der zum sunnitischen Islam, geführt haben, keine ausreichenden Hinweise. Ein flächendeckendes Vorgehen gegen Sunniten ist nicht erkennbar.“
12
Der Kläger wirft darüber hinaus folgende aus seiner Sicht grundsätzlich bedeutsame tatsächliche Frage auf:
13
„Hat sich die aktuelle Sicherheitslage im Irak nach der Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani bei einem US-Luftangriff in Bagdad am 03.01.2020 und iranischer Angriffe auf mehrere Militärstützpunkte in Zentral-Irak und Erbil derartig verschärft, dass im Irak für die dort lebenden Menschen – und so auch dem Kläger – eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen anzunehmen ist?“
14
Mit dieser Frage und den Darlegungen zu ihrer Begründung wendet sich der Kläger allein gegen die erstinstanzlichen Ausführungen, wonach die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht vorlägen, weil für den Mossul-Distrikt, der Herkunftsregion des Klägers, ein internationaler oder innerstaatlicher Konflikt nicht anzunehmen sei (S. 28 des Urteilsabdrucks).
15
Soweit der Kläger zur Begründung seiner aufgeworfenen Frage hiergegen einwendet, der Irak drohe im Konflikt zwischen den USA und dem Iran zwischen die Fronten zu geraten, der Tötung General Soleimanis seien mehrere Auseinandersetzungen zwischen US-Truppen und schiitischen Gruppierungen sowie ein gewaltsamer Protest vor der US-Botschaft in Bagdad vorausgegangen, die Bundesregierung prüfe nach den iranischen Angriffen auf US-Stützpunkte im Irak einen Teilrückzug der im nordirakischen Erbil stationierten Bundeswehrsoldaten und es habe am 8. Januar 2020 in der hochgesicherten sog. grünen Zone in Bagdad erneut Raketenangriffe gegeben, fehlt es bereits an dem für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblichen Bezug auf die über 400 km nördlich von Bagdad gelegene Heimatregion des Klägers in Mossul. Der Kläger legt auch nicht dar, welche Auswirkungen die geschilderten Vorfälle auf das vom Verwaltungsgericht verneinte Vorliegen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts haben sollen und warum sich deshalb die Sicherheitslage in einer solchen Weise verschärft haben soll, dass eine andere Beurteilung erforderlich sei. Hierfür reicht es jedenfalls nicht aus, dass die Lage im Irak nach Auffassung des Klägers aufgrund der geschilderten Vorfälle sehr angespannt und keinesfalls als sicher zu bezeichnen sei.
16
Im Übrigen steht der Einschätzung des Klägers auch die aktuelle Rechtsprechung anderer Gerichte zur Bewertung der Gefahrendichte für die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG entgegen. So hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Beschluss vom 11. März 2020 ausgeführt (– 9 A 278/18.A – juris Rn. 16), dass mit Blick auf die jüngsten politischen Spannungen nach der Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani durch die USA am 3. Januar 2020 in Bezug auf die Beurteilung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für die Situation in Bagdad nach dem dortigen grundlegenden Urteil vom 28. August 2019 (– 9 A 4590/18a – juris) kein aktueller Klärungsbedarf bestehe. Die Entwicklung sei besorgniserregend und bedürfe weiterer Beobachtung. Bislang habe die dadurch ausgelöste Diskussion über den Abzug ausländischer Soldaten aus dem Irak aber nicht zu einem erneuten Erstarken des IS oder anderer militärischer Einheiten und damit einhergehend zu einem relevanten Anstieg willkürlicher Gewalt gegen unbeteiligte Zivilpersonen geführt. Die Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und dem Iran betreffe im Irak (bislang) ausschließlich militärische Stützpunkte. An dieser Auffassung hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 29. September 2020 (– 9 A 480/19.A – juris Rn. 26 ff.) festgehalten. Der Kläger benennt im Zulassungsverfahren keine Erkenntnismittel, aus denen sich hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben könnten, dass eine andere Beurteilung der tatsächlichen Lage für die Zivilbevölkerung in der Heimatregion des Klägers geboten wäre.
17
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
18
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Stade – Einzelrichter der 3. Kammer – wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
Gründe
1
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade, mit dem dieses seine Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf Zuerkennung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.
2
Der Kläger hat den allein geltend gemachten Zulassungsgrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 5 VwGO) nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt.
3
Gemäß § 55 VwGO i. V. m. § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG ist die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht öffentlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine Verhandlung öffentlich, wenn sie in Räumen stattfindet, die während der Dauer der Verhandlung grundsätzlich jedermann zugänglich sind (siehe nur BVerwG, Beschluss vom 20.7.2016 – 8 B 1.15 – juris Rn. 12). Der Kläger meint, dieser Grundsatz sei vorliegend verletzt worden, da das Verwaltungsgericht im Vorfeld der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen habe, es sei angewiesen, die Kontaktdaten der Gerichtsbesucher aus Gründen des Infektionsschutzes zu erfassen. Dies und die Umsetzung dieser Praxis seien geeignet gewesen, potentielle Zuhörer von dem Besuch einer mündlichen Verhandlung abzuhalten. Es könne „verfassungsrechtlich geschützte Bedürfnisse von Personen geben, bei einem Termin zuhören zu wollen, aber nicht angeben zu wollen, wer sie sind und wo sie wohnen.“ Die derzeitige Corona-Pandemie könne diese Maßnahme nicht rechtfertigen. Sie sei auch durch die niedersächsischen Corona-Verordnungen nicht gedeckt.
4
Mit diesem Vorbringen dringt der Kläger, der einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gerügt hat (§ 173 VwGO i. V. m. § 295 Abs. 1 ZPO; vgl. zur Rügenotwendigkeit etwa OVG Berl.-Bbg., Beschluss vom 26.3.2010 – OVG 3 N 33.10 – juris Rn. 4), nicht durch.
5
Soweit er auf Regelungen der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblichen Niedersächsischen Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vom 8. Mai 2020 (GVBl. S. 97) Bezug nimmt, ist dem Kläger zwar darin zuzustimmen, dass diese den Gerichten keine Pflicht zur Erfassung der Kontaktdaten ihrer Besucher auferlegt. Nach § 3 Nr. 15 der Verordnung ist der Besuch von Gerichten unter den Voraussetzungen des § 2 – zu denen die Erfassung von Kontaktdaten nicht zählt – ausdrücklich zulässig. Dies schließt eine solche Erfassung jedoch – anders als der Kläger meint – nicht aus. § 11 der Verordnung erlaubt es den örtlich zuständigen Behörden, weitergehende Anordnungen zu treffen, soweit es im Interesse des Gesundheitsschutzes zwingend erforderlich ist und den sonstigen Regelungen der Verordnung nicht widerspricht. Der Kläger hat weder nachvollziehbar dargelegt noch ist es sonst offensichtlich, dass die Erfassung von Kontaktdaten in weiteren als in der Verordnung bereits vorgesehenen Bereichen mit den Regelungen dieser Verordnung nicht in Einklang zu bringen wäre. Hiergegen spricht vor allem, dass die Gerichte kraft ihres Hausrechts gemäß § 16 des Niedersächsischen Justizgesetzes ohnehin die Befugnis besitzen, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der (auch gesundheitlichen) Sicherheit im Dienstgebäude zu treffen (vgl. für die vergleichbare Rechtslage in Schleswig-Holstein OVG SH, Beschluss vom 22.7.2020 – 5 LA 223/20 – juris Rn. 20). Dass auch Gerichte zur Erfassung der Kontaktdaten befugt sind, ist in § 5 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 vom 7. Oktober 2020 (GVBl. S. 346) klargestellt worden. Die Regelung befindet sich inhaltsgleich auch in § 5 Abs. 2 Satz 1 der aktuell gültigen Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 vom 30. Oktober 2020 (GVBl. S. 368).
6
Unabhängig von der Frage nach der Rechtsgrundlage einer Kontaktdatenerfassung hat der Kläger nicht nachvollziehbar dargelegt, dass eine solche den Öffentlichkeitsgrundsatz in ungerechtfertigter Weise beeinträchtigte. Sein pauschaler Hinweis auf entgegenstehende „verfassungsrechtlich geschützte Bedürfnisse“ wird auch nicht durch seinen ebenfalls nur allgemeinen Verweis auf religiöse Gründe oder auf das Interesse, von Strafverfolgung verschont zu bleiben, hinreichend spezifiziert. Gerade im letztgenannten Fall erschließt sich die Schutzbedürftigkeit nicht. Eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Öffentlichkeitsgrundsatzes wird auch nicht durch die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung angeblich niedrigen Infektionszahlen im Landkreis Stade oder den Umstand begründet, dass die Angabe von Kontaktdaten etwa bei dem Besuch eines Supermarktes nicht erforderlich sei. Letzteres ist mit dem Besuch einer Gerichtsverhandlung schon deshalb nicht vergleichbar, weil hier eine ungleich längere gemeinsame Verweilzeit in einem kleineren Raum (Gerichtssaal) gegeben ist. Ersteres rechtfertigt die Kontaktdatenerfassung umso mehr, da bei geringen Fallzahlen die mit der Erfassung beabsichtigte Ermöglichung einer Nachverfolgung von Kontaktpersonen erfolgversprechender ist als im Falle eines unübersichtlichen Infektionsgeschehens. Die Datenerfassung stellt somit letztlich eine für Besucher einer Gerichtsverhandlung im Interesse des Gesundheitsschutzes hinzunehmende Beeinträchtigung dar, die den Zugang zum Gerichtssaal für die jeweils Betroffenen obendrein allenfalls psychisch, nicht aber physisch hemmt. Dies steht einer verfassungsrechtlich unzulässigen Verweigerung des Zutritts nicht gleich (so auch OVG Berl.-Bbg., Beschluss vom 27.5.2020 – OVG 11 S 43/20 – juris Rn. 24 unter Verweis auf Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl. 2018, § 169 Rn. 40 m. w. N.).
7
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
8
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
A.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die in Teilen der Innenstadt von Ludwigshafen angeordnete Maskenpflicht.
2
Mit Allgemeinverfügung vom 22. Oktober 2020 hat die Antragsgegnerin u.a. angeordnet:
3
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4
Dagegen legte der Antragsteller mit Schreiben vom 29. Oktober 2020 Widerspruch ein und hat außerdem am 2. November 2020 um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
5
Er macht geltend, die Allgemeinverfügung sei hinsichtlich des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung in Teilen der Innenstadt rechtswidrig, wobei er die Eignung der Maßnahme als Beitrag zur Bekämpfung der bestehenden Pandemie nicht in Frage stelle. Es lägen aber keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass über die bereits in der Landes-Corona-Bekämpfungsverordnung geregelte Pflicht zur Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5 m zu anderen Personen hinaus das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung erforderlich sei. Die Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin treffe keine Ausnahme für Situationen, in denen aufgrund geringen Personenaufkommens keine Gefahr bestehe, dass der Abstand nicht eingehalten werden könne. Dies sei nicht angemessen, da auch die Einhaltung des Abstandsgebots Infektionen verhindere. Außerdem sehe die Allgemeinverfügung auch keinerlei zeitliche Einschränkungen vor, gehe also davon aus, dass es in den erfassten Innenstadtbereichen an jedem Wochentag und zu jeder Uhrzeit zu Menschenansammlungen kommen könnte, in denen die Mindestabstände nicht eingehalten würden. Dies sei etwa angesichts des weitläufigen Berliner Platzes oder des Ludwigsplatzes unverhältnismäßig.
6
Der Antragsteller beantragt,
7
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 29. Oktober 2020 gegen Nr. 4 der Allgemeinverfügung der Stadt Ludwigshafen vom 22. Oktober 2020 anzuordnen.
8
Die Antragsgegnerin beantragt,
9
den Antrag abzulehnen.
10
Sie verweist auf die Begründung zur Allgemeinverfügung und legt die aus ihrer Sicht maßgebliche konkrete Sachlage in Ludwigshafen aus ihrer Sicht ausführlich dar.
B.
11
Der Antrag ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.
12
I. Der Antrag, der gerichtet ist auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die nach der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin (Ziff. 4) für bestimmte Innenstadtbereiche im Freien geltende Pflicht zur Tragung einer Mund-Nasen-Bedeckung, ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – statthaft, denn es handelt sich um eine auf § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz – IfSG – gestützte Regelung, gegen die Widersprüche gemäß §§ 28 Abs. 3 in Verbindung mit 16 Abs. 8 IfSG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung haben.
Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere bestehen keine Bedenken gegen die Antragbefugnis entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO. Zwar ist der Antragsteller auch im Fall der Anfechtung einer Allgemeinverfügung im Sinne von § 35 Satz 2 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG – nicht davon entbunden darlegen zu können, inwieweit er in seiner konkreten Situation als Angehöriger der konkret adressierten Gruppe durch die angefochtene Regelung materiell betroffen ist (vgl. VG München, Beschluss vom 29. September 2020 – M 26b S 20.4628 –, juris, Rn. 14f, m. w. N.). Angesichts einer relativ geringen Entfernung der Wohnung des Antragstellers in der A-Straße .. zum südlichsten, von der Maskenpflicht betroffenen Straßenzug (Mundenheimer Straße nördlich Pfalzgrafenstraße) erscheinen hier besondere Ausführungen dazu entbehrlich, dass er wegen der Maßnahme in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz – GG – verletzt sein kann.
13
II. Der Antrag ist unbegründet.
14
Für das Interesse des Betroffenen, sich einstweilen nicht an die beanstandete Regelung halten zu müssen, sind zunächst die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs ausschlaggebend. Danach kommt die begehrte gerichtliche Anordnung hier schon deshalb nicht in Betracht, weil sich die Verpflichtung aus Ziff. 4 der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin, eine Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Straßenzügen im Freien zu tragen, nach der hier allein möglichen summarischen Prüfung der Sach-und Rechtslage als rechtmäßig erweist.
15
1. Rechtsgrundlage für die Allgemeinverfügung ist § 28 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz IfSG. Danach trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde unter anderem Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten (§ 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG). Anders als im Fall der Rechtsverordnungen der Exekutive, für die die Frage aufgeworfen ist, ob sie im Infektionsschutzgesetz (noch) eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Grundlage finden (vgl. zuletzt VG Mainz, Beschluss vom 1. November 2020 – 1 L 843/20.MZ – unter Bezugnahme auf den Beschluss des BayVGH vom 29. Oktober 2020 – 20 NE 20.2360 m. w. N.) stellt die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG eine ausreichende Ermächtigung zum Erlass von Einzelmaßnahmen – hier das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in ganz bestimmten Straßenzügen der Stadt – dar (s. Hessischer VGH, Beschluss vom 27. Oktober 2020 – 8 B 2597/20 –, Rn. 23, juris).
16
2. Da die nach Erlass der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 22. Oktober 2020, gegen deren formelle Rechtmäßigkeit im Übrigen keine Bedenken bestehen, nunmehr am 2. November 2020 in Kraft getretene 12. Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz – 12. CoBeLVO – vom 30. Oktober 2020 keine Regelung zur Maskenpflicht im Freien trifft, lässt die Bestimmung in § 22 Satz 2 der 12. CoBeLVO, wonach Allgemeinverfügungen durch die Verordnung im Hinblick auf daran getroffene weitergehende Schutzmaßnahmen ersetzt werden und aufzuheben sind, die Geltung der hier konkret beanstandeten Regelung in Ziff. 4 der Allgemeinverfügung unberührt.
Dass Allgemeinverfügungen nur im Einvernehmen mit dem zuständigen Ministerium erlassen werden (§ 22 Satz 1 der 12. CoBeLVO), wurde beachtet. Dies hat die Antragsgegnerin in der Begründung zur Allgemeinverfügung (http://www.sg1851lu.de/Downloads/begruendung_allgemeinverfuegung_22_okt.pdf), auch unter Bezugnahme auf den präventiven Stufenplan bei steigenden Infektionszahlen des Landes („Corona Warn- und Aktionsplan RLP“) und die Einbindung der Corona Task Force, festgehalten.
17
3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz IfSG sind im Hinblick auf die hier konkret angefochtene Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Freien erfüllt. Die Antragsgegnerin war berechtigt, die Regelung in Ziff. 4 der Allgemeinverfügung vom 22. Oktober 2020 zu erlassen.
18
a) Dass die herrschende Corona-Pandemie auf allen Ebenen zu staatlichem Handeln verpflichtet, wird vom Antragsteller nicht angezweifelt. Zur aktuellen Lage wird insoweit auf die ausführliche Würdigung im Beschluss des OVG Niedersachsen vom 29. Oktober 2020 – 13 MN 393/20 –, juris, Bezug genommen. Dass sich gerade auch die Stadt Ludwighafen wegen der rasant gestiegenen Infektionszahlen verpflichtet sah, weitergehende Maßnahmen zu ergreifen, ergibt sich aus der ausführlichen Begründung der Antragsgegnerin zur Allgemeinverfügung, in der sie die ergriffenen Maßnahmen unter Bezugnahme auf den „Corona Warn- und Aktionsplan RLP“ ausführlich darlegt und die Infektionslage in Ludwigshafen bewertet. Der viel diskutierte sog. 7-Tages-Inzidenzwert lag danach unmittelbar vor Erlass der Verfügung am 21. Oktober 2020 bei 60, mittlerweile hat er sich fast verdreifacht (vgl. Covid-19-Dashboard des RKI https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4). Oberstes Ziel sei dabei die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems. Hierzu hat die Antragsgegnerin in ihrer ausführlichen Antragserwiderung sehr konkret im Hinblick auf die Stadt Ludwigshafen darauf hingewiesen, dass die steigenden Infektionszahlen eine dritte Infektionsabteilung im Klinikum Ludwigshafen erforderten. Im Klinikum sei man sehr beunruhigt, weil die Quote positiver Ergebnisse der durchgeführten Testungen aktuell am 2. November 2020 bei rund 10 Prozent gelegen habe.
19
b) Nach derzeitigem Sachstand erscheint die Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im Freien als geeignetes Mittel zur Eindämmung der Infektionszahlen. Dabei ist ein Mittel bereits dann geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Es ist nicht erforderlich, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch tatsächlich erreicht wird oder jedenfalls erreichbar ist; die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt (s. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 06. Juli 2020 – 6 B 10669/20 –, Rn. 26, juris). Zwar ist der Effekt des generellen Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht völlig unumstritten (s. VerfGH Saarland, Beschluss vom 28. August 2020 – Lv15/20, NVwZ 2020, 1513, Rn. 53 ff). Die Maßnahme wird vom Robert-Koch-Institut (RKI) aber unter dem Aspekt des Fremdschutzes empfohlen, und zwar als ein weiterer Baustein, um den Infektionsdruck und damit die Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der Bevölkerung zu reduzieren und somit Risikogruppen zu schützen (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html). Auch der Antragsteller stellt die grundsätzliche Eignung der Maßnahme nicht in Frage.
20
c) Zudem geht die Kammer auch von der Erforderlichkeit der hier konkret angefochtenen Regelung in Ziff. 4 der Allgemeinverfügung aus.
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind. Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (OVG Niedersachsen, Beschluss vom 29. Oktober 2020 – 13 MN 393/20 –, Rn. 52, juris, unter Bezugnahme auf: BVerfG, Beschluss vom 10. April 2020 – 1 BvQ 31/20 –, juris, Rn. 16; OVG Bremen, Urteil vom 10. Oktober 2020 – 1 B 315/20 –, Rn. 5, juris).
21
(1) Hiervon ausgehend kann der Antragsteller die Notwendigkeit der umstrittenen Maskenpflicht nicht schon unter Hinweis auf die in der Landes-Corona-Bekämpfungsverordnung geregelte Pflicht zur Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5 m (§ 1 Abs. 2 der 12. CoBeLVO) in Abrede stellen. Die Antragsgegnerin geht bei ihrer Analyse der aktuellen Infektionslage in Ludwigshafen im Rahmen der Begründung zur Allgemeinverfügung nämlich u.a. von einer mangelnden Akzeptanz der Einhaltung der Hygienemaßnahmen und der bereits getroffenen Schutzmaßnahmen durch die Bevölkerung aus und sieht sich gerade dadurch veranlasst, weitergehende Maßnahmen zu ergreifen. Die Antragsgegnerin weist insoweit in der Antragserwiderung darauf hin, dass die Kontrolldichte erhöht worden sei und Verstöße gegen die Allgemeinverfügung und die Verordnung festzustellen seien.
Damit ist zur Beurteilung der Erforderlichkeit auch die Frage der Kontrollmöglichkeit und Durchsetzbarkeit der getroffenen Regelungen in den Blick zu nehmen. Insofern erscheint die kontrollierte Einhaltung der Abstandspflicht durch die Passanten gerade in dem dynamischen Geschehen auf öffentlichen Wegen und Plätzen – sei es aus mangelnder Einsicht, sei es aufgrund einer hohen Frequentierung – kaum möglich. Anderes gilt hinsichtlich der Maskenpflicht. Unter der oben aufgezeigten Prämisse, dass im Zuge der Pandemiebekämpfung auch im Freien ein Fremdschutz nötig ist, kommt daher als wirksames, einer ordnungsbehördlichen Kontrolle zugängliches Mittel nur die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in Betracht.
22
(2) Im Gegensatz zu der vom VG Koblenz zu beurteilenden Regelung (Beschluss vom 2. November 2020 – 3 L 976/20.KO –), die sich auf ganze Stadtteile der Stadt Koblenz bezieht, hat sich die Antragsgegnerin auf die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in einem eng umgrenzten Innenstadtbereich beschränkt und die zugrundeliegenden Überlegungen in der Antragserwiderung konkretisiert. Sie hat darauf hingewiesen, dass neben dem Haupteinkaufs- und Gewerbebereich der Innenstadt nur noch der Berliner Platz erfasst worden sei, der den Verkehrsknotenpunkt für den öffentlichen Personennahverkehr bildet. Insofern ist davon auszugehen, dass die beanstandete Reglementierung vorliegend im Hinblick auf die in Ziff. 4 der Allgemeinverfügung im Einzelnen genannten Straßen anknüpfend an das gerade für die Kernstadt typische Fußgängeraufkommen auf einem nachvollziehbaren Konzept beruht. Dies hat im Übrigen der Antragsteller selbst nicht in Zweifel gezogen.
23
(3) Gegen die Erforderlichkeit spricht hier auch nicht, dass die Verpflichtung zum Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung nicht nach Tageszeiten differenzierend ausgestaltet ist. Dazu hat die Antragsgegnerin darauf hingewiesen, dass die Bereiche abends und nachts oft von jungen Leuten aufgesucht würden, die häufig die Abstände nicht einhielten. Mit der Schließung der Restaurants, Fitnessstudios und sonstiger Freizeiteinrichtungen stehe insbesondere bei den jüngeren Personen zu erwarten, dass diese Ausweichmöglichkeiten suchten. Bekanntermaßen komme es gerade bei diesen Personengruppen auch zu Verstößen gegen die Regelungen der CoBeLVO.
Eine sinnvolle, vor allem auch praktikable zeitliche Beschränkungsmöglichkeit ist damit – derzeit – im Hinblick auf die von der angefochtenen Maßnahme erfassten Straßenbereiche gerade nicht zu erkennen. Die Situation stellt sich insoweit anders dar als im Fall „abgelegener Wohnbereiche“, auf die das VG Koblenz in der genannten Entscheidung hinweist.
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller selbst in keiner Weise dargelegt hat, inwieweit er von der Maskenpflicht gerade zur Nachtzeit überhaupt betroffen sein könnte.
24
(4) Weiterhin ist maßgeblich, dass die Erforderlichkeit im Lichte der kurzen Geltungsdauer der Allgemeinverfügung zu beurteilen ist, die nur bis zum 22. November 2020 gilt. Inwieweit sich die neuen Beschränkungen der Verordnung, etwa die Schließung des Freizeitangebots auf die Fußgängerfrequenz im betroffenen Gebiet auswirken wird, wird im Falle der Prüfung einer Verlängerung der Geltungsdauer ebenso zu bewerten sein wie die Frage der weiteren Entwicklung des Infektionsgeschehens in Ludwigshafen nach Inkrafttreten der Regelungen. Hierauf hat die Antragsgegnerin selbst ausdrücklich hingewiesen.
25
d) Vor diesem Hintergrund bestehen aktuell keine durchgreifenden Bedenken gegen die Erforderlichkeit der umstrittenen Anordnung. Dies gilt umso mehr als sich die Regelung auch als angemessen erweist, d.h. die Nachteile für den Antragsteller als von der Regelung betroffenem Anwohner stehen nicht außer Verhältnis zu den bezweckten Vorteilen, denn die grundrechtliche Beschwer ist als eher gering zu bewerten. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung ist nämlich nicht geeignet, den Pflichtigen von der Ausübung grundgesetzlicher Freiheiten entscheidend abzuhalten. Die Verpflichtung besteht zum einen zeitlich sehr begrenzt, und zwar nur bis zum 22. November 2020. Sie verlangt zum anderen nur einen geringen Aufwand, da die Maskenpflicht ohnehin aus vielen Alltagssituationen schon geläufig ist. Zwar kann das Tragen durchaus als lästig und wenig angenehm betrachtet werden. Dies führt aber nicht zu ins Gewicht fallenden Einschränkungen der Fortbewegungs- und Entfaltungsfreiheit. Auf der anderen Seite leistet sie einen Beitrag zur Abwehr erheblich ins Gewicht fallender Gefahren für Leben, Gesundheit und Freiheit Aller sowie der Funktionsweise staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen (s. VerfGH Saarland, Beschluss vom 28. August 2020 – Lv 15/20 – NVwZ 2020, 1513, Rn. 65; siehe auch: VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 1 B 126/20 – juris, Rn. 16).
26
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
27
Die Festsetzung des Wertes des Verfahrensgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 Gerichtskostengesetz – GKG –, wobei wegen der Vorwegnahme der Hauptsache hier der volle Auffangstreitwert heranzuziehen ist (vgl. Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit Ziff. 1.5).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Normenkontrolleilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zulässig (dazu unter 1.), aber unbegründet (dazu unter 2.).
2
1. Der (sinngemäß gestellte) Antrag,
3
§ 17 Satz 1 Nr. 3 sowie Satz 2 der am 1. November 2020 gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 LVwG ersatzverkündeten und ab dem 2. November 2020 in Kraft getretenen Schleswig-Holsteinischen Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 bis zu einer Entscheidung über den Normenkontrollantrag außer Vollzug zu setzen,
4
ist zulässig, insbesondere statthaft im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 67 Landesjustizgesetz vom 17. April 2018 (GVOBl. 2018, 231, ber. 441).
5
Gegen die Zulässigkeit des Antrages der Antragstellerin ergeben sich auch im Übrigen keine Bedenken.
6
Die Zulässigkeit des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO setzt nicht voraus, dass das Normenkontrollverfahren in der Hauptsache bereits anhängig ist (vgl. Ziekow in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkomm., 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 386 m. w. N.).
7
Die Antragstellerin, die eine aus 24 Wohnungen bestehende Ferienwohnanlage auf Sylt betreibt, ist antragsbefugt (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Sie kann als juristische Person geltend machen, durch die angegriffene Norm zumindest in ihren Grundrechten aus Art. 12 und Art. 14 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG verletzt zu werden. Sie hat dargelegt, dass sie seit Geltung des sogenannten Beherbergungsverbots (2. November 2020) nicht unerhebliche Umsatzeinbußen infolge nicht zu erzielender Mieteinnahmen für den Monat November zu gewärtigen hat. Auch ist nach ihrem Vortrag nicht ausgeschlossen, dass die Antragstellerin in ihrem Recht auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt ist.
8
2. Der Antrag ist indes unbegründet.
9
Denn die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor.
10
Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. des Senats v. 09.04.2020 - 3 MR 4/20 -, juris Rn. 3). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn die in der Hauptsache angegriffene Norm in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthält oder begründet, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
11
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.
12
Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; vgl. auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 30.03.2020 – 20 NE 20.632 –, juris Rn. 31ff).
13
Nach diesen Maßstäben ist der Antrag unbegründet. Nach summarischer Prüfung erweist sich der Normkontrollantrag in der Hauptsache als sehr wahrscheinlich erfolglos (1.). Darüber hinaus ergibt sich bei Abwägung der Folgen, dass die Interessen der Antragstellerin an der Außervollzugsetzung des Beherbergungsverbots die Interessen des Antragsgegners an der Aufrechterhaltung dieses Verbots nicht so deutlich überwiegen, dass der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung in dem obigen Sinne dringend geboten ist (2.).
14
1. Zunächst spricht vieles dafür, dass die angegriffene Verordnung einer rechtlichen Überprüfung im Hauptsacheverfahren standhalten würde. Die formellen Voraussetzungen sind gewahrt (a) und die materiellen Voraussetzungen sind erfüllt (b). Der Inhalt der Verordnung überschreitet nicht die Grenzen der Verordnungsermächtigung (aa) und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (bb) und den Grundsatz der Gleichbehandlung (cc).
15
a) Die Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 (Corona-Bekämpfungsverordnung – Corona-BekämpfVO) vom 1. November 2020 entspricht den formalen Anforderungen des § 56 LVwG. Sie ist als Landesverordnung bezeichnet, die Ermächtigungsgrundlage ist angegeben, ebenso das Datum der Ausfertigung und die erlassende Behörde. Sie ist ordnungsgemäß im Wege der Ersatzverkündung (§ 60 Abs. 3 Satz 1 LVwG) auf der Internetseite der Landesregierung (https://www.schleswig-holstein.de/DE/Schwerpunkte/Coronavirus/Erlasse/201101_corona_bekaempfungsVO.html) bekanntgemacht worden.
16
b) Die in der Hauptsache angegriffene Landesverordnung findet in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage.
17
Gemäß § 32 Satz 1 IfSG werden die Landesregierungen ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
18
Die Regelung des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verstößt nach summarischer Prüfung auch nicht gegen den Parlamentsvorbehalt („Wesentlichkeitstheorie“).
19
Der im Rechtsstaatsprinzip und im Demokratiegebot wurzelnde Parlamentsvorbehalt gebietet, dass in grundlegenden normativen Bereichen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit dieser staatlicher Regelung zugänglich ist, die wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden. Wann es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den dort verbürgten Grundrechten, zu entnehmen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1.04.2014 - 2 BvF 1/12 - juris Rn. 101 ff.).
20
Aus der Zusammenschau mit dem Bestimmtheitsgrundsatz ergibt sich, dass die gesetzliche Regelung desto detaillierter ausfallen muss, je intensiver die Auswirkungen auf die Grundrechtsausübung der Betroffenen sind. Die erforderlichen Vorgaben müssen sich dabei nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut des Gesetzes ergeben; vielmehr genügt es, dass sie sich mit Hilfe allgemeiner Auslegungsgrundsätze erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Vorgeschichte der Regelung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2017 - 1 BvR 1314/12 - juris Rn. 182; vgl. zum Vorstehenden Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 11.06.2020 – 3 R 102/20 –, juris Rn. 32ff. mwN; Beschl. des Senats v. 15.10.2020 – 3 MR 43/20 –, juris Rn. 16ff.).
21
Nach diesen Maßgaben und unter Zugrundelegung nachstehender Ausführungen ergeben sich keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Landesverordnungsgeber – fußend auf dem Infektionsschutzgesetz – die Corona-Bekämpfungsverordnung erlassen hat. Zwar sind mit dem darin geregelten „Teil-Lockdown“, der für einzelne Bereiche ein Verbot der wirtschaftlichen und kulturellen Betätigung vorsieht, erhebliche Grundrechtseingriffe verbunden. Die Landesverordnung ist jedoch zeitlich befristet auf die Dauer von vier Wochen; dabei stehen die angeordneten Maßnahmen unter ständiger Beobachtung des Landesverordnungsgebers. Bereits zu Mitte November ist eine (erste) Evaluierung durch die Landesregierung im Zusammenwirken mit den anderen Bundesländern und der Bundesregierung in Aussicht genommen. Das exponentielle Wachstum der Neuinfektionen in den vergangenen (Herbst-)Wochen hat ein umgehendes Tätigwerden des Verordnungsgebers unter vorheriger Verständigung mit den anderen Bundesländern erfordert. Eine mit der jetzigen Landesverordnung bezweckte rasche Eindämmung des Pandemiegeschehens wäre mit dem Erlass eines formellen Parlamentsgesetzes nicht zu erreichen gewesen.
22
aa) Die Voraussetzungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen vor. In ganz Schleswig-Holstein gibt es bestätigte Infektionen mit dem neuartigen Corona-Virus SARS-CoV-2, welches die übertragbare Krankheit (im Sinne von § 2 Nr. 3 IfSG) COVID-19 auslöst; am 4. November 2020 beliefen sich die bestätigten Fälle für Schleswig-Holstein auf 9.096, darunter 263 Neuinfektionen (Quelle: RKI, COVID-19-Dashboard).
23
Aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG („die zuständige Behörde trifft die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.“) folgt, dass der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ umfassend ist und der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen eröffnet, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird. Dieses Ergebnis ergibt sich zum einen anhand der Gesetzesmaterialien (vgl. Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drucks. 8/2468, S. 27 zu dem insoweit vergleichbaren § 34 BSeuchG). Danach lässt sich die Fülle der Schutzmaßnahmen, die bei Ausbruch einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht von vornherein übersehen.
24
Zum anderen hat das Bundesverwaltungsgericht zu den nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG möglichen Schutzmaßnahmen in seinem Urteil vom 22. März 2012 (3 C 16.11, juris Rn. 24) ausgeführt:
25
„bb) Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „wie“ – des Ergreifens – ist der Behörde, wie bereits ausgeführt, Ermessen eingeräumt (BR-Dr 566/99 S. 169). Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. Entw. eines vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Dr 8/2468, S. 27 zur Vorgängerregelung in § 24 BSeuchG).“
26
Aus alledem folgt, dass alle notwendigen Schutzmaßnahmen – und mithin auch das in § 17 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 CoronaBekämpfVO statuierte Beherbergungsverbot – auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden können (stRspr. des Senats, vgl. Beschl. v. 29 04.2020 – 3 MR 11/20 –, juris Rn. 11 ff.).
27
bb) Soweit die Antragstellerin rügt, das Beherbergungsverbot greife unverhältnismäßig in ihre Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, insbesondere in ihr Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ein – durch das Verbot, Feriengäste zu beherbergen, seien für den Monat November 2020 ausbleibende Mieteinnahmen in Höhe von ca. 28.000,00 Euro zu erwarten –, folgt der beschließende Senat dieser Auffassung nicht.
28
§ 17 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 Corona-BekämpfVO vom 1. November 2020 verletzt die Antragstellerin nicht in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG) oder der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG).
29
Hinsichtlich Art. 12 Abs. 1 GG, der keinen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb und auf Sicherung künftiger Erwerbsmöglichkeiten umfasst (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.06.2002 – 1 BvR 558/91 –, juris Rn. 43), stellt sich die angegriffene Regelung für die Antragstellerin als Berufsausübungsregelung dar, da mit dieser zeitweise der Geschäftsbetrieb der Antragstellerin - die Vermietung des in ihrem Eigentum stehenden Immobilienanwesens „…“ zu touristischen Zwecken - unterbunden wird.
30
In Bezug auf Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, der das bürgerlich-rechtliche Eigentum samt Nutzung schützt, ist § 17 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 Corona-BekämpfVO vom 1. November 2020 als eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu qualifizieren. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass auch der Schutz des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“ nicht weiter reicht als der Schutz, den seine wirtschaftliche Grundlage genießt und nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern erfasst; bloße Umsatz- und Gewinnchancen oder tatsächliche Gegebenheiten werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt „des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“ nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (BVerfG, Urt. v. 06.12.2016 – 1 BvR 2821/11 u.a. –, NJW 2017, 217, 223).
31
Ob der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG daher überhaupt betroffen ist, ist zweifelhaft, kann aber offenbleiben. Denn die (zeitlich befristeten) Beschränkungen von Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG sind jedenfalls derzeit gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig.
32
Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass sich die Pandemie nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau Ende August und Anfang September aktuell in allen Bundesländern weiter ausgebreitet hat (vgl. RKI, täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankeheit-2019 ), Stand: 03.11.2020). Der bisherige Höchstwert an Neuinfektionen betrug am 31. Oktober 2020, also unmittelbar vor Inkrafttreten der streitbefangenen Landesverordnung, 19.059 Fälle (https://www.tagesschau.de/inland/rki-corona-intensivbetten-101.html) und steigt derzeit (noch) weiter an (19.990 Neuinfektionen, vgl. WELT v. 05.11.2020). Ein Vergleich der täglichen Lageberichte des Robert-Koch-Instituts der vergangenen zwei Wochen zeigt anschaulich, dass die Inzidenz der letzten sieben Tage deutschlandweit von 48,6 Fälle pro 100.000 Einwohner (Stand 20.10.2020) auf mittlerweile 125,8 Fälle pro 100.00 Einwohner (Stand: 04.11.2020) angestiegen ist. Damit ist die Anzahl der Kreise mit einer hohen 7-Tage-Inzidenz weiter angewachsen; nur noch sieben Stadt- und Landkreise weisen eine 7-Tage-Inzidenz von unter 25 Fällen/100.000 Einwohner auf. Der bundesweite Anstieg wird nunmehr vermehrt durch zumeist diffuse Geschehen verursacht. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich in den vergangenen zwei Wochen von 943 Patienten am 21. Oktober 2020 auf 2.546 Patienten am 4. November 2020 fast verdreifacht. Auch bezogen auf die Situation in Schleswig-Holstein ist ein spürbarer Anstieg von 165 Neuinfektionen bei insgesamt 5.879 Fällen per 20. Oktober 2020 gegenüber der jetzigen aktuellen Fallzahl von 8.833 bei 233 Neuinfektionen festzustellen.
33
In diesem Zusammenhang hat der Antragsgegner zutreffend darauf hingewiesen, dass die jetzt bekannten Infektionszahlen nicht das aktuelle Geschehen abbilden, sondern diesen Erhebungen das Geschehen zugrunde liegt, wie es sich zum Zeitpunkt der Meldung durch die jeweiligen Gesundheitsämter an das Robert-Koch-Institut dargestellt hat. Da die Inkubationszeit durchaus auch einen längeren Zeitraum von zehn bis vierzehn Tagen umfassen kann (vgl. RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019, Stand 30.10.2020, Nr. 5. ) und die Infektion bereits ca. 48 Stunden vor Symptomentwicklung weiter übertragen werden kann, ist davon auszugehen, dass zum jetzigen Zeitpunkt bereits deutlich mehr Menschen - als statistisch erfasst - infiziert sind. Erschwerend hinzu kommt die – nicht mehr durchgängig gewährleistete – Erfassung und Weiterleitung durch die Gesundheitsämter vor Ort. Aktuell sind die Ansteckungsumstände im Bundesdurchschnitt in mehr als 75 % der Fälle unklar (vgl. Begründung zur Landesverordnung, Teil A. unter Bezugnahme auf die Statistiken des RKI; vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 28.10.2020 zur Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie, Anlage Ag. 3).
34
Die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen haben daher im Einvernehmen mit der Bundesregierung beschlossen, beginnend ab dem 2. November 2020, die Corona-Bekämpfungsmaßnahmen für einen Zeitraum von vier Wochen bundesweit zu verschärfen. Angesichts des Umstandes, dass die Infektionszahlen flächendeckend stark angestiegen sind (und noch weiter ansteigen) und sich das Ausbruchsgeschehen in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht mehr lückenlos zurückverfolgen lässt, sind Beschränkungen in weiten Bereichen des Lebens und der Wirtschaft getroffen worden, wozu auch das in § 17 geregelte Verbot der Beherbergung (zu touristischen Zwecken) gehört (vgl. Begründung zur Landesverordnung, Teil A). Diese Maßgaben sind mit der streitgegenständlichen Landesverordnung für den Bereich des Landes Schleswig-Holstein umgesetzt worden.
35
Ist somit eine deutlich verschärfte Lage der Ausbreitung der Pandemie gegenüber der vor zwei bis drei Wochen herrschenden Infektionslage wie auch gegenüber der Entwicklung der Pandemie im Frühjahr 2020 festzustellen, so ist auch nicht zu beanstanden, dass sich der Verordnungsgeber, wie die übrigen an dem Teil-Lockdown beteiligten Bundesländer, des Rates von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Virologie, der Epidemiologie und der übrigen Medizin bedient haben, auch wenn diese Beratung bzw. das mit ihr erzielte Ergebnis des Teil-Lockdowns in der Wissenschaft nicht unumstritten geblieben ist.
36
Fehlt es nämlich - wie hier - in den einschlägigen Fachkreisen und der einschlägigen Wissenschaft an allgemein anerkannten Maßstäben und Methoden für die fachliche Beurteilung, kann die gerichtliche Kontrolle des behördlichen Entscheidungsergebnisses mangels besserer Erkenntnis der Gerichte an objektive Grenzen stoßen. Sofern eine außerrechtliche Frage durch Fachkreise und Wissenschaft bislang nicht eindeutig beantwortet ist, lässt sich objektiv nicht abschließend feststellen, ob die behördliche Antwort auf diese Fachfrage richtig oder falsch ist. Dem Gericht ist durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht auferlegt, das außerrechtliche tatsächliche Erkenntnisdefizit aufzulösen. Gerichte sind nicht in der Lage, fachwissenschaftliche Erkenntnislücken selbständig zu schließen, und auch nicht verpflichtet, über Ermittlungen im Rahmen des Stands der Wissenschaft hinaus Forschungsaufträge zu erteilen. Nach Sinn und Zweck der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie ist über die im Rahmen bestehender Erkenntnis mögliche Überprüfung der Vertretbarkeit der behördlichen Annahmen hinaus keine weitere, von der behördlichen Entscheidung unabhängige, eigenständige Einschätzung durch das Gericht geboten. Vielmehr kann das Gericht seiner Entscheidung insoweit die - auch aus seiner Sicht plausible - Einschätzung der Behörde zugrunde legen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.10.2018 – 1 BvR 2523/13 –, BVerfGE 149, 407-421, juris Rn. 20f. m. w. N.).
37
Das für die Dauer von vier Wochen befristete Herunterfahren eines Teiles des öffentlichen Lebens, das darauf abzielt, vermeidbare Kontakte im privaten Umfeld bei Aufrechterhaltung solcher Bereiche, die für ein Funktionieren der Gesellschaft und der Wirtschaft unerlässlich sind, deutlich zu reduzieren, ist in sich konsistent und berücksichtigt insbesondere die betroffenen (grundrechtlich geschützten) Belange der betroffenen Bereiche sowohl im Verhältnis zueinander als auch für sich genommen (vgl. auch Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutz und Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat vom 30.10.2020, Darstellung der leitenden rechtlichen Erwägungen für die beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, Anlage Ag. 2).
38
Es begegnet keinen durchgreifenden Bedenken, dass sich der Verordnungsgeber dafür entschieden hat, diejenigen Bereiche der Wirtschaft vorübergehend herunter zu fahren, die (haupt-)ursächlich für eine weitere exponentielle Ausbreitung des Coronavirus infolge vermeidbarer privater Kontakte im gesellschaftlichen Kontext sind. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Beschluss des Senats vom 23. Oktober 2020 (Az. - 3 MR 47/20 -, juris), mit dem er das in der vorangegangenen Landesverordnung vom 8. Oktober 2020 enthaltene Beherbergungsverbot vorläufig außer Vollzug gesetzt hat, für die heutige Bewertung überholt ist. Angesichts des gegenwärtigen verschärften Infektionsgeschehens – das heißt aufgrund der massiv gestiegenen Anzahl an Corona-Neuinfektionen, nicht nur bundesweit, sondern auch in Schleswig-Holstein, und damit einhergehend der Befürchtung der Überlastung des Gesundheitssystems – hat es die Landesregierung in nicht zu beanstandender Weise als geboten angesehen, neue Maßnahmen zu ergreifen. Diese sind nunmehr im Lichte der aktuellen Situation, der sehr hohen Dynamik der Ausbreitung des Virus und der nicht mehr vollständig zu gewährleistenden Kontaktnachverfolgung zu bewerten. Der Verordnungsgeber hat das Pandemiegeschehen ständig unter Beobachtung zu halten und - unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) - die erforderlich werdenden Maßnahmen auf dem Gebiet des Infektionsschutzes daran anzupassen. Dies ist mit der nunmehr ergangenen streitbefangenen Landesverordnung vom 1. November 2020 geschehen.
39
Das darin enthaltene Beherbergungsverbot des § 17 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 CoronaBekämpfVO ist geeignet. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Antragstellerin über ein umfassendes Hygienekonzept in ihren Ferienwohnungen verfügt. In den Blick zu nehmen ist aber vielmehr, dass die Feriengäste mit ihrer touristischen Reise und dem damit verbundenen Aufenthalt auch eine vorübergehende Veränderung des potentiellen Kontaktumfeldes herbeiführen. Touristische Reisen bergen mithin zumindest abstrakt die Gefahr, das Infektionsgeschehen an einen anderen Ort zu tragen und das Virus dort weiter zu verbreiten. Insoweit schätzt der Verordnungsgeber, dem eine Einschätzungsprärogative zukommt, die Gefahr anders ein als die Antragsteller. Dass die Bewertung des Verordnungsgebers offensichtlich unzutreffend und damit rechtswidrig wäre, ist nicht erkennbar (vgl. bereits Beschl. d. Senats v. 20.10.2020 – 3 MR 50/20). Eine touristische Beherbergung würde vermehrt Menschen nach Schleswig-Holstein bringen; die damit einhergehenden erhöhten Kontakte und die höhere Dichte an Menschen würden zwangsläufig zu erhöhten Ansteckungsgefahren führen. Dies gilt umso mehr, als die Beherbergung in anderen Bundesländern beschränkt ist und Auslandsreisen derzeit nur eingeschränkt möglich sind (vgl. Begründung Teil B. zu § 17 CoronaBekämpfVO). Angesichts des Umstandes, dass die Anzahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle stark ansteigend ist und per Stand 30. Oktober 2020 in Schleswig-Holstein sechs Kreise bzw. kreisfreie Städte die Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten haben (vgl. Begründung Teil A. Allgemein), stellt sich das Beherbergungsverbot als geeignete Maßnahme dar.
40
Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht zu beanstanden, dass Beherbergungen aus beruflichen Gründen weiterhin zulässig sind. Insoweit hat der Verordnungsgeber nachvollziehbar ausgeführt, dass derartige Unterkünfte im Vergleich zu Reisen aus touristischen oder aus anderen privaten Gründen im volkswirtschaftlichen Interesse und damit letztlich vor dem Hintergrund der Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) gewichtiger zu beurteilen sind (vgl. Begründung Teil B. zu § 17).
41
Das Beherbergungsverbot ist auch erforderlich. Dabei ist es unerheblich, dass – wie die Antragstellerin meint – bei einer Unterbindung von Unterbringungen allenfalls ein ganz minimaler Anteil an Infektionen vermieden werden würde. Angesichts der in Schleswig-Holstein auch im Bereich des Kreises Nordfriesland deutlich gestiegenen Infektionszahlen und der überwiegend nicht mehr möglichen Rückverfolgbarkeit von Infektionsketten muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt vermieden werden, dass Kontakte auf der privaten Ebene, die nicht unbedingt erforderlich sind, stattfinden. Hierzu gehören Reisen zu touristischen Zwecken mit der ihnen innewohnenden erhöhten Kontaktaufnahme im touristischen Umfeld, die, wie soeben ausgeführt, gerade nicht auf die Beherbergungsstätte reduziert werden können.
42
Das Beherbergungsverbot ist auch angemessen (verhältnismäßig im engeren Sinne). Denn es dient – wie auch die übrigen angeordneten Maßnahmen – dazu, vermeidbare Kontakte auf der privaten Ebene zu unterlassen, um die exponentiell wachsende Zahl der Neuinfektionen deutlich zu reduzieren und damit das öffentliche Gesundheitswesen spürbar zu entlasten. Dadurch sollen die Gesundheitsämter wieder in die Lage versetzt werden, Infektionsketten möglichst lückenlos zurückverfolgen zu können. Gleichfalls muss es unter allen Umständen vermieden werden, die Krankenhausversorgung zu überlasten. Dies gilt umso mehr, als bereits jetzt festzustellen ist, dass ausreichendes (Intensiv-)Pflegepersonal nicht zur Verfügung steht und bis zu einem voraussichtlichen Greifen der Lockdown-Maßnahmen auf den Intensivstationen noch voraussichtlich bis zu vier Wochen vergehen werden (vgl. Coronavirus in Deutschland, „Es wird ein harter November“, Stand: 03.11.2020, https://www.tagesschau.de/inland/deutschland-corona-lage-101.html). Angesichts dieser für das öffentliche Gesundheitssystem zu befürchtenden gravierenden Folgen muss das Interesse der Betreiber von Beherbergungsstätten zurückstehen, zumal ihnen seitens der Bundesregierung eine Entschädigung für die Umsatzeinbußen zugesagt worden ist.
43
cc) Das angeordnete Beherbergungsverbot ist auch unter dem Aspekt der grundrechtlich geschützten Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht zu beanstanden.
44
Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Anforderungen, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (BVerfG, Beschl. v. 07.03.2017 – 1 BvR 1314/12 –, BVerfGE 145, 20-105, Rn. 171 m. w. N.).
45
Nach Maßgabe dieser verfassungsgerichtlichen Vorgaben erweist sich das in § 17 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 Corona-BekämpfVO angeordnete Beherbergungsverbot nicht als gleichheitswidrig. Denn, wie bereits ausgeführt, sind Beherbergungen zu beruflichen Zwecken weiterhin zulässig (vgl. § 17 Satz 1 Nr. 3 CoronaBekämpfVO), was seinen sachlichen (Rechtfertigungs-)Grund darin hat, dass dem Interesse an der Durchführung einer beruflich veranlassten Reise ein stärkeres Gewicht beizumessen ist als einer Reise aus privaten, das heißt touristischen, Gründen. Auf letztere kann vorübergehend verzichtet werden. Soweit die Antragstellerin sich in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sieht, weil sie Vermietungen nur an Touristen vornimmt, steht es ihr frei, auch an Reisende, die aus beruflichen Anlässen nach Sylt kommen, zu vermieten.
46
Die Antragstellerin zeigt einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ebenfalls nicht auf, wenn sie meint, es ergebe keinen Sinn, dass sich bis zu zehn Personen in einem privaten Haushalt treffen dürften, ein Ehepaar dürfe sich hingegen nicht allein in einer Ferienwohnung aufhalten. Denn Anlass für das Beherbergungsverbot ist – wie aufgezeigt – die Kontaktvermehrung, die in einem erweiterten Aktionsradius mit einer Beherbergung einhergeht.
47
2. Unterstellte man, die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrages wären offen, würde ebenso eine Abwägung der sich ergebenden Vollzugsfolgen kein anderes Ergebnis herbeiführen. Dabei wären zum einen die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag in der Hauptsache hingegen Erfolg hätte und zum anderen die Folgen, die sich ergeben würden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber letztlich erfolglos bliebe, gegenüber zu stellen. Hierbei ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. (Beschl. des Senats v. 09.04.2020 – 3 MR 4/20, juris Rn. 21). Bei der Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von den angegriffenen Regelungen Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für den Beschwerdeführer (vgl. BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 07.04.2020 – 1 BvR 755/20 –, juris Rn. 8).
48
Nach diesen Maßgaben wäre eine einstweilige Anordnung ebenfalls nicht zu erlassen. Die Antragstellerin legt zwar dar, dass das Beherbergungsverbot massiv in ihre Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG eingreift, indem es ihr für die Dauer von vier Wochen untersagt wird, Ferienwohnungen an Touristen zu vermieten. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht, wären die mit dem Beherbergungsverbot verbundenen Einschränkungen mit ihren erheblichen und voraussichtlich teilweise auch irreversiblen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen zu Unrecht eingetreten.
49
Erginge demgegenüber die beantragte einstweilige Anordnung, würden sich voraussichtlich sehr viele Menschen so verhalten, wie es mit der angegriffenen Regelung des § 17 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 CoronaBekämpfVO unterbunden werden soll. So dürften dann insbesondere Beherbergungsstätten, deren wirtschaftliche Existenz durch die (vorübergehende) Schließung beeinträchtigt wird, wieder öffnen, viele Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet zum Zwecke des Tourismus anreisen mit der Folge, dass auch der unmittelbare Kontakt zwischen Menschen häufiger stattfinden wird. Damit würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach derzeitigen Erkenntnissen erheblich erhöhen.
50
Aus dem Normenkontrolleilantrag ist damit insgesamt nicht ersichtlich oder sonst erkennbar, dass die Folgen einer Fortgeltung der angegriffenen Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie in einem Maße untragbar wären, dass ausnahmsweise eine geltende Regelung im Eilrechtsschutz außer Vollzug gesetzt werden müsste. Die hier geltend gemachten Interessen sind gewichtig, erscheinen aber nach dem hier anzulegenden strengen Maßstab nicht derart schwerwiegend, dass es unzumutbar erschiene, sie einstweilen zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG prinzipiell auch verpflichtet ist (vgl. BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 0704.2020, a. a. O., juris Rn. 11 m. w. N.). Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben wiegen die Einschränkungen der wirtschaftlichen bzw. persönlichen Freiheit weniger schwer. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die angegriffene Regelung wie auch die Regelungen der angegriffenen Landesverordnung im Übrigen von vornherein befristet sind und im Hinblick auf die bei den Beherbergungsbetrieben zwangsläufig entstehenden Einbußen Kompensationen vorgesehen sind (vgl. Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 28.10.2020, Punkt 12, Anlage Ag. 3).
51
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
52
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
| {
"jurisdiction": "Germany",
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} |
Tenor
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000, -- € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist nicht mehr als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 1. November 2020, soweit darin im Gebiet des Antragsgegners bestimmte Bereiche festgesetzt worden sind, für die nach § 2 Abs. 6 der Corona-Bekämpfungsverordnung vom 1. November 2020 das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung verpflichtend ist, nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO zulässig, da die Allgemeinverfügung vom 1. November 2020 durch Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 4. November 2020 aufgehoben wurde. Insoweit fehlt es dem Antragsteller dadurch an einem Rechtsschutzinteresse für den gestellten Antrag. Soweit der Antragsteller sich gegen die neue Allgemeinverfügung vom 4. November 2020 wenden möchte, deren Regelungsgehalt gegenüber der außer Kraft getretenen Allgemeinverfügung in Teilen geändert worden ist, bedarf es dazu eines erneuten Antrages (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12. Mai 2020 – 3 MB 25/20 –, Rn. 2, juris).
2
Im Übrigen fehlte dem Antragsteller nach dem derzeitigen Erkenntnisstand der Kammer für den Antrag die sogenannte Antragsbefugnis. Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die Anfechtungsklage nur zulässig, wenn ein Kläger geltend macht, durch einen Verwaltungsakt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Dies gilt entsprechend für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Im Hinblick auf die außer Kraft getretene Allgemeinverfügung vom 1. November 2020 hätte der Antragsteller demnach geltend machen müssen, dass er die betreffenden Gebiete im voraussichtlichen Geltungszeitraum der Allgemeinverfügung auch tatsächlich betreten möchte, sodass das ausgesprochene Gebot ihn auch in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) überhaupt treffen könnte, also eine Verletzung in eigenen Rechten möglich war. Dies lag nicht ohne weiteres auf der Hand, da der Antragsgegner in der Allgemeinverfügung vom 1. November 2020 nur kleinere Bereiche in 2 Gemeinden benannt hat, jedoch noch nicht den Wohnort des Antragstellers. Der Antragsteller hat in seiner sehr kurzen, offenbar mit Hilfe eines Formulars eingereichten Begründung lediglich geltend gemacht, es liege ein Grundrechtseingriff vor, nicht jedoch, dass er diese Bereiche überhaupt im Geltungszeitraum der Allgemeinverfügung betreten möchte und es so möglich gewesen wäre, dass er durch die Festlegung der Bereiche in eigenen Rechten verletzt sein könnte.
3
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 iVm § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt.
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"type": "caselaw",
"language": "de"
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der im Wege des Normenkontrolleilantrages sinngemäß gestellte Antrag,
2
§ 17 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 der Landesversordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV 2 (Corona-Bekämpfungsverordnung – Corona-BekämpfVO) vom 1. November 2020 bis zu einer Entscheidung über den Normenkontrollantrag außer Vollzug zu setzen,
3
ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
4
1. Der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 VwGO ist zulässig. Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht dies bestimmt. Eine entsprechende Bestimmung ist in § 67 Landesjustizgesetz enthalten. Die Antragsteller wenden sich gegen gegen § 17 CoronaBekämpfVO, mithin gegen eine untergesetzliche Norm in Form einer Landesverordnung.
5
Die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO setzt nicht voraus, dass das Normenkontrollverfahren in der Hauptsache bereits anhängig ist (vgl. Ziekow in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 386 m.w.N.).
6
Die Antragsteller, deutsche Staatsbürger, sind auch antragsbefugt, weil sie geltend machen können, durch § 17 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 Corona-BekämpfVO in absehbarer Zeit in ihren Grundrechten zumindest aus Art. 11 Abs. 1 GG (Freizügigkeit) und Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) verletzt zu sein. Sie tragen vor, sie seien aufgrund des in § 17 Corona-BekämpfVO geregelten Beherbergungsverbots ab 5. November 2020 auf Nordseeinseln verpflichtet, die Insel Sylt zu verlassen, obwohl sie ihren Jahresurlaub bis zum 17. Dezember 2020 dort verbringen wollten. Der Aufenthalt diene auch zur Linderung der durch Asthma bedingten Beschwerden der Antragstellerin zu 2. Außerdem sei es ihnen augenblicklich nicht ohne weiteres möglich, ihren Erstwohnsitz in Österreich zu erreichen, weil dieser unter 70 cm Neuschnee liege und die Zuwegung derzeit nicht befahren werden könne. Da auch in Österreich ein Beherbergungsverbot bestehe, drohe ihnen Obdachlosigkeit bei Rückkehr.
7
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet, weil die Voraussetzungen gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, im Ergebnis nicht vorliegen.
8
Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn – wie hier – die in der Hauptsache angegriffene Norm in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthält oder begründet, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
9
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange der Antragsteller, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (vgl. auch OVG Schleswig, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 MR 4/20 -, juris Rn. 4).
10
Lassen sich – wie hier -– die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015, a.a.O., Rn. 12; OVG Schleswig, Beschl. v. 15.10.2020 - 3 MR 45/20 -,, juris Rn. 15).
11
Die Erfolgsaussichten eines noch einzureichenden Normenkontrollantrags sind offen. Ihre abschließende Prüfung der kann der Senat aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit vorliegend nicht durchführen, weil das Rechtsschutzziel der Antragsteller eine Entscheidung spätestens bis zum Ablauf der in § 17 Satz 2 Corona-BekämpfVO geregelten Abreisefrist am 5. November 2020 gebietet. Eine zu einem späteren Zeitpunkt ergehende Entscheidung ergäbe für die Antragsteller keinen Sinn, weil sie zu einem nach dem 5. November 2020 liegenden Zeitpunkt die Abreise bereits vollzogen haben müssten. Im Rahmen des zwischen dem Eingang des Antrags am Nachmittag des 4. November 2020 und dem Ablauf der Abreisefrist zur Verfügung stehenden Zeitraums kann eine – auch summarische – Prüfung der Rechtmäßigkeit nicht stattfinden, zumal im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht nur die umfangreichen Ausführungen in der Antragsschrift, sondern auch die betroffenen Belange Dritter und der Allgemeinheit einer eingehenden Prüfung unterzogen werden müssten.
12
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Beschluss des Senats vom 23. Oktober 2020 (Az. - 3 MR 47/20 -, juris), mit dem er das in der vorangegangenen Landesverordnung vom 8. Oktober 2020 enthaltene Beherbergungsverbot vorläufig außer Vollzug gesetzt hat, für die heutige Bewertung überholt ist. Angesichts des gegenwärtigen verschärften Infektionsgeschehens – das heißt aufgrund der massiv gestiegenen Anzahl an Corona-Neuinfektionen, nicht nur bundesweit, sondern auch in Schleswig-Holstein, und damit einhergehend der Befürchtung der Überlastung des Gesundheitssystems – hat es die Landesregierung in nicht zu beanstandender Weise als geboten angesehen, neue Maßnahmen zu ergreifen. Diese sind nunmehr im Lichte der aktuellen Situation, der sehr hohen Dynamik der Ausbreitung des Virus und der nicht mehr vollständig zu gewährleistenden Kontaktnachverfolgung zu bewerten. Der Verordnungsgeber hat insoweit das Pandemiegeschehen ständig unter Beobachtung zu halten und – unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) - die erforderlich werdenden Maßnahmen auf dem Gebiet des Infektionsschutzes daran anzupassen. Dies ist mit der nunmehr ergangenen streitbefangenen Landesverordnung vom 1. November 2020 geschehen.
13
Eine antragsgemäße Entscheidung ist nach diesen Maßstäben nicht geboten. Durch den weiteren Vollzug der angegriffenen Norm kommt es zwar zu einem Eingriff jedenfalls in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit der Antragsteller und anderer Touristen, sowie jedenfalls in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Beherbergungsbetriebe. Demgegenüber wiegen die gegenläufigen Interessen – das Grundrecht jedes einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), das aufgrund des derzeitigen Pandemiegeschehens in Gefahr ist – schwerer.
14
Denn das mit § 17 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 Corona-BekämpfVO verfolgte Ziel, eine touristische Beherbergung für den Monat November zu unterbinden, ist nicht isoliert zu betrachten, sondern steht im Zusammenhang mit dem von der Bundes- und den Landesregierungen verfolgten dringenden Ziel, die sich exponentiell entwickelnde Dynamik der Corona-Pandemie zumindest so weit abzuschwächen, dass das Gesundheitssystem und die Krankenhäuser den mit der Pandemie verbundenen Herausforderungen noch Herr werden können. Dazu müssen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens Kontakte eingeschränkt werden. Touristische Beherbergungen zu unterbinden, ist in diesem Zusammenhang als ein Beitrag zu verstehen, der nur im Zusammenhang mit flächendeckenden Beschränkungen steht und auch nur so Sinn ergibt.
15
Demgegenüber steht das Interesse der Antragsteller, ihren längerfristigen Aufenthalt auf Sylt zu Ende zu bringen. Das muss zurückstehen, obwohl die Antragsteller in einer besonderen Situation sind, weil ihre Wohnung in Österreich nach ihren Angaben momentan nicht zugänglich ist. Dies ist jedoch hinzunehmen und rechtfertigt insbesondere nicht, das überragend wichtige Ziel der Pandemiebekämpfung zu vernachlässigen. Denn zum einen war auch bei Beginn des Aufenthalts am 22. Oktober 2020 bereits damit zu rechnen, dass es im Rahmen der Pandemieentwicklung zu Verschärfungen der Corona-Regelungen bis hin zu einem Lockdown kommen könnte. Wer also in solch unsicheren Zeiten eine Reise plant, kann nicht damit rechnen, sie ungestört durchführen zu können. Des Weiteren ist auch die Wohnsituation der Antragsteller in Österreich eine selbstgewählte. Dass die Hochgebirgslage dazu führt, dass die Wohnung im Winterhalbjahr schwer oder gar nicht zugänglich ist, ist ein Risiko, das die Antragsteller selbst gewählt haben und daher nicht auf die Allgemeinheit abwälzen können. Darüber hinaus geht der Senat davon aus, dass in der Republik Österreich ebenso wie in der Bundesrepublik Deutschland die Daseinsvorsorge funktioniert, so dass ein eventuell entstehender Notbedarf aufgefangen werden kann.
16
Auch das Interesse der Betreiber von Beherbergungsbetrieben muss bei der Abwägung zurückstehen, zumal ihnen seitens der Bundesregierung eine Entschädigung für die zu erwartenden Umsatzeinbußen zugesagt worden ist.
17
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
18
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
1. Der Beschluss des Amtsgerichts Starnberg - Nachlassgericht - vom 5.9.2017 wird aufgehoben.
2. Die Akten werden dem Amtsgericht Starnberg - Nachlassgericht - zur weiteren Durchführung des Erbscheinserteilungsverfahren zurückgegeben.
Gründe
I.
Die Erblasserin und ihr vorverstorbener Ehemann schlossen am ...1979 einen Ehe- und Erbvertrag, der in Ziffer. IV („Erbvertrag“) auszugsweise wie folgt lautet:
In erbvertragsmäßger Form, d.h. in einseitig unwiderruflicher Weise, treffen die Vertragsteile folgende gemeinsame Verfügung von Todes wegen: 1) Die Eheleute (…) setzen sich hiermit gegenseitig zu Alleinerben ein, ohne Rücksicht darauf, ob und wieviele Pflichtteilsberechtigte vorhanden sind.
2) Für den Fall des Todes des Längstlebenden von Ihnen und/oder für den Fall ihres gleichzeitigen Ablebens bestimmen sie zu Erben zu gleichen Anteilen
a) Die Tochter der Ehefrau (…)
b) Die Tochter des Ehemannes aus zweiter Ehe (= Beteiligte zu 2)
c) Die Tochter des Ehemannes aus zweiter Ehe (= Beteiligte zu 1).
Ersatzerben werden heute nicht bestimmt (…).
3) (…)
4) Sollte einer der eingesetzten Erben beim Tode des erstversterbenden Teils der Eheleute (…) seinen Pflichtteil geltend machen, so wird er nach dem Tode des Längstlebenden der Eheleute (…) nicht Erbe. In diesem Falle werden Erbe zu gleichen Anteilen die übrigen eingesetzten Erben (…)
Die Tochter der Ehefrau ist ohne Hinterlassung von Abkömmlingen vorverstorben.
Die Erblasserin hat mehrere notarielle Testamente errichtet. In dem letzterrichteten (11.5.2009) hat sie den Beteiligten zu 3 zu ihrem Alleinerben bestimmt.
Die Beteiligten zu 1 und 2 beantragten am 11.08.2016 vor dem Nachlassgericht einen Erbschein, der eine Erbquote zu ihren Gunsten von je 1/2 ausweist. Dem ist der Beteiligte zu 3 entgegengetreten, da nach seiner Auffassung die Beteiligten zu 1 und 2 den Pflichtteil nach dem Ableben ihres Vaters zu Lebzeiten der Erblasserin geltend gemacht haben.
Mit Beschluss vom 5.9.2017 hat das Nachlassgericht die Tatsachen für die Feststellung des beantragten Erbscheins für festgestellt erachtet. Das Nachlassgericht ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass nach den durchgeführten Ermittlungen nicht nachgewiesen ist, dass die Beteiligten zu 1 und 2 nach dem Ableben ihres Vaters den Pflichtteil geltend gemacht haben. Infolge des Wegfalls der Tochter der Erblasserin sei es in Bezug deren Erbteils zur Anwachsung zugunsten der Beteiligten zu 1 und 2 gekommen. Im Hinblick auf die Vertragsmäßigkeit der in dem Erbvertrag getroffenen Verfügungen, habe die Erblasserin diese nicht durch nachfolgende letztwillige Verfügungen abändern können. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Beteiligten zu 3.
II.
Die zulässige Beschwerde hat bereits deswegen in der Sache Erfolg, da - ungeachtet der zwischen den Beteiligten strittigen Frage, ob ein Pflichtteilverlangen der Beteiligten zu 1 und 2 gegeben ist - der von den Beteiligten zu 1 und 2 erstrebte Erbschein (Miterbinnen von jeweils ½) nicht die materielle Erbfolge abbildet.
1. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Nachlassgerichts, dass die Erblasserin die in dem Erbvertrag getroffenen Erbeinsetzung im Hinblick auf § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB deswegen nicht mehr abändern konnte, da der Erbteil der bedachten Tochter der Erblasserin, die infolge Vorversterbens weggefallen ist, den Beteiligten zu 1 und 2 angewachsen ist und diese Anwachsung von der Bindungswirkung im Sinne der § 2278 BGB i.V.m. § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB erfasst wird.
a) Es erscheint bereits fraglich, ob die nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung eines Erbteils infolge Wegfalls eines Bedachten überhaupt eine vertragsmäßige Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt.
aa) § 2278 Abs. 1 BGB setzt in Bezug auf die Vertragsmäßigkeit deren Anordnung durch die Ehegatten voraus, wobei diese auf die in § 2278 Abs. 2 enumerativ aufgezählten Verfügungen beschränkt ist. Demgegenüber tritt die Anwachsung als dispositive Ergänzungsnorm (BeckOGK/Gierl BGB § 2094 Rn. 2) kraft Gesetzes ein. Im Hinblick darauf stellt die Anwachsung nach Auffassung des Senats gerade keine Verfügung im Sinne des § 2278 BGB dar. Soweit dies im Falle einer Pflichtteilsklausel vertreten wird (vgl. BayObLG ZEV 2004, 202 m. Anm. Ivo), findet diese Auffassung ihre Rechtfertigung im Kern darin, dass die Ehegatten ihre Erbfolge durch die Erbeinsetzung abschließend getroffen haben und die Pflichtteilsklausel bei ihrem Eingreifen als Teil des Willens der Ehegatten die bereits getroffene Erbfolge modifiziert und sich diese Erbfolge somit auf einer letztwilligen Verfügung der Ehegatten beruht. Die Regelung in der Pflichtteilsklausel ist somit Teil der Erbeinsetzung und erweist sich so als eine Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB.
bb) Dieser Ansatz lässt sich aber nicht ohne weiteres auf die sonstigen Fälle eines Wegfalls des ursprünglich Bedachten übertragen (so aber OLG Nürnberg DNotz 2018, 148 m abl Anm Braun für den Fall, dass einer von zwei in einem Ehegattentestament eingesetzten Schlusserben ohne Hinterlassung von Abkömmlingen wegfällt im Hinblick auf § 2270 Abs. 2 BGB; OLG Hamm MittBayNot 2015, 413 betreffend die Anwachsung infolge des Zuwendungsverzichts eines der Schlusserben im Hinblick auf § 2270 Abs. 2).
In dem vorliegenden Fall des Vorversterben eines der Bedachten tritt die Anwachsung allein kraft Gesetzes infolge Vorversterbens der Bedachten ein, da die Ehegatten für diesen Fall ausdrücklich keine Regelung („Ersatzerben werden heute nicht bestimmt“) getroffen haben. Insofern ist die Anwachsung nicht die Kehrseite einer von den Ehegatten getroffenen Erbeinsetzung, sondern tritt allein kraft Gesetzes ein, sodass sich die Anwachsung nicht als „andere Verfügung“ im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt und demgemäß in diesem Umfang auch keine Bindungswirkung eintreten kann (vgl. NK-BGB/Kornexl 5. Auflage<2018> § 2278 Rn. 10). Die hiergegen erhobenen Einwände im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Erbteils (vgl. dazu z.B. J. Mayer/Dietz in: Reimann/Bengel/Dietz Testament und Erbvertrag 7. Auflage <2020> § 2278 Rn 47) greifen nicht. Denn inmitten steht allein die Frage, ob eine später errichtete letztwillige Verfügung die erbrechtliche Stellung der weiterhin Bedachten im Sinne des § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB beeinträchtigt. Insofern geht § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB davon aus, dass die Unwirksamkeit auch nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfassen kann („soweit“).
b) Die Frage, ob die infolge Wegfalls eines Bedachten nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung unter § 2278 BGB fällt und sich insofern als vertragsmäßig darstellt, bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da die individuelle Auslegung der im Erbvertrag getroffenen Anordnungen vorliegend zu dem Ergebnis führt, dass die Erblasserin nach Wegfall ihrer Tochter zu einer neuen letztwilligen Verfügung in Bezug auf diesen Erbteil befugt sein sollte.
aa) Die von den Ehegatten in dem Erbvertrag getroffenen Anordnungen sind nach dem Verständnis des konkreten Empfängers der Willenserklärung in der konkreten Situation der Errichtung des Erbvertrags auszulegen, wobei die §§ 157, 242 BGB Anwendung finden und alle Umstände, sowohl in und außerhalb der Testamentsurkunde zu berücksichtigen sind (BeckOGK/Gierl BGB § 2084 Rn. 12 und 30), vorliegend insbesondere die familiären Beziehungen der Ehegatten zu den jeweiligen Bedachten.
bb) Vor deren Hintergrund (Beteiligte zu 1 und 2 sind Kinder des Ehemannes aus seiner zweiten Ehe; die vorverstorbene Bedachte war eine Tochter der Erblasserin aus ihrer erster Ehe) ist die Anordnung der Vertragsmäßigkeit insofern auslegungsbedürftig, da in einer solchen Konstellation das Interesse der jeweiligen Ehepartner in der Regel primär darauf gerichtet ist, dass der eine Ehepartner an seiner letztwilligen Verfügung zugunsten der Abkömmlinge des anderen Ehepartners gebunden ist, nicht aber an seine Verfügung zugunsten des eigenen Kindes. Diese Interessenslage kommt auch in der Regelung des § 2270 Abs. 2 BGB zum Ausdruck, die im Rahmen des § 2278 BGB entsprechend heranzuziehen ist (vgl. Palandt/Weidlich BGB 79. Auflage <2020> § 2278 Rn. 4).
cc) Unter Zugrundelegung dieser Wertung ist der Senat der Überzeugung, dass die Willensrichtung der Ehegatten im Zeitpunkt des Abschlusses des Erbvertrags allein darauf gerichtet war, dass der überlebende Ehegatte die Erbenstellung der jeweiligen Abkömmlinge des erstversterbenden Ehegatten nach dessen Ableben nicht mehr entziehen kann, jedoch nicht an einer unveränderlichen Selbstbindung in Bezug auf seine eigenen Abkömmlinge. Demgemäß war die Erblasserin nicht daran gehindert, in Bezug auf den ihrer Tochter ursprünglich zugedachten Erbteil neu zu testieren, hingegen war sie in Bezug auf die den Beteiligten zu 1 und 2 zugedachten Erbteile an ihrer Erbeinsetzung in dem Erbvertrag gebunden, da das Interesse des Ehemanns der Erblasserin darauf gerichtet war, diesen als seine Kinder ihre zugedachten Erbteile zu sichern.
dd) Insofern kommt es zwar nach Wegfall der Tochter der Erblasserin zu einer Anwachsung zugunsten der Erbteile der Beteiligten zu 1 und 2. Die „Beeinträchtigung“ i.S.d. § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB infolge der Neutestierung der Erblasserin bezieht sich aber allein auf die den Bedachten zu 1 und 2 ursprünglich angedachten Erbteile, umfasst aber nicht den angewachsenen Erbteil. Dem steht nicht entgegen, dass der angewachsene Erbteil keinen gesonderten Erbteil darstellt, sondern ursprünglicher Erbteil und „anwachsender Erbteil“ eine Einheit darstellen (BeckOGK/Gierl BGB § 2094 Rn. 42). Denn - wie bereits oben ausgeführt - geht § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB davon aus, dass die Unwirksamkeit auch nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfassen kann („soweit“).
2. Demgemäß führt die Neutestierung der Erblasserin zu einer Erbenstellung der Beteiligten zu je 1/3. Dies hat grundsätzlich zur Konsequenz, dass der Senat zum einen den Beschluss des Nachlassgerichts bereits deswegen aufhebt, zum anderen dass er den Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 1 und 2 zurückweist.
3. Statt der Zurückweisung des Antrags besteht aber auch die Möglichkeit, dass der Senat - mit Aufhebung der Entscheidung des Nachlassgerichts - die Akten an das Nachlassgericht zurückgibt, damit die Beteiligten zu 1 und 2 die Möglichkeit erhalten, den ursprünglichen Antrag entsprechend abzuändern. Insofern liegt keine gebührenpflichtige Neuantragstellung vor (vgl. zu allem Gierl in: Burandt/Rojahn Erbrecht 3. Auflage <2019> § 352e FamFG Rn. 221). Dies setzt aber voraus, dass mit einer entsprechenden Antragsänderung zu rechnen ist. Dies ist vorliegend der Fall, da die Beteiligten zu 1 und 2 ausdrücklich eine entsprechende Antragsänderung nach Rückgabe der Akten an das Nachlassgericht angekündigt haben.
III.
Eine Kostenentscheidung war nicht veranlasst. Da die Beschwerde erfolgreich war, fallen keine Gerichtskosten an (§ 25 Abs. 1 GNotKG). Eine Anordnung der Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beteiligten zu 3 durch die Beteiligten zu 1 und 2 hält der Senat für nicht geboten.
IV.
Die Voraussetzungen der Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor. Die Entscheidung des Senats fußt auf der individuellen Auslegung des von den Ehegatten geschlossenen 31 Wx 415/17 - Seite 6 - Erbvertrags, so dass die abweichende Rechtsauffassung betreffend die grundsätzliche Bindungswirkung einer Anwachsung nicht (mehr) entscheidungserheblich war.
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Tenor
Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 28.5.2020 aufgehoben. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 28.5.2020 mit drei Berufsrichtern. Die Ausnahmevorschrift des § 68 Abs. 2 S. 7 i.V.m. § 66 Abs. 6 S. 1 Halbsatz 2 GKG, wonach das Gericht durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter entscheidet, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter getroffen worden ist, ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anzuwenden, weil der Kammervorsitzende des Sozialgerichts kein "Einzelrichter" ist. Einzelrichter im Sinne dieser Vorschrift ist nur der Richter, dem die Entscheidung über den Rechtsstreit von dem gesamten Spruchkörper übertragen wurde (vgl. § 526 Zivilprozessordnung). Das Sozialgerichtsgesetz (SGG) kennt zwar in Ansätzen auch das Rechtsinstitut der Einzelrichterentscheidung, dieses ist jedoch auf einzelne Fallgestaltungen beschränkt und nicht generell eingeführt (vgl. z.B. LSG NRW Beschl. v. 24.3.2015 - L 1 KR 482/14 B - juris Rn. 16 m.w.N. auch zur gegenteiligen Auffassung).
3Das Aktivrubrum war von Amts wegen zu berichtigen, da richtiger Kläger Herr L ist und nicht die im Rubrum vom Sozialgericht aufgenommene C GmbH Schweinehaltung. Ausweislich der anwaltlich erstellten Klageschrift ist als Kläger des Verfahrens Herr L benannt worden. Dies entspricht auch dem Klageantrag, mit dem der Kläger begehrt hat, den der Klage beigefügten und an ihn selbst (und nicht die GmbH) adressierten Bescheid vom 9.3.2018 aufzuheben. Ein Beteiligtenwechsel findet nicht statt; die Identität des Klägers bleibt gewahrt (zur Zulässigkeit von Berichtigungen des Rubrums von Amts wegen vgl. z.B. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 138 Rn. 3b m.w.N.; LSG NRW Beschl. v. 24.3.2015 - L 1 KR 482/14 B - juris Rn. 17 m.w.N.).
4Die Beschwerde der Beklagten ist zulässig und begründet.
5Gem. § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) findet gegen den Beschluss, durch den der Wert für die Gerichtsgebühren festgesetzt worden ist, die Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes - wie hier - 200 Euro übersteigt. Die Frist des § 68 Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 63 Abs. 3 S. 2 GKG ist vorliegend gewahrt.
6Das SG hat zu Unrecht einen Streitwert gem. § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 S. 1 GKG festgesetzt. Nach diesen Vorschriften ist ein Streitwert in Verfahren vor einem Gericht der Sozialgerichtsbarkeit (nur dann) festzusetzen, wenn der Kläger nicht zum kostenprivilegierten Personenkreis des § 183 SGG gehört. Kostenprivilegiert gem. § 183 S. 1 SGG sind Versicherte in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger oder Beklagte beteiligt sind. Diese Voraussetzungen sind gegeben, da der vom Kläger mit der Klage angefochtene Bescheid Feststellungen zur versicherungsrechtlichen Beurteilung seiner Tätigkeit bei der C GmbH beinhaltete. Soweit der Kläger im Beschwerdeverfahren geltend macht, er habe nicht in seiner Eigenschaft als Privatperson, sondern in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der GmbH geklagt, widerspricht dies der anwaltlich verfassten Klageschrift, die Bezug gerade auf den an den Kläger persönlich und nicht auf einen an die GmbH gerichteten Bescheid nimmt.
7Das Verfahren ist gebührenfrei; Kosten sind nicht zu erstatten (§ 68 Abs. 3 GKG).
8Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 197a SGG i.V.m. §§ 68 Abs. 1 S. 5, 66 Abs. 3 S. 3 GKG).
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Tenor
1. Die Beklagte wird unter Abweisung der weitergehenden Klage verurteilt, an die Klägerin EUR 168.000,00 zzgl. Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 04. Juni 2020 sowie außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von EUR 2.358,06 zzgl. Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 04. Juni 2020 zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagte zu 90%, die Klägerin zu 10% zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Leistungen aus einer Betriebsschließungsversicherung.
2
Die Klägerin betreibt im Hamburger Hafen auf dem Museumsschiff R. R. seit 2002 einen gastronomischen Betrieb. Zwischen den Parteien besteht ab dem 1.1.2018 für diesen Betrieb unter der Versicherungsnummer 120.053.0412997.7 im Rahmen einer „H. Business All Inclusive Police“ (Anlage K 2) eine Betriebsschließungsversicherung (Anlage B 8). Die Haftzeit bei behördlich angeordneten Schließungen beträgt 60 Tage, bei einer Tagesentschädigung von EUR 3.000,00 und einem Selbstbehalt von 2 Arbeitstagen (Anlage B 3). Die für diesen Vertrag geltenden Bedingungen (Anlage B 8) lauten auszugsweise:
3
1. Betriebsschließung
4
1.1. Der Versicherer leistet Entschädigung, wenn die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger
5
a) den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstelle zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt;
6
Tätigkeitsverbot gegen sämtliche Betriebsangehörige eines Betriebes oder einer Betriebsstätte werden einer Betriebsschließung gleichgestellt;
7
b) die Desinfektion der Betriebsräume und -einrichtung des versicherten Betriebes ganz oder in Teilen anordnet oder schriftlich empfiehlt, weil anzunehmen ist, dass der Betrieb mit meldepflichtigen Krankheitserregern behaftet ist;
8
c) die Desinfektion, Brauchbarmachung zur anderweitigen Verwertung oder Vernichtung von Vorräten und Waren in dem versicherten Betrieb anordnet oder schriftlich empfiehlt, weil anzunehmen ist, dass die Vorräte und Waren mit meldepflichtigen Krankheitserregern behaftet sind;
9
d) in dem versicherten Betrieb beschäftigten Personen ihre Tätigkeit wegen Erkrankung an meldepflichtigen Krankheiten oder wegen Infektionen mit meldepflichtigen Krankheitserregern oder wegen entsprechenden Krankheits- oder Ansteckungsverdachts oder als Ausscheider von meldepflichtigen Erregern untersagt.
10
e) Ermittlungsmaßnahmen nach § 25 Abs. 1 IfSG oder Beobachtungsmaßnahmen nach § 29 IfSG anordnet, weil jemand krank, krankheits-, ansteckungsverdächtig oder Ausscheider ist.
11
1.2 Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger
12
Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen sind die folgenden, im Infektionsgesetz (!-sic) in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger:(...)
13
1.3 Nicht versicherte Schäden
14
Nicht versichert sind ohne Rücksicht auf mitwirkende Ursachen Schäden...
15
e) (sic!) von Prionenerkrankungen oder dem Verdacht hierauf...
16
2. Entschädigungsberechnung der Betriebsschließungsversicherung
17
Der Versicherer haftet für den Unterbrechungsschaden, der innerhalb der vereinbarten Haftzeit entsteht. Die Haftzeit beginnt mit der behördlichen Anordnung. Je nach Umfang ersetzt der Versicherer den Schaden im Falle...
18
2.1. einer angeordneten Schließung des Betriebes
19
in Höhe der vereinbarten Tagesentschädigung für jeden Tag der Betriebsschließung bis zur vereinbarten Dauer. Tage, an denen der Betrieb auch ohne die behördliche Schließung geschlossen wäre, gelten nicht als Schließungstage.
20
Im Zuge der Ausbreitung des Coronavirus erließ die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg erstmalig am 15. März 2020 eine Allgemeinverfügung zur Eindämmung des Coronavirus. Diese schränkte das Gaststättengewerbe dahingehend ein, dass nur solche Betriebe für den Publikumsverkehr öffnen durften, die für ausreichende Sicherheitsabstände sorgen konnten. Im Anschluss wurde sowohl dem Gaststättengewerbe als auch Museen, durch Ergänzung der Allgemeinverfügung zur Eindämmung des Coronavirus, nunmehr vom 16. März 2020 (Anlage B 5) der Publikumsverkehr gänzlich untersagt. Die Verfügung beinhaltet auszugsweise folgende Regelungen:
21
7. In Ergänzung der Ziffer 5 der Allgemeinverfügung vom 15. März 2020 dürfen folgende Einrichtungen oder Angebote nicht für den Publikumsverkehr geöffnet werden
22
1) Theater (einschließlich Musiktheater)b) Filmtheater (Kinos),c) Konzerthäuser und -veranstaltungsorte,d) Museen(...)
23
8. Gaststätten im Sinne des Gaststättengesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. November 1998 (BGBl. I S. 3418, zuletzt geändert durch Artikel 14 des Gesetzes vom 10. März 2017, BGBl. I S. 420) müssen für den Publikumsverkehr geschlossen werden.
24
Hiervon ausgenommen sind Speiselokale und Betriebe, in denen überwiegend Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben werden, Personalrestaurants, Kantinen sowie Speiselokale im Beherbergungsgewerbe (wie beispielsweise Hotelrestaurants). Die Plätze für die Gäste müssen so angeordnet werden, dass ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zwischen den Tischen gewährleistet ist. Stehplätze sind so zu gestalten, dass ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zwischen den Gästen gewährleistet ist. Die vorgenannten Speiselokale und Betriebe, in denen überwiegend Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben werden, Personalrestaurants, Kantinen und Speisestätten im Beherbergungsgewerbe dürfen frühestens um 06:00 Uhr öffnen und müssen spätestens um 18:00 Uhr schließen. Nach 18:00 Uhr ist ihnen der Abverkauf von Speisen und Getränken zum Mitnehmen gestattet.
25
9. Ausgenommen von der Schließung für den Publikumsverkehr sind Betriebe, die Speisen und Getränke zum Mitnehmen abgeben bzw. ausliefern. Dies ist jederzeit zulässig.
26
Ab dem 16.3.2020 schloss die Klägerin ihren Betrieb.
27
Die Klägerin zeigte der Beklagten am 25. März 2020 die Betriebsschließung schriftlich an (Anlage K 3) und meldete Ansprüche aufgrund der von ihr abgeschlossenen Betriebsschließungsversicherung an. Die Beklagte wies den Versicherungsschutz mit Schreiben vom 26. März 2020 erstmals zurück (Anlage K 4). Im Anschluss nahm die Klägerin anwaltliche Hilfe in Anspruch und beauftragte den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit der Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen. Auch auf das nochmalige Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 15. April 2020 lehnte die Beklagte die Haftung weiter ab (Anlage K 5).
28
Seit dem 13. Mai 2020 durften in Hamburg Gaststätten für den Publikumsverkehr wieder öffnen.
29
Die Klägerin behauptet, sie habe ihren üblicherweise an sieben Tagen geöffneten Betrieb für einen Zeitraum vom 16. März 2020 bis zum 13. Mai 2020 und damit für mindestens 58 Tagen schließen müssen. Ein Außer-Haus-Verkauf habe vom Museumsschiff aus nicht stattfinden können.
30
Die Klägerin meint, die Beklagte sei aufgrund des Eintritts des Versicherungsfalles dazu verpflichtet, ihr den vollen Entschädigungsbetrag zu leisten. Der Versicherungsfall sei durch die behördliche Anordnung der Schließung des Betriebs aufgrund der Corona-Epidemie eingetreten.
31
Aufgrund der ausdrücklichen Weigerung der Beklagten zur Anerkennung der Versicherungspflicht sei die Klägerin gezwungen gewesen, vorprozessual anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Rechnung (Anlage K 6) sei von der Klägerin beglichen worden, weshalb die Beklagte verpflichtet sei die entstandenen Kosten zu ersetzen.
32
Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen,
33
1.) an die Klägerin EUR 180.000,00 nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
34
2.) an die Klägerin außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von EUR 2.526,40 zzgl. Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
35
Die Beklagte beantragt,
36
die Klage abzuweisen.
37
Die Beklagte ist der Auffassung, unter der Police bestände schon nach dem Wortlaut der Ziffer 1.2. kein Versicherungsschutz. Anders als in anderen marktüblichen Policen handele es sich um keine dynamische, sondern um eine enumerativ und abschließende Aufzählung der versicherten Krankheiten und Erreger. Da das Coronavirus ungenannt bliebe, könne hierfür auch keine Deckung bestehen. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein Versicherer Deckungsschutz allenfalls für bekannte Krankheiten und Erreger, gegen die bereits wirksame Gegenmittel zur Verfügung stehen, gewähren würde. Ein verständiger und durchschnittlicher Versicherungsnehmer könne keinen weitergehenden Versicherungsschutz verlangen und erwarten. Durch die Formulierung „die folgenden ... namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“ werde deutlich, dass lediglich bestimmte, nämlich die „mit Namen“ aufgeführten Meldeanlässe der Deckungspflicht unterfielen. Da das Coronavirus erst durch das Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 19.05.20 mit Wirkung zum 23.05.20 in das IfSG aufgenommen wurde, falle es eindeutig nicht unter die Versicherung.
38
Da zudem eine Betriebsschließung aufgrund eines konkreten Verwaltungsaktes nicht vorliege, sei zu bezweifeln, ob überhaupt eine behördliche Anordnung im Sinne der Versicherungsbedingungen gegeben sei. Es handele sich um keinen, gegen den Betrieb und/oder die Personen der Klägerin bzw. deren Betriebsangehörigen gerichteten, also „intrinsischen“ Verwaltungsakt. Zudem sei die Verfügung nicht von der zuständigen Behörde, sondern von dem Senat der Freien und Hansestadt Hamburg erlassen und verletze das Zitiergebot aus Artikel 19 Abs. 1, S. 2 GG. Auch leide die Verfügung an gravierenden Mängeln, die zu deren Unwirksamkeit führten. Insbesondere stütze sich die Anordnung auf eine unzutreffende Ermächtigungsgrundlage, was neben der materiellen Rechtswidrigkeit auch - ex tunc - zur Nichtigkeit führe. Zudem handele es sich bei der Corona-Epidemie um das allererste Ereignis, anlässlich dessen über einen unbestimmten Zeitpunkt hinaus das öffentliche Leben praktisch zum Erliegen gekommen sei. Für solche allgemeinen Katastrophen könne ohnehin kein Versicherungsschutz erwartet werden.
39
Hinsichtlich des eingetretenen Schadens sei zudem das versicherungsvertragliche Bereicherungsverbot zu berücksichtigen. Die Klägerin müsse sich ersparte Aufwendungen in Form staatlich empfangener Soforthilfen, Kurzarbeitergeld, Ersparungen infolge etwaiger Kündigungen der Angestellten oder Aufwendungen für die Beschaffung von Speisen, Getränken, Reinigung der Betriebsräume, Kleidung, Strom Wasser, Gas, etc. anrechnen lassen.
40
Für das weitere Vorbringen der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
41
Die Klage ist zulässig und überwiegend begründet.
I.
42
Der Klägerin steht ein Anspruch auf die vereinbarte Versicherungsleistung aus der zwischen den Parteien bestehenden Betriebsschließungsversicherung zu. Es lag im Zeitraum vom 16. März 2020 bis einschließlich dem 12. Mai 2020, also für 58 Tage, eine bedingungsgemäß versicherte Betriebsschließung vor.
43
Die Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt, da die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstelle zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen geschlossen hat.
44
1. Anspruchsbegründende Betriebsschließung
45
Der versicherte Betrieb wurde durch die Allgemeinfügung der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz vom 16. März 2020 geschlossen. Die Allgemeinverfügung beruhte auf dem IfSG und diente der Eindämmung des Coronavirus in Hamburg. Das Coronavirus war ein nach dem IfSG meldepflichtiger Erreger. Nach § 7 Abs. 2 IfSG sind auch neu auftretende Erreger, die nicht in den Aufzählungen der §§ 6 Nr. 1 bis 4 oder 7 Abs. 1 IfSG aufgeführt sind, meldepflichtig, „wenn unter Berücksichtigung ihrer Art und der Häufigkeit ihres Nachweises Hinweise auf eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit bestehen“ (Fassung v. 17.07.2017). Diese Voraussetzungen liegen beim Coronavirus vor.
46
Unerheblich ist, ob die Gesundheitsbehörde ihre Zuständigkeit zur Recht bejaht hat und ob sich die Allgemeinverfügung zu Recht auf die Vorschriften des IfSG stützen konnte. In Ziff. 1.1. der AVB wird nicht danach unterschieden, ob die behördliche Maßnahme zu Recht oder zu Unrecht erfolgt. Der Regelungstatbestand ist vielmehr bereits dann erfüllt, wenn sich die handelnde Behörde bei der Betriebsschließung auf das IfSG beruft. Das entspricht auch dem Sinn und Zweck der in Ziffer 1.1. AVB getroffenen Regelung, wie sie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer verstehen muss: Sie soll ihn vor den Folgen einer Betriebsschließung aufgrund eines behördlichen Eingriffs zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten schützen. Diese Folgen sind bei beiden Alternativen gleich.
47
Unerheblich ist ferner, welche ihr zur Verfügung stehenden Handlungsformen die Behörde nutzt, um die Schließung zu bewirken. Auch hier enthält schon der Wortlaut der Klausel keine Anhaltspunkte dafür, dass Eingriffe nur dann umfasst sein sollen, wenn sie durch individuelle Verwaltungsakte erfolgen, nicht aber, wenn sich die Behörde einer Allgemeinverfügung bedient hat. Für den Schutz des versicherten Interesses ist das gleichgültig.
48
2. Kein Anspruchsausschluss nach Ziffer 1.2. der AVB-Betriebsschließung
49
Die in Ziffer 1.1. der AVB enthaltene Beschreibung des versicherten Risikos wird nicht wirksam durch die in Ziffer 1.2. enthaltene Aufzählung meldepflichtiger Krankheiten / Erreger eingeschränkt. Eine entsprechende Absicht des Versicherers lässt sich aus der Perspektive eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers, der die Bedingungen studiert, nicht entnehmen. Wenn der Verwender der Bedingungen eine derartige Bedeutung zum Ausdruck bringen wollte, ist dies jedenfalls nicht hinreichend deutlich geschehen. Im Ergebnis scheitert eine solche Auslegung an der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB enthaltenen Transparenzgebot und dem Grundsatz der kundenfreundlichsten Auslegung. Die einzig danach verbleibende Auslegung führt zum Haftungseinschluss auch in Bezug auf Covid-19.
50
a) Der mehrdeutige Wortlaut der Regelung
51
Es soll hier nicht in Frage gestellt werden, dass der Wortlaut der Bedingungen die Deutung tragen kann, dass nur Betriebsschließungen aufgrund der in Ziffer 1.2. aufgezählten Krankheiten und Erreger, zu welchen das neuartige Coronavirus nicht gehört, vom Versicherungsschutz umfasst sein sollen. Hierfür kann beispielhaft auf die Ausführungen des Landgerichtes Ellwangen im Urteil vom 17.9.2020 (3 O 187/20, COVuR 2020, 639) und des Landgerichts Oldenburg im Urteil vom 16.10.2020 (13 O 2068/20 – juris RN 17) verwiesen werden.
52
Der Wortlaut der Bedingungen ist jedoch mehrdeutig.
53
Wenn es heißt
54
„Meldepflichtige Krankheiten im Sinne der Bedingungen sind die folgenden, im Infektionsgesetz (!-sic) in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“ ...A, B, C...Z...
55
lässt sich das zwar durchaus so verstehen, dass hinter dem Wort „sind“ gedanklich ein „nur“ einzufügen ist und es sich um eine abschließende Aufzählung handelt (s.o. LG Oldenburg). Ein solches Verständnis ergibt sich aber nicht explizit aus dem Wortlaut der Regelung, sondern nur aus einem Umkehrschluss. Mit einer solchen Schlussfolgerung trägt der Leser bereits sein eigenes Vorverständnis an den Text heran, welches zunächst einmal der Offenlegung und sodann der Begründung nach gängiger Auslegungsmethode bedarf.
56
Denkbar wäre genauso, aufgrund eines anderen Vorverständnisses, statt „nur“ gedanklich die Worte „beispielweise „oder „im Wesentlichen“ einzufügen und den besagten Gegenschluss nicht zu ziehen. Das kann auf der Annahme beruhen, mit der Regelung solle in nicht abschließender Weise über die wichtigsten Krankheiten und Erreger, auf welche die Regelung angewandt wird, informiert werden, damit die Eintrittspflicht auch ohne ein Nachschlagen im Gesetz nachvollziehbar wird.
57
Die Entscheidung für die eine oder andere Variante lässt sich nicht auf der Ebene der Semantik treffen.
58
b) Zur Auslegung der AVB
59
Für die Auslegung der AVB kommt es auf die Perspektive eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse an. Maßgeblich ist, wie dieser die Bedingungen bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht (BGH, Urteil vom 08. Januar 2020 – IV ZR 240/18 –, juris, RN 9 mit umfangr. wt. Nachw.). Daraus ergeben sich auch Anforderungen an die Transparenz der Regelungen. Diese bringen es nach den Grundsätzen von Treu und Glauben mit sich, dass der Verwender Allgemeiner Versicherungsbedingungen, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen hat. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass eine Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben auch, dass die Klausel die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lässt, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann (BGH, Urteil vom 14. August 2019 – IV ZR 279/17 –, juris Rn 18. Urteile vom 4. Juli 2018 - IV ZR 200/16, r+s 2018, 425 Rn. 25; vom 4. April 2018 - IV ZR 104/17, r+s 2018, 258 Rn. 8).
60
Eine Auslegung der Bedingungen nach Treu und Glauben, insbesondere unter Beachtung des Transparenzgebots, schließt einen abschließenden Charakter der Aufzählung in Ziffer 1.2. aus und führt zu dem Ergebnis, dass auch das Coronavirus zu den meldepflichtigen Krankheiten im Sinne der Bedingungen gehört und darauf beruhende Betriebsschließungen versichert sind.
61
Die Kammer ist sich dabei darüber im Klaren, dass sich diese Versicherung nicht an Verbraucher wendet, sondern an die Inhaber kaufmännischer Betriebe, und dass das Spektrum vom „kleinen Selbständigen“ bis zu größeren Kapitalgesellschaften reichen wird. Bei der Masse der Versicherungsnehmer wird es sich um kleinere bis mittlere Unternehmen ohne eigene Rechtsabteilung handeln, deren Geschäftsführung zwar nicht juristisch vorgebildet ist, aber in den wirtschaftlichen Zusammenhängen ihres Geschäftsfelds erfahren ist. Dazu gehören im Randbereich auch Erfahrungen mit Versicherungen. Bei dieser Gruppe kann eine kritische, strukturierte Lektüre der Bedingungen vorausgesetzt werden, nicht aber juristische Vorbildung oder Kenntnisse des IfSG. Die vorstehenden Ausführungen sind daher ausdrücklich auf diese Gruppe bezogen. Für die Einschätzung der Perspektive des dieser Gruppe zugehörigen Versicherungsnehmers konnte die Kammer auf die geschäftlichen Erfahrungen und Kenntnisse der an der Entscheidung beteiligten Handelsrichter zurückgreifen.
62
c) Strukturelle Unklarheiten
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Versicherungsnehmer der angesprochenen Gruppe haben sich schon des Öfteren mit Versicherungsbedingungen auseinandersetzen müssen und werden bei der Lektüre zunächst einmal deren Struktur ansehen, insbesondere die Beschreibung der versicherten Risiken und Schäden, Haftungseinschlüsse und Haftungsausschlüsse. Bei dem hiesigen Produkt stoßen sie auf folgende Struktur:
64
1. Betriebsschließung
65
1.1. Keine Überschrift1.2. Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger1.3. Nicht versicherte Schäden
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2. Entschädigungsberechnung
...
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Bei dieser Struktur werden sie die Beschreibung der versicherten Risiken und Schäden entweder in einem den Punkten 1.1. – 1.3. vorangestellten Fließtext oder (in Ermangelung eines solchen) unter Ziffer 1.1. suchen. Da hier ein vorangestellter Text fehlt, muss die Risikobeschreibung unter Ziffer 1.1. zu finden sein. Etwaige Ausnahmen von 1.1. werden dann - entsprechend der Überschrift - unter Ziffer 1.3. zu vermuten sein. Die Funktion von Ziffer 1.2. erschließt sich zunächst einmal nicht, insbesondere nicht, ob es eine Erläuterung, eine Einschränkung oder eine Erweiterung der in Ziffer 1.1. anzunehmenden Beschreibung der versicherten Risiken und Schäden sein soll. Die Überschrift verhält sich dazu nicht. Betrachten die kaufmännisch versierten Versicherungsnehmer dann den Text von Ziffer 1.2., werden sie sehen, dass dieser ebenfalls keine ausdrückliche Aussage dazu trifft, ob die Risikobeschreibung in Ziffer 1.1. eingeschränkt werden soll. Dementsprechend werden die strukturiert denkenden Versicherungsnehmer erwarten, dass alle Einschränkungen, wie es die entsprechende Überschrift ankündigt, unter Ziffer 1.3. zu finden sind. Ziffer 1.3. nennt diverse Ausschlüsse, darunter auch eine Gruppe von Schäden durch Krankheiten, die generell vom Versicherungsschutz ausgenommen sein sollen, nämlich Schäden aufgrund von „Prionenerkrankungen“ (darunter fallen das Creutzfeld-Jacob-Syndrom und der sog. „Rinderwahn“). Diese Erkrankung wird vielen der Versicherungsnehmer (Restaurants / Metzgereien) aufgrund der von ihnen einzuhaltenden beruflichen Sorgfaltspflichten bekannt sein. Da die Bedingungen somit einen ausdrücklichen Ausschluss von Schäden aufgrund von Prionenerkrankrungen enthalten, liegt für die angesprochenen Versicherungsnehmer der Schluss nahe, dass diese Krankheiten grundsätzlich von den Bedingungen erfasst werden, sonst bedürfte es keines Ausschlusses. In der Liste der Krankheiten gemäß Ziff. 1.11.2. sind sie jedoch nicht enthalten, was wiederum zu dem Umkehrschluss führen kann, dass die Liste keine abschließende Aufzählung enthält (LG München, 12 O 5895/20, Urt. v. 1.10.2020, juris RN 105) und es stattdessen auf das Spektrum in den §§ 6, 7 IFSG ankommt. Dort erschienen Prionenerkrankungen unter § 6 I 1 d) unter der Bezeichnung: humane spongiforme Enzephalopathie, sodass die Ausnahme Sinn ergeben würde.
68
Der Haftungsausschluss bezüglich Prionenerkrankungen zeigt, dass der Verwender der Bedingungen die in Ziffer 1.2 vorgenommene Aufzählung für den Umfang der Leistungspflicht selbst nicht als (eindeutig) abschließend betrachtet.
69
Wenn die Aufzählung in Ziffer 1.2. die Funktion haben soll, alle in dieser Aufzählung nicht genannten meldepflichtigen Krankheiten / Erreger nach dem IfSG herauszufiltern, müsste dies auch in der Überschrift deutlich werden, damit die Mindestanforderungen an eine übersichtliche, nachvollziehbare Struktur der Bedingungen erfüllt sind. Statt der unverfänglichen Wortwahl „Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger“ hätte es hier beispielsweise heißen müssen: „Beschränkungen des Versicherungsschutzes“ oder zumindest „Umfang des Versicherungsschutzes“ oder „Versicherte Krankheiten und Krankheitserreger“ (wobei auch die letzteren Alternativen möglicherweise aufgrund der in Ziff. 1.1. vorgenommenen uneingeschränkten Entschädigungszusage für sich allein ohne weitere Klarstellung im Text, z.B. durch das Wort „nur“, wohl nicht genügen würden).
70
d) Unklarheiten aufgrund der Verwendung des Worts „namentlich“
71
Auch die Verwendung des (in Aufsätzen und Urteilen vielfach kommentierten Wortes) „namentlich“ in Ziffer 1.2. trägt dazu bei, ein klares Verständnis der Klausel zu erschweren (in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten...). Einige Autoren heben hervor, dass dieses Wort auch als Synonym für insbesondere verwandt wird, was den beispielhaften Charakter der Aufzählung unterstreiche, während verschiedene Autoren zu Recht darauf hinweisen, dass das Wort dann an anderer Stelle im Satz hätte platziert werden müssen (sind namentlich die folgenden...).
72
Das Wort „namentlich“ an dieser Stelle der Bedingungen kann aber dennoch zu der Assoziation führen, die anschließende Liste sei beispielhaft, zumal der Hinweis auf die folgenden „in den §§ 6 und 7 namentlich genannten“ Krankheiten und Krankheitserreger bei einem abschließenden Charakter der Aufzählung überflüssig wäre und das Wort „namentlich“ sogar innerhalb dieses für sich schon überflüssigen Hinweises eine „sinnlose Tautologie“ wäre (Werber, VersR 2020, 661, 664). Weitere Verwirrung kann dadurch entstehen, dass diejenigen Versicherungskunden, die vor Abschluss ihrer Betriebsschließungsversicherung überobligatorisch das IfSG zu Rate ziehen, auch dort in hervorgehobener Weise den Begriff „namentlich“ entdecken. Dieser wird hier jedoch nicht in Bezug auf Krankheiten / Erreger, sondern in Bezug auf Meldepflichten gebraucht. Das IfSG unterscheidet zwischen namentlicher Meldepflicht und nichtnamentlicher Meldepflicht. Damit ist gemeint, dass entweder der Erkrankte bzw. der Träger des Erregers, je nach Krankheit / Erreger, namentlich zu melden ist (§ 9 IfSG) oder dass eine nichtnamentliche Meldung von dem Fall genügt (§ 10 IfSG). Es ist leicht möglich, die namentlich genannten Krankheiten / Erreger im Sinne der AVB und die Krankheiten / Erreger im Sinne des IfSG, die eine namentliche Meldepflicht auslösen, zu verwechseln, zumal nach dem Wort „namentlich“ in beiden Fällen lange Aufzählungen der entsprechenden Krankheiten / Erreger folgen.
73
Bei Lektüre der §§ 6 und 7 IfSG ergibt sich, dass aufgrund der Auffangtatbestände in den §§ 6 I Ziff. 5 und 7 II eigentlich alle bedrohlichen Krankheiten und Erreger namentliche Meldepflichten nach sich ziehen. Wenn die Bedingungen dann für eine Entschädigungspflicht auf die „namentlich genannten“ Krankheiten und Erreger verweisen, kann dies bei einem sich überobligatorisch informierenden Versicherungsnehmer zu dem Irrtum führen, die Betriebsschließungsversicherung knüpfe an die namentliche Meldepflicht an. Dann könnte er sich als gut abgesichert ansehen.
74
Zwar trifft dies nicht auf Kunden zu, die sich Zeit nehmen, auch den Gesetzestext sehr genau zu lesen und über das entsprechende Verständnisvermögen verfügen. Denn sie erkennen, dass das Wort „namentlich“ im Gesetz und in den Bedingungen nicht das Mindeste miteinander zu tun haben. Aber zu dem von der Beklagten für richtig gehaltenen Verständnis gelangen diese Kunden dann nicht wegen, sondern trotz der in den Bedingungen gewählten Formulierungen. Diese verschleiern ihren (angeblichen) Sinn, es liege eine den Versicherungsschutz abschließende Liste vor, durch redundante Hinweise auf das IfSG und durch das unnötige Aufgreifen der eigentümlichen gesetzlichen Wortwahl, mit einer völlig anderen Bedeutung. (Dafür, dass auch in juristischen Veröffentlichungen der Irrtum vorkommt, dass sich das Wort „namentlich“ im IfSG - hier in Bezug auf § 6 I Ziff. 5 - auf die Bezeichnung der Krankheit / des Erregers und nicht der betroffenen Person bezieht, vgl. Günther, Anm. zu LG Ellwangen, Urteil vom 17.09.2020 – 3 O 187/20, BeckRS 2020, 24053; FD-VersR 2020, 432597).
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e) Keine hinreichende Erkennbarkeit von Deckungslücken bei abschließendem Charakter der Liste
76
Sofern die Aufzählung in Ziffer 1.2. AVB als abschließend zugrunde gelegt wird, werden nur wenige Versicherungsnehmer erkennen, dass hier eine Unterscheidung zwischen meldepflichtigen Krankheiten / Krankheitserregern im Sinne des Gesetzes und meldepflichtigen Krankheiten / Krankheitserregern im Sinne dieser Bedingungen eingeführt wird und dass mit dieser Unterscheidung ein großer Anwendungsbereich des Gesetzes und der daraus resultierenden Möglichkeiten der Betriebsschließungen ausgeklammert wird. Für nicht rechtskundige, durchschnittliche Versicherungsnehmer liegt dies schon deswegen außerhalb der bei ihnen vorauszusetzenden Erkenntnismöglichkeiten, da ihnen der Gesetzestext unbekannt ist und von ihnen auch nicht erwartet werden kann, dass sie ihn vor dem Abschluss der Versicherung lesen. So entgeht ihnen auch, dass das Gesetz (in der bei Abschluss der Versicherung geltenden Fassung) noch einige weitere Krankheiten / Erreger ausdrücklich als meldepflichtig bezeichnet, die nicht zu den meldepflichtigen Krankheiten / Erregern „im Sinne dieser Bedingungen“ gehören (Keuchhusten, Röteln, Mumps, Windpocken, humane spongiforme Enzephalopathie). Sie können auch nicht wissen, dass nach dem Gesetz auch andere, nicht bezeichnete Krankheiten / Erreger (namentlich) meldepflichtig sind, sofern sie die Voraussetzungen der §§ 6 Abs. 1 Ziff. 5 oder 7 Abs. 2 IfSG erfüllen. Sie sehen zwar die Worte „im Sinne dieser Bedingungen“, haben aber nicht die Vorstellung, dass die Bedingungen einerseits und das Gesetz andererseits hier möglicherweise weit auseinanderklaffen. (Anders als das LG Ellwangen im Urteil vom 17.9.2020, COVuR 2020, 639, RN 35 meint, lassen sich mithin aus der fehlenden ausdrücklichen Erwähnung der Öffnungsklausel des § 6 I Ziff. 5 IfSG in den AVB bei der Auslegung der Ziff. 1.2 auch keine für den Versicherungsnehmer nachteiligen Schlussfolgerungen ziehen).
77
Auch soweit manche Versicherungsnehmer also die Aufzählung in Ziffer 1.2. als abschließend betrachten, wird ihnen im Zweifel nicht klar sein, dass der dann zu gewährende Versicherungsschutz einen eventuell großen Teil des Betriebsschließungsrisikos ohne Deckung lässt. Der einmalig im Fließtext eingefügte Zusatz „im Sinne dieser Bedingungen“ reicht als Warnhinweis dafür, dass die im Gesetz verwandten Begriffe der meldepflichtigen Krankheiten bzw. der meldepflichtigen Krankheitserreger eine neue, vom Gesetz abweichende, stark eingeschränkte Bedeutung erlangen, nicht aus. Das gilt umso mehr, als die Bedingungen an dieser Stelle nochmals ausdrücklich auf die §§ 6 und 7 IfSG hinweisen. Das kann zu dem Eindruck führen, es bestehe ein Gleichlauf zwischen den in den §§ 6 und 7 IfSG erfassten Krankheiten und Krankheitserregern und der folgenden Liste und die Aufzählung decke den Anwendungsbereich der §§ 6 und 7 IfSG vollständig ab. Das würde die Erwartung des Kunden begründen, er wäre vollständig abgesichert.
78
Die Erkenntnis, dass die Liste nicht „die“ Krankheiten und Krankheitserreger erfasst, die zu einer Betriebsschließung führen können, sondern dass es sich „nur“ um eine Auswahl daraus handelt, dass insbesondere auch dort nicht genannte, in den §§ 6 Abs. 1, Ziff. 5, 7 Abs. 2 IfSG erfasste Krankheiten / Erreger namentlich meldepflichtig sein können und zu Betriebsschließungen führen können, wird den Adressaten der Bedingungen nicht vermittelt. Ob dies dazu führt, dass eine Auslegung der Liste als abschließend an der Inhaltskontrolle für AGB gemäß § 307 Abs. 1, Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 BGB scheitert (vgl. Werber, VersR 2020, 661, 667), kann dahinstehen, jedenfalls scheitert sie daran, dass die Nachteile einer solchen Regelung für den Kunden intransparent sind.
79
Im Rahmen einer wertenden Betrachtung der Transparenzanforderungen ist auch zu berücksichtigen, dass die Betriebsschließungsversicherung eine relativ neue Versicherungsart ist und dass das IfSG (bis zum Auftreten des Coronavirus) zu den im Allgemeinen und insbesondere im Geschäftsleben wenig im Fokus stehenden Gesetzen gehörte. Während der unternehmerisch tätige Versicherungsnehmer einer Betriebshaftpflicht- oder einer Maschinenversicherung aufgrund seines eigenen Erfahrungshorizonts ziemlich genau beurteilen kann, welche tatsächlichen Risiken für seinen Betrieb bestehen und ob die ihm angebotenen Module für seine Schutzzwecke genügen, kann beim Kunden einer Betriebsschließungsversicherung nicht vorausgesetzt werden, dass ihm die Vorschriften des IfSG, die zu einer Betriebsschließung führen können, bekannt sind. Wird ihm eine solche Versicherung angeboten, die ihn in dem Fall entschädigen soll, dass die zuständige Behörde seinen Betrieb aufgrund des IfSG beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger schließt, erwartet er nach Treu und Glauben, dass sein Risiko aufgrund des IfSG damit auch vollständig abgedeckt ist; es sei denn, der Versicherer weist ihn ausdrücklich darauf hin, dass sich der intendierte Schutz nur auf einen Teilbereich beziehen soll.
80
Bei dieser Versicherungsart befindet sich der Versicherungsnehmer in einer vergleichbaren Position wie ein Kapitalanleger, der sich für ein bestimmtes Anlageprodukt entscheidet, nur mit dem Unterschied, dass es ihm um den Schutz vorhandener Vermögenswerte / Ertragsaussichten geht, während es dem Kapitalanleger um die Erhaltung und Mehrung des eingesetzten Kapitals geht. In Bezug auf eine informierte Entscheidung sind aber beide gleichermaßen schutzwürdig. Für einen Kapitalanleger gilt in ständiger Rechtsprechung des BGH, dass dieser über alle Umstände, die für ihre Entscheidung von wesentlicher Bedeutung sind oder sein können, insbesondere über die mit der angebotenen speziellen Beteiligungsform verbundenen Nachteile und Risiken zutreffend, verständlich und vollständig aufgeklärt werden muss (BGH, Urteil vom 08. Januar 2019 – II ZR 139/17 –, Rn. 21, juris, BGH, Urteil vom 4. Juli 2017 - II ZR 358/16, ZIP 2017, 1664 Rn. 9; Urteil vom 6. November 2018 - II ZR 57/16, juris Rn. 15, jew. mwN).
81
Dies muss grundsätzlich auch für den Versicherungsnehmer einer Betriebsschließungsversicherung gelten. Wenn der Versicherer das Risiko einer Betriebsschließung aufgrund der Vorschriften des IfSG entgegen der im Ausgangspunkt gegebenen Risikobeschreibung nur teilweise absichern will, muss der Versicherungsnehmer darüber zutreffend, verständlich und vollständig aufgeklärt werden. Werden die Klauseln dem nicht gerecht, wie das hier der Fall ist, führt das zwar (wohl) nicht zu einer Haftung des Versicherers nach den §§ 311 Abs. 2 Ziff. 1, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB, aber die vom Versicherer ggf. intendierten Einschränkungen des Versicherungsschutzes sind ohne weiteres als überraschend im Sinne von § 305c BGB bzw. intransparent im Sinne von § 307 Abs. 1 S. 2 BGB zu werten und damit unbeachtlich. Als Auslegungsmöglichkeit bleibt dann nur noch der offene Charakter der Liste übrig.
82
Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass das Auftreten der Corona-Epidemie ein von niemanden vorhersehbares Ereignis gewesen sei, sodass den Versicherer selbstverständlich auch keine diesbezüglichen Aufklärungspflichten treffen könnten. Im Gegensatz zum Covid-19-Virus ist die Schutzlücke der angebotenen Betriebsschließungsversicherung (sofern die Auflistung der Krankheiten als abschließend intendiert ist), nämlich durchaus vorhersehbar, weil das IfSG ein „dynamisches“ Gesetz ist und immer wieder gefährliche neue Krankheiten / Erreger auftreten, die nach § 7 Abs. 2 IfSG potenziell meldepflichtig sind und zu Betriebsschließungen führen können.
83
Gegen einen nur auf bestimmte Krankheiten / Erreger beschränkten Versicherungsschutz sprechen auch die dem Versicherer bei Konstruktion des Produktes erkennbaren Schutzinteressen der potenziellen Kunden. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Kunde eine möglichst weit gefasste Entschädigungspflicht wünscht und jeder Versicherer eine möglichst beschränkte Eintrittspflicht. Maßgeblich ist, dass es dem Versicherungsnehmer einer Betriebsschließungsversicherung erkennbar darum geht, sich gegen „Schäden durch eine behördlich angeordnete Betriebsschließung infolge einer Seuchengefahr“ (Kurzbeschreibung des Versicherungsgegenstands durch die Beklagte, Anlage B 2) zu schützen und nicht, sich gegen das Auftreten bestimmter Krankheiten / Erreger abzusichern. Wäre wirtschaftlicher Hintergrund der Versicherung, dass der Versicherungsnehmer immer wieder erlebt, dass sein Betrieb oder andere Betriebe seiner Branche wegen dieser und jener Krankheit geschlossen würden, so würde er sich überlegen, in Bezug auf welche Krankheiten / Erreger er Versicherungsschutz einkaufen will und entsprechende, von den Versicherern angebotene Module zusammenstellen. Eine solche Situation liegt hier aber gerade nicht vor. Die Beschreibung des Versicherungsschutzes in Ziff. 1.1. AVB bezieht sich ganz allgemein auf Betriebsschließungen nach dem IfSG, und der Versicherungsnehmer hat auch keine Möglichkeit, die Liste der mitversicherten Krankheiten / Erreger durch Beschränkungen oder Erweiterungen zu beeinflussen.
84
f) Kein Widerspruch der weiten Auslegung zum Produktgestaltungsrecht des Versicherers
85
Ziffer 1.2. unterliegt der Klauselkontrolle und bleibt nicht als Teil der Leistungsbeschreibung kontrollfrei. Das ergibt sich daraus, dass nach heutiger allgemeiner Meinung nur die Definition des Versicherungsfalls in seiner allgemeinsten Gestalt kontrollfrei bleibt, während alle danach folgenden Modifikationen der Kontrolle unterliegen (Werber, VersR 2020. 661, 667 mit wt. Nachweisen). Die allgemeinste Leistungsbeschreibung findet sich hier bereits unter Ziffer 1.1.(vgl. Werber, a.a.O., zu vergleichbaren AVB).
86
Damit soll der Beklagten nicht das Recht abgesprochen werden, ihre Haftung aufgrund ihrer Risikoeinschätzung enger zu fassen. Zu beanstanden ist aber der Weg, wie sie dies (möglicherweise) in diesem Fall erreichen wollte. Die Risikobeschreibung in Ziffer 1.1. verspricht die Entschädigungsleistung für Betriebsschließungen bereits dann, wenn die behördlich angeordnete Schließung aufgrund des IfSG beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger erfolgt. Dies lässt sich zwar in folgenden Klauseln einschränken, aber nicht in der ungewöhnlichen und überraschenden Weise, dass eindeutige gesetzliche Begriffe durch den Zusatz im Sinne dieser Bedingungen umdefiniert werden. In Bezug auf das Covid-19-Virus würde dies zu der Aussage führen, dass dieses kein meldepflichtiger Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen wäre, obwohl es sich um einen Krankheitserreger handelt, dessen Auftreten (und zwar gemäß den §§ 6 I Ziff. 5, 7 II IFSG von Anfang an) meldepflichtig ist. Welche dieser beiden Eigenschaften ihm diese Bedingungen versagen, bliebe offen. Eine hinreichend transparente Beschränkung des in Ziffer 1.2. genannten Versicherungsumfangs kann nicht durch eine unauffällig vom Gesetz abweichende Neudefinition meldepflichtiger Krankheiten / Erreger erreicht werden, sondern müsste klar und eindeutig offenlegen, dass für bestimmte meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger, die dem IfSG, insbesondere den §§ 6 und 7 unterfallen, kein Schutz unter diesen Bedingungen gewährt wird (das könnte z.B. für bis dato unbekannte Krankheiten / Erreger geschehen). Der Versicherungsnehmer muss die Möglichkeit haben zu erkennen, dass er für seine Prämie nur einen Teilschutz gegen Betriebsschließungen erwirbt und sich entscheiden können, ob er das verbleibende Risiko lieber selbst trägt oder sich anderweitig versichert.
87
Insofern betrifft diese Entscheidung nicht das Recht des Versicherers, sein Versicherungsprodukt genauso zuzuschneiden, wie er es für richtig hält. Der Kunde muss aber mit hinreichender Deutlichkeit erkennen können, welchen Umfang der angebotene Schutz hat, welche Einschränkungen bestehen und welche Risiken offenbleiben.
II.
88
Der Höhe nach steht der Klägerin für den Zeitraum der Schließung des Betriebs, insgesamt 58 Tage, eine Schadensersatzleistung von € 3.000,00 /Tag abzüglich eines vereinbarten Selbstbehalts für zwei Tage zu, was zu der zuerkannten Ersatzleistung von € 168.000,00 führt. Die Berechnung der Entschädigung ergibt sich aus Ziffer 2 AVB, wonach der Haftungszeitraum mit der behördlichen Anordnung der Betriebsschließung beginnt und für jeden Tag der Schließung die vereinbarte Tagesentschädigung zu zahlen ist. Der Tagessatz von € 3.000,00 und der Selbstbehalt von 2 Arbeitstagen sind in der Leistungsübersicht der Beklagten festgelegt (Anlage B 3). Die Anzahl der Tage ergibt sich daraus, dass die Betriebsstätte der Klägerin 7 Tage in der Woche geöffnet hatte.
89
Auf den konkreten Ertragsausfall der Klägerin kommt es für die Berechnung der Entschädigungsleistung nicht an. Der vereinbarte Betrag von € 3.000,00 ist als eine Taxe anzusehen. Diese Pauschalleistung wurde im Vorfeld von den Parteien anhand der konkreten Geschäftszahlen der Klägerin festgelegt und die Prämie wurden nach der Höhe dieses Betrages bemessen. An dieser Vereinbarung muss sich die Beklagte festhalten lassen. Dagegen kann sich die Beklagte auch nicht auf ein (in dieser Form nicht mehr bestehendes) versicherungsrechtliches Bereicherungsverbot berufen. Es war gerade Sinn der Vereinbarung eines festen Tagessatzes, entsprechende Streitigkeiten und komplizierte Ermittlungen der Ersatzleistung zu vermeiden. Dass Betriebsschließungen auch zu Aufwendungsersparungen führen, war den Parteien bei Vereinbarung der Taxe bewusst und es ist nicht erkennbar, dass dieser offensichtliche Umstand bei der gemeinsamen Kalkulation der Pauschale unberücksichtigt geblieben ist. Die Klägerin hat im Schriftsatz vom 20.8.2020 und den dazu vorgelegten Unterlagen substanziiert zu ihrer finanziellen Situation infolge der Betriebsschließung vorgetragen. Danach ergeben sich keine Anzeichen dafür, dass die Voraussetzungen des § 76 Satz 2, Halbsatz 2 VVG vorliegen und die Taxe den wirklichen Versicherungswert erheblich übersteigt.
90
Auch sind etwaige staatliche Corona-Hilfen nicht anzurechnen, da ihr Zweck nicht darin besteht, etwaige Versicherer zu entlasten. Es handelt sich vielmehr um Konjunktur-Hilfen zur Überwindung einer kurzfristigen Liquiditätskrise und nicht um Schadensersatzleistungen. Zudem sind die staatlichen Hilfen grundsätzlich subsidiär. Soweit der Empfänger sie nicht benötigt, weil er gegen den Schaden versichert ist, werden Überzahlungen auf dieser Ebene abgewickelt werden müssen.
III.
91
Ergänzend wird zum Haftungsgrund und zur Nichtanrechenbarkeit von staatlichen Leistungen für ein vergleichbares Klauselwerk auf die überzeugenden Ausführungen des Landgerichts München, im Urteil vom 1.10.2020, 12 O 5895/20 Bezug genommen.
IV.
92
Der Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten in der zuerkannten Höhe ergibt sich aus § 286 BGB, wobei der geltend gemachte Betrag von EUR 2.526,40 anteilig zu kürzen war.
V.
93
Die Zinsentscheidung beruht auf den §§ 286, 288, 291 BGB. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus den §§ 92 I ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und Sicherheitsleistung beruht auf § 709 ZPO.
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Tenor
1. Die Beklagte wird unter Abweisung der weitergehenden Klage verurteilt, an die Klägerin € 226.012,00 nebst Zinsen in Höhe von 5% Punkten über dem Basiszinssatz ab dem 14. Mai 2020 auf € 198.614 sowie vom 3.6.2020 auf weitere € 27.398,00 sowie vorgerichtliche Kosten in Höhe von € 2.792,90 zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig gegen Sicherheitsleistung von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin, welche in Hamburger Citylage ein Restaurant betreibt, verlangt von der Beklagten, einem Versicherer, Leistungen aus einer Betriebsschließungsversicherung.
2
Die Klägerin unterhält bei der Beklagten eine sog. „Business-Gastro-Versicherung“, Versicherungs-Nr.: ... (Versicherungsschein Anlage K 1). Vertragsbeginn war der 1. Januar 2016, bei jährlicher Verlängerung um je ein Jahr. Grundlage des Vertrages waren u.a. die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten BL-AVB-1501, Stand.: 01.01.2015 (BL-AVB, Anlage K 2) und die Business-Sach Besondere Bedingungen BL-Sach-1501 (BL-Sach, Anlage K 3). Zu diesen Versicherungen gehört auch eine Betriebsschließungsversicherung. Deren Bedingungen finden sich unter Ziffer 1.11 BL Sach.
3
Darin heißt es:
4
1.11. Betriebsschließung
5
1.11.1. Der Versicherer leistet Entschädigung, wenn die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserregera) den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstelle zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt;Tätigkeitsverbot gegen sämtliche Betriebsangehörige eines Betriebes oder einer Betriebsstätte werden einer Betriebsschließung gleichgestellt;b) die Desinfektion der Betriebsräume und -einrichtung des versicherten Betriebes ganz oder in Teilen anordnet oder schriftlich empfiehlt, weil anzunehmen ist, dass der Betrieb mit meldepflichtigen Krankheitserregern behaftet ist;c) die Desinfektion, Brauchbarmachung zur anderweitigen Verwertung oder Vernichtung von Vorräten und Waren in dem versicherten Betrieb anordnet oder schriftlich empfiehlt, weil anzunehmen ist, dass die Vorräte und Waren mit meldepflichtigen Krankheitserregern behaftet sind;d) in dem versicherten Betrieb beschäftigten Personen ihre Tätigkeit wegen Erkrankung an meldepflichtigen Krankheiten oder wegen Infektionen mit meldepflichtigen Krankheitserregern oder wegen entsprechenden Krankheits- oder Ansteckungsverdachts oder als Ausscheider von meldepflichtigen Erregern untersagt.e) Ermittlungsmaßnahmen nach § 25 Abs. 1 IfSG oder Beobachtungsmaßnahmen nach § 29 IfSG anordnet, weil jemand krank, krankheits-, ansteckungsverdächtig oder Ausscheider ist.
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1.11.2 Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger
7
Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen sind die folgenden, im Infektionsgesetz (!-sic) in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger:
8
[es folgt eine Aufzählung von 18 Krankheiten und 49 Krankheitserregern, ohne Covid-19]
9
1.12 Nicht versicherte Sachen
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Nicht versichert sind ohne Rücksicht auf mitwirkende Ursachen Schäden
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a) durch Innere Unruhen;b) durch Terror;c) durch Überschwemmung, Rückstau, Erdbeben, Erdfall, Erdrutsch, Schneedruck, Lawinen, Vulkanausbruch, Grundwasser;d) durch Ableitung von Betriebsabwässern, nukleare Strahlung, radioaktive Substanzen;e) (!-sic) von Prionenerkrankungen oder dem Verdacht hierauf;f) wenn der Versicherungsnehmer oder seine mit der Durchführung oder Einhaltung von Gesetzen oder den dazu erlassenen Verordnungen Beauftragten von diesen schuldhaft abweichen und dadurch zu der behördlichen Maßnahme bzw. Empfehlung Anlass gegeben haben;g) wenn im Zeitpunkt der Übergabe an den Versicherungsnehmer oder der Einbringung in den versicherten Betrieb Waren und Vorräte bereits durch Krankheitserreger infiziert waren;h) vor oder nach der Schlachtung Schlachttiere im Wege der amtlichen Fleischbeschau für untauglich oder nur unter Einschränkung tauglich erklärt werden. Das gleiche gilt für Einfuhren, die der Fleischbeschau unterliegen (!-sic)....
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9.3. Entschädigungsberechnung für Betriebsschließungsversicherung
13
Der Versicherer haftet für den Unterbrechungsschaden, der innerhalb der vereinbarten Haftzeit entsteht. Die Haftzeit beginnt mit der behördlichen Anordnung. Je nach Umfang ersetzt der Versicherer den Schaden im Falle...
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9.3.1. einer angeordneten Schließung des Betriebes
15
in Höhe der vereinbarten Tagesentschädigung für jeden Tag der Betriebsschließung bis zur vereinbarten Dauer. Tage, an denen der Betrieb auch ohne die behördliche Schließung geschlossen wäre, gelten nicht als Schließungstage
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In der zugehörigen Leistungsübersicht war eine Haftzeit von zwei Monaten vereinbart und in der Business Gastro Police ein genereller Selbstbehalt von € 1.000,00.
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Im Zuge der Ausbreitung des Coronavirus erließ die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg erstmalig am 15. März 2020 eine Allgemeinverfügung zur Eindämmung des Coronavirus. Diese schränkte das Gaststättengewerbe dahingehend ein, dass nur solche Betriebe für den Publikumsverkehr öffnen durften, die für ausreichende Sicherheitsabstände sorgen konnten. Im Anschluss wurde dem Gaststättengewerbe durch Ergänzung der Allgemeinverfügung zur Eindämmung des Coronavirus, nunmehr vom 16. März 2020 (Anlage B 1) der Publikumsverkehr gänzlich untersagt. Die Verfügung beinhaltet auszugsweise folgende Regelungen:
18
7. In Ergänzung der Ziffer 5 der Allgemeinverfügung vom 15. März 2020 dürfen folgende Einrichtungen oder Angebote nicht für den Publikumsverkehr geöffnet werden
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1) Theater (einschließlich Musiktheater)b) Filmtheater (Kinos),c) Konzerthäuser und -veranstaltungsorte,d) Museen(...)
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8. Gaststätten im Sinne des Gaststättengesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. November 1998 (BGBl. I S. 3418, zuletzt geändert durch Artikel 14 des Gesetzes vom 10. März 2017, BGBl. I S. 420) müssen für den Publikumsverkehr geschlossen werden.
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Hiervon ausgenommen sind Speiselokale und Betriebe, in denen überwiegend Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben werden, Personalrestaurants, Kantinen sowie Speiselokale im Beherbergungsgewerbe (wie beispielsweise Hotelrestaurants). Die Plätze für die Gäste müssen so angeordnet werden, dass ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zwischen den Tischen gewährleistet ist. Stehplätze sind so zu gestalten, dass ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zwischen den Gästen gewährleistet ist. Die vorgenannten Speiselokale und Betriebe, in denen überwiegend Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben werden, Personalrestaurants, Kantinen und Speisestätten im Beherbergungsgewerbe dürfen frühestens um 06:00 Uhr öffnen und müssen spätestens um 18:00 Uhr schließen. Nach 18:00 Uhr ist ihnen der Abverkauf von Speisen und Getränken zum Mitnehmen gestattet.
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9. Ausgenommen von der Schließung für den Publikumsverkehr sind Betriebe, die Speisen und Getränke zum Mitnehmen abgeben bzw. ausliefern. Dies ist jederzeit zulässig.
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Gastronomische Betriebe durften in Hamburg erst wieder ab dem 13. Mai 2020 öffnen. Von der rechtlichen Möglichkeit eines Außer-Haus-Verkaufs machte die Klägerin in dieser Zeit keinen Gebrauch.
24
Die Klägerin behauptet, sie habe ihren üblicherweise an sieben Tagen geöffneten Betrieb für einen Zeitraum vom 16. März 2020 bis zum 13. Mai 2020 schließen müssen. Den Zeitraum berechnet sie mit 59 Tagen. Ein Außer-Haus-Verkauf sei nicht durchgeführt worden, weil dies nicht zum Konzept und zur üblichen Geschäftstätigkeit gehöre.Die Klägerin meint, die Beklagte sei aufgrund des Eintritts des Versicherungsfalles dazu verpflichtet, ihr den vollen Entschädigungsbetrag zu leisten. Der Versicherungsfall sei durch die behördliche Anordnung der Schließung des Betriebs aufgrund der Corona-Epidemie eingetreten.Aufgrund der ausdrücklichen Weigerung der Beklagten zur Anerkennung der Versicherungspflicht sei die Klägerin gezwungen gewesen, vorprozessual anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Rechnung (Anlage K6) sei von der Klägerin beglichen worden, weshalb die Beklagte verpflichtet sei die entstandenen Kosten zu ersetzen.
25
Ursprünglich beantragte die Klägerin die Zahlung einer Teilentschädigung von € 198.614, verbunden mit einem Antrag zur Feststellung weiterer Schadensansprüche.
26
Die Klägerin beantragt nunmehr,
27
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin Euro 228.926,00 nebst 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit sowie vorgerichtliche Kosten in Höhe von € 2.792,90 zu zahlen.
28
Die Beklagten beantragt,
29
die Klage abzuweisen.
30
Die Beklagte ist der Auffassung, unter der Police bestände schon nach dem Wortlaut der Ziffer 1.11.2. kein Versicherungsschutz. Anders als in anderen marktüblichen Policen handele es sich um keine dynamische, sondern um eine enumerativ und abschließende Aufzählung der versicherten Krankheiten und Erreger. Da das Coronavirus ungenannt bliebe, könne hierfür auch keine Deckung bestehen. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein Versicherer Deckungsschutz allenfalls für bekannte Krankheiten und Erreger, gegen die bereits wirksame Gegenmittel zur Verfügung stehen, gewähren würde. Ein verständiger und durchschnittlicher Versicherungsnehmer könne keinen weitergehenden Versicherungsschutz verlangen und erwarten. Durch die Formulierung „die folgenden ---namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“ werde deutlich, dass lediglich bestimmte, nämlich die „mit Namen“ aufgeführten Meldeanlässe der Deckungspflicht unterfielen. Da das Coronavirus erst durch das Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 19.05.20 mit Wirkung zum 23.05.20 in das IfSG aufgenommen wurde, falle es eindeutig nicht unter die Versicherung.
31
Da zudem eine Betriebsschließung aufgrund eines konkreten Verwaltungsaktes nicht vorliege, sei zu bezweifeln, ob überhaupt eine behördliche Anordnung im Sinne der Versicherungsbedingungen gegeben sei. Es handele sich um keinen, gegen den Betrieb und/oder die Personen der Klägerin bzw. deren Betriebsangehörigen gerichteten, also „intrinsischen“ Verwaltungsakt. Zudem sei die Verfügung nicht von der zuständigen Behörde, sondern von dem Senat der Freien und Hansestadt Hamburg erlassen und verletze das Zitiergebot aus Artikel 19 Abs. 1, S.2 GG. Auch leide die Verfügung an gravierenden Mängeln, die zu deren Unwirksamkeit führten. Insbesondere stütze sich die Anordnung auf eine unzutreffende Ermächtigungsgrundlage, was neben der materiellen Rechtswidrigkeit auch - ex tunc - zur Nichtigkeit führe. Zudem handele es sich bei der Corona-Epidemie um das allererste Ereignis, anlässlich dessen über einen unbestimmten Zeitpunkt hinaus das öffentliche Leben praktisch zum Erliegen gekommen sei. Für solche allgemeinen Katastrophen könne ohnehin kein Versicherungsschutz erwartet werden.
32
Hinsichtlich des eingetretenen Schadens sei zudem das versicherungsvertragliche Bereicherungsverbot zu berücksichtigen. Die Klägerin müsse sich ersparte Aufwendungen in Form staatlich empfangener Soforthilfen, Kurzarbeitergeld, Ersparungen infolge etwaiger Kündigungen der Angestellten oder Aufwendungen für die Beschaffung von Speisen, Getränken, Reinigung der Betriebsräumen Kleidung, Strom, Wasser, Gas, etc. anrechnen lassen.
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Für das weitere Vorbringen der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und überwiegend begründet.
I.
35
Der Klägerin steht ein Anspruch auf die vereinbarte Versicherungsleistung aus der zwischen den Parteien bestehenden Betriebsschließungsversicherung zu. Es lag im Zeitraum vom 16. März 2020 bis einschließlich dem 12. Mai 2020, also für 58 Tage (nicht 59 Tage), eine bedingungsgemäß versicherte Betriebsschließung vor.
36
Die Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt, da die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstelle zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen geschlossen hat.
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1. Anspruchsbegründende Betriebsschließung
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Der versicherte Betrieb wurde durch die Allgemeinfügung der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz vom 16. März 2020 geschlossen. Die Allgemeinverfügung beruhte auf dem IfSG und diente der Eindämmung des Coronavirus in Hamburg. Das Coronavirus war ein nach dem IfSG meldepflichtiger Erreger. Nach § 7 Abs. 2 IfSG sind auch neu auftretende Krankheiten bzw. Erreger, die nicht in den Aufzählungen der §§ 6 Nr. 1 bis 4 oder 7 Abs. 1 IfSG aufgeführt sind, meldepflichtig, „soweit deren örtliche und zeitliche Häufung auf eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit hinweist“ (so die bei Vertragsschluss geltende Fassung vom 29.03.2013) “. Diese Voraussetzungen liegen beim Coronavirus vor.
39
Unerheblich ist, ob die Gesundheitsbehörde ihre Zuständigkeit zur Recht bejaht hat und ob sich die Allgemeinverfügung zu Recht auf die Vorschriften des IfSG stützen konnte. In Ziff. 1.11.1 der Allgemeinen Versicherungs-Bedingungen wird nicht danach unterschieden, ob die behördliche Maßnahme zu Recht oder zu Unrecht erfolgt. Der Regelungstatbestand ist vielmehr bereits dann erfüllt, wenn sich die handelnde Behörde bei der Betriebsschließung auf das IfSG beruft. Das entspricht auch dem Sinn und Zweck der in Ziffer 1.11.1 getroffenen Regelung, wie sie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer verstehen muss: Sie soll ihn vor den Folgen einer Betriebsschließung aufgrund eines behördlichen Eingriffs zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten schützen. Diese Folgen sind bei beiden Alternativen gleich.
40
Unerheblich ist ferner, welche ihr zur Verfügung stehenden Handlungsformen die Behörde nutzt, um die Schließung zu bewirken. Auch hier enthält schon der Wortlaut der Klausel keine Anhaltspunkte dafür, dass Eingriffe nur dann umfasst sein sollen, wenn sie durch individuelle Verwaltungsakte erfolgen, nicht aber, wenn sich die Behörde einer Allgemeinverfügung bedient hat. Für den Schutz des versicherten Interesses ist das gleichgültig.
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2. Kein Anspruchsausschluss nach Ziffer 1.11.2. der AVB-Betriebsschließung
42
Die in Ziffer 1.11.1 der AVB enthaltene Beschreibung des versicherten Risikos wird nicht wirksam durch die in Ziffer 1.11.2. enthaltene Aufzählung meldepflichtiger Krankheiten / Erreger eingeschränkt. Eine entsprechende Absicht des Versicherers lässt sich aus der Perspektive eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers, der die Bedingungen studiert, nicht entnehmen. Wenn der Verwender der Bedingungen eine derartige Bedeutung zum Ausdruck bringen wollte, ist dies jedenfalls nicht hinreichend deutlich geschehen. Im Ergebnis scheitert eine solche Auslegung an der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB enthaltenen Transparenzgebot und dem Grundsatz der kundenfreundlichsten Auslegung. Die einzig danach verbleibende Auslegung führt zum Haftungseinschluss auch in Bezug auf Covid-19.
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a) Der mehrdeutige Wortlaut der Regelung
44
Es soll hier nicht in Frage gestellt werden, dass der Wortlaut der Bedingungen die Deutung tragen kann, dass nur Betriebsschließungen aufgrund der in Ziffer 1.11.2. aufgezählten Krankheiten und Erreger, zu welchen das neuartige Coronavirus nicht gehört, vom Versicherungsschutz umfasst sein sollen. Hierfür kann beispielhaft auf die Ausführungen des Landgerichtes Ellwangen im Urteil vom 17.9.2020 (3 O 187/20, COVuR 2020, 639) und des Landgerichts Oldenburg im Urteil vom 16.10.2020 (13 O 2068/20 – juris RN 17) verwiesen werden.
45
Der Wortlaut der Bedingungen ist jedoch mehrdeutig.
46
Wenn es heißt
47
„Meldepflichtige Krankheiten im Sinne der Bedingungen sind die folgenden, im Infektionsgesetz (!-sic) in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“ ...A, B, C
48
lässt sich das zwar durchaus so verstehen, dass hinter dem Wort „sind“ gedanklich ein „nur“ einzufügen ist und es sich um eine abschließende Aufzählung handelt (s.o. LG Oldenburg). Ein solches Verständnis ergibt sich aber nicht explizit aus dem Wortlaut der Regelung, sondern nur aus einem Umkehrschluss. Mit einer solchen Schlussfolgerung trägt der Leser bereits sein eigenes Vorverständnis an den Text heran, welches zunächst einmal der Offenlegung und sodann der Begründung nach gängiger Auslegungsmethode bedarf.
49
Denkbar wäre genauso, aufgrund eines anderen Vorverständnisses, statt „nur“ gedanklich die Worte „beispielweise „oder „im Wesentlichen“ einzufügen und den besagten Gegenschluss nicht zu ziehen. Das kann auf der Annahme beruhen, mit der Regelung solle in nicht abschließender Weise über die wichtigsten Krankheiten und Erreger, auf welche die Regelung angewandt wird, informiert werden, damit die Eintrittspflicht auch ohne ein Nachschlagen im Gesetz nachvollziehbar wird.
50
Die Entscheidung für die eine oder andere Variante lässt sich nicht auf der Ebene der Semantik treffen.
51
b) Zur Auslegung der AVB
52
Für die Auslegung der AVB kommt es auf die Perspektive eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse an. Maßgeblich ist, wie dieser die Bedingungen bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht (BGH, Urteil vom 08. Januar 2020 – IV ZR 240/18 –, juris, RN 9 mit umfangr. wt. Nachw.). Daraus ergeben sich auch Anforderungen an die Transparenz der Regelungen. Diese bringen es nach den Grundsätzen von Treu und Glauben mit sich, dass der Verwender Allgemeiner Versicherungsbedingungen, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen hat. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass eine Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben auch, dass die Klausel die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lässt, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann (BGH, Urteil vom 14. August 2019 – IV ZR 279/17 –, juris Rn 18. Urteile vom 4. Juli 2018 - IV ZR 200/16, r+s 2018, 425 Rn. 25; vom 4. April 2018 - IV ZR 104/17, r+s 2018, 258 Rn. 8).
53
Eine Auslegung der Bedingungen nach Treu und Glauben, insbesondere unter Beachtung des Transparenzgebots, schließt einen abschließenden Charakter der Aufzählung in Ziffer 1.11.2. aus und führt zu dem Ergebnis, dass auch das Coronavirus zu den meldepflichtigen Krankheiten im Sinne der Bedingungen gehört und darauf beruhende Betriebsschließungen versichert sind.
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Die Kammer ist sich dabei darüber im Klaren, dass sich diese Versicherung nicht an Verbraucher wendet, sondern an die Inhaber kaufmännischer Betriebe, und dass das Spektrum vom „kleinen Selbständigen“ bis zu größeren Kapitalgesellschaften reichen wird. Bei der Masse der Versicherungsnehmer wird es sich um kleinere bis mittlere Unternehmen ohne eigene Rechtsabteilung handeln, deren Geschäftsführung zwar nicht juristisch vorgebildet ist, aber in den wirtschaftlichen Zusammenhängen ihres Geschäftsfelds erfahren ist. Dazu gehören im Randbereich auch Erfahrungen mit Versicherungen. Bei dieser Gruppe kann eine kritische, strukturierte Lektüre der Bedingungen vorausgesetzt werden, nicht aber juristische Vorbildung oder Kenntnisse des IfSG. Die vorstehenden Ausführungen sind daher ausdrücklich auf diese Gruppe bezogen. Für die Einschätzung der Perspektive des dieser Gruppe zugehörigen Versicherungsnehmers konnte die Kammer auf die geschäftlichen Erfahrungen und Kenntnisse der an der Entscheidung beteiligten Handelsrichter zurückgreifen.
55
c) Strukturelle Unklarheiten
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Versicherungsnehmer der angesprochenen Gruppe haben sich schon des Öfteren mit Versicherungsbedingungen auseinandersetzen müssen und werden bei der Lektüre zunächst einmal deren Struktur ansehen, insbesondere die Beschreibung der versicherten Risiken und Schäden, Haftungseinschlüsse und Haftungsausschlüsse. Bei dem hiesigen Produkt stoßen sie auf folgende Struktur:
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1.11.Betriebsschließung
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1.11.1 Keine Überschrift1.11.2 Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger
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1.12.Nicht versicherte Sachen (!-sic)
...
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Bei dieser Struktur werden sie die Beschreibung der versicherten Risiken und Schäden entweder in einem den Punkten 1.11.1 – 1.11.2. vorangestellten Fließtext oder (in Ermangelung eines solchen) unter Ziffer 1.11.1. suchen. Da hier ein vorangestellter Text fehlt, muss die Risikobeschreibung unter Ziffer 1.11.1. zu finden sein. Etwaige Ausnahmen von 1.11.1. werden dann unter Ziffer 1.12. zu vermuten sein.1 Die Funktion von Ziffer 1.11.2. erschließt sich zunächst einmal nicht, insbesondere nicht, ob es eine Erläuterung, eine Einschränkung oder eine Erweiterung der in Ziffer 1.11.1. anzunehmenden Beschreibung der versicherten Risiken und Schäden sein soll. Die Überschrift verhält sich dazu nicht. Betrachten die kaufmännisch versierten Versicherungsnehmer dann den Text von Ziffer 1.11.2., werden sie sehen, dass dieser ebenfalls keine ausdrückliche Aussage dazu trifft, ob die Risikobeschreibung in Ziffer 1.11.1 eingeschränkt werden soll. Dementsprechend werden die strukturiert denkenden Versicherungsnehmer erwarten, dass alle Einschränkungen, wie es die entsprechende Überschrift ankündigt, unter Ziffer 1.12. zu finden sind. Ziffer 1.12. nennt diverse Ausschlüsse, darunter auch eine Gruppe von Schäden durch Krankheiten, die generell vom Versicherungsschutz ausgenommen sein sollen, nämlich Schäden aufgrund von „Prionenerkrankungen“ (darunter fallen das Creutzfeld-Jacob-Syndrom und der sog. „Rinderwahn“). Diese Erkrankung wird vielen der Versicherungsnehmer (Restaurants / Metzgereien) aufgrund der von ihnen einzuhaltenden beruflichen Sorgfaltspflichten bekannt sein. Da die Bedingungen somit einen ausdrücklichen Ausschluss von Schäden aufgrund von Prionenerkrankrungen enthalten, liegt für die angesprochenen Versicherungsnehmer der Schluss nahe, dass diese Krankheiten grundsätzlich von den Bedingungen erfasst werden, sonst bedürfte es keines Ausschlusses. In der Liste der Krankheiten gemäß Ziff. 1.11.2. sind sie jedoch nicht enthalten, was wiederum zu dem Umkehrschluss führen kann, dass die Liste keine abschließende Aufzählung enthält (LG München, 12 O 5895/20, Urt. V. 1.10.2020, juris RN 105) und es stattdessen auf das Spektrum in den §§ 6, 7 IFSG ankommt. Dort erschienen Prionenerkrankungen unter § 6 I 1 d) unter der Bezeichnung: humane spongiforme Enzephalopathie, sodass die Ausnahme Sinn ergeben würde.
61
Der Haftungsausschluss bezüglich Prionenerkrankungen zeigt, dass der Verwender der Bedingungen die in Ziffer 1.11.2 vorgenommene Aufzählung für den Umfang der Leistungspflicht selbst nicht als (eindeutig) abschließend betrachtet.
62
Wenn die Aufzählung in Ziffer 1.11.2. die Funktion haben soll, alle in dieser Aufzählung nicht genannten meldepflichtigen Krankheiten / Erreger nach dem IfSG herauszufiltern, müsste dies auch in der Überschrift deutlich werden, damit die Mindestanforderungen an eine übersichtliche, nachvollziehbare Struktur der Bedingungen erfüllt sind. Statt der unverfänglichen Wortwahl „Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger“ hätte es hier beispielsweise heißen müssen: „Beschränkungen des Versicherungsschutzes“ oder zumindest „Umfang des Versicherungsschutzes“ oder „Versicherte Krankheiten und Krankheitserreger“ (wobei auch die letzteren Alternativen möglicherweise aufgrund der in Ziff. 1.11.1 vorgenommenen uneingeschränkten Entschädigungszusage ohne weitere Klarstellung im Text, z.B. durch das Wort „nur“, wohl immer noch nicht genügen würden).
63
d) Unklarheiten aufgrund der Verwendung des Worts „namentlich“
64
Auch die Verwendung des (in Aufsätzen und Urteilen vielfach kommentierten Wortes) „namentlich“ in Ziffer 1.11.2. trägt dazu bei, ein klares Verständnis der Klausel zu erschweren (in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten...). Einige Autoren heben hervor, dass dieses Wort auch als Synonym für insbesondere verwandt wird, was den beispielhaften Charakter der Aufzählung unterstreiche, während verschiedene Autoren zu Recht darauf hinweisen, dass das Wort dann an anderer Stelle im Satz hätte platziert werden müssen (sind namentlich die folgenden...).
65
Das Wort „namentlich“ an dieser Stelle der Bedingungen kann aber dennoch zu der Assoziation führen, die anschließende Liste sei beispielhaft, zumal der Hinweis auf die folgenden „in den §§ 6 und 7 namentlich genannten“ Krankheiten und Krankheitserreger bei einem abschließenden Charakter der Aufzählung überflüssig wäre und das Wort „namentlich“ sogar innerhalb dieses für sich schon überflüssigen Hinweises eine „sinnlose Tautologie“ wäre (Werber, VersR 2020, 661, 664). Weitere Verwirrung kann dadurch entstehen, dass diejenigen Versicherungskunden, die vor Abschluss ihrer Betriebsschließungsversicherung überobligatorisch das IfSG zu Rate ziehen, auch dort in hervorgehobener Weise den Begriff „namentlich“ entdecken. Dieser wird hier jedoch nicht in Bezug auf Krankheiten / Erreger, sondern in Bezug auf Meldepflichten gebraucht. Das IfSG unterscheidet zwischen namentlicher Meldepflicht und nichtnamentlicher Meldepflicht. Damit ist gemeint, dass entweder der Erkrankte bzw. der Träger des Erregers, je nach Krankheit / Erreger, namentlich zu melden ist (§ 9 IfSG) oder dass eine nichtnamentliche Meldung von dem Fall genügt (§ 10 IfSG). Es ist leicht möglich, die namentlich genannten Krankheiten / Erreger im Sinne der AVB und die Krankheiten / Erreger im Sinne des IfSG, die eine namentliche Meldepflicht auslösen, zu verwechseln, zumal nach dem Wort „namentlich“ in beiden Fällen lange Aufzählungen der entsprechenden Krankheiten / Erreger folgen.
66
Bei Lektüre der §§ 6 und 7 IfSG ergibt sich, dass aufgrund der Auffangtatbestände in den §§ 6 I Ziff. 5 und 7 II eigentlich alle bedrohlichen Krankheiten und Erreger namentliche Meldepflichten nach sich ziehen. Wenn die Bedingungen dann für eine Entschädigungspflicht auf die „namentlich genannten“ Krankheiten und Erreger verweisen, kann dies bei einem sich überobligatorisch informierenden Versicherungsnehmer zu dem Irrtum führen, die Betriebsschließungsversicherung knüpfe an die namentliche Meldepflicht an. Dann könnte er sich als gut abgesichert ansehen.
67
Zwar trifft dies nicht auf Kunden zu, die sich Zeit nehmen, auch den Gesetzestext sehr genau zu lesen und über das entsprechende Verständnisvermögen verfügen. Denn sie erkennen, dass das Wort „namentlich“ im Gesetz und in den Bedingungen nicht das Mindeste miteinander zu tun haben. Aber zu dem von der Beklagten für richtig gehaltenen Verständnis gelangen diese Kunden dann nicht wegen, sondern trotz der in den Bedingungen gewählten Formulierungen. Diese verschleiern ihren (angeblichen) Sinn, es liege eine den Versicherungsschutz abschließende Liste vor, durch redundante Hinweise auf das IfSG und durch das unnötige Aufgreifen der eigentümlichen gesetzlichen Wortwahl, mit einer völlig anderen Bedeutung. (Dafür, dass auch in juristischen Veröffentlichungen der Irrtum vorkommt, dass sich das Wort „namentlich“ im IfSG - hier in Bezug auf § 6 I Ziff. 5 - auf die Bezeichnung der Krankheit / des Erregers und nicht der betroffenen Person bezieht, vgl. Günther, Anm. zu LG Ellwangen, Urteil vom 17.09.2020 – 3 O 187/20, BeckRS 2020, 24053; FD-VersR 2020, 432597).
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e) Keine hinreichende Erkennbarkeit von Deckungslücken bei abschließendem Charakter der Liste
69
Sofern die Aufzählung in Ziffer 1.11.2. AVB als abschließend zugrunde gelegt wird, werden nur wenige Versicherungsnehmer erkennen, dass hier eine Unterscheidung zwischen meldepflichtigen Krankheiten / Krankheitserregern im Sinne des Gesetzes und meldepflichtigen Krankheiten / Krankheitserregern im Sinne dieser Bedingungen eingeführt wird und dass mit dieser Unterscheidung ein großer Anwendungsbereich des Gesetzes und der daraus resultierenden Möglichkeiten der Betriebsschließungen ausgeklammert wird. Für nicht rechtskundige, durchschnittliche Versicherungsnehmer liegt dies schon deswegen außerhalb der bei ihnen vorauszusetzenden Erkenntnismöglichkeiten, da ihnen der Gesetzestext unbekannt ist und von ihnen auch nicht erwartet werden kann, dass sie ihn vor dem Abschluss der Versicherung lesen. So entgeht ihnen auch, dass das Gesetz (in der bei Abschluss der Versicherung geltenden Fassung) noch einige weitere Krankheiten / Erreger ausdrücklich als meldepflichtig bezeichnet, die nicht zu den meldepflichtigen Krankheiten / Erregern „im Sinne dieser Bedingungen“ gehören (Keuchhusten, Röteln, Mumps, Windpocken, humane spongiforme Enzephalo-pathie). Sie können auch nicht wissen, dass nach dem Gesetz auch andere, nicht bezeichnete Krankheiten / Erreger (namentlich) meldepflichtig sind, sofern sie die Voraussetzungen der §§ 6 Abs. 1 Ziff. 5 oder 7 Abs. 2 IfSG erfüllen. Sie sehen zwar die Worte „im Sinne dieser Bedingungen“, haben aber nicht die Vorstellung, dass die Bedingungen einerseits und das Gesetz andererseits hier möglicherweise weit auseinanderklaffen. (Anders als das LG Ellwangen im Urteil vom 17.9.2020, COVuR 2020, 639, RN 35 meint, lassen sich mithin aus der fehlenden ausdrücklichen Erwähnung der Öffnungsklausel des § 6 I Ziff. 5 IFSG in den AVB bei der Auslegung der Ziff. 1.11.2 auch keine für den Versicherungsnehmer nachteiligen Schlussfolgerungen ziehen).
70
Auch soweit manche Versicherungsnehmer also die Aufzählung in Ziffer 1.11.2. als abschließend betrachten, wird ihnen im Zweifel nicht klar sein, dass der dann zu gewährende Versicherungsschutz einen eventuell großen Teil des Betriebsschließungsrisikos ohne Deckung lässt. Der einmalig im Fließtext eingefügte Zusatz „im Sinne dieser Bedingungen“ reicht als Warnhinweis dafür, dass die im Gesetz verwandten Begriffe der meldepflichtigen Krankheiten bzw. der meldepflichtigen Krankheitserreger eine neue, vom Gesetz abweichende, stark eingeschränkte Bedeutung erlangen, nicht aus. Das gilt umso mehr, als die Bedingungen an dieser Stelle nochmals ausdrücklich auf die §§ 6 und 7 IfSG hinweisen. Das kann zu dem Eindruck führen, es bestehe ein Gleichlauf zwischen den in den §§ 6 und 7 IfSG erfassten Krankheiten und Krankheitserregern und der folgenden Liste, und die Aufzählung decke den Anwendungsbereich der §§ 6 und 7 IfSG vollständig ab. Das würde die Erwartung des Kunden begründen, er wäre vollständig abgesichert.
71
Die Erkenntnis, dass die Liste nicht „die“ Krankheiten und Krankheitserreger erfasst, die zu einer Betriebsschließung führen können, sondern dass es sich „nur“ um eine Auswahl daraus handelt, dass insbesondere auch dort nicht genannte, in den §§ 6 Abs. 1, Ziff. 5, 7 Abs. 2 IfSG erfasste Krankheiten / Erreger namentlich meldepflichtig sein können und zu Betriebsschließungen führen können, wird den Adressaten der Bedingungen nicht vermittelt. Ob dies dazu führt, dass eine Auslegung der Liste als abschließend an der Inhaltskontrolle für AGB gemäß § 307 Abs. 1, Satz 1 i.V.m Abs. 2 Satz 2 BGB scheitert (vgl. Werber, VersR 2020, 661, 667), kann dahinstehen, jedenfalls scheitert sie daran, dass die Nachteile einer solchen Regelung für den Kunden intransparent sind.
72
Im Rahmen einer wertenden Betrachtung der Transparenzanforderungen ist auch zu berücksichtigen, dass die Betriebsschließungsversicherung eine relativ neue Versicherungsart ist und dass das IfSG (bis zum Auftreten des Coronavirus) zu den im Allgemeinen und insbesondere im Geschäftsleben wenig im Fokus stehenden Gesetzen gehörte. Während der unternehmerisch tätige Versicherungsnehmer einer Betriebshaftpflicht- oder einer Maschinenversicherung aufgrund seines eigenen Erfahrungshorizonts ziemlich genau beurteilen kann, welche tatsächlichen Risiken für seinen Betrieb bestehen und ob die ihm angebotenen Module für seine Schutzzwecke genügen, kann beim Kunden einer Betriebsschließungsversicherung nicht vorausgesetzt werden, dass ihm die Vorschriften des IfSG, die zu einer Betriebsschließung führen können, bekannt sind. Wird ihm eine solche Versicherung angeboten, die ihn in dem Fall entschädigen soll, dass die zuständige Behörde seinen Betrieb aufgrund des IfSG beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger schließt, erwartet er nach Treu und Glauben, dass sein Risiko aufgrund des IfSG damit auch vollständig abgedeckt ist; es sei denn, der Versicherer weist ihn ausdrücklich darauf hin, dass sich der intendierte Schutz nur auf einen Teilbereich beziehen soll.
73
Bei dieser Versicherungsart befindet sich der Versicherungsnehmer in einer vergleichbaren Position wie ein Kapitalanleger, der sich für ein bestimmtes Anlageprodukt entscheidet, nur mit dem Unterschied, dass es ihm um den Schutz vorhandener Vermögenswerte / Ertragsaussichten geht, während es dem Kapitalanleger um die Erhaltung und Mehrung des eingesetzten Kapitals geht. In Bezug auf eine informierte Entscheidung sind aber beide gleichermaßen schutzwürdig. Für einen Kapitalanleger gilt in ständiger Rechtsprechung des BGH, dass dieser über alle Umstände, die für ihre Entscheidung von wesentlicher Bedeutung sind oder sein können, insbesondere über die mit der angebotenen speziellen Beteiligungsform verbundenen Nachteile und Risiken zutreffend, verständlich und vollständig aufgeklärt werden muss (BGH, Urteil vom 08. Januar 2019 – II ZR 139/17 –, Rn. 21, juris, BGH, Urteil vom 4. Juli 2017 - II ZR 358/16, ZIP 2017, 1664 Rn. 9; Urteil vom 6. November 2018 - II ZR 57/16, juris Rn. 15, jew. mwN).
74
Dies muss grundsätzlich auch für den Versicherungsnehmer einer Betriebsschließungsversicherung gelten. Wenn der Versicherer das Risiko einer Betriebsschließung aufgrund der Vorschriften des IfSG entgegen der im Ausgangspunkt gegebenen Risikobeschreibung nur teilweise absichern will, muss der Versicherungsnehmer darüber zutreffend, verständlich und vollständig aufklären. Werden die Klauseln dem nicht gerecht, wie das hier der Fall ist, führt das zwar (wohl) nicht zu einer Haftung des Versicherers nach den §§ 311 Abs. 2 Ziff. 1, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB, aber die vom Versicherer ggf. intendierten Einschränkungen des Versicherungsschutzes sind ohne weiteres als überraschend im Sinne von § 305c BGB bzw. intransparent im Sinne von § 307 Abs. 1 S. 2 BGB zu werten und damit unbeachtlich. Als Auslegungsmöglichkeit bleibt dann nur noch der offene Charakter der Liste übrig.
75
Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass das Auftreten der Corona-Epidemie ein von niemanden vorhersehbares Ereignis gewesen sei, sodass den Versicherer selbstverständlich auch keine diesbezüglichen Aufklärungspflichten treffen könnten. Im Gegensatz zum Covid-19-Virus ist die Schutzlücke der angebotenen Betriebsschließungsversicherung (sofern die Auflistung der Krankheiten als abschließend intendiert ist), nämlich durchaus vorhersehbar, weil das IFSG ein „dynamisches“ Gesetz ist und immer wieder gefährliche neue Krankheiten / Erreger auftreten, die nach § 7 Abs. 2 IfSG potenziell meldepflichtig sind und zu Betriebsschließungen führen können.
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Gegen einen nur auf bestimmte Krankheiten / Erreger beschränkten Versicherungsschutz sprechen auch die dem Versicherer bei Konstruktion des Produktes erkennbaren Schutzinteressen der potenziellen Kunden. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Kunde eine möglichst weit gefasste Entschädigungspflicht wünscht und jeder Versicherer eine möglichst beschränkte Eintrittspflicht. Maßgeblich ist, dass es dem Versicherungsnehmer einer Betriebsschließungsversicherung erkennbar darum geht, sich für die Betriebsschließung infolge einer Seuchengefahr“ (Kurzbeschreibung des versicherten Risikos durch die Beklagte, Police S. 4, Anlage K 1) zu schützen und nicht, sich gegen das Auftreten bestimmter Krankheiten / Erreger abzusichern. Wäre wirtschaftlicher Hintergrund der Versicherung, dass der Versicherungsnehmer immer wieder erlebt, dass sein Betrieb oder andere Betriebe seiner Branche wegen dieser und jener Krankheit geschlossen würden, so würde er sich überlegen, in Bezug auf welche Krankheiten / Erreger er Versicherungsschutz einkaufen will und entsprechende, von den Versicherern angebotene Module zusammenstellen. Eine solche Situation liegt hier aber gerade nicht vor. Die Beschreibung des Versicherungsschutzes in Ziff. 1.11.1 AVB bezieht sich ganz allgemein auf Betriebsschließungen nach dem IfSG und der Versicherungsnehmer hat auch keine Möglichkeit, die Liste der mitversicherten Krankheiten / Erreger durch Beschränkungen oder Erweiterungen zu beeinflussen.
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f) Kein Widerspruch der weiten Auslegung zum Produktgestaltungsrecht des Versicherers
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Ziffer 1.11.2. unterliegt der Klauselkontrolle und bleibt nicht als Teil der Leistungsbeschreibung kontrollfrei. Das ergibt sich daraus, dass nach heutiger allgemeiner Meinung nur die Definition des Versicherungsfalls in seiner allgemeinsten Gestalt kontrollfrei bleibt, während alle danach folgenden Modifikationen der Kontrolle unterliegen (Werber, VersR 2020. 661, 667 mit wt. Nachweisen). Die allgemeinste Leistungsbeschreibung findet sich in hier bereits unter Ziffer 1.11.1 (vgl. Werber, a.a.O., zu vergleichbaren AVB).
79
Damit soll der Beklagten nicht das Recht abgesprochen werden, ihre Haftung aufgrund ihrer Risikoeinschätzung enger zu fassen. Zu beanstanden ist aber der Weg, wie sie dies (möglicherweise) in diesem Fall erreichen wollte. Die Risikobeschreibung in Ziffer 1.11.1 verspricht die Entschädigungsleistung für Betriebsschließungen bereits dann, wenn die behördlich angeordnete Schließung aufgrund des IfSG beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger erfolgt. Dies lässt sich zwar in folgenden Klauseln einschränken, aber nicht in der ungewöhnlichen und überraschenden Weise, dass eindeutige gesetzliche Begriffe durch den Zusatz im Sinne dieser Bedingungen umdefiniert werden. In Bezug auf das Covid-19-Virus würde dies zu der Aussage führen, dass dieses kein meldepflichtiger Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen wäre, obwohl es sich um einen Krankheitserreger handelt, dessen Auftreten (und zwar gemäß den §§ 6 I Ziff. 5, 7 II ÌfSG von Anfang an) meldepflichtig ist. Welche dieser beiden Eigenschaften ihm diese Bedingungen versagen, bliebe offen. Eine hinreichend transparente Beschränkung des in Ziffer 1.11.2. genannten Versicherungsumfangs kann nicht durch eine unauffällig vom Gesetz abweichende Neudefinition meldepflichtiger Krankheiten / Erreger erreicht werden, sondern müsste klar und eindeutig offenlegen, dass für bestimmte meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger, die dem IfSG, insbesondere den §§ 6 und 7 unterfallen, kein Schutz unter diesen Bedingungen gewährt wird (das könnte z.B. für bis dato unbekannte Krankheiten / Erreger geschehen). Der Versicherungsnehmer muss die Möglichkeit haben zu erkennen, dass er für seine Prämie nur einen Teilschutz gegen Betriebsschließungen erwirbt und sich entscheiden können, ob er das verbleibende Risiko lieber selbst trägt oder sich anderweitig versichert.
80
Insofern betrifft diese Entscheidung nicht das Recht des Versicherers, sein Versicherungsprodukt genauso zuzuschneiden, wie er es für richtig hält. Der Kunde muss aber mit hinreichender Deutlichkeit erkennen können, welchen Umfang der angebotene Schutz hat, welche Einschränkungen bestehen und welche Risiken offenbleiben.
II.
81
Der Höhe nach steht der Klägerin für den Zeitraum der Schließung des Betriebs, insgesamt 58 Tage, eine Schadensersatzleistung von € 3.914,00 /Tag abzüglich eines vereinbarten Selbstbehalts von € 1.000,00, zu, was zu der zuerkannten Ersatzleistung von € 226.012,00 führt. Die Berechnung der Entschädigung ergibt sich aus Ziffer 9.3 S. 2.AVB, wonach der Haftungszeitraum mit der behördlichen Anordnung der Betriebsschließung beginnt und für jeden Tag der Schließung die vereinbarte Tagesentschädigung zu zahlen ist. Der Tagessatz von € 3.914,00 und der Selbstbehalt sind in der Leistungsübersicht der Beklagten festgelegt. Die Anzahl der Tage ergibt sich daraus, dass die Betriebsstätte der Klägerin 7 Tage in der Woche geöffnet hatte. Soweit die Klägerin einen verhältnismäßig geringfügig höheren Betrag errechnet hatte, war die Klage abzuweisen.
82
Auf den konkreten Ertragsausfall der Klägerin kommt es für die Berechnung der Entschädigungsleistung nicht an. Der vereinbarte Betrag von € 3.914,00 / Tag ist als eine Taxe anzusehen. Diese Pauschalleistung wurde im Vorfeld von den Parteien anhand der konkreten Geschäftszahlen der Klägerin festgelegt und die Prämie wurden nach der Höhe dieses Betrages bemessen.
83
Dagegen spricht auch nicht die in Ziff. 9.3. enthaltene Einschränkung „je nach Umfang“. Diese Einschränkung ist allen acht Fallgruppen der an eine Betriebsschließung anknüpfenden Entschädigungsleistung vorangestellt und ergibt in der Fallgruppe der „angeordneten Schließung des Betriebs“ keinen Sinn, da der Satz fortfährt „in Höhe der vereinbarten Tagesentschädigung für jeden Tag der Betriebsschließung bis zur vereinbarten Dauer“. Wenn damit eine etwaige Kürzung der vereinbarten Tagesentschädigung gemeint sein sollte, hätte die Formulierung lauten müssen bis zur Höhe der vereinbarten Tagesentschädigung. In den anderen Fallgruppen wird jedoch jeweils auf einen konkret zu berechnenden Aufwand bzw. nachgewiesene Kosten abgestellt, sodass die Regelung dort als sinnvoll erscheint. Andererseits wäre bei dem Verweis auf den Umfang des Schadens auch eine die Tagesentschädigung übersteigende Entschädigung denkbar, was sicherlich auch nicht gemeint ist- Ein sinnvolles Verständnis der Regelung ergibt sich nur, wenn die vereinbarte Tagesentschädigung als feste Größe betrachtet wird. Dies entspricht der Beschreibung auf Seite 4 der Police, in der es zum Risiko heißt:
84
„für die Betriebsschließung infolge einer Seuchengefahr mit den genannten Tagesentschädigungen für Schließungsschäden bzw. Versicherungssummen für Warenschäden.“(Unterstreichung hinzugefügt).
85
Ginge es um eine Ermittlung des genauen Schadensumfangs, hätte nicht zwischen Tagesentschädigungen und Versicherungssummen unterschieden werden müssen, sondern der im Einzelnen aufzuschlüsselnde Schaden wäre, wie bei den Warenschäden, im Rahmen der Versicherungssumme abgedeckt.
86
An dieser Vereinbarung muss sich die Beklagte festhalten lassen. Dagegen kann sich die Beklagte auch nicht auf ein (in dieser Form nicht mehr bestehendes) versicherungsrechtliches Bereicherungsverbot berufen. Es war gerade Sinn der Vereinbarung eines festen Tagessatzes, entsprechende Streitigkeiten und komplizierte Ermittlungen der Ersatzleistung zu vermeiden. Dass Betriebsschließungen auch zu Aufwendungsersparungen führen, war den Parteien bei Vereinbarung der Taxe bewusst und es ist nicht erkennbar, dass dieser offensichtliche Umstand bei der gemeinsamen Kalkulation der Pauschale unberücksichtigt geblieben ist. Dass die Größenordnung dieser Pauschale, die unstreitig nach den bei Vertragsschluss bestehenden betrieblichen Verhältnissen bemessen wurde, angemessen ist, hat die Klägerin durch Vorlage ihrer BWA 2019 substanziiert dargelegt. Danach ergab sich abzüglich der Aufwandspositionen ein durchschnittlicher monatlicher Ertrag von mehr als € 100.000,00.
87
Auch sind die gewährten staatliche Corona-Hilfen nicht anzurechnen, da ihr Zweck nicht darin besteht, etwaige Versicherer zu entlasten. Es handelt sich vielmehr um Konjunktur-Hilfen zur Überwindung einer kurzfristigen Liquiditätskrise, und nicht um Schadensersatzleistungen. Zudem sind die staatlichen Hilfen grundsätzlich subsidiär. Soweit der Empfänger sie nicht benötigt, weil er gegen den Schaden versichert ist, werden Überzahlungen auf dieser Ebene abgewickelt werden müssen.
III.
88
Ergänzend wird zum Haftungsgrund und zur Nichtanrechenbarkeit von staatlichen Leistungen für ein vergleichbares Klauselwerk auf die überzeugenden Ausführungen des Landgerichts München, im Urteil vom 1.10.2020, 12 O 5895/20 Bezug genommen.
IV.
89
Der Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten ergibt sich aus § 286 BGB.
V.
90
Die Zinsentscheidung beruht auf den §§ 286, 288, 291 BGB. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus den §§ 92 II ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und Sicherheitsleistung beruht auf § 709 ZPO.
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Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 31. Mai 2016 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 50.000,- Euro festgesetzt.
1Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nach den insoweit maßgeblichen Darlegungen der Klägerin
2(§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) nicht vor.
31. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Ernstliche Zweifel sind begründet, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.
4Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2016 – 1 BvR 2453/12 –, juris, Rn. 16.
5Hieran fehlt es.
6Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen und hierzu ausgeführt, die Klägerin sei nicht klagebefugt. Eine Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO sei bereits deshalb zu verneinen, weil die Klägerin nicht Inhaberin der Bezugszulassung, sondern lediglich kraft zivilrechtlicher Vereinbarung zum Mitvertrieb des Arzneimittels berechtigt sei. Im Arzneimittelrecht ergäben sich mögliche subjektive Abwehrrechte Dritter allenfalls aus der arzneimittelrechtlichen Zulassung in Verbindung mit drittschützenden Normen des Arzneimittelgesetzes. Die zivilrechtliche Einräumung eines Mitvertriebsrechts, das der zuständigen Behörde lediglich angezeigt werde und streng akzessorisch zur Rechtsposition des Zulassungsinhabers sei, ändere nichts an der öffentlich-rechtlichen Rechtszuweisung durch die Zulassung. Die von der Klägerin behauptete Ermächtigung zur Klageerhebung im eigenen Namen führe ebenfalls nicht zur Klagebefugnis, weil eine solchermaßen gewillkürte Prozessstandschaft jedenfalls bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen im Verwaltungsprozess nach Wortlaut und Sinn des § 42 Abs. 2 VwGO unzulässig sei, solange nicht das Gesetz ausdrücklich eine Ausnahme vorsehe. Die Klägerin sei überdies nicht klagebefugt, weil sie sich auf keine Norm des öffentlichen Rechts berufen könne, die ihr eigene (Abwehr-)Rechte in Bezug auf die erteilte Parallelimportzulassung einräume. § 10 Abs. 8 Satz 3 AMG sowie die Voraussetzungen des Parallelimports seien objektiv-rechtlicher Natur. Aus Art. 14 Abs. 1 GG und etwaigen Rechten an der Marke „F. “ folge nichts anderes, weil die Klägerin durch die erteilte Parallelimportzulassung an der rechtlichen Befugnis zur Vermarktung ihres Produkts nicht gehindert werde und sich durch das Auftreten von Wettbewerbern in Gestalt von Parallelimporteuren lediglich ihre faktische Marktposition verändere. Die Klägerin könne sich auch deshalb nicht auf etwaige Rechte an der Marke „F. “ berufen, weil die Parallelimportzulassung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur im Hinblick auf öffentlich-rechtliche Normen überprüft werde. Private Schutzrechte blieben bei ihrer Erteilung außer Betracht.
7Diese Feststellungen stellt das Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Frage.
8a) Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht habe außer Acht gelassen, dass sich die Parallelimportzulassung unmittelbar auf ihre „eigenen“ Produkte beziehe und wegen der damit erlaubten Kennzeichnung unmittelbar und zielgerichtet in das durch Art. 17 Abs. 2 GRCh und Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Markenrecht eingreife, was in Verbindung mit den Kennzeichnungsvorschriften des Arzneimittelgesetzes sowie den durch den EuGH entwickelten Regeln zum Parallelimport ihre Klagebefugnis begründe. Mit diesem Vorbringen vermag die Klägerin die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur fehlenden Klagebefugnis schon deshalb nicht in Frage zu stellen, weil sie nicht in einer den Anforderungen des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt hat, dass ihr tatsächlich eigene Rechte an der Marke „F. “ zustehen. Die Klägerin hat erstinstanzlich vorgetragen, Zulassungsinhaberin des Arzneimittels „F. “ sei ihre Schwestergesellschaft, die B. Q. F1. B. V. mit Sitz in den Niederlanden. Die Marke „F. “ sei als internationale Registrierung mit Schutzerstreckung u. a. auf Deutschland auf die U. U1. Inc., USA, eingetragen. Von dieser habe ihre britische Schwestergesellschaft, die B. Q. F1. Limited, eine Exklusivlizenz u. a. für Deutschland erworben. Sie selbst vertreibe das Arzneimittel „F. “ exklusiv in Deutschland im Einvernehmen und mit Zustimmung der Zulassungsinhaberin, der Markeninhaberin sowie der B. Q. F1. Ltd. Sie mache in diesem Verfahren eigene Rechte als Mitvertreiberin geltend. Diese Angaben stimmen mit den Feststellungen des Bundesgerichtshofs in einem markenrechtlichen Verfahren der Klägerin gegen die Beigeladene des Parallelverfahrens 13 A 1528/16 überein, wonach die britische Schwestergesellschaft der Klägerin diese mit dem Vertrieb des Arzneimittels in Deutschland beauftragt und sie ermächtigt hat, Unterlassungsansprüche und Folgeansprüche gegen die dortige Beklagte im eigenen Namen geltend zu machen. Danach hat auch die U. U1. Inc. der Geltendmachung ihrer Markenrechte durch die Klägerin zugestimmt.
9Vgl. BGH, Urteil vom 2. Dezember 2015 – I ZR 239/14 –, juris, Rn. 2.
10Soweit die Klägerin nunmehr mit dem Zulassungsantrag behauptet, ihr sei für Deutschland eine Exklusivlizenz an der Marke „F. “ eingeräumt worden und sie sich selbst – und nicht etwa ihre britische Schwestergesellschaft – als (dinglich berechtigte) exklusive Lizenznehmerin der Marke bezeichnet, ist diese in klarem Widerspruch zu ihren erstinstanzlichen Angaben und zu den Feststellungen des Bundesgerichtshofs stehende Behauptung durch nichts belegt. Die Klägerin hat sich offenbar selbst durch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Unzulässigkeit einer gewillkürten Prozessstandschaft im Anfechtungsprozess nicht veranlasst gesehen, Belege über die ihr angeblich zustehenden eigenen Rechte an der Marke „F. “ vorzulegen. Zu keiner anderen Bewertung führt dabei der Umstand, dass die Klägerin möglicherweise berechtigt ist, das zugunsten ihrer niederländischen Schwestergesellschaft zugelassene Arzneimittel exklusiv in Deutschland zu vertreiben, und ihre britische Schwestergesellschaft ihr gestattet, hierfür die Marke „F. “ zu nutzen. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass ihr auch eigene Rechte an der Marke „F. “ zustehen, aus denen sie ihre Klagebefugnis gegen die der Beigeladenen erteilte Parallelimportzulassung herleiten will. Denn der Inhaber eines Unternehmenskennzeichnens kann einem Dritten schuldrechtlich gestatten, diese Bezeichnung zu führen, indem er sich verpflichtet, seine Verbotsansprüche gegen den Dritten nicht durchzusetzen. Hierdurch geht aber keine kennzeichenrechtliche Rechtsposition des Gestattungsgebers an den Gestattungsempfänger über.
11Vgl. McGuire/von Zumbusch/Joachim, Verträge über Schutzrechte des geistigen Eigentums (Übertragung und Lizenzen) und dritte Parteien (Q 190), GRUR Int 2006, 682, 686.
12Die tatsächliche Inhaberschaft eigener Markenrechte wäre aber Grundvoraussetzung für die von der Klägerin favorisierte Annahme, in einer Konstellation wie der vorliegenden folge die Klagebefugnis aus einer möglichen Verletzung von Markenrechten, weil § 42 Abs. 2 VwGO die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten voraussetzt. Vor diesem Hintergrund führt auch die von der Klägerin behauptete Ermächtigung, die Markenrechte der Markeninhaberin (U. U1. Inc.) bzw. exklusiven Lizenznehmerin (B. Q. F1. Ltd.) im eigenen Namen gerichtlich geltend machen zu dürfen, nicht weiter. Insoweit hat das Verwaltungsgericht bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass die damit konstruierte gewillkürte Prozessstandschaft jedenfalls bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen aufgrund der von § 42 Abs. 2 VwGO vorausgesetzten Möglichkeit der Verletzung in eigenen Rechten grundsätzlich ausscheidet.
13Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1995 – 3 C 27.94 –, juris, Rn. 19; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2014 – 2 S 1529/11 –, juris, Rn. 38; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. Januar 2018 – 4 LB 38/17 –, juris, Rn. 26, m. w. N.; Czybulka/Siegel, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 62 Rn. 21.
14b) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung legt die Klägerin auch nicht dar, soweit sie vorträgt, die subjektive Rechtsverletzung und die daraus folgende Klagebefugnis ergäben sich aus den unionsrechtlichen Grundsätzen der Loyalität und Effektivität. Nach dem Effektivitätsgrundsatz („effet utile“) obliegt es den Mitgliedstaaten und auch den nationalen Gerichten, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Unionsrecht anzuwenden haben, die volle Wirkung seiner Bestimmungen zu gewährleisten.
15Vgl. EuGH, Urteil vom 17. September 2002 – C-253/00 –, Slg. 2002, I-7289 = juris, Rn. 28, m. w. N.
16Die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen subjektiven Rechte darf nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden.
17Vgl. EuGH, Urteile vom 13. März 2007 – C-432/05 (Unibet) –, Slg. 2007, I-2271 = juris, Rn. 43, vom 8. März 2011 – C-240/09 –, Slg. 2011, I‑1255 = juris, Rn. 48, und vom 16. Dezember 1976 – 33/76 (Rewe) –, juris, Rn. 5.
18Gefordert ist von den nationalen Gerichten aber nur der effektive gerichtliche Schutz der dem Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte.
19Vgl. EuGH, Urteil vom 13. März 2007 – C-432/05 (Unibet) –, Slg. 2007, I-2271 = juris, Rn. 41.
20Dies zugrunde gelegt, bleibt vollkommen unklar, zur effektiven Durchsetzung welcher der Klägerin durch das Unionsrecht vermeintlich verliehener Rechte die Annahme einer Klagebefugnis der Klägerin erforderlich sein soll. Angaben hierzu enthält das Zulassungsvorbringen nicht. Sofern sie sich auch in diesem Zusammenhang auf ihr vermeintlich zustehende Rechte an der Marke „F. “ stützen will, hat sie deren Bestehen – wie gezeigt – nicht hinreichend dargelegt. Auch der Verweis auf die „Olainfarm“-Entscheidung des EuGH,
21vgl. EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2014 – C-104/13 (Olainfarm) –, EuZW 2015, 31 = juris, Rn. 37 ff.,
22verhilft dem Zulassungsantrag in diesem Zusammenhang nicht zum Erfolg, weil diese Entscheidung Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG und die im Rahmen einer generischen Zulassung – vermeintlich zu Unrecht – erfolgte Inanspruchnahme eines Arzneimittels als Referenzpräparat betraf und schon aus diesem Grund nicht ersichtlich ist, inwiefern sich daraus eine Klagebefugnis zugunsten der Klägerin ableiten ließe, die sich auf – ihr angeblich zustehende – Markenrechte sowie einen angeblichen Verstoß gegen die nationale Kennzeichnungsvorschrift des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG beruft.
23c) Auch soweit sich die Klägerin sinngemäß auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes bezieht, erfordert dieser aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Grundsatz nicht, vorliegend ein Klagerecht anzuerkennen. Die Vorschrift garantiert den Rechtsweg nur demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten, also in einer im Interesse des Einzelnen gewährten Rechtsposition verletzt ist. Hingegen genügt weder die Verletzung wirtschaftlicher Interessen noch die Verletzung von Rechtssätzen, in denen der Einzelne nur aus Gründen des Interesses der Allgemeinheit begünstigt wird. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes setzt also subjektive Rechte voraus und begründet sie nicht.
24Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 5. Februar 1963 – 2 BvR 21/60 –, BVerfGE 15, 275 = juris, Rn. 17, vom 27. April 1971 – 2 BvR 708/65 –, BVerfGE 31, 33 = juris, Rn. 20, vom 17. April 1991 – 1 BvR 419/81 u. a. –, BVerfGE 84, 34 = juris, Rn. 47, und vom 4. Oktober 1991 – 1 BvR 314/90 –, NJW 1992, 1878 = juris, Rn. 6; BVerwG, Urteil vom 22. Mai 1980 – 3 C 2.80 –, BVerwGE 60, 154 = juris, Rn. 52.
25Für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten verlangt das Gebot effektiven Rechtsschutzes nur, dass dem Einzelnen im Hinblick auf die Wahrung oder Durchsetzung seiner subjektiv-öffentlichen Rechte eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle zuteil wird.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2002 – 6 C 8.01 –, BVerwGE 117, 93 = juris, Rn. 39.
27Dass der Klägerin entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts subjektiv-öffentliche Rechte zustehen könnten, deren wirksame Kontrolle im vorliegenden Verfahren sicherzustellen wäre, zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf. Auf etwaige Markenrechte kann sie sich – wie ausgeführt – nicht berufen. Mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur fehlenden drittschützenden Wirkung des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG sowie der Voraussetzungen des Parallelimports nach §§ 21, 25 AMG setzt sich der Zulassungsantrag – losgelöst von etwaigen Markenrechten – schon nicht auseinander.
28Soweit man gleichwohl zugunsten der Klägerin davon ausgeht, dass es sich bei ihren nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) erfolgten Ausführungen im Schriftsatz vom 21. April 2020 um zulässige Ergänzungen ihres bisherigen Vorbringens handelt, begründen auch diese keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Anders als die Klägerin meint, lässt sich dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, nicht entnehmen, dass § 10 Abs. 8 Satz 3 AMG Drittschutz zugunsten des Mitvertreibers eines Arzneimittels entfaltet.
29Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem genannten Urteil entschieden, dass die Feststellung des BfArM nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG über die Zulassungsfreiheit eines Defektur-Arzneimittels die Inhaberin der Zulassung für ein vergleichbares Arzneimittel in ihren Rechten verletzen kann. § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG komme insoweit drittschützende Wirkung zu. Die Erteilung einer Arzneimittelzulassung sei auch dem Schutz der Interessen des Zulassungsinhabers vor einer Umgehung des Zulassungsverfahrens durch Mitbewerber zu dienen bestimmt. Die Zulassung eines Produkts als Arzneimittel erfolge aufgrund eines kostenintensiven und aufwendigen Verfahrens; die Erlaubniserteilung sei mit fortlaufenden Überwachungspflichten verbunden. Es stelle daher einen erheblichen und spürbaren Wettbewerbsvorteil dar, wenn ein Mitbewerber ein zulassungsbedürftiges Arzneimittel vertreibe, ohne dieses Zulassungsverfahren durchlaufen zu haben. Spreche das BfArM einem anderen die Befugnis zu, ein vergleichbares Arzneimittel ohne Zulassung zu vertreiben, könne dies den Inhaber der Arzneimittelzulassung deshalb in seinen Rechten verletzen.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, Rn. 18-19.
31Es kann in der vorliegenden Fallkonstellation offen bleiben, ob – wie die Klägerin meint – die vom Bundesverwaltungsgericht zu § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG, also eine Ausnahme von der arzneimittelrechtlichen Zulassungspflicht regelnden Normen, angestellten Erwägungen überhaupt auf die Kennzeichnungspflichten betreffende Vorschrift des § 10 Abs. 8 Satz 3, Abs. 1 AMG übertragbar sind, diese Vorschrift also ebenfalls zumindest auch den Individualinteressen von Inhabern einer arzneimittelrechtlichen Zulassung zu dienen bestimmt ist. Jedenfalls ist der Entscheidung nichts dafür zu entnehmen, dass die Regelung des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG Drittschutz zugunsten eines Unternehmens entfalten könnte, das selbst nicht Zulassungsinhaber ist, sondern ein Arzneimittel lediglich aufgrund vom Zulassungsinhaber schuldrechtlich gewährter Mitvertriebsrechte vermarktet.
32Das Arzneimittelrecht ist durch das Verbot des Inverkehrbringens von Arzneimitteln geprägt, sofern nicht eine (nationale oder zentrale) Zulassung erteilt worden ist. Für den Geltungsbereich des AMG folgt dies aus § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG. Abweichungen von diesem Grundsatz sieht das Arzneimittelgesetz nur in den ausdrücklich benannten Fällen und bei Vorliegen der dort festgelegten Voraussetzungen vor. Die als Verwaltungsakt ausgestaltete Zulassung eines Arzneimittels weist die damit verbundenen Rechte und Pflichten ausschließlich dem jeweiligen Zulassungsinhaber zu. Die Erteilung der Zulassung ist Ziel, das Zulassungsverfahren ist Grund der mitunter langjährigen und ressourcenintensiven Forschungs- und Entwicklungsarbeit der Arzneimittelhersteller. Es ist das kostenintensive und aufwendige Zulassungsverfahren, welches dem Antragsteller nicht nur umfangreiche Angaben u. a. zur Zusammensetzung, zu den Wirkstoffen und therapeutischen Effekten des Präparats, sondern auch die Durchführung und wissenschaftliche Aufbereitung klinischer und vorklinischer Studien abverlangt, und das die Annahme rechtfertigt, bestimmte Regelungen zu den im Rahmen des Zulassungsverfahrens vorzulegenden Unterlagen, zur Zulassungspflicht bzw. zu Ausnahmen hiervon seien auch den Interessen eines Zulassungsinhabers zu dienen bestimmt.
33Vgl. zu § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG (Voraussetzungen der Zulassungsfreiheit der Defektur-Arzneimittelherstellung) BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris; zu § 24a und § 24b AMG (Vorschriften über den Unterlagenschutz) OVG NRW, Beschluss vom 30. August 2012 – 13 B 733/12 –, juris, Rn. 15, m. w. N.; zu Art. 4 und 5 der Richtlinie 65/65/EWG (Anforderungen an die für die Arzneimittelzulassung erforderlichen Angaben und Unterlagen) EuGH, Urteil vom 12. November 1996 – C-201/94 (Smith & Nephew) –, Slg. 1996, I-5819 = juris, Rn. 39; zu Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG (Voraussetzungen für die Zulassung eines Generikums: Schutzfristen nach Art. 10 Abs. 1 UAbs. 1 und 2, Abs. 5, Referenzarzneimitteleigenschaft nach Art. 10 Abs. 2 Buchst. a, Gleichartigkeit der Wirkstoffzusammensetzung und Darreichungsform nach Art. 10 Abs. 2 Buchst. b RL 2001/83/EG) EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2014 – C-104/13 (Olainfarm) –, EuZW 2015, 31 = juris, Rn. 37 ff.
34Diese Erwägungen treffen auf ein bloßes Vertriebsunternehmen nicht zu. Beim Mitvertrieb von Arzneimitteln räumt der Inhaber einer Zulassung einem oder mehreren pharmazeutischen Unternehmern, den sog. Mitvertreibern, aufgrund privatrechtlicher Vereinbarung das Recht ein, das für ihn zugelassene Arzneimittel unter eigenem Namen in den Verkehr zu bringen, unter Beibehaltung der durch den Zulassungsbescheid vorgegebenen Bezeichnung und Kennzeichnung.
35Vgl. von Czettritz/Meier, Europarechtskonformität des Mitvertriebs von Arzneimitteln, PharmR 2001, 147.
36Der Mitvertreiber erbringt demnach selbst keinerlei besonders schützenswerte Leistung, die durch die Zulassung von Konkurrenz bzw. die vorliegend streitbefangene Entbindung konkurrierender Unternehmen von der Erfüllung bestimmter Kennzeichnungsvorgaben entwertet würde. Dass der Mitvertreiber pharmazeutischer Unternehmer i. S. d. § 4 Abs. 18 AMG ist und ihn als solchen im Wesentlichen die gleichen Pflichten nach dem Arzneimittelgesetz treffen wie den Zulassungsinhaber,
37vgl. zu den Pflichten des pharmazeutischen Unternehmers Fleischfresser, in: Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Aufl. 2020, § 5 Rn. 5,
38trägt allein der Notwendigkeit der Sicherstellung der arzneimittelrechtlichen Verantwortlichkeiten Rechnung,
39vgl. BVerwG, Urteil vom 18. September 2003 – 3 C 31.02 –, juris, Rn. 22, woraufhin klarstellend § 4 Abs. 18 Satz 2 AMG eingefügt wurde,
40und ändert nichts an dem vorstehenden Befund.
41Hat die eine Parallelimportzulassung anfechtende Klägerin – wie die vorliegend klagende Mitvertreiberin – das aufwendige und kostenintensive Zulassungsverfahren nicht selbst durchlaufen und kommt ihr auch die aus der arzneimittelrechtlichen Zulassung folgende öffentlich-rechtliche Rechtsposition nicht zu, bleibt es bei der grundsätzlichen Erwägung, dass alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Herstellung, des Vertriebs oder der Verwendung von Arzneimitteln in erster Linie einen wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleisten müssen,
42vgl. Erwägungsgrund Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG,
43bzw. einer optimalen Arzneimittelsicherheit zu dienen bestimmt sind,
44vgl. den Entwurf der Bundesregierung über ein Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 7. Januar 1975, BT-Drucks. 7/3060, S. 1, 43,
45und wirtschaftliche Individualinteressen pharmazeutischer Unternehmer im Rahmen von Vorschriften über die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln grundsätzlich ohne Belang sind.
46Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 7. April 2016 – 13 B 28/16 –, NVwZ-RR 2016, 627 = juris, Rn. 12, vom 30. August 2012 – 13 B 733/12 –, A & R 2012, 285 = juris, Rn. 7 ff., und vom 26. September 2008 – 13 B 1169/08 –, PharmR 2008, 607 = juris, Rn. 22; s. auch Rehmann, AMG, 5. Auflage 2020, Einführung, Rn. 12; Kortland, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 2. Auflage 2016, Vor § 21 Rn. 13.
47Vor diesem Hintergrund beschränkt sich auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2019 auf die Feststellung des drittschützenden Charakters von § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG zugunsten der dortigen Klägerin als Inhaberin der Zulassung für ein vergleichbares Arzneimittel und betont, dass der Ausnahmevorschrift nur „insoweit“ drittschützende Wirkung zukomme. Zur Begründung verweist das Bundesverwaltungsgericht in Übereinstimmung mit den vorstehenden Erwägungen auf das kostenintensive und aufwendige Zulassungsverfahren, das der Zulassungsinhaber durchlaufen muss, und die spürbaren Wettbewerbsvorteile, wenn ein Mitbewerber ein zulassungsbedürftiges Arzneimittel vertreibt, ohne dieses Zulassungsverfahren durchlaufen zu haben.
48Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, Rn. 19.
49Anders als die Klägerin meint, stellt das Bundesverwaltungsgericht damit gerade nicht auf faktische wirtschaftliche Interessen als vorrangig vor „formalistische[n] arzneimittelrechtliche[n] Zuordnungen wie beispielsweise Zulassungsinhaberschaft“ ab. Im Gegenteil können sich die spürbaren Wettbewerbsvorteile, auf die das Bundesverwaltungsgericht abstellt, ausschließlich gegenüber einem Zulassungsinhaber wegen der Umgehung des Zulassungsverfahrens ergeben, sodass die Zulassungsinhaberschaft gerade notwendige Voraussetzung für die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene drittschützende Wirkung des § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG ist. Es spricht nach alledem nichts dafür, dass die Klägerin, die ausschließlich kraft zivilrechtlicher Vereinbarung das Arzneimittel „F. “ vertreiben darf und die durch die angefochtene Parallelimportzulassung lediglich weiterer Konkurrenz ausgesetzt wird, hinsichtlich der Klagebefugnis in der hier vorliegenden Drittanfechtungssituation dem Inhaber einer arzneimittelrechtlichen Zulassung gleichzustellen sein könnte.
50d) Die von der Klägerin mit Schriftsatz vom 21. April 2020 erstmals erwähnte angeblich privatrechtsgestaltende Wirkung des angefochtenen Zulassungsbescheids rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin annähme, dass es sich hierbei lediglich um eine Erläuterung oder Verdeutlichung ihres fristgemäßen Zulassungsvorbringens handelte,
51vgl. zu diesem Erfordernis OVG NRW, Beschluss vom 29. September 2017 – 6 A 1660/17 –, juris, Rn. 8, unter Verweis auf OVG NRW, Beschluss vom 24. April 1998 – 24 B 236/98 –, juris,
52obwohl sie sich in ihrer Zulassungsbegründung vom 15. August 2016 lediglich zur – in rechtlicher Hinsicht von der privatrechtsgestaltenden Wirkung eines Verwaltungsakts zu unterscheidenden – Tatbestandswirkung der Parallelimportzulassung geäußert hat, legt sie auch mit ihrem Vorbringen zur privatrechtsgestaltenden Wirkung der angefochtenen Parallelimportzulassung keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung dar. Anders als die Klägerin behauptet, hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2019 nicht den Rechtssatz aufgestellt, die privatrechtsgestaltende Wirkung eines Bescheids ergebe sich allgemein aus dessen Tatbestandswirkung in Form einer materiellen Bindungswirkung gegenüber den Zivilgerichten. Das Bundesverwaltungsgericht hat – im Gegenteil – gerade offengelassen, ob der dort angefochtene Feststellungsbescheid nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG privatrechtsgestaltende Wirkung durch eine unmittelbare, wenn auch vorläufige Gestaltung des privatrechtlichen Rechtsverhältnisses zwischen der dortigen Klägerin und dem dortigen Beigeladenen entfaltet, und Zweifel insoweit geäußert, als der wettbewerbsrechtliche Unterlassungsanspruch der dortigen Klägerin nicht unmittelbar durch den Bescheid des BfArM, sondern aufgrund der Entscheidung des Bundesgerichtshofs untergegangen war.
53Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, Rn. 23 ff.
54Die von der Klägerin aufgestellte Behauptung, das Bundesverwaltungsgericht gehe von einer privatrechtsgestaltenden Wirkung eines Verwaltungsakts aus, wenn und weil dieser in einem zivilrechtlichen Rechtsstreit Tatbestandswirkung entfalte und daher dort nicht auf seine Rechtmäßigkeit überprüft werde, sodass die Tatbestandswirkung selbst die privatrechtsgestaltende Wirkung begründe, trifft schlicht nicht zu.
55Auch im Übrigen zeigt die Klägerin nicht auf, dass die Voraussetzungen für die Annahme einer privatrechtsgestaltenden Wirkung der hier streitbefangenen Parallelimportzulassung gegeben sind. Dies würde voraussetzen, dass die Parallelimportzulassung eine unmittelbare, wenn auch vorläufige, Gestaltung des privatrechtlichen Rechtsverhältnisses zwischen der Klägerin und der Beigeladenen bewirkt. Dagegen spricht aber schon der Umstand, dass Regelungsgegenstand der Parallelimportzulassung die öffentlich-rechtliche Gestattung des Inverkehrbringens eines bestimmten Arzneimittels ist und diese gemäß § 25 Abs. 10 AMG unbeschadet der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit des Importeurs erteilt wird. Dieser Regelung, die lediglich der Klarstellung dient,
56vgl. Entwurf der Bundesregierung über ein Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 7. Januar 1975, BT-Drucks. 7/3060, S. 51,
57lässt sich entnehmen, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers die arzneimittelrechtliche (Parallelimport-)Zulassung etwaige privatrechtliche Rechtsverhältnisse gerade nicht berührt.
58Es fehlt zudem an der notwendigen Unmittelbarkeit. Die von der Klägerin der Sache nach bemängelte Befreiung der Beigeladenen von der Einhaltung bestimmter Kennzeichnungsvorgaben des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG durch die Parallelimportzulassung gestaltet nicht unmittelbar Rechte und Pflichten zwischen der Klägerin und der Beigeladenen. Vielmehr hat diese Regelung des Zulassungsbescheids allenfalls mittelbare Auswirkungen auf deren zivilrechtliches Rechtsverhältnis im Hinblick auf etwaige – hier schon nicht dargelegte – markenrechtliche Ansprüche der Klägerin, soweit nach der Rechtsprechung des EuGH der markenrechtliche Erschöpfungsgrundsatz u. U. nicht erfüllt ist, wenn bestimmte Mindestangaben auf umgepackten parallelimportierten Arzneimitteln fehlen und sich die nationalen Zivilgerichte an der Prüfung dieser Voraussetzungen gehindert sehen, weil sie der Parallelimportzulassung des BfArM – trotz der aufschiebenden Wirkung einer dagegen erhobenen Drittanfechtungsklage – Tatbestandswirkung zusprechen.
59Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, Rn. 25.
60e) Schließlich ergeben sich ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung auch nicht aus dem Verweis der Klägerin auf eine angeblich „marktgestaltende Wirkung“ des § 10 AMG. Soweit sich die Klägerin damit auf ihr Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG) bezieht, rechtfertigt dies nicht die Annahme, der Klägerin stehe vorliegend eine Klagebefugnis zu. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass das Grundrecht auf freie Berufsausübung die Teilhabe am Wettbewerb sichert. Es gewährt aber im Grundsatz keinen Schutz vor Konkurrenz. Die Wettbewerber haben keinen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass die Wettbewerbsbedingungen für sie gleich bleiben. Insbesondere verleiht Art. 12 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht das Recht, den Marktzutritt eines weiteren Konkurrenten abzuwehren. Etwas anderes kann zwar gelten, wenn der Staat selbst die Funktionsbedingungen des Wettbewerbs festlegt. Hieraus kann einem Wettbewerber das Recht auf Einhaltung dieser Wettbewerbsbedingungen zuwachsen; jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sie (auch) dem individuellen Interesse der Teilnehmer am Wettbewerb zu dienen bestimmt sind.
61Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 3 C 41.10 –, juris, Rn. 18.
62Dies ist im Hinblick auf § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG zugunsten der Klägerin als bloßer Mitvertreiberin des hier fraglichen Arzneimittels – wie gezeigt – jedoch nicht der Fall.
63Darüber hinaus kann eine aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Klagebefugnis nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn die hoheitliche Maßnahme eine Wettbewerbsveränderung in dem betreffenden Markt herbeiführt, die die wirtschaftliche Position des klagenden Konkurrenten unzumutbar beeinträchtigt. In einer solchen Situation ließe sich eine grundrechtsrelevante Verwerfung der Konkurrenzverhältnisse nicht von vornherein ausschließen.
64Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 3 C 41.10 –, juris, Rn. 21.
65Für eine derartige unzumutbare Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Position der Klägerin ist vorliegend nichts ersichtlich. Zwar betont die Klägerin, ihr entstünden durch die der Beigeladenen erteilte Parallelimportzulassung unter teilweiser Befreiung von den Kennzeichnungspflichten des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG wirtschaftliche Nachteile, die allein sie und nicht die Zulassungsinhaberin zu tragen habe. Eine unzumutbare Beeinträchtigung, die über das allgemeine marktimmanente Wettbewerbsrisiko hinausginge, hat sie damit aber nicht dargelegt.
662. Die Berufung ist auch nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Der Begriff der besonderen Schwierigkeiten im Sinne dieser Norm ist funktionsbezogen dahin auszulegen, dass besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten dann vorliegen, wenn die – fristgerecht geltend gemachten – Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern. Solche begründeten Zweifel hat die Klägerin, wie sich aus den Ausführungen unter 1. ergibt, nicht dargelegt.
673. Die Berufung ist schließlich nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die Darlegung der Grundsatzbedeutung setzt voraus, dass eine bestimmte, obergerichtlich oder höchstgerichtlich noch nicht hinreichend geklärte und (auch) für die Berufungsentscheidung erhebliche Frage rechtlicher oder tatsächlicher Art herausgearbeitet und formuliert wird; zudem muss angegeben werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll. Darzulegen sind demnach die konkrete Frage, ihre Klärungsbedürftigkeit, Klärungsfähigkeit und allgemeine Bedeutung.
68Vgl. zu § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG etwa OVG NRW, Beschluss vom 8. Februar 2019 – 13 A 1776/18.A –, juris, Rn. 3, vom 20. Februar 2018 – 13 A 124/18.A –, juris, Rn. 3 f., und vom 14. Juli 2017 – 13 A 1519/17.A –, juris, Rn. 6 f., jeweils m. w. N.
69Diesen Anforderungen entspricht das Zulassungsvorbringen hinsichtlich der von der Klägerin als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfenen Frage,
70ob dem Markeninhaber (vorliegend dem dinglich Berechtigten, exklusiven Lizenznehmer an der Marke, der zugleich exklusiver Mitvertreiber ist) eine Klagebefugnis im Verwaltungsverfahren zuzusprechen ist, weil die Importzulassungen in Bezug auf das Produkt der Klägerin eine rechtswidrige Kennzeichnung zulassen,
71nicht. Ungeachtet des Umstands, dass die so formulierte Frage jedenfalls bei wörtlichem Verständnis auf den Einzelfall zielt, weil sie spezifisch auf „das Produkt der Klägerin“ abstellt, würde sie sich in einem Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen. Denn die Frage setzt voraus, dass der zu betrachtende Kläger Markeninhaber ist, ihm mithin eigene Rechte an der Marke zustehen. Wie gezeigt, hat die Klägerin jedoch nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt, dass sie selbst diese Voraussetzung erfüllt.
72Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
73Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 21. April 2020 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 20. Zivilkammer des Landgerichts Hannover <20 O 33/18> teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger 5.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25. März 2018 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Kläger zu 90 % und die Beklagte zu 10 %; die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Kläger zu 83 % und die Beklagte zu 17 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, sofern nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 30.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Kläger begehren als Erben der verstorbenen H. P. in der Hauptsache weiteres Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall im Jahr 2015, bei dem Frau P. schwer verletzt wurde und in dessen Folge sie letztlich rund viereinhalb Monate später verstarb. Die alleinige Haftung der Unfallgegnerin, der Versicherungsnehmerin der Beklagten, steht dem Grunde nach außer Streit. Die Beklagte erbrachte vorprozessual eine Zahlung von 25.000,00 Euro, welche die Kläger im erklärten Einverständnis der Beklagten auf den Schmerzensgeldanspruch verrechneten. Die Parteien streiten um die Höhe des angemessenen Schmerzensgeldes.
2
Gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO wird hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen und der erstinstanzlichen Anträge auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
3
Mit am 21. April 2020 verkündeten Urteil hat das Landgericht nach Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dem erstinstanzlich teilweise streitigen Umfang der Verletzungen und Verletzungsfolgen bei der Geschädigten der Klage zum überwiegenden Teil stattgegeben und ein weiteres Schmerzensgeld von 30.000 Euro (55.000 Euro abzüglich bereits gezahlter 25.000 Euro) zzgl. Zinsen zuerkannt; im Übrigen ist die Klage – neben dem darüber hinaus begehrten Schmerzensgeld insbesondere die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten betreffend – abgewiesen worden. Zur Begründung seiner teilweise klagstattgebenden Entscheidung führt das Landgericht im Wesentlichen aus, unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Art und Dauer der von der Geschädigten erlittenen Verletzungen, sei ein Schmerzensgeld von insgesamt 55.000,00 Euro angemessen, um vor allem der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes gerecht zu werden. Wegen der Einzelheiten der Erwägungen des Landgerichts zur Höhe des Schmerzensgeldes wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (LGU S. 6 bis 10) verwiesen.
4
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt, soweit sie vor dem Landgericht unterlegen ist. Sie macht insbesondere geltend, das Landgericht habe bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht hinreichend die verhältnismäßig kurze Überlebensdauer der Geschädigten und den Umstand berücksichtigt, dass Frau P. durch die rund zwölf Tage nach dem Unfall aufgetretenen Hirninfarkte schwer bewusstseinsgestört gewesen sei, mithin Schmerzen nicht bei vollem Bewusstsein wahrgenommen habe. Ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 55.000,00 Euro sei in Ansehung der Rechtsprechung zu vergleichbaren Verletzungsbildern nicht zu rechtfertigen. Die Beklagte verweist dazu im Einzelnen auf mehrere Entscheidungen, die jeweils ebenfalls einen Fall von Verletzungen mit Todesfolge betreffen.
5
Die Beklagte beantragt,
6
das Urteil des LG Hannover vom 21.04.2020 (20 O 33/18) abzuändern und die Klage abzuweisen.
7
Die Kläger beantragen,
8
die Berufung zurückzuweisen.
9
Sie verteidigen unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens die Entscheidung des Landgerichts gegen die Angriffe der Berufung.
10
Wegen des Vorbringens der Parteien im Einzelnen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
II.
11
Die zulässige Berufung der Beklagten ist überwiegend begründet. Das Landgericht hat das Schmerzensgeld zu hoch bemessen. Den Klägern sind über die vorprozessual gezahlten 25.000,00 Euro lediglich weitere 5.000,00 Euro zuzusprechen.
12
1. Der Maßstab für die billige Entschädigung i.S.v. § 253 BGB muss unter Berücksichtigung ihrer Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion für jeden einzelnen Fall durch Würdigung und Wägung aller ihn prägenden Umstande neu gewonnen werden; das auf diese Weise gewonnene Ergebnis ist anschließend im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz anhand von in sog. Schmerzensgeldtabellen erfassten Vergleichsfällen zu überprüfen, wobei aber die dort ausgewiesenen Beträge schon wegen der meist nur begrenzt vergleichbaren Verletzungsbilder nicht schematisch übernommen werden dürfen. Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt; besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen der Verletzungen zu (vgl. Senat, Urt. v. 08. Juli 2020 – 14 U 27/20 – 3. LS und Rn. 23f., und Urt. v. 19. Februar 2020 – 14 U 69/19 –, Rn. 53f. mwN, jew. zit. n. juris).
13
2. Ausgehend davon gilt Folgendes:
14
a) Zunächst ist festzustellen, dass das Landgericht bei seiner Entscheidung die Umstände des vorliegenden Falles umfassend berücksichtigt und erwogen hat und insoweit keine durchgreifenden Fehler ersichtlich sind. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil Bezug. Soweit die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung rügt, das Landgericht habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass Frau P. durch die rund zwölf Tage nach dem Unfall aufgetretenen Hirninfarkte schwer bewusstseinsgestört gewesen sei, ist dem nicht zu folgen. Denn das Landgericht hat diesen Umstand zutreffend erfasst und in seine Erwägungen eingestellt (vgl. LGU S. 8f. und 9f.). Die Feststellungen des Landgerichts, insbesondere diejenigen zu den zu berücksichtigenden Verletzungen und Verletzungsfolgen, hat die Beklagte im Übrigen nicht angegriffen. Soweit die Beklagte des Weiteren geltend macht, das Landgericht habe zu Unrecht schmerzensgelderhöhend berücksichtigt, dass sich Frau P. nicht mehr um die Betreuung ihrer behinderten Tochter habe kümmern können, so kann dem jedenfalls in Gänze ebenfalls nicht gefolgt werden. Denn es erscheint naheliegend, dass die Betreuung der behinderten Tochter für die Geschädigte eine wesentliche Bedeutung hatte, so dass dies durchaus in die Erwägungen zur Höhe des Schmerzensgeldes miteinbezogen werden kann. Allerdings dürfte diesem Aspekt jedenfalls kein wesentliches Gewicht bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zukommen.
15
b) Jedoch hat sich das Landgericht nicht mit Vergleichsfällen befasst bzw. jedenfalls nicht zu erkennen gegeben, sich in irgendeiner Weise mit den bereits erstinstanzlich von den Parteien vorgetragenen Fällen aus der Rechtsprechung auseinandergesetzt zu haben. Dies holt der Senat nach. Unter Berücksichtigung anderweitiger Gerichtsentscheidungen zu Körperverletzungen mit Todesfolge hält der Senat vorliegend ein Schmerzensgeld in Höhe von 30.000,00 Euro für angemessen.
16
aa) Insofern wird zunächst auf die von der Beklagten in ihrer Berufungsbegründung, dort S. 4 bis 8, genannten sechs Fälle anderweitiger Rechtsprechung zu Körperverletzungen mit Todesfolge verwiesen. Den erläuternden Darstellungen der Beklagten sind die Kläger nicht entgegengetreten, Unzutreffendes ist auch sonst nicht ersichtlich. Danach ist festzustellen, dass jene Entscheidungen zwar zum Teil bereits lange zurückliegen; in der Gesamtschau sprechen jene Entscheidungen aber dafür, dass im vorliegenden Fall das angemessene Schmerzensgeld im Bereich um 30.000,00 Euro und jedenfalls nicht in dem vom Landgericht für angemessen erachteten Bereich von 55.000,00 Euro liegt.
17
bb) Die von den Klägern angeführten Urteile sind ebenfalls älteren Datums und sprechen im Ergebnis jedenfalls nicht für ein höheres Schmerzensgeld im vorliegenden Fall. Bei der angeführten Entscheidung des LG Dortmund, 15 O 157/92, ist angenommen worden, dass es auf das Empfinden der Verletzungen und Verletzungsfolgen durch den Geschädigten nicht ankommt (vgl. Hacks/Wellner/Häcker, 38. Auflage, Nr. 2265: „Besondere Umstände, die für die Entscheidungen maßgebend waren: Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind allein die vom Verstorbenen erlittenen Verletzungen maßgebend, unabhängig davon, ob der Verstorbene diese empfunden hat oder nicht“). Das ist in Bezug auf Schmerzen als Verletzungsfolgen, um die es vorliegend maßgeblich geht, aber anders zu sehen: das Empfinden von Schmerzen durch die Geschädigte und die Intensität der Schmerzen sind sehr wohl zu berücksichtigen. Im Fall des OLG Karlsruhe, 10 U 15/97, dauerte es 21 Monate bis zum Tod des Geschädigten, und „es bestand bis zum Tode eine gewisse Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hatte, dass sich der Verletzte seiner eigenen Situation in gewissem Maße bewusst war“ (vgl. Hacks/Wellner/Häcker, 38. Auflage, Nr. 2266).
18
cc) Der Senat hat zudem weitere Rechtsprechung gesichtet. Danach ist festzustellen, dass etwa die bei Slizyk, Schmerzensgeld 2020, dort S. 851 ff. angeführten Entscheidungen zu Verletzungen mit Todesfolge ganz überwiegend unter den hier noch im Raum stehenden 55.000 Euro zurückbleiben. Bei Beträgen ab 40.000 bis 50.000 € handelt es sich überwiegend – im Vergleich mit dem vorliegenden Sachverhalt – um schwerer wiegende Umstände: ein Kind war betroffen und / oder es lagen schwerere Verletzungen vor und / oder Hintergrund war ein grober Behandlungsfehler oder eine Vorsatztat, während vorliegend der Schädigerin nur einfache Fahrlässigkeit anzulasten war.
19
In eine Vergleichsbetrachtung einbezogen hat der Senat des Weiteren insbesondere auch noch folgende Fälle (vgl. Hacks/Wellner/Häcker, 38. Auflage, Nr. 2236, 2251, 2252 und 2258):
20
(1) LG München I, Urteil vom 22.02.2001, 19 O 11433/99
21
Verletzung
Bifrontale Kontusionsblutungen, traumatische Subarachnoidalblutungen, Kleinhirnkontusion mit hoher Querschnittslähmung C 1, Hirnstammschädigung und corticale Läsion. Tod nach 4 Monaten
Dauer und Umfang der Behandlung/ Arbeitsunfähigkeit/ Minderung der Erwerbsfähigkeit
4 Monate in drei verschiedenen Krankenhäusern
Person des Verletzten
6-jähr. Junge
Besondere Umstände, die für die Entscheidungen maßgebend waren
Die unfallbedingten Verletzungen führten zu einem komatösen Zustand. Der Junge war nicht mehr ansprechbar und nicht mehr orientiert. Er reagierte nicht auf Versuche der Kontaktaufnahme und Schmerzreize. Blickkontakt war nicht möglich. Schluckreflex, Hustenreaktion und Sprechversuche fehlten
Betrag
10000,00 DM (5000,00 €)
Indexanpassung (2020)
6556,00 €
Lfd. Nummern
21.1428, 22.1459, 23.1375, 24.1281, 25.1331, 26.1266, 27.1177, 28.1139, 29.1056, 30.1088, 31.2901, 32.2513, 33.2506, 34.2408, 35.2333, 36.2257, 37.2188, 38.2236
22
(2) OLG Hamm, Urteil vom 20.03.2000, 6 U 184/99
23
Verletzung
Schädelbruch, Rippenserienfraktur als Folge derer eine Lungenverletzung (massive Entzündung beider Lungen sowie der Lungenäste) eingetreten ist, die nach 32 Tagen zum Tode führte
Person des Verletzten
Mann
Besondere Umstände, die für die Entscheidungen maßgebend waren
Verstorbener musste 32 Tage auf der Intensivstation verbringen; er war während dieser Zeit ansprechbar und über seinen Zustand orientiert
Betrag
30000,00 DM (15000,00 €)
Indexanpassung (2020)
20038,00 €
Lfd. Nummern
20.1975, 21.2157, 22.2220, 23.2166, 24.2062, 25.2005, 26.1979, 27.1921, 28.1924, 29.1868, 30.1925, 31.2922, 32.2527, 33.2521, 34.2424, 35.2349, 36.2272, 37.2203, 38.2251
24
(3) OLG Hamm, Urteil vom 09.08.2000, 13 U 58/00
25
Verletzung
Schädelhirntrauma, Hirnödem; schwere innere Verletzungen; Tod nach 8 Tagen
Person des Verletzten
16-jähr. Junge
Besondere Umstände, die für die Entscheidungen maßgebend waren
Bis zum Tode war der Verletzte, der mehrfach operiert wurde, zum Teil bei Bewusstsein, phasenweise verfügte er über Schmerzempfinden, erhielt nur sehr gering dosierte Schmerz- und Schlafmittel; er war zeitweise ansprechbar und reagierte zielgerichtet auf (unbeabsichtigte) Schmerzreize, z.B. beim Umbetten und bei der Mundpflege; ob er den Todeskampf bewusst erlebt und Todesangst verspürt hat, lässt sich nicht feststellen
Betrag
30000,00 DM (15000,00 €)
Indexanpassung (2020)
19913,00 €
Lfd. Nummern
20.1976, 21.2158, 22.2221, 23.2167, 24.2063, 25.2006, 26.1980, 27.1922, 28.1925, 29.1869, 30.1926, 31.2923, 32.2528, 33.2522, 34.2425, 35.2350, 36.2273, 37.2204, 38.2252
26
(4) OLG München, Urteil vom 03.05.1996, 10 U 6205/95
27
Verletzung
Schwere, irreversible Gehirnschädigung im Sinne eines apallischen Syndroms mit Bewegungsunfähigkeit; Verletzter war nicht ansprechbar und konnte keine Nahrung aufnehmen; Tod nach 5 1/2 Monaten
Besondere Umstände, die für die Entscheidungen maßgebend waren
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in den Fällen, in denen dem Verletzten wegen des Ausmaßes der Zerstörung seiner Persönlichkeit die Empfindungsfähigkeit fehlt, kommt dem Umstand erhebliche Bedeutung zu, wie lange der Geschädigte das Schadensereignis überlebt hat
Betrag
50000,00 DM (25000,00 €)
Indexanpassung (2020)
34888,00 €
Lfd. Nummern
19.1979, 20.2232, 21.2448, 22.2522, 23.2493, 24.2404, 25.2365, 26.2352, 27.2304, 28.2319, 29.2279, 30.2332, 31.2932, 32.2533, 33.2526, 34.2430, 35.2355, 36.2277, 37.2210, 38.2258
28
c) Unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falles und der Rechtsprechung zu Fällen der Verletzung mit Todesfolge erscheint dem Senat hier im Ergebnis ein Schmerzensgeld von 30.000,00 Euro angemessen. Da die Beklagte vorprozessual bereits 25.000 Euro geleistet hat, verbleiben noch 5.000,00 Euro.
29
3. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286, 288 Abs. 1 BGB.
III.
30
Nach alledem war das angefochtene Urteil auf die Berufung der Beklagten teilweise abzuändern; im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen. Soweit das Landgericht die Klage teilweise abgewiesen hatte, verbleibt es mangels Berufungsangriffs der Kläger dabei.
IV.
31
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
32
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
V.
33
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und der Senat nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes oder eines anderen Oberlandesgerichts abweicht, so dass auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern, § 543 ZPO.
VI.
34
Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren beruht auf § 3 ZPO, § 47 Abs. 1 GKG.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Beteiligten streiten um eine Duldung des Antragstellers.
2
Der am 05.05.1986 geborene Antragsteller ist kosovarischer Staatsangehöriger. Er reiste 1990 in das Bundesgebiet ein. Für ihn wurde ein Pass der damaligen Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien auf den Namen xxx xxx vorgelegt. Dem Antragsteller wurde eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, die wiederholt verlängert wurde.
3
Ab dem Jahr 2000 trat der Antragsteller wiederholt strafrechtlich in Erscheinung. Dabei sind vor allem folgende Verurteilungen von Bedeutung:
4
Mit Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 30.09.2003 wurde der Antragsteller im Berufungsverfahren zu einer Jugendstrafe von 18 Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung, versuchter Erpressung in Tateinheit mit Nötigung, räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung, schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung verurteilt.
5
Mit Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 18.02.2009 wurde der Antragsteller wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln in vier Fällen, wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis und in Tateinheit mit unerlaubten Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe, wegen unerlaubten Besitzes von Munition und wegen unerlaubten Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
6
Mit Bescheid vom 11.08.2011 wurde der Antragsteller aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Weiter hieß es in dem Bescheid, die Wirkung der Ausweisung sei unbefristet. Es werde darauf hingewiesen, dass die nachträgliche Befristung dieser Wirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG beantragt werden könne. Dem Antragsteller werde die Abschiebung angedroht. Er werde direkt aus der Strafhaft nach Serbien abgeschoben. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
7
Mit Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 19.04.2011 – rechtskräftig seit dem 14.12.2011 - wurde der Antragsteller wegen gemeinschaftlicher schwerer räuberischer Erpressung und Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt.
8
Mit Bescheid vom 17.11.2014 wurde die mit Bescheid vom 11.08.2011 verfügte Ausweisung in ihrer Wirkung nachträglich auf acht Jahre und sechs Monate befristet. Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 14.09.2015 zurückgewiesen wurde.
9
Am 18.05.2016 wurde der Antragsteller in den Kosovo abgeschoben.
10
Am 29.09.2016 wurde der Antragsteller nach der Einreise aus den Niederlanden festgestellt. Der Antragsteller wurde zur Verbüßung der noch offenen Reststrafen in die Justizvollzugsanstalt (JVA) xxx gebracht.
11
In einem Anhörungstermin am 08.05.2017 teilte der Antragsteller gegenüber der Strafvollstreckungskammer mit, er habe im Kosovo seinen Namen geändert. Sein richtiger Name laute jetzt A., geb. xxx xxx.
12
Mit Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 30.11.2018 wurde der Antrag des Antragstellers, die Vollstreckung der Reste der Freiheitsstrafen nach Verbüßung von mehr als zwei Drittel zur Bewährung auszusetzen, zurückgewiesen.
13
Mit Bescheid vom 01.04.2020 wurde dem Antragsteller die Abschiebung in die Republik Kosovo angedroht.
14
In einer Stellungnahme der JVA xxx vom 01.04.2020 hieß es u.a., es stehe zu befürchten, dass es dem Antragsteller nach der Entlassung aus der Haft nicht gelingen werde, sozial verantwortlich ohne Straftaten zu leben, weshalb die Anordnung der Führungsaufsicht empfohlen werde.
15
Der Antragsteller legte gegen den Bescheid vom 01.04.2020 am 27.04.2020 Widerspruch ein, der nicht begründet wurde.
16
Der Antragsteller wurde am 09.07.2020 aus der Haft entlassen.
17
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.09.2020 – dem Antragsteller zugestellt am 15.09.2020 - zurückgewiesen.
18
Der Antragsteller hat am 15.10.2020 Klage erhoben (11 A 226/20) und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung trägt der Antragsteller u.a. vor, er lebe seit seiner Haftentlassung mit seiner Verlobten, einer polnischen Staatsangehörigen in A-Stadt. Die Eheschließung sei in der 41. Kalenderwoche beim Standesamt A-Stadt angemeldet, die Akte befinde sich derzeit beim zuständigen Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses. Spätestens mit der Eheschließung sei eine Rechtsgrundlage für aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht mehr vorhanden. Seine Verlobte sei freizügigkeitsberechtigt, sodass er mit der Eheschließung ebenfalls Freizügigkeit genießen werde. Bis zur Eheschließung sei er zu dulden und er habe einen Anspruch auf die Erteilung der Duldung zum Schutz der Eheschließungsfreiheit unmittelbar aus Art. 6 GG, sodass aufenthaltsbeendende Maßnahmen schon jetzt nicht mehr durchgeführt werden dürften. Die Eheschließung stehe unmittelbar bevor.
19
Der Antragsteller beantragt,
20
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen und ihn zunächst zu dulden.
21
Die Antragsgegnerin beantragt,
22
den Antrag abzulehnen.
23
Zur Begründung trägt die Antragsgegnerin u.a. vor, die für eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts geltenden Anforderungen seien nicht anwendbar, da der Antragsteller nicht mit der polnischen Staatsangehörigen verheiratet sei. Diese Anforderungen könnten auch nicht zeitlich vorverlagert werden. Die Eheschließung stehe zudem nicht unmittelbar bevor, da die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses noch ausstehe. Selbst wenn man das anders sehen würde, bestehe kein Duldungsanspruch aus Art. 6 Abs. 1 GG, da eine Aufenthaltsbeendigung noch vor dem Eheschließungstermin zum Schutz kollidierender Verfassungsrechtsgüter geboten und die damit einhergehende Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit verhältnismäßig sei. Dies sei hier aufgrund der wiederholten schwerwiegenden Straftaten der Fall. Zudem ergebe sich aus allen vorliegenden Stellungnahmen und Entscheidungen, dass vom Antragsteller gegenwärtig eine erhebliche Gefahr weiterer Straftaten ausgehe.
24
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
25
Der Antrag ist nach § 123 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Er ist jedoch nicht begründet.
26
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V. mit § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgeblich sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
27
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage gelangt die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, dass eine Abschiebung aus den hier allein fraglichen rechtlichen Gründen unmöglich ist.
28
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist der Antragsteller nicht verheiratet, er beabsichtigt jedoch die Ehe mit einer polnischen Staatsangehörigen. Aus dieser Absicht folgt jedoch – entgegen der Ansicht des Antragstellers - im zeitlichen Vorgriff kein Freizügigkeitsrecht des Antragstellers.
29
Im Übrigen gilt hinsichtlich der beabsichtigten Eheschließung Folgendes:
30
Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise kann sich u.a. aus dem Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG ergeben. Zwar gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, Beschluss vom 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08 –, Rn. 25, juris m.w.N.). Allerdings verpflichtet Art. 6 GG die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsrechtliche Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers pflichtgemäß in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (BVerfG, Beschluss vom 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08 –, Rn. 26, juris). Der Schutz der Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK, in den durch die Abschiebung einzelner Familienmitglieder eingegriffen wird, kann also ein von der Ausländerbehörde zu beachtendes sog. inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis begründen (Haedicke in: HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - familiäre Gründe, Rn. 34 ff.). Zu beachten ist, dass es in jedem Fall um eine Einzelfallentscheidung geht und deshalb sämtliche einschlägigen Gesichtspunkte des konkret vorliegenden Falles zu berücksichtigen sind. Wie gewichtig der aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK folgende Schutz der Familie jeweils ist, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Dabei macht es einen entscheidenden Unterschied aus, ob im Zeitpunkt der Begründung der familiären Lebensgemeinschaft oder der Eheschließung die Eheleute von der Möglichkeit eines Aufenthaltsrechts für den Antragsteller ausgehen konnten oder ob ein derartiges Aufenthaltsrecht von vornherein ungewiss war, sodass das (Fort-)Bestehen des Familienlebens in Deutschland ungewiss war. In derartigen Fällen steht Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK nur ganz ausnahmsweise einer Aufenthaltsbeendigung entgegen (vgl. EGMR, Urteil vom 31.07.2008 – 265/07 – InfAuslR 2008, 421; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 60a Rn. 150). Der Antragsteller wurde in der Vergangenheit ausgewiesen und abgeschoben. Eine Abschiebung begründet nach § 11 Abs. 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot. Der Antragsteller ist dennoch wieder eingereist. Er hat während seines nachfolgenden Aufenthaltes in Deutschland nicht über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt. Die Möglichkeit eines weiteren Aufenthaltes des Antragstellers war von daher zu jeder Zeit ungewiss, weder er noch seine zukünftige Ehefrau konnten ein schützenswertes Vertrauen dahingehend bilden, dass ein Familienleben in Deutschland stattfinden wird. Sie mussten vielmehr von vornherein davon ausgehen, dass es aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Situation des Antragstellers zu einer zumindest vorübergehenden Trennung kommen wird. In einer derartigen Situation ist eine vorübergehende Trennung der Eheleute mit Art. 6 GG, Art. 8 EMRK vereinbar (vgl. Beschluss der Kammer vom 26.09.2019 – 11 B 124/19 -).
31
Hinzu kommt, dass hier aus der beabsichtigten Eheschließung noch kein Anspruch aus Art. 6 GG folgt. Eine ernsthaft beabsichtigte Eheschließung kann ein einer Ausreiseverpflichtung entgegenstehendes zeitweiliges Bleiberecht begründen. Dies setzt aber voraus, dass die Eheschließung unmittelbar bevorsteht. Dies ist hier nicht der Fall. Vorausgesetzt wird, dass dem Ausländer ein Ehefähigkeitszeugnis nach § 1309 Abs. 1 BGB erteilt oder er gemäß § 1309 Abs. 2 BGB von der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts befreit worden ist (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60a AufenthG Rn. 25 m.w.N.). Hieran fehlt es vorliegend.
32
Da keine drohende Verletzung von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK glaubhaft gemacht worden ist, hat der Antragsteller keinen Anspruch auf Erteilung der von ihm angestrebten Duldung.
33
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG.
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Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 31. Mai 2016 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 150.000,- Euro festgesetzt.
1Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nach den insoweit maßgeblichen Darlegungen der Klägerin (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) nicht vor.
2Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Die Unzulässigkeit hat es selbstständig tragend auf das Fehlen der nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderlichen Klagebefugnis sowie die Verwirkung des Widerspruchsrechts der Klägerin gestützt. Daher kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn jede der beiden tragenden Erwägungen mit wirksamen Rügen angegriffen wird. Dies ist nicht der Fall.
31. Das Zulassungsvorbringen begründet zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Klägerin zieht weder die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur fehlenden Klagebefugnis noch zur Verwirkung ihres Widerspruchrechts mit schlüssigen Gegenargumenten in Zweifel.
4a) Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, eine Klagebefugnis der Klägerin gemäß § 42 Abs. 2 VwGO sei bereits deshalb zu verneinen, weil die Klägerin nicht Inhaberin der Bezugszulassung, sondern lediglich kraft zivilrechtlicher Vereinbarung zum Mitvertrieb des Arzneimittels berechtigt sei. Im Arzneimittelrecht ergäben sich mögliche subjektive Abwehrrechte Dritter allenfalls aus der arzneimittelrechtlichen Zulassung in Verbindung mit drittschützenden Normen des Arzneimittelgesetzes. Die zivilrechtliche Einräumung eines Mitvertriebsrechts, das der zuständigen Behörde lediglich angezeigt werde und streng akzessorisch zur Rechtsposition des Zulassungsinhabers sei, ändere nichts an der öffentlich-rechtlichen Rechtszuweisung durch die Zulassung (UA, S. 9-10). Die von der Klägerin behauptete Ermächtigung zur Klageerhebung im eigenen Namen führe ebenfalls nicht zur Klagebefugnis, weil eine solchermaßen gewillkürte Prozessstandschaft jedenfalls bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen im Verwaltungsprozess nach Wortlaut und Sinn des § 42 Abs. 2 VwGO unzulässig sei, solange nicht das Gesetz ausdrücklich eine Ausnahme vorsehe (UA, S. 10). Die Klägerin sei überdies nicht klagebefugt, weil sie sich auf keine Norm des öffentlichen Rechts berufen könne, die ihr eigene (Abwehr-)Rechte in Bezug auf die erteilte Parallelimportzulassung einräume. § 10 Abs. 8 Satz 3 AMG sowie die Voraussetzungen des Parallelimports seien objektiv-rechtlicher Natur. Aus Art. 14 Abs. 1 GG und etwaigen Rechten an der Marke „F. “ folge nichts anderes, weil die Klägerin durch die erteilte Parallelimportzulassung an der rechtlichen Befugnis zur Vermarktung ihres Produkts nicht gehindert werde und sich durch das Auftreten von Wettbewerbern in Gestalt von Parallelimporteuren lediglich ihre faktische Marktposition verändere (UA, S. 11-13). Die Klägerin könne sich auch deshalb nicht auf etwaige Rechte an der Marke „F. “ berufen, weil die Parallelimportzulassung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur im Hinblick auf öffentlich-rechtliche Normen überprüft werde. Private Schutzrechte blieben bei ihrer Erteilung außer Betracht (UA, S. 13).
5Diese Feststellungen stellt das Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Frage.
6aa) Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht habe außer Acht gelassen, dass sich die Parallelimportzulassung unmittelbar auf ihre „eigenen“ Produkte beziehe und wegen der damit erlaubten Kennzeichnung unmittelbar und zielgerichtet in das durch Art. 17 Abs. 2 GRCh und Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Markenrecht eingreife, was in Verbindung mit den Kennzeichnungsvorschriften des Arzneimittelgesetzes sowie den durch den EuGH entwickelten Regeln zum Parallelimport ihre Klagebefugnis begründe. Mit diesem Vorbringen vermag die Klägerin die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur fehlenden Klagebefugnis schon deshalb nicht in Frage zu stellen, weil sie nicht in einer den Anforderungen des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt hat, dass ihr tatsächlich eigene Rechte an der Marke „F. “ zustehen. Die Klägerin hat erstinstanzlich vorgetragen, Zulassungsinhaberin des Arzneimittels „F. “ sei ihre Schwestergesellschaft, die B. Q. F1. B. V. mit Sitz in den Niederlanden. Die Marke „F. “ sei als internationale Registrierung mit Schutzerstreckung u. a. auf Deutschland auf die U. U1. Inc., USA, eingetragen. Von dieser habe ihre britische Schwestergesellschaft, die B. Q. F1. Limited, eine Exklusivlizenz u. a. für Deutschland erworben. Sie selbst vertreibe das Arzneimittel „F. “ exklusiv in Deutschland im Einvernehmen und mit Zustimmung der Zulassungsinhaberin, der Markeninhaberin sowie der B. Q. F1. Ltd. Diese Angaben stimmen mit den Feststellungen des Bundesgerichtshofs in einem markenrechtlichen Verfahren der Klägerin gegen die Beigeladene überein, wonach die britische Schwestergesellschaft der Klägerin diese mit dem Vertrieb des Arzneimittels in Deutschland beauftragt und sie ermächtigt hat, Unterlassungsansprüche und Folgeansprüche gegen die dortige Beklagte im eigenen Namen geltend zu machen. Danach hat auch die U. U1. Inc. der Geltendmachung ihrer Markenrechte durch die Klägerin zugestimmt.
7Vgl. BGH, Urteil vom 2. Dezember 2015 – I ZR 239/14 –, juris, Rn. 2.
8Soweit die Klägerin nunmehr mit dem Zulassungsantrag behauptet, ihr sei für Deutschland eine Exklusivlizenz an der Marke „F. “ eingeräumt worden, und sie sich selbst – und nicht etwa ihre britische Schwestergesellschaft – als (dinglich berechtigte) exklusive Lizenznehmerin der Marke bezeichnet, ist diese in klarem Widerspruch zu ihren erstinstanzlichen Angaben und zu den Feststellungen des Bundesgerichtshofs stehende Behauptung durch nichts belegt. Die Klägerin hat sich offenbar selbst durch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Unzulässigkeit einer gewillkürten Prozessstandschaft im Anfechtungsprozess nicht veranlasst gesehen, Belege über die ihr angeblich zustehenden eigenen Rechte an der Marke „F. “ vorzulegen. Zu keiner anderen Bewertung führt dabei der Umstand, dass die Klägerin möglicherweise berechtigt ist, das zugunsten ihrer niederländischen Schwestergesellschaft zugelassene Arzneimittel exklusiv in Deutschland zu vertreiben, und ihre britische Schwestergesellschaft ihr gestattet, hierfür die Marke „F. “ zu nutzen. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass ihr auch eigene Rechte an der Marke „F. “ zustehen, aus denen sie ihre Klagebefugnis gegen die der Beigeladenen erteilte Parallelimportzulassung herleiten will. Denn der Inhaber eines Unternehmenskennzeichnens kann einem Dritten schuldrechtlich gestatten, diese Bezeichnung zu führen, indem er sich verpflichtet, seine Verbotsansprüche gegen den Dritten nicht durchzusetzen. Hierdurch geht aber keine kennzeichenrechtliche Rechtsposition des Gestattungsgebers an den Gestattungsempfänger über.
9Vgl. McGuire/von Zumbusch/Joachim, Verträge über Schutzrechte des geistigen Eigentums (Übertragung und Lizenzen) und dritte Parteien (Q 190), GRUR Int 2006, 682, 686.
10Die tatsächliche Inhaberschaft eigener Markenrechte wäre aber Grundvoraussetzung für die von der Klägerin favorisierte Annahme, in einer Konstellation wie der vorliegenden folge die Klagebefugnis aus einer möglichen Verletzung von Markenrechten, weil § 42 Abs. 2 VwGO die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten voraussetzt. Vor diesem Hintergrund führt auch die von der Klägerin behauptete Ermächtigung, die Markenrechte der Markeninhaberin (U. U1. Inc.) bzw. exklusiven Lizenznehmerin (B. Q. F1. Ltd.) im eigenen Namen gerichtlich geltend machen zu dürfen, nicht weiter. Insoweit hat das Verwaltungsgericht bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass die damit konstruierte gewillkürte Prozessstandschaft jedenfalls bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen aufgrund der von § 42 Abs. 2 VwGO vorausgesetzten Möglichkeit der Verletzung in eigenen Rechten grundsätzlich ausscheidet.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1995 – 3 C 27.94 –, juris, Rn. 19; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2014 – 2 S 1529/11 –, juris, Rn. 38; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. Januar 2018 – 4 LB 38/17 –, juris, Rn. 26, m. w. N.; Czybulka/Siegel, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 62 Rn. 21.
12bb) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung legt die Klägerin auch nicht dar, soweit sie vorträgt, die subjektive Rechtsverletzung und die daraus folgende Klagebefugnis ergäben sich aus den unionsrechtlichen Grundsätzen der Loyalität und Effektivität. Nach dem Effektivitätsgrundsatz („effet utile“) obliegt es den Mitgliedstaaten und auch den nationalen Gerichten, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Unionsrecht anzuwenden haben, die volle Wirkung seiner Bestimmungen zu gewährleisten.
13Vgl. EuGH, Urteil vom 17. September 2002 – C-253/00 –, Slg. 2002, I-7289 = juris, Rn. 28, m. w. N.
14Die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen subjektiven Rechte darf nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden.
15Vgl. EuGH, Urteile vom 13. März 2007 – C-432/05 (Unibet) –, Slg. 2007, I-2271 = juris, Rn. 43, vom 8. März 2011 – C-240/09 –, Slg. 2011, I‑1255 = juris, Rn. 48, und vom 16. Dezember 1976 – 33/76 (Rewe) –, juris, Rn. 5.
16Gefordert ist von den nationalen Gerichten aber nur der effektive gerichtliche Schutz der dem Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte.
17Vgl. EuGH, Urteil vom 13. März 2007 – C-432/05 (Unibet) –, Slg. 2007, I-2271 = juris, Rn. 41.
18Dies zugrunde gelegt, bleibt vollkommen unklar, zur effektiven Durchsetzung welcher der Klägerin durch das Unionsrecht vermeintlich verliehener Rechte die Annahme einer Klagebefugnis der Klägerin erforderlich sein soll. Angaben hierzu enthält das Zulassungsvorbringen nicht. Sofern sie sich auch in diesem Zusammenhang auf ihr vermeintlich zustehende Rechte an der Marke „F. “ stützen will, hat sie deren Bestehen – wie gezeigt – nicht hinreichend dargelegt. Auch der Verweis auf die „Olainfarm“-Entscheidung des EuGH,
19vgl. EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2014 – C-104/13 (Olainfarm) –, EuZW 2015, 31 = juris, Rn. 37 ff.,
20verhilft dem Zulassungsantrag in diesem Zusammenhang nicht zum Erfolg, weil diese Entscheidung Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG und die im Rahmen einer generischen Zulassung – vermeintlich zu Unrecht – erfolgte Inanspruchnahme eines Arzneimittels als Referenzpräparat betraf und schon aus diesem Grund nicht ersichtlich ist, inwiefern sich daraus eine Klagebefugnis zugunsten der Klägerin ableiten ließe, die sich auf – ihr angeblich zustehende – Markenrechte sowie einen angeblichen Verstoß gegen die nationale Kennzeichnungsvorschrift des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG beruft.
21cc) Auch soweit sich die Klägerin sinngemäß auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes bezieht, erfordert dieser aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Grundsatz nicht, vorliegend ein Klagerecht anzuerkennen. Die Vorschrift garantiert den Rechtsweg nur demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten, also in einer im Interesse des Einzelnen gewährten Rechtsposition verletzt ist. Hingegen genügt weder die Verletzung wirtschaftlicher Interessen noch die Verletzung von Rechtssätzen, in denen der Einzelne nur aus Gründen des Interesses der Allgemeinheit begünstigt wird. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes setzt also subjektive Rechte voraus und begründet sie nicht.
22Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 5. Februar 1963 – 2 BvR 21/60 –, BVerfGE 15, 275 = juris, Rn. 17, vom 27. April 1971 – 2 BvR 708/65 –, BVerfGE 31, 33 = juris, Rn. 20, vom 17. April 1991 – 1 BvR 419/81 u. a. –, BVerfGE 84, 34 = juris, Rn. 47, und vom 4. Oktober 1991 – 1 BvR 314/90 –, NJW 1992, 1878 = juris, Rn. 6; BVerwG, Urteil vom 22. Mai 1980 – 3 C 2.80 –, BVerwGE 60, 154 = juris, Rn. 52.
23Für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten verlangt das Gebot effektiven Rechtsschutzes nur, dass dem Einzelnen im Hinblick auf die Wahrung oder Durchsetzung seiner subjektiv-öffentlichen Rechte eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle zuteil wird.
24Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2002 – 6 C 8.01 –, BVerwGE 117, 93 = juris, Rn. 39.
25Dass der Klägerin entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts subjektiv-öffentliche Rechte zustehen könnten, deren wirksame Kontrolle im vorliegenden Verfahren sicherzustellen wäre, zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf. Auf etwaige Markenrechte kann sie sich – wie ausgeführt – nicht berufen. Mit den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur fehlenden drittschützenden Wirkung des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG sowie der Voraussetzungen des Parallelimports nach §§ 21, 25 AMG setzt sich der Zulassungsantrag – losgelöst von etwaigen Markenrechten – schon nicht auseinander.
26Soweit man gleichwohl zugunsten der Klägerin davon ausgeht, dass es sich bei ihren nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) erfolgten Ausführungen im Schriftsatz vom 21. April 2020 um zulässige Ergänzungen ihres bisherigen Vorbringens handelt, begründen auch diese keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Anders als die Klägerin meint, lässt sich dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, nicht entnehmen, dass § 10 Abs. 8 Satz 3 AMG Drittschutz zugunsten des Mitvertreibers eines Arzneimittels entfaltet.
27Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem genannten Urteil entschieden, dass die Feststellung des BfArM nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG über die Zulassungsfreiheit eines Defektur-Arzneimittels die Inhaberin der Zulassung für ein vergleichbares Arzneimittel in ihren Rechten verletzen kann. § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG komme insoweit drittschützende Wirkung zu. Die Erteilung einer Arzneimittelzulassung sei auch dem Schutz der Interessen des Zulassungsinhabers vor einer Umgehung des Zulassungsverfahrens durch Mitbewerber zu dienen bestimmt. Die Zulassung eines Produkts als Arzneimittel erfolge aufgrund eines kostenintensiven und aufwendigen Verfahrens; die Erlaubniserteilung sei mit fortlaufenden Überwachungspflichten verbunden. Es stelle daher einen erheblichen und spürbaren Wettbewerbsvorteil dar, wenn ein Mitbewerber ein zulassungsbedürftiges Arzneimittel vertreibe, ohne dieses Zulassungsverfahren durchlaufen zu haben. Spreche das BfArM einem anderen die Befugnis zu, ein vergleichbares Arzneimittel ohne Zulassung zu vertreiben, könne dies den Inhaber der Arzneimittelzulassung deshalb in seinen Rechten verletzen.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, Rn. 18-19.
29Es kann in der vorliegenden Fallkonstellation offen bleiben, ob – wie die Klägerin meint – die vom Bundesverwaltungsgericht zu § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG, also eine Ausnahme von der arzneimittelrechtlichen Zulassungspflicht regelnden Normen, angestellten Erwägungen überhaupt auf die Kennzeichnungspflichten betreffende Vorschrift des § 10 Abs. 8 Satz 3, Abs. 1 AMG übertragbar sind, diese Vorschrift also ebenfalls zumindest auch den Individualinteressen von Inhabern einer arzneimittelrechtlichen Zulassung zu dienen bestimmt ist. Jedenfalls ist der Entscheidung nichts dafür zu entnehmen, dass die Regelung des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG Drittschutz zugunsten eines Unternehmens entfalten könnte, das selbst nicht Zulassungsinhaber ist, sondern ein Arzneimittel lediglich aufgrund vom Zulassungsinhaber schuldrechtlich gewährter Mitvertriebsrechte vermarktet.
30Das Arzneimittelrecht ist durch das Verbot des Inverkehrbringens von Arzneimitteln geprägt, sofern nicht eine (nationale oder zentrale) Zulassung erteilt worden ist. Für den Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes folgt dies aus § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG. Abweichungen von diesem Grundsatz sieht das Arzneimittelgesetz nur in den ausdrücklich benannten Fällen und bei Vorliegen der dort festgelegten Voraussetzungen vor. Die als Verwaltungsakt ausgestaltete Zulassung eines Arzneimittels weist die damit verbundenen Rechte und Pflichten ausschließlich dem jeweiligen Zulassungsinhaber zu. Die Erteilung der Zulassung ist Ziel, das Zulassungsverfahren ist Grund der mitunter langjährigen und ressourcenintensiven Forschungs- und Entwicklungsarbeit der Arzneimittelhersteller. Es ist das kostenintensive und aufwendige Zulassungsverfahren, welches dem Antragsteller nicht nur umfangreiche Angaben u. a. zur Zusammensetzung, zu den Wirkstoffen und therapeutischen Effekten des Präparats, sondern auch die Durchführung und wissenschaftliche Aufbereitung klinischer und vorklinischer Studien abverlangt, und das die Annahme rechtfertigt, bestimmte Regelungen zu den im Rahmen des Zulassungsverfahrens vorzulegenden Unterlagen, zur Zulassungspflicht bzw. zu Ausnahmen hiervon seien auch den Interessen eines Zulassungsinhabers zu dienen bestimmt.
31Vgl. zu § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG (Voraussetzungen der Zulassungsfreiheit der Defektur-Arzneimittelherstellung) BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris; zu § 24a und § 24b AMG (Vorschriften über den Unterlagenschutz) OVG NRW, Beschluss vom 30. August 2012 – 13 B 733/12 –, juris, Rn. 15, m. w. N.; zu Art. 4 und 5 der Richtlinie 65/65/EWG (Anforderungen an die für die Arzneimittelzulassung erforderlichen Angaben und Unterlagen) EuGH, Urteil vom 12. November 1996 – C-201/94 (Smith & Nephew) –, Slg. 1996, I-5819 = juris, Rn. 39; zu Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG (Voraussetzungen für die Zulassung eines Generikums: Schutzfristen nach Art. 10 Abs. 1 UAbs. 1 und 2, Abs. 5, Referenzarzneimitteleigenschaft nach Art. 10 Abs. 2 Buchst. a, Gleichartigkeit der Wirkstoffzusammensetzung und Darreichungsform nach Art. 10 Abs. 2 Buchst. b RL 2001/83/EG) EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2014 – C-104/13 (Olainfarm) –, EuZW 2015, 31 = juris, Rn. 37 ff.
32Hat der Kläger hingegen – wie vorliegend – ein derart aufwendiges und kostenintensives Zulassungsverfahren nicht selbst durchlaufen und kommt ihm auch die aus der arzneimittelrechtlichen Zulassung folgende öffentlich-rechtliche Rechtsposition nicht zu, bleibt es bei der grundsätzlichen Erwägung, dass alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Herstellung, des Vertriebs oder der Verwendung von Arzneimitteln in erster Linie einen wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleisten müssen,
33vgl. Erwägungsgrund Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG,
34bzw. einer optimalen Arzneimittelsicherheit zu dienen bestimmt sind,
35vgl. den Entwurf der Bundesregierung über ein Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 7. Januar 1975, BT-Drucks. 7/3060, S. 1, 43,
36und wirtschaftliche Individualinteressen pharmazeutischer Unternehmer im Rahmen von Vorschriften über die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln grundsätzlich ohne Belang sind.
37Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 7. April 2016 – 13 B 28/16 –, NVwZ-RR 2016, 627 = juris, Rn. 12, vom 30. August 2012 – 13 B 733/12 –, A & R 2012, 285 = juris, Rn. 7 ff., und vom 26. September 2008 – 13 B 1169/08 –, PharmR 2008, 607 = juris, Rn. 22; s. auch Rehmann, AMG, 5. Auflage 2020, Einführung, Rn. 12; Kortland, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 2. Auflage 2016, Vor § 21 Rn. 13.
38Vor diesem Hintergrund beschränkt sich auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2019 auf die Feststellung des drittschützenden Charakters von § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG zugunsten der dortigen Klägerin als Inhaberin der Zulassung für ein vergleichbares Arzneimittel und betont, dass der Ausnahmevorschrift nur „insoweit“ drittschützende Wirkung zukomme. Zur Begründung verweist das Bundesverwaltungsgericht in Übereinstimmung mit den vorstehenden Erwägungen auf das kostenintensive und aufwendige Zulassungsverfahren, das der Zulassungsinhaber durchlaufen muss, und die spürbaren Wettbewerbsvorteile, wenn ein Mitbewerber ein zulassungsbedürftiges Arzneimittel vertreibt, ohne dieses Zulassungsverfahren durchlaufen zu haben.
39Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, Rn. 19.
40Anders als die Klägerin meint, stellt das Bundesverwaltungsgericht damit gerade nicht auf faktische wirtschaftliche Interessen als vorrangig vor „formalistische[n] arzneimittelrechtliche[n] Zuordnungen wie beispielsweise Zulassungsinhaberschaft“ ab. Im Gegenteil können sich die spürbaren Wettbewerbsvorteile, auf die das Bundesverwaltungsgericht abstellt, ausschließlich gegenüber einem Zulassungsinhaber wegen der Umgehung des Zulassungsverfahrens ergeben, sodass die Zulassungsinhaberschaft gerade notwendige Voraussetzung für die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene drittschützende Wirkung des § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AMG ist. Es spricht nach alledem nichts dafür, dass die Klägerin, die ausschließlich kraft zivilrechtlicher Vereinbarung das Arzneimittel „F. “ vertreiben darf und die durch die angefochtene Parallelimportzulassung lediglich weiterer Konkurrenz ausgesetzt wird, hinsichtlich der Klagebefugnis in der hier vorliegenden Drittanfechtungssituation dem Inhaber einer arzneimittelrechtlichen Zulassung gleichzustellen sein könnte.
41dd) Die von der Klägerin mit Schriftsatz vom 21. April 2020 erstmals erwähnte angeblich privatrechtsgestaltende Wirkung des angefochtenen Zulassungsbescheids rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin annähme, dass es sich hierbei lediglich um eine Erläuterung oder Verdeutlichung ihres fristgemäßen Zulassungsvorbringens handelte,
42vgl. zu diesem Erfordernis OVG NRW, Beschluss vom 29. September 2017 – 6 A 1660/17 –, juris, Rn. 8, unter Verweis auf OVG NRW, Beschluss vom 24. April 1998 – 24 B 236/98 –, juris,
43obwohl sie sich in ihrer Zulassungsbegründung vom 15. August 2016 lediglich zur – in rechtlicher Hinsicht von der privatrechtsgestaltenden Wirkung eines Verwaltungsakts zu unterscheidenden – Tatbestandswirkung der Parallelimportzulassung geäußert hat, legt sie auch mit ihrem Vorbringen zur privatrechtsgestaltenden Wirkung der angefochtenen Parallelimportzulassung keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung dar. Anders als die Klägerin behauptet, hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2019 nicht den Rechtssatz aufgestellt, die privatrechtsgestaltende Wirkung eines Bescheids ergebe sich allgemein aus dessen Tatbestandswirkung in Form einer materiellen Bindungswirkung gegenüber den Zivilgerichten. Das Bundesverwaltungsgericht hat – im Gegenteil – gerade offengelassen, ob der dort angefochtene Feststellungsbescheid nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG privatrechtsgestaltende Wirkung durch eine unmittelbare, wenn auch vorläufige Gestaltung des privatrechtlichen Rechtsverhältnisses zwischen der dortigen Klägerin und dem dortigen Beigeladenen entfaltet, und Zweifel insoweit geäußert, als der wettbewerbsrechtliche Unterlassungsanspruch der dortigen Klägerin nicht unmittelbar durch den Bescheid des BfArM, sondern aufgrund der Entscheidung des Bundesgerichtshofs untergegangen war.
44Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, Rn. 23 ff.
45Die von der Klägerin aufgestellte Behauptung, das Bundesverwaltungsgericht gehe von einer privatrechtsgestaltenden Wirkung eines Verwaltungsakts aus, wenn und weil dieser in einem zivilrechtlichen Rechtsstreit Tatbestandswirkung entfalte und daher dort nicht auf seine Rechtmäßigkeit überprüft werde, sodass die Tatbestandswirkung selbst die privatrechtsgestaltende Wirkung begründe, trifft schlicht nicht zu.
46Auch im Übrigen zeigt die Klägerin nicht auf, dass die Voraussetzungen für die Annahme einer privatrechtsgestaltenden Wirkung der hier streitbefangenen Parallelimportzulassung gegeben sind. Dies würde voraussetzen, dass die Parallelimportzulassung eine unmittelbare, wenn auch vorläufige, Gestaltung des privatrechtlichen Rechtsverhältnisses zwischen der Klägerin und der Beigeladenen bewirkt. Dagegen spricht aber schon der Umstand, dass Regelungsgegenstand der Parallelimportzulassung die öffentlich-rechtliche Gestattung des Inverkehrbringens eines bestimmten Arzneimittels ist und diese gemäß § 25 Abs. 10 AMG unbeschadet der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit des Importeurs erteilt wird. Dieser Regelung, die lediglich der Klarstellung dient,
47vgl. Entwurf der Bundesregierung über ein Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 7. Januar 1975, BT-Drucks. 7/3060, S. 51,
48lässt sich entnehmen, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers die arzneimittelrechtliche (Parallelimport-)Zulassung etwaige privatrechtliche Rechtsverhältnisse gerade nicht berührt.
49Es fehlt zudem an der notwendigen Unmittelbarkeit. Die von der Klägerin der Sache nach bemängelte Befreiung der Beigeladenen von der Einhaltung bestimmter Kennzeichnungsvorgaben des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG durch die Parallelimportzulassung gestaltet nicht unmittelbar Rechte und Pflichten zwischen der Klägerin und der Beigeladenen. Vielmehr hat diese Regelung des Zulassungsbescheids allenfalls mittelbare Auswirkungen auf deren zivilrechtliches Rechtsverhältnis im Hinblick auf etwaige – hier schon nicht dargelegte – markenrechtliche Ansprüche der Klägerin, soweit nach der Rechtsprechung des EuGH der markenrechtliche Erschöpfungsgrundsatz u. U. nicht erfüllt ist, wenn bestimmte Mindestangaben auf umgepackten parallelimportierten Arzneimitteln fehlen und sich die nationalen Zivilgerichte an der Prüfung dieser Voraussetzungen gehindert sehen, weil sie der Parallelimportzulassung des BfArM – trotz der aufschiebenden Wirkung einer dagegen erhobenen Drittanfechtungsklage – Tatbestandswirkung zusprechen.
50Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 –, juris, Rn. 25.
51ee) Schließlich ergeben sich ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung auch nicht aus dem Verweis der Klägerin auf eine angeblich „marktgestaltende Wirkung“ des § 10 AMG. Soweit sich die Klägerin damit auf ihr Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG) bezieht, rechtfertigt dies nicht die Annahme, der Klägerin stehe vorliegend eine Klagebefugnis zu. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass das Grundrecht auf freie Berufsausübung die Teilhabe am Wettbewerb sichert. Es gewährt aber im Grundsatz keinen Schutz vor Konkurrenz. Die Wettbewerber haben keinen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass die Wettbewerbsbedingungen für sie gleich bleiben. Insbesondere verleiht Art. 12 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht das Recht, den Marktzutritt eines weiteren Konkurrenten abzuwehren. Etwas anderes kann zwar gelten, wenn der Staat selbst die Funktionsbedingungen des Wettbewerbs festlegt. Hieraus kann einem Wettbewerber das Recht auf Einhaltung dieser Wettbewerbsbedingungen zuwachsen; jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sie (auch) dem individuellen Interesse der Teilnehmer am Wettbewerb zu dienen bestimmt sind.
52Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 3 C 41.10 –, juris, Rn. 18.
53Dies ist im Hinblick auf § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG zugunsten der Klägerin als bloßer Mitvertreiberin des hier fraglichen Arzneimittels – wie gezeigt – jedoch nicht der Fall.
54Darüber hinaus kann eine aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Klagebefugnis nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn die hoheitliche Maßnahme eine Wettbewerbsveränderung in dem betreffenden Markt herbeiführt, die die wirtschaftliche Position des klagenden Konkurrenten unzumutbar beeinträchtigt. In einer solchen Situation ließe sich eine grundrechtsrelevante Verwerfung der Konkurrenzverhältnisse nicht von vornherein ausschließen.
55Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 3 C 41.10 –, juris, Rn. 21.
56Für eine derartige unzumutbare Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Position der Klägerin ist vorliegend nichts ersichtlich. Zwar betont die Klägerin, ihr entstünden durch die der Beigeladenen erteilte Parallelimportzulassung unter teilweiser Befreiung von den Kennzeichnungspflichten des § 10 Abs. 8 Satz 3 i. V. m. Abs. 1 AMG wirtschaftliche Nachteile, die allein sie und nicht die Zulassungsinhaberin zu tragen habe. Eine unzumutbare Beeinträchtigung, die über das allgemeine marktimmanente Wettbewerbsrisiko hinausginge, hat sie damit aber nicht dargelegt.
57b) Ernstliche Zweifel legt die Klägerin auch nicht hinsichtlich der Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur Verwirkung ihres Widerspruchsrechts dar. Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, eine Verwirkung des Widerspruchrechts sei in Drittwiderspruchsfällen anzunehmen, wenn der Widerspruchsführer das Recht über einen längeren Zeitraum nicht ausgeübt habe und der Adressat des Verwaltungsaktes wegen der besonderen Umstände des Einzelfalles nach Treu und Glauben darauf vertrauen dürfe, Widerspruch werde nicht mehr erhoben. Der Klägerin seien aufgrund der Anzeige unter Beifügung von Mustern Ende 2011 alle Details des Parallelimports, namentlich die fremdsprachige Beschriftung der Spritzen in der Schalenverpackung, bekannt gewesen. Nachdem die Klägerin durch die Erhebung der Klage beim Landgericht Hamburg sogleich um markenrechtlichen Rechtsschutz nachgesucht habe, habe die Beigeladene nicht damit rechnen müssen, die Klägerin werde mehr als zwei Jahre nach Erlass der Bescheide auch noch Widerspruch erheben. Der Einwand der Klägerin, sie habe erst im markenrechtlichen Rechtsstreit von den Details der Zulassungen erfahren, verfange nicht. Als großem pharmazeutischen Unternehmen sei ihr bekannt gewesen, dass der Parallelimport eine vereinfachte Zulassung voraussetze und diese auch erteilt worden sei. Es liege nichts dafür vor, dass sie habe annehmen können, das BfArM habe bestimmte Vorgaben für die Beschriftung gemacht, von denen die Praxis der Beigeladenen abgewichen sei. Also habe sich der Schluss aufdrängen müssen, dass die fremdsprachige Beschriftung nicht den Vorgaben der Zulassungen widersprochen habe. Ein Widerspruch sei der Klägerin folglich zu einem deutlich früheren Zeitpunkt möglich gewesen (UA, S. 14-15).
58Die dagegen erhobenen Einwände der Klägerin gebieten nicht die Zulassung der Berufung.
59Der Einwand der Verwirkung ist in der Rechtsprechung seit langem als Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung für den Fall der verspäteten Geltendmachung eines Anspruchs anerkannt. Für die Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) reicht der bloße Zeitablauf indes nicht aus; hinzukommen muss vielmehr, dass der Schuldner dem Verhalten des Gläubigers, das zur verspäteten Geltendmachung des Anspruchs geführt hat, entnehmen musste, dass dieser den Anspruch nicht mehr geltend machen wollte, wenn sich also der Schuldner darauf einrichten durfte, dass er mit diesem Anspruch nicht mehr zu rechnen brauche, und sich darauf auch eingerichtet hat.
60Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. August 2018 – 3 B 24.18 –, juris, Rn. 14, unter Verweis auf RG, Urteil vom 17. Dezember 1937 – III 3/37 – RGZ 158, 100, 107 f.
61Das Bundesverfassungsgericht hat die Verwirkung auch unter Geltung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebilligt. Gegen Treu und Glauben verstößt die verspätete Geltendmachung eines Rechts danach, wenn der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt.
62Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. August 2018 – 3 B 24.18 –, juris, Rn. 15 unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1972 – 2 BvR 255/67 –, BVerfGE 32, 305, 308 f. = juris, Rn. 17 ff.
63Diese Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf das öffentliche Recht übertragen worden. Verwirkt ist ein Anspruch, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die spätere Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment). Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser seinen Anspruch nach längerer Zeit nicht mehr geltend machen würde, und wenn er sich infolge seines Vertrauens so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde.
64Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. August 2018 – 3 B 24.18 –, juris, Rn. 16.
65Maßgeblich für die Annahme einer nach Treu und Glauben „verspäteten“ Geltendmachung sind andere Gesichtspunkte als diejenigen, die für den Zeitpunkt der Entstehung, der Fälligkeit oder der Verjährung eines Anspruchs ausschlaggebend sind. Bezugspunkt der Verwirkung ist ein Verhalten des Berechtigten, das eine Vertrauensgrundlage des Verpflichteten begründet und eine spätere Geltendmachung als unzulässige Rechtsausübung erscheinen lässt. Der Berechtigte muss eine Situation geschaffen haben, auf die der Verpflichtete vertrauen und sich einstellen durfte. Zeitlicher Anknüpfungspunkt für die Verspätung ist damit der vom Berechtigten geschaffene Vertrauenstatbestand. Aus diesen unterschiedlichen Bezugspunkten folgt, dass es grundsätzlich denkbar ist, einen Anspruch bereits vor dem Zeitpunkt seiner formalen Entstehung zu verwirken. Dementsprechend ist etwa im Baunachbarrecht die Möglichkeit einer Verwirkung des Widerspruchsrechts gerade in den Fällen anerkannt, in denen die Rechtsbehelfsfrist für den Nachbarn mangels amtlicher Bekanntgabe der Baugenehmigung an ihn nicht in Lauf gesetzt wurde.
66Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. August 2018 – 3 B 24.18 –, juris, Rn. 18, mit zahlreichen weiteren Nachweisen.
67Diese Grundsätze gelten sowohl im Hinblick auf eine Verwirkung des verfahrensrechtlichen Widerspruchsrechts als auch des materiellen Abwehrrechts.
68Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. September 2018 – 4 B 34.18 –, juris, Rn. 14-15.
69Ausgehend hiervon begegnet die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe ihr verfahrensrechtliches Widerspruchsrecht verwirkt, keinen ernstlichen Zweifeln.
70Im vorliegenden Streitfall bestand für die Klägerin die Möglichkeit der Geltendmachung ihres verfahrensrechtlichen Widerspruchsrechts jedenfalls bereits Ende Dezember 2011, weil sie spätestens mit Schreiben der Beigeladenen vom 23. Dezember 2011 sowohl ausdrücklich darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass von der Beklagten ein Zulassungsbescheid (Zulassungsnummer 85060.00.00, betreffend „F. “ 7,5 mg) erteilt worden war, als auch über die darin (als Anlage) enthaltenen Vorgaben zur Beschriftung des Parallelimportprodukts, die keine deutschsprachige Kennzeichnung der Fertigspritzen selbst vorsahen. Aufgrund der vorangegangenen Mitteilungen der Beigeladenen vom 25. Oktober und 2. November 2011 hatte die Klägerin zudem Kenntnis davon, dass die Beigeladene auch den Parallelimport von „F. “ in den Wirkstärken 22,5 mg und 45 mg aufzunehmen beabsichtigte, sodass auch insoweit Zulassungsbescheide vorliegen mussten. Selbst wenn bzw. gerade weil aus Sicht der Klägerin nicht klar war, ob die Zulassungsbescheide die fremdsprachliche Kennzeichnung tatsächlich gestatteten, war es der Klägerin ab diesem Zeitpunkt jedenfalls möglich, sich Kenntnis von den Zulassungen und deren Inhalt zu verschaffen und sodann Widerspruch zu erheben. Der Einwand der Klägerin, sie habe erstmals am 1. August 2013 während des Verfahrens vor dem Landgericht Hamburg annehmen können, dass überhaupt ein Verwaltungsakt bezogen auf die Kennzeichnung der Spritzen vorlag, verfängt daher nicht. Im Übrigen kann auch keine Rede davon sein, dass sie im Anschluss an den von ihr angenommenen Zeitpunkt der Kenntniserlangung am 1. August 2013 „unverzüglich“ Widerspruch eingelegt hat. Tatsächlich hat sie (mehr als) weitere 5 Monate verstreichen lassen, bevor sie am 16. Januar 2014 Widerspruch erhob.
71Die Klägerin ist zudem, trotz der Möglichkeit der Geltendmachung ihres Widerspruchsrechts, unter Verhältnissen untätig geblieben, unter denen vernünftigerweise zu erwarten gewesen wäre, dass sie etwas zur Wahrung ihrer Rechte unternehmen würde. Dies war zum einen der Fall, weil sie selbst davon ausging, dass ihr als Mitvertreiberin der streitbefangenen Produkte erhebliche Nachteile durch die nicht erfolgende deutschsprachige Beschriftung der Fertigspritzen entstanden, weil etwaig daraus resultierende Fehler bei der Anwendung (auch) auf sie zurückfallen würden und dies daher aus ihrer Sicht vernünftigerweise unter allen Umständen und unter Nutzung sämtlicher rechtlicher Möglichkeiten zu verhindern war. Zum anderen stand bereits aufgrund des Schreibens der Beigeladenen vom 23. Dezember 2011 die Frage einer Tatbestandswirkung der Zulassungsbescheide mit der Folge des Ausschlusses zivilrechtlicher Abwehrrechte der Klägerin gegen die Importpraxis der Beigeladenen zur Diskussion, die sodann auch den Streitgegenstand des am 22. Oktober 2012 durch die Klägerin angestrengten Klageverfahrens vor dem Landgericht Hamburg maßgeblich (mit)bestimmte.
72Vgl. Landgericht Hamburg, Urteil vom 1. November 2013 – 327 O 570/12 –, juris, Rn. 7, 13, 19 ff.
73Dass die Klägerin trotz dieser eine ungesäumte Geltendmachung ihres Widerspruchsrechts gebietenden Umstände untätig blieb, lässt die erheblich – erst zwei Jahre – spätere Geltendmachung als treuwidrig erscheinen.
74Anders als die Klägerin meint, steht der Annahme der Verwirkung weder die Klageerhebung zum Landgericht Hamburg im Oktober 2012 noch die Tatsache entgegen, dass sie in diesem Verfahren stets die Nichteinhaltung der Kennzeichnungsvorgaben des § 10 Abs. 8 Satz 3 AMG gerügt hat. Dies mag das Vorliegen des für die Verwirkung eines etwaigen materiellen Abwehrrechts aus § 10 Abs. 8 Satz 3 AMG erforderlichen Umstandsmoments in Frage stellen, führt aber nicht dazu, dass die Beigeladene davon ausgehen musste, die Klägerin werde auch Widerspruch gegen die Zulassungsbescheide erheben, nachdem sie ab Inkenntnissetzung durch die Beigeladene über den Parallelimport Ende Oktober 2011 bis zur Klageerhebung zum Landgericht Hamburg bereits knapp ein Jahr, bzw. ab Erhalt des Schreibens der Beigeladenen vom 23. Dezember 2013 bereits etwa 10 Monate hatte verstreichen lassen. Die Beigeladene konnte und durfte aus diesem Verhalten der Klägerin schließen, dass sie sich für eine ausschließlich zivilrechtliche Verfolgung ihrer Rechte entschieden hatte.
75Auch der Umstand, dass die Klägerin stets die Ansicht vertrat, die Zulassungsbescheide sähen keine ausdrückliche Regelung für die Kennzeichnung der Fertigspritzen vor und seien zudem nichtig, weshalb sie keine Tatbestandswirkung entfalten könnten, gebietet keine andere Bewertung. Hierbei handelte es sich lediglich um eine von der Beigeladenen bestrittene Rechtsansicht der Klägerin. Gerade wegen dieses Bestreitens wäre zu erwarten gewesen, dass die Klägerin unverzüglich Widerspruch gegen die Zulassungsbescheide erhebt. Da sie dies nicht tat, durfte sich die Beigeladene darauf einstellen, dass ein Widerspruch gegen die Zulassungsbescheide nicht mehr erfolgen würde. Es besteht auch kein Zweifel, dass sich die Beigeladene auf den von der Klägerin geschaffenen Vertrauenstatbestand eingerichtet hat, indem sie entsprechende Dispositionen zur Durchführung des Parallelimports in der vom BfArM zugelassenen Weise traf. Durch die verspätete Durchsetzung des Widerspruchsrechts der Klägerin würde ihr insofern ein unzumutbarer Nachteil entstehen.
762. Die Berufung ist auch nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Der Begriff der besonderen Schwierigkeiten im Sinne dieser Norm ist funktionsbezogen dahin auszulegen, dass besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten dann vorliegen, wenn die – fristgerecht geltend gemachten – Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern. Solche begründeten Zweifel hat die Klägerin, wie sich aus den Ausführungen unter 1. ergibt, nicht dargelegt. Dies gilt namentlich auch, soweit die Klägerin meint, der Sachverhalt weise auch hinsichtlich der „Ermittlung, ob überhaupt entsprechende Verwaltungsakte bezogen auf die Kennzeichnung der Spritzen vorliegen,“ besondere tatsächliche Schwierigkeiten auf. Wie gezeigt, war die unverzügliche Widerspruchserhebung nach Kenntniserlangung über die Zulassung des Parallelimports Ende 2011 trotz bzw. gerade wegen der bei der Klägerin insoweit angeblich bestehenden Unsicherheit zu erwarten.
773. Die Berufung ist schließlich nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die Darlegung der Grundsatzbedeutung setzt voraus, dass eine bestimmte, obergerichtlich oder höchstgerichtlich noch nicht hinreichend geklärte und (auch) für die Berufungsentscheidung erhebliche Frage rechtlicher oder tatsächlicher Art herausgearbeitet und formuliert wird; zudem muss angegeben werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll. Darzulegen sind demnach die konkrete Frage, ihre Klärungsbedürftigkeit, Klärungsfähigkeit und allgemeine Bedeutung.
78Vgl. zu § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG etwa OVG NRW, Beschluss vom 8. Februar 2019 – 13 A 1776/18.A –, juris, Rn. 3, vom 20. Februar 2018 – 13 A 124/18.A –, juris, Rn. 3 f., und vom 14. Juli 2017 – 13 A 1519/17.A –, juris, Rn. 6 f., jeweils m. w. N.
79Diesen Anforderungen entspricht das Zulassungsvorbringen hinsichtlich der von der Klägerin als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfenen Frage,
80ob dem Markeninhaber (vorliegend dem dinglich Berechtigten, exklusiven Lizenznehmer an der Marke, der zugleich exklusiver Mitvertreiber ist) eine Klagebefugnis im Verwaltungsverfahren zuzusprechen ist, weil die Importzulassungen in Bezug auf das Produkt der Klägerin eine rechtswidrige Kennzeichnung zulassen,
81nicht. Ungeachtet des Umstands, dass die so formulierte Frage jedenfalls bei wörtlichem Verständnis auf den Einzelfall zielt, weil sie spezifisch auf „das Produkt der Klägerin“ abstellt, würde sie sich in einem Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen. Denn die Frage setzt voraus, dass der zu betrachtende Kläger Markeninhaber ist, ihm mithin eigene Rechte an der Marke zustehen. Wie gezeigt, hat die Klägerin jedoch nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt, dass sie selbst diese Voraussetzung erfüllt.
82Die von der Klägerin weiter aufgeworfene Frage, ob eine Verwirkung überhaupt in Betracht kommen kann, wenn völlig unklar ist, ob überhaupt ein Verwaltungsakt vorliegt, ist nicht klärungsbedürftig. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist – wie gezeigt – vielmehr geklärt, dass es sogar möglich ist, einen Anspruch bereits vor dem Zeitpunkt seiner formalen Entstehung zu verwirken. Dies gilt insbesondere im Baunachbarrecht, in dem die Möglichkeit einer Verwirkung des Widerspruchsrechts gerade in den Fällen anerkannt ist, in denen die Rechtsbehelfsfrist für den Nachbarn mangels amtlicher Bekanntgabe der Baugenehmigung an ihn nicht in Lauf gesetzt wurde, er mithin unter Umständen gar nicht weiß, ob eine Baugenehmigung – und mit welchem Inhalt – vorliegt.
83Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. August 2018 – 3 B 24.18 –, juris, Rn. 18.
84Darüber hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf.
85Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
86Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO nur die fristgerecht dargelegten Gründe. Diese rechtfertigen es nicht, dem Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (15 K 2189/20) gegen den Zwangsgeldfestsetzungsbescheid des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (MKW NRW) vom 25. März 2020 unter Änderung des angefochtenen Beschlusses stattzugeben.
3Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die hier streitige Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 20.000,00 Euro „wegen unbefugter Führung der Bezeichnung ‚Prof. (OUQ)‘ nach dem 10. September 2019“ sich voraussichtlich als rechtswidrig erweisen wird oder das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung aus anderen Gründen überwiegt.
4Der Einwand des Antragstellers, ihm sei nicht bewusst gewesen, dass er auf der Internetseite der M. GmbH noch immer als „Prof. (OUQ)“ geführt werde, stellt die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Zwangsgeldfestsetzung nicht in Frage.
5Dabei kann dahinstehen, ob die Behauptung des Antragstellers glaubhaft ist, der von seinem Sohn und seinem Neffen gegründeten M. GmbH im Jahr 2015 die Verwendung der Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ gestattet, aber spätestens ab 2016 keinen Kontakt mehr zu M. gehabt und den Interneteintrag vergessen zu haben. Denn der Tatbestand des Führens einer Hochschultätigkeitsbezeichnung im Sinne von § 69 Abs. 7 Satz 2 HG NRW ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - auch erfüllt, wenn der Betreiber einer Website die Bezeichnung auf Veranlassung des Betroffenen verwendet und damit den Anschein erweckt, dieser sei aktuell berechtigt, die Bezeichnung zu führen.
6Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 6. März 2017 - 14 B 1408/16 -, juris, Rn. 13 ff., und vom 17. Februar 2010 ‑ 19 A 2592/08 -.
7Diese Form der Bezeichnungsführung ist auch Gegenstand der das gesetzliche Verbot des § 69 Abs. 7 Satz 1 HG NRW konkretisierenden Untersagungsverfügung und der darauf bezogenen Zwangsgeldandrohung, die der angegriffenen Zwangsgeldfestsetzung zugrunde liegen. Das MKW NRW hatte dem Antragsteller mit Verfügung vom 1. Februar 2017 ohne inhaltliche Einschränkung untersagt, anstelle der zulässigen Bezeichnung „kezuo jiaoshou (Meeresuniversität Qingdao) (Gastprofessor)“die Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ zu führen, und mit Verfügung vom 5. August 2019 für jeden Einzelfall, in dem er nach dem 10. September 2019 die genannte Bezeichnung führt, ein Zwangsgeld in Höhe von 20.000,00 Euro angedroht. In der Verfügung vom 5. August 2019 hatte das MKW NRW ausdrücklich beanstandet, dass der Antragsteller das Recht zur Führung der Bezeichnung „Prof.“ dadurch in Anspruch nehme, dass ein Dritter mit dessen Billigung zu Werbezwecken in seinem Internetauftritt ein Zitat des Antragstellers mit dem Namenszusatz „Prof.“ verwende.
8Der Antragsteller hatte die Verwendung der abgekürzten Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ auf der Website der M. GmbH veranlasst, indem er - wie er selbst angibt - auf Bitte seines Sohnes und seines Neffen zugestimmt hatte, seinen Namen mit der Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ zu Werbezwecken als Referenz aufzuführen. Solange die M. GmbH diese Bezeichnung vereinbarungsgemäß verwendet, nimmt der Antragsteller das Recht in Anspruch, die genannte Bezeichnung zu führen, und dauert der Verstoß gegen das gesetzliche Verbot des § 69 Abs. 7 Satz 1 HG NRW und die Untersagungsverfügung vom 1. Februar 2017 an. Wenn der Antragsteller der M. GmbH ohne zeitliche Befristung gestattet, ihn zu Werbezwecken mit der Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ als Referenz aufzuführen, ist er mit anderen Worten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Bezeichnung von den Internetseiten der M. GmbH entfernt wird. Diese Verpflichtung hat der Antragsteller nicht erfüllt. Dabei ist es unerheblich, ob er vorsätzlich gehandelt hat oder sich nicht mehr an die frühere Vereinbarung erinnert hat.
9Die Zwangsgeldfestsetzung erfüllt vorliegend auch unabhängig davon, ob dem Antragsteller die weitere Verwendung der Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ bewusst war, eine Beugefunktion. Sie soll auf den Antragsteller einwirken, die sich aus der Untersagungsverfügung vom 1. Februar 2017 ergebenden Verpflichtungen in Zukunft zu erfüllen. Die Zwangsgeldfestsetzung setzt als Beugemittel keinen vorsätzlichen oder schuldhaften Verstoß gegen das zugrundeliegende Handlungs- oder Unterlassungsgebot voraus.
10Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Dezember 2004 - 1 C 30.03 -, BVerwGE 122, 293, juris, Rn. 16, und vom 21. Januar 2003 - 1 C 5.02 -, BVerwGE 117, 332, juris, Rn. 18 f. (jeweils zu § 74 Abs. 2 und 3 AuslG); OVG NRW, Beschlüsse vom 24. Mai 2017 - 4 B 346/17 -, juris, Rn. 5, und vom 14. März 2013 - 2 B 219/13 -, juris, Rn. 20 f.
11Die Zwangsgeldfestsetzung ist auch nicht unverhältnismäßig. Dies kann der Fall sein, wenn der Betroffene zuvor alles ihm Zumutbare unternommen hat, um die untersagte Führung der Hochschultätigkeitsbezeichnung auf den betroffenen Internetseiten zu beenden.
12Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Juli 2017 - 14 B 397/17 -, juris, Rn. 9 ff.
13Dies hat der Antragsteller nach den vorliegenden Erkenntnissen jedoch nicht getan. Soweit der Antragsteller einwendet, er habe einen Internetdienstleister damit beauftragt, im Internet nach fehlerhaften Nutzungen der Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ zu suchen und diese nach Möglichkeit löschen zu lassen, kann dahinstehen, aus welchem Grund, der beauftragte Internetdienstleister die Verwendung auf der Website der M. GmbH nicht gefunden hat oder nicht hat löschen lassen. Es wäre dem Antragsteller jedenfalls zumutbar gewesen, sich unabhängig davon anhand seiner eigenen Unterlagen und Erinnerungen zu vergewissern, welchen Dritten er die Verwendung seines Namens mit der Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ - im Rahmen einer Geschäftsbeziehung oder aus Gefälligkeit - gestattet hatte. Der Antragsteller hat zudem bis heute nicht alles ihm Zumutbare unternommen, um seine Verpflichtung zu erfüllen und die Verwendung der Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ auf der gesamten Website der M. GmbH zu beenden. Der Antragsteller macht geltend, er habe sofort nach Erhalt des Zwangsgeldfestsetzungsbescheides Kontakt zur M. GmbH bzw. seinem Neffen aufgenommen und unverzüglich für die Entfernung der Bezeichnung auf der Seite www.M. .de gesorgt. Auf der aktuellen Website der M. GmbH wird der Antragsteller jedoch weiterhin unter Verwendung der Bezeichnung „Prof. (OUQ)“ als wissenschaftliche Referenz angeführt, so auf der Seite https://corporatehealth.M. .de/ (Link „Betriebliche Gesundheit“ auf der Hauptseite www.M .de) und auf der Seite https://blog.M. .com/de/artikel/unvertraeglichkeiten/gesund-ist-nicht-fuer-jeden-gleich-gesund/ (Link „Blog“ auf der Hauptseite www.M. .de).
14Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
15Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Der festgesetzte Betrag entspricht einem Viertel des festgesetzten Zwangsgeldes (vgl. Nrn. 1.5 Satz 1, 1.71 Satz 2 des Streitwertkataloges 2013). Der Senat folgt insoweit der Streitwertpraxis des 4. Senats des beschließenden Gerichts.
16OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Dezember 2019 ‑ 19 B 5/19 ‑, juris, Rn. 24 f., und vom 8. Oktober 2018 ‑ 4 B 1181/18 ‑, NWVBl. 2019, 42, juris, Rn. 10 ff.
17Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Berufungszulassung durch den Vorsitzenden als Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).
3Der Berufungszulassungsantrag ist unbegründet. Nach § 78 Abs. 3, Abs. 4 Satz 4 AsylG ist die Berufung nur zuzulassen, wenn einer der in Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 aufgezählten Zulassungsgründe dargelegt ist und vorliegt. Der Kläger stützt seinen Antrag ausschließlich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung kommt der vorliegenden Rechtssache jedoch nicht zu. Als grundsätzlich klärungsbedürftig rügt der Kläger die Fragen:
451. „Stellen die Verpflichtung zum eritreischen Nationaldienst und der Umgang des Staates Eritreas mit Rückkehrern, die sich aus Sicht des eritreischen Staates der Verpflichtung zum Wehrdienst entzogen haben, eine Verfolgung aufgrund der politischen Überzeugung dar, für die grundsätzlich für den Fall, dass sie sich im wehrpflichtigen Alter befinden, ein Schutz nach § 3 Absatz 1 Nr. 1 AsylG zuzuerkennen ist?“
62. „Sind die bekannten Informationen zum Nationaldienst in Eritrea dahingehend auszulegen, dass weiterhin mit Verfolgungshandlungen aufgrund der Entziehung vom Wehrdienst gerechnet werden muss?“
7Keine dieser beiden Fragen rechtfertigt im vorliegenden Fall eine Berufungszulassung. Die erstgenannte Grundsatzfrage ist nicht mehr klärungsbedürftig, weil sie in der Rechtsprechung des beschließenden Senats inzwischen in verneinendem Sinn geklärt ist. Nationaldienstpflichtigen eritreischen Staatsangehörigen drohen danach Verfolgungsmaßnahmen wegen einer Entziehung oder Desertion nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine ihnen zugeschriebene politische Überzeugung. Das gilt auch für eine im Fall der Rückkehr drohende Bestrafung.
8OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2020 ‑ 19 A 1857/19.A ‑, juris, Rn. 36 ff.
9Die zweitgenannte Grundsatzfrage nach weiterhin drohenden Verfolgungshandlungen aufgrund der Entziehung vom Wehrdienst ist unter diesen Umständen nicht entscheidungserheblich. Der Senat kann vielmehr als gegeben unterstellen, dass nach den bekannten Informationen zum Nationaldienst in Eritrea weiterhin mit Verfolgungshandlungen im Sinn des § 3a AsylG aufgrund der Entziehung vom Wehrdienst zu rechnen ist, weil diesen Verfolgungshandlungen danach jedenfalls die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung mit den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen fehlt.
10In Bezug auf die erstgenannte Grundsatzfrage ist die Berufung auch nicht wegen nachträglicher Abweichung von der zitierten Senatsrechtsprechung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zuzulassen. Wegen nachträglicher Abweichung ist die Berufung nach dieser Vorschrift unabhängig davon zuzulassen, ob der Rechtsmittelführer diesen Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt hat, wenn der zunächst vorliegende Zulassungsgrund grundsätzlicher Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nachträglich dadurch entfällt, dass ein übergeordnetes Gericht die als grundsätzlich klärungsbedürftig dargelegte Grundsatzfrage in einem anderen Verfahren klärt, und die angefochtene Entscheidung von dieser höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung objektiv abweicht.
11OVG NRW, Beschluss vom 10. Juni 2020 ‑ 19 A 4332/19.A ‑, juris, Rn. 2 f. m. w. N.
12Hier liegt keine solche Abweichung vor. Denn auch das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung unter Bezugnahme insbesondere auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 27. Oktober 2016 ‑ RN 2 K 16.31289 ‑, juris, Rn. 30 ff., die Tatsachenfeststellung zugrunde gelegt, dass der Staat Eritrea die illegale Ausreise, um sich dem Nationalen Dienst zu entziehen, nicht allgemein als Regimegegnerschaft sieht und der Bestrafung damit kein politischer Sanktionscharakter zukommt. (S. 13 ff. des Urteils).
13Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
14Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 6. Kammer - vom 23. Januar 2019 geändert und die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger, der Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs ist, begehrt für das Jahr 2015 die Zuweisung von Zahlungsansprüchen und die Bewilligung von Basisprämie, Umverteilungsprämie und Greeningprämie.
2
Er beantragte mit am 11. Juni 2013 bei der Beklagten eingegangenen Sammelantrag „Agrarförderung und Agrarumweltmaßnahmen 2013“ die Gewährung einer Betriebsprämie für insgesamt 7,15 ha große, vorwiegend als Weiden bzw. Mähweiden genutzte Flächen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 13. Februar 2014 und der Begründung ab, dass der Antrag verspätet gestellt worden sei. Der Antrag sei nach Art. 56 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 i.V.m. § 7 Abs. 1 InVeKoS-Verordnung bis zum 15. Mai des Jahres, für das die Zahlungen beantragt werden, einzureichen. Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 4 VO (EG) Nr. 1122/2009 sei ein Antrag auf Gewährung der Betriebsprämie als unzulässig anzusehen, wenn die Verspätung mehr als 25 Kalendertage betrage. Dies sei hier der Fall, weil der Antrag erst am 11. Juni und damit am 27. Kalendertag nach dem 15. Mai eingegangen sei. Das Fristversäumnis sei nach den vom Kläger als Ursachen genannten Problemen mit der Jagdgenossenschaft und weiteren persönlichen Problemen auch nicht auf höhere Gewalt oder außergewöhnliche Umstände zurückzuführen. Hiergegen hat der Kläger keine Klage erhoben
3
Mit am 11. Mai 2015 fristgerecht eingegangenen Sammelantrag „Agrarförderung und Agrarumweltmaßnahmen 2015“ beantragte der Kläger die Zuweisung von Zahlungsansprüchen für landwirtschaftlich genutzte Flächen in einer Größe von 7,135 ha, die Auszahlung der Basisprämie durch Aktivierung der zuzuteilenden Zahlungsansprüche sowie mit Änderungsantrag vom 20. Mai 2015 ferner die Gewährung der Greeningprämie und der Umverteilungsprämie. Der Kläger gab dabei an, im Jahr 2013 Betriebsprämienzahlungen erhalten oder nur aufgrund einer Sektion nicht erhalten zu haben.
4
Die Beklagte lehnte diesen Antrag nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 17. März 2016 und mit der Begründung ab, für die Erstzuweisung von Zahlungsansprüchen im Antragsjahr 2015 gelte unter anderem die Voraussetzung, dass der Antragsteller im Antragsjahr 2013 einen Antrag auf Direktzahlungen gestellt habe und Direktzahlungen gewährt worden seien. Der Antrag des Klägers vom 11. Juni 2013 sei jedoch wegen Verfristung und der sich daraus ergebenden Folge, dass er als unzulässig und nicht gestellt anzusehen sei, abgelehnt und es seien 2013 auch keine Betriebsprämienzahlungen an den Kläger geleistet worden. Damit erfülle der Kläger nicht die Voraussetzungen für die Zuweisung von Zahlungsansprüchen nach Art. 24 Absatz 1 b) VO (EU) Nr. 1307/2013, wonach der Betriebsinhaber vor jedweder Kürzung infolge eines Beihilfeantrags auf Direktzahlungen im Jahr 2013 gemäß der VO (EG) 73/2009 zum Empfang von Zahlungen berechtigt gewesen sein muss. Mangels zugewiesener Zahlungsansprüche habe der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung der beantragten Direktzahlungen Basisprämie, Greeningprämie und Umverteilungsprämie im Antragsjahr 2015. Denn ohne Zahlungsansprüche habe der Kläger nach Art. 21 Abs. 1 a) VO (EU) Nr. 1307/2013 keinen Anspruch auf die Basisprämie. Ohne ein Anrecht auf eine Zahlung im Rahmen der Basisprämienregelung habe er gemäß Art. 43 Abs. 1 und 9 VO (EU) Nr. 1307/2013 keinen Anspruch auf die Greeningprämie und nach Art. 41 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1307/2013 keinen Anspruch auf die Umverteilungsprämie, die nach Art. 41 Abs. 3 VO (EU) Nr. 1307/2013 i.V.m. § 21 Abs. 2 Nr. 1 DirektZahlDurchfG je aktivierten Zahlungsanspruch gewährt werde. Im Falle des Klägers seien jedoch schon keine Zahlungsansprüche zugewiesen worden.
5
Der Kläger hat am 18. April 2016 Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, dass er alle Voraussetzungen für die Zuweisung von Zahlungsansprüchen erfülle. Er sei bis 2014 Inhaber von Zahlungsansprüchen gewesen und habe 2014 Direktzahlungen erhalten. Dass er seinen Antrag 2013 verspätet gestellt habe, führe nur für 2013 zum Ausschluss von Direktzahlungen und Beihilfen. Seinen Antrag 2015 habe er fristgerecht gestellt.
6
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
7
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 17. März 2016 zu verpflichten, ihm die beantragten Zahlungsansprüche zuzuweisen und ihm die Basisprämie, die Umverteilungsprämie und die Greeningprämie wie beantragt zu bewilligen.
8
Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10
Sie macht geltend, bei einem verspäteten Antrag werde der Anspruch des Antragstellers um 1% je Arbeitstag der Verspätung gekürzt. Betrage die Verspätung mehr als 25 Kalendertage, sei der Antrag als unzulässig anzusehen. Deshalb habe der Antragsteller gar keine Berechtigung für Betriebsprämienzahlungen 2013 erlangt. Es sei auch keine Sanktion, wenn in diesem Fall keine Direktzahlungen geleistet worden seien.
11
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. März 2016 „verpflichtet festzustellen, dass ab 2015 dem Kläger 7,135 Zahlungsansprüche zustehen und dem Kläger für 2015 Basisprämie von 1.371,28 Euro, Umverteilungsprämie von 354,18 Euro und Greeningprämie von 623,17 Euro zu bewilligen“. Zur Begründung hat es im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Der Kläger habe einen Anspruch auf Zuweisung von Zahlungsansprüchen nach Art. 24 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1307/2013. Er habe für das Jahr 2013 einen Beihilfeantrag gestellt und sei daher zum Empfang von Zahlungen berechtigt gewesen. Für eine Berechtigung zum Empfang von Zahlungen infolge eines Beihilfeantrags auf Direktzahlungen im Jahr 2013 habe es nach der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 genügt, dass für das Jahr 2013 Zahlungsansprüche bestanden hätten. Ob der Beihilfeantrag zum Erfolg geführt habe, sei dagegen unerheblich. Art. 34 Abs. 1 VO (EU) verwende auch die Formulierung zum Bezug von Direktzahlungen berechtigte Betriebsinhaber. Dass daneben in einer Vielzahl von Sprachfassungen der Verordnung nicht auch verlangt werde, dass ein Anspruch auf Zahlung bestanden habe, spreche dafür, dass mehr Fälle erfasst werden sollten, als die, in denen ein Anspruch auf Zahlung tatsächlich bestanden habe. Dieses Verständnis sei auch deshalb geboten, weil es nur in der deutschen Sprachfassung des Art. 24 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1307/2013 „im Jahr“, in allen anderen hingegen „für das Jahr“ heiße. Entsprechendes folge daraus, dass die Berechtigung in der deutschen Sprachfassung „infolge“ eines Beihilfeantrags bestanden haben müsse, in den Fassungen anderer Sprachen hingegen nur ein „Zusammenhang mit“ oder ein „Bezug zu“ einem Antrag bzw. eine Berechtigung nur „im Rahmen“ eines Antrags oder „im Hinblick auf“ einen Antrag gefordert werde. Das „infolge“ sei daher nur zeitlich zu verstehen, nicht hingegen konsekutiv oder kausal. Ob der Beihilfeantrag zum Erfolg geführt habe, sei daher unerheblich. Dass der Antrag hier verfristet gewesen sei, stehe der Zuweisung von Zahlungsansprüchen deshalb nicht entgegen. Die von der Beklagten zur Begründung ihrer Auffassung herangezogene VO (EG) Nr. 1122/2009 sei hier nicht einschlägig. Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 b) VO (EU) Nr. 1307/2013 verweise lediglich an zwei Stellen auf die VO (EG) Nr. 73/2009. Angesichts dessen bedürfe es einer eigenen Rechtfertigung, mehr Anforderungen aufzustellen als in letztgenannter Verordnung selbst geregelt seien. Eine solche finde sich in der gesetzlichen Regelung jedoch nicht.
12
Gegen dieses der Beklagten am 9. Mai 2019 zugestellte Urteil, in dem das Verwaltungsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Berufung bereits zugelassen hatte, hatte sie am 28. Mai 2019 zunächst einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, den sie nach Hinweis in der Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 8. Juli 2019 mit Schriftsatz vom 12. Juli 2019 zurücknahm. In diesem an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht adressierten Schriftsatz legte die Beklagte ferner die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade ein. Nach einem weiteren gerichtlichen Hinweis in der Eingangsverfügung vom 17. Juli 2019 legte die Beklagte schließlich mit Schriftsatz vom 19. Juli 2019 die Berufung beim Verwaltungsgericht Stade ein. Einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO hatte die Beklagte bereits in ihrem Schriftsatz vom 12. Juli 2019 gestellt. Der Senat hat der Beklagten mit Beschluss vom 24. Juli 2019 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Berufungseinlegungsfrist des § 124 a Abs. 2 Satz 1 VwGO gewährt, da bei rechtzeitiger Weiterleitung ihres fehlerhaften Antrags auf Zulassung der Berufung genügend Zeit bestanden hätte, sie im Rahmen der prozessualen Fürsorgepflicht auf ihren Fehler aufmerksam zu machen.
13
Zur Begründung der Berufung hat die Beklagte vorgetragen, dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts die Vorschrift des Art. 23 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 1122/2009 bei der Prüfung, ob der Antrag 2013 zum Empfang einer Zahlung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 b) VO (EG) Nr. 1307/2013 berechtige, zu berücksichtigen sei, da anderenfalls der Verordnungsgeber auch diese Vorschrift ebenso wie die Vorschriften zu den Flächensanktionen und Cross-Compliance-Kürzungen als unschädlich benannt hätte. Das Verwaltungsgericht habe ferner die Bestimmung des Art. 34 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 73/2009 nicht beachtet, aus der sich ergebe, dass die Aktivierung von Zahlungsansprüchen einem Auszahlungsanspruch gleichzusetzen sei, wenn es dort heiße, dass bei aktivierten Zahlungsansprüchen Anspruch auf die Zahlung der darin festgesetzten Beträge bestehe. Für eine solche Aktivierung sei aber unter anderem die fristgerechte Antragstellung Voraussetzung, die hier nicht vorliege. Träfe die Auffassung des Verwaltungsgerichts zu, hätte die Kommission einfach regeln können, dass alle Personen in 2015 für die Zuweisung von Zahlungsansprüchen berechtigt seien, die in 2013 Zahlungsansprüche besessen und einen Antrag mit mindestens einer beihilfefähigen Fläche in 2013 gestellt hätten. Der komplizierten Regelung in Art. 24 Abs. 1 b) VO (EG) Nr. 1307/2013 hätte es dann nicht bedurft.
14
Die Beklagte beantragt,
15
das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.
16
Der Kläger beantragt,
17
die Berufung zurückzuweisen.
18
Er hat in der mündlichen Verhandlung das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts verteidigt.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
20
Die nach der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Berufungseinlegungsfrist des § 124 a Abs. 2 Satz 1 VwGO durch den Senatsbeschluss vom 24. Juli 2019 zulässige Berufung hat Erfolg.
21
Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 17. März 2016 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger 7,135 Zahlungsansprüche für das Antragsjahr 2015 zuzuweisen und ihm auf dieser Grundlage eine Basis-, eine Umverteilungs- und eine Greeningprämie zu bewilligen.
22
Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine (Erst-)Zuweisung von Zahlungsansprüchen für das Jahr 2015 nach der Basisprämienregelung der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 637/2008 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates in der für das Antragsjahr maßgeblichen Fassung der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 2015/851 vom 27. März 2015 und demzufolge auch keinen Anspruch auf die Gewährung von Basis-, Umverteilungs- und Greeningprämie für das Antragsjahr 2015.
23
Im Zuge der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) lief gemäß Art. 21 Abs. 2 VO (EU) Nr. 1307/2013 die Gültigkeit der vor dem Jahr 2015 erworbenen Zahlungsansprüche am 31. Dezember 2014 ab. Neue Zahlungsansprüche konnten Betriebsinhaber unter anderem durch Erstzuweisung nach Maßgabe des Art. 24 VO (EU) Nr. 1307/2013 erhalten. Hier folgt ein Anspruch auf die Zuweisung von Zahlungsansprüchen für das Jahr 2015 entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht aus Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 VO (EU) Nr. 1307/2013.
24
Diese Bestimmung lautet:
25
„Zahlungsansprüche werden den Betriebsinhabern zugewiesen, die gemäß Artikel 9 der vorliegenden Verordnung zum Bezug von Direktzahlungen berechtigt sind, sofern sie,a) außer im Falle höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände, bis zu dem gemäß Artikel 78 Unterabsatz 1 Buchstabe b der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 festzusetzenden Termin für die Einreichung von Anträgen im Jahr 2015 die Zuweisung von Zahlungsansprüchen im Rahmen der Basisprämienregelung beantragen, undb) vor jedweder Kürzung oder jedwedem Ausschluss nach Titel II Kapitel 4 der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 infolge eines Beihilfeantrags auf Direktzahlungen, auf eine nationale Übergangsbeihilfe oder auf ergänzende nationale Direktzahlungen im Jahr 2013 gemäß der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 zum Empfang von Zahlungen berechtigt waren.“
26
Zur Auslegung dieser Vorschrift hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 22. Juni 2020 (- 10 LA 159/19 -) ausgeführt (juris Rn. 10 bis 21):
27
„Der von Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 VO (EU) Nr. 1307/2013 in Bezug genommene Art. 9 VO (EU) Nr. 1307/2013 regelt, welchen natürlichen oder juristischen Personen oder Vereinigungen dieser Personen grundsätzlich Direktzahlungen gewährt bzw. keine Direktzahlungen gewährt werden, so etwa bestimmten nichtlandwirtschaftlichen Unternehmen. Nach Art. 19 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 („Beihilfeanträge“) muss jeder Betriebsinhaber für die Direktzahlungen jedes Jahr einen Antrag einreichen, der gegebenenfalls a) alle landwirtschaftlichen Parzellen des Betriebs und im Fall der Anwendung von Artikel 15 Absatz 3 die Anzahl und den Standort der Ölbäume auf der Parzelle, b) die für die Aktivierung gemeldeten Zahlungsansprüche sowie c) alle sonstigen Angaben, die in dieser Verordnung oder von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgesehen sind, enthalten muss. Nach Art. 33 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 73/2009 können Betriebsinhaber die - im vorliegenden Fall maßgebliche - Betriebsprämienregelung in Anspruch nehmen, wenn sie Zahlungsansprüche erhalten haben. Für die Gewährung einer Stützung im Rahmen der Betriebsprämienregelung ist (zusätzlich) die Aktivierung eines Zahlungsanspruchs je beihilfefähige Hektarfläche durch den Betriebsinhaber erforderlich (Art. 34 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) Nr. 73/2009). Bei aktivierten Zahlungsansprüchen besteht ein Anspruch auf die Zahlung der darin festgesetzten Beträge (Art. 34 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 73/2009). Der Betriebsinhaber meldet die Parzellen an, die der beihilfefähigen Hektarfläche für jeden Zahlungsanspruch entsprechen (Art. 35 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) Nr. 73/2009). Zahlungen im Rahmen von Stützungsregelungen gemäß Anhang I VO (EG) Nr. 73/2009 erfolgen gemäß Art. 29 Abs. 3 VO (EG) Nr. 73/2009 grundsätzlich erst, nachdem die von den Mitgliedstaaten vorzunehmende Prüfung der Beihilfevoraussetzungen gemäß Art. 20 VO (EG) Nr. 73/2009 abgeschlossen worden ist. Alle Zahlungsansprüche, die während eines Zeitraums von zwei Jahren nicht gemäß Art. 34 VO (EG) Nr. 73/2009 aktiviert wurden, werden gem. Art. 42 Satz 1 VO (EG) Nr. 73/2009 grundsätzlich der nationalen Reserve zugeschlagen.
28
Die Klägerin hat zwar am 6. Mai 2013 bei der Beklagten einen Sammelantrag auf Auszahlung der Betriebsprämie „unter Aktivierung der (ihr zur Verfügung stehenden) Zahlungsansprüche“ gestellt und in diesem den Schlag DENILI0520150001 mit einer Fläche von 2,13 ha aufgeführt, jedoch angegeben, dass für diesen keine Zahlungsansprüche aktiviert werden (Bl. 87 VV I).
29
Damit war sie - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - nicht „infolge eines Beihilfeantrags […] im Jahr 2013 gemäß der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 zum Empfang von Zahlungen berechtigt“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b VO (EU) Nr. 1307/2013 (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 08.11.2018 – 10 OB 266/18 –, S. 5).
30
Zunächst spricht bereits der Wortlaut „infolge eines Beihilfeantrags auf Direktzahlungen“ maßgeblich dafür, dass es nicht um eine bloße theoretische Beihilfeberechtigung aufgrund des Vorhandenseins von Zahlungsansprüchen unabhängig davon, ob ein Beihilfeantrag gestellt worden ist, sondern um eine tatsächliche Berechtigung zum Empfang von Zahlungen im Sinne eines konkreten Anspruchs aufgrund eines die Voraussetzungen erfüllenden Beihilfeantrags geht. Der Betriebsinhaber muss durch den Beihilfeantrag unter Geltendmachung des Vorliegens der Voraussetzungen von seinem Anspruch Gebrauch gemacht haben. Der Beihilfeantrag muss für die Berechtigung zum Empfang von Zahlungen damit - anders als vom Verwaltungsgericht angenommen - kausal („infolge“) sein.
31
Auch die Formulierung „zum Empfang von Zahlungen berechtigt“ spricht aufgrund der Verwendung der Wörter Empfang und Zahlung dafür, dass die Betriebsinhaber im Jahr 2013 nicht nur grundsätzlich die Direktzahlungen - hier in Form der Betriebsprämie (vgl. Art. 2 Buchst. d i.V.m. Anhang I VO (EG) Nr. 73/2009 - in Anspruch hätten nehmen können (vgl. Art. 33 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 73/2009), sondern darüber hinaus ihnen im Jahr 2013 auch eine Direktzahlung zu gewähren gewesen sein muss. Nur in diesem Fall, der gemäß Art. 34 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) Nr. 73/2009 eine Aktivierung der Zahlungsansprüche voraussetzt, hatten sie gemäß Art. 34 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 73/2009 einen Anspruch auf eben eine „Zahlung“. Allein die theoretische Möglichkeit, aufgrund des Vorhandenseins von Zahlungsansprüchen Direktzahlungen in Anspruch nehmen zu können, genügt demgegenüber nicht, um für den Empfang von Zahlungen im Sinne eines Anspruchs darauf berechtigt zu sein.
32
Ebenfalls spricht Art. 2 Buchst. e VO (EG) Nr. 73/2009, der den Begriff der „Zahlungen“ mit „gewährten oder zu gewährenden Zahlungen“ näher umschreibt, für die Auslegung der Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b VO (EU) Nr. 1307/2013 („zum Empfang von Zahlungen berechtigt“) als einen Anspruch auf Zahlung. Ein solches Verständnis folgt auch aus Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 3 Buchst. a VO (EU), der die Möglichkeit der Zuweisung von Zahlungsansprüchen für bestimmte Fälle vorsieht, in denen Betriebsinhaber keine Zahlungen für 2013 erhalten haben und jedenfalls die Voraussetzungen des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a VO (EU) Nr. 1307/2013 vorliegen, die bei einer Zuweisung nach Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 VO (EU) Nr. 1307/2013 sonst kumulativ zu den Voraussetzungen des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b VO (EU) gegeben sein müssen. Auch dies zeigt, dass grundsätzlich die Voraussetzungen des Unterabs. 1 Buchst. b, also die Berechtigung zum Empfang von Zahlungen infolge eines Beihilfeantrags im Sinne eines Anspruchs, gegeben sein müssen.
33
Das von der Beklagten in ihrer Berufungszulassungsbegründung angeführte Schreiben der Europäischen Kommission vom 23. Juli 2014 spricht ebenfalls für diese Auslegung, soweit darin zur Bedeutung von „being entitled to receive payments“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b VO (EU) 1307/2013 in der englischen Sprachfassung Folgendes erklärt wird: „Your example of a farmer who held payment entitlements in 2013 and submitted an aid application in that year declaring eligible hectares but not declaring payment entitlements for activation on those eligible hectares does not provide sufficient information in terms of impact on this actual right to be granted direct payments.“
34
Demgegenüber wäre bei der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung, dass unabhängig von einem Anspruch auf Zahlung lediglich Zahlungsansprüche vorhanden gewesen sein müssen, - wie von der Beklagten zutreffend angeführt - die Regelung des § 24 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b VO (EU) Nr. 1307/2013, dass die Berechtigung „vor jedweder Kürzung oder jedwedem Ausschluss nach Titel II Kapitel 4 VO (EG) Nr. 73/2009“ (bei Nichteinhaltung der Beihilfekriterien (Art. 21) und bei Cross-Compliance-Verstößen (Art. 23 bis 25)) bestanden haben muss, überflüssig. Denn auch bei einer solchen Kürzung bzw. einem solchen Ausschluss lägen die vom Verwaltungsgericht als ausreichend erachteten Voraussetzungen (Bestehen von Zahlungsansprüchen und Anmeldung beihilfefähiger Hektarflächen) vor. Dass der Regelung allein eine klarstellende Funktion nur für den Fall einer Kürzung oder eines Ausschlusses nach den Art. 21, 23 bis 25 VO (EG) Nr. 73/2009 zukommen sollte, ist nicht ersichtlich.
35
Der vom Verwaltungsgericht vorgenommene Vergleich verschiedener Sprachfassungen, nach dem zwischen „zum Bezug berechtigt“ und „zum Empfang berechtigt“ nicht differenziert werde, steht der vorgenommenen Auslegung nicht entgegen und führt entgegen der nicht näher dargelegten Auffassung des Verwaltungsgerichts auch nicht dazu, dass das Gleichbehandlungsgebot dafür sprechen würde, keine weitere Einschränkung des Anspruchs auf Zuweisung von Zahlungsansprüchen herzuleiten. Die Unergiebigkeit des Fassungsvergleichs gilt auch für die weiteren Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach es in manchen Sprachfassungen „für das Jahr“ und nicht „im Jahr 2013“ sowie zum Teil nur „ein Zusammenhang mit“ einem Antrag gefordert werde und deshalb das „infolge“ in der deutschen Fassung nur zeitlich zu verstehen sei.
36
Auch aus dem Umstand, dass der Verordnungsgeber in Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b VO (EU) Nr. 1307/2013 nicht die Formulierung „Anspruch auf Zahlung“ gewählt und nicht wie in Art. 32 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) Nr. 1307/2013 den Begriff „aktivierte Zahlungsansprüche“ verwendet hat, kann nichts Tragfähiges für die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Auslegung abgeleitet werden. Vielmehr spricht - wie oben bereits ausgeführt - die in Art. 34 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) Nr. 73/2009 wie auch in dem vom Verwaltungsgericht herangezogenen Art. 32 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) Nr. 1307/2013 geregelte für einen Anspruch vorausgesetzte Aktivierung der Zahlungsansprüche gegen die Auslegung des Verwaltungsgerichts.
37
Soweit das Verwaltungsgericht die Anmeldung im Sinne des Art. 35 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 mit der Aktivierung in Art. 34 VO (EG) Nr. 73/2009 gleichsetzt, hat die Klägerin allerdings vorliegend die Zahlungsansprüche für ihren Schlag gerade ausdrücklich nicht aktiviert. Worin diese Aktivierung bzw. die mit der Aktivierung gleichzusetzende Anmeldung trotz der eindeutigen Erklärung der Klägerin in ihrem Beihilfeantrag dennoch zu sehen sein sollte, geht aus den Ausführungen des Verwaltungsgerichts auch nicht hinreichend hervor.
38
Eine unterschiedliche Behandlung der Klägerin, die im Jahr 2013 keine Zahlungsansprüche aktiviert hatte und von Betriebsinhabern, die wegen eines Cross-Compliance Verstoßes von der Gewährung ausgeschlossen waren, ist - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - bereits deshalb nachvollziehbar, weil die Unschädlichkeit eines solchen Verstoßes vom Verordnungsgeber in Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b VO (EU) Nr. 1307/2013 ausdrücklich geregelt worden ist. Zudem unterscheiden sich die Konstellationen auch insoweit wesentlich voneinander, als dass die Klägerin im Jahr 2013 mangels Aktivierung ihrer Zahlungsansprüche von vornherein keinen Anspruch auf eine Zahlung hatte (vgl. dazu bereits Senatsbeschluss vom 17.03.2020 – 10 LC 324/18 –, juris Rn. 57) und auch nicht geltend gemacht hat. Daher ist im Fall der Klägerin auch eine Prüfung der Beihilfevoraussetzungen (Art. 20 VO (EG) Nr. 73/2009) vor einer Zahlung gemäß Art. 29 Abs. 3 VO (EG) Nr. 73/2009 im Jahr 2013 unterblieben. Bei der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung bestünde daher auch die Gefahr, dass die Beihilfefähigkeit der Flächen im Jahr 2013 bei der Entscheidung über die Erstzuweisung von Zahlungsansprüchen im Jahr 2015 rückblickend überprüft werden müsste, ohne dass im Jahr 2013 tatsächliche Feststellungen durch die Beklagte getroffen worden wären.“
39
Hervorzuheben ist nochmals der klare Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 b) VO (EU) Nr. 1307/2013 „infolge eines Beihilfeantrags auf Direktzahlungen … zum Empfang von Zahlungen berechtigt“. Hieraus ergibt sich, dass es entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keineswegs nur um eine bloße theoretische Beihilfeberechtigung aufgrund des Vorhandenseins von Zahlungsansprüchen unabhängig davon, ob ein fristgerechter Beihilfeantrag gestellt worden ist, sondern um eine tatsächliche Berechtigung zum Empfang von Zahlungen im Sinne eines konkreten Anspruchs aufgrund eines die Voraussetzungen erfüllenden Beihilfeantrags geht. Denn aus der Formulierung „zum Empfang von Zahlungen berechtigt“ folgt, dass die Betriebsinhaber im Jahr 2013 nicht nur grundsätzlich die Direktzahlungen in Anspruch hätten nehmen können, sondern ihnen darüber hinaus im Jahr 2013 auch eine Direktzahlung zu gewähren gewesen sein muss. Nur in diesem Fall, der gemäß Art. 34 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) Nr. 73/2009 eine Aktivierung der Zahlungsansprüche und gemäß Art. 56 Abs. 1 VO (EG) Nr. 73/2009 und § 7 Abs. 1 InVeKoS-Verordnung einen grundsätzlich bis zum 15. Mai des Jahres, für das die Zahlungen beantragt werden, einzureichenden zulässigen Beihilfeantrag voraussetzt, hatten sie gemäß Art. 34 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 73/2009 einen Anspruch auf eine Zahlung. Der Beihilfeantrag muss also für die Berechtigung zum Empfang von Zahlungen kausal („infolge“) sein. Es liegt auf der Hand, dass dies bei einem nicht fristgerechten und deshalb unzulässigen Antrag gerade nicht der Fall ist.
40
Welche Folgen ein verspäteter Beihilfeantrag hat, ist in Art. 23 Abs. 1 der für das Jahr 2013 anzuwendenden VO (EG) Nr. 1122/2009 geregelt (eine gleichlautende Regelung enthält Art. 13 Abs. 1 der ab dem 01.01.2015 gültigen Delegierten VO (EU) Nr. 640/2014). Dort heißt es in Satz 1:
41
„Außer in Fällen höherer Gewalt und außergewöhnlicher Umstände nach Artikel 75 werden die Beihilfebeträge, auf die der Betriebsinhaber im Fall rechtzeitiger Einreichung Anspruch gehabt hätte, bei Einreichung eines Beihilfeantrags nach dem festgesetzten Termin um 1 % je Arbeitstag Verspätung gekürzt.“
42
In Satz 4 ist ferner geregelt:
43
„Beträgt die Verspätung mehr als 25 Kalendertage, so ist der Antrag als unzulässig anzusehen.“
44
Da hier nach den zutreffenden Feststellungen der Beklagten in ihrem bestandskräftigen Bescheid vom 13. Februar 2014 der Antrag auf Gewährung einer Betriebsprämie für das Jahr 2013 erst am 11. Juni 2013 und damit am 27. Kalendertag nach dem maßgeblichen 15. Mai eingegangen ist, ist der Antrag unzulässig. Aufgrund dieses Antrages ist daher (überhaupt) keine Betriebsprämie auszuzahlen gewesen. Damit erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzungen des Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 b) VO (EU) Nr. 1307/2013.
45
Soweit das Verwaltungsgericht Art. 23 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1122/2009 nicht für anwendbar hält, weil Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 b) VO (EU) Nr. 1307/2013 nur auf die VO (EG) Nr. 73/2009 Bezug nehme, greift dieser Einwand schon deshalb nicht, weil Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 b) VO (EU) Nr. 1307/2013 lediglich von den Kürzungen oder Ausschlüssen nach Titel II Kapitel 4 der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 und einem Beihilfeantrag auf Direktzahlungen spricht, nicht jedoch regelt, dass die Berechtigung zum Empfang von Zahlungen infolge eines Beihilfeantrags allein an den Vorgaben dieser Verordnung zu messen sein soll, was im Übrigen auch keinen Sinn ergeben würde. Insoweit kann es dahinstehen, ob die Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 b) VO (EU) Nr. 1307/2013 „gemäß der Verordnung (EG) Nr. 73/2009“ sich auf den vorherigen Satzteil infolge eines „Beihilfeantrags auf Direktzahlungen …“, es also sinngemäß heißt, infolge eines Beihilfeantrags im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 73/2009, oder ob sich diese Formulierung auf den folgenden Satzteil „zum Empfang von Zahlungen berechtigt“ bezieht. Denn auch bei letzterer Auslegung müsste ein zulässiger Beihilfeantrag auf Direktzahlungen vorliegen. Dies ist nicht der Fall, wenn der Beihilfeantrag - wie hier - wegen der Verfristung unzulässig ist. Die Beklagte weist zurecht darauf hin, dass anderenfalls der Verordnungsgeber auch die in Art. 23 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1122/2009 geregelten Folgen eines verspäteten Beihilfeantrags ebenso wie die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 zu den Flächensanktionen und Cross-Compliance-Kürzungen als unschädlich bzw. nicht anwendbar bezeichnet hätte. Außerdem macht auch die Verordnung (EG) Nr. 73/2009 selbst in Art. 56 Abs. 1 Vorgaben hinsichtlich des Einreichungstermins des Beihilfeantrags. Die Folgen eines diese Vorgaben nicht einhaltenden Beihilfeantrags ergeben sich sodann aus Art. 23 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1122/2009.
46
Da dem Kläger im Jahr 2015 nach den vorstehenden Ausführungen keine Zahlungsansprüche nach der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 zugewiesen werden können, liegen auch die Voraussetzungen für die Gewährung der ebenfalls beantragten Basis-, Umverteilungs- und Greeningprämie nach Art. 21 Abs. 1 a) i.V.m. Art. 32, Art. 33, Art. 41 Abs. 1 und 3 und Art. 43 Abs. 1 und 9 der VO (EU) Nr. 1307/2013 i.V.m. dem Direktzahlungen-Durchführungsgesetz, die jeweils die Aktivierung von zugewiesenen Zahlungsansprüchen erfordern, nicht vor (Senatsurteil vom 17.03.2020 – 10 LC 324/18 –, juris Rn. 58).
47
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
48
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 Satz 1, 709 Satz 2, 711 ZPO.
49
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 4. Kammer - vom 22. März 2018 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Gewährung von Unionsbeihilfen für die Verringerung von Kuhmilchlieferungen an Erstkäufer für den Verringerungszeitraum vom 1. Oktober 2016 bis zum 31. Dezember 2016.
2
Der Kläger war mit einem Anteil von 95 % Gesellschafter der A. GbR. Die übrigen 5 % der Anteile wurden von seiner Ehefrau gehalten. Dieser Gesellschaft war die Betriebsnummer nach der InVeKoSV 03 454 035 0202 (vgl. § 17 der Verordnung über die Durchführung von Stützungsregelungen und des Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems vom 24. Februar 2015 (BGBl. I S. 166), zuletzt geändert durch Art. 2 der Verordnung vom 22. Februar 2019 (BGBl. I S. 170) - InVeKoSV -) und die Registriernummer nach der Viehverkehrsverordnung 03 454 035 5238 (vgl. § 15 der Viehverkehrsverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. März 2010 (BGBl. I S. 203), zuletzt geändert durch Artikel 6 der Verordnung vom 3. Mai 2016 (BGBl. I S. 1057)) zugeteilt. Die A. GbR lieferte im Zeitraum Oktober bis Dezember 2015 insgesamt 167.911,00 kg Milch an die Firma E. Milchprodukte GmbH in F..
3
Am 20. November 2015 übertrug die Mitgesellschafterin ihren Anteil an der A. GbR mit Wirkung vom 30. April 2016 auf den Kläger als einzigen verbleibenden Gesellschafter.
4
Im Juli 2016 lieferte der Kläger nach eigenen Angaben als Einzelunternehmer 20.085 kg Milch an die Firma E. Milchprodukte GmbH in F.. Die Milchgeldabrechnung wurde indes auf die A. GbR ausgestellt.
5
Am 8. September 2016 erließ die Europäische Kommission die Delegierte Verordnung (EU) 2016/1612 zur Gewährung einer Beihilfe zur Verringerung der Milcherzeugung (Amtsbl. der EU vom 9. September 2016, L 242/4 - MilchVerVO -). Diese sah die Gewährung einer Beihilfe für Antragsteller vor, die ihre Kuhmilchlieferungen an Erstkäufer im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum („Bezugszeitraum“) für einen Zeitraum von drei Monaten („Verringerungszeitraum“) verringern (Art. 1 Abs. 1 MilchVerVO). Die jeweiligen Antragsteller mussten dazu zu in der Verordnung näher genannten Stichtagen vor Beginn des Verringerungszeitraums gemäß Art. 2 Abs. 1 MilchVerVO einen Beihilfeantrag stellen. In dem Antrag musste neben anderen Angaben die Gesamtmenge der im Bezugszeitraum an Erstkäufer gelieferten Kuhmilch angegeben werden. Ferner war nachzuweisen, dass sich der Antrag auf einen Milcherzeuger bezieht, der im Juli 2016 Kuhmilch an Erstkäufer geliefert hat. Die Auszahlung der Beihilfe sollte sodann nach der Plausibilitäts- und Zulässigkeitsprüfung des Antrags gemäß Art. 3 und der Genehmigung gemäß Art. 4 Abs. 1 MilchVerVO in einem zweiten Schritt auf Grundlage eines Zahlungsantrags erfolgen (Art. 5 Abs. 1 MilchVerVO).
6
Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erließ auf der Grundlage des Marktorganisationsgesetzes (MOG) unter dem 12. September 2016 (BAnz AT 13.9.2016 V1) die Verordnung zur Durchführung der unionsrechtlichen Beihilfe für eine befristete Verringerung der Milcherzeugung (- MilchVerBeihV -). Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 dieser Verordnung musste ergänzend zu den nach der europarechtlichen MilchVerVO erforderlichen Angaben bei Antragstellung noch die auf den Betrieb des Antragstellers bezogene Betriebsnummer im Sinne der InVeKoSV angegeben werden.
7
Unter dem 15. September 2016 beantragte der Kläger unter der ihm als Einzelunternehmer zwischenzeitlich zugewiesenen Betriebsnummer nach der InVeKoSV 03 454 035 0281 und unter der Angabe der beibehaltenen Registriernummer nach der Viehverkehrsverordnung die Beihilfe zur (beabsichtigten) Verringerung der Milchlieferung nach der MilchVerVO. Er legte Milchgeldabrechnungen für Juli 2016 sowie für den Zeitraum Oktober 2015 bis Dezember 2015 bei, die allesamt auf die A. GbR ausgestellt sind.
8
Mit Bescheid vom 6. Oktober 2016 lehnte die Beklagte die beantragte Beihilfe ab. Zur Begründung führte sie aus, beihilfeberechtigt sei nur ein Antragsteller, der im Bezugszeitraum Oktober bis Dezember 2015 sowie im Juli 2016 auf seinen Namen Milch an einen Erstkäufer geliefert habe. Da er für den Referenzzeitraum Oktober 2015 bis Dezember 2015 und/oder Juli 2016 auf seinen Namen keine Kuhmilchlieferung an einen Erstkäufer durch eingereichte Belege habe nachweisen können, sei der Antrag leider abzulehnen.
9
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 1. November 2016 Klage erhoben. Die Milchlieferungen der A. GbR seien ihm zuzurechnen, weil die Gesellschaft nach dem Austritt der einzigen anderen Gesellschafterin nicht aufgelöst und liquidiert worden, sondern vielmehr vom Kläger als Einzelunternehmer fortgeführt worden sei. Er sei Rechtsnachfolger der nicht mehr existenten GbR bzw. dieselbe Person im Rechtssinne. Bei Austritt eines Gesellschafters trete die Gesamtrechtsnachfolge ein. Der Übergang auf ihn als Einzelunternehmer sei lediglich erfolgt, weil eine GbR nicht aus einem einzigen Gesellschafter bestehen könne. Für die Zwecke der Gewährung der streitgegenständlichen Beihilfe könne es nicht darauf ankommen, ob die Gesellschaft vor dem Ausscheiden der Gesellschafterin aus zwei oder drei Gesellschaftern bestanden habe. Die neue Betriebsnummer habe er auf Anraten einer Mitarbeiterin der Beklagten beantragt. Hinsichtlich der Milchlieferungen im Referenzmonat Juli 2016 habe er die Milch bereits im eigenen Namen abgeliefert. Soweit sich dies aus der Milchgeldabrechnung der E. Milchprodukte GmbH anderweitig ergebe, beruhe dies auf einem Versehen, weil die Molkerei offenbar nicht über den Wechsel der Gesellschaftsform ab dem 1. Mai 2016 informiert gewesen sei.
10
Der Kläger hat beantragt,
11
die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Beihilfe nach der Verordnung (EU) Nr. 2016/1612 i.V.m. der Milchverringerungsbeihilfenverordnung für den Reduktionszeitraum 01. Oktober 2016 bis 31. Dezember 2016 bis zu einer Milchmenge von 83.955,00 Kg zu bewilligen und den Bescheid vom 06. Oktober 2016 aufzuheben, soweit der dem entgegensteht.
12
Die Beklagte hat beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Im Bezugszeitraum Oktober 2015 bis Dezember 2015 habe die A. GbR die Milch angeliefert und nicht der Kläger. Im Juli 2016 habe wiederum der Kläger und nicht die A. GbR die Milch angeliefert. Der Kläger sei zwar beihilfefähiger Antragsteller, erfülle aber die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 VO (EU) 2016/1612 nicht. Der Kläger habe bereits seit Jahren, u.a. auch zeitlich parallel zum Bestand der A. GbR, als Einzelunternehmer gehandelt. Die Beklagte legte eine Stellungnahme der EU-Kommission vom 5. September 2016 vor, aus der sich ergibt, dass eine Person, die einen Hof nach Juli 2016 übernommen hat, nicht beihilfeberechtigt sei. Die einzige Ausnahme („sole exception“) sei der Fall einer echten Erbschaft („genuine inheritance cases“), in der eine Gesamtrechtsnachfolge eintrete.
15
Mit Urteil vom 22. März 2018 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Dem Kläger könnten die Milchlieferungen im Bezugszeitraum von Oktober bis Dezember 2015 nicht zugerechnet werden. Die Milchlieferungen seien noch unter der Betriebsnummer der zu diesem Zeitpunkt noch existenten GbR erfolgt. Umfangreiche Nachforschungen und Prüfungen einer Zurechnung zu einer anderen Betriebsnummer würden ausscheiden, da nach der amtlichen Begründung der MilchVerBeihV die Angabe der Betriebsnummer die Verwaltung und Kontrolle der teilnehmenden Betriebe erleichtern solle. Auch eine Zurechnung der von der GbR gelieferten Milchmengen komme nicht in Betracht. Im Gegensatz zu der Milchsonderbeihilfeverordnung (- MilchSonBeihV -) enthalte die MilchVerBeihV keine Regelung für den Fall der Rechtsnachfolge. Dies finde seine Begründung vor allem in der Vereinfachung und Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens. Eine analoge Anwendung von § 4 Abs. 3 MilchSonBeihV komme mangels planwidriger Regelungslücke ebenfalls nicht in Betracht. Soweit die Europäische Kommission in einer Stellungnahme vom 5. September 2016 die Berücksichtigung einer Rechtsnachfolge im Wege der Erbfolge für zulässig erachtet habe, sei auch dies auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
16
Gegen dieses Urteil, dem Kläger am 12. April 2018 zugestellt, hat er am 11. Mai 2018 Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Mit Beschluss vom 10. Oktober 2019 hat der Senat die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen.
17
Zur Begründung seiner Berufung macht der Kläger im Wesentlichen geltend, er habe einen Anspruch auf die streitgegenständliche Beihilfe. § 4 Abs. 3 MilchSonBeihV sei vorliegend analog anzuwenden. Allerdings könnten Vorschriften des nationalen Rechts für die Auslegung der MilchVerVO nicht herangezogen werden, weil die EU-Verordnung insoweit keinen Regelungsspielraum für die Mitgliedstaaten lasse. Da es in der Folge auch nicht auf den Willen des nationalen Gesetzgebers ankomme, sei auch ein Vergleich mit der MilchSonBeihV unergiebig. Die § 3 Abs. 2 MilchVerBeihV und § 8 InVeKoSV seien nicht geeignet, die Frage der Rechtsnachfolge zu klären. Aus den Erwägungsgründen der MilchVerVO ergebe sich hinsichtlich dieser Frage ebenfalls nichts. Dem Unionsgesetzgeber könne nicht unterstellt werden, dass er eine dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in schwerwiegender Weise widersprechende Regelung anordnen habe wollen. Es gebe keine rechtfertigenden Umstände dafür, die Beihilfe allein aufgrund des zufälligen Umstandes der Rechtsnachfolge zwischen Bezugszeitraum und Verringerungszeitraum zu versagen. Vielmehr habe der Unionsgesetzgeber eine Regelung zur Rechtsnachfolge in der Eile schlichtweg vergessen. Wenn er dieses Problem gesehen hätte, so hätte er eine analoge Anwendung der Vorschriften des Art. 14 VO (EU) 639/2014 angeordnet. Im Übrigen könne ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz jedenfalls dadurch vermieden werden, dass der Rechtsnachfolger mit dem ursprünglichen Antragsteller als identisch angesehen werde, da nach nationalem Recht die A. GbR mit dem Kläger identisch sei. Auf die InVeKoS-Nummer könne es nicht ankommen, weil die Angabe dieser Betriebsnummer keine der in der MilchVerVO abschließend genannten Voraussetzungen für eine Bewilligung der Beihilfe sei. Er habe den Milchviehbestand nach und nach verringert, weil die Milchviehhaltung vollständig habe aufgegeben werden sollen. Die Tiere seien sukzessive trocken gestellt worden. Dazu legt der Kläger eine Jahresübersicht der Milchlieferungen der A. GbR für das Jahr 2016 vor, aus der sich ergibt, dass von der GbR in den Monaten September bis Dezember 2016 jeweils 0 kg Milch an die E. Milchprodukte GmbH geliefert worden sind.
18
Der Kläger beantragt,
19
das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 22. März 2018 - 4 A 189/16 - abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 6. Oktober 2016 zu verpflichten, seinen Beihilfeantrag vom 15. September 2016 gemäß Art. 4 MilchVerVO zu genehmigen.
20
Die Beklagte beantragt,
21
die Berufung zurückzuweisen.
22
Der Verordnungsgeber habe sich bewusst entschieden, zugunsten eines möglichst einfachen Verwaltungsverfahrens ohne Ausnahmetatbestände, klarer Vorgaben für die Antragsteller, einer schnellen Umsetzung, Kontrollierbarkeit und eines geringen Anlastungsrisikos auf Regelungen zur Rechtsnachfolge zu verzichten. Der Unterschied zwischen der MilchVerVO und der Verordnung (EU) 2016/1613 der Kommission vom 8. September 2016 über eine außergewöhnliche Anpassungsbeihilfe für Milcherzeuger und Landwirte in anderen Tierhaltungssektoren ergebe sich aus Art. 1 der jeweiligen Unionsverordnung. Während nach der MilchVerVO unter den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen eine Unionsbeihilfe für bestimmte Antragsteller gewährt werde, überantworte Art. 1 VO (EU) 2016/1613 den Mitgliedsstaaten ein Budget, um Milcherzeugern und/oder Landwirten eine außergewöhnliche Anpassungsbeihilfe zu gewähren. Folglich habe es im Fall der VO (EU) 2016/1613 dem nationalen Gesetzgeber oblegen, die Maßnahmen konkret auszugestalten, was durch die MilchSonBeihV erfolgt sei. Im Fall der MilchVerVO fänden sich die Voraussetzungen der Bewilligung dagegen direkt im Unionsrecht. Zudem sei es im Unionsrecht üblich, Regelungen zur Rechtsnachfolge direkt im Unionsrecht zu verankern, wie etwa Art. 14 VO (EU) 639/2014 für die Direktzahlungen zeige. Bei der MilchVerVO habe die Kommission bewusst auf eine solche Regelung verzichtet, weshalb sich eine Analogie zu § 4 Abs. 3 MilchSonBeihV verbiete. Aus Erwägungsgrund Nr. 8 der MilchVerVO lasse sich herleiten, dass es für die Gewährung der Beihilfe auf den einzelnen Antragsteller ankomme. Die rechtliche Übereinstimmung des Milcherzeugers am 1. Juli 2016 und im Bezugszeitraum sei zwingend. Die Bewilligungsbehörde prüfe das antragstellende Unternehmen. Dieses identifiziere sich im gesamten Geltungsbereich der Agrarförderung mit der ihm zugeteilten InVeKoS-Nummer. Eine Neu- bzw. Umorganisation vor dem 1. Juli 2016 führe dazu, dass die Antragsvoraussetzungen definitiv nicht erfüllt seien. Außerdem sei der Antrag auf Auszahlung nicht 45 Tage nach Ablauf des Verringerungszeitraums unter Nutzung des Online-Systems HI-Tier gestellt worden. Die Frist sei am 14. Februar 2017 verstrichen, sodass eine Auszahlung der Beihilfe so nicht mehr möglich sei. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht. Das Bundesverwaltungsgericht habe zu den Direktzahlungen entschieden, dass die nationale Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei einer unionsrechtlichen Ausschlussfrist keine Anwendung finde. In tatsächlicher Hinsicht habe der Kläger nicht nachgewiesen, dass eine Verringerung der Milchproduktion überhaupt stattgefunden habe. Seit Juli 2016 seien die Milchkühe der A. GbR vom Kläger als Einzelunternehmer und unter derselben Anschrift gehalten worden. Im Verringerungszeitraum Oktober 2016 bis Dezember 2016 habe er mit ca. 25 Milchkühen Milch produziert. Nach Auffassung der Beklagten liege daher keine Verringerung der Milchlieferungen vor.
23
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
24
Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Genehmigung seines Beihilfeantrages nach Art. 4 Abs. 1 UA 3 MilchVerVO. Der Bescheid des Beklagten vom 6. Oktober 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Beihilfeantrag des Klägers ist bereits unzulässig und der Kläger erfüllt die materiellen Anspruchsvoraussetzungen nicht.
I.
25
Die Berufung ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis.
26
Zwar sind in dem streitgegenständlichen zweistufigen Beihilfeverfahren auf der zweiten Stufe die Zahlungsanträge so einzureichen, dass sie innerhalb von 45 Tagen nach Ablauf des Verringerungszeitraums bei dem Mitgliedstaat eingehen (Art. 5 Abs. 2 S. 2 MilchVerVO). Der Kläger hat einen solchen Zahlungsantrag unstreitig nicht gestellt. Doch ob es sich bei der Frist des Art. 5 Abs. 2 S. 2 MilchVerVO um eine Ausschlussfrist handelt, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließen würde (§ 1 NVwVfG i.V.m. § 32 Abs. 5 VwVfG), kann im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung dahinstehen, da jedenfalls eine Nachsichtgewährung in Betracht kommen könnte. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass sich Behörden ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen nach dem Rechtsgedanken der §§ 242, 162 BGB nicht auf das Versäumnis einer die Rechtsverfolgung hindernden oder die Anspruchsberechtigung vernichtenden Ausschlussfrist berufen dürfen, wenn sie die Wahrung der Frist durch eigenes Fehlverhalten treuwidrig verhindert haben (BVerwG, Urteil vom 18.4.1997 - 8 C 38.95 -, juris Rn. 17; Senatsurteil vom 18.1.2011 - 10 LB 70/90 -, juris Rn. 46). Da hier ein Fehlverhalten des Beklagten in Form einer rechtswidrigen Ablehnung der Genehmigung des Beihilfeantrags des Klägers bereits auf der ersten Stufe des Beihilfeverfahrens grundsätzlich in Betracht kommt, kann eine Nachsichtgewährung und damit das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
27
Ob hier in Bezug auf den Milchviehbestand der GbR bzw. des Klägers als Einzelunternehmer in tatsächlicher Hinsicht eine Verringerung der Kuhmilchlieferungen an Erstkäufer vorliegt, kann im Rahmen des hiesigen Verfahrens offenbleiben. Denn dies ist eine Frage der zweiten Stufe des Beihilfeverfahrens nach der MilchVerVO. Der Nachweis über die Verringerung muss (erst) mit dem Zahlungsantrag eingereicht werden (Art. 5 Abs. 3 MilchVerVO), der hier noch nicht gestellt worden ist.
II.
28
Die Berufung ist unbegründet.
29
Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Genehmigung seines Beihilfeantrages ist Art. 4 Abs. 1 UA 3 MilchVerVO. Danach werden Genehmigungen für alle zulässigen und plausiblen Anträge erteilt, die gemäß Art. 3 MilchVerVO an die Kommission gemeldet wurden. Art. 3 MilchVerVO bestimmt, dass die Mitgliedstaaten eine Plausibilitäts- und Zulässigkeitsprüfung vornehmen und der Kommission gemäß VO (EG) Nr. 792/2009 alle zulässigen und plausiblen Beihilfeanträge bis 16.00 Uhr (Ortszeit Brüssel) am dritten Arbeitstag nach dem in Art. 2 Abs. 2 MilchVerVO festgelegten Stichtag für die Einreichung der Anträge melden.
30
Nach Art. 1 Abs. 1 MilchVerVO wird unter den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen eine Unionsbeihilfe für beihilfefähige Antragsteller gewährt, die ihre Kuhmilchlieferungen im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum („Bezugszeitraum“) für einen Zeitraum von drei Monaten verringern („Verringerungszeitraum“). Für die Zwecke der Verordnung bezeichnet der Ausdruck „beihilfefähiger Antragsteller“ Milcherzeuger, die im Juli 2016 Kuhmilch an Erstkäufer geliefert haben (Art. 1 Abs. 2 MilchVerVO).
31
Aus Wortlaut, Zielrichtung und Systematik der MilchVerVO ergibt sich für die Gewährung der streitgegenständlichen Unionsbeihilfe die materielle Voraussetzung, dass der beihilfefähige Antragsteller dieselbe (ggf. juristische) Person ist, die im Bezugszeitraum Kuhmilch an Erstkäufer geliefert hat. So normiert Art. 1 Abs. 1 MilchVerVO, dass die Beihilfe für beihilfefähige Antragsteller gewährt wird, „die ihre“ Kuhmilchlieferungen im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum verringert haben. Erwägungsgrund 10 der MilchVerVO verdeutlicht, dass aufgrund der Zielrichtung der Verordnung, Kuhmilchlieferungen wirksam zu verringern, nur diejenigen Antragsteller für eine Beihilfe in Frage kommen, die im Juli 2016 Kuhmilch an Erstkäufer geliefert haben, da dies der aktuellste Zeitraum ist, für den Antragsteller solche Lieferungen nachweisen können. Letztlich ergibt sich auch aus der formellen Voraussetzung des Art. 2 Abs. 3 c) MilchVerVO, „dass sich der Antrag auf einen Milcherzeuger bezieht, der im Juli 2016 Kuhmilch an Erstkäufer geliefert hat“. Auch die Kommission äußert in ihrem „FAQ-Papier“ vom 5. September 2016 ausdrücklich, dass nur derjenige Antragsteller die Beihilfe beantragen kann, der im Bezugszeitraum und im Juli 2016 Milch an Erstkäufer geliefert hat.
32
1. Hier fehlt es bereits an einem zulässigen und plausiblen Antrag, der Voraussetzung für die Genehmigung nach Art. 4 Abs. 1 UA 3 MilchVerVO ist.
33
Gemäß Art. 2 Abs. 1 MilchVerVO wird die Beihilfe auf der Grundlage entsprechender Anträge gewährt. Beihilfefähige Antragsteller reichen ihre Beihilfeanträge bei dem Mitgliedstaat ein, in dem sie ansässig sind, und halten das in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende Verfahren ein (Art. 2 Abs. 2 UA 1 MilchVerVO). Nach Art. 2 Abs. 2 UA 3 MilchVerVO gelten je nach Verringerungszeitraum bestimmte Stichtage für die Einreichung der „vollständigen Anträge“ (für den streitgegenständlichen Verringerungszeitraum: 21. September 2016). Damit ein Beihilfeantrag zulässig ist, muss er gemäß Art. 2 Abs. 3 MilchVerVO Folgendes enthalten:
34
„a) die nachstehenden Angaben auf einem vom betreffenden Mitgliedstaat bereitgestellten Formular:
35
i) Name und Anschrift des beihilfefähigen Antragstellers;
36
ii) Gesamtmenge der im Bezugszeitraum an Erstkäufer gelieferten Kuhmilch;
37
iii) Gesamtmenge an Kuhmilch, die im Verringerungszeitraum voraussichtlich geliefert wird;
38
iv) geplante Verringerung der Kuhmilchlieferungen, für die die Beihilfe beantragt wird, wobei die Menge nicht mehr als 50 % der Gesamtmenge unter Ziffer ii und nicht weniger als 1 500 kg betragen darf;
39
b) Nachweise für die Gesamtmenge an Kuhmilch gemäß Buchstabe a Ziffer ii;
40
c) Nachweise, dass sich der Antrag auf einen Milcherzeuger bezieht, der im Juli 2016 Kuhmilch an Erstkäufer geliefert hat.“
41
Diesen formellen Anforderungen genügt der Beihilfeantrag des Klägers nicht. Denn seinem Antrag sind weder Nachweise dafür hinzugefügt, dass er als Einzelunternehmer im Bezugszeitraum Kuhmilch an Erstkäufer geliefert hat (Art. 2 Abs. 3 a) ii) MilchVerVO), noch dafür, dass er als Einzelunternehmer im Juli 2016 Kuhmilch an Erstkäufer geliefert hat (Art. 2 Abs. 3 c) MilchVerVO). Denn der Antrag des Klägers wurde zwar von ihm unter der Betriebsnummer seines Einzelunternehmens 03 454 035 0281 gestellt (Art. 2 Abs. 3 a) i) MilchVerVO). Gleichzeitig legte er aber Nachweise über die von der A. GbR im Bezugszeitraum an Erstkäufer gelieferte Kuhmilch vor (Art. 2 Abs. 3 b) MilchVerVO). Zudem legte er den Nachweis darüber vor, dass nicht er, sondern die A. GbR im Juli 2016 Kuhmilch an Erstkäufer geliefert hat (Art. 2 Abs. 3 c) MilchVerVO). Der Antrag ist aufgrund dieser inhaltlichen Abweichungen zwischen Antragsteller und Milcherzeuger bereits für sich genommen unzulässig.
42
Selbst wenn ein (Gesamt-)Rechtsnachfolger unter Berücksichtigung der Milchlieferungen seiner Rechtsvorgängerin die streitgegenständliche Unionsbeihilfe beantragen könnte, so ergibt sich der Umstand der Rechtsnachfolge nicht aus dem Antrag des Klägers, sodass für die Beklagte nicht erkennbar gewesen ist, dass es sich um einen Fall der Gesamtrechtsnachfolge handelt. Die vorgelegten Nachweise passen schlicht nicht zu den aus der InVeKoS-Nummer des Klägers als Einzelunternehmer abgeleiteten Antragsdaten.
43
Art. 2 Abs. 3 MilchVerVO bestimmt konkret, was für einen „zulässigen“ Antrag beizubringen ist. Etwaige Ermittlungen und Nachforderungen des Beklagten sind in der MilchVerVO nicht vorgesehen und auch nicht unter sonstigen Gesichtspunkten erforderlich. Denn angesichts des engen Zeitkorridors von knapp drei Arbeitstagen (Art. 3 MilchVerVO), der der Beklagten nach Ablauf der Antragsfrist noch verbleibt, um der Kommission nach Prüfung der Zulässigkeit und Plausibilität alle zulässigen Anträge zu melden, sowie des Umstandes, dass es sich bei dem Milchreduktionsprogramm um ein Massenantragsverfahren handelt, war die Beklagte weder verpflichtet noch in der Lage, Rücksprachen oder (interne) Datenabgleiche vorzunehmen. Eine Anhörung ist im Übrigen im hier betroffenen Bereich der Leistungsgewährung auch nicht geboten (§ 28 Abs. 1 VwVfG). Gerade weil es sich bei den Milchreduktionsprogrammen um Verfahren handelt, die eine Vielzahl von Anträgen betreffen, setzt das seit langem im Bereich der Agrarbeihilfen eingeführte elektronische System nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich voraus, dass die Beihilfeempfänger aktiv an der korrekten Durchführung der Verfahren mitwirken und dass die von ihnen beizubringenden Informationen von vornherein vollständig und richtig sind. So ist es regelmäßig Sache des Wirtschaftsteilnehmers, der sich aus freien Stücken dazu entschieden hat, eine Beihilferegelung im Bereich der Landwirtschaft in Anspruch zu nehmen, diejenigen Informationen beizubringen, die für einen ordnungsgemäßen Antrag erforderlich sind (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 13.12.2012 - C-11/12 -, juris Rn. 36 f. und Urteil vom 16.5.2002 - C-63/00 -, juris Rn. 34 ff., jeweils zu Sanktionen; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8.7.2019 - 12 A 2946/17 -, juris Rn. 25; Senatsurteil vom 18.1.2011 - 10 LB 82/09 -, juris Rn. 36).
44
Aus diesen Gründen kommt auch eine Berichtigung gemäß Art. 4 VO (EU) 809/2014 von vornherein nicht in Betracht. Denn unabhängig von der Frage, ob diese Vorschrift im vorliegenden Verfahren anwendbar ist, liegt ein für die Behörde ohne weiteres erkennbarer „offensichtlicher Irrtum“ im Sinne dieser Vorschrift hier jedenfalls nicht vor (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8.7.2019 - 12 A 2946/17 -, juris Rn. 29 ff., ebenfalls zur Milchverringerungsbeihilfe).
45
Passende Nachweise könnten auch nicht mehr nachgereicht werden, weil die hier maßgebliche Frist des Art. 2 Abs. 2 UA 3 a) MilchVerVO am 21. September 2016 verstrichen ist. Dabei handelt es sich um eine Ausschlussfrist, sodass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich dieser Frist ausscheidet. Gemäß § 1 NVwVfG i.V.m. § 32 Abs. 5 VwVfG ist eine Wiedereinsetzung ausgeschlossen, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist. Der Ausschluss der Wiedereinsetzung muss dem Gesetzeswortlaut nicht ausdrücklich zu entnehmen sein. Es genügt, wenn nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung ein verspäteter Antragsteller materiell-rechtlich endgültig seine Anspruchsberechtigung verlieren soll (BVerwG, Urteil vom 28.3.1996 - 7 C 28.95 -, juris Rn. 11 ff., und Urteil vom 18.4.1997 - 8 C 38.95 -, juris Rn. 12). Das Fachrecht muss jedoch einen hinreichenden Anhalt für die Annahme bieten, der Gesetzgeber habe dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der Frist gegenüber dem Interesse des Bürgers an deren nachträglicher Wiedereröffnung auch bei unverschuldeter Fristversäumnis schlechthin den Vorrang eingeräumt und deswegen die Wiedereinsetzung generell versagt (Michler in BeckOK VwVfG, 48. Ed. 1.7.2020, § 32 Rn. 49).
46
Ein solcher hinreichender Anhalt ist der MilchVerVO für die jeweiligen Stichtage in Art. 2 Abs. 2 UA 3 zu entnehmen. Die MilchVerVO wurde ausweislich ihrer Erwägungsgründe wegen des Verfalls der Kuhmilchpreise als kurzfristige Kriseninterventionsmaßnahme erlassen. Entsprechend formal und an kurze Fristen gebunden ist das gesamte zweistufige Verfahren zur Gewährung der Unionsbeihilfe ausgestaltet.
47
Für die Zwecke der Verordnung bezeichnet der Ausdruck „beihilfefähiger Antragsteller“ Milcherzeuger, die im Juli 2016 Kuhmilch an Erstkäufer geliefert haben (Art. 1 Abs. 2 MilchVerVO). Aus dem Erwägungsgrund 10 der Verordnung ergibt sich, dass der Zeitraum Juli 2016 gewählt worden ist, weil dies zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung der aktuellste Zeitraum gewesen ist, für den Antragsteller Kuhmilchlieferungen nachweisen konnten. Bereits hieran zeigt sich, dass die MilchVerVO auf einen schnellen Eingriff in den Markt ausgerichtet ist. Entsprechend kurz sind die Fristen des zweistufigen Verfahrens ausgestaltet. Obwohl die Verordnung erst am 8. September 2016 erlassen worden ist, ist der Stichtag für die Einreichung der vollständigen Anträge gemäß Art. 2 Abs. 2 UA 3 a) MilchVerVO für den ersten Verringerungszeitraum bereits der 21. September 2016, 12.00 Uhr (Ortszeit Brüssel), gewesen. Gemäß Art. 3 MilchVerVO nehmen die Mitgliedstaaten nach Einreichung der Anträge eine Plausibilitäts- und Zulässigkeitsprüfung vor und melden der Kommission alle zulässigen und plausiblen Beihilfeanträge bis 16.00 Uhr (Ortszeit Brüssel) am dritten Arbeitstag nach dem zuvor genannten Stichtag. Auf der Grundlage dieser Mitteilungen teilt die Kommission den Mitgliedstaaten mit, in welchem Umfang angesichts der Gesamtmenge Genehmigungen für die beantragten Mengen erteilt werden können (Art. 4 Abs. 1 MilchVerVO). Gegebenenfalls wird ein Zuteilungskoeffizient ermittelt (Art. 4 Abs. 2 MilchVerVO). Die Mitgliedstaaten informieren die Antragsteller innerhalb einer Frist von sieben Arbeitstagen nach dem jeweiligen Stichtag für die Einreichung der Anträge über die Genehmigungen (Art. 4 Abs. 1 UA 2 MilchVerVO). Die zweite Stufe des Genehmigungsverfahrens ist ebenfalls mit knappen Fristen versehen. So sind die Zahlungsanträge so einzureichen, dass sie innerhalb von 45 Tagen nach Ablauf des Verringerungszeitraums bei dem Mitgliedstaat eingehen (Art. 5 Abs. 2 S. 2 MilchVerVO). Die Systematik der MilchVerVO zeigt, dass Verzögerungen überhaupt erst im Rahmen der Auszahlung der Beihilfe (in der Regel spätestens am 90. Tag nach Ablauf des Verringerungszeitraums) und nur im Falle eines eingeleiteten Untersuchungsverfahrens berücksichtigt werden (Art. 5 Abs. 4 S. 2 MilchVerVO). Diese Fristenregelungen dienen der effektiven und beschleunigten Auskehr der in der Gesamtsumme durch Art. 1 Abs. 1 UA 2 MilchVerVO auf 150.000.000 EUR begrenzten Unionsbeihilfen in angemessener Zeit, um einen schnellen Eingriff in den Markt zu ermöglichen. Dies rechtfertigt den materiellen Ausschluss derjenigen, die die Stichtage des Art. 2 Abs. 2 UA 3 MilchVerVO (ggf. unverschuldet) versäumt haben (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8.7.2019 - 12 A 2946/17 -, juris Rn. 34 ff.).
48
Auch eine Nachsichtgewährung wegen Versäumung der Ausschlussfrist außerhalb der Wiedereinsetzungsregeln kommt vorliegend nicht in Betracht. Denn hier fehlt es schon an einem treuwidrigen Verhalten des Beklagten. Es entspricht der geltenden Rechtslage, unvollständige Beihilfeanträge abzulehnen.
49
2. Der Kläger hat auch materiell keinen Anspruch auf die Genehmigung seines Beihilfeantrages nach Art. 4 Abs. 1 UA 3 MilchVerVO.
50
Vorliegend ist der Kläger als Einzelunternehmer entgegen der von ihm vertretenen Auffassung nicht dieselbe (juristische) Person, die im Bezugszeitraum Oktober 2015 bis Dezember 2015 Kuhmilch geliefert hat. Dies war vielmehr die A. GbR.
51
Nach Ausscheiden der vorletzten Gesellschafterin mit Ablauf des 30. April 2016 ist der Kläger Gesamtrechtsnachfolger der A. GbR geworden. Scheidet aus einer zweigliedrigen Personenhandelsgesellschaft die vorletzte Gesellschafterin aus, tritt eine Gesamtrechtsnachfolge ein. Dies führt vorbehaltlich einer abweichenden Regelung der Gesellschafter, die hier ausweislich des Übertragungsvertrages vom 20. November 2015 nicht vorliegt, zur liquidationslosen Vollbeendigung der Gesellschaft. Das Gesellschaftsvermögen geht im Wege der Gesamtrechtsnachfolge kraft Gesetzes auf den verbleibenden Gesellschafter über. Es kommt zur Anwachsung des Gesellschaftsvermögens bei dem allein verbleibenden “Gesellschafter“ (vgl. § 738 BGB; BGH, Urteil vom 5.7.2018 - V ZB 10/18 -, juris Rn. 10). Die bisherige Gesamthandberechtigung wandelt sich zu Alleineigentum in der Person des verbliebenen Gesellschafters um (BGH, Urteil vom 12.7.1999 - II ZR 4/98 -, juris Rn. 7).
52
Die Milchlieferungen der GbR können dem Kläger unbeschadet der Gesamtrechtsnachfolge aber im Lichte der MilchVerVO rechtlich nicht zugerechnet werden. Weder die MilchVerVO noch die MilchVerBeihV enthalten eine Regelung zur Rechtsnachfolge.
53
a) Eine Analogie zu § 4 Abs. 3 MilchSonBeihV sieht der Senat entgegen der noch im Zulassungsbeschluss vertretenen Auffassung nicht als möglich an.
54
Im Unterschied zur MilchVerBeihV, die zur MilchVerVO ergangen ist, enthält die MilchSonBeihV, die zur VO (EU) 2016/1613 ergangen ist, in § 4 Abs. 3 eine Regelung zur Rechtsnachfolge. Danach ist bei einer Änderung der Rechtsform oder des Namens des Betriebes innerhalb des relevanten Zeitraums Art. 14 VO (EU) 639/2014 entsprechend anzuwenden. Gemäß Art. 14 Nr. 2 UA 2 VO (EU) 639/2014 hat eine Änderung des Rechtsstatus keine Auswirkungen auf die Anzahl und den Wert der zuzuweisenden Zahlungsansprüche, wenn der Betriebsinhaber, der in Bezug auf Betriebsführung, Gewinne und finanzielle Risiken die Kontrolle über den ursprünglichen Betrieb ausgeübt hat, auch den neuen Betrieb leitet.
55
Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift im Rahmen der hier streitgegenständlichen MilchVerVO scheidet indes aus. Voraussetzung für eine Analogie ist, dass die Norm eine planwidrige Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Normgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, der Normgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von denselben Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Norm, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (BGH, Urteil vom 4.8.2010 - XII ZR 118/08 -, juris Rn. 11).
56
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Denn es mangelt schon an der Planwidrigkeit. In Anbetracht der unterschiedlichen Zielrichtungen der MilchVerVO und der VO (EU) 2016/1613 und der Systematik der erstgenannten Verordnung, die durch klare Vorgaben und kurze Fristen gekennzeichnet ist, ist bei Erlass der MilchVerBeihV auf Regelungen zur Rechtsnachfolge offenbar bewusst verzichtet worden.
57
Zwar sind die MilchVerVO und die VO (EU) 2016/1613 jeweils am 8. September 2016 erlassen worden und die Erwägungsgründe der beiden Verordnungen zeigen, dass beide anlässlich des Milchpreisverfalls als Krisenintervention gedacht sind (vgl. etwa Erwägungsgrund 11 der VO (EU) 2016/1613 oder Erwägungsgrund 8 der MilchVerVO). Die Verordnungen unterscheiden sich allerdings in ihrer konkreten Zielsetzung und ihrer Ausgestaltung deutlich voneinander.
58
Die MilchVerVO zielt konkret auf die schnelle Verringerung der auf den Markt gelangenden Kuhmilchmengen. Sie enthält klare Vorgaben zu den Voraussetzungen für die Gewährung dieser Unionsbeihilfe an beihilfefähige Antragsteller. Sie definiert in Art. 1 Abs. 1 selbst, dass die Beihilfe „unter den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen“ gewährt wird. Entsprechend detaillierte Regelungen zum Antragserfordernis sowie zum Inhalt des Antrags finden sich in Art. 2 MilchVerVO und entsprechend kurze Fristen finden sich in Art. 2 Abs. 2, Art. 3, Art. 4 und Art. 5 Abs. 2 und 4 MilchVerVO.
59
Die VO (EU) 2016/1613 hat dagegen eine langfristigere und zudem breitere Zielsetzung. Zur Abmilderung der Krise sollen danach einmalige Finanzhilfen gewährt werden, mit der die Mitgliedstaaten Milcherzeuger und/oder Landwirte in anderen Tierhaltungssektoren unterstützen können, die Tätigkeiten aufnehmen, die zur Verbesserung der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit und Marktstabilität beitragen. Nach Art. 1 VO (EU) 2016/1613 wird den Mitgliedstaaten eine Beihilfe der Union in Höhe von insgesamt 350.000.000 EUR zur Verfügung gestellt, um Milcherzeugern und/oder Landwirten in den Sektoren Rindfleisch, Schweinefleisch, sowie Schaf- und Ziegenfleisch eine außergewöhnliche Anpassungsbeihilfe zu gewähren. Die Mitgliedstaaten nutzen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel für auf der Grundlage objektiver und nichtdiskriminierender Kriterien getroffene Maßnahmen, sofern die entsprechenden Zahlungen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen (Art. 1 Abs. 1 UA 2 VO (EU) 2016/1613). Die Verordnung führt lediglich allgemein die förderungswürdigen Tätigkeiten auf, die auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe der Mitgliedstaaten abzielen und zur Marktstabilität beitragen (Art. 1 Abs. 1 UA 3 VO (EU) 2016/1613). Im Übrigen bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, wie sie die Förderung im Einzelnen ausgestalten. Das Ziel der VO (EU) 2016/1613 ist mithin deutlich breiter aufgestellt. Vor allem haben die Mitgliedstaaten einen ganz erheblichen Gestaltungsspielraum, wie die ihnen gewährte Unionsbeihilfe eingesetzt werden soll. Entsprechend enthält hier die MilchSonBeihV die konkreten Antragsvoraussetzungen (§ 5 MilchSonBeihV) und daneben auch eine Regelung zur Rechtsnachfolge (§ 4 Abs. 3 MilchSonBeihV).
60
In der Gesamtschau ist also die MilchVerVO auf eine kurzfristige Maßnahme, die möglichst schnell wirksam werden soll, gerichtet, während die VO (EU) 2016/1613 auf breitere mittelfristige Maßnahmen ausgelegt ist. Der schnelle Markteingriff erfordert klare Vorgaben zu den Voraussetzungen der Beihilfegewährung, wie sie Eingang in die MilchVerVO gefunden haben.
61
Die MilchVerVO lässt ihrem Wortlaut nach auch ausdrücklich erkennen, dass die dort geregelten Voraussetzungen abschließend sind (Art. 1 Abs. 1 MilchVerVO). Auch der Umstand, dass Art. 1 Abs. 2 der Verordnung den “beihilfefähigen Antragsteller“ ausdrücklich definiert, ohne Regelungen zur Rechtsnachfolge zu treffen, zeigt, dass letztere gerade nicht gewollt sind. Aus Art. 2 Abs. 2 UA 1 Satz 1 MilchVerVO ist ferner ersichtlich, dass Gestaltungsspielraum lediglich hinsichtlich der in den Mitgliedstaaten geltenden Verfahrensregelungen besteht. Unter diese Regelung dürfte auch § 3 MilchVerBeihV fallen, der u.a. vorschreibt, dass die Betriebsnummer nach der InVeKoSV angegeben werden muss (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 MilchVerBeihV). Diese Frage kann hier jedoch offenbleiben, da es auf die Betriebsnummer vorliegend nicht ankommt. Entscheidend ist vielmehr der in tatsächlicher Hinsicht unstreitig erfolgte Rechtsformwechsel. Auch die kurzen Fristen der MilchVerVO, bei denen es sich mindestens zum Teil um materielle Ausschlussfristen handelt, zeigen, dass zugunsten des schnellen Markteingriffs sehr enge Voraussetzungen für die formelle und materielle Anspruchsberechtigung gezogen worden sind.
62
Dass Regelungen zur Rechtsnachfolge in die MilchVerBeihV nicht aufgenommen worden sind, ist mithin nicht planwidrig, sondern systematisch passend. Eine analoge Anwendung von § 4 Abs. 3 MilchSonBeihV scheidet nach alledem aus.
63
b) Der Kläger ist durch den streitgegenständlichen Bescheid auch nicht in seinen Rechten aus Art. 3 GG, Art. 51 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt. Hiernach sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich.
64
Nach dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz ist der Gesetzgeber gehalten, wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich zu behandeln. Der Gesetzgeber muss bei seiner Entscheidung abwägen, ob die Gleichheit zwischen zwei Gruppen so bedeutsam ist, dass ihre Beachtung bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise geboten erscheint. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Außerhalb des Verbots einer ungerechtfertigten Verschiedenbehandlung mehrerer Personengruppen lässt der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber weitgehende Freiheit, Lebenssachverhalte und das Verhalten einer Person je nach dem Regelungszusammenhang verschieden zu behandeln. Es ist dann grundsätzlich Sache des Betroffenen, sich auf diese Regelung einzustellen und nachteiligen Auswirkungen durch eigenes Verhalten zu begegnen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschöpft sich allerdings der Gleichheitssatz nicht in dem Verbot einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Normadressaten. Vielmehr kommt in ihm ein Willkürverbot als fundamentales Rechtsprinzip zum Ausdruck, das der Gesetzgebung gewisse äußerste Grenzen setzt. Der Gesetzgeber handelt allerdings nicht schon dann willkürlich, wenn er unter mehreren Lösungen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste gewählt hat, sondern nur dann, wenn sich ein sachgerechter Grund für eine gesetzliche Bestimmung nicht finden lässt. Diese Kriterien gelten auch und gerade für die Beurteilung gesetzlicher Differenzierungen bei der Regelung von Sachverhalten; hier endet der Spielraum des Gesetzgebers erst dort, wo die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt. Eine derartige Willkür kann einer gesetzlichen Regelung nach ständiger Rechtsprechung aber nur dann vorgeworfen werden, wenn ihre Unsachlichkeit evident ist (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1.7.2020 - 1 BvR 2838/19 -, juris Rn. 36 m.w.N., und Urteil vom 26.5.2020 - 1 BvL 5/18 -, juris Rn. 93 ff.; Senatsurteile vom 8.8.2018 - 10 KN 3/18 -, juris Rn. 41, vom 8.8.2018 - 10 KN 5/18 -, juris Rn. 111, und vom 17.6.2014 - 10 LC 81/12 -, juris Rn. 71 ff.).
65
Unter Beachtung dieser Grundsätze liegt in der unterschiedlichen Ausgestaltung der MilchVerBeihV und der MilchSonBeihV hinsichtlich der Frage der Rechtsnachfolge aus den oben zur Frage der Analogie dargelegten Gründen kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Vielmehr ist die unterschiedliche Ausgestaltung bereits durch die jeweilige EU-Verordnung bedingt.
66
Auch aus der möglicherweise unterschiedlichen Behandlung eines („echten“) Erbfalles und der Vollbeendigung einer GbR durch Ausscheiden der vorletzten Gesellschafterin ergibt sich kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz.
67
Die EU-Kommission hat hinsichtlich der Frage der Rechtsnachfolge zur MilchVerVO im Rahmen eines „FAQ-Papiers“ vom 5. September 2016 erklärt, dass ein Milcherzeuger, der den Betrieb nach Juli 2016 übernimmt, keine Beihilfe beantragen kann. Der Antragsteller müsse im Verringerungszeitraum und im Juli 2016 Milch geliefert haben. Die einzige Ausnahme („sole exception“) sei ein echter Erbfall („genuine inheritance cases“) mit Gesamtrechtsnachfolge. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Antragsmöglichkeit nicht durch Rechtskonstruktionen ausgenutzt werde, die speziell zu diesem Zweck geschaffen worden seien.
68
Selbst wenn es in Anbetracht dieser Äußerung der Kommission eine Verwaltungspraxis geben sollte, nach der bei echten Erbfällen Unionsbeihilfen gewährt werden, so liegt ein solcher echter Erbfall hier nicht vor, sodass der Kläger hieraus für sich nichts herleiten kann.
69
Es handelt sich bei einem („echten“) Erbfall und der Vollbeendigung einer GbR durch Ausscheiden der vorletzten Gesellschafterin auch nicht um wesentlich Gleiches im Sinne des allgemeinen Gleichheitssatzes. Zwar mögen die rechtlichen Folgen im nationalen Recht identisch sein. Es bestehen zwischen den beiden Sachverhalten jedoch in tatsächlicher Hinsicht offensichtliche Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen.
70
Selbst wenn durch die unterschiedliche Ausgestaltung der Regelungen zur Rechtsnachfolge oder durch die unterschiedliche Behandlung eines („echten“) Erbfalls zu der Vollbeendigung einer GbR durch Ausscheiden der vorletzten Gesellschafterin wesentlich Gleiches ungleich behandelt würde, so wäre dies auch keine willkürliche Behandlung, sondern durch den sachlichen Grund einer gesteigerten Verwaltungseffizienz gerechtfertigt. Denn die MilchVerVO ist auf einen schnellen Eingriff in den Markt gerichtet. Dieser bedingt wiederum eine ehebliche Effizienz der Verwaltung bei der Gewährung der Beihilfe, um diese so kurzfristig auszukehren, dass sie den Markt noch zeitnah beeinflussen kann. Um diese Effizienz zu erreichen, prägen Formstrenge und kurze Fristen die MilchVerVO und wurden in die MilchVerBeihV dementsprechend nur wenige ergänzende Regelungen aufgenommen.
71
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711, 709 Satz 2 ZPO.
72
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen.
2
Die Klägerin ist Eigentümerin des mit einem Wohnhaus bebauten Flurstücks xx, Flur xx der Gemarkung Hammer, das eine Größe von 804 m² hat. Das Flurstück ist nicht überplant. Es liegt an der Straße Wiepenkrog auf dem Stadtgebiet der Beklagten an. Der Wiepnekrog ist nicht förmlich gewidmet.
3
Im Jahre 2016 ließ die Beklagte in der Straße Wiepenkrog durch die Fa. C GmbH die Beleuchtungsanlage erneuern, indem sie die bis dahin bestehenden Holzmasten mit Freileitung (30 Stück, davon 16 mit Beleuchtung) durch 26 Stahlrohrmasten mit Leuchten und Erdverkabelung ersetzte. Die neue Beleuchtung nahm sie am 8. August 2016 in Betrieb.
4
Grundlage dieser Arbeiten war der zwischen der Beklagten und der Fa. C GmbH bestehende Straßenbeleuchtungsvertrag vom 24. Mai 2007. Hierin ist u. a. in § 12 („Versprochene Leistungspakete der C“) vereinbart:
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(1) C sichert entsprechend ihrem verbindlichen Angebot vom 06.02.2007 […] zu, dass sie während der Vertragslaufzeit bis zum 31.12.2026 folgende Maßnahmen durchführt:
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a. Die vorhandenen Freileitungen werden durch Erdleitungen spätestens innerhalb einer Frist von 10 Jahren ab Vertragsbeginn von C ersetzt. Dies schließt die Errichtung zum Beleuchtungserfolg notwendiger Lichtpunkte einschließlich Trägersystem mit ein. Eine dadurch notwendige Erhöhung der Leuchtanzahl führt nicht zu einer Erhöhung der Berechnungsbasis zur Ermittlung der Vergütung. C verpflichtet sich, diese Maßnahmen bis zum 31.12.2011 abzuschließen.b. […]c. […]
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(2) Die Erbringung vorgenannter Leistungspakete ist mit der Bereitstellungspauschale abgegolten. […]
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In § 13 („Vergütung“) des Vertrages heißt es weiter:
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(1) Für die im Rahmen des Betriebs; der Instandhaltung, der Änderung, der Erneuerung und in den Leistungspakten nach § 12 vereinbarten Maßnahmen mit Ausnahme der Leistungen nach § 12 Abs. 3 erbrachten Leistungen erhält C ab dem Vertragsjahr 2008 eine jährliche Bereitstellungspauschale (VGL/M/K) von zusammen 68,58 € netto pro Lichtpunkt (LP). […](2) Dies entspricht einer Jahresvergütung für das Jahr 2008 von:Jahreskosten netto 1.417.483,30 € zzgl der jeweils gültigen Umsatzsteuer […].
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Bezüglich der Einzelheiten der vertraglichen Bestimmungen wird auf den Vertragstext verwiesen.
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Für die o. g. Maßnahme erhob die Beklagte von der Klägerin mit Bescheid vom 28. März 2018 Ausbaubeiträge in Höhe von 1.128,53 €. Hierbei klassifizierte sie den Wiepenkrog als Anliegerstraße, legte einen Beitragssatz von 1,4036408 €/m² Beitragsfläche fest und multiplizierte die Fläche des klägerischen Flurstücks mit dem Faktor 1,0 (für ein Vollgeschoss). Hinsichtlich der Einzelheiten der Berechnung wird auf den Bescheid verwiesen.
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Zwischenzeitlich – am 27. April 2018, mit Wirksamkeit zum 1. Mai 2018 – erließ die Beklagte eine Aufhebungssatzung zur Aufhebung der Ausbaubeitragssatzung. Nach der Übergangsregelung in Art. 2 dieser Satzung sollten Ausbaubeiträge nur noch erhoben werden, sofern die sachliche Beitragspflicht vor dem 1. Mai 2018 entstanden war – insoweit sei die Ausbaubeitragssatzung weiterhin anzuwenden.
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Mit Schreiben ebenfalls vom 27. April 2018 erhob die Klägerin Widerspruch. Diesen begründete sie u. a. damit, dass die Ausbaubeitragssatzung mit Wirkung vom 1. Mai 2018 durch die entsprechende Aufhebungssatzung aufgehoben worden sei. Das Land habe ab 2018 durch Aufstockung des Kommunalen Investitionsfonds (im Folgenden: KIF) in Millionenhöhe pauschale Ausgleichszahlungen für den Wegfall von Ausbaubeiträgen nach Aufhebung der entsprechenden Satzungen gewährt. Die Klägerin finanziere als Steuerzahlerin die Aufstockung des Fonds mit, weshalb es unverhältnismäßig sei, die Klägerin zusätzlich – gleichsam doppelt – zu Ausbaubeiträgen heranzuziehen. Dies gelte auch im Verhältnis zu anderen Einwohnern, deren Baumaßnahmen erst nach dem 1. Mai 2018 abgerechnet würden – das Datum der Wirksamkeit der Aufhebungssatzung sei ohne sachliche Rechtfertigung gewählt worden. Vielmehr hätten alle im Jahr 2018 anfallenden Ausbaubeiträge von der Aufhebung umfasst sein müssen.
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Mit Bescheid vom 19. Juni 2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Dies begründete sie u. a. damit, dass die sachliche Beitragspflicht der Klägerin für die Maßnahme am 8. August 2016 durch Inbetriebnahme der Anlage entstanden sei.
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Die Beklagte sei gehindert gewesen, die Aufhebungssatzung auf ein Datum vor dem 26. Januar 2018 rückwirkend zu erlassen, weil die hierfür erforderliche Änderung des § 76 Abs. 2 Satz 2 GO erst zu diesem Zeitpunkt in Kraft getreten sei. Zuvor habe eine Pflicht zur Heranziehung bestanden.
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Hiergegen hat die Klägerin am 20. Juli 2018 Klage erhoben.
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Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren.
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Sie ergänzt, dass die Übergangsregelung in der Aufhebungssatzung gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Willkürverbot verstoße und unverhältnismäßig sei. Unerheblich sei, dass die Baumaßnahme im Wiepenkrog bereits 2016 abgeschlossen worden sei, denn auch die Einnahmen aus den Ausbaubeiträgen würden allenfalls für das Jahr 2018 in den Haushalt der Beklagten eingeplant worden sein, da die Ausbaubeiträge erst 2018 erhoben wurden. Die Notwendigkeit einer Gegenfinanzierung sei im Jahr 2018 durch die Erhöhung des KIF nicht mehr gegeben gewesen. Der KIF diene ausdrücklich der Entlastung der Bürger, was bei der Wahl des Aufhebungszeitpunktes der Ausbaubeitragssatzung zu berücksichtigen gewesen wäre. Der KIF hätte als Zuschuss Dritter berücksichtigt werden müssen.
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Die Forderung aus dem angefochtenen Bescheid vom 28. März 2018 werde außerdem erst 3 Monate nach Bekanntgabe fällig und damit erst nach Wirksamkeit der Aufhebungssatzung. Die Beklagte hätte die Wirksamkeit der Aufhebungssatzung zumindest zum 26. Januar 2018 bestimmen müssen.
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Es habe auch keine ordentliche Abnahme der Maßnahme stattgefunden. Eine Qualitätskontrolle des hergestellten Werks oder Prüfung etwaiger Kollateralschäden etwa am Gehweg sei nicht erfolgt, weshalb auch keine eventuellen Mängel und infolgedessen etwaige Minderungsansprüche oder Aufrechnungsansprüche gegenüber der C GmbH geltend gemacht werden konnten. Dies widerspreche dem Gebot der Wirtschaftlichkeit. Selbst wenn eine Abnahme tatsächlich stattgefunden hätte, würde die fehlende Nachkontrolle der angekündigten Mängelbeseitigung ebenso den Grundsätzen wirtschaftlichen Handelns widersprechen. Dies werde auch nicht durch Instandhaltungspflichten der ausführenden Firma kompensiert, denn Mängelbeseitigung sei keine Instandhaltung.
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Der Beklagten seien überdies für die durchgeführten Maßnahmen keine Kosten entstanden, da diese gegenüber der C GmbH bereits mit der jährlichen Kostenpauschale abgedeckt seien. Wie die pauschale kalkuliert worden sei, sei nicht erkennbar – dies lasse sich insbesondere nicht aus dem Einheitsleistungsverzeichnis, das der Ausschreibung zugrunde gelegen habe, ersehen. Die Berechnung der Beklagten sei fiktiv, dass ihr denklogisch „irgendein“ Aufwand entstanden sei, sei nicht ausreichend.
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Eine Schätzung sei weder ausdrücklich vorgenommen noch sei dies der Klägerin mitgeteilt worden, was die Rechtschutzmöglichkeiten verkürze. Hierbei hätte im Übrigen ein Abschlag vorgenommen werden müssen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 28. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juni 208 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
27
Zur Begründung beruft sie sich auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren.
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Sie ergänzt, dass der Wiepenkrog schon vor dem Inkrafttreten des Straßen- und Wegegesetzes (StrWG) am 1. Oktober 1962 vorhanden gewesen sei und bereits damals neben der Erschließungsfunktion für die anliegenden Grundstücke einem nicht unerheblichen öffentlichen Verkehr diente. Der Wiepenkrog gelte damit als gewidmet.
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Eine Abnahme der Arbeiten sei am 2. November 2016 erfolgt – dies habe sich nach nochmaliger Prüfung durch das Tiefbauamt der Beklagten ergeben. Jedenfalls dann sei die sachliche Beitragspflicht entstanden. Die Mängelbeseitigung sei nicht förmlich abgenommen, allerdings durch die Straßenunterhaltung im Tiefbauamt der Beklagten kontrolliert worden. Eine mangelfreie Abnahme sei zudem nicht Voraussetzung für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht. Mängelbeseitigungsansprüche müssten lediglich verfolgt werden.
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Die sachliche Beitragspflicht entstehe mit Abschluss der Maßnahme, was vor dem 1. Mai 2018 gewesen sei. Hiervon zu unterscheiden sei die persönliche Beitragspflicht, die erst mit Bekanntgabe des Beitragsbescheides erfolge.
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Die Beklagte sei bis zur Gesetzesänderung in der Gemeindeordnung am 26. Januar 2018 verpflichtet gewesen, Ausbaubeiträge zu erheben. Selbst eine Wirksamkeit der Aufhebungssatzung zu diesem Datum hätte an der sachlichen Beitragspflicht nichts mehr ändern können. Daher komme es auch auf das Vorbringen der Klägerin zum KIF nicht an. Die streitgegenständliche Maßnahme sei 2016 abgeschlossen und 2017 vergütet worden. Eine Förderung aus der Aufstockung des KIF in 2018 sei nicht mehr möglich gewesen.
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Die C GmbH habe die Arbeiten auch nicht ohne Gegenleistung erbracht. Schon aus § 8 Abs. 2 Satz 2 des Straßenbeleuchtungsvertrages folge, dass sich die Höhe der in der Pauschale enthaltenen Vergütungen für Arbeiten nach § 12 Abs. 1 lit a) nach dem Einheitsleistungsverzeichnis richten solle. Dieses enthalte im Übrigen Positionen, die ausschließlich bei Arbeiten nach § 12 Abs. 1 lit a) anfielen (z. B. 2.4.3). Es sei nicht ersichtlich, dass die tatsächlichen Kosten als Anteil der Pauschale geringer als im Einheitsleistungsverzeichnis beschrieben wären.
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Jedenfalls wäre der Aufwand aber zu schätzen, wobei das Einheitsleistungsverzeichnis eine zutreffende und ausreichende Schätzungsgrundlage böte. Der fehlende Hinweis auf eine Schätzung im Bescheid, würde allenfalls die Begründung fehlerhaft machen, die Rechtmäßigkeit des Bescheids im Ergebnis aber unberührt lassen.
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Mit Beschluss vom 29. Juli 2020 hat die Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
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Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 11. September 2020 hat die Einzelrichterin die Verhältnisse vor Ort (im Wiepenkrog) in Augenschein genommen.
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Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge, zu denen insbesondere auch die Beiakte B aus dem Verfahren 9 A 60/18 (Straßenbeleuchtungsvertrag) gehört, verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte ohne (weitere) mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich im Termin zur mündlichen Verhandlung übereinstimmend zu Protokoll mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Der Festsetzungsbescheid vom 28. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juni 2018 ist zwar rechtswidrig, er verletzt die Klägerin aber nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Dabei ist im Hinblick auf die Sach- und Rechtslage maßgeblich auf den Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht abzustellen (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 10. August 2012 – 4 LB 3/12 –, Rn. 60, juris, Beschluss vom 7. September 2020 – 2 LA 232/18 -, n.v.). Diese entsteht nach § 8 Abs. 4 KAG i. V. m. § 9 Abs. 1 ABS mit dem Abschluss der Maßnahme, welcher nach der ständigen Rechtsprechung der Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Abnahme zu sehen ist, die hier im November 2016 erfolgte.
Unerheblich ist, dass die Unterlagen, die die Abnahme dokumentieren, von der Beklagten erst im Laufe des Klagverfahrens vorgelegt wurden. Sie hat insoweit die Abnahmeniederschrift vom 2. November 2016 als Anlage B 2 vorgelegt, aus der sich ergibt, dass die Maßnahme durch das Tiefbauamt der Beklagten einen Tag zuvor überprüft und sodann abgenommen wurde. Dass die Abnahme tatsächlich nicht stattgefunden hat, wird weder von der Klägerin behauptet, noch gibt es hierfür Anhaltspunkte. Ebenso unerheblich ist, dass bei der Abnahme einige Mängel festgestellt wurden (2 Masten stehen zu hoch, es fehle dort Mutterboden; 2 Masten stehen zu locker, dort müsse nachverdichtet werden). Der Entstehung der Beitragspflicht stünde selbst eine mangelhafte Ausführung der Baumaßnahme nicht entgegen. Dies gilt auch, soweit „gravierende“ Restarbeiten fehlen oder noch wesentliche Mängel bestehen Die Gemeinde ist insoweit lediglich gehalten, Mängelbeseitigungsansprüche durchzusetzen (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 30. April 2003 – 2 LB 118/02 –, juris [Leitsätze] und Urteil der Kammer vom 12. September 2018 – 9 A 297/15 –, Rn. 40, juris, m. w. N.). Lediglich die – hier nicht vorliegende – Funktionslosigkeit der Maßnahme lässt eine Beitragspflicht nicht entstehen. Auch bei fehlender Verfolgung von Mängelbeseitigungsansprüchen (was hier von der Klägerin behauptet wird), kann aus beitragsrechtlicher Sicht hieraus allenfalls folgen, dass eine (spätere) vorzeitige Erneuerungsmaßnahme u. U. beitragsrechtlich nicht als erforderlich abgerechnet werden kann (vgl. Habermann in PdK, KAG, Mai 2020, § 8, Rn. 293). Mithin ist vom Vorliegen einer wirksamen Abnahme und damit – insoweit – von einem Entstehen der sachlichen Beitragspflicht zu diesem Zeitpunkt auszugehen.
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Es kommt daher nicht darauf an, wann die Beleuchtungsanlagen in Betrieb genommen wurden (vgl. hierzu aber Beschluss der Kammer vom 11. Juni 2013 – 9 B 9/13 –, n. v.).
Die Beitragserhebung findet ihre Rechtsgrundlage in § 8 Abs. 1 des Schleswig-Holsteinischen Kommunalabgabengesetz vom 10. Januar 2005 (GVOBl. 2005, 27) in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung der letzten Änderung durch Gesetz vom 15. Juli 2014 (GVOBl. 2014, 129; im Folgenden: KAG) in Verbindung mit den Regelungen der Beklagten über die Erhebung von Beiträgen für die Herstellung, den Aus- und Umbau und die Erneuerung öffentlicher Straßen, Wege und Plätze vom 16. Juli 2010 i. d. F. des 1. Nachtrages vom 5. Februar 2014 (im Folgenden ABS). An der Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit der ABS bestehen weder in formeller noch in materieller Hinsicht Zweifel, solche sind auch nicht vorgebracht worden.
Unschädlich ist, dass die ABS zwischenzeitlich mit Aufhebungssatzung vom 27. April 2018 zum 1. Mai 2018 ersatzlos aufgehoben wurde.
Nach Art. 2 der Aufhebungssatzung werden Beiträge noch erhoben, sofern die sachliche Beitragspflicht vor dem 01.05.2018 entstanden ist. Insoweit ist die aufgehobene ABS weiterhin anzuwenden (vgl. Urteil der Kammer vom 26. September 2018 – 9 A 174/15 –, Rn. 30, juris). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, weil die sachliche Beitragspflicht vor dem 1. Mai 2018 entstanden ist (s.o.).
Der Anwendbarkeit der Aufhebungssatzung und damit der ABS steht nicht die Wahl des Zeitpunktes für die Übergangsregelung – dem Stichtag 1. Mai 2018 – entgegen. Die Klägerin bemängelt insoweit zwar, dieser Zeitpunkt wäre willkürlich und in rechtswidriger Weise, insbesondere unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz – gewählt worden. Die Beklagte beruft sich demgegenüber aber zu Recht darauf, dass ein früherer Stichtag frühestens zum 26. Januar 2018 hätte gewählt werden können, weil die Änderung des § 27 Abs. 2 Satz 2 Gemeindeordnung, mit der die bis dahin geltende Beitragserhebungspflicht für die Gemeinden entfallen ist, durch das Gesetz vom 4. Januar 2018 erst am 26. Januar 2018 in Kraft getreten ist (GVOBl. 2018, 6). Auch zu diesem Zeitpunkt war die sachliche Beitragspflicht der Klägerin für die Ausbaumaßnahme am Wiepenkrog bereits entstanden. Für einen Verzicht auf die Beitragserhebung für Maßnahmen, die vor Aufhebung der ABS eine sachliche Beitragspflicht entstehen ließen, gibt es keine gesetzliche Grundlage.
Im Übrigen würde auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit der Stichtagswahl in der Aufhebungssatzung die Klägerin nicht besserstellen. Denn dies hätte lediglich zur Folge, dass die Aufhebungssatzung entweder in Gänze oder nur bzgl. Art. 2 unanwendbar wäre. Das Gericht wäre aufgrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung nicht befugt, eine andere Regelung zu treffen.
Würde die Satzung in Gänze unanwendbar sein, hätte die ABS auch über den 30. April 2018 hinaus Bestand und wäre deshalb weiterhin anzuwenden. Würde man von einer nur teilweisen Unanwendbarkeit der Aufhebungssatzung und damit von einer weitergehenden Anwendbarkeit zumindest des Art. 1 der Aufhebungssatzung ausgehen, so würde auch dies dazu führen, dass die ABS zumindest bis zum 30. April 2018 anwendbar war und damit bis zu einem Zeitpunkt, zu dem die sachliche Beitragspflicht der Klägerin schon entstanden war, was nach dem materiellen Recht der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage, also der Zeitpunkt ist, der für die Anwendung des maßgeblichen Satzungsrechts entscheidend ist und zu dem – im Hinblick auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Beitragsbescheides- eine gültige Satzung vorgelegen haben muss (s. o., vgl. auch Beschluss der Kammer vom 18. März 2008 – 9 B 83/07 –, Rn. 33, juris; VGH München, Beschluss vom 07. Dezember 2012 – 6 ZB 12.1461 –, Rn. 4, juris; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 23. Dezember 2011 – 3 K 538/07 –, Rn. 24, juris; VG Gera, Urteil vom 05. Mai 2003 – 5 K 2026/98.GE –, Rn. 138, juris).
Es kommt aus denselben Gründen außerdem nicht darauf an, ob die ABS im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bzw. der letzten Behördenentscheidung oder im Zeitpunkt der Fälligkeit des Beitrages aufgehoben war. Zum einen lässt sich die Übergangsregelung in Art. 2 der Aufhebungssatzung schon so verstehen, dass die ABS zumindest für all die Ausbaubeiträge weiterhin besteht – und nicht aufgehoben sein soll –, die ihren Grund in einer sachlichen Beitragspflicht finden, die vor dem 1. Mai 2018 entstanden ist. Selbst wenn dem in Anbetracht des Wortlauts von Art. 1 der Aufhebungssatzung nicht zu folgen wäre, so ist zumindest davon auszugehen, dass – sind die sachlichen Beitragspflichten auf der Grundlage einer wirksamen Satzung einmal entstanden – der Anspruch der Gemeinde auf die Zahlung von Straßenausbaubeiträgen nicht deshalb erlischt, weil diese Satzung durch eine andere Satzung ersetzt oder mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben worden ist. Sie bleibt maßgebend sowohl für die Beitragsfestsetzung als auch für das Leistungsgebot (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. August 2017 – 9 LA 231/16 –, Rn. 4, juris, m. w. N.). Die Befugnis, den Beitrag durch Verwaltungsakt festzusetzen und von dem Beitragspflichtigen anzufordern, ergibt sich im Übrigen unabhängig von der inzwischen aufgehobenen Satzung auch direkt aus § 11 Abs. 1 Satz 2 KAG i. V. m. § 155 AO (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. August 2017 – 9 LA 231/16 –, Rn. 8, juris; Arndt/Hoefer/Dörschner in Die Gemeinde 2018, 90).
Nur der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass vorliegend im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides am 28. März 2018 die ABS noch nicht aufgehoben war, im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchbescheides hingegen schon.
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Auf das Vorbringen der Klägerin bezüglich der Berücksichtigung etwaiger Aufstockungen des KIF kommt es vor diesem Hintergrund an dieser Stelle nach alldem nicht an.
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Nach dem danach weiterhin anwendbaren § 1 ABS i.V.m. § 8 KAG erhebt die Beklagte zur (teilweisen) Deckung des Aufwandes für die Herstellung, den Aus- und Umbau sowie die Erneuerung der notwendigen – in § 1 ABS näher bestimmten – öffentlichen Einrichtungen Beiträge. Beitragspflichtig ist nach §§ 4 und 13 Abs. 1 ABS der/die Eigentümer/-in des im Abrechnungsgebiet liegenden bevorteilten Grundstücks.
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Diese Voraussetzungen liegen vor.
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Die Beklagte hat die Ausdehnung der öffentlichen Einrichtung in diesem Sinne richtigerweise nicht über die gesamte Länge des Wiepenkrogs angenommen, sondern lediglich von seinem östlichen Ende an der Einmündung zur Straße Eiderbrok bis zur westlichen Grenze der Bebauung des Grundstücks Wiepenkrog xx an der Einmündung zur Straße Am Hain. Einrichtung im Sinne des § 8 Abs. 1 KAG ist zwar regelmäßig die im Gemeindegebiet verlaufende Straße – unabhängig von wechselnder Bezeichnung – in ihrer gesamten Ausdehnung (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 28. Oktober 1997 – 2 L 281/95 –, Rn. 21, juris). Maßgeblich ist dabei eine natürliche Betrachtungsweise. Unabhängig von dem äußeren Erscheinungsbild können bei der Feststellung der räumlichen Ausdehnung einer öffentlichen Einrichtung allerdings auch rechtliche Gesichtspunkte relevant werden und ggf. der Annahme entgegenstehen, ein Straßenzug sei eine einzige Einrichtung. Dies gilt etwa dann, wenn – wie hier – eine Innerortsstraße endgültig in den Außenbereich eintritt und sich deshalb ihre Verkehrsfunktion ändert (st. Rspr. der Kammer, vgl. Urteil vom 29. Juni 2020 – 9 A 319/17, n. v., Urteil vom 18. Mai 2016 – 9 A 143/15 –, Rn. 40, juris, Urteil vom 22. August 2012 – 9 A 169/11, n. v.; vgl. auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 4 MB 2/12, n. v., und BVerwG, Beschluss vom 25. April 2000 – 11 B 46.99 –, Rn. 6, juris; Thiem/Böttcher, KAG, Stand: Juni 2019, § 8, Rn. 204a; vgl. Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand: März 2019, Rn. 288, m. w. N.). In westlicher Richtung geht der Wiepenkrog hinter dem Grundstück Wiepenkrog xx mit einer großen Waldfläche (mit Sportplatz) in den Außenbereich über, sodass ab diesem Punkt ein im Zusammenhang bebauter Ortsteil im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB nicht mehr vorliegt und die Einrichtung dort aus rechtlichen Gründen endet.
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Der Wiepenkrog ist trotz fehlender förmlicher Widmung eine öffentliche Einrichtung, weil er – nach dem unbestrittenen Vortrag der Beklagten – bereits bei Inkrafttreten des Straßen- und Wegegesetzes im Jahr 1962 neben der Erschließungsfunktion der anliegenden Grundstücke einem nicht unerheblichen öffentlichen Verkehr gedient hat, § 57 Abs. 3 Satz 2 Straßen- und Wegegesetz vom 25.11.2003 (GVOBl. 2003, 631).
Die Maßnahme stellt einen beitragsfähigen verbessernden Ausbau in Bezug auf die Teileinrichtung Straßenbeleuchtung dar.
Auch wenn § 8 Abs. 1 KAG nur von notwendigen Einrichtungen und nicht auch von notwendigen Maßnahmen spricht, können Beiträge für Ausbau- und Umbaumaßnahmen an notwendigen Einrichtungen nur dann erhoben werden, wenn die Maßnahmen und die Aufwendungen ihrerseits notwendig sind. Dies gilt gleichermaßen für die erstmalige Herstellung einer notwendigen öffentlichen Einrichtung wie für ihren Aus- und Umbau bzw. ihre Erneuerung. Allerdings ist Notwendigkeit nicht gleichbedeutend mit einem dringenden öffentlichen Bedürfnis i. S. d. § 17 GO oder einer unabdingbaren Erforderlichkeit. Vielmehr steht den Gemeinden hinsichtlich der Beurteilung dessen, ob eine Erneuerungs- bzw. Ausbaumaßnahme notwendig ist, ein weiter Ermessensspielraum zu, der vom Gericht nur eingeschränkt überprüfbar und der nur dann überschritten ist, wenn keine Gründe ersichtlich sind, die die Maßnahme im geplanten Umfang rechtfertigen (vgl. stRspr. OVG Schleswig, Urteil vom 10. August 2012 – 4 LB 3/12 –, NordÖR 2013, 68 ff.).
Ein verbessernder Ausbau der Straßenbeleuchtung liegt vor, wenn durch die Ausbaumaßnahme eine bessere Ausleuchtung der Straße erreicht wird. Das kann durch eine Vermehrung der Zahl der Leuchten oder eine Erhöhung der Leuchtkraft der einzelnen Leuchten erfolgen. Kriterien für eine Verbesserung sind dabei Beleuchtungsstärke, Gleichmäßigkeit der Beleuchtung und Blendungsbegrenzung, wobei nicht alle Kriterien kumulativ erfüllt sein müssen (vgl. Urteil der Kammer vom 19. Oktober 2006 – 9 A 649/04 –, n. v.; OVG Münster, Urteil vom 28. August 2001 – 15 A 465/99 – Rn.31, juris; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Aufl. § 32 Rn. 70 m.w.N; Habermann, a. a. O., Rn. 157 m. w. N.). Durch die Maßnahme wurden nicht nur die alten Holzmasten mit Freileitungen durch – dem Stand der Technik entsprechende – Stahlmasten mit Erdkabel ersetzt. Es wurde auch die Anzahl der Leuchten erhöht. Ausweislich der Vergleichsmessungen/ lichttechnischen Berechnungen (Bl. 93 VV) im Verwaltungsvorgang der Beklagten hat sich die mittlere Beleuchtungsstärke gegenüber dem Zustand vor Ausbau der Einrichtung um 77 % verbessert, wobei auch eine deutliche Verbesserung der Gleichmäßigkeit gegeben ist.
Dem Grundstück der Klägerin erwachsen durch den verbessernden Ausbau auch Vorteile im Sinne des § 8 Abs. 1 KAG. Technische Veränderungen, die objektiv die Benutzbarkeit der Einrichtung allgemein verbessern, erhöhen stets auch den Gebrauchswert der anliegenden Grundstücke, die für die Anlieger leichter und gefahrloser erreichbar werden, und sind deshalb vorteilhaft (Habermann a. a. O., Rn. 160). Hier verbessert sich die Benutzbarkeit von Straße und Gehsteig durch die hellere und gleichmäßigere Beleuchtung. Auf die Motive des Ausbaues kommt es dabei nicht an (OVG Schleswig, Urteil vom 26. September 2007 – 2 LB 20/07 –, Die Gemeinde 2008, 47). Deshalb ist es unerheblich, dass die Beklagte die Beleuchtung etwa auch deshalb erneuert hat, um Energie zu sparen. Genausowenig ist es erforderlich, dass die Klägerin die Verbesserung als vorteilhaft ansieht. Ob eine Straßenbaumaßnahme grundstücksbezogene Vorteile vermittelt, ist nicht aus der subjektiven Sicht des einzelnen Grundstückseigentümers und insbesondere nicht unter Berücksichtigung der tatsächlichen Nutzung seines Grundstücks, sondern objektiv zu beurteilen (vgl. Urteil der Kammer vom 30. Januar 2017 – 9 A 158/14 –, n. v., m. w. N.; Habermann a. a. O., Rn. 140 und 142, m. w. N.).
Der für die Anlieger vorteilhafte Umbau einer Teileinrichtung rechtfertigt in aller Regel die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen unabhängig davon, ob die Einrichtung vor Beginn der Straßenbaumaßnahme erneuerungsbedürftig war und ein der normalen Nutzungsdauer entsprechendes Alter erreicht hatte. Nur wenn die Baumaßnahme aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit schlechthin unvertretbar und daher auch in Anbetracht der zusätzlich gebotenen Vorteile und des weiten Entscheidungsspielraums der Gemeinde nicht notwendig/erforderlich i. S. d. § 8 Abs. 1 KAG ist, ist eine Beitragspflicht nicht gegeben (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 30. April 2003 – 2 LB 118/02-, juris (nur Leitsätze).
Die Maßnahme ist abgeschlossen.
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Die Ermittlung des beitragsfähigen Aufwands in Höhe von 158.746,83 € begegnet im Ergebnis keinen Bedenken. Der Aufwand ist nach § 2 Abs. 1 ABS grundsätzlich nach den tatsächlichen Kosten zu ermitteln.
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Dies ist hier erfolgt.
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Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte von der C GmbH für die Durchführung des Ausbaus keine Rechnung im eigentlichen Sinne erhalten und beglichen hat. Denn die Beitragsgrundlagen, namentlich der Aufwand, lassen sich – wie hier – im Rahmen einer Schätzung ermitteln, § 11 Abs. 1 Satz 2 KAG i. V. m. § 162 Abs. 1 AO. Hiernach ist die Beklagte befugt, Beitragsgrundlagen zu schätzen, wenn diese nicht ermittelt oder berechnet werden können, wobei alle Umstände zu berücksichtigen sind, die für die Schätzung von Bedeutung sind.
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Die Beklagte hat mit der C GmbH im Rahmen des Straßenbeleuchtungsvertrags in § 13 eine jährliche Pauschalvergütung pro Lichtpunkt vereinbart, wobei Grundlage die (damalige) Anzahl von über 20.000 Lichtpunkten im gesamten Stadtgebiet der Beklagten ist. Hiermit sollen alle Leistungen im Rahmen des Betriebs, der Instandhaltung, der Änderung, der Erneuerung und den Leistungspaketen in § 12 des Vertrages abgegolten werden. Nicht umfasst von der Pauschale sind Vergütungen zum Neubau, der Erweiterung, dem Um- und Rückbau und der Leistungen, die über den § 12 hinausgehen (diese Vergütung erfolgt zusätzlich nach § 9 des Vertrages). Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Beklagte aus rechtlichen Gründen dieses Abrechnungsmodell nicht hätte wählen dürfen bzw. gar ein centgenaues Abrechnungsmodell hätte bevorzugen müssen.
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Der hier vorgenommene Ausbau der Straßenbeleuchtung ist unstreitig eine Maßnahme nach § 12 Abs. 1 lit. a) des Vertrages und damit grundsätzlich durch die jährliche Pauschale abgegolten. Hieraus lässt sich aber – entgegen der Ansicht der Klägerin – nicht folgern, dass der Beklagten für den Ausbau tatsächlich gar keine Kosten entstanden sind. Vielmehr hat die Beklagte (auch) diesen Ausbau über die Pauschale vergütet. Welcher Anteil der jährlichen Pauschalen auf die Ausbaumaßnahme im Wiepenkrog entfällt, lässt sich indes für die Beklagte nicht bzw. nur mit unverhältnismäßigem Aufwand ermitteln, sodass sie befugt war, diesbezüglich eine Schätzung vorzunehmen (vgl. Arndt in Straßenbaubeiträge, 2017, § 8, Rn. 8, unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum „insoweit vergleichbaren“ Erschließungsbeitragsrecht). Denn es ist der Beklagten zumindest unzumutbar, wenn nicht unmöglich von der C GmbH eine Kalkulation anzufordern (und im Hinblick auf die Maßnahme am Wiepenkrog auszuwerten), die zur Berechnung einer Pauschale erstellt wurde, mit der die vertraglichen Pflichten aus dem Straßenbeleuchtungsvertrag abgegolten werden sollen. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Vertrag eine Mindestlaufzeit von knapp 20 Jahren und einen umfangreichen Vertragsgegenstand hat – namentlich die Durchführung der Straßenbeleuchtung, wozu Betrieb, Instandhaltung, Änderung, Erneuerung, Neu-, Um- und Rückbau gehören – und sich diese Leistungspflichten auf das gesamte Stadtgebiet der Beklagten beziehen, vgl. §§ 2, 4 und 19 des Vertrages. Die Pauschale wird also nicht nur für die Zwecke des flächendeckenden Ersatzes der Freileitungs-Beleuchtungsanlagen durch Erdleitungseinrichtungen erhoben, sondern für eine Vielzahl von Aufgaben, die mit der Beleuchtung auf dem Stadtgebiet der Beklagten zusammenhängen. Der diesbezügliche Aufwand zur Ermittlung der isolierten Kosten für die Maßnahme am Wiepenkrog, stünde – vorausgesetzt er ist überhaupt durchführbar – zu den zu erwartenden Einnahmen vollkommen außer Verhältnis.
54
Die Beklagte hat sich sodann zur Schätzung der Kosten mit Recht auf das Leistungsverzeichnis (Anl. 8 des Vertrages) und die auf dieser Grundlage von der C GmbH erstellte Kostenaufstellung vom 7. Dezember 2016 und 23. Januar 2017 berufen, die einen Gesamtbetrag von 158.746,83 € ausweisen, der auch dem streitgegenständlichen Beitrag zugrunde gelegt wurde. Dabei hat die C GmbH nicht das Leistungsverzeichnis 2008 sondern ausweislich der Aufstellung vom 7. Dezember 2016 das Leistungsverzeichnis 2016 in Bezug genommen, was nicht zu beanstanden ist, weil hiermit die Preisgleitklausel aus der Vorbemerkung des Einheitsleistungsverzeichnisses (analog § 15 des Vertrages) umgesetzt wurde – also insbesondere Lohn- und Materialpreisentwicklungen Rechnung getragen wurde. Dass die Aufstellung dem Leistungsverzeichnis 2016 nicht entspricht, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Damit hat die Beklagte auch eine taugliche Schätzgrundlage gewählt, weil unter mehreren denkbaren Möglichkeiten, diejenige gewählt wurde, die unter Berücksichtigung aller feststellbaren Umstände die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich hat. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass lebensnah davon auszugehen ist, dass auch die Kalkulationen der C GmbH auf Grundlage der Leistungsbeschreibung in Anlage 6 des Vertrages (vgl. Ziff. 1 der Leistungsbeschreibung) aber eben auch aufgrund dieses Leistungsverzeichnisses erfolgt sein dürften, die so schon Teil der Ausschreibung des Auftrages waren.
55
Der Klägerin ist sodann zwar zuzugeben, dass die Beklagte in dem streitbefangenen Festsetzungsbescheid hätte angeben müssen, dass die Beitragserhebung auf einer Kostenschätzung beruht und diesbezüglich auch die Umstände und ggf. auch die Methodik der Schätzung Teil der Begründung hätten sein müssen (vgl. Thiem/Böttcher, KAG SH, Februar 2020, § 11 Rn. 218), weil es sich hierbei um wesentliche tatsächliche bzw. rechtliche Gründe für die Entscheidung über die Erhebung des Ausbaubeitrages im Sinne des § 109 Abs. 1 Satz 2 LVwG handelt. Dieser Umstand kann der Klage allerdings schon deshalb nicht zum Erfolg verhelfen, weil der Bescheid – wie gezeigt – sachlich richtig und wegen der Beitragshöhe zutreffend ist, § 115 LVwG (vgl. Thiem/Böttcher, KAG, Februar 2020, § 11, Rn. 233). In diesen Fällen kann die Aufhebung des Bescheides nicht allein auf den Formfehler der fehlerhaften Begründung gestützt werden.
56
Von dem so ermittelten Aufwand waren auch keine Zuwendungen Dritter abzuziehen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin zu der vermeintlichen Aufstockung des KIF zur Kompensation etwaiger Ausfälle von Straßenausbaubeiträgen. Der Ausbau der Beleuchtung im Wiepenkrog wurde nicht aus Mitteln des KIF gefördert, der im Übrigen hauptsächlich zinsgünstige Darlehen vergibt und damit den kommunalen Eigenanteil an Maßnahmen verringern und nicht „Dritte“ (also die Beitragspflichtigen) entlasten soll (vgl. Zif. 1.1 und 1.4 Förderungsrichtlinien: https://www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/K/kommunales/Foerderung/Downloads/kifRili.pdf;jsessionid=A35AED279F0873ABC5CFF52105728C37.delivery1-replication?__blob=publicationFile&v=1,
57
zuletzt abgerufen am 4. November 2020; vgl. zu der entsprechenden Regelung in Bayern: VG Ansbach, Beschluss vom 20. Januar 2010 – AN 18 S 09.02203 –, Rn. 38, juris).
58
Unter Berücksichtigung der Regelung in § 2 Abs. 2 Ziff. 7 ABS, wonach für Maßnahmen an Beleuchtungseinrichtungen von Anliegerstraßen 85 % der Gesamtkosten auf die Beitragspflichtigen umgelegt werden, hat die Beklagte sodann richtigerweise einen Betrag von 134.934,80 € als auf die Beitragspflichtigen umlegbar ausgewiesen.
59
Der Wiepenkrog ist – inzwischen unstreitig- eine Anliegerstraße im Sinne des § 3 Ziff. 1 ABS, wonach Anliegerstraßen sich dadurch auszeichnen, dass sie überwiegend dem Zugang oder der Zufahrt der von ihnen erschlossenen Grundstücken dienen (und verkehrsberuhigte Bereiche). Dies ist für den Wiepenkrog anzunehmen.
Die Zuordnung zu einer in der Ortssatzung der Gemeinde vorgesehenen Straßenkategorie hat sich an ihren wesentlichen, für die Straße insgesamt bedeutsamen und sie überwiegend charakterisierenden, Merkmalen auszurichten. Dabei ist von der Funktion der Straße im Gesamtverkehrsnetz der Gemeinde auszugehen, wie sie durch ihre Lage, die Art der Ausgestaltung und die (tatsächliche) Verkehrsbelastung ihre Ausprägung gefunden hat (stRSpr. des OVG Schleswig, vgl. Beschluss vom 28. Mai 2018 – 2 MB 1/18 –, Rn. 13 – 15, juris, Urteil vom 23. Juli 2008 – 2 LB 54/07 – juris, Rn. 33; Beschluss vom 14. November 2008 – 2 MB 21/08 – juris, Rn. 7). Nach diesen Maßstäben ist der Wiepenkrog Anliegerstraße, was sich schon aus seinem beschränkten Ausbauzustand ergibt, den die Einzelrichterin im Ortstermin feststellen konnte. Die Fahrbahn des – von Wohnbebauung gesäumten – Wiepenkrogs ist so schmal, dass sich entgegenkommender Verkehr nur sehr langsam und vorsichtig begegnen kann. Schon dies macht ihn ungeeignet für eine Straße, die eine – die Erschließung der anliegenden Grundstücke – überwiegende Verbindungsfunktion wahrnehmen könnte. Diese ist auch im Übrigen nicht ersichtlich, auch der ÖPNV nutzt für die Verbindung der umliegenden Straßen und Stadtteile die Straßen Eiderbrook und Damaschkeweg/ Speckenbeker Weg/Ihlseweg, um von West nach Ost zu kommen. Die Annahme des Vorliegens einer Anliegerstraße wurde zudem eindrücklich während des halbstündigen Termins vor Ort im Rahmen dieses Klagverfahrens unterstrichen, bei welchem während der gesamten Dauer des an einem Werktag am frühen Nachmittag stattfindenden Termins lediglich zwei KfZ und kein Fußgänger oder Radfahrer die Straße Wiepenkrog nutzten. Die von der Klägerin zu Beginn des Verfahrens noch aufgestellte Behauptung, der Wiepenkrog sei eine der am häufigsten genutzten Verbindungsstraßen in dieser Gegend, da sie die direkteste Verbindung von West nach Ost darstelle, konnte so nicht belegt werden. In Konsequenz daraus hat die Klägerin diesen Vortrag auch nicht mehr aufrechterhalten.
61
Die Beklagte hat sodann das Abrechnungsgebiet gemäß § 4 ABS in nicht zu beanstandender Weise gewählt und den umlegbaren Anteil der Ausbaukosten entsprechend auf die Grundstücke, denen durch die Inanspruchnahmemöglichkeit der Einrichtung Vorteile erwachsen, verteilt.
62
Das Grundstück der Klägerin ist als Anlieger von der Ausbaumaßnahme bevorteilt (s. o.). im Sinne des § 4 Abs. 1 ABS. Dies ergibt sich schon aus der Anliegereigenschaft der Fläche, bei der der Vorteil in der Regel vermutet wird (vgl. stRspr. des OVG Schleswig, z. B. Beschluss vom 18. Dezember 2013 – 4 MB 80/13, Rn. 4, n. v.).
63
Auch die Berechnung der konkreten beitragspflichtigen Grundstücksfläche der Klägerin entspricht den Anforderungen des §§ 6 und 7 ABS. Bedenken gegen die Berechnungen sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Gleiches gilt für den von dem Beklagten ermittelten Beitragssatz je m² gewichteter Fläche, sodass die Berechnung des Ausbaubeitrages für das Grundstück der Klägerin auch rechnerisch nicht zu beanstanden ist.
64
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des Eilrechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin, es zu unterlassen, eine angezeigte Versammlung mit der Verpflichtung der Teilnehmer zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung und zur Einhaltung eines Mindestabstandes sowie hinsichtlich der Teilnehmerzahl zu beschränken.
Der Antragsteller zeigte am 2. November 2020 für den 8. November 2020 eine stationäre Versammlung auf der Th.-wiese zwischen 16:00 und 22:00 Uhr an. Die Anzahl der teilnehmenden Personen wurde mit 120.000 Teilnehmern angegeben. Der Antragsteller beschrieb das Hygienekonzept mit den Worten „Keine Abstände, keine Masken, gegenseitige Umarmungen (soweit erwünscht)“ und führte aus, ein Hygienekonzept sei ohne den Nachweis von Infektionen nicht nötig. Zudem beantragte er zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung den Einsatz von 200 Ordnern.
Am 4. November 2020 hat der Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Er beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache, es zu unterlassen,
a) die Versammlungsteilnehmer zu verpflichten, während der Versammlung eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen,
b) die Versammlungsteilnehmer zu verpflichten, einen Sicherheitsabstand einzuhalten,
c) die Teilnehmerzahl zu begrenzen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es bestünde ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Art. 19 Abs. 4 GG garantiere effektiven Rechtsschutz. Die Antragsgegnerin habe die versammlungsrechtlichen Bescheide am vergangenen Wochenende so kurzfristig erlassen, dass sie nicht mehr zu den gestellten Anträgen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hätte angehört werden können. Die Antragsgegnerin habe im Rahmen eines Kooperationsgesprächs zu verstehen gegeben, dass sie vergleichbar der vom Antragsteller am 1. November 2020 durchgeführten Versammlung Auflagen in Bezug auf Mund-Nasen-Bedeckung, Abstandsregelungen und Teilnehmerbegrenzung treffen werde. Ein Eingriff in die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG setze das Bestehen einer unmittelbaren, auf Tatsachen beruhenden unmittelbare Gefahr voraus. Infektionsschutzrechtliche Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG dürften nur nach der Ermittlung der Störer ergriffen werden. Die Antragsgegnerin habe jedoch das Vorhandensein entsprechender Störer in der Landeshauptstadt M. und die tatsächliche Infektionslage nicht nachgewiesen. Positive RT-PCR-Tests reichten alleine für hieran anknüpfende Maßnahmen gegenüber Nichtstörern nicht aus. Der Infektionsgefahr müsse zunächst mit Maßnahmen gegen die infizierten Personen begegnet werden. Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei derzeit nicht erkennbar. Das Gericht müsse sich durch den Vortrag der Antragsgegnerin einen Überblick über die Zahl der Störer und die Schwere der Störung verschaffen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führt sie aus, entgegen dem Vortrag des Antragstellers käme nach dem Kooperationsgespräch aufgrund des derzeitigen „Hygienekonzepts“ nur ein Totalverbot der Versammlung in Frage. Im Übrigen sei der Antrag nach § 123 VwGO unzulässig, da weder vollendete, nicht oder nur sehr schwer wieder rückgängig machbare Tatsachen geschaffen würden, noch vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht rechtzeitig möglich oder ausreichend wäre. Die Versammlung sei erst am 2. November 2020 um 22:02 angezeigt worden. Es sei beabsichtigt, den Bescheid noch am 4. November 2020 zu erlassen, so dass ausreichend Zeit für eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung bestünde. Zur Begründetheit wurde hilfsweise ausgeführt, es bestünde kein Anordnungsanspruch. Das Referat für Gesundheit und Umwelt verzeichne für das Stadtgebiet der Landeshauptstadt M. 16.873 kumulierte Infektionen mit 3.465 aktiven Fällen. Der Antragsteller verkenne, dass Schutzmaßnahmen gemäß § 28 IfSG auch gegenüber Nichtstörern getroffen werden könnten. Die Veranstaltung sei ausweislich des Hygienekonzepts darauf ausgerichtet, gegen die geltenden Schutzvorgaben zu verstoßen. Das Abstandsgebot sei in Art. 7 Abs. 1 Satz 1 8. BayIfSMV geregelt, so dass der Nicht-Erlass einer entsprechenden Auflage nicht im Wege des § 123 VwGO erreicht werden könne. Die große Teilnehmerzahl von 120.000 Personen biete keinen Anlass, von der in § 7 Abs. 1 Satz 3 BayIfSMV normierten Regel der Anordnung einer Maskenpflicht ab 200 Teilnehmer abzuweichen. Bei der angezeigten Teilnehmerzahl sei auch eine Beschränkung aus infektionsschutzrechtlicher Sicht erforderlich. Ein Anordnungsgrund bestünde nicht, da dem Antragsteller ausreichend Zeit für eine gerichtliche Überprüfung bleibe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakten verwiesen.
II.
Die Anträge bleiben ohne Erfolg.
I. Der Antragsteller begehrt die vorbeugende Untersagung von Beschränkungen einer für den 8. November 2020 angezeigten Versammlung bezüglich Maskenpflicht, Mindestabstand und Teilnehmerzahl im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die einstweilige Anordnung ergeht, wenn ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund für den vorläufigen Rechtsschutz gegeben sind. Der Anordnungsanspruch ist der zu sichernde bzw. zu regelnde materielle Anspruch, auf den der Antragsteller sich im Hauptsacheverfahren beruft. Der Anordnungsgrund hingegen ergibt sich nicht aus materiellem Recht, sondern aus der besonderen Dringlichkeit des Rechtsschutzbegehrens (vgl. zum vorstehenden Kuhla in BeckOK VwGO, Stand 1.7.2019, Rn. 72 f.). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Ausreichend ist insoweit, wenn das Gericht von ihrer überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausgeht (Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019 § 123 Rn. 51).
II. Aufgrund des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) sieht die VwGO grundsätzlich keine Rechtsbehelfe vor, mit denen der Entscheidungsspielraum der Verwaltung durch richterliche Anordnungen vorbeugend eingeengt werden kann (vgl. Kuhla in BeckOK VwGO, Stand 1.7.2020, § 123 Rn. 43). Die Gewährung vorbeugenden gerichtlichen Eilrechtsschutzes kommt lediglich in Ausnahmefällen in Betracht. Voraussetzung hierfür ist ein qualifiziertes, gerade auf die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtetes Rechtsschutzinteresse. Dieses ist grundsätzlich zu verneinen, soweit der Antragsteller in zumutbarer Weise auf den von der VwGO vorgesehenen nachgelagerten vorläufigen Rechtsschutz verwiesen werden kann. Davon ist in der Regel auszugehen, wenn der Antrag wie hier auf die Unterlassung eines künftigen Verwaltungsaktes gerichtet ist (vgl. zum Ganzen Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 123 Rn. 45). Nur wenn durch das Abwarten des Verwaltungsaktes bereits ein irreparabler Schaden droht, ist das Rechtsschutzbedürfnis des Antrags zu bejahen (Kuhla in BeckOK VwGO, Stand 1.7.2020, § 123 Rn. 45). Diese Voraussetzung liegt nicht vor. Sollte die Antragsgegnerin die vorbeugend beanstandeten Beschränkungen der Versammlung anordnen, kann der Antragsgegner voraussichtlich rechtzeitig um vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO nachsuchen. Die Antragsgegnerin hat ankündigt, den im Raum stehenden Bescheid noch im Lauf des 4. November 2020 zu erlassen.
Der Einwand des Antragstellers, im Zusammenhang mit dem Versammlungsgeschehen am 1. November 2020 sei es ihm nicht möglich gewesen, effektiven Rechtsschutz zu erlangen, kann nicht nachvollzogen werden. In beiden Eilverfahren ergingen Entscheidungen beider Rechtszüge (vgl. insoweit VG München, B.v. 31.10.2020 - M 13 S 20.5546; B.v. 31.10.2020 - M 13 S 20.5551; VGH München, B.v. 1.11.2020 - 10 CS 20.2449 - sowie B.v. 1.11.2020 - 10 CS 20.2450). Auch die Behauptung, in den genannten Verfahren vor dem Verwaltungsgericht seien die Schriftsätze der Antragsteller der Antragsgegnerin infolge Zeitmangels vor Erlass der Beschlüsse des Verwaltungsgerichts nicht zugestellt worden, trifft nicht zu.
II.
Im Übrigen wären die Anträge jedenfalls unbegründet.
1. Gemäß Art. 15 Abs. 1 BayVersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet wäre. Nach § 7 Abs. 1 8. BayIfSMV hat die zuständige Behörde, soweit dies im Einzelfall erforderlich ist, durch Beschränkungen nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG sicherzustellen, dass bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel im Sinne des BayVersG zwischen allen Teilnehmern ein Mindestabstand von 1,5 m gewahrt, dass Körperkontakte, auch mit Dritten, vermieden werden und dass die von der Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auch im Übrigen auf ein vertretbares Maß beschränkt bleiben. Jedenfalls ab 200 Teilnehmern ist in der Regel Maskenpflicht anzuordnen. Erforderlichenfalls ist die Versammlung zu verbieten. Diese Bestimmung konkretisiert die versammlungsrechtliche Befugnisnorm des Art. 15 BayVersG auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite, soweit die von Versammlungen unter freiem Himmel ausgehenden Infektionsgefahren in Rede stehen (BayVGH, B.v. 19.9.2020 - 10 CS 20.2103 - juris Rn. 7). Eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung liegt bei einer Sachlage vor, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge den Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt (vgl. Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 1. Aufl. 2016, § 15 Rn. 53). Die hierbei anzustellende Gefahrenprognose erfordert hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte, bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus (vgl. BayVGH, U.v. 10.7.2018 - 10 B 17.1996 - juris Rn. 26). Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt grundsätzlich bei der Behörde (vgl. BVerfG, B.v. 12.5.2010 - 1 BvR 236/04 - juris Rn. 19 m.w.N.).
3. Ein Anordnungsanspruch des Antragstellers darauf, dass die Antragsgegnerin es unterlässt, für die Teilnehmer der Versammlung eine Maskenpflicht anzuordnen, ist nicht gegeben. Nach § 7 Abs. 1 Satz 3 8. BayIfSMV ist bei Versammlungen zur Gewährleistung der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit jedenfalls ab einer Teilnehmerzahl von 200 Personen in der Regel Maskenpflicht anzuordnen.
Soweit der Antragsteller hiergegen sinngemäß einwendet, „Störer“ i.S. des § 28 Abs. 1 Satz 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nur nachweislich an Covid-19 Erkrankte bzw. potenzielle Überträger vermehrungsfähiger Viren, ist die Kammer weiterhin der Ansicht, dass § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG auch Eingriffe in die Rechte der Allgemeinheit zulässt (vgl. BayVGH, B.v. 11.9.2020 - 10 CS 20.204 - juris Rn. 27; Martini/Thiessen/Ganter, NJOZ 2020, 929, 932 m.w.N.).
Es ist auch nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin bei der Beurteilung der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit einer Versammlung die vom Bayerischen Landesamt für Lebensmittel und Gesundheit ausgewiesene sog. 7-Tages-Inzidenz für das Stadtgebiet der Landeshauptstadt M. sowie die Risikobewertung des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu Covid-19 berücksichtigt. Der Einwand des Antragstellers, positive PCR-Virusnachweise genügten nicht für die Feststellung einer übertragbaren Erkrankung im Sinn des 5. Abschnitts des IfSG, übersieht, dass die Risikobewertung der RKI nicht allein auf die bloßen durch PCR-Tests ermittelten „Fallzahlen“ gestützt wird, sondern auf eine Vielzahl weiterer Indikatoren. In die Gesamteinschätzung des RKI fließen neben der Anzahl positiv getesteter Personen auch die Entwicklung der gemeldeten Fälle, das Schwereprofil der Krankheitsverläufe und die Ressourcenbelastung des Gesundheitswesens in Deutschland und anderen Ländern ein (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Hiervon ausgehend stellt das RKI in seinem aktuellen Lagebericht zu Covid-19 eine zunehmende Beschleunigung der Übertragungen des Virus in der Bevölkerung in Deutschland fest. Die Anzahl der Kreise mit einer hohen 7-Tage-Inzidenz steige an. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten Fälle von Covid-19 habe sich in den vergangenen zwei Wochen fast verdreifacht (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-03-de.pdf). Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass das RKI weiterhin von einer ernsten und dynamischen Gefährdungssituation ausgeht (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Das Vorbringen des Antragstellers, das lediglich einzelne Aspekte der Risikobewertung herausgreift, gibt keinen hinreichenden Anlass, diese Risikobewertung im Rahmen eines versammlungsrechtlichen Eilverfahrens infrage zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 1.11.2020 - 10 CS 20.2449 - Rn. 17).
3. Ein Anordnungsanspruch darauf, dass die Antragstellerin von der Verpflichtung der Versammlungsteilnehmer absieht, einen Mindestabstand untereinander und zu Dritten einzuhalten, scheidet schon deshalb aus, weil sich diese Pflicht unmittelbar aus § 7 Abs. 1 Satz 1 8. BayIfSMV ergibt. Soweit die Antragstellerin diese Verpflichtung im Rahmen eines auf Art. 15 Abs. 1 BayVersG gestützten Bescheides noch einmal wiederholt, handelt es sich um einen bloßen Hinweis auf die Rechtslage, der die Rechtsstellung des Antragstellers nicht berührt (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Aufl. 2016, Teil III Rn. 24).
4. Auch eine etwaige Begrenzung der Teilnehmerzahl der Versammlung kann nicht von vornherein als rechtswidrig angesehen werden. Die Th.-wiese zeichnet sich zwar durch ein großes Platzangebot aus und bietet grundsätzlich auch bei Einhaltung von infektionsschutzrechtlich vorgebeben Mindestabständen genügend Raum für Versammlungen mit hoher Teilnehmerzahl. Dies gilt allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass geeignete Infektionsschutzmaßnahmen getroffen und eingehalten werden. Aufgrund der Erfahrungen mit früheren Versammlungen, die der „Querdenken“-Bewegung zuzurechnen waren, muss jedoch aus Sicht der Kammer weiterhin damit gerechnet werden, dass es bei hinsichtlich Teilnehmer, Organisatorenkreis und Versammlungsthema vergleichbaren Anlässen in erheblichem Umfang zu Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit durch den Eintritt infektionsschutzrechtlich unerwünschter Zustände kommen kann, sollte keine Beschränkung der Teilnehmerzahl angeordnet werden. Dies gilt vorliegend umso mehr, als der Veranstalter kein Sicherheits- oder Hygienekonzept vorgelegt hat, das geeignet wäre, diesbezügliche Bedenken auszuräumen, sondern die Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen von vornherein ablehnt.
III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG.
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Tenor
Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 1. September 2020 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Zurückstellungsbescheid des Antragsgegners vom 17. Juni 2020 wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 14.250 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde der Beigeladenen ist begründet. Auf der Grundlage der von der Beigeladenen fristgerecht dargelegten Gründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ist der angefochtene Beschluss zu ändern und der Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Zurückstellungsbescheid des Antragsgegners vom 17. Juni 2020 abzulehnen.
3Dieser Bescheid, mit dem die Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin vom 11. Februar 2020 auf Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Windenergieanlage des Typs Enercon E‑147 EP5 mit einer Leistung von 4.300 kW, einer Nabenhöhe von 155,10 m und einem Rotordurchmesser von 147 m in Q. , Gemarkung E. , Flur , Flurstücke , , und , für die Dauer von elf Monaten ausgesetzt worden ist, erweist sich bei der hier allein gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig (dazu I.). Ausgehend davon überwiegend das Interesse der Beigeladenen an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (dazu II.).
4I. Der Zurückstellungsbescheid ist voraussichtlich rechtmäßig. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB liegen vor; das Vorhaben der Antragstellerin ist geeignet, die weitere Durchführung der Planung der Beigeladenen wesentlich zu erschweren (dazu 1.). Dem steht nicht entgegen, dass das Einvernehmen der Beigeladenen zum Vorhaben der Antragstellerin nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB als erteilt gilt und dass sich das Vorhaben in einer Konzentrationszone für die Windenergienutzung des derzeit geltenden Flächennutzungsplans befindet (dazu 2.). Dasselbe gilt für den Umstand, dass ein Vorsorgeabstand zwischen Windenergieanlage und Wohnbebauung anders berechnet werden kann, als die Beigeladene es überlegt, und das Vorhaben der Antragstellerin nach anderer Berechnung außerhalb des Vorsorgeabstands stehen könnte (dazu 3.). Der Zurückstellungsbescheid des Antragsgegners weist auch keine Ermessensfehler auf (dazu 4.).
51. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB lagen hier im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides vor. Im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses war (und ist noch) zu befürchten, dass die Durchführung der Planung der Beigeladenen durch das Vorhaben der Antragstellerin unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde, weil das Vorhaben der Antragstellerin möglicherweise innerhalb eines von der Beigeladenen erwogenen Vorsorgeabstands zwischen Windenergieanlagen und Wohnbebauung errichtet würde.
6a) Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB hat die Baugenehmigungsbehörde auf Antrag der Gemeinde die Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 für einen Zeitraum bis zu längstens einem Jahr nach Zustellung der Zurückstellung des Baugesuchs auszusetzen, wenn die Gemeinde beschlossen hat, einen Flächennutzungsplan aufzustellen, zu ändern oder zu ergänzen, mit dem die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 erreicht werden sollen, und zu befürchten ist, dass die Durchführung der Planung durch das Vorhaben unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde.
7Die Befürchtung, dass die Flächennutzungsplanung mit dem Ziel der Ausweisung von Konzentrationszonen für Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB mit der Wirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde, besteht, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das zur Genehmigung gestellte Vorhaben der gemeindlichen Planung – nach dem jeweiligen Stand des Planungsverfahrens und gemessen an der Planungskonzeption und den Planzielen – widerspricht oder dass ein solcher Widerspruch zumindest möglich ist. Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn die nach der Planung künftig zulässige Nutzung des Grundstücks, auf dem das Vorhaben durchgeführt werden soll, nicht geklärt ist. Um eine Sicherung der Planung schon in einem möglichst frühen Planungsstadium zu ermöglichen, sind an den Nachweis des Sicherungserfordernisses keine besonders hohen Anforderungen zu stellen. Bloße Vermutungen reichen allerdings nicht aus. Das Mindestmaß an planerischen Vorstellungen der Gemeinde kann sich nicht nur aus den Niederschriften über Gemeinderatssitzungen, sondern auch aus allen anderen erkennbaren Unterlagen und Umständen ergeben.
8Bei der Prüfung des Sicherungserfordernisses sind die Besonderheiten, die Windenergiekonzentrationsflächenplanungen in der Regel gegenüber Bebauungsplänen aufweisen, zu berücksichtigen. Konzentrationszonenplanungen zielen konzeptionell neben der positiven Vorrangwirkung der Darstellung von Konzentrationsflächen insbesondere auf die den übrigen Außenbereich betreffende negative Ausschlusswirkung nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB. Dazu ist ein schlüssiges Gesamtkonzept für den gesamten Außenbereich zu entwickeln, das alle relevanten Belange in der Abwägung berücksichtigt. Dieser Abwägungsprozess ist durch eine Offenheit gekennzeichnet, die im Verlaufe der Planung häufig zu einer Veränderung der Konzentrationsflächen führt, sei es, dass die Flächen verkleinert oder vergrößert werden, sei es, dass die Flächen verschoben oder geteilt werden, sei es, dass Flächen ganz aufgegeben oder neu gebildet werden.
9Um geeignete Konzentrationsflächen sachgerecht zu ermitteln, wird eine Gemeinde häufig Gutachter heranziehen. Wenn ein Gemeinderat beschließt, Windenergiekonzentrationszonen im Flächennutzungsplan auszuweisen, dürfte ein solcher Aufstellungs- oder Änderungsbeschluss daher regelmäßig im Wesentlichen (nur) das Ziel enthalten, überhaupt Konzentrationszonen darzustellen (und damit die Errichtung von Windenergieanlagen an anderen Stellen nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB grundsätzlich auszuschließen). Konkretere Angaben können zu einem solchen Zeitpunkt von einer Gemeinde bzw. von deren Rat grundsätzlich nicht verlangt werden, weil bei der Planung der gesamte Außenbereich des Gemeindegebietes in den Blick zu nehmen ist.
10Die Genehmigung von Windenergieanlagen vor Abschluss einer solchen Planung kann die wirksame Umsetzung des planerischen Gesamtkonzepts in Frage stellen. Dies gilt auch dann, wenn sich am geplanten Standort oder in der Umgebung bereits andere Windenergieanlagen befinden. Eine Gefährdung der gemeindlichen Flächennutzungsplanung hinsichtlich des negativen Planungsziels ist schon dann zu befürchten, wenn es nach dem jeweiligen Stand der Planung aufgrund objektiver Anhaltspunkte möglich erscheint, dass das Vorhabengrundstück außerhalb der Konzentrationsflächen liegen wird. Ein Vorhaben gefährdet das negative Planungsziel erst dann nicht (mehr), wenn es hinreichend verlässlich innerhalb einer Konzentrationsfläche liegen wird. Entscheidend sind jeweils die Umstände des Einzelfalls. Ein Sicherungsbedürfnis nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB liegt trotz ausreichender Konkretisierung der Planung allerdings dann nicht vor, wenn es sich um eine reine Verhinderungsplanung handelt. Die Frage, ob ein solches Sicherungserfordernis besteht, ist gerichtlich voll überprüfbar.
11Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Beschlüsse vom 26. April 2018 - 8 B 362/18 -, juris Rn. 5 ff., und vom 2. Juni 2015 - 8 B 178/15 -, juris Rn. 16 ff., jeweils m. w. N.
12b) Gemessen an diesen Vorgaben ist das Vorhaben der Antragstellerin i. S. v. § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB geeignet, die begonnene Planung der Beigeladenen unmöglich zu machen oder wesentlich zu erschweren, auch wenn sich der Standort des Masts und der überwiegende Teil des Rotors in einer in dem insoweit wirksamen Flächennutzungsplan derzeit ausgewiesenen Vorrangzone für die Nutzung der Windenergie befinden.
13Der Ausschuss für Bauen, Planen und Umwelt des Rates der Beigeladenen hat am 16. Januar 2020 die Grundentscheidung getroffen, das Bauleitplanverfahren zur Aufstellung der 146. Änderung des Flächennutzungsplans zur Ausweisung von Windkraftkonzentrationszonen mit der Steuerungswirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB auf dem Gebiet der Beigeladenen einzuleiten. Anlass war das Urteil des 2. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 2019 - 2 D 63/17.NE -, mit dem die 125. Änderung des Flächennutzungsplans der Beigeladenen insoweit für unwirksam erklärt wurde, als mit der Änderung die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB herbeigeführt werden sollen. Der 2. Senat des beschließenden Gerichts hat einen Abwägungsmangel darin gesehen, dass der Rat der Beigeladenen weite Teile des Außenbereichs, nämlich insbesondere Waldgebiete, zu Unrecht den harten Tabukriterien zugeordnet und die Wahl der weichen Tabus zumindest nicht hinreichend begründet habe. So war im Rahmen der 125. Änderung ein Vorsorgeabstand von 1.000 m für neu geplante Vorrangzonen gegenüber Siedlungsbereichen als weiches Tabukriterium berücksichtigt worden; für die damals bereits bestehenden Vorrangzonen sollte hingegen ein Vorsorgeabstand von 750 m eingehalten werden. In der Begründung der Sitzungsvorlage für die Ausschusssitzung am 16. Januar 2020 heißt es u. a., die Vorsorgeabstände für die im Regionalplan dargestellten Allgemeinen Siedlungsbereiche seien auf den Prüfstand zu stellen. Ausweislich der öffentlichen Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Bauen, Planen und Umwelt vom 16. Januar 2020 (dort unter 7. ab S. 6) sind die Abstände von Windenergieanlagen zur Wohnbebauung thematisiert worden, insbesondere im Bereich der Ortschaft E. , in deren Nähe bereits zahlreiche Windenergieanlagen stehen und auch das Vorhaben der Antragstellerin eine Bestandsanlage ersetzen soll. Die Beigeladene hat deutlich gemacht, dass sie sich die Möglichkeit offenhalten will, im Rahmen der 146. Änderung des Flächennutzungsplans die bislang abwägungsfehlerhaft als harte Tabuzonen bewerteten Flächen erneut zu überprüfen und einen (einheitlichen) Vorsorgeabstand von 1.000 m zur nächsten Wohnbebauung zu berücksichtigen.
14Die Flächennutzungsplanung der Beigeladenen war zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zurückstellungsantrag am 17. Juni 2020 im Hinblick auf das frühe Verfahrensstadium und die Komplexität des Planungsverfahrens hinreichend konkretisiert. Weitergehende Planungen und Konkretisierungen konnten zu diesem Zeitpunkt nicht verlangt werden. Dem Ausschuss lagen bei seiner Beschlussfassung am 16. Januar 2020 Pläne zu harten Tabuzonen sowie zu artenschutzrechtlich relevanten Gebieten und Waldflächen jeweils betreffend das gesamte Gemeindegebiet vor. Mit dem Zurückstellungsantrag vom 22. April 2020 hatte die Beigeladene mitgeteilt, derzeit werde der gesamte Außenbereich auf seine Eignung für die Ausweisung von Windkraftkonzentrationszonen untersucht. Vor allem die Waldflächen, die Naturschutzgebiete und die im Regionalplan dargestellten Bereiche für den Schutz der Natur müssten vertiefend untersucht werden. Vorsorgeabstände für die im Regionalplan dargestellten Allgemeinen Siedlungsbereiche seien zu prüfen und dabei die Flächenpotenziale hinsichtlich ihrer tatsächlichen Entwicklung zu bewerten. Auch Pufferzonen zu Schutzgebieten und eine Mindestgröße potentieller Vorrangzonen müssten hinterfragt werden. All dies erfordere umfassende Untersuchungen.
15Wie der bei der Planung zu berücksichtigende Vorsorgeabstand konkret bemessen werden soll, insbesondere ob er von der Rotorblattspitze oder von der Mitte des Mastfußes gemessen werden soll, war zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht konkretisiert und musste dies zu diesem frühen Stadium der Neuplanung auch noch nicht sein. Davon ausgehend ist es plausibel, wenn die Beigeladene in ihrem Zurückstellungsantrag vom 22. April 2020 (dort S. 3, Ende des 3. Absatzes) ausgeführt hat, es sei derzeit nicht absehbar, ob sich die beantragte Windenergieanlage [der Antragstellerin] auch künftig vollständig innerhalb einer wirksamen Windkonzentrationszone befinde. Dass die Beigeladene auch nach dem inzwischen erreichten Planungsstand keinesfalls ausschließen möchte, die konkreten Grenzen der mit der 125. Änderung ausgewiesenen Vorrangzonen zu überprüfen sowie ggf. zu verändern und den in Erwägung gezogenen Vorsorgeabstand ab der Rotorblattspitze zu berechnen, ergibt sich auch aus ihrer Beschwerdebegründung vom 22. September 2020 (dort S. 8 unten).
16Im Übrigen ist die Gemeinde letztlich auch nicht verpflichtet, jede nach der abschnittsweise erfolgten Ausarbeitung des Plankonzepts verbleibende Potenzialfläche als Konzentrationszone auszuweisen. Die Einzelfallentscheidung für oder gegen die Windenergienutzung auf den verbleibenden Potenzialflächen zählt zum Bereich der Abwägung.
17Vgl. Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 3. Aufl. 2019, Rn. 87 ff. (90).
18Selbst bei grundsätzlicher – nach dem Planungsstand zum maßgeblichen Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung noch nicht feststehender – Beibehaltung der bisherigen Vorrangzone würde das Vorhaben der Antragstellerin mit einem Teil des Rotors einen etwaigen 1.000 m-Abstand zwischen dem Ende der Rotorblattspitze und der nächsten Wohnbebauung (Allgemeines Wohngebiet im Osten der Ortslage E. ) um 75 m unterschreiten. Würde es vor Abschluss der 146. Änderung des Flächennutzungsplans realisiert, würde die planerische Möglichkeit der Beigeladenen, mittels Konzentrationszonen für die Windenergienutzung einen solchen generellen Vorsorgeabstand zu gewährleisten, dadurch wesentlich erschwert.
19Es ist auch nicht erkennbar, dass die Beigeladene nur eine vordergründige Planung betrieben hätte. Nachdem der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 17. Januar 2019 - 2 D 63/17.NE - die Ausschlusswirkung der vormaligen Konzentrationszonenplanung im Flächennutzungsplan für unwirksam erklärt und das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 4 BN 30.19 - zurückgewiesen hatte, bestand aller Anlass für die Beigeladene, den Bau von Windenergieanlagen in ihrem Gemeindegebiet durch eine erneute Änderung des Flächennutzungsplans zu steuern. Da solche Planungsverfahren sehr komplex sind und im Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides die dafür relevanten Aspekte bereits im Auftrag der Beigeladenen ermittelt wurden, deutet auch der seit dem Aufstellungsbeschluss vergangene Zeitraum nicht auf eine bewusst verzögerte Planung hin.
202. Dem angegriffenen Zurückstellungsbescheid steht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht entgegen, dass das gemeindliche Einvernehmen der Beigeladenen zum Vorhaben der Antragstellerin nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB als erteilt gilt und sich das Vorhaben der Antragstellerin in einer Konzentrationszone für die Windenergienutzung des noch geltenden Flächennutzungsplans befindet.
21Das Recht – und die Pflicht – der Gemeinde, ihre Bauleitpläne in eigener Verantwortung aufzustellen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB), wird durch die Erteilung des Einvernehmens zu einem konkreten Bauvorhaben nicht berührt. Die Gemeinde darf ihre Bauleitpläne immer dann aufstellen, wenn es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB). Dabei kommt es in erster Linie auf die Sicht der Gemeinde selbst an. Sie darf die städtebauliche Entwicklung in ihrem Gemeindegebiet bestimmen und sich dabei grundsätzlich von „gemeindepolitischen“ Motiven, die sich jederzeit ändern können, leiten lassen. Dem steht die Einvernehmensregelung des § 36 BauGB nicht entgegen. Zwar besteht der Zweck der Gemeindebeteiligung im Baugenehmigungsverfahren nach § 36 BauGB nicht allein darin, der Gemeinde die Möglichkeit zu einer eigenen Beurteilung des Vorhabens auf der Grundlage der gegenwärtigen planungsrechtlichen Rechtslage zu geben. Die Gemeinde soll vielmehr auch Gelegenheit erhalten, aus Anlass eines konkreten Bauantrags ihre Bauleitplanung zu ändern und zu ihrer Sicherung mit den Mitteln der §§ 14 und 15 BauGB ein bisher planungsrechtlich zulässiges Vorhaben zu verhindern. Mit der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB steht ihr hierfür ausreichend Zeit zur Verfügung. Die Gemeinde verliert ihre Planungsbefugnis jedoch nicht, wenn sie auf der Grundlage der bestehenden Rechtslage gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB ihr Einvernehmen erteilt oder wenn es nach Ablauf von zwei Monaten gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB als erteilt gilt. Eine gesetzliche Regelung, nach der die Einvernehmenserklärung zum Verlust der Planungsbefugnis führt, gibt es nicht. Auch aus § 36 BauGB lässt sich kein Planungsverbot herleiten. Denn diese Vorschrift gilt für die Zulassung von Vorhaben; die Aufstellung von Bauleitplänen ist nicht Gegenstand der Regelung des § 36 BauGB. Im Übrigen würde die Rechtsauffassung, dass die Gemeinde wegen der Erteilung ihres Einvernehmens das betroffene Grundstück nicht mehr überplanen dürfe, auch zu praktisch nicht lösbaren Problemen führen. Denn im Ergebnis wäre es der Gemeinde oft nicht mehr möglich, städtebaulich sinnvolle Plangebiete festzulegen, wenn sie bestimmte Grundstücke aus der Planung herausnehmen müsste.
22Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Februar 2004 - 4 CN 16.03 -, juris Rn. 23 f.
23Für eine Veränderungssperre nach § 14 BauGB hat das Bundesverwaltungsgericht im eben genannten Urteil weiter Folgendes ausgeführt (Rn. 25):
24„Stellt also das tatsächlich oder fiktiv erteilte Einvernehmen der Gemeinde zu einem konkreten Bauvorhaben kein Hindernis für die Bauleitplanung der Gemeinde dar, so kann allerdings die Einvernehmenserteilung im Einzelfall Auswirkungen auf die materielle Rechtmäßigkeit eines ihm inhaltlich widersprechenden Bebauungsplans haben. Durch die Erteilung des Einvernehmens erlangt der Bauantragsteller eine Position, die die Gemeinde im Rahmen ihrer Bauleitplanung berücksichtigen muss. Der Zweck der Fristenregelung des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB besteht nämlich nicht nur darin, das Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Vielmehr dient die Vorschrift vornehmlich dem Schutz des Bauantragstellers. Er darf darauf vertrauen, dass über eine Teilfrage des Genehmigungsverfahrens innerhalb der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB Klarheit geschaffen wird. Deshalb kann die Erteilung des Einvernehmens auch nicht widerrufen oder zurückgenommen werden; denn dies würde dem Sinn der Vorschrift widersprechen, innerhalb der Frist klare Verhältnisse über die Einvernehmenserklärung der Gemeinde zu schaffen […]. Werden die Belange eines Bauherrn, zu dessen Bauvorhaben die Gemeinde gerade erst ihr unwiderrufliches Einvernehmen erklärt hat, bei der Planung nicht ausreichend berücksichtigt, so kann der Bebauungsplan an einem Abwägungsfehler leiden. Für die Wirksamkeit einer zur Sicherung des Bebauungsplans erlassenen Veränderungssperre kommt es darauf jedoch grundsätzlich nicht an. Denn in der Regel lässt sich die Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplans vor Beendigung des Planaufstellungsverfahrens nicht abschließend beurteilen. Potenzielle Rechtsmängel des künftigen Bebauungsplans können deshalb nur dann (ausnahmsweise) zur Unwirksamkeit der Veränderungssperre führen, wenn bereits sicher ist, dass sie dem Bebauungsplan unvermeidbar anhaften müssen.“
25Wegen der vergleichbaren Zielrichtung von Veränderungssperre nach § 14 BauGB und Zurückstellung nach § 15 BauGB (Sicherung der gemeindlichen Planungshoheit),
26vgl. BVerwG, Urteil vom 26. März 2015 - 4 C 1.14 -, juris Rn. 11 (zu § 15 BauGB); Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Mai 2020, § 14 BauGB Rn. 1, § 15 Rn. 3,
27gilt Entsprechendes für das Zurückstellungsverfahren.
28Ausgehend davon und da die Beigeladene ihr Einvernehmen mit Blick auf die geltende Rechtslage nicht hätte verweigern dürfen, ist sie nicht wegen des fingierten Einvernehmens an einer Planung gehindert, die bestehenden Konzentrationszonen in ihrem Flächennutzungsplan in einer Weise zu verändern, insbesondere zu verkleinern, dass sich das Vorhaben der Antragstellerin künftig außerhalb einer bisherigen Konzentrationszone befände. Das fingierte Einvernehmen der Beigeladenen, die Lage des Vorhabens in einer Konzentrationszone des geltenden Flächennutzungsplans und der Umstand, dass es sich um ein Repoweringvorhaben handelt, mögen zwar Aspekte sein, die bei der späteren Abwägungsentscheidung über die konkrete Änderung des Flächennutzungsplans zu berücksichtigen sein werden. Dabei ist der erstinstanzlich thematisierte Vertrauensschutz der Antragstellerin wegen des fingierten Einvernehmens hier aber dadurch eingeschränkt, dass die Beigeladene innerhalb der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB die Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB beantragt hat. Bei der Prüfung eines Zurückstellungsbescheides geht es zudem grundsätzlich nicht darum, im Einzelnen zu beurteilen, unter welchen konkreten Voraussetzungen die von der Gemeinde bisher nur erwogene Flächennutzungsplanung abwägungsfehlerfrei wird erfolgen können, sondern um die Frage, ob objektive Anhaltspunkte für die Gefährdung einer bestimmten Planung bestehen und ob diese Planung aus bestimmten Gründen von vorn herein zum Scheitern verurteilt ist. Daher galten für die Beigeladene im vorliegenden frühen Planungsstadium auch keine erhöhten Begründungsanforderungen im Vergleich zu anderen Zurückstellungsanträgen. Sie musste nicht – und damit unter unzulässiger Vorwegnahme der im Planungsverfahren erst nach Beteiligung der Öffentlichkeit (§ 3 BauGB) und der Behörden (§ 4 BauGB) durchzuführenden Abwägung – bereits in ihrem Zurückstellungsantrag näher erläutern und begründen, wie sie die Belange der Antragstellerin und sonstige Umstände, die bei einer Änderung einer bestehenden Konzentrationszone zu berücksichtigen sind, in eine Abwägung zu einem künftigen Flächennutzungsplan angemessen einbeziehen würde.
29Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine Änderung der Konzentrationszone nordöstlich der Ortschaft E. dergestalt, dass das Vorhaben der Antragstellerin nicht mehr innerhalb dieser Konzentrationszone läge, in jedem Fall mit Sicherheit rechtswidrig wäre, sind nicht ersichtlich. Das Vorhaben der Antragstellerin soll im Randbereich der Konzentrationszone verwirklicht werden, der sich am nächsten an der Ortschaft E. befindet, deren Schutz vor einer „Umfassungswirkung“ durch Windenergieanlagen in der Ausschusssitzung thematisiert worden ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Plangeber die Grenze der bestehenden Konzentrationszone weiter weg von der Ortschaft E. verschiebt und der Windenergienutzung durch Ausweisung oder Erweiterung von Konzentrationszonen an anderer Stelle im Gemeindegebiet insgesamt substantiellen Raum verschafft. Auch der Umstand, dass es sich um ein Repowering handelt, schließt eine solche Planung nicht in jedem Fall aus.
303. Das Vorhaben der Antragstellerin ist auch nicht deswegen ungeeignet, die Planung der Beigeladenen zu beeinträchtigen, weil ein Vorsorgeabstand – wie die Antragstellerin geltend macht – nicht zwingend von der Rotorblattspitze ausgehen muss, sondern auch von der Mitte des Mastfußes aus berechnet werden kann, was § 249 Abs. 3 Satz 2 BauGB in der Fassung des Gesetzes vom 8. August 2020 (BGBl. I S. 1728) vorsieht. Diese Vorschrift trat erst am 14. August 2020 in Kraft und galt im Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides noch nicht. Sie enthält eine Ermächtigung für den Landesgesetzgeber, von der in Nordrhein-Westfalen bisher kein Gebrauch gemacht worden ist. Ob und ggf. mit welchem Inhalt dies künftig erfolgt und wie sich dies auf einen möglicherweise vorher beschlossenen Flächennutzungsplan auswirkt, ist gegenwärtig offen.
31Außerdem würde eine landesgesetzliche Einführung von Mindestabständen (nur) zur Entprivilegierung von Windenergievorhaben innerhalb der Abstandsflächen führen.
32Vgl. Grigoleit/Operhalsky/Strothe, UPR 2020, 321 ff. (unter B. III.).
33Vorhaben jenseits der Mindestabstände blieben privilegierte Vorhaben, könnten aber – wie bisher auch – durch Darstellungen von Konzentrationszonen im Flächennutzungsplan mit Ausschlusswirkung gesteuert werden. Solange der Windenergienutzung insgesamt substantieller Raum verbleibt und alle abwägungsrelevanten Belange angemessen berücksichtigt werden, dürfte es der Beigeladenen im Rahmen ihrer gemeindlichen Planungshoheit daher grundsätzlich freistehen, bei Aufstellung eines Flächennutzungsplans Vorsorgeabstände zwischen Windenergieanlagen und Wohnbebauung von der Rotorblattspitze aus zu berechnen. Anhaltspunkte dafür, dass die in einem anderen rechtlichen Zusammenhang stehende Regelung in § 249 Abs. 3 BauGB eine auch bei der Flächennutzungsplanung zu berücksichtigende zwingende Vorgabe zur Bemessung des Abstands enthalten könnte, sind nicht ersichtlich.
344. Die nur nach Maßgabe von § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich zu überprüfende Ermessensentscheidung des Antragsgegners zur Dauer der Zurückstellung, die Entscheidung über den Genehmigungsantrag elf Monate lang zurückstellen, lässt keine Ermessensfehler erkennen. Mit Blick auf die vorstehend dargestellte Komplexität des Aufstellungsverfahrens erscheint dieser Zeitraum, bei dessen Bemessung der Antragsgegner den Zeitraum für die Bearbeitung des Zurückstellungsantrags als faktische Zurückstellung berücksichtigt hat, erforderlich und verhältnismäßig.
35II. Ausgehend davon überwiegt das – im Übrigen auch vom Antragsgegner in dem angefochtenen Bescheid den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO entsprechend begründete – Interesse der Beigeladenen an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Würde das Vorhaben bereits jetzt genehmigt, könnte das eine nachhaltige Einengung der Planungsfreiheit zur Folge haben, die die Beigeladene nach der § 15 Abs. 3 BauGB zugrunde liegenden gesetzlichen Wertung vorerst nicht hinzunehmen hat.
36Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig. Diese hat sich durch Stellung eines Antrags im Verfahren erster Instanz und durch Einlegung der Beschwerde einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt.
37Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Der Senat bewertet die Bedeutung des die Zurückstellung des Genehmigungsantrags betreffenden Hauptsacheverfahrens mit 1 % der Investitionssumme (hier nach den Angaben der Antragstellerin: 2.850.000 Euro). Der sich danach ergebende Betrag ist im Hinblick auf die Vorläufigkeit des Verfahrens zu halbieren (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013).
38Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. April 2018 ‑ 8 B 362/18 -, juris Rn. 35 f., m. w. N.
39Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5 und 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 27.082,88 Euro und – unter entsprechender Änderung der verwaltungsgerichtlichen Festsetzung von Amts wegen – für das Klageverfahren erster Instanz für die Zeit bis zur teilweisen Klagerücknahme auf 32.082,88 Euro und für die Zeit danach (ebenfalls) auf 27.082,88 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Der Antrag des Klägers hat keinen Erfolg.
3I. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie darauf, ihn dienst-, besoldungs- und versorgungsrechtlich so zu stellen, als ob er nicht mit Ablauf des 30. September 2015 in den Ruhestand versetzt worden wäre, im Wesentlichen mit folgender Begründung abgewiesen. Die als allgemeine Leistungsklage zulässige Klage sei hinsichtlich beider Klageanträge unbegründet. Dem vom Kläger geltend gemachten beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruch stehe § 46 BeamtVG entgegen.
4Der beamtenrechtliche Schadensersatzanspruch finde seinen Rechtsgrund im Beamtenverhältnis und begründe einen unmittelbar gegen den Dienstherrn gerichteten Ersatzanspruch für Schäden, die aus einer Verletzung der aus dem Beamtenverhältnis folgenden Pflichten entstünden. Als im öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis wurzelndes und insofern "quasi-vertragliches" Institut gewährleiste der beamtenrechtliche Schadensersatzanspruch Sekundärrechtsschutz für Pflichtverletzungen aus dem Beamtenverhältnis, wie dies § 280 Abs. 1 BGB für vertragliche Schuld-verhältnisse vorsehe. Der beamtenrechtliche Schadensersatzanspruch sei ursprünglich auf Verletzungen der Fürsorgepflicht bezogen gewesen, aber nachfolgend auch auf andere Pflichtverletzungen ausgedehnt worden. Dem Grunde nach trage diese Anspruchsgrundlage die vom Kläger begehrte Rechtsfolge. Ob deren Voraussetzungen vorlägen, könne aber offen bleiben. Dem Anspruch stehe § 46 BeamtVG entgegen. Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG habe der verletzte Beamte aus Anlass eines Dienstunfalles gegen den Dienstherrn nur die in den §§ 30 bis 43a BeamtVG geregelten Ansprüche. Weitergehende Ansprüche auf Grund allgemeiner gesetzlicher Vorschriften könnten gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG gegen einen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn im Bundesgebiet oder gegen die in seinem Dienst stehenden Personen nur dann geltend gemacht werden, wenn der Dienstunfall durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung einer solchen Person verursacht worden (Nr. 1) oder bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten sei (Nr. 2). Der beamtenrechtliche Schadensersatzanspruch begründe einen weitergehenden Anspruch auf Grund allgemeiner gesetzlicher Vorschriften im Sinne dieser Vorschrift. Der Dienstunfall vom 24. April 2013 sei nicht durch eine vorsätzliche Handlung einer im Dienst eines öffentlich-rechtlichen Dienstherrn stehenden Person verursacht worden. Er sei selbst bei Annahme einer unsachgemäßen Befestigung des Haltegriffs allenfalls grob fahrlässig verursacht worden. Der Dienstunfall habe sich auch nicht bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr, sondern in unmittelbarer Verrichtung der Dienstgeschäfte ereignet. Der in § 46 Abs. 1 und 2 BeamtVG geregelten Ausschluss sei verfassungsgemäß. Insoweit schließe die Kammer sich der Begründung des Bundesverfassungsgerichts in dem Beschluss vom 8. Januar 1992 – 2 BvL 9/88 –, juris, Rn. 33 ff. an. Diese Erwägungen beanspruchten weiterhin Gültigkeit.
5II. Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Dabei bedeutet „darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Oktober 2013– 1 A 106/12 –, juris, Rn. 2, m. w. N.; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194 m. w. N.
7Hiervon ausgehend rechtfertigt das – fristgerechte – Zulassungsvorbringen des Klägers in der Antragsbegründungsschrift vom 26. November 2018 die begehrte Zulassung der Berufung nicht.
81. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
9Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt. Der Rechtsmittelführer muss darlegen, warum die angegriffene Entscheidung aus seiner Sicht unrichtig ist. Dazu muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen und konkret aufzeigen, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen sie ernstlichen Zweifeln begegnen. Er muss insbesondere die konkreten Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art benennen, die er mit seiner Rüge angreifen will. Diesen Darlegungsanforderungen wird (beispielsweise) nicht genügt, wenn und soweit sich das Vorbringen in einer Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrags erschöpft, ohne im Einzelnen auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung einzugehen.
10Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2018 – 1 A 249/16 –, juris, Rn. 2 ff.
11Das Zulassungsvorbringen zeigt keine solchen durchgreifenden ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung auf.
12Der Kläger trägt insoweit im Wesentlichen vor, schon die Grundannahme des Verwaltungsgerichts, dass die Haftungsbegrenzung aus § 46 Abs. 1 und 2 BeamtVG auch beamtenrechtliche Schadensersatzansprüche erfasse, begegne grundsätzlichen Bedenken. Die Auslegung des Verwaltungsgerichts werde den grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 3 Abs. 1 GG nicht gerecht. Es sei daher im Wege der verfassungskonformen Auslegung davon auszugehen, dass die Haftungsbegrenzung des § 46 Abs. 1 Satz 1 und 2 BeamtVG Ersatzansprüche nach dem Rechtinstitut des beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruchs nicht erfasse. Die Anwendung der Ausschlussregel führe zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber Arbeitnehmern in öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen und sonstigen Dritten. Eine sachliche Rechtfertigung ergebe sich auch nicht aus den vom Verwaltungsgericht zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts. Gerade der vorliegende Fall zeige, dass einem Beamten schadensersatzrechtlich kausal (im Sinne einer „conditio sine qua non“) auf einer dem Dienstherrn zurechenbaren fahrlässigen Handlung beruhende, erhebliche Schäden entstehen könnten, die durch die gewährten Unfallfürsorgeleistungen nicht ansatzweise abgedeckt und kompensiert würden. Dies gelte insbesondere, wenn es dem betroffenen Beamten – wie hier – nicht gelinge, nachzuweisen, dass die zur Zurruhesetzung führende Dienstunfähigkeit nach dem besonderen dienstunfallrechtlichen Kausalitätsmaßstab auf dem Dienstunfall beruhe und deshalb kein Unfallruhegehalt gezahlt werde. Die Haftungsbegrenzung auch für – im Zeitpunkt der Normierung des § 46 BeamtVG im Übrigen noch gar nicht entwickelte – beamtenrechtliche Schadensersatzansprüche führe zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Privilegierung des Dienstherrn, die wegen des Fehlens eines adäquaten Ausgleichs der erheblichen Schäden auch nicht durch die Besonderheiten des Beamtenverhältnisses gerechtfertigt werden könne. Im Übrigen betreffe die vom Verwaltungsgericht zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht die vorliegende Fallkonstellation, sondern beziehe sich auf die Geltendmachung von Schmerzensgeld, nicht auf Besoldungs- und Versorgungsausfallschäden. Für letztere fehle es aber an einem angemessenen Ausgleich der Schäden durch das Unfallfürsorgerecht jedenfalls in den Fällen, in denen kein Anspruch auf Unfallruhegehalt bestehe.
13Hiermit dringt der Kläger nicht durch. Dass die Anspruchsbegrenzung des § 46 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG auf Leistungen der Unfallfürsorge mit dem Grundgesetz, insbesondere mit den Gewährleistungen des Art. 3 Abs. 1 GG, vereinbar ist, steht entgegen der Annahme des Klägers aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eindeutig fest. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seiner – mit Gesetzeskraft versehenen und in der Entscheidung vom 8. Januar 1992 ausdrücklich in Bezug genommenen – Entscheidung vom 22. Juni 1971 – 2 BvL 10/69 –, juris, Rn. 26 bis 32 zu der (mit § 46 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BeamtVG weitgehend inhaltsgleichen) Vorschrift des (damaligen) § 91a SVG festgestellt, dass der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG durch den dort normierten Ausschluss weitergehender Ansprüche (als der im Soldaten- und Beamtenversorgungsgesetz geregelten) nicht verletzt werde, und zwar auch dann nicht, wenn der Geschädigte aufgrund des allgemeinen Schadensersatzanspruchs betragsmäßig besser gestellt würde. Die innere Berechtigung der Regelung sei darin zu sehen, dass der Bund Versorgungsansprüche unabhängig vom Verschulden der beteiligten Personen zu gewähren habe, dass diese Versorgungsansprüche im Gesetz so umschrieben seien, dass ihre Höhe im Einzelfall (infolge der Pauschalierung) leicht und sofort berechenbar sei und dass auf Grund dieser klaren Rechtslage der Geschädigte ohne Verzögerung in den Genuss der Leistung komme. Das Soldatenversorgungsrecht biete einen – allerdings pauschalierten – Ausgleich des erlittenen Schadens und damit ein Äquivalent für die ausgeschlossenen allgemeinen Schadensersatzansprüche. Die entscheidende Begründung finde der Ausschluss in der Überlegung, dass der Bund durch die Versorgung der beschädigten Soldaten und ihrer Hinterbliebenen nach dem Soldatenversorgungsgesetz im Hinblick auf das zwischen ihm und dem Soldaten bestehende Treue- und Fürsorgeverhältnis in jedem Fall einen sofort wirksamen, angemessenen Ausgleich des Schadens gewährleiste, ohne dass es auf eine Haftung nach allgemeinem Schadensersatzrecht ankomme. Dass die Betroffenen im Einzelfall weniger erhalten würden, als ihnen auf Grund allgemeiner Schadensersatzansprüche zustünde, ergebe sich aus dem notwendig pauschalierenden und typisierenden Charakter der Versorgungsansprüche, die auf der anderen Seite auch höher ausfallen könnten, weil etwa das Mitverschulden des Geschädigten unberücksichtigt bleibe. Die Versorgungsansprüche würden rasch und ohne langwierigen Rechtsstreit erbracht. Die Regelungen dienten außerdem dem Rechtsfrieden innerhalb des Beamtenverhältnisses. Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem o. g. Beschluss vom 8. Januar 1992 (juris, Rn. 48 und 49) für den Ausschluss nach der Vorschrift des § 46 BeamtVG ausdrücklich bestätigt. Dies betrifft, anders als der Kläger meint, nicht nur – der Vorlagefrage entsprechend vom Bundesverfassungsgericht natürlich vorrangig angesprochene – Schmerzensgeldansprüche gegen den (eigenen) Dienstherrn. Das Bundesverfassungsgericht weist in Rn. 48 nämlich darauf hin, dass die dem Beamten auf der Grundlage der Fürsorgepflicht des Dienstherrn nach dem Beamtenversorgungsrecht zustehenden Ansprüche den durch die Regelung des § 46 BeamtVG bewirkten Ausschluss der allgemeinen Schadensersatzansprüche einschließlich des Anspruchs auf Schmerzensgeld aufwiegen würden (Hervorhebung durch den Senat).
14Nur ergänzend sei angemerkt, dass die vom Kläger gewünschte schadensersatzrechtliche Besserstellung von Beamten, die – wie er – kein Unfallruhegehalt nach § 36 BeamtVG erhalten, weil es in ihrem Fall an der spezifischen dienstunfallrechtlichen Kausalität fehlt (bzw. sie diese nicht nachgewiesen haben), dann zu einer ungerechtfertigten und ersichtlich sachwidrigen Schlechterstellung der Beamten führen würde, die eine solche Kausalität nachweisen konnten, wenn diese – so wohl die Vorstellung des Klägers – trotz der engeren Verbindung zwischen Dienstunfall, Dienstunfähigkeit und Zurruhesetzung auf den Anspruch auf Unfallruhegehalt begrenzt wären.
15Ist es verfassungsrechtlich gerechtfertigt, dass der Geschädigte infolge der Anspruchsbegrenzung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 BeamtVG verfassungsrechtlich unbedenklich selbst eine finanzielle Schlechterstellung hinnehmen muss, besteht kein Anlass für die vom Kläger gewünschte verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift. Auch der Umstand, dass die Anspruchsbeschränkung nach § 46 Abs. 1 BeamtVG zeitlich von vor der Rechtsentwicklung des beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruchs datiert, rechtfertigt keine andere Einschätzung. § 46 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG bestimmt eine Begrenzung der aus Anlass eines Dienstunfalls verletzten Beamten ausschließlich auf Unfallfürsorgeansprüche. Diese Grundsatzentscheidung ist schon vom Wortlaut her uneingeschränkt und erfasst daher prinzipiell sämtliche alternativen Ansprüche, ohne Rücksicht auf den Rechtsgrund oder die Art des Anspruchs.
16Vgl. Plog/Wiedow, Bundesbeamtengesetz, Stand September 2020, § 46 BeamtVG Rn. 45.
17Wollte der Gesetzgeber den beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruch von dieser umfassenden, unbeschränkten Anspruchsbegrenzung ausnehmen, müsste er das unzweideutige Gesetz entsprechend ändern.
18Nach alledem bedarf es keiner Entscheidung, ob die Annahme des Verwaltungsgerichts zutrifft, beamtenrechtliche Schadensersatzansprüche könnten nach Maßgabe des § 46 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG von der Anspruchsbegrenzung des § 46 Abs.1 Satz 1 BeamtVG ausgenommen werden. Diese Annahme könnte deshalb zweifelhaft sein, weil dieser Anspruch gerade im Beamtenverhältnis gründet und damit jedenfalls nicht evident auf „allgemeinen“ (im Sinne von jedermann betreffenden) gesetzlichen Vorschriften beruht.
192. Die Berufung ist auch nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten zuzulassen.
20Schwierigkeiten solcher Art liegen vor, wenn der Ausgang des Rechtsstreits aufgrund des Zulassungsvorbringens bei summarischer Prüfung als offen erscheint. Dies ist der Fall, wenn das Zulassungsvorbringen – etwa wegen der Komplexität der betroffenen Tatsachen- bzw. Rechtsfragen – Anlass zu solchen Zweifeln gibt, welche sich nicht schon ohne Weiteres im Zulassungsverfahren, sondern erst in einem Berufungsverfahren mit der erforderlichen Sicherheit klären und entscheiden lassen.
21Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 27. Februar 2018– 1 A 2072/15 –, juris, Rn. 40, und vom 13. Februar 2018 – 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 28 m. w. N.
22Das Vorbringen des Klägers lässt derartige besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten nicht erkennen. Die verfassungsrechtlichen Fragen lassen sich– entgegen der Annahme des Klägers – auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantworten.
233. Die Berufung ist schließlich auch nicht wegen der vom Kläger geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
24Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung des Zulassungsgrundes ist die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird. Ist die aufgeworfene Frage eine Rechtsfrage, so ist ihre Klärungsbedürftigkeit nicht schon allein deshalb zu bejahen, weil sie bislang nicht obergerichtlich oder höchstrichterlich entschieden ist. Nach der Zielsetzung des Zulassungsrechts ist vielmehr Voraussetzung, dass aus Gründen der Einheit oder Fortentwicklung des Rechts eine obergerichtliche oder höchstrichterliche Entscheidung geboten ist. Die Klärungsbedürftigkeit fehlt deshalb, wenn sich die als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage entweder schon auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts nach allgemeinen Auslegungsmethoden oder aber (ggf. ergänzend) auf der Basis bereits vorliegender Rechtsprechung ohne weiteres beantworten lässt.
25Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. August 2018– 1 A 2092/16 –, juris, Rn. 34, und vom 13. Februar 2018 – 1 A 2517/16 –, juris, Rn. 32.
26In Anwendung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht vor. Die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam erachteten Rechtsfragen,
27ob bei der gebotenen verfassungskonformen Auslegung, insbesondere im Hinblick auf die Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 G auch Ersatzansprüche nach dem Rechtsinstitut des beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruchs den Haftungsbegrenzungstatbeständen nach § 46 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BeamtVG mit der dort normierten Haftungsbegrenzung auf vorsätzliches Handeln unterfallen,
28und,
29ob diese Haftungsbegrenzungsvorschriften – ihre grundsätzliche Anwendbarkeit auf den beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruch unterstellt bei verfassungskonformer Auslegung nur für Schmerzensgeldansprüche oder auch für Schadensersatzansprüche, die auf den Ausgleich von Besoldungs- und Versorgungsausfallschäden gerichtet sind, und letzteres auch dann, wenn der betroffene Beamte kein Unfallruhegehalt nach § 36 BeamtVG erhält, weil ihm gemessen an den unfallrechtlichen Kausalitätsmaßstäben der Nachweis nicht gelingt, dass die Zurruhesetzung auf die im Zuge des Dienstunfalls erlittenen Gesundheitsschäden zurück zu führen ist,
30weisen keine grundsätzliche Bedeutung auf. Auch sie können ohne weiteres auf der Grundlage der Gesetzessystematik und mit Hilfe der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung beantwortet werden.
31Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 39 Abs. 1, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG. Hinsichtlich des Klageantrags zu 2. ist der Streitwert – wie auch vom Verwaltungsgericht angenommen – in entsprechender Anwendung der Grundsätze des sog. Teilstatus zu bestimmen. Streitwertbestimmend ist danach die 24fache monatliche wertmäßige Differenz zwischen dem Status, welchen der Kläger – im Wege des Schadensersatzes – begehrt (hier: Bezüge aus einem aktiven Dienstverhältnis) und dem Status, welchen der Kläger inne hat (hier: Versorgungsbezüge aufgrund der Zurruhesetzung mit Ablauf des 30. September 2015). Die insoweit maßgeblichen (Brutto-)Werte mit Stand 1. Oktober 2015 sind der „Festsetzung der Versorgungsbezüge nach dem Beamtenversorgungsgesetz“ vom 22. Februar 2016 (Gerichtsakte, Blatt 65 f.) zu entnehmen (Summe der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge: 2.759,46 Euro; Zahlbetrag der Versorgungsbezüge: 1.839,34 Euro). Danach errechnet sich der Streitwert wie folgt: 24 x (2.759,46 Euro – 1.839,34 Euro) = 22.082,88 Euro. Dem hinzuzurechnen ist für den Klageantrag zu 3. der Auffangwert nach § 52 Abs. 2 GKG in Höhe von 5.000,00 Euro.
32Die Festsetzung für das Verfahren erster Instanz ist nach § 63 Abs. 3 GKG entsprechend anzupassen, wobei es hinsichtlich des Klageantrags zu 1. (für die Zeit vor der Klagerücknahme) bei dem von dem Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Auffangwert bleibt.
33Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird unter Abänderung der erstinstanzlichen Wertfestsetzung für beide Rechtszüge auf 5.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die Beschwerde ist unbegründet. Die auf die dargelegten Gründe beschränkte Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigt nicht deren Abänderung.
3Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass der vorgenommenen Verteilung in die Aufnahmeeinrichtung C. zwingende Gründe i.S. von § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG nicht entgegenstehen. Das dagegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift nicht durch.
4Nach § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG ist zwingenden Gründen, die der Verteilung an einen bestimmten Ort entgegenstehen, bei der Verteilung Rechnung zu tragen, wenn sie vor Veranlassung der Verteilung nachgewiesen werden. Derartige Gründe sind – neben der im Gesetz beispielhaft aufgeführten Haushaltsgemeinschaft zwischen Ehegatten oder Eltern und ihren minderjährigen Kindern – immer dann gegeben, wenn höherrangiges Recht der vorgenommenen Verteilung entgegensteht. Eine derartige Konstellation wird mit der Beschwerdebegründung nicht dargelegt.
5Der von der Stadt L. aufgestellte Hilfeplan für die Antragstellerin zu 2., der nach abgeschlossenen In-Obhut-Nahmen gemäß §§ 42, 42a SGB VIII Sozialpädagogische Familienhilfe gemäß § 31 SGB VIII zunächst bis zum 12. Januar 2021 vorsieht, steht der erfolgten Verteilung nicht entgegen, weil weder dargelegt noch ersichtlich ist, dass dementsprechende Hilfen nur in L. und nicht auch nach der Verteilung geleistet werden können. Die dadurch ggf. eintretende Verzögerung der weiteren Hilfegewährung ist im vorliegenden Zusammenhang rechtlich unerheblich.
6Die Beziehung der Ast. zu 2. zu ihrer Stiefmutter Frau N. , der Lebensgefährtin des Ast. zu 1., hindert die Verteilung ebenfalls nicht. Unabhängig von dem Umstand, dass die Ast. zu 2. mit dieser nicht einmal verwandt ist, ist zu berücksichtigen, dass die Ast. zu 2. sich nach ihrer Einreise ins Bundesgebiet nach dem Vortrag der Antragsteller bei einer Tante aufgehalten hat. Auch nach den im "Erstaufnahmebogen" des Jugendamtes der Stadt L. vom Februar 2020 wiedergegebenen Äußerungen der Ast. zu 2. dürfte eine räumliche Nähe zu Frau N. für das Kindeswohl nicht dringend erforderlich sein. Insbesondere findet sich dort nicht die in der Beschwerdeschrift zitierte Wertung der Beziehung durch die Ast. zu 2. Frau N. lebt überdies nach einer Bescheinigung des L1. Flüchtlingsrat E.V. vom 11. Mai 2020 mit einer Aufenthaltsgestattung in J. . Die Frau N. durch den Ast. zu 1. erteilte Vollmacht für Bereiche der elterlichen Sorge (Behördenangelegenheiten, Gesundheitsfürsorge, schulische Angelegenheiten) ändert nichts an dessen fortbestehendem Sorgerecht.
7Auf einen zwingenden Grund führt – unabhängig von dem fehlenden Verwandtschaftsverhältnis zwischen den in Rede stehenden Personen – auch nicht die Bescheinigung der Malteser Hilfsdienste e.V. Dr. C1. vom 16. Juni 2020, nach der der Ast. zu 1. die Blutzuckermessung, Insulingabe, Medikamentenrichtung und Einnahmekontrolle für Frau N. übernimmt. Lebt Frau N. nach der oben angeführten Bescheinigung vom 11. Mai 2020 in J. , ist ohne eine Information über erfolgte Umzüge schon nicht nachvollziehbar, wie der in L. wohnhafte Ast. zu 1. diese Unterstützung tatsächlich leisten kann. Abgesehen davon ist davon auszugehen, dass der Unterzeichner der Bescheinigung vom 16. Juni 2020 nicht aus eigener Wahrnehmung von der in Rede stehenden Unterstützung Kenntnis hat, sondern dass er insoweit auf Angaben des Ast. zu 1. oder der Frau N. vertraut hat, ohne deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
8Die Schulaufnahme der Ast. zu 2. am 26. Oktober 2020 ist verteilungsrechtlich ohne Belang.
9Soweit vorgetragen wird, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb eine für die Ast. zu 2. bestehende Wohnsitzauflage für L. unberücksichtigt geblieben sei und die Antragsteller zunächst der Erstaufnahmeeinrichtung N1. zugewiesen und dann in die Erstaufnahmeeinrichtung in C. verteilt worden seien, fehlt es an der gebotenen Darlegung, weshalb diese Umstände die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verteilung in Frage stellen sollen.
10Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 GKG. Die Änderungsbefugnis beruht auf § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.
11Aus gegebenem Anlass ist im Hinblick auf die Streitwertpraxis des Verwaltungsgerichts in Verfahren der vorliegenden Art auf Folgendes hinzuweisen:
12Nach § 52 Abs. 1 GKG ist u.a. in Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen, soweit nichts anderes bestimmt ist. Gemäß § 52 Abs. 2 GKG ist ein Streitwert von 5.000 Euro anzunehmen, wenn der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte bietet.
13§ 52 Abs. 2 GKG kommt danach zur Anwendung, wenn eine Bemessung des Streitwerts nach § 52 Abs. 1 GKG nicht in Betracht kommt. Von dieser Konstellation gehen das Bundesverwaltungsgericht und neben dem Senat auch die Mehrzahl der übrigen Oberverwaltungsgerichte im Falle eines Rechtsstreits um eine Verteilungsentscheidung nach § 15a AufenthG aus. In einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist dieser Streitwert zu halbieren.
14Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. August 2016 – 1 B 44.16 –, juris Rn. 9; BayVGH, Beschluss vom 27. Mai 2019 – 10 CS 19.678 –, juris Rn. 10; SächsOVG, Beschluss vom 21. Februar 2019 – 3 E 5/19 –, juris Rn. 7; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. August 2018 – OVG 2 S 7.18,OVG 2 M 5.18 –, juris Rn. 15; OVG Hamburg, Beschluss vom 27. August 2015 – 1 Bs 159/15 –, juris Rn. 13; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 7. Oktober 2014 – 2 L 152/13 –, juris Rn. 20.; vgl. auch Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs.
15Die von der Kammer zitierte Rechtsprechung des OVG Bremen,
16Beschluss vom 21. Oktober 2016 – 1 S 249/16 –, juris R. 7 f.,
17gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Betrachtung. Richtig ist zwar, dass nach dem zitierten Streitwertkatalog der volle Auffangwert für Klageverfahren anzusetzen ist, die einen Aufenthaltstitel oder eine Ausweisung betreffen. Dies bedeutet aber nicht, dass für Klageverfahren betreffend eine Verteilungsentscheidung ein geringerer Streitwert angesetzt werde dürfte, weil diese lediglich eine zuständigkeitsrechtliche Vorfrage beträfen.
18So aber OVG Bremen, a.a.O. Rn. 7.
19Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 52 Abs. 2 GKG ist unter den dort genannten Voraussetzungen der Auffangwert anzusetzen. Dies hat zur Konsequenz, dass dieser – kommt eine Bemessung des Streitwerts nach § 52 Abs. 1 GKG nicht in Betracht – für Verfahren ganz unterschiedlicher Art maßgeblich ist. Eine Abstufung des Streitwerts kommt im Rahmen von § 52 Abs. 2 GKG – anders als bei § 52 Abs. 1 GKG – vorbehaltlich der auf einer breiten Anwendungspraxis beruhenden Ausnahmen im Streitwertkatalog nicht in Betracht. Dementsprechend wird nach allgemeiner Meinung bei der Streitwertfestsetzung auch nicht etwa nach der Art eines begehrten Titels differenziert, obgleich diese – wie etwa der Vergleich zwischen einer Niederlassungserlaubnis und einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zeigt – von ganz unterschiedlichem Gewicht sein können. Abgesehen davon fügt sich die von der überwiegenden Rechtsprechung praktizierte Streitwertbemessung in Verteilungsstreitigkeiten ohne Weiteres in die Streitwertpraxis in vergleichbaren Verfahren betreffend Wohnsitzauflagen und räumliche Beschränkungen ein, bei denen der Streitwert ebenfalls auf 5.000 Euro/2.500 Euro festgesetzt wird.
20Vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Juni 2016 – 1 C 5.16 –, juris Rn. 3; OVG NRW, Urteil vom 21. November 2013 – 18 A 1291/13 –; NdsOVG, Beschluss vom 17. Mai 2016 – 8 LA 40/16 –, juris; OVG Bremen, Urteil vom 6. Mai 2020 – 2 B 158/19 –, juris Rn. 14; BayVGH, Beschluss vom 9. September 1999 – 10 ZE 99.2606 –, juris Rn. 4.
21Im Ergebnis nichts anderes gilt, wenn man für die Streitwertfestsetzung im vorliegenden Fall mit dem Verwaltungsgericht und dem von diesem zitierten Oberverwaltungsgericht von § 52 Abs. 1 GKG ausgehen wollte.
22Eine Bestimmung der Bedeutung der Sache für den Kläger/Antragsteller in vergleichender Orientierung am Auffangstreitwert in Verfahren betreffend die Erteilung eines Aufenthaltstitels scheidet aus, weil die jeweiligen Streitgegenstände wesensverschieden und deshalb eine Abstufung zwischen ihnen nicht möglich ist.
23Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin vom 28.10.2020 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 14.10.2020 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beschwerdeführerin.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
1Gründe:
2I.
3Die privatversicherte Beschwerdeführerin begehrt im Wege der einstweiligen Verfügung, der Beschwerdegegnerin aufzugeben, mit ihr einen Behandlungsvertrag zur Abklärung und gegebenenfalls notwendigen Therapie der Diagnose „unklare Raumforderung linken Niere mit rezidivierenden Schmerzen in linken Flanke; in 33. Schwangerschaftswoche“ einzugehen, ohne von ihr die Mitwirkung bzw. die Hinnahme einer körperlichen Untersuchung zur Feststellung einer Infektion mit dem SARS-CoV-2 oder einer Erkrankung an COVID-19 zu verlangen.
4Bei der Beschwerdegegnerin handelt es sich um die Trägerin eines Krankenhauses mit mehreren Standorten im hiesigen Gerichtsbezirk.
5Die Beschwerdeführerin, die sich im Zeitpunkt der Antragstellung in der 33. Schwangerschaftswoche befand, begab sich am 22.09.2020 wegen starker Schmerzen in der linken Niere in die Notaufnahme des Klinikums E1. Die dortige Behandlerin empfahl die dringende urologische Abklärung. Die Klägerin wurde in das Knappschaftskrankenhaus T1 verbracht. Die Beklagte ist Trägerin dieser Einrichtung.
6Die Behandler der Beklagten teilten der Beschwerdeführerin mit, dass sie zur weiteren Aufklärung und ggf. zur Therapie stationär aufgenommen werden solle. Die Beschwerdeführerin wurde aufgefordert, sich einer körperlichen Untersuchung zur Feststellung einer Infektion mit dem SARS-CoV-2 oder einer Erkrankung an COVID-19 zu unterziehen, was diese ablehnte. Infolge der Verweigerung des Testes musste die Beschwerdeführerin die Einrichtung verlassen.
7Der ambulant behandelnde Urologe stellte unter dem 24.09.2020 eine Verordnung von Krankenhausbehandlung aus. Als Diagnose ist dem Vordruck „Unklare RF linke Niere mit rez. Schmerzen in linke Flanke in 33 SSW“ zu entnehmen. Der nterpunkt Fragestellung/Hinweise enthält den Eintrag „Bitte um die Abklärung ggf. Therapie“ (vgl. Bl. 34 der Akte).
8Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, dass die Beschwerdegegnerin die Aufnahme bzw. die Behandlung nicht verweigern könne. Dass sie den Test verweigere, sei zulässig. Es fehle an einer Anspruchsgrundlage. Der Test sei auch nicht wirksam. In diesem Zusammenhang behauptet sie unter Bezugnahme auf einen Bericht der Stiftung Corona-Ausschuss zum SARS-CoV2 und die Lockdown-Folgen vom 14.09.2020 (vgl. Bl. 6 ff. der Akte), dass die verwendeten Testkits nicht in der Lage seien, eine Infektion festzustellen. Sie würden lediglich eine Aussage darüber treffen, ob sie einen zuvor definierten DNA-(Teil-)Strang wiedererkennen. Hieraus lasse sich jedoch keine verbindliche Aussage über eine für eine Infektion notwendige Viruslast herleiten.
9Das Amtsgericht hat den Erlass einer einstweiligen Verfügung mit der Begründung abgelehnt, dass kein Anspruch auf Abschluss eines Behandlungsvertrages ohne die Durchführung des verlangten Tests bestehe. Nach § 5 der Coronaschutzverordnung NRW hätten die Krankenhäuser die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Eintrag von Coronaviren zu erschweren und Patienten und Personal zu schützen. Dies rechtfertige das Durchführen eines solchen Testes. Die Beschwerdegegnerin habe ihr Ermessen insoweit in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Etwaige Nachteile aufgrund des Testes seien nicht dargetan oder ersichtlich. Ohnehin liege der Wohnsitz der Beschwerdeführerin nicht im Versorgungsgebiet der Beschwerdegegnerin. Auch sei eine Eilbedürftigkeit nicht ersichtlich. Diese folge auch nicht aus dem Umstand der fortschreitenden Schwangerschaft. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der angegriffenen Entscheidung wird auf die Begründung des angefochten Beschlusses (vgl. Bl. 86 ff. der Akte) sowie auf den Nichtabhilfebeschluss vom 02.11.2020 (vgl. Bl. 99 der Akte) Bezug genommen.
10Mit der Beschwerdeschrift vom 14.10.2020 (eingegangen am selben Tag) wiederholt und vertieft die Beschwerdeführerin das bisher erfolgte Vorbringen.
11II.
12Die sofortige Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
13(1.)
14Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 567 Absatz 1 Nr. 2, 569 ZPO statthaft und zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt worden.
15(2.)
16In der Sache hat die sofortige Beschwerde jedoch keinen Erfolg. Das Amtsgericht hat den Antrag auf Erlass der beantragten einstweiligen Verfügung zu Recht zurückgewiesen.
17(a.)
18Vorliegend fehlt es bereits am erforderlichen Verfügungsanspruch, §§ 940, 935 ZPO.
19Unter Berücksichtigung der im einstweiligen Verfügungsverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung besteht kein Anspruch auf Abschluss eines Behandlungsvertrages bzw. auf Fortsetzung (der am 23.09.2020 begonnen Behandlung).
20Zwar folgt der grundsätzliche Kontrahierungszwang der Beschwerdegegnerin und die damit einhergehende allgemeine Aufnahme- und Behandlungspflicht aus ihrer Einbindung in ein öffentlich-rechtliches Planungs- und Finanzierungssystem im Rahmen ihrer planerischen Aufgabenstellung und Leistungsfähigkeit, sofern bei einem Patienten Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit besteht (Laufs/Kern/Rehborn ArztR-HdB, § 79 Rn. 46). Dies gilt auch unabhängig vom Versichertenstatus des Patienten und damit auch für die Beschwerdeführerin als Privatversicherte. Indes gilt die Aufnahmepflicht/besteht ein Kontrahierungszwang – worauf das Amtsgericht zutreffend hinweist – nicht unbeschränkt. Dies folgt bereits aus den gesetzlichen Grundlagen, §§ 630b, 626 Abs. 1 BGB. So sind Behandlungsverträge aus wichtigem Grund unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der beiderseitigen Interessen jederzeit fristlos kündbar. Für die Phase der Vertragsanbahnung bedeutet dies, dass für den Fall, dass bereits vor Vortragsschluss ein Recht zur Kündigung bestünde, der Vertrag schon nicht geschlossen werden muss.
21Vorliegend besteht ein wichtiger Grund, weil sich die Beschwerdeführerin weigert, an Maßnahmen zur Testung auf SARS-CoV-2 oder einer Erkrankung an COVID-19 mitzuwirken.
22Das Verlangen der Beschwerdegegnerin stellt sich auch nicht als willkürlich oder gar sittenwidrig dar. Die abverlangte Testung verfolgt in jeder Hinsicht nachvollziehbare und begründete Motive. Sie dient dem Schutz der Mitpatienten und der Mitarbeiter der Beschwerdegegnerin vor einer möglichen Infektion und zur Aufrechterhaltung des Krankenhausbetriebes. Diese besondere Schutzplicht wurde der Beschwerdegegnerin im Übrigen auch aufgrund der derzeit geltenden öffentlichen Vorschriften, so z.B. der des IfSG und der darauf basierenden Vorschriften, wie der CoronaSchutzVO NRW, auferlegt. Nach § 5 Abs. 1 CoronaSchutzVO haben Krankenhäuser nämlich die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Eintrag von Coronaviren zu erschweren und Patienten, Bewohner und Personal zu schützen. Hierbei sind insbesondere die Richtlinien und Empfehlungen des RKI zu beachten. Dazu gehört – dies erschließt sich bereits ohne besondere wissenschaftliche Fachkenntnisse – auch die Testung von Personal und Patienten, um wiederum andere in der Einrichtung tätige oder zu behandelnde Personen vor der Übertragung zu schützen (vgl. Ausführungen des RKI zur nationalen Teststrategie (www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Teststrategie/ Nat-Teststrat.html, abgerufen am 03.11.2020). Dieses Vorgehen verfolgt zudem den übergeordneten Zweck, zu Zeiten der Pandemie die Zahl der Erkrankten möglichst niedrig zu halten, um die vorhandenen Behandlungskapazitäten aufrechtzuerhalten und nicht gänzlich auszuschöpfen. Letztlich würde die Wirksamkeit des Vorgehens unterminiert, wenn die Beschwerdegegnerin verpflichtet wäre, die Beschwerdeführerin ohne Testung aufzunehmen.
23Dass die Beschwerdeführerin die Wirksamkeit der verwendeten Testkits anzweifelt, führt ebenfalls nicht dazu, dass das Ablehnungsrecht der Beschwerdegegnerin entfallen würde. Die vorgelegte Stellungnahme ist schon nicht geeignet, die Unwirksamkeit der verwendeten Tests (gemeint sind wohl PCR-Tests) glaubhaft zu machen. Es kann auch dahinstehen, ob das Gremium, welches den Bericht erstellt hat, über eine entsprechende medizinische Expertise verfügt. Denn nach den hier einschlägigen Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes (vgl. § 4 IfSG) und der CoronaSchutzVO NRW ist das Robert-Koch-Institut die hier maßgebliche Institution zur Beurteilung der entsprechenden medizinischen Fragestellungen. Die PCR-Testung ist durch das RKI anerkannt und empfohlen (vgl. Ausführungen des RKI zur nationalen Teststrategie, a.a.O).
24Soweit die Beschwerdeführerin eine fehlende Anspruchsgrundlage für die Testung beanstandet, geht dies fehl. Dass die Beschwerdegegnerin einen solchen Test verlangen kann, ergibt sich aus §§ 630 a, 241 Abs. 2 BGB bei bestehendem Behandlungsvertrag und vor dessen Abschluss aus §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB.
25Auch in Abwägung der beiderseits bestehenden Interessen, stellt sich das Verhalten der Beschwerdeführerin als so schwerwiegend dar, dass von der Beschwerdegegnerin weder eine Aufnahme/noch eine Fortsetzung des Behandlungsvertrages verlangt werden kann. Es kann insofern auch dahinstehen, ob noch Kapazitäten, sowohl in räumlicher als auch in personeller Hinsicht zur vorbeugenden Isolation der Beschwerdeführerin zur Verfügung stehen. Denn auch unter Berücksichtigung der Interessen der Beschwerdeführerin an ihrer Gesundheit und die ihres ungeborenen Kindes besteht zu Zeiten der Pandemie eine Pflicht zur Aufnahme ohne Test nicht bei jeder denkbar möglichen Behandlungsbedürftigkeit, sondern nur bei unmittelbar bestehender Lebensgefahr. Ein solcher Zustand besteht aber offensichtlich nicht und ist auch nicht glaubhaft gemacht.
26(b.)
27Auch ein Verfügungsgrund besteht im Ergebnis nicht.
28Es kann hier offenbleiben, ob und in welchem Umfang von der Beschwerdeführerin verlangt werden kann, den Grad der Dringlichkeit der begehrten medizinischen Behandlung darzulegen/glaubhaft zu machen und ob eine solche Dringlichkeit sich nicht bereits aufgrund der fortschreitenden Schwangerschaft und dem Schutz des noch ungeborenen Lebens ergibt. In Gesamtschau und unter besonderer Abwägung der hier bestehenden Interessenlage ist die Vereitelung eines möglichen Behandlungsanspruches, welcher nicht aufgrund einer akut bestehenden Lebensgefahr gegeben ist, zugunsten des allgemeinen Gesundheitsschutzes – während einer Pandemie – hinzunehmen. Dies insbesondere deshalb, weil der PCR-Test, welcher im Abstrichverfahren durchgeführt wird (mag dies auch unangenehm sein) keinen derartig schwerwiegenden Eingriff in die körperliche Integrität der Beschwerdeführerin darstellt. Der Schutz der individuellen Integrität der Beschwerdeführerin tritt – jedenfalls im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes – hinter den Interessen der Beschwerdeführerin am Schutz ihrer Behandler und Mitpatienten sowie an der Aufrechterhaltung des Krankenhausbetriebes sowie im Hinblick auf ihre Pflichten bei der Pandemiebekämpfung und der Aufrechterhaltung der Behandlungskapazitäten zurück.
29(3.)
30Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
31(4.)
32Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen, § 574 Abs. 2 ZPO. Insbesondere hat die Sache weder grundsätzliche Bedeutung, noch dient sie zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.
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Tenor
Unter Berücksichtigung des hohen mit dem Verfahren verbundenen Aufwands für die Beteiligten, des durch die Zahl der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer erhöhten subjektiven Interesses an einer Entscheidung und der hohen objektiven Bedeutung der Angelegenheit für die Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>) wird der Gegenstandswert auf 500.000 Euro (in Worten: fünfhunderttausend Euro) festgesetzt.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
1Tatbestand:
2Die Klägerinnen begehren von dem Beklagten die Übernahme der Kosten, die ihnen anlässlich einer Konfirmationsfeier entstanden sind.
3Die am 00.00.1966 geborene Klägerin zu !) ist die Mutter der am 00.00.2005 geborenen Klägerin zu 2). Sie beziehen laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) bei dem beklagten Jobcenter.
4Aufgrund des Weiterbewilligungsantrags vom 18.03.2018 bewilligte der Beklagte der Klägerin zu 1) und der mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Klägerin zu 2) mit Bewilligungsbescheid vom 28.03.2018 Leistungen für den Bewilligungszeitraum vom 01.05.2018 bis 30.04.2019 (Bl. 41 ff. VV).
5Mit Schreiben vom 19.02.2019 beantragte die Klägerin zu 1) die Übernahme der anlässlich der Konfirmationsfeier der Klägerin zu 2) entstehenden Kosten (Bl. 77 VV). Die Klägerin zu 2) solle im Mai 2019 konfirmiert werden. Es sei weder Geld für eine festliche Kleidung (für beide) noch für die Feier im Restaurant vorhanden. Mit der Begründung, dass eine Nichtkonfirmierung oder ein Nichtfeiern aus finanziellen Gründen eine Ausgrenzung vom sozialen und christlichen Leben darstelle, bat sie den Beklagten um einen finanziellen Zuschuss.
6Mit Bescheid vom 07.03.2019 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerinnen ab. Es handele sich bei den Kosten der Konfirmationsfeier und der festlichen Kleidung nicht um übernahmefähige Kosten nach dem SGB II.
7Gegen den Bescheid legte die Klägerin zu 1) mit Schreiben vom 28.03.2019 Widerspruch ein (Bl. 92 VV).
8Mit Bewilligungsbescheid bewilligte der Beklagte aufgrund des Weiterbewilligungsantrags vom 05.04.2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.05.2019 bis 31.10.2019 (Bl. 114 ff. VV).
9Mit Widerspruchsbescheid vom 09.07.2019 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerinnen als unbegründet zurück und führte aus, dass es keine Anspruchsgrundlage für den zuschussweise geltend gemachten Bedarf gebe.
10Die Klägerinnen haben am 17.07.2019 form- und fristgerecht Klage erhoben. Zur Begründung führt die Klägerin zu 1) aus, dass sie ihre Tochter, die Klägerin zu 2), entsprechend ihres christlichen Glaubens erziehen und ihr die Werte und Traditionen der christlichen Gemeinschaft weitergeben wolle. Hierzu gehöre eine Konfirmation und eine dem Anlass entsprechende Feier, die sie nicht habe in ihrer kleinen Wohnung abhalten können. Auch für Bezieher von SGB II-Leistungen müsse eine angemessene Feier möglich sein, da jedes andere Ergebnis letztendlich zu einer Ausgrenzung bedürftiger Personen führen würde. Dies wiederum könne nicht mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 des Grundgesetzes (GG) im Einklang stehen. Die Klägerinnen machen Kosten für die Feier in Höhe von 616,42 Euro (Dekoration, Verköstigung etc.), für die Festkleidung der Klägerin zu 2) in Höhe von 126,82 Euro und für die Festkleidung der Klägerin zu 1) in Höhe von ca. 70,00 Euro geltend.
11Die Klägerin beantragt sinngemäß schriftsätzlich,
12den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 07.03.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.07.2019 zu verurteilen, ihr einen Zuschuss zu den anlässlich der Konfirmationsfeier entstandenen Kosten in Höhe von 813,24 Euro zu gewähren.
13Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
14die Klage abzuweisen.
15Der Beklagte verweist im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.
16Die Beteiligten sind mit Verfügung vom 15.09.2020 über die Absicht des Gerichts, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, in Kenntnis gesetzt worden. Sie haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
17Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte des Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.
18Entscheidungsgründe:
19Die Streitsache konnte gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da sie keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.
201. Die Klage ist zulässig. Bei den Kosten der Konfirmationsfeier in Höhe von 616,42 Euro und der Bekleidungskosten in Höhe von 126,82 Euro handelt es sich um individuelle Leistungsansprüche der Klägerin zu 2) (vgl. hierzu LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14.11.2013 – L 5 AS 175/12, Rn. 17 f., juris). Da auch die Klägerin zu 1) eigene Kosten für die Festkleidung in Höhe von 70,00 Euro geltend macht, ist auch sie (mit einem individuellem Leistungsanspruch) aktivlegitimiert.
212. Die Klage ist allerdings unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 07.03.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2019 ist rechtmäßig und beschwert die Klägerinnen nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Den Klägerinnen steht gegenüber dem Beklagten kein Anspruch auf zuschussweise Übernahme der entstandenen Kosten im Zusammenhang mit der Konfirmationsfeier zu.
22a. Die begehrte Übernahme der Kosten für die Festkleidung der Klägerin zu 1) und der Klägerin zu 2) kommt nicht nach § 24 Abs. 3 SGB II im Rahmen einer Erstausstattung für Bekleidung in Betracht.
23Nach § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II sind Bedarfe für Erstausstattungen für Bekleidung nicht vom Regelbedarf nach § 20 SGB II umfasst. Leistungen für diese Bedarfe werden nach Satz 2 gesondert erbracht.
24Leistungen der Erstausstattung für Kleidung kommen – neben den im Gesetz genannten Ereignissen wie Schwangerschaft und Geburt – bei außergewöhnlichen Umständen in Betracht. Solche Umstände mit dem Erfordernis der Erstausstattung für Bekleidung können entstehen nach einer Haft, bei Wohnungslosigkeit sowie bei starken Gewichtsschwankungen oder z.B. bei außergewöhnlichem Größenwachstum (vgl. Behrend, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 24 Rn. 71). Nach dem der Regelbedarfs- und Leistungsbemessung des SGB II zugrundeliegenden Konzept abschließend normierter Ansprüche zur Sicherung des Lebensunterhaltes ist grundsätzlich der gesamte Lebensunterhalt der Leistungsberechtigten, also auch einmaliger Sonderbedarf, aus dem Budget zu bestreiten (Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB, 07/19, § 24 SGB II Rn. 325 m.w.N.). Nur ausnahmsweise können über § 24 Abs. 3 SGB II Leistungen für sog. echte Sonderbedarfe erbracht werden, die bei vielen bzw. dem überwiegenden Teil der Leistungsberechtigten überhaupt nicht entstehen (Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 24 SGB II Rn. 326 und 328). Bei den Leistungen nach § 24 Abs. 3 SGB II handelt es sich um eine dem Individualisierungsgrundsatz Rechnung tragende Öffnungsklausel für Härtefälle, in denen die Unmöglichkeit der Bedarfsdeckung aus der Regelbedarfsleistung evident ist (Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 24 SGB II Rn. 328). Die Entstehung eines neuen Bekleidungsbedarfs ist allgemein anerkannt in Fällen von z.B. Totalverlust, Krankheit, Behinderung und Unfällen (vgl. Bender, in: Gagel, SGB II/SGB III, 78. EL Mai 2020, § 24 Rn. 61).
25Die von den Klägerinnen geltend gemachten Bekleidungskosten für eine dem Anlass einer Konfirmation entsprechende, würdige Bekleidung lässt sich mit diesen Fallgruppen allerdings nicht vergleichen. Die Klägerin zu 2) musste im Zusammenhang mit der Konfirmationsfeier insbesondere kein spezielles, für diesen Anlass passendes "Konfirmationskleid" anschaffen. Der Bedarf an einer würdigen und angemessenen Bekleidung weicht insofern nicht von dem einen jeden Leistungsempfänger treffenden allgemeinen Bedarf ab, eine für bestimmte Anlässe (Geburtstagsfeier, Hochzeitsfeier) feierliche bzw. von der Alltagsbekleidung abweichende Kleidung zu tragen. Eine solche Kleidung muss nach allgemeiner Lebenserfahrung auch bei den Klägerinnen vorhanden sein. Sofern dem nicht so ist, ist diese Bekleidung aus dem Regelbedarf zu finanzieren. Die Kleidung für eine Konfirmationsfier wird von der Erstausstattung nach § 24 Abs. 3 SGB II nach allgemeiner Auffassung nicht erfasst (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 23.04.2009 – L 11 AS 125/08, Rn. 28, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14.11.2013, a.a.O., Rn. 25 ff.; Blüggel, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 24 Rn. 105).
26b. Die Klägerinnen haben auch keinen Anspruch auf zuschussweise Übernahme der Kosten für die anlässlich der Konfirmationsfeier entstandenen Kosten (u.a. für Bekleidung und Bewirtung) als Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 6 SGB II. Nach dieser Vorschrift wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II).
27Diese Regelung erfasst denjenigen Bedarf, der nicht schon von den §§ 20 ff. SGB II abgedeckt wird, weil die Einkommens- und Verbrauchsstatistik, auf der die Regelleistung beruht, allein den Durchschnittsbedarf in üblichen Bedarfssituationen widerspiegelt, nicht aber einen darüber hinausgehenden, besonderen Bedarf aufgrund atypischer Bedarfslagen. Dieser entsteht allerdings erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem Leistungsberechtigten gewährten Leistungen – einschließlich der Leistungen Dritter unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten – das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet (Knickrehm/Hahn, in: Eicher/Luik, a.a.O., § 21 Rn. 63). Die Voraussetzungen dieser Anspruchsgrundlage sind nicht erfüllt.
28Es handelt sich zunächst nicht um einen besonderen Bedarf oder eine atypische Bedarfslage. Nach § 20 Abs. 1 SGB II umfasst die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Bedarfe des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben. Abs. 1 enthält dabei die nicht abschließende Liste der aus der Regelleistung zu deckenden Bedarfe. Denn die durch § 20 SGB II gewährten Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dienen grundsätzlich der Deckung des ohne die Besonderheit des Einzelfalles bei vielen Hilfeempfängern gleichermaßen bestehenden Bedarfs. Ausgehend hiervon lassen sich die anlässlich der Konfirmation entstehenden Kosten und ggf. auch die Kosten für die Ausrichtung einer Konfirmationsfeier unter die Regelleistung des § 20 SGB II subsumieren, denn dieser Bedarf besteht bei vielen Hilfeempfängern gleichermaßen (zur vergleichbaren Problematik bei einer Einschulungsfeier vgl. SG Berlin, Beschluss vom 19.07.2006 – S 106 AS 6175/06 ER, Rn. 8, juris). Eine Anspruchsgrundlage für die Gewährung eines Zuschusses zur Ausrichtung einer Familienfeier ist im SGB II nicht ersichtlich; der Aufwand bleibt aus der Regelleistung zu bestreiten (vgl. auch SG Aachen, Beschluss vom 20.08.2010 – S 21 AS 625/10, Rn. 11, juris).
29Bei den (insbesondere Bekleidungs- und Bewirtungs-) Kosten der Konfirmationsfeier handelt es sich auch nicht um einen unabweisbaren Bedarf. Unabweisbar ist ein Bedarf immer dann, wenn es sich um einen zeitlich unaufschiebbaren Bedarf handelt, der Aufwendungen von erheblichem Umfang erfordert (vgl. Knickrehm/Hahn, in: Eicher/Luik, a.a.O., § 21 Rn. 71). Ein solcher unaufschiebbarer Bedarf liegt vor, wenn aufgrund des ungedeckten Bedarfs eine aktuelle Notlage von existentieller Bedeutung besteht, die dringend beseitigt werden muss (SG Berlin, Beschluss vom 19.07.2006, a.a.O., Rn. 11). Zwar ist den Klägerinnen zuzugestehen, dass die Veranstaltung einer privaten Familienfeier – in einer Gaststätte mit 15 Personen – wünschenswert war, sie war jedoch weder verpflichtend noch geboten. Beziehern von Leistungen nach dem SGB II ist es vielfach nicht möglich, an gesellschaftlichen Ereignissen in gewünschtem Umfang teilzunehmen (SG Düsseldorf, Urteil vom 22.10.2018 – S 43 AS 2221/18, Rn. 16, juris). Die Bewirtung anlässlich der Konfirmation hätte – in kleinem Rahmen – in der Wohnung der Klägerinnen stattfinden können, ohne dass hierfür Sachmittel in einer den täglichen Normalbedarf für Lebensmittel übersteigenden Weise eingesetzt werden müssten (vgl. SG Berlin, Beschluss vom 19.07.2006, a.a.O., Rn. 11). Es war deshalb nicht notwendig, auf die kostenintensivere Bewirtung in einer Gaststätte zurückzugreifen (SG Dresden, Urteil vom 04.05.2009 – S 20 AS 807/07, Rn. 29, juris). Damit wäre es den Klägerinnen möglich gewesen, die anfallenden Kosten wesentlich zu verringern (vgl. SG Dresden, Urteil vom 04.05.2009, a.a.O., Rn. 30). Das Gleiche gilt für die geltend gemachten weiteren Kosten wie der Tischdekoration, der Einladungskarten und der Danksagungskarten. Auch hierbei handelt es sich um vermeidbare Kosten. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die mit der Konfirmationsfeier verbundenen Kosten bereits seit geraumer Zeit feststanden und ein Ansparen möglich gewesen wäre (zur vergleichbaren Problematik einer Schulabschlussfeier vgl. SG Düsseldorf, Urteil vom 22.10.2018, a.a.O., Rn. 16).
30Schließlich liegt auch kein laufender Bedarf vor. Für einen laufenden Bedarf müsste es sich um einen regelmäßig wiederkehrenden, dauerhaften, längerfristigen Bedarf handeln, der bezogen auf den Regelbewilligungszeitraum des § 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II von einem Jahr mehrfach auftritt oder prognostisch zumindest im nächsten Bewilligungszeitraum wieder entstehen wird (Knickrehm/Hahn, in: Eicher/Luik, a.a.O., § 21 Rn. 69). Bei den Kosten für eine Konfirmationsfeier handelt es sich um nur einmalig auftretende Ausgaben (zur Schulabschlussfeier vgl. LSG NRW, Beschluss vom 29.08.2019 – L 6 AS 1953/18 NZB, Rn. 24, juris).
31c. Die Kostenübernahme kann auch nicht über eine entsprechende Anwendung von § 21 Abs. 6 SGB II erreicht werden. Eine analoge Anwendung ist nur ausnahmsweise möglich, wenn die Voraussetzungen einer Analogie, namentlich eine vergleichbare Interessenlage und planwidrige Regelungslücke vorliegen (zur grundsätzlichen Möglichkeit einer analogen Anwendung der Vorschrift vgl. Blüggel, in: Eicher/Luik, a.a.O., § 24 Rn. 33 ff.).
32Eine analoge Anwendung scheitert vorliegend bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Nach dem bis zum 31.12.2004 geltenden Recht der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) waren einmalige Leistungen stets der jeweiligen individuellen Situation entsprechend als ergänzende Beihilfen zu erbringen (Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, a.a.O., § 24 SGB II Rn. 145 f.). Seit der grundlegenden Reform der Existenzsicherungssysteme zum 01.01.2005 werden Bedarfe im SGB II grundsätzlich nicht mehr individuell festgestellt ("Individualisierungsgrundsatz"), sondern in typisierender Weise vorausgesetzt (Aufzählung der Bedarfe in § 20 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB II) und in pauschalierter Höhe (monatlicher Pauschalbetrag des § 20 Abs. 1 Satz 3 SGB II) abgedeckt (vgl. Blüggel, in: Eicher/Luik, a.a.O., § 24 Rn. 12). Der Gesetzgeber hat mit der Typisierung und Pauschalierung von dem zuvor vorhandenen Individualisierungsgrundsatz ausdrücklich Abstand genommen. Für vom Regelbedarf umfasste Bedarfe hat er die Vorschrift des § 24 Abs. 1 SGB II normiert. Bedarfsspitzen durch grundsätzlich vom Regelbedarf umfasste Ausgaben werden in Form von Darlehen im Rahmen von § 24 Abs. 1 SGB II abgefangen. Für nicht vom Regelbedarf umfasste Bedarfe kann eine analoge Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II in Betracht kommen. Der Bedarf für Bekleidung ist vom Regelbedarf erfasst (siehe oben), so dass eine planwidrige Regelungslücke für eine diesbezügliche analoge Anwendung ausscheidet. Aber auch die weiteren Kosten der Konfirmationsfeier der Klägerinnen können keine analoge Anwendung begründen. Diese Auslegung ist vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der SGB II Vorschriften geboten, da Bedarfe für Feierlichkeiten (Taufe, Hochzeit, Kommunion) im Rahmen des BSHG noch als besondere Bedarfe anerkannt und in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zugesprochen wurden (vgl. etwa zur Kommunionfeier BVerwG, Urteil vom 18.02.1993 – 5 C 49/90, juris und zur Hochzeitsfeier BVerwG, Urteil vom 18.02.1993 – 5 C 40/91, juris). Weder für bestimmte persönliche Feierlichkeiten (Jubiläum, Hochzeit) noch für bestimmte religiöse Feste (Hochzeit, Taufe) hat der Gesetzgeber trotz Kenntnis dieser (alten) Rechtsprechung eine Öffnungsklausel normiert. Entsprechende Bedarfe sollen nunmehr über Ansparungen oder Darlehen erfasst werden, eine Gewährung weiterer Zuschüsse soll nicht erfolgen. Von einer planwidrigen Regelungslücke für anlässlich von (auch religiös begründeten) Feiern entstehende Kosten kann vor diesem Hintergrund nicht ausgegangen werden.
33d. Schließlich steht den Klägerinnen auch kein Anspruch nach § 73 SGB XII zu. Die Kammer konnte daher davon absehen, den örtlichen Sozialhilfeträger nach § 75 Abs. 2 SGG beizuladen. Zwar sind Leistungen nach § 73 SGB XII aufgrund der Regelung des § 5 Abs. 2 SGB II für Bezieher von SGB II - Leistungen nicht generell ausgeschlossen. Es liegt aber weder eine atypische Bedarfslage i.S.v. § 73 SGB XII noch eine im Rahmen einer Ermessensvorschrift für einen Anspruch notwendige Ermessensreduzierung auf Null vor. Nach § 73 SGB XII können Geldleistungen als Beihilfe oder Darlehen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Eine "sonstige Lebenslage" i.S.v. § 73 SGB XII liegt nur dann vor, wenn die bedarfsauslösende Lebenslage weder innerhalb des SGB XII in den Kapiteln 3 – 9 (§§ 27 – 69) bzw. den sonstigen Hilfen in anderen Lebenslagen (§§ 70 – 72, 74) noch in anderen Bereichen des Sozialrechts geregelt und bewältigt wird (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 22.06.2007 – L 1 B 7/07 AS ER, Rn. 27, juris). Es widerspräche dem Willen des Gesetzgebers, wenn § 73 SGB XII in eine allgemeine Auffangnorm umgedeutet würde, die in all den Fällen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger begründen würde, in denen die eigentlich einschlägigen Normen den betreffenden Anspruch gerade ausschließen (vgl. LSG NRW, a.a.O.). Die anlässlich der Konfirmationsfeier entstandenen Kosten stellen keine Bedarfslage dar, die eine gewisse Nähe zu den speziell in den §§ 47 bis 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweisen und erlauben daher keine Leistungsgewährung über das SGB XII (ausführlich hierzu Bayerisches LSG, Urteil vom 23.04.2009 – L 11 AS 125/08, Rn. 35 ff., juris).
34e. Eine weitere Anspruchsgrundlage ist nicht ersichtlich, insbesondere ist eine solche entgegen der Ansicht der Klägerin zu 1) auch nicht von Verfassungs wegen geboten. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet die ungestörte Religionsausübungsfreiheit. Das Grundrecht aus Art. 4 GG gewährleistet – wie grundsätzlich alle Grundrechte – dem Einzelnen allerdings keinen Leistungsanspruch gegenüber dem Staat bei der Grundrechtsausübung unterstützt zu werden (vgl. Germann, in: BeckOK GG, Epping/Hillgruber, 44. Edition, Stand 15.08.2020, Art. 4 Rn. 61 und 63 m.w.N.). So werden Kosten religiöser und kultureller Feiern – unabhängig davon, welcher Religion bzw. Kultur der Antragsteller angehört – im SGB II nicht übernommen. Die Religionsausübungsfreiheit wird durch die Frage, inwieweit Kosten anlässlich einer Konfirmationsfeier vom SGB II-Träger übernommen werden können, nicht in ihrem Kern tangiert (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 23.04.2009, a.a.O., Rn. 39). Die Klägerinnen müssen sich wie andere Leistungsempfänger auch auf eine bescheidene – möglicherweise im häuslichen Rahmen stattfindende – Familienfeier verweisen lassen, die durch die Regelleistung gedeckt ist (Bayerisches LSG, a.a.O.).
353. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
364. Der Beschwerdewert bei der vorliegend auch auf eine Geldleistung gerichteten Klage übersteigt einen Wert von 750,00 Euro, da die Klägerinnen eine Kostenübernahme in Höhe von 813,24 Euro geltend machen.
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Tenor
Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.06.2020 geändert. Die Vergütung wird auf 761,60 EUR festgesetzt.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet durch den Berichterstatter als Einzelrichter (§§ 1 Abs. 3, 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG -), da die Sache keinen besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtsache keine grundsätzliche Bedeutung hat.
31. Die Beschwerde ist statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 EUR übersteigt (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 1 RVG). In seinem Antrag auf Festsetzung der Vergütung vom 16.12.2019 hat der Beschwerdeführer die Verfahrensgebühr nach Ziffer 3102 der Anlage 1 zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV RVG) und die Einigungsgebühr nach den Ziffern 1000, 1005, 1006 VV RVG jeweils auf 200 EUR festgesetzt. Gemäß Ziffer 1006 VV RVG entsteht die Einigungsgebühr in Höhe der Verfahrensgebühr. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 22.06.2020 hat das Sozialgericht die Festsetzung der Verfahrensgebühr auf 200 EUR bestätigt. Eine Einigungsgebühr hat es nicht zuerkannt. Im Beschwerdeverfahren ist somit die Einigungsgebühr in Höhe von 200 EUR streitig. Bei der Ermittlung des Wertes des Beschwerdegegenstandes ist zudem die Umsatzsteuer zu berücksichtigen (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.09.2011 - L 20 SO 424/11 B -, Rn. 18 juris; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 10.09.2009 - L 2 SF 222/09 E - Rn. 9, juris). Denn diese ist vom Rechtsanwalt zunächst zu vereinnahmen und insoweit untrennbarer Bestandteil der dem Rechtsanwalt zu erstattenden Gebühren und Auslagen (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.09.2011 - L 20 SO 424/11 B -, Rn. 19 juris). Die Differenz zwischen der von dem Beschwerdeführer beantragten und ihm tatsächlich zuerkannten Vergütung liegt damit höher als 200 EUR.
42. Die zulässige Beschwerde ist auch begründet. Dem Beschwerdeführer steht eine höhere Vergütung zu als festgesetzt. Die Einigungsgebühr nach den Ziffern 1000, 1005, 1006 VV RVG ist in Höhe von 200 EUR entstanden.
5Gemäß Ziffer 1000 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VV RVG erwächst dem Rechtsanwalt die Einigungsgebühr für die Mitwirkung beim Abschluss eines Vertrags, durch den der Streit oder die Ungewissheit über ein Rechtsverhältnis beseitigt wird. Die Gebühr entsteht nicht, wenn sich der Vertrag ausschließlich auf ein Anerkenntnis oder einen Verzicht beschränkt (Ziffer 1000 Abs. 1 Satz 2 VV RVG). Honoriert werden soll jegliche vertragliche Beilegung eines Streites (Oberlandesgericht Rostock, Beschluss vom 26.05.2008 - 5 W 94/08 - Rn. 76 juris). Nur ein bloßes Anerkenntnis ist kein Vertrag und löst die Einigungsgebühr nicht aus. Schon ein geringes Entgegenkommen reicht aus, um das negative Tatbestandsmerkmal der Beschränkung des Vertrages auf ein Anerkenntnis oder einen Verzicht zu beseitigen (Oberlandesgericht Rostock, Beschluss vom 26.05.2008 - 5 W 94/08 - Rn. 7 juris). Das gegenseitige Nachgeben der Beteiligten kann auch an der vereinbarten Kostenregelung deutlich werden (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.12.2008 - L 13 B 4/08 R - Rn. 8 juris).
6Der Sitzungsniederschrift vom 05.12.2019 ist zu entnehmen, dass der Beklagte im sozialgerichtlichen Verfahren S 3 AS 2665/19 den klageweise geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten für ein Widerspruchsverfahren in vollem Umfang anerkannt hat (Ziffer 1 des "Anerkenntnisses", vgl. Seite 2 der Sitzungsniederschrift). Unter Ziffer 3. des "Anerkenntnisses" wurde festgehalten, dass die Beteiligten außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten haben. Ausgehend hiervon liegt keine ausschließlich auf das Anerkenntnis beschränkte Einigung der Beteiligten vor. Denn nach Abgabe eines vollumfänglichen Anerkenntnisses durch den Beklagten, d.h. bei vollständigem Obsiegen der Kläger in der Hauptsache, wäre zu erwarten gewesen, dass der Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Kläger (zumindest teilweise) übernimmt. Dass dies nicht der Fall ist, lässt darauf schließen, dass die Kläger dem Beklagten hinsichtlich der Kostentragungspflicht entgegengekommen sind und hierdurch zur unstreitigen Erledigung des Rechtsstreits beigetragen haben. Entsprechend hat der Erinnerungsführer im Beschwerdeverfahren auch vorgetragen.
73. Das Verfahren ist gebührenfrei (§ 56 Abs. 2 Satz 2 RVG).
84. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 56 Abs. 2 Satz 3 RVG).
95. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 7 K 5889/20 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin die Erlaubnisurkunde zur Führung der Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Krankenpflegerin“ herauszugeben.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der am 2. Oktober 2020 bei Gericht sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 7 K 5889/20 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 17. September 2020 wiederherzustellen,
4hat Erfolg.
5Dabei kann schon offenbleiben, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit in der Ordnungsverfügung vom 17. September 2020 bereits deshalb aufzuheben ist, weil die nach § 80 Abs. 3 VwGO erforderliche schriftliche Begründung dieser Anordnung den Anforderungen nicht genügt. Mit dem Erfordernis einer schriftlichen Begründung soll der handelnden Behörde das in § 80 Abs. 1 und 2 VwGO verankerte Regel-Ausnahme-Verhältnis der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels verdeutlicht werden. Darüber hinaus muss die Behörde sich auf ein über den Erlass des Verwaltungsakts hinausgehendes Interesse am Sofortvollzug berufen können. Hier kann den dürren Worten der Begründung wohl (noch) entnommen werden, dass die Antragsgegnerin die Wiederholungsgefahr einer Sorgfaltspflichtverletzung zu sehen meint, die sich während eines Rechtsmittelverfahrens realisieren könnte. Ob dies so zutrifft, ist an dieser Stelle irrelevant.
6Das Gericht macht von der ihm durch § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eingeräumten Befugnis, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen einen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO sofort vollziehbaren Verwaltungsakt anzuordnen, Gebrauch, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das private Interesse des Betroffenen, von Vollziehungsmaßnahmen (vorerst) verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Durchsetzung der getroffenen Maßnahme überwiegt. Bei der Interessenabwägung spielt neben der gesetzgeberischen Grundentscheidung die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des zu vollziehenden Verwaltungsakts eine wesentliche Rolle.
7Ausgehend von diesen Maßstäben überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, da sich die im Klageverfahren 7 K 5889/20 angefochtene Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin voraussichtlich als rechtswidrig erweisen wird. Ein öffentliches Interesse am Vollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes gibt es nicht.
8Die Antragsgegnerin kann den mit der Ordnungsverfügung vom 17. September 2020 verfügten Widerruf und die Verpflichtung zur Herausgabe der Erlaubnisurkunde gegenüber der Antragstellerin im maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung
9vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2010, - 3 C 22/09 -, juris Rz. 11,
10nicht auf eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage stützen. Die von ihr hierzu herangezogenen Vorschriften des Gesetzes über die Berufe in der Krankenpflege vom16. Juli 2003 (KrPflG) sind außer Kraft getreten und die Voraussetzungen der (inhaltsgleichen) Vorschriften des Gesetzes über die Pflegeberufe vom 17. Juli 2017 (PflBG) liegen nicht vor. Die allgemeinen Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Widerruf sind daneben nicht anwendbar.
11Die von der Antragsgegnerin für den Widerruf der der Antragstellerin unter dem1. Oktober 2007 erteilten Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung der „Gesundheits- und Krankenpflegerin“ bemühte Vorschrift des § 2 Abs. 2 KrPflG ist mit Ablauf des31. Dezember 2019 außer Kraft getreten
12vgl. Art. 15 Abs. 5 des Gesetzes vom 17.7.2017 Pflegeberufereformgesetz – PflBRefG –, BGBl. I S. 2581,
13und gemäß Art. 15 Abs. 4 PflBRefG mit Geltung ab 1. Januar 2020 durch das Pflegeberufegesetz – PflBG –, vom 17.7.2017 (BGBl. I S. 2581), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.5.2020 (BGBl. I S. 1018), ersetzt worden.
14Der Widerruf lässt sich auch nicht auf § 3 Abs. 2 Satz 1 PflBG stützen. Dabei kann auch offenbleiben, ob diese beiden Vorschriften im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ausgetauscht werden können,
15wofür im Hinblick auf die Inhaltsgleichheit dieser im Übrigen auch jeweils gebundenen Normen viel spricht. Eine Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG NRW scheidet wegen der Rechtswidrigkeit – hierzu im Folgenden – aus.
16Die Ordnungsverfügung wird schon aus Gründen der formellen Rechtswidrigkeit aufzuheben sein.Zunächst ist die Antragsgegnerin schon nicht für die streitige Maßnahme zuständig. Nach § 6 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung zur Regelung der Zuständigkeiten nach Rechtsvorschriften für Heilkunde (Zuständigkeitsverordnung Heilberufe – ZustVO HB)
17vom 20. Mai 2008 (GV.NRW. 2008, S. 458) zuletzt geändert durch Verordnung vom 25. August 2020 (GV.NRW. S. 758)
18ist die Bezirksregierung die zuständige Behörde für die Durchführung des Pflegeberufsgesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2581), soweit nicht insbesondere in den Absätzen 4 bis 6 etwas anderes geregelt ist. In Absatz 4 ist eine hier nicht einschlägige Konzentration von Aufgaben bei der Bezirksregierung E. geregelt. In Absatz 5 werden die hier ebenso nicht interessierenden Zuständigkeiten für den Ausgleichsfonds und die Schiedsstellen aus der Pflegeberufezuständigkeitsverordnung vom 11. September 2018 (GV.NRW. S. 535) geregelt und schließlich die Zuständigkeiten aus dem Landesausführungsgesetz Pflegeberufe vom 18. Dezember 2018 (GV.NRW.S. 767) normiert, die hier keine Relevanz haben. Ebenso nennt Absatz 6 weitere Zuständigkeiten des Ministeriums, die in diesem Zusammenhang nicht interessieren. Schließlich finden sich auch in der Verordnung zur Durchführung des Pflegeberufsgesetzes (DVO-PflGBG NRW) vom 19. September 2019 (GV.NRW. S. 590) keine einschlägigen Vorschriften.Mithin wäre nach § 6 Abs. 2 i.V.m Abs. 3 Satz ZustVO HB die Bezirksregierung E. für den Widerruf einer Berufserlaubnis nach § 3 Abs. 2 Satz 1 PflBG gewesen. Auf die Zuständigkeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 7 ZustVO HB kann sich die Antragsgegnerin nicht berufen, da diese nur für die Durchführung des Krankenpflegegesetzes gilt, das – wie bereits ausgeführt – außer Kraft getreten ist.
19Darüber hinaus hat die Antragsgegnerin die Antragstellerin entgegen § 28 Abs. 1 VwVfG NRW vor Erlass des streitigen Verwaltungsaktes nicht angehört. Hiervon konnte auch nicht gem. § 28 Abs. 2, 3 VwVfG NRW im Ermessenswege bzw. zwingend abgesehen werden. Soweit sich die Antragsgegnerin in der Ordnungsverfügung auf § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW beruft, greift dies nicht durch. Nach dieser Vorschrift kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor und werden von der Antragsgegnerin auch nur pauschal behauptet. Einen Eilfall annehmen zu wollen, nachdem der Vorfall, den die Antragsgegnerin zum Anlass für aufsichtsrechtliche Maßnahmen nahm, über drei Jahre vergangen war, ist nicht nachvollziehbar, zumal weitere Vorfälle der Antragstellerin nicht vorgeworfen werden. Vielmehr drängte sich insoweit auf, den Sachverhalt entsprechend dem gesetzlichen Gebot (§ 24 Abs. 1 und 2 VwVfG NRW) umfassend aufzuklären und auch der Antragstellerin Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Ihr dieses Recht abzuschneiden ist rechtswidrig.
20Der Anhörungsmangel mag durch das verwaltungsgerichtliche Verfahren, in dem die Antragsgegnerin das Vorbringen der Antragstellerin zur Kenntnis nahm und darauf erwiderte gem. § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG NRW geheilt sein, der Zuständigkeitsmangel ist indes nicht unbeachtlich (§ 46 VwVfG NRW).
21Darüber hinaus wird sich die Ordnungsverfügung vom 17. September 2020 auch in materieller Hinsicht als rechtswidrig erweisen. Allerdings ist die insoweit in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 3 Abs. 2 Satz 1 PflBG nach § 64 Satz 3 PflBG auch auf Erlaubnisse nach dem KrPflG anwendbar. Denn die Erlaubnisse zum Führen der Berufsbezeichnung nach dem Krankenpflegegesetz bleiben durch das PflBG unberührt und gelten zugleich als Erlaubnis nach § 1 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes (§ 64 Satz 1 und 2 PflBG).Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 PflBG liegen jedoch nicht vor.
22Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 PflBG ist eine Erlaubnis zu widerrufen, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Voraussetzung nach § 2 Nummer 2 nicht erfüllt ist. Gemäß § 2 Nummer 2 PflBG setzt die Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung voraus, dass die antragstellende Person sich nicht eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufes ergibt. Der gerichtlich voll überprüfbare unbestimmte Rechtsbegriff der (berufsrechtlichen) Zuverlässigkeit bezeichnet ein Instrument sicherheits- und ordnungsrechtlicher Gefahrenabwehr. Der Ausschluss unzuverlässiger Erlaubnisbewerber bzw. -inhaber hat demgemäß präventiven Charakter und dient der Abwehr von Gefahren für das Gemeinwohl. Unzuverlässigkeit i. S. d. der Bestimmungen ist dabei - in Anlehnung an entsprechende Begrifflichkeiten in anderen, auch heilberufsrechtlichen Bestimmungen - anzunehmen, wenn bei prognostischer Betrachtung auf Grund einer Würdigung der gesamten Persönlichkeit, des Gesamtverhaltens und der Lebensumstände des Betreffenden unter Berücksichtigung der Eigenart des Berufs nicht die Gewähr besteht, dass dieser in Zukunft seine beruflichen Pflichten zuverlässig erfüllen wird. Für die gebotene Prognose ist dabei abzustellen auf die jeweilige Situation des Betreffenden im maßgeblichen Zeitpunkt, der regelmäßig im Abschluss des behördlichen Verfahrens liegt, sowie auf vor allem durch die Art, Schwere und Zahl der Verstöße gegen die Berufspflichten manifest gewordenen Charakter des Betreffenden.
23Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. September 2002 -3 C 37/01 -, NJW 2003, 913 und vom16. September 1997 - 3 C 12.95 -, NJW 1998, 2756, Beschlüsse vom 9. November 2006 - 3 B 7/06 -, Juris, vom 14. April 1998 - 3 B 95.97 -, NJW 1999, 3425, vom 16. Juli 1996 - 3 B 44.96 -, Buchholz 418.00 Ärzte Nr. 95 und vom 10. Dezember 1993 - 3 B 38.93 - Buchholz 418.1 Heilhilfsberufe Nr. 5; OVG NRW, Beschlüsse vom 15. Januar 2003 - 13 A 2774/01 -, NJW 2003, 1888, und vom12. November 2002 ‑ 13 A 683/00 -; VG Aachen, Urteil vom 2. Februar 2009 - 5 K 404/08 -, Juris;
24Erforderlich ist mithin eine Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls dahingehend, ob der Betreffende willens und in der Lage sein wird, künftig seine beruflichen Pflichten zuverlässig zu erfüllen.
25Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2010, - 3 C 22.09 -, juris Rz. 10.
26Ausgehend von diesen Grundsätzen ist festzustellen, dass die Antragstellerin sich nicht auf Grund des im streitgegenständlichen Bescheid ihr vorgeworfenen Verhaltens als unzuverlässig zur Ausübung des Berufs der Gesundheits- und Krankenpflegerin gezeigt hat.
27Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass der Antragstellerin keine vorsätzlichen Verstöße gegen Berufspflichten vorgeworfen werden, mithin zieht niemand in Zweifel, dass sie willens ist, (auch) künftig ihren Berufspflichten nachzukommen.
28Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls kann auch die Prognose getroffen werden, dass sie hierzu in der Lage sein wird.Allerdings stellt die Antragsgegnerin zu Recht in diese Betrachtung die Verurteilung der Antragstellerin mit dem rechtskräftigen Strafbefehl vom 0. K1. 2020 – Xx 00 Xx 00/00 – des Amtsgerichts T. wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB zu 90 Tagessätzen ein. Dem liegt im Kern – den Fahrlässigkeitsvorwurf betreffend - folgender Sachverhalt zu Grunde:
29„Unter Missachtung der Ihnen obliegenden und kraft ihrer Ausbildung und der bisherigen Tätigkeit auch zumutbaren Sorgfaltspflicht versäumten Sie es, das Beatmungsgerät beim Anschluss an den Patienten vom „Stand-by-Modus“ wieder in den aktiven Modus zu schalten. Dies führte dazu, dass Herr C. nunmehr nur noch den Sauerstoff einatmen konnte, der sich respiratorisch in dem Beatmungsschlauch befand. Die Zuführung von Sauerstoff aus der Umgebungsluft war durch den Anschluss an das Gerät im „Stand-by-Modus“ unterbunden. Durch die Behinderung des Sauerstoff-Zugangs stieg die Co2-Konzentration an. Infolgedessen verstarb Herr C. mangels ausreichender Sauerstoffversorgung und wurde gegen 21:40 leblos aufgefunden.Ungeachtet der bestehenden körperlichen Beschwerden ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Herr C. bei Einschaltung des Beatmungsgerätes den Todeszeitpunkt am 08.02.2019 (Anm. des Gerichts, es muss heißen: 2017) überlebt hätte. “
30Diese rechtskräftigen Feststellungen des Amtsgerichts T. legt auch das beschließende Gericht seiner Entscheidung zu Grunde.Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung können die Gerichte der Verwaltungs-gerichtsbarkeit Feststellungen auch in einem rechtskräftigen Strafbefehl der Beurteilung der Zuverlässigkeit im berufsrechtlichen Sinn zugrunde legen, ohne diese auf ihre vom Betroffenen bestrittene Richtigkeit selbst überprüfen zu müssen. Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn gewichtige Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der strafgerichtlichen Tatsachenfeststellungen sprechen, insbesondere wenn ersichtlich Wiederaufnahmegründe vorliegen oder wenn die Behörden und Verwaltungsgerichte den bestrittenen Sachverhalt nunmehr besser als das Strafgericht aufklären können.
31Vgl. die hier übertragbare st. Rspr. des BVerwG im Straßenverkehrsrecht – z.B. BVerwG vom 12.1.1977 und vom 28.9.1981 Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 51 und Nr. 60 – im Ausländerrecht z.B. BVerwG vom 16.9.1986 und vom 8.5.1989 Buchholz 402.24 § 10 AuslG a.F. Nr. 112 und Nr. 118 – im Waffenrecht z.B. BVerwG vom 24.6.1992 Buchholz 402.5 WaffG Nr. 65.
32Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Die Antragstellerin vermag keine neuen Umstände oder Beweismittel zu benennen, die die Feststellungen des Strafbefehls ernsthaft in Zweifel ziehen. Dass – so ihr Vorbringen – die Beatmungsgeräte nicht turnusgemäß gewartet bzw. geprüft wurden, legt noch keine Fehlfunktionen nahe. Vielmehr hat der Gutachter keine Fehlfunktionen feststellen können und hat das Auslesen der digitalen Dokumentation ergeben, dass der Stand-by-Modus nach dem Abkoppeln des Herrn C. vom Beatmungsgerät für die Zeit des Spaziergangs am Nachmittag nicht wieder in den aktiven Modus gesetzt wurde. Die einzig plausible und nachvollziehbare Erklärung ist, dass die Antragstellerin den Schalter nicht oder nicht ausreichend lange und fest betätigt hatte. Auch dass ein möglicherweise pflichtwidrig nicht am Gerät angeschlossenes Co2-Messgerät hätte helfen können, den Tod des Herrn C. zu verhindern, indem es in Folge hoher Co2-Konzentration Alarm ausgelöst hätte, beseitigt nicht die Fehlbedienung durch die Antragstellerin. Auch der weitere vom Strafgericht angenommene Geschehensablauf, Todeseintritt in Folge nicht ausreichender Sauerstoffversorgung, ist plausibel und wird von der Antragstellerin nicht durchgreifend in Zweifel gezogen.
33Aber die Annahme der Antragsgegnerin, aus dieser Sorgfaltspflichtverletzung folge – quasi automatisch – die berufsrechtliche Unzuverlässigkeit,
34vgl. insoweit den dahingehenden Vermerk der Mitarbeiterin Frau Dr. Kiskel vom 3. September 2020, Bl. 20 der Verwaltungsvorgänge,
35wird den Anforderungen an die Feststellung dieses Tatbestandsmerkmals in keiner Weise gerecht. Allein aus der höchsten Wertigkeit des zu Schaden gekommenen Rechtsguts – des menschlichen Lebens –, kann eine künftige mangelnde Zuverlässigkeit nicht abgeleitet werden. Zu den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls gehört – wie bereits dargestellt - mehr:
36Zunächst ist hier in Rechnung zu stellen, dass die Antragstellerin von 2007 bis ins Jahr 2017 ein Jahrzehnt ohne aktenkundige Beanstandungen ihren Berufspflichten nachgekommen ist. Auch nach dem Vorfall im G. 2017 hat ihr Arbeitgeber keine Veranlassung gesehen, an der künftigen Erfüllung ihrer Berufspflichten zu zweifeln und stellte ihr bei dem Arbeitsplatzwechsel aus eigenem Wunsch ein entsprechendes Zeugnis aus. Auch aktuell – berücksichtigt wird insofern der Zeitraum bis zum Erlass des Widerrufs - arbeitet die Antragstellerin weiter in ihrem Beruf, ohne dass weitere Vorfälle oder Beanstandungen bekannt geworden sind.Auch der konkrete Vorfall vom 0. G. 2017 stellt sich bei genauer Betrachtung als Augenblicksversagen dar, das nicht auf berufswidrige charakterliche Prägungen hinweist. Es handelt sich um eine Nachlässigkeit, die in den Folgen zwar gravierend und nicht wieder gut zu machen ist, aber kein Fehlverhalten über einen längeren Zeitraum darstellt. Sie hat auch nicht vor unhaltbaren oder Qualen verursachenden Zuständen die Augen verschlossen, sondern tatsächlich für Sekunden oder Bruchteilen davon nicht die gehörige Aufmerksamkeit bewiesen. Daraus spricht auch keine Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit oder mangelnde Empathie für Patienten, die auch künftig Pflichtverletzungen mit ähnlich gravierenden Folgen befürchten ließen. Das Strafgericht hat im genannten Strafbefehl auch ein Strafmaß von 90 Tagessätzen als der Schwere der Schuld der Antragstellerin angemessen angesehen. Bei einem nach § 222 StGB möglichen maximalen Strafmaß von fünf Jahren Freiheitsstrafe wird deutlich, dass das Gericht die Schuld der Antragstellerin als denkbar gering einstufte. Auch der Gesetzgeber des Bundeszentralregistergesetzes zeigt mit der Regelung des § 32 Abs. 2 Nr. 5 lit. a) BZRG, dass er einem Strafmaß von bis zu 90 Tagessätzen keine gesellschaftlich relevante Warnfunktion zum Nachteil des von der Eintragung Betroffenen zumisst.Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht weiter darauf an, dass sich keine Bestätigungen für die weitere Argumentation der Antragstellerin finden lassen, dass die Station an dem Tag des Vorfalls unterbesetzt gewesen wäre und daher eine strukturelle Überforderung vorgelegen hätte. Die weiteren Mitarbeiter Q. , H. und C1. haben gegenüber der Polizei im Strafverfahren zeugenschaftlich bekundet, dass die Station „normal“ besetzt gewesen war. Das mag nichts daran ändern, dass die Antragstellerin sich möglicherweise überfordert gefühlt hat. Hieraus hat sie jedenfalls für sich seit Anfang März diesen Jahres die Konsequenz gezogen und in einen weniger stressigen – im Sinne von risikobehafteten - Arbeitsplatz gewechselt. Dies wiederum ist jedenfalls eher Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein, als dass sich hieraus Schlüsse auf künftige Unzuverlässigkeit in Bezug auf Berufspflichten ergäben.Im Übrigen ist auch zu beachten, dass durch die Ausgestaltung der Eingriffsnorm als gebundene Entscheidung („ist zu widerrufen“) im Lichte der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG die bloße theoretische und nahezu immer gegebene Möglichkeit weiterer Verstöße gegen Berufspflichten bei der prognostischen Betrachtung außen vor bleiben müssen.
37Soweit sich die Antragsgegnerin im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch darauf beruft, die Antragstellerin habe selbst gegenüber der Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes Frau K. angegeben, einen Pfleger (Azubi oder Assistenz) in das Beatmungsgerät des Verstorbenen eingewiesen zu haben, ohne zu kontrollieren, ob dieser alles richtig gemacht habe, ist dies für die Frage der künftigen Zuverlässigkeit der Antragstellerin nicht ergiebig. Diese jetzt erstmals vorgehaltene zusammengefasste Aussage ist ohne jeden Zusammenhang nicht verständlich und kann keinen tauglichen Beleg im Sinne der Antragsgegnerin darstellen. Zumal weitere Emails derselben Mitarbeiterin in den Verwaltungsvorgängen bereits rechtliche Fehlvorstellungen offenbaren (etwa, dass eine Geldstrafe über 90 Tagessätzen automatisch ein Berufsverbot nach § 70 StGB nach sich ziehe; vgl. Email vom 29.9.20, Bl. 21 der Verwaltungsvorgänge), die möglicherweise in die Entscheidung eingingen.
38Der angefochtene Widerruf der Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Krankenpflegerin“ kann auch nicht auf § 49 Abs. 1 VwVfG NRW gestützt werden. Die ausdifferenzierten Vorschriften des PflBG in § 3 Abs. 1 bis 3 zu den Instrumentarien Rücknahme, Widerruf und Ruhensanordnung schließen einen Rückgriff auf die Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsrechts aus. Dies ergibt sich insbesondere auch daraus, dass der Gesetzgeber für diesen Bereich des Besonderen Verwaltungsrechts abweichende Regelungen geschaffen hat, die insbesondere in Absatz 2 den Widerruf betreffend der Behörde sehr unterschiedliche Spielräume eröffnen. So wird bei Wegfall der Erlaubnisvoraussetzungen nach § 2 PflBG in § 3 Abs. 2 Satz 1 PflBG der Widerruf als zwingend geregelt, während er in Satz 2 ins pflichtgemäße Ermessen gestellt ist.
39Erweist sich mithin der Widerruf der Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Gesundheits- und Krankenpflegerin“ als rechtswidrig und stellt das Gericht insoweit die aufschiebende Wirkung der Klage wieder her, so liegen auch die Voraussetzungen für die auf § 52 VwVfG NRW gestützte Aufforderung, die hierüber erteilte Urkunde herauszugeben, nicht mehr vor.Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO war die Aufhebung der Vollziehung – die Antragstellerin hatte die Erlaubnisurkunde bereits am 1. Oktober 2020 bei der Antragsgegnerin abgegeben – anzuordnen, was bei verständiger Würdigung des Antrags auch als von diesem umfasst zu verstehen ist.
40Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
41Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52, 53 GKG, wobei das Gericht lediglich den hälftigen üblichen Streitwert in Berufserlaubnisverfahren des Heilberufsrechts berücksichtigt hat.
42Rechtsmittelbelehrung:
43(1) Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.
44Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingelegt werden.
45Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.
46Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
47Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
48Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
49(2) Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
50Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
51Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
52Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
53Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
54War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und
55die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 17.7.2020 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 9.175,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2Das Zulassungsvorbringen der Klägerin begründet keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.
3Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.4.2020 – 1 BvR 2705/16 –, NVwZ-RR 2020, 905 = juris, Rn. 21, m. w. N.
4Daran fehlt es hier. Die Antragsbegründung, wonach die Klägerin entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil zuverlässig sei und die Urteilsausführungen insbesondere aufgrund des immensen Zeitablaufs, der seit den letzten Verstößen vergangen sei, nicht geeignet seien, an der Zuverlässigkeit der Klägerin zu zweifeln, enthält kein schlüssiges Gegenargument, das die tragenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen geeignet ist. Danach sei die Erlaubnis schon deshalb zu versagen, weil der Betrieb der in Rede stehenden Spielhalle im Sinne von § 24 Abs. 2 GlüStV i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 AG GlüStV NRW den Zielen des § 1 zuwiderlaufe (vgl. Urteilsabdruck, Seite 10, zweiter Absatz, bis Seite 14) und weil die Klägerin wegen nicht ausgeräumter gewichtiger Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit nicht die Gewähr für einen ordnungsgemäßen Spielhallenbetrieb biete (vgl. Urteilsabdruck, Seite 15 bis Seite 16, erster Absatz). Vor dem Hintergrund der Dauer, des Gewichts, der Vielfalt und der Intensität der zahlreichen im angegriffenen Bescheid und vom Verwaltungsgericht im Einzelnen aufgeführten Verstöße gegen glücksspielrechtliche Vorschriften sei nicht zu erwarten, dass die Spielhalle der Klägerin künftig in Einklang mit den rechtlichen Vorgaben betrieben werde. Über einen Zeitraum, der sich über mehrere Jahre erstrecke, sei das betriebliche Gewinnstreben beharrlich über die Einhaltung verschiedener spielerschützender Vorschriften gestellt worden. Dabei seien etwa mit den hartnäckigen Verweisen auf das vermeintlich keiner spielhallenrechtlichen Sperrzeit unterliegende „Bistro“ erhebliche Anstrengungen unternommen worden, um die Rechtsbrüche vorsätzlich zu verschleiern. Für eine nachhaltige Abstellung dieses hartnäckigen Fehlverhaltens durch die Klägerin fehle es an jeglichen Anhaltspunkten. Die Klägerin biete für eine solche Besserung vielmehr schon deswegen keine Gewähr, weil sie offensichtlich tatsächlich keinen nennenswerten Einfluss auf die Betriebsführung habe, sondern nur formal als Betreiberin vorgeschoben werde.
5In der Antragsbegründung fehlt es an jeglichen Ausführungen zu der ausführlichen Würdigung des Verwaltungsgerichts, die sich im Einzelnen mit dem erstinstanzlichen Sachvortrag der Klägerin auseinandersetzen. Durch den bloßen Hinweis auf diesen Sachvortrag und den „immensen Zeitablauf“ wird die Richtigkeit der Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht erschüttert.
6Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
7Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
8Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.
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Tenor
Der Bescheid des Beklagten vom 12. September 2017 und der Widerspruchsbescheid vom 07. November 2017 werden aufgehobenen.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen einen von dem Beklagten erlassenen Klärschlammgebührenbescheid, welcher den Kläger zur Erstattung von Kosten einer Bedarfsabfuhr durch einen Drittunternehmer heranzieht.
2
Der Kläger betreibt als Geschäftsstellenleiter eine Generalagentur der Concordia-Versicherung in A-Stadt. Das Grundstück ist nicht an eine zentrale Abwasserbeseitigungsanlage angeschlossen, sondern verfügt über eine Kleinkläranlage.
3
Die Klärschlammabfuhr nimmt der Beklagte auf Grundlage der Satzung über die Abwasserbeseitigung aus Grundstücksentwässerungsanlagen des Amtes C in der Ursprungsfassung vom 23. November 2004 war (im Folgenden: „AbwS“). Die Eingangsformel der AbwS vom 23. November 2004 zitiert dabei folgende Vorschriften:
4
„Aufgrund des § 34 a Amtsordnung für Schleswig-Holstein in Verbindung mit §§ 4 und 17 der Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein (GO), der §§ 31 und 31 a des Landeswassergesetzes Schleswig-Holstein (LWG) und des Art. II des Gesetzes zur Regelung abgabenrechtlicher Vorschriften vom 24.11.1998 wird nach Beschlussfassung durch den Amtsausschuss vom 23.11.2004 folgende Satzung erlassen:“
5
Die für den streitgegenständlichen Zeitraum anzuwendende Abwassersatzung in der Fassung der 2. Nachtragssatzung vom 01. Dezember 2016 zitiert darüber hinaus die §§ 1 und 6 Kommunalabgabengesetz des Landes Schleswig-Holstein. Zudem sieht die Abwassersatzung zum Entstehungszeitpunkt der Gebührenpflicht in § 16 Abs. 1 Satz 1 AbwS vor:
6
§ 16Entstehung und Beendigung der Gebühren- bzw. Abgabenpflicht(1) Die Benutzungsgebührenpflicht entsteht jeweils am Beginn eines Kalenderjahres, frühestens jedoch mit dem 1. des Monats, der auf die Inbetriebnahme der Grundstücksentwässerungsanlage folgt.
7
Zur Wahrnehmung der durch die Abwassersatzung begründeten Aufgaben führte der Beklagte eine beschränkte Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb mit Aufforderung an vier Unternehmen zur Abgabe von Angeboten durch. Nach Auftragserteilung an den preisgünstigsten Bieter passte der Amtsausschuss mit Beschluss vom 28. November 2016 die Abgabenhöhe in der zugrundeliegenden Satzung dergestalt an, dass u.a. für die Entleerung einer Kleinkläranlage im Rahmen der Bedarfsentleerung statt ursprünglich x € nunmehr xxxx € pro m3 als erstattungsfähige Kosten veranschlagt wurden.
8
Am 29. August 2017 saugte der beauftragte Drittunternehmer Klärschlamm im Umfang von 11 m3 aus der Kleinkläranlage des Klägers ab und stellte dies dem Beklagen in Rechnung.
9
Mit Bescheid vom 12. September 2017 forderte der Beklagte den Kläger zur Erstattung der angefallenen Kosten für die durchgeführte Entsorgung in Höhe von x € (11 m3 x x €) auf.
10
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 04. Oktober 2017 Widerspruch ein. Zur Begründung führt er an, dass eine Erhöhung um nahezu 300 % im Vergleich zur letztmaligen Abrechnung unwirtschaftlich sei. Zudem sei ein Verstoß gegen das in § 6 KAG verankerte Kostenüberschreitungsverbot gegeben. Es sei nicht geprüft worden, ob Drittunternehmer die Entleerung kostengünstiger hätten durchführen können.
11
Mit Widerspruchsbescheid vom 07. November 2017 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung trägt dieser im Wesentlichen vor, dass eine beschränkte Ausschreibung stattgefunden habe, da nur Firmen aus der näheren Umgebung aufgrund der schnellen Erreichbarkeit des Anlagenstandortes in Frage gekommen seien. Auch sei der Gesamtbetrag des Auftrags nicht so hoch gewesen, um zwingend eine öffentliche Ausschreibung durchzuführen. Da der ausgewählte Drittunternehmer das kostengünstigste Angebot abgegeben habe, habe dieser den Auftrag erhalten.
12
Der Kläger hat am 23. November 2017 Klage erhoben.
13
Zu deren Begründung wird zunächst erneut auf den Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren eingegangen. Ergänzend führt er an, dass in Ermangelung der Durchführung eines ordnungsgemäßen Vergabeverfahrens eine Verletzung des § 6 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 KAG anzunehmen sei und dadurch die Erstattungsfähigkeit der Kosten entfalle. Es hätte keine beschränkte Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb durchgeführt werden dürfen.
14
Darüber hinaus sei, mit Verweis auf die Rechtsprechung des OVG Schleswig, von dem Einrichtungsträger darzulegen und zu beweisen, dass eine Missachtung von Vergabevorschriften nur dann unbeachtlich sei, wenn ausgeschlossen werden könne, dass die Leistung nicht kostengünstiger hätte erbracht werden könnten.
15
Der Kläger beantragt,
16
den Bescheid vom 12. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. November 2017 aufzuheben.
17
Der Beklagte beantragt,
18
die Klage abzuweisen.
19
Zur Begründung führt er vertiefend aus, dass ein Verstoß gegen § 6 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 KAG nicht zu besorgen sei. Er habe die Klärschlammbeseitigung unter Beachtung vergaberechtlicher Vorschriften vergeben.
20
Ferner enthalte § 6 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 KAG keine ausdrückliche Bestimmung über die gebührenrechtlichen Folgen für den Fall, dass das Vergabeverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Ein Verstoß gegen das Vergaberecht führe nicht zu einer Nichtberücksichtigung bei der Gebührenkalkulation, weil dieses mit dem Selbstfinanzierungskonzept öffentlicher Einrichtungen unvereinbar sei. Die Verpflichtung zur Ausschreibung sei nicht Selbstzweck, sondern trage im Gebührenrecht dem Grundsatz der Erforderlichkeit Rechnung. Das Gericht müsse vielmehr prüfen, ob der von dem beweisbelasteten Einrichtungsträger eingestellte Betrag dem Grundsatz der Erforderlichkeit entspreche. Dies geschehe anhand der Leitsätze zur Preisermittlung.
21
Mit Schriftsatz vom 14. Juni 2019 reichte der Beklagte ein Privatgutachten zur Angemessenheit der Kostenermittlung im Zusammenhang mit der Festlegung einer Klärschlammgebühr ein. Das Gutachten kommt dabei u.a. zu dem Ergebnis, dass die Kostenermittlung im Zusammenhang mit der Festlegung der Klärschlammgebühr angemessen erfolgt sei. Die für das Wirtschaftsjahr 2017 angesetzten Klärschlammabfuhrgebühren würden die erforderlichen Kosten nicht überschreiten. Der Kläger bestreitet das Ergebnis des Gutachtens.
22
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze sowie auf den beigefügten Verwaltungsvorgang Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
23
Die zulässige Klage ist begründet.
24
Der Bescheid vom 12. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. November 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
25
Rechtsgrundlage des Bescheides vom 12. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. November 2017 ist § 6 Abs. 1 Satz 1 KAG in Verbindung mit der Abwassersatzung in der Fassung der 2. Nachtragssatzung vom 01. Dezember 2016. Hiernach erhebt der Beklagte von dem Gebührenpflichtigen Eigentümer des Grundstücks (§ 14 Abs. 1 AbwS) für die Benutzung der durch den Beklagten betriebenen öffentlichen Einrichtung u.a. zur unschädlichen Beseitigung des in Kleinkläranlagen anfallenden Fäkalschlamms (§ 1 Abs. 2 Var. 1 AbwS) eine Benutzungsgebühr nach den Maßgaben der Satzung (§ 12 Satz 1 AbwS). Sie ist zur Deckung der Kosten der Abwasserbeseitigung bestimmt (§ 12 Satz 2 AbwS). Die Benutzungsgebühr wird nach der Menge des aus der Grundstücksentwässerungsanlage abgefahrenen Abwassers berechnet und beträgt für die Entleerung der Kleinkläranlage bei der Bedarfsentleerung x € pro m3 (§ 15 Abs. 1 Buchst. b) AbwS).
26
Die Abwassersatzung ist jedoch zumindest im Hinblick auf die Gebührenvorschriften (§§ 12 ff. AbwS) unwirksam.
27
Die Kammer vermag nicht aus den ihr durch den Beklagten nach Aufforderung (gerichtliche Verfügung vom 21. Oktober 2020) zur Übersendung aller im Zusammenhang mit einer etwaigen Aufgabenübertragung der gemeindlichen Selbstverwaltungsaufgabe der Abwasserbeseitigung durch die Gemeinde D auf den Beklagten zugrundeliegenden Akten überzeugende Rückschlüsse auf die Verbandszuständigkeit des Beklagten im entscheidungserheblichen Zeitpunkt zu ziehen.
28
Grundsätzlich abwasserbeseitigungspflichtig nach der im streitgegenständlichen Zeitpunkt geltenden 2. Nachtragssatzung vom 01. Dezember 2016 ist gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 LWG in der Fassung vom 19. März 2010 (im Folgenden: LWG 2010) die Gemeinde D. Nach § 31a Abs. 1 Satz 1 LWG 2010 können Gemeinden die Aufgabe der Abwasserbeseitigung zusammen mit dem Satzungsrecht durch öffentlich-rechtlichen Vertrag auf Wasser- und Bodenverbände, in denen sie Mitglied sind, übertragen. Zudem können Gemeinden, wenn es aus Gründen des Allgemeinwohls erforderlich ist, die Aufgabe der Abwasserbeseitigung zusammen mit dem Satzungsrecht ortsnah auf andere Körperschaften des öffentlichen Rechts oder auf rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts durch öffentlich-rechtlichen Vertrag, der der Genehmigung der Kommunalaufsichtsbehörde bedarf, übertragen. § 18 Abs. 1 und 3 bis 7 sowie die §§ 19 und 21 GkZ finden insoweit Anwendung (§ 31a Abs. 3 Satz 1 und 2 LWG 2010).
29
Eine Anwendung der Übertragungsvorschriften des § 31a Abs. 1 und 3 Satz 1 und 2 LWG 2010 scheidet jedoch für den Beklagten aus, da hinsichtlich einer Aufgabenübertragung von dem grundsätzlich Abwasserbeseitigungspflichtigen die für die Ämter speziellere Vorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AmtsO anzuwenden ist (vgl. Wolf, in: Praxis der Kommunalverwaltung, Stand: 08/2019, § 5 AmstO, Nr. 1.1, S. 155). Hiernach können mehrere amtsangehörige Gemeinden gemeinsam dem Amt die Trägerschaft von Selbstverwaltungsaufgaben ganz oder teilweise u.a. für die Abwasserbeseitigung (Nr. 1) übertragen. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 AmtsO muss der Übertragungsbeschluss unter Bezugnahme auf den Katalog nach Satz 1 die betroffene Aufgabe sowie den Umfang der Übertragung genau bezeichnen (Satz 2). Die Übertragung der Aufgabe kann hier zunächst in dem vorgelegten Beschluss der Gemeindevertretung vom 27. November 1980 gesehen werden. Dort heißt es zu Tagesordnungspunkt 5 (Abwasserabgabe und Klärschlammbeseitigung) unter b):
30
„Gemäß § 5 Abs. 1 der Amtsordnung überträgt die Gemeinde D die Klärschlammbeseitigung ab 01.01.1982 auf das Amt.“
31
§ 5 AmtsO ist in Reaktion auf das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts neu gefasst worden, vor dem Hintergrund, dass sich die Ämter in Folge zunehmender Übertragung von Selbstverwaltungsaufgaben durch die Gemeinden zu Gemeindeverbänden entwickelten (LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 26. Februar 2010 – LVerfG 1/09 –, juris, LS 1). Mit dem neu eingeführten § 5 Abs. 1 Satz 3 AmtsO (durch Gesetz zur Änderung kommunalverfassungs- und wahlrechtlicher Vorschriften vom 22. März 2012, GVOBl, S. 371ff.) darf das Amt höchstens Träger von fünf der in Satz 1 enumerativ aufgeführten Selbstverwaltungsaufgaben werden.
32
Hinsichtlich des quantitativen Höchstmaßes der Aufgabenübertragung ist nicht – entgegen der von dem Beklagten in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung – auf die Gemeinden, sondern allein auf das Amt abzustellen. Dies ergibt sich bereits aus dem eindeutigen Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 3 AmtsO („Durch Übertragungsbeschlüsse darf das Amt Träger von höchstens fünf der in Satz 1 enumerativ aufgeführten Selbstverwaltungsaufgaben werden“). Aus der Vorschrift ergibt sich gerade nicht, dass die Gemeinden jeweils fünf Aufgaben übertragen können. Hierfür spricht auch der Sinn und Zweck der Norm, welche als Reaktion auf das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts eingeführt wurde und eine zu starke Aufgabenübertragung auf die Ämter verhindern will. Bezugspunkt sind damit auch aus diesem Gesichtspunkt die Ämter und nicht die Gemeinden.
33
Nach Art. 12 (Übergangsvorschrift) des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungs- und wahlrechtlicher Vorschriften vom 22. März 2012 heißt es u.a., dass
34
„die amtsangehörigen Gemeinden derjenigen Ämter, die durch die Übertragung von Selbstverwaltungsaufgaben oder durch Übergang nach dem bisherigen § 23 des Gesetzes über kommunale Zusammenarbeit (GkZ) Aufgaben unter Überschreitung des Rahmens des neuen § 5 Abs. 1 der Amtsordnung (AO) übernommen haben, (…) darüber (entscheiden), welche der von ihnen übertragenen Aufgaben in der Trägerschaft des Amtes verbleiben (Nr. 1 Satz 1 Buchst. a)). Die Ämter bleiben Träger der Aufgaben, die nach den Beschlüssen der Gemeindevertretungen dem Amt übertragen bleiben sollen (…) (Nr. 1 Satz 4 1. HS). Im Übrigen bleiben sie Träger der Aufgaben bis zur Wirksamkeit der erforderlichen Gemeindebeschlüsse über die Rückübertragung in die eigene Trägerschaft oder die Übertragung auf einen anderen Träger, längstens bis zum 31. Dezember 2014 (Nr. 1 Satz 5). Sofern durch Beschlüsse der Gemeindevertretungen bis zum 31. Dezember 2014 nicht der Zustand eingetreten ist, dass das betreffende Amt Aufgabenträger in dem gemäß § 5 Abs. 1 AO zulässigen Rahmen ist, fallen alle vom Amt übernommenen Selbstverwaltungsaufgaben mit Ablauf dieses Tages an die jeweiligen amtsangehörigen Gemeinden zurück (…) (Nr. 1 Satz 6 1. HS).“(Unterstreichung durch das Gericht.)
35
Gemäß § 5 Abs. 6 AmtsO hat das Amt unverzüglich der zuständigen Kommunalaufsicht die Aufgabenübertragung bzw. Rückübertragung anzuzeigen.
36
Solche Unterlagen hat der Beklagte vorliegend trotz Aufforderung des Gerichts nicht eingereicht.
37
Es ist nicht erkennbar, ob dem Amt im Höchstmaß mehr als fünf Aufgaben durch die amtsangehörigen Gemeinden übertragen worden sind. Ferner kann nicht nachvollzogen werden, ob bis zum 31. Dezember 2014 ein weiterer Beschluss durch die Gemeindevertretung gefasst worden ist, um die Abwasserbeseitigungspflicht weiterhin bei dem Beklagten zu belassen. Wird eine quantitativ unzulässige Übertragung von Aufgaben unterstellt, wären alle vom Amt übernommenen Selbstverwaltungsaufgaben, in Ermangelung eines weiteren Beschlusses, mit Ablauf dieses Tages an die jeweiligen amtsangehörigen Gemeinden zurückgefallen und dem Beklagten fehlte im streitgegenständlichen Zeitpunkt die Verbandszuständigkeit für die Teilaufgabe der Abwasserbeseitigung in Form der Klärschlammbeseitigung (einschließlich der Abgabenerhebung).
38
Einer abschließenden Bewertung dieser Frage bedarf es allerdings nicht, da die Abwassersatzung gegen das Zitiergebot gem. § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG sowie gegen § 2 Abs. 1 Satz 2 KAG verstößt.
39
Die streitgegenständliche Satzung gibt nicht die Rechtsvorschriften an, welche zum Erlass der Satzung berechtigen, § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG. Dies ist aber insbesondere bei belastenden Eingriffen wie der Abgabenerhebung erforderlich (VG Schleswig, Beschluss vom 23. Oktober 2018 – 4 B 245/17 –, juris, Rn. 25; Friedersen/Stadelmann, in: Praxis der Kommunalverwaltung, Stand: 02/2020, § 66 LVwG, Erl. 2, Nr. 2). Die Exekutive muss durch Angabe ihrer Ermächtigungsgrundlage sich selbst des ihr aufgegebenen Normsetzungsprogramms vergewissern und hat sich auf dieses zu beschränken. Es kommt daher nicht nur darauf an, ob sie sich überhaupt im Rahmen der delegierten Rechtssetzungsgewalt bewegt, vielmehr muss sich die in Anspruch genommene Rechtssetzungsbefugnis gerade aus den von ihr selbst angeführten Vorschriften ergeben. Außerdem dient das Zitiergebot der Offenlegung des Ermächtigungsrahmens gegenüber dem Adressaten der Satzung. Das soll ihm die Kontrolle ermöglichen, ob die Satzung mit dem ermächtigenden Gesetz übereinstimmt (ebenso für Verordnungen: BVerfG, Beschluss vom 29. April 2010 – 2 BvR 871/04 –, juris, Rn. 51; zum Ganzen: OVG Schleswig, Urteil vom 14. September 2017 – 2 KN 3/15 –, juris, Rn. 59; OVG Schleswig, Urteil vom 27. Juni 2019 – 2 KN 1/19 –, juris, Rn. 34).
40
Insofern gehört zur zutreffenden Angabe der zum Erlass der Satzung berechtigenden Rechtsvorschriften im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG nicht nur die genaue Angabe der zur Erhebung der Abgabe berechtigenden Norm des Kommunalabgabengesetzes, sondern bei kommunalen Abgaben auch deren nach dieser Norm namentlich zutreffende Bezeichnung (VG Schleswig, Urteil vom 06 März 2019 – 4 A 115/16 –, juris, Rn. 24). Berechtigt eine Norm zur Erhebung unterschiedlicher Abgaben – wie zur Erhebung der Kurabgabe und der Tourismusabgabe –, so gehört zur genauen Bezeichnung der zum Erlass der Satzung berechtigenden Rechtsvorschriften im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG auch die Nennung des zutreffenden Absatzes bzw. der zutreffenden Absätze der Norm, gegebenenfalls einschließlich des dazugehörenden Satzes oder der dazugehörenden Sätze, die zur Erhebung der gewählten Abgabe berechtigen (OVG Schleswig, Urteil vom 27. Juni 2019 – 2 KN 1/19 –, juris, Rn. 35ff.; vgl. auch OVG Schleswig, Urteil vom 14. September 2017
41
– 2 KN 3/15 –, juris, Rn. 59). Das Zitiergebot umfasst jedenfalls dann, wenn dem Bürger neue Pflichten auferlegt werden und die Satzung auf mehreren Ermächtigungsgrundlagen beruht, nicht nur die Bezeichnung der allgemeinen Rechtsgrundlagen, sondern die Pflicht, diese Ermächtigungsgrundlagen vollständig zu zitieren, gemeinsam anzugeben und insbesondere konkret zu benennen, welche einzelne Vorschrift welchen Gesetzes die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage enthält (OVG Schleswig, Urteil vom 18. Januar 2018
42
– 3 KN 4/14 –, juris, Rn. 33). Bei einer Übertragung einer gemeindlichen Selbstverwaltungsaufgabe sind zudem die Rechtsvorschriften zu nennen, die dazu berechtigen die zur Gebührenerhebung berechtigende Aufgabe und die dazugehörige Satzungsbefugnis zu übertragen (OVG Schleswig, Urteil vom 27. Juni 2019 - 2 KN 1/19 -, juris, Rn. 52).
43
Gemessen an diesen Vorgaben verstößt die Abwassersatzung gegen § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG.
44
Die Abwassersatzung in der Fassung vom 23. November 2004 und 1. Nachtragssatzung vom 17. Dezember 2009 zitieren die
45
§ 24a AmtsO in Verbindung mit §§ 4 und 17 der GO, §§ 31 und 31a LWG, Art. II des Gesetzes zur Regelung abgabenrechtlicher Vorschriften vom 24. November 1998.
46
Die Abwassersatzung in der maßgeblichen Fassung der 2. Nachtragssatzung vom 01. Dezember 2016 zitiert darüber hinaus die
47
§§ 1 und 6 KAG.
48
Einen Verstoß gegen das Zitiergebot begründet zunächst nicht die Angabe fehlerhafter oder überflüssiger Vorschriften, da der Sinn und Zweck des § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG ebenfalls erreicht wird, wenn die zutreffenden Vorschriften zumindest (auch) benannt werden (vgl. VG Schleswig, Urteil vom 26. September 2018 – 4 A 209/17 –, juris, Rn. 48). Die fehlerhafte Zitierung darf allerdings nicht irreführend für den Normadressaten sein (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 13.02.2020 – 2 LB 16/19 –, juris, Rn. 25; VG Schleswig, Beschluss vom 16. Juli 2020 – 4 B 24/20 –, juris, Rn. 23). Fehlerhaft ist insoweit die Benennung von § 31a LWG in der Ursprungssatzung vom 2004, in der 1. Nachtragssatzung von 2009 und der 2. Nachtragssatzung von 2016. Während § 31a LWG in der Fassung vom 6. Januar 2004 die Beseitigung von Niederschlagswasser regelt, ist § 31a LWG in der Fassung vom 11. Februar 2008 gestrichen worden und § 31a LWG 2010 für das Amt nicht heranzuziehen. Zudem ergibt sich die grundsätzliche Abwasserbeseitigungspflicht hinsichtlich der 2. Nachtragssatzung vom 28. November 2016 nicht aus § 31 LWG 2010, sondern § 30 Abs. 1 LWG 2010. Zutreffend ist lediglich die Nennung von § 31 LWG 2004 und 2008. Hierdurch werden aber nicht alle zutreffenden Vorschriften benannt.
49
Aus den vorstehenden in der Eingangsformel zitierten Normen ergibt sich außerdem nicht umfassend, welche Vorschriften zur Erhebung kommunaler Abgaben durch den Beklagten berechtigen. Die Befugnis zum Erlass der vorliegenden Abwasserbeseitigungssatzung ergibt sich nicht aus den in der Eingangsformel zitierten § 24a AmtsO, §§ 4 und 17 GO. § 4 GO beschreibt lediglich den Erlass von Satzungen als zulässige Handlungsform. § 17 GO sieht nur Bestimmungen zum Anschluss- und Benutzungszwang vor und berechtigt, diesen für öffentliche Einrichtungen durch Satzung vorzuschreiben. Die im vorliegenden Fall in der Abwassersatzung getroffenen Regelungen zur Gebührenerhebung (§§ 12 ff. AbwS) sind losgelöst von Anschluss- und Benutzungszwang (§ 3 AbwS) isoliert zu betrachten.
50
Erst eine Zitierung der
51
§ 1 Abs. 2, §§ 2 und 6 KAG, § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AmtsO
52
gibt den Ermächtigungsrahmen vollständig wieder.
53
Aus § 1 Abs. 2 KAG ergibt sich, dass u.a. Ämter in Erfüllung ihrer Selbstverwaltungsaufgaben – um eine solche handelt es sich hier, da sich der Charakter der Aufgabe durch den Übergang nicht ändert – kommunale Abgaben erheben können. Die Vorschrift ist auch absatzgetreu zu zitieren, da die Norm hinsichtlich der zur Abgabenerhebung berechtigten Körperschaft des öffentlichen Rechts in den Absätzen 1 und 2 differenziert (zum Zweckverband: OVG Schleswig, Urteil vom 27. Juni 2019 – 2 KN 1/19 –, juris, Rn. 41).
54
§ 2 KAG schränkt den Ermächtigungsrahmen ein, indem eine Abgabenerhebung unter den Vorbehalt satzungsrechtlicher Regelung gestellt wird. Fehlt eine Zitierung der Vorschrift, wird dem Normadressaten nicht klar, dass eine kommunale Abgabe nur auf der Grundlage einer Satzung erhoben werden darf. Gleiches gilt insoweit für § 6 KAG. Die Rechtsnorm konkretisiert den Ermächtigungsrahmen für die Erhebung von Benutzungsgebühren und stellt für diesen Fall besondere Anforderungen an den Satzungsgeber.
55
Ferner begründet erst die Zitierung von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AmtsO, dass mehrere amtsangehörige Gemeinden gemeinsam dem Amt die Trägerschaft u.a. der Abwasserbeseitigung (Nr. 1) ganz oder teilweise übertragen können. Unterbleibt die Nennung dieser Vorschrift wird nicht klar, dass in Abweichung von der grundsätzlichen Abwasserbeseitigungspflicht der Gemeinden aus § 30 Abs. 1 LWG 2010 durch Übertragung der Aufgabe ein Amt kommunale Abgaben erheben kann.
56
Ein Verstoß gegen § 66 Abs. 1 Nr. 2 LVwG führt zur Rechtswidrigkeit und damit Unwirksamkeit der Satzung (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 27. Juni 2019 - 2 KN 1/19 -, juris,
57
Rn. 33, und vom 14. September 2017 - 2 KN 3/15 -, juris, Rn. 57; vgl. auch OVG Schleswig, Urteil vom 18. Januar 2018 - 3 KN 4/14 -, juris, Rn. 32; vgl. für Verordnungen: BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1-45, juris, Rn. 159). § 66 Abs. 1 LVwG ist keine bloße Ordnungsvorschrift, wie der Vergleich mit den Soll-Vorgaben des § 66 Abs. 2 LVwG zeigt (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 21. Juni 2000 - 2 L 80/99 -, juris, Rn. 39).
58
Unabhängig davon verstößt die Abwassersatzung gegen § 2 Abs. 1 Satz 2 KAG.
59
Hiernach muss die Satzung den Gegenstand der Abgabe, die Abgabenschuldnerinnen und Abgabenschuldner, die Höhe und die Bemessungsgrundlage der Abgabe sowie den Zeitpunkt ihrer Entstehung und ihrer Fälligkeit angeben. Diesen Anforderungen wird die Abwassersatzung nicht gerecht, da es an einer wirksamen Regelung zu dem Entstehungszeitpunkt fehlt.
60
Zwar regelt § 16 Abs. 1 Satz 1 AbwS den Entstehungszeitpunkt der Abgabenschuld.
61
§ 16 Abs. 1 Satz 1 AbwS verstößt jedoch gegen höherrangiges Recht und ist daher unwirksam, denn die Norm steht im Widerspruch zu § 11 Abs. 1 Satz 2 KAG in Verbindung mit § 38 AO. Die Frage der Entstehung ist allein nach Landesrecht zu beurteilen. Im KAG findet sich keine Regelung zur Entstehung der Benutzungsgebühr. Anwendung findet daher § 11 Abs. 1 Satz 2 KAG in Verbindung mit § 38 AO (zur Zweitwohnungssteuer vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 18. Oktober 2000 – 2 L 112/99 –, Rn. 24, juris m. w. N.; zu Straßenreinigungsgebühren vgl. VG Schleswig, Urteil vom 6. Februar 2019 – 4 A 167/16; VG Schleswig, Urteil vom 06. März 2019 – 4 A 115/16 –, juris, Rn. 30). Danach entstehen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.
62
Hierzu steht die Regelung in § 16 Abs. 1 Satz 1 AbwS im Widerspruch, wonach die Benutzungsgebührenpflicht jeweils am Beginn eines Kalenderjahres, frühestens jedoch mit dem 1. des Monats, der auf die Inbetriebnahme der Grundstücksentwässerungsanlage folgt, entsteht. Zu diesem Zeitpunkt ist der Tatbestand, an den die Abwassersatzung die Benutzungsgebührenpflicht anknüpft, noch nicht vollständig verwirklicht, denn diese entsteht nach § 1 Abs. 2 AbwS in Verbindung mit § 12 AbwS für die unschädliche Beseitigung des in Kleinkläranlagen anfallenden Fäkalschlamms. Diese findet jedoch erst ein- bis zweimal jährlich sukzessive durch Entleerung oder Entschlammung der Kleinkläranlagen im Wege der Regel- oder Bedarfsentleerung statt (§ 8 Abs. 1 und 2 AbwS).
63
Sind die Regelungen in einer Satzung, die die gesetzlich geforderten Mindestangaben enthalten, unwirksam, führt auch dies nach Auffassung der Kammer im Ergebnis zur Unwirksamkeit der Abgabensatzung, zumindest im Hinblick auf den die Gebührenerhebung betreffenden Teil (§§ 12 ff. AbwS). Die Satzung enthält dann im Ergebnis nicht die von § 2 Abs. 1 Satz 2 KAG geforderten Mindestangaben (VG Schleswig, Urteil vom 06. März 2019 – 4 A 115/16 –, juris, Rn. 34; i. E. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Januar 2009
64
– OVG 9 A 1.07 –, juris, Rn. 40 f.; VG Greifswald, Urteil vom 1. November 2013 – 3 A 535/11 –, juris, Rn. 11 f.; VG Cottbus, Urteil vom 25. Januar 2007 – 6 K 1584/03 –, juris, Rn. 127; VG Koblenz, Urteil vom 27. Juni 2005 – 8 K 2493/04.KO –, juris, Rn. 44 f.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 12. Juni 2003 – 13 K 6442/99 –, juris, Rn. 65).
65
Eine geltungserhaltende Auslegung der Abwassersatzung unter (direkter) Heranziehung von § 38 AO scheidet aus, weil § 2 Abs. 1 Satz 2 KAG ausdrücklich fordert, dass die Satzung selbst den Zeitpunkt der Entstehung der Abgabe regelt, (VG Schleswig, Urteil vom
66
6. März 2019 – 4 A 115/16 –, juris, Rn. 33).
67
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
68
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Tenor
Auf die Beschwerden der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 8. Kammer - vom 29. April 2020 geändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,
1. innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieses Beschlusses eine Rangfolge unter den Antragstellerinnen und Antragstellern der Beschwerdeverfahren
2 NB 250/20, 2 NB 251/20, 2 NB 252/20,2 NB 253/20, 2 NB 255/20, 2 NB 256/20und 2 NB 260/20
auszulosen und
2. diejenige Antragstellerin bzw. denjenigen Antragsteller nach den Rechtsverhältnissen des Sommersemesters 2020 vorläufig zum Studium der Humanmedizin im 1. Fachsemester auf einen Teilstudienplatz zuzulassen,
a) auf die bzw. den bei der Verlosung der 1. Rangplatz entfällt
b) und die bzw. der innerhalb von zwei Wochen, nachdem ihr bzw. ihm die Zuweisung des Studienplatzes im Wege der Zustellung durch Postzustellungsurkunde bekannt gegeben worden ist, bei der Antragsgegnerin die vorläufige Immatrikulation beantragt und hierbei an Eides Statt versichert haben, dass sie bzw. er an keiner anderen Hochschule im Bundesgebiet vorläufig oder endgültig zum Studium der Humanmedizin auf einen Studienplatz zugelassen ist, sowie
3. nach Maßgabe der gemäß Ziffer 1. ausgelosten Reihenfolge von den nach Ziffer 2. a) unberücksichtigt gebliebenen Antragstellerinnen bzw. Antragstellern im Wege des Nachrückens eine weitere Antragstellerin bzw. einen weiteren Antragsteller nach den Rechtsverhältnissen des Sommersemesters 2020 vorläufig zum Studium der Humanmedizin im 1. Fachsemester auf einen Teilstudienplatz zuzulassen, wenn eine rangbessere Antragstellerin ihre bzw. ein rangbesserer Antragsteller seine vorläufige Immatrikulation nicht nach Maßgabe der Ziffer 2. b) beantragt hat.
Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen jeweils 9/10 und die Antragsgegnerin trägt jeweils 1/10 der Kosten des jeweiligen gesamten Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf jeweils 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Durch Beschluss vom 29. April 2020, auf den wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und der Begründung Bezug genommen wird, hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragstellerinnen und Antragsteller (im Folgenden: Antragsteller) abgelehnt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie vorläufig zum Studium der Humanmedizin im 1. Fachsemester auf einen Vollstudienplatz, hilfsweise einen Teilstudienplatz nach den Rechtsverhältnissen des Sommersemesters 2020 innerhalb und außerhalb der festgesetzten Kapazität zuzulassen. Dabei ist das Verwaltungsgericht im Sommersemester 2020 für das 1. Fachsemester von einer Aufnahmekapazität von 124 Vollstudienplätzen ausgegangen; dies entspricht den Festsetzungen der Verordnung über Zulassungszahlen für Studienplätze zum Wintersemester 2019/2020 und zum Sommersemester 2020 vom 3. Juli 2019 - ZZ-VO 2019/2020 (Nds. GVBl. S. 163) in der zum Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung maßgeblichen Fassung der Änderungsverordnung vom 7. November 2019 (Nds. GVBl. S. 349). Hinsichtlich der Teilstudienplätze hat das Verwaltungsgericht für das 1. Fachsemester im Sommersemester 2020 eine Kapazität von 41 errechnet; auch dies entspricht den Festsetzungen der genannten Verordnungen.
2
Hiergegen führen die Antragsteller ihre jeweilige Beschwerde.
II.
3
Die Beschwerde der Antragsteller mit dem jeweiligen sinngemäßen Beschwerdeantrag,
4
die Antragsgegnerin unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts Göttingen im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie nach den Rechtsverhältnissen des Sommersemesters 2020 vorläufig zum Studium im Studiengang Humanmedizin im 1. Fachsemester außerhalb der festgesetzten Kapazität, hilfsweise innerhalb der festgesetzten Kapazität auf einen Vollstudienplatz, hilfsweise auf einen Teilstudienplatz zuzulassen,
5
haben teilweise Erfolg.
6
Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats ist im 1. Fachsemester noch ein weiterer Teilstudienplatz verfügbar, sodass die Beschwerden der Antragsteller nach den aus dem Tenor ersichtlichen Maßgaben teilweise begründet (dazu 1.) und im Übrigen unbegründet (dazu 2.) sind.
7
1. Für das 1. Fachsemester des Studienjahres 2019/2020 geht der Senat - wie in seiner Entscheidung zum vorangegangenen Wintersemester 2019/2020 (vgl. Senatsbeschl. v. 23.7.2020 - 2 NB 690/19 -, juris Rn. 10) - im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung von den Festsetzungen in der Änderungsverordnung vom 7. November 2019 aus. Hiernach sind im 1. Fachsemester für das gesamte Studienjahr 2019/2020 372 (statt ursprünglich 370) Studienplätze, für das Wintersemester 2019/2020 168 (statt ursprünglich 146) Vollstudienplätze und 39 Teilstudienplätze (wie zuvor) und für das Sommersemester 2020 124 (statt ursprünglich 146) Vollstudienplätze sowie 41 (statt wie bisher 39) Teilstudienplätze festgesetzt.
8
Im 1. Fachsemester des Sommersemesters 2020 sind nach der von der Antragsgegnerin mit ihrem Beschwerdeerwiderungsschriftsatz vom 28. September 2020 vorgelegten endgültigen Belegungsliste insgesamt 124 zählbare Vollstudienplätze und 41 Teilstudienplätze belegt. Daher stehen an sich keine weiteren freien Voll- und Teilstudienplätze zur Verfügung. Unter Berücksichtigung der von der Antragsgegnerin für das Studienjahr 2019/2020 festgesetzten Kapazität ergibt sich indes ein geringfügig anderes Bild. Ausweislich den von der Antragsgegnerin vorgelegten Belegungslisten für das Wintersemester 2019/2020 waren (einschließlich der vom Senat mit dem oben genannten Beschluss zusätzlich zugelassenen Studierenden) 168 Vollstudienplätze belegt, sodass auf das gesamte Studienjahr bezogen die 292 verfügbaren Vollstudienplätze belegt sind. Da im Wintersemester 2019/2020 aber nur 39 und im Sommersemester 2020 nur 41 Teilstudienplätze belegt waren, steht unter Berücksichtigung der Berechnung des Senats zum Wintersemester 2019/2020 (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 23.7.2020 - 2 NB 690/19 -, juris Rn. 14 ff. und Rn. 28 f.: insgesamt 81 Teilstudienplätze) bezogen auf das gesamte Studienjahr 2019/2020 mit 41 und 39 belegten Teilstudienplätzen noch ein weiterer Teilstudienplatz zur Verfügung, der bisher nicht vergeben ist. Dieser Umstand resultiert aus der entgegen der Kapazitätsberechnung der Antragsgegnerin - wie die Antragsteller zu Recht in ihren Beschwerdebegründungen anführen - richtigerweise für Prof. Dr. H. in Ansatz zu bringenden Lehrverpflichtung von im Ergebnis 4,5 LVS statt 4,0 LVS (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 23.7.2020 - 2 NB 690/19 -, juris Rn. 18 und v. 30.1.2020 - 2 NB 498/19 -, juris Rn. 19 f.).
9
Die Antragsteller der vorliegenden sechs Beschwerdeverfahren und die weitere Antragstellerin des Beschwerdeverfahrens 2 NB 250/20 haben entsprechend ihrem jeweiligen Hilfsantrag mithin einen Anspruch auf Teilnahme an der im Losverfahren zu erfolgenden Vergabe dieses einen freien Teilstudienplatzes. Dieser Anspruch folgt auch für Teilstudienplätze aus dem aus Art. 12 Abs. 1 GG folgenden Gebot der Kapazitätserschöpfung, wonach tatsächlich vorhandene Kapazitäten auszuschöpfen und freie Studienplätze in gemäß Art. 3 Abs. 1 GG gleichheitskonformer Verteilung zu besetzen sind. Die Kapazitätsberechnung bezieht sich auf das gesamte Studienjahr und nicht lediglich auf ein einzelnes Semester (Senatsbeschl. v. 23.7.2020 - 2 NB 690/19 -, juris Rn. 22).
10
2. Die weitergehenden Beschwerden der Antragsteller haben hingegen keinen Erfolg, soweit sie sich auf einen Vollstudienplatz (dazu a) und hilfsweise einen (weiteren) Teilstudienplatz (dazu b) beziehen.
11
a) Soweit die Antragsteller mit ihrem jeweiligen Hauptantrag auch in ihren Beschwerdeverfahren jeweils die vorläufige Zulassung auf einen Vollstudienplatz im 1. Fachsemester begehren, scheitert dieser Anspruch bereits daran, dass es ihrer Beschwerdebegründung an einer nach § 146 Abs. 4 Satz 3 in Verbindung mit § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO erforderlichen Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Berechnung der Vollstudienplätze fehlt. Insoweit sind die Beschwerden mithin nach § 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO bereits unzulässig. Einwände gegen die von der Antragsgegnerin während der Beschwerdeverfahren vorgelegten endgültigen Belegungslisten des Vollstudiums im 1. Fachsemester des Wintersemesters 2019/2020 und des Sommersemesters 2020 haben die Antragsteller nicht erhoben.
12
b) Die Berechnung der Teilstudienplätze durch das Verwaltungsgericht und die Antragsgegnerin ist - abgesehen von der aufgezeigten Erhöhung des Lehrangebots um 0,5 LVS - nicht im Sinne der Antragsteller zu korrigieren.
13
Soweit die Antragsteller die Berechnungsweise des Verwaltungsgerichts als fehlerhaft rügen, führt dieser Einwand nicht zum Erfolg der Beschwerden. Der Senat folgt - wie auch in den Vorjahren (vgl. etwa Senatsbeschl. v. 30.1.2020 - 2 NB 770/18 -) - vielmehr der hiervon abweichenden Kapazitätsberechnung der Antragsgegnerin.
14
Der Beschwerdeeinwand der Antragsteller gegen die Berechnung des Dienstleistungsexports seitens der Antragsgegnerin greift nicht durch. In der Rechtsprechung des Senats ist bereits hinlänglich geklärt, dass der von der Antragsgegnerin in Ansatz gebrachte Dienstleistungsexport in die sogenannten innovativen Studiengänge anzuerkennen ist (vgl. zuletzt Senatsbeschl. v. 30.1.2020 - 2 NB 770/18 - und Senatsurt. v. 25.6.2019 - 2 LC 655/17 -, juris Rn. 42 m.w.N.).
15
Soweit die Antragsteller unter Zitierung der Ausführungen des Senats in seinem Beschluss vom 25. August 2016 - 2 NB 247/16 u.a. - einwenden, dass für den Studiengang Zahnmedizin der aus dem Beispielstundenplan resultierende Curricularnormwert von 0,8666 wegen der Unterschreitung der Vorgabe dieses Studienplans nicht in Ansatz gebracht werden könne, weist der Senat darauf hin, dass diese Unterschreitung lediglich bis zum Sommersemester 2018 angedauert hatte und für die Studienjahre ab 2018/2019 wieder der genannte Curricularanteil zugrunde gelegt werden kann (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 30.1.2020 - 2 NB 770/18 -, juris Rn. 24). Des Weiteren ist im Fall eines Dienstleistungsexports nach der nunmehr ständigen Senatsrechtsprechung eine Schwundberechnung nicht vorzunehmen (vgl. hierzu Senatsurt. v. 25.6.2019 - 2 LC 655/17 -, juris Rn. 43 m.w.N. und zuletzt Senatsbeschl. v. 23.7.2020 - 2 NB 690/19 -, juris Rn. 22 m.w.N.).
16
Der Senat hält des Weiteren auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens der Antragsteller an seiner Rechtsprechung fest, dass die Antragsgegnerin wegen eines Sondereffekts im Studienjahr 2016/2017 ihre Schwundberechnung von einem regulären Schwundfaktor von 1,1691 um den Wert von 0,0481 auf einen effektiven Schwundfaktor von 1,1210 korrigieren durfte. Die Antragsgegnerin sieht den zu berücksichtigenden Sondereffekt ohne Rechtsfehler darin begründet, dass die Erhöhung der Vollstudienplätze durch die geänderte Rechtsprechung des Senats hinsichtlich der Einbeziehung der Privatpatienten im Studienjahr 2016/2017 zu einer entsprechenden Senkung der Teilstudienplätze geführt habe und in höheren Fachsemestern des Teilstudiums dementsprechend Schwund nicht mehr durch eine Aufnahme neuer Studierender ausgeglichen worden sei. Daher durfte die Antragsgegnerin diesen Sondereffekt im Rahmen ihres Regelungsermessens (vgl. dazu Zimmerling/Brehm, Hochschulkapazitätsrecht, Band 2, 2013, Rn. 697 m.w.N. und OVG NRW, Beschl. v. 31.7.2012 - 13 C 28/12 -, juris Rn. 44) für die Prognostik des künftigen Schwundverhaltens eliminieren.
17
Die Kostenentscheidung folgt jeweils aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und orientiert sich in pauschalierender Weise zum einen am Unterliegen der Antragsteller in Bezug auf einen Vollstudienplatz im 1. Fachsemester (1/2 der Verfahrenskosten) und zum anderen an den Erfolgsaussichten in dem angeordneten ergänzenden Losverfahren bei einem zu vergebenden weiteren Teilstudienplatz im 1. Fachsemester und insgesamt acht an dieser Verlosung teilnehmenden Antragstellern.
18
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG.
19
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Landesamtes für Finanzen, Dienststelle Regensburg, vom 23.07.2019 und des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Schadensersatz für die Beschädigung seines PKW am 23.05.2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte und der Kläger je zur Hälfte.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt wegen eines Unfalls mit seinem PKW Sachschadensersatz durch den Beklagten.
Der am … geborene Kläger steht als Landwirtschaftsamtmann beim Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten im Dienste des Beklagten. Er beantragte mit Formblattantrag vom 09.07.2019, eingegangen beim Landesamt für Finanzen am 12.07.2019, Sachschadenersatz gemäß Art. 98 Abs. 2 BayBG. Der Kläger gab im Antrag an, dass sich das Unfallereignis am 23.05.2019 auf der Autobahn A6 H* … in Richtung N* … auf dem Rasthof „K* …“ ereignet habe. Ein Verschulden Dritter am Unfallereignis liege nicht vor, auch habe er die letzten 24 Stunden vor dem Unfall keine die Verkehrssicherheit beeinflussenden Mittel zu sich genommen. Der Unfall sei nicht durch die Polizei oder Staatsanwaltschaft untersucht worden und es gebe keine Zeugen. Der Sachschaden sei bereits schriftlich bei der E* … Versicherung beantragt worden [Anm.: abgelehnt mit der Begründung, dass durch den Toilettengang die Dienstreise unterbrochen worden sei und damit nicht mehr von einem Wegeunfall auszugehen sei]. Als Anlage 1 fügte er dem Formblattantrag folgende Unfallbeschreibung bei:
„Kartenausschnitt der Autobahnraststätte mit Kennzeichnung, wo der Unfall passiert ist“
Als Anlage 2 wurde ein Kostenvoranschlag des Autohauses L* … vom 27.05.2019 für die Reparatur mit übersandt (2.643,66 € inkl. MwSt), als Anlage 3 die Dienstreisegenehmigung vom 02.05.2019 für die Dienstreise nach T* … am 23.05.2019. Als Verkehrsmittel von der Wohnung des Klägers (* … 26, A* …*) nach T* … und zurück wurde dabei „PKW mit triftigen Gründen“ genehmigt.
Mit Bescheid vom 23.07.2019 lehnte das Landesamtes für Finanzen, Dienststelle Regensburg die Gewährung von Sachschadensersatz anlässlich des Schadensereignisses vom 23.05.2019 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der mit dem Dienst zusammenhängende Weg nach und von der Dienststelle nur insoweit geschützt sei, als er seine wesentliche Ursache im Dienst(-weg) habe. Der innere Zusammenhang mit dem Dienst werde grundsätzlich durch Abwege, Umwege oder Unterbrechungen unterbrochen (Nr. 46.2.2 BayVV-Versorgung). Eine Unterbrechung sei eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit, die in das Zurücklegen des Weges eingeschoben werde. Es bestehe ausnahmsweise Unfallschutz, wenn die Unterbrechung lediglich unwesentlich sei. Keine unwesentliche Unterbrechung sei das Verlassen des öffentlichen Verkehrsraums als Fußgänger bzw. bereits das Aus-/Absteigen als Kraftfahrer (Nr. 46.2.2.3 BayVV-Versorgung). Für das Zurücklegen des Dienstreiseweges würden die für den Weg nach und von der Dienststelle dargelegten Grundsätze sinngemäß gelten (Nr. 46.1.8.1 BayVV-Versorgung). Für den Toilettengang sei ein Abfahren von der Autobahn auf den Parkplatz, ein Einparken, ein Aussteigen, ein Einsteigen, ein Ausparken und ein erneutes Auffahren auf die Autobahn erforderlich gewesen. Die Toilettenpause sei insgesamt zu bewerten. Der Unterbrechungstatbestand beginne bzw. ende räumlich mit dem Verlassen der Autobahn bzw. des Parkplatzgeländes auf dem sich der Unfall vom 23.05.2019 eindeutig ereignet habe. Unfallschutz bestehe erst wieder mit der Wiederaufnahme des ursprünglichen Weges auf der Autobahn. Der Schadensfall habe sich auf einer dienstunfallrechtlich nicht geschützten Wegstrecke, die aus eigenwirtschaftlichen Gründen zurückgelegt worden sei, ereignet und falle somit in die persönliche Sphäre. Leistungen nach Art. 98 Abs. 2 BayBG i.V.m. Abschnitt 13 VV-BeamtR seien grundsätzlich nicht weitergehend als die aus der Dienstfahrt-Fahrzeugversicherung.
Mit Schreiben vom 19.08.2019, eingegangen beim Beklagten am selben Tag, ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigten Widerspruch gegen den Bescheid erheben und vortragen, dass es unzutreffend sei, dass aus Sicht der Behörde „die Toilettenpause insgesamt“ zu bewerten sei, da dies bereits sozialgerichtlichen Erwägungen widerspräche. Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung fehle es bei einem Unfall, der sich beim Verrichten der Notdurft ereignet habe, zwar an dem erforderlichen inneren Zusammenhang zwischen dem konkreten unfallbringenden Verhalten und dem generell versicherten Tätigkeitsbereich. Allerdings sei Essen und Trinken sowie das Verrichten der Notdurft während der Arbeitszeit im Gegensatz zu bloßen Vorbereitungshandlungen vor der Arbeit dadurch gekennzeichnet, dass sie regelmäßig unaufschiebbare, notwendige Handlungen seien, um die Arbeitskraft des Versicherten zu erhalten und es damit mittelbar zu ermöglichen, die jeweils aktuelle betriebliche Tätigkeit fortzusetzen. Wege, die zu diesen Zwecken zurückgelegt würden, seien von dem mittelbaren Handlungsziel geprägt. Deshalb bestehe auf solchen Wegen Versicherungsschutz. Die Toilettenpause sei daher nicht insgesamt zu bewerten. Die während der Dienstreise erfolgte Ansteuerung und das Verlassen der Toilette seien als Weg zur Toilette zu bewerten, die möglicherweise eigenwirtschaftliche Verrichtung der Notdurft sei hiervon getrennt zu betrachten. Gleiches gelte, soweit sich der Toilettengang nicht an der Dienststelle ereigne, sondern während einer Dienstreise oder beim Weg zur Arbeit. Der Gang zur Toilette gehöre zum geschützten Bereich der Dienstreise, wenn er noch wesentlich der betrieblichen Sphäre zuzurechnen sei. Der Weg etwa zur Dienststelle stelle zwar noch keinen Dienst dar, trotzdem habe der Gesetzgeber selbst den Wegeunfall dem Dienstunfall gleichgestellt, um die Erweiterung der Unfallfürsorge des Dienstherrn auf die Gefahren des allgemeinen Verkehrs im öffentlichen Verkehrsraum, denen sich der Beamte aussetzte, um seinen Dienst zu verrichten, zu erweitern. Damit stelle sich insbesondere nach Aufnahme der Weiterfahrt und dem Eintritt des hiernach entstehenden Schadens der Vorgang als ohne weiteres der betrieblichen bzw. dienstlichen Sphäre zurechenbar dar. Der Dienstunfallschutz lebe damit jedenfalls mit der hier erfolgten Fortsetzung der Fahrt wieder auf, soweit entgegen der hiesigen Einschätzung etwa der vorläufige Weg von der Toilette zum Kraftfahrzeug selbst nicht als geschützt betrachtet würde, was vorliegend allerdings wegen des Schadenseintritts während der Fahrt nicht mehr relevant sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 14.10.2019, den Bevollmächtigten des Klägers nach eigener Angabe mit Postzustellungsurkunde zugestellt am 21.10.2019, wies das Landesamtes für Finanzen, Dienststelle Regensburg den Widerspruch zurück. Der zulässige Widerspruch sei nicht begründet. Mit der Entscheidung im Rahmen der Dienstreise von der Autobahn abzufahren, um die Notdurft verrichten zu können, habe der Widerspruchsführer seinen Weg nicht nur geringfügig unterbrochen und damit nicht weiter unter Unfallschutz gestanden. Der Dienstunfallschutz habe mit dem Abfahren von der Autobahn auf den Parkplatz geendet, da hierbei die Handlungstendenz des Widerspruchsführers erkennbar auf eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit gerichtet gewesen sei, und bestehe erst wieder mit der Aufnahme des ursprünglichen Weges auf der Autobahn. Aufgrund der objektiv erkennbaren eigenwirtschaftlichen Handlungstendenz sei ohne Bedeutung, dass die Unterbrechung nur von geringer zeitlicher Dauer gewesen sei und die WC-Anlage unmittelbar örtlich erreicht werden habe können. Der Schadensfall habe sich beim Auffahren auf die Autobahn und somit noch im Rahmen einer dienstunfallrechtlich nicht geschützten Wegeunterbrechung durch Einschieben einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit ereignet.
Mit Schreiben vom 15.11.2019, eingegangen bei Gericht am selben Tag, hat der Kläger durch seine Bevollmächtigte vorliegende Klage einreichen lassen. Zur Begründung werde zunächst, nachdem der Sachverhalt zwischen den Parteien wenig strittig scheine, auf die Ausführungen aus dem ursprünglichen, für den Kläger gestellten Antrag sowie die Widerspruchsbegründung verwiesen. Mit Schreiben vom 06.12.2019 ließ der Kläger zur weiteren Begründung vortragen, dass er fristgerecht einen Antrag bei der E* … Versicherung gestellt habe und ein solcher Antrag zur Wahrung der Frist ausreichend sei, nachdem sich der Beklagte dieses Unternehmens als Erfüllungsgehilfe bediene. Unter Beachtung der Einlassung des Beklagten im Widerspruchsbescheid, dass es sich beim Abfahren von der Autobahn, um die Notdurft verrichten zu können, um keine geringfügige Unterbrechung der Dienstreise gehandelt habe, wird vorgetragen, dass im Rahmen dieser Ausführungen völlig außer Acht gelassen werde, dass der Schaden erst bei Wiederaufnahme der Fahrt entstanden sei. Ungeachtet dessen sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Dienstunfallschutz auch bei Dienstreisen auf kurze Unterbrechungen wie die hier vorliegende auszudehnen. Der Kläger sei vorliegend nicht etwa unter Inkaufnahme eines Umweges von der Autobahn abgefahren, sondern habe einen parallel zur Autobahn liegenden, unmittelbar angrenzenden Rasthof als öffentliche Verkehrsfläche angefahren.
Der Kläger beantragt,
Der Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung der ablehnenden Entscheidung vom 23.07.2019 in Gestalt der Widerspruchsentscheidung vom 14.10.2019, zugegangen am 21.10.2019, verpflichtet, an den Kläger aufgrund des Ereignisses vom 23.05.2019 Sachschadensersatz in Höhe von 2.718,66 € zu leisten, hilfsweise erneut über den Antrag des Klägers auf Sachschadensersatz in Höhe von 2.718,66 € unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist der Beklagte zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen im Ausgangs- und Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus, dass alleine die Frage streitig sei, ob der Kläger zum Zeitpunkt und am Ort des Unfalls gemäß Art. 98 Abs. 2 BayBG unter Schutz gestanden habe und dementsprechend Anspruch auf Sachschadensersatz bestehe. Dies sei nicht der Fall, da sich der Unfall noch während der Unterbrechung der Dienstreise wegen des dem eigenwirtschaftlichen Bereich des Klägers zuzuordnenden Toilettenbesuchs ereignet habe. Dass sich der Kläger bereits wieder im fahrenden Auto, nämlich auf der vom Rastplatz zur autobahnführenden Fahrbahn, befunden habe, ändere daran nichts. Die Unterbrechung, die der persönlichen Risikosphäre des Klägers zuzurechnen sei, ende erst dann, wenn sich der Beamte wieder auf der eigentlichen Dienstreisestrecke, also auf der Autobahn selbst, befinde. Mit den zitierten Fällen, in denen von der eigentlichen Fahrtstrecke der Dienstreise nicht abgewichen, sondern auf dieser zum Zwecke privater Verrichtungen nur angehalten worden sei, sei der vorliegende Fall deshalb nicht vergleichbar. Der Unterschied besteht darin, dass im vorliegenden Fall in dem Augenblick, als der Kläger von der Hauptfahrtrichtung der Autobahn in die Abfahrt zum Rastplatz abgebogen sei, der eigentliche Dienstreiseweg verlassen und damit unterbrochen worden sei.
Mit Schreiben vom 07.02.2020 und 11.02.2020 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Gründe
Über die Klage konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
Die Klage ist zulässig, hat aber nur teilweise Erfolg.
Der Bescheid des Landesamtes für Finanzen vom 23.07.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf erneute Verbescheidung seines Antrags auf Sachschadensersatz unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Im Übrigen ist die Klage jedoch nicht begründet, weil dem Kläger kein Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung des beantragten Schadensersatzes zusteht. Da die Gewährung des Sachschadensersatzes gemäß Art. 98 Abs. 2 BayBG im Ermessen des Beklagten steht und dieses Ermessen vorliegend nicht auf Null reduziert ist, ist die Sache nicht spruchreif (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist die Ermessensvorschrift des Art. 98 Abs. 2 Bayerisches Beamtengesetz (BayBG). Art. 98 BayBG gründet auf der Fürsorgepflicht des Dienstherrn für seine Beamten und ihre Familien, die grundsätzlich und in gewissen Grenzen auch den Schutz des Eigentums umfasst. Diese Grenzen hat der Gesetzgeber in Art. 98 BayBG konkretisiert und in dessen Absatz 2 den Ersatz von Sachschäden bei Unfällen geregelt. Das Dienstunfallrecht schließt die Anwendung des Art. 98 BayBG nicht aus, Art. 45 Abs. 4 Satz 2 Bayerisches Beamtenversorgungsgesetz (BayBeamtVG).
Werden demgemäß in Ausübung oder infolge des Dienstes Kleidungsstücke oder sonstige Gegenstände, die üblicherweise oder aus dienstlichem Grund im Dienst mitgeführt werden, durch einen Unfall beschädigt oder verloren, so kann der Dienstherr dafür Ersatz leisten, sofern der Beamte oder die Beamtin den Schaden nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat, Art. 98 Abs. 2 BayBG. Ansprüche auf Ersatzleistungen sind gemäß Art. 98 Abs. 3 Satz 1 BayBG innerhalb von drei Monaten nach dem Eintritt des Schadens bei der Dienststelle oder der für die Entscheidung über die Ersatzleistung zuständigen Behörde schriftlich geltend zu machen.
II.
Die Voraussetzungen liegen allesamt vor.
Der Kläger hat seinen Anspruch auf Ersatzleistung innerhalb von drei Monaten nach dem Eintritt des Schadens bei der Dienststelle oder der für die Ersatzleistung zuständigen Behörde schriftlich geltend gemacht, Art. 98 Abs. 3 Satz 1 BayBG. Er hat das Unfallereignis vom 23.05.2019 mit Formblattantrag vom 09.07.2019, eingegangen beim Landesamt für Finanzen am 12.07.2019, bei der für die Entscheidung zuständigen Behörde schriftlich geltend gemacht. Auf den Zeitpunkt der zuvor bereits erfolgten Geltendmachung des Sachschadens bei der E* … Versicherungsdienst GmbH kommt es entscheidungserheblich daher nicht an (vgl. insoweit VG Würzburg, Urteil v. 28.07.2015 - W 1 K 13.1247, juris Rn. 18).
Das Schadensereignis vom 23.05.2019 erfüllt den Begriff des „Unfalls“ im Sinne des Art. 98 Abs. 2 BayBG. Darunter ist ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Schaden verursachendes Ereignis zu verstehen. Der Begriff der äußeren Einwirkung ist, wie im klassischen Dienstunfallrecht, weit zu ziehen und umfasst auch durch eigenes - allerdings nicht bewusst selbstschädigendes - Handeln ausgelöstes Geschehen, auch wenn dieses Handeln als Ungeschicklichkeit zu werten ist (Weiß/Niedermaier/Summer/Zängl, Beamtenrecht in Bayern, Art. 98 Rn. 11; Kathke, Dienstrecht in Bayern Bd. 3, Art. 98 Rn. 11; BeckOK Beamtenrecht Bayern, 17. Ed. - Stand 30.12.2019, Art. 98 Rn. 13). Das Unfallgeschehen hat sich vorliegend in einem kurzen Zeitraum auf dem Rasthof Kammersteiner Land - und damit örtlich und zeitlich bestimmbar - ereignet. Vorliegend hat der Kläger auch nicht bewusst selbstschädigend gehandelt.
Bei dem privaten PKW des Klägers handelt es sich auch um einen „mitgeführten“ Gegenstand im Rahmen der Dienstreise (Weiß/Niedermaier/Summer/Zängl, Beamtenrecht in Bayern, Art. 98 Rn. 14; Plog/Wiedow, BBG § 32 Rn. 19). Dienstreisen sind Reisen zur Erledigung von Dienstgeschäften außerhalb des Dienstorts, die schriftlich oder elektronisch angeordnet oder genehmigt worden sind (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 BayRKG). Ersatz wird dabei auch für private Gegenstände gewährt, die der Beamte zur Ausübung des Dienstes benötigt und deren Benutzung der Dienstvorgesetzte veranlasst oder ausdrücklich zugestimmt hat. Hierzu gehört auch ein Kraftfahrzeug, das aus triftigen Gründen zur Durchführung einer Dienstreise benutzt wird (VV-BeamtR, Abschnitt 13 Nr. 1.5). Die vom Kläger am 30.04.2019 beantragte Dienstreise nach Triesdorf vom 23.05.2019 bis 23.05.2019 wurde - mit Verkehrsmittel „PKW mit triftigen Gründen“ - am 02.05.2019 genehmigt.
Schließlich ist das maßgebliche Ereignis auch „in Ausübung oder infolge des Dienstes“ eingetreten. Voraussetzung hierfür ist, dass der Beamte den Unfall bei einer Tätigkeit erleidet, die im engen natürlichen Zusammenhang mit seinen eigentlichen Dienstaufgaben oder sonstigen dienstlich notwendigen Verrichtungen oder dem dienstlichen Über- und Unterordnungsverhältnis steht, bei der der Beamte also gewissermaßen „im Banne“ des Dienstes steht. Der danach erforderliche Zusammenhang des Unfalls mit dem Dienst ist im Regelfall gegeben, wenn sich der Unfall während der Dienstzeit am Dienstort ereignet hat (st. Rspr., vgl. BVerwG, Urteil v. 24.10.1963 - II C 10.62, juris Rn. 27 f.; Urteil v. 03.11.1976 - VI C 203.73, juris Rn. 24 ff.; VG Berlin, Urteil v. 04.05.2016 - 26 K 54.14, juris Rn. 18). Maßgebend ist der Sinn und Zweck der beamtenrechtlichen Dienstunfallfürsorge. Dieser liegt in einem über die allgemeine Fürsorge hinausgehenden besonderen Schutz des Beamten bei Unfällen, die außerhalb seiner privaten (eigenwirtschaftlichen) Sphäre im Bereich der in der dienstlichen Sphäre liegenden Risiken eintreten, also in dem Gefahrenbereich, in dem der Beamte entscheidend aufgrund der Anforderungen des Dienstes tätig wird. Die dienstliche Sphäre wird im Allgemeinen durch die Dienstzeit und den Dienstort begrenzt. Ausgehend vom Zweck der gesetzlichen Regelung und dem Kriterium der Beherrschbarkeit des Risikos der Geschehnisse durch den Dienstherrn kommt dem konkreten Dienstort des Beamten eine herausgehobene Rolle zu. Der Beamte steht bei Unfällen, die sich innerhalb des vom Dienstherrn beherrschbaren räumlichen Risikobereichs ereignen, unter dem besonderen Schutz der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge. Zu diesem Bereich zählt der Dienstort, an dem der Beamte seine Dienstleistung erbringen muss, wenn dieser Ort zum räumlichen Machtbereich des Dienstherrn gehört. Risiken, die sich hier während der Dienstzeit verwirklichen, sind dem Dienstherrn zuzurechnen, unabhängig davon, ob die Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignet hat, dienstlich geprägt ist. Eine Ausnahme gilt nur für den Fall, dass diese Tätigkeit vom Dienstherrn verboten ist oder dessen wohlverstandenen Interessen zuwiderläuft (BVerwG, Urteil v. 17.11.2016 - 2 C 17/16, juris Rn. 15 m.w.N.). Die Grundsätze tragen dem Umstand Rechnung, dass auch bei der Dienstausübung regelmäßig dienstliche und private Aspekte nicht streng voneinander zu trennen sind und es nur darum gehen kann, wann und unter welchen Voraussetzungen die auch bei der Ausübung des Dienstes naturgegebene „Gemengelage“ eindeutig dem privaten Bereich des Beamten zuzurechnen ist. Der Beamte ist kein „Dienstausübungsautomat“, sondern er bleibt auch im Dienst und auch bei der Ausübung des Dienstes ein Mensch mit seinen persönlichen Bedürfnissen, Gedanken und Empfindungen. Sein Verhalten schwankt - auch im Rechtssinne - nicht von Minute zu Minute zwischen Dienstausübung und außerdienstlichem Verhalten hin und her. Eine einengende, wörtliche Interpretation, die darauf abstellte, ob der Beamte gerade im Augenblick der Einwirkung des Ereignisses auf seinen Körper mit einer spezifisch dienstlichen Verrichtung befasst war, ginge deshalb an der Lebenswirklichkeit vorbei und risse Vorgänge, die bei lebensnaher Betrachtung nur als Gesamtverhalten gewertet werden können, auseinander (BVerwG, Urteil v. 16.11.2016 - 2 C 17/16, juris Rn. 16; Urteil v. 24.10.1963 - II C 10.62). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts umfasst der Dienstunfallschutz grundsätzlich auch den Aufenthalt in einem Toilettenraum des Dienstgebäudes (BVerwG, Urteil v. 17.11.2016 - 2 C 17/16, juris Rn. 14).
Soweit dem Beamten Aufgaben zugewiesen werden, die er an einem anderen Ort als seinem üblichen Dienstort zu erledigen hat, wird dieser Ort zum vorübergehenden Dienstort. Weist der Dienstherr einen Beamten an, die Dienstleistung für eine bestimmte Zeit in einem räumlich abgrenzbaren Bereich außerhalb des eigenen Machtbereichs zu erbringen, so wird dieser räumlich anderweitige Bereich der Risikosphäre des Dienstherrn zugerechnet. Eine solche Anweisung darf nämlich hinsichtlich des Unfallschutzes des Beamten nicht zu einer Verschlechterung, insbesondere zu einer Erhöhung der Anforderungen für die Anerkennung des schädigenden Ereignisses als Dienstunfall führen (Stegmüller/Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht des Bundes und der Länder - Stand 146. UPD August 2020, § 31 BeamtVG, 8.1.1.2 Dienstort). Dienstausübung im Sinne des Art. 98 Abs. 2 BayBG ist auch die Dienstreise und der Dienstgang im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 5 Bayerisches Reisekostengesetz (BayRKG). Die Dauer einer Dienstreise richtet sich grundsätzlich nach der Abreise und der Ankunft an der Wohnung (Art. 7 BayRKG). Die Reise selbst gilt als Dienst im Sinne des Art. 46 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBeamtVG.
Das Aufsuchen einer Toilette während einer Dienstreise an einem nahe gelegenen Ort - wie vorliegend gegeben - und wenn der Beamte nicht unnötigerweise eine gefährliche Örtlichkeit aufsucht, gehört nach Ansicht der Kammer nach den Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung jedenfalls im zu Grunde liegenden Fall einer (unvorhergesehenen) Pause zur Verrichtung der Notdurft zu einer Tätigkeit, die ebenfalls vom Banne des Dienstes erfasst ist (in diesem Sinne auch: Stegmüller/Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht des Bundes und der Länder - Stand 146. UPD August 2020, § 31BeamtVG, 8.1.4.4 Eigenwirtschaftliche Tätigkeit; Plog/Wiedow, BBG § 31 Rn. 95; Fürst, GKÖD, § 31 Rn. 91). Für dieses Ergebnis spricht auch der Umstand, dass auch das Aufsuchen einer Toilette im Dienstgebäude zu den unfallgeschützten Tätigkeiten des Beamten gehört (BVerwG, Urteil v. 17.11.2016 - 2 C 17/16).
Darüber hinaus ergibt sich vorliegend, die Kriterien des Wegeunfalls zu Grunde gelegt und unter Berücksichtigung, dass die Dienstreise einen unmittelbaren dienstlichen Zusammenhang aufweist und nicht durch private Interessen des Beamten veranlasst ist, dass ganz kurzfristige und geringfügige Unterbrechungen des Weges den Zusammenhang mit dem Dienst selbst dann nicht beeinträchtigen, wenn sie eigenwirtschaftlicher Natur sind. Geringfügig ist eine Unterbrechung des Weges regelmäßig, wenn der öffentliche Verkehrsraum nicht verlassen wird und die Handlung ohne nennenswerte zeitliche Verzögerung im Vorbeigehen erledigt werden kann (Stegmüller/Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht des Bundes und der Länder, 143. AL, § 31 Rn. 191). Schadensereignisse auf Verkehrsflächen, über deren Nutzung ein Dritter alleinverantwortlich entscheidet, können hingegen nicht als Wegeunfall angesehen werden (BVerwG, Beschluss v. 22.04.2020 - 2 B 52/19, juris Rn. 12). Private Parkplätze, unabhängig davon, ob sie der Verfügungsberechtigte für jedermann oder einen beschränkten Nutzerkreis geöffnet hat, aber auch sonstige Flächen, die von Fußgängern oder Fahrzeugen auf Grund ausdrücklicher oder stillschweigender Duldung des Eigentümers benutzt werden können, sind vom Dienstunfallschutz ausgeschlossen. Auf diesen Flächen findet kein allgemeiner Verkehr statt (BVerwG, Beschluss v. 22.04.2020 - 2 B 52/19, juris Rn. 12; Plog/Wiedow, BBG § 31 Rn. 87).
Es ist aber geboten, auf öffentlichen Verkehrsflächen auch den Weg zur Verrichtung der Notdurft auf dem Heimweg vom Dienst dem Dienstunfallschutz zu unterstellen, da der Zusammenhang mit dem Dienst bestehen bleibt, wenn das Bedürfnis zum Verrichten der Notdurft auf dem Heimweg auftritt und der Beamte aus diesem Grund gezwungen ist, den Weg zu unterbrechen, um sich an einem geeigneten Ort seines Bedürfnisses zu entledigen (VG München, Urteil v. 20.03.2012 - M 5 K 11.5039, juris Rn. 15 ff.). Gestatten es die Umstände, dass die Notdurft unmittelbar am Wegrand verrichtet werden kann, so ist Dienstunfallschutz schon deshalb gegeben, weil der Weg nach oder von der Dienststätte nicht unterbrochen wird. Die Rechtslage kann aber im Ergebnis nicht anders sein, wenn ein Beamter, dessen Weg über eine verkehrsreiche oder bewohnte Straße führt, in Beachtung des allgemeinen Anstandsgefühls zum Verrichten seiner Notdurft eine nahegelegene uneingesehene Örtlichkeit, insbesondere eine neben der Straße befindliche Bedürfnisanstalt, aufsucht (VG München, Urteil v. 20.03.2012 - M 5 K 11.5039, juris Rn. 15 ff.).
Im vorliegenden Fall hat sich das Unfallereignis auf der Fahrbahn in Richtung zurück auf die Autobahn - und damit im allgemeinen Verkehrsraum (§§ 1 Abs. 4 Nr. 5, 15 Bundesfernstraßengesetz - FStrG) - ereignet. Gemäß § 15 Abs. 1 FStrG sind Raststätten Nebenbetriebe im Sinne des § 1 Abs. 4 Nr. 5 FStrG und gehören zu den Bundesfernstraßen, so dass es entscheidungserheblich vorliegend auch nicht darauf ankommt, ob das Aufsuchen der Toilettenräumlichkeit selbst vorwiegend eigenwirtschaftlich und nicht mehr von den Erfordernissen der Dienstreise geprägt ist (zum Verlassen des allgemeinen Verkehrsraums vgl. BayVGH, Urteil v. 16.10.2019 - 3 B 18,827; BVerwG, Beschluss v. 22.04.2020 - 2 B 52/19). Jedenfalls die Straßen auf dem Rasthof gehören zum öffentlichen Verkehrsraum. Während einer unbeachtlichen Unterbrechung des unmittelbaren Weges bleibt der Wegeschutz (für eine private Verrichtung) im allgemeinen Verkehrsraum bestehen (vgl. zum Dienstunfallrecht BVerwG, Urteil v. 10.12.2013 - 2 C 7/12). Der Kläger war zum Verrichten der Notdurft, eine regelmäßig unaufschiebbar notwendige Handlung, vorliegend - schon aus Gründen der eigenen Sicherheit auf der Autobahn und auch, um nicht fremden Blicken ausgesetzt zu sein - gezwungen, den Rasthof anzusteuern. Der Rasthof stellt im vorliegenden Fall auch eine vernünftige und vertretbare Möglichkeit für die Verrichtung der Notdurft dar. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass das Verrichten der Notdurft nicht unvorhersehbar notwendig geworden ist. Vielmehr geht aus der Unfallbeschreibung des Klägers hervor, dass er am Nachmittag seiner Dienstreisetätigkeit auf einem Feld war und dort an einer Feldvorführung teilgenommen hat und sich danach zu seinem Auto begeben hat, um die Heimreise anzutreten.
Es bestehen vorliegend auch keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Toilettenbesuch des Klägers dem Interesse seines Dienstherrn zuwidergelaufen wäre; im Gegenteil erscheint es offensichtlich, dass die von einem Beamten erwartete pflichtbewusste und effiziente Diensttätigkeit gerade auch derartige Pausen zur Erfüllung eines persönlichen, natürlichen Bedürfnisses voraussetzt (VG Berlin, Urteil v. 04.05.2016 - 26 K 54.14, juris Rn. 19).
Der Rechtsprechung der Sozialgerichte zur Auslegung von § 8 SGB VII ist für den Bereich des Dienstunfallschutzes nicht zu folgen. Diese sozialgerichtliche Rechtsprechung beruht auf einer anderen gesetzlichen Regelung. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII definiert Arbeitsunfälle als Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Für die Feststellung eines Arbeitsunfalls im Sinn von § 8 Abs. 1 SGB VII kommt es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auf den inneren (sachlichen) Zusammenhang zwischen der konkreten Verrichtung zum Zeitpunkt des Unfalls und der versicherten Tätigkeit an. Dieser Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. In Abgrenzung hierzu setzt Art. 98 Abs. 2 BayBG für ein Unfallereignis an dem vom Dienstherrn vorgegebenen Dienstort nur voraus, dass es „in Ausübung oder infolge des Dienstes“ eingetreten ist. Beamtenrechtliche Unfallfürsorge knüpft damit grundsätzlich abstrakt an die Dienstausübung im räumlichen Machtbereich des Dienstherrn an, während sozialversicherungsrechtlicher Unfallschutz einen inneren Zusammenhang zwischen der konkreten Verrichtung zum Unfallzeitpunkt und der versicherten Tätigkeit erfordert (so BVerwG ausdrücklich zu § 31 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG Berlin - Urteil v. 16.11.2016 - 2 C 17/16, juris Rn. 17 f.).
III.
Auf der Rechtsfolgenseite sieht Art. 98 Abs. 2 BayBG vor, dass der Dienstherr dafür Ersatz leisten „kann“, sofern der Beamte oder die Beamtin den Schaden nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten ist für das Gericht weder erkennbar noch vom Beklagten in den Raum gestellt worden („Streitig ist allein die Frage, ob der Kläger zum Zeitpunkt und am Ort des Unfalls gem. Art. 98 Abs. 2 BayBG unter Schutz stand und dementsprechend Anspruch auf Sachschadensersatz besteht.“; Schriftsatz vom 27.01.2020, Seite 2). Nach diesem Wortlaut obliegt dem Dienstherrn im Rahmen des Sachschadensersatzes eine Ermessensentscheidung hinsichtlich der Frage, ob eine solche erfolgt und in einem weiteren Schritt in welcher Höhe die Erfüllung übernommen wird. Bei einem Unfall, der nur Sachschaden auslöst, ist im Rahmen der Kann-Regelung ein Leistungsausschluss durch Abschnitt 13 Nr. 1.3 Satz 2 VV-BeamtR (Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Beamtenrecht, Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen über die Verwaltungsvorschriften zum Beamtenrecht vom 13. Juli 2009 (FMBl. S. 190, StAnz. Nr. 35), zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 19. Oktober 2017 (FMBl. S. 510)) angeordnet, wenn der Unfall nicht auch mit einer körperlichen Gefährdung verbunden war und der Schaden nicht an einem Arbeitsmittel entstanden ist. Gemäß Nr. 1.5 Satz 2 Halbsatz 2 VV-BeamtR gehört auch ein Kraftfahrzeug, das aus triftigen Gründen zur Durchführung einer Dienstreise oder eines Dienstganges benutzt wird, zu diesen Arbeitsmitteln. Der Beklagte hat hier noch keinerlei Ermessensentscheidung getroffen, da er schon zu Unrecht das Vorliegen eines Unfalls „in Ausübung oder infolge des Dienstes“ verneint hat. Die Ermessensentscheidung hinsichtlich des Ob und auch der Höhe einer Ersatzleistung hat der Beklagte noch vorzunehmen (vgl. Abschnitt 13, Nr. 2.6 Satz 1 VV-BeamtR: „bis zur Höhe der notwenigen Reparaturkosten“).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO liegen nicht vor.
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"jurisdiction": "Germany",
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Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. L. T. , E. , wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungs-verfahrens.
Der Streitwert wird unter Abänderung der erstinstanzlichen Wertfestsetzung für beide Instanzen auf 2.500 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren wird abgelehnt, weil die Rechtverfolgung aus den nachstehenden Gründen nicht die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
3Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen der ausdrücklich allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
4Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, soweit der Klägerin in der Ordnungsverfügung der Beklagten vom 11. Dezember 2017 die Abschiebung in die Türkei angedroht worden sei, sei die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig geworden. Die Beklagte habe die Abschiebungsandrohung mit Änderungsverfügung vom 4. Juli 2018 aufgehoben und eine neue Abschiebungsandrohung mit einer geänderten Zielstaatsbestimmung (statt Türkei, Türkei oder Bulgarien) erlassen. Diese Änderungsverfügung sei bestandskräftig geworden. Im Übrigen sei die Frist zur freiwilligen Ausreise nicht zu beanstanden.
5Die Richtigkeit der vorstehenden Ausführungen stellt die Klägerin nicht mit hinreichenden Darlegungen in Frage. Der Zulassungsantrag verhält sich schon nicht zu den Erwägungen des Verwaltungsgerichts, wonach es der Klage teilweise am Rechtsschutzbedürfnis fehle und die Änderungsverfügung bestandskräftig geworden sei. Hinsichtlich der Frage des Bestehens eines Aufenthaltsrechts sui generis (Art. 20 AEUV) wird auf den im Verfahren des Vaters der Klägerin (18 A 1020/19) ergangenen Beschluss vom heutigen Tage Bezug genommen.
6Von der in seinem Ermessen stehenden Möglichkeit, das Verfahren der Klägerin und ihres Vaters - wie von beiden beantragt - zu verbinden (§ 93 Satz 1 VwGO), macht der Senat keinen Gebrauch.
7Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
8In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass in Hauptsacheverfahren gegen eine selbständige Abschiebungsandrohung der Streitwert die Hälfte des Auffangstreitwerts beträgt.
9Vgl. zur entsprechenden Streitwertbemessung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (1/4 des Auffangstreitwerts) OVG NRW, Beschluss vom 12. April 2005 - 18 B 2344/05 -, www.nrwe.de, m. w. N.
10Das zusätzlich festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot sieht der Senat als nicht streitwerterhöhend an, wenn es als weitere Entscheidung zu einer aufenthaltsbeendenden Verfügung - wie hier der selbständigen Abschiebungsandrohung - ergeht.
11Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. August 2018- 11 S 1176/18 -, juris, Rn. 20; so (wohl) auch Hess. VGH, Beschluss vom 19. November 2019- 7 B 881/19 -, juris, Rn. 4.
12Die Änderung der erstinstanzlichen Wertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.
13Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. L. T. , E. , wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren wird abgelehnt, weil die Rechtverfolgung aus den nachstehenden Gründen nicht die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
3Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen der ausdrücklich allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
4Zur Darlegung des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bedarf es einer auf schlüssige Gegenargumente gestützten Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts. Dabei ist in substantiierter Weise darzulegen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll.
5Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. April 2013- 18 A 886/12 -, m. w. N.
6Ernstliche Zweifel im Sinne der Vorschrift liegen dann vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.
7Vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 16. April 2020 - 1 BvR 2705/16 -, juris, Rn. 21.
8Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, soweit dem Kläger in der Ordnungsverfügung der Beklagten vom 11. Dezember 2017 die Abschiebung in die Türkei angedroht worden sei, sei die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig geworden. Die Beklagte habe die Abschiebungsandrohung durch Änderungsverfügung vom 4. Juli 2018 aufgehoben und eine neue Abschiebungsandrohung mit einer geänderten Zielstaatsbestimmung (statt Türkei, Türkei oder Bulgarien) erlassen. Diese Änderungsverfügung sei bestandskräftig geworden. Im Übrigen sei die Ordnungsverfügung rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 3 AufenthG bestehe nicht. Insoweit werde auf den Inhalt der angegriffenen Ordnungsverfügung und die Gründe des Beschlusses vom 21. März 2018 im Verfahren 7 L 97/18 Bezug genommen. Die Frist zur freiwilligen Ausreise sowie das sinngemäß angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot seien ebenfalls rechtmäßig.
9Die Richtigkeit der vorstehenden Ausführungen stellt der Kläger nicht mit hinreichenden Darlegungen in Frage. Er meint, im Urteil des Verwaltungsgerichts fehlten notwendige Feststellungen dazu, ob der Kernbestand des Unionsbürgerstatus seiner Tochter, der Klägerin im Verfahren 18 A 1021/19, die die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, dadurch verletzt werde, dass ihm als allein sorgeberechtigten Vater die Abschiebung nach Bulgarien oder in die Türkei angedroht werde. Er sei aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage, für den Lebensunterhalt seiner Tochter zu sorgen, sodass Krankenversicherung und Lebensunterhalt aus öffentlichen Mitteln zu bestreiten seien. In seiner Person lägen daher die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG nicht vor, sodass die Beklagte nicht gehindert (gewesen) sei, ein Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV zu verweigern. Das Verwaltungsgericht habe jedoch aufgrund der Rechtsprechung des EuGH feststellen müssen, ob seine Tochter de facto gezwungen sei, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen. Es fehlten Feststellungen dazu, ob Bulgarien ihm ein Aufenthaltsrecht gewähre, da über ein „sogenanntes ‚soziales Netz‘“ in Bulgarien nichts bekannt sei. Die Abschiebungsandrohung habe daher nur dann ergehen dürfen, wenn sichergestellt sei, dass er ein „Aufenthaltsrecht in Bulgarien auch bei Krankheit und Unfähigkeit, sich krankenzuversichern und seinen Lebensunterhalt zu finanzieren“, erhalten könne. Andernfalls komme seine Tochter nicht in den Genuss des Kernbestands der Unionsbürgerschaft. Weil eine entsprechende Feststellung fehle, sei die Berufung zuzulassen. Damit werden ernstliche Zweifel an der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht aufgezeigt.
10Der Zulassungsantrag verhält sich schon nicht zur Ansicht des Verwaltungsgerichts, der Klage fehle das Rechtsschutzbedürfnis, soweit dem Kläger in der Ordnungsverfügung vom 11. Dezember 2017 die Abschiebung in die Türkei angedroht worden sei, da die Beklagte diese Abschiebungsandrohung mit zwischenzeitlich bestandskräftig gewordener Änderungsverfügung vom 4. Juli 2018 aufgehoben und eine neue Abschiebungsandrohung mit geänderter Zielstaatsbestimmung (nunmehr Türkei oder Bulgarien) erlassen habe.
11Ungeachtet dessen macht der Kläger mit seinem Vortrag konkludent (allein) einen Verfahrensmangel in Form der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO geltend. Auch dies führt aber nicht zur Zulassung der Berufung.
12Vgl. zur Frage, ob und inwieweit die Richtigkeit und Vollständigkeit des Sachverhalts eine Frage des Verfahrensrechts oder des sachlichen Rechts ist Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 189 ff.
13Zwar kann das Gericht je nach Lage des Falles auch ohne einen förmlich in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag, insbesondere - wie hier - bei einem anwaltlich nicht vertretenen Kläger, im Rahmen seiner Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) zu weiteren Ermittlungen verpflichtet sein.
14Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 2019- 10 A 2222/18 -, juris, Rn. 18, m. w. N.
15Eine Verletzung dieser Aufklärungspflicht legt der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen jedoch nicht dar. Das erfordert die substantiierte Darlegung, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich und geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung hätten führen können; weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen. Eine weitere Sachaufklärung ist nicht geboten, wenn die in Rede stehenden Umstände nach der materiell-rechtlichen Ansicht des Verwaltungsgerichts, selbst wenn sie rechtlich fehlerhaft sein sollte, für dieses nicht entscheidungserheblich waren. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht liegt nicht bereits deshalb vor, weil das Gericht die Auffassung des Klägers aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht teilt, also schlichtweg anderer Auffassung ist und deshalb weitere Sachaufklärung nicht für erforderlich hält.
16Vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. September 2011- 9 B 48.11 -, juris, Rn. 18 f., m. w. N.
17Die vom Kläger begehrte Aufklärung - samt entsprechender Feststellungen - musste sich dem Verwaltungsgericht nicht aufdrängen. Sie war vielmehr nicht erforderlich.
18Nach der Rechtsprechung des EuGH kann einem Drittstaatsangehörigen - wie hier dem Kläger - ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis zustehen, das aus Art. 20 AEUV abgeleitet wird. Dieses setzt voraus, dass ein vom Drittstaatsangehörigen abhängiger Unionsbürger ohne den gesicherten Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt wird.
19Vgl. hierzu und zu den näheren Voraussetzungen eines solchen unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis: EuGH, Urteile vom 8. Mai 2018- C-82/16, K.A -, juris, Rn. 47 ff., vom 10. Mai 2017- C-133/15, Chavez-Vilchez -, juris, Rn. 59 ff., vom 10. Oktober 2013 - C-86/12, Alopka -, juris, Rn. 32 ff., vom 8. November 2012 - C-40/11, Iida -, juris, Rn. 71 ff., und vom 19. Oktober 2004- C-200/02, Zhu und Chen -, juris, Rn. 25 ff.; aus der nationalen Rechtsprechung: BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 -, juris, Rn. 34 ff., und vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 -, juris, Rn. 33 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 13. August 2013- 18 A 2430/12 -, juris, Rn. 6 ff.
20Gemessen daran musste das Verwaltungsgericht nicht aufklären, ob durch eine Abschiebung des Klägers - der türkischer Staatsangehöriger ist - und seiner Tochter - die neben der bulgarischen auch die türkische Staatsangehörigkeit besitzt - nach Bulgarien letztere faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen. Einem etwaigen aus Art. 20 AEUV folgenden Aufenthaltserlaubnisanspruch des Klägers hat nämlich Bulgarien als Mitgliedstaat der Europäischen Union in gleicher Weise Rechnung zu tragen wie die Bundesrepublik Deutschland.
21Wenn die bulgarischen Behörden dem Kläger in Bulgarien keinen - auf sekundärrechtliche oder mitgliedstaatliche Grundlagen gestützten - Aufenthaltstitel erteilen sollten, könnte sich der Kläger deshalb dort auf ein aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht sui generis berufen, wenn seine Tochter andernfalls faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet gemeinsam mit ihm in Richtung Türkei zu verlassen. Der Kläger ist gehalten, einen derartigen Rechtsanspruch in Bulgarien geltend zu machen und - falls erforderlich - auch gerichtlich durchzusetzen. Dass es ihm auch auf diesem Wege unmöglich wäre, ein Aufenthaltsrecht in Bulgarien zu erlangen, hat der Kläger weder substantiiert dargelegt,
22vgl. in diesem Zusammenhang Bayerischer VGH, Beschluss vom 23. September 2020- 10 CS 20.2031 -, juris, Rn. 6,
23noch ist dies vor dem Hintergrund des in den Art. 2 und 3 EUV sowie Art. 67 Abs. 1 und 82 Abs. 1 AEUV normierten Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, wonach jeder Mitgliedstaat, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgehen kann, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten,
24vgl. EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2019- C-625/19, PPU -, juris, Rn. 33, m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 2 C 59.16 -, juris, Rn. 25, m. w. N.,
25sonst ersichtlich.
26Von der in seinem Ermessen stehenden Möglichkeit, das Verfahren des Klägers und seiner Tochter - wie von beiden beantragt - zu verbinden (§ 93 Satz 1 VwGO), macht der Senat keinen Gebrauch.
27Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
28Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,- € festgesetzt.
Gründe
1
Der am 26. Oktober 2020 beim Verwaltungsgericht eingegangene Antrag, die aufschiebende Wirkung gegen eine mündliche infektionsschutzrechtliche Absonderungsanordnung der Antragsgegnerin vom 15. Oktober 2020, schriftlich bestätigt durch Bescheid vom 16. Oktober 2020, war bereits bei Antragseingang mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig. Die Absonderungsverpflichtung (Quarantäne) war bis zum 21. Oktober 2020 befristet.
2
Der Antragstellerin ist Gelegenheit eingeräumt worden, auf diese Sachlage prozessual zu reagieren; dies ist nicht erfolgt.
3
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 iVm § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt.
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Tenor
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000, -- € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Anordnungen des Antragsgegners, erstmals ausgesprochen am 15. Oktober 2020 und dann jeweils verlängert, zulässig, jedoch nicht begründet.
2
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht in dem vorliegenden Fall des nach § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges die aufschiebende Wirkung des Widerspruches ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse der Antragstellerin einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes ohne weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, weil an einer sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich nach der genannten Überprüfung der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, so führt dies in Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig dazu, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist.
3
Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Überprüfung weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung eines Antrags und des erfolgreichen Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegenüberzustellen sind. Bei dieser Interessenabwägung ist jeweils die Richtigkeit des Vorbringens desjenigen als wahr zu unterstellen, dessen Position gerade betrachtet wird, soweit das jeweilige Vorbringen ausreichend substantiiert und die Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennbar ist (OVG Schleswig, Beschluss vom 13. September 1991 – 4 M 125/91 –, Rn. 14, juris; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 11. September 2017 – 1 B 128/17 –, Rn. 28 - 29, juris).
4
Die Anordnung zur Absonderung ist nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand der Kammer offensichtlich rechtmäßig.
5
Die streitgegenständlichen Verfügungen finden ihre Rechtsgrundlage in der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1, 2, § 30 Abs. 1 IfSG in der Fassung des Art. 5 des Gesetzes 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385). Nach dieser Vorschrift trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29-31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten (Satz 1). Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen (Satz 2). Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden (Satz 3). Die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt (Satz 4).
6
Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat die zuständige Behörde anzuordnen, dass Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischem Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind, unverzüglich in einem Krankenhaus oder einer für diese Krankheiten geeigneten Einrichtung abgesondert werden. Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden.
7
Aus § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ergibt sich, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider einer Quarantänemaßnahme nach dieser Vorschrift unterzogen werden dürfen. Diese Adressatenkreise sind in § 2 Nr. 4 bis Nr. 7 IfSG legaldefiniert. Danach ist Kranker, eine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist, ein „Krankheitsverdächtiger“ eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen; ein „Ausscheider“ ist eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein. „Ansteckungsverdächtiger“ ist schließlich eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Die Antragstellerin ist zweimal positiv auf das Corona-Virus getestet worden und gilt damit im Sinne der genannten Vorschrift als Kranke.
8
Die Anordnung zur Absonderung ist eine notwendige Schutzmaßnahme. Mit Blick auf COVID-19 gilt, dass Hauptübertragungsweg für den Erreger SARS-CoV-2 die respiratorische Aufnahme virushaltiger Flüssigkeitspartikel (Aerosole und Tröpfchen) ist. Während insbesondere größere respiratorische Tröpfchen schnell zu Boden sinken, können Aerosole, die unter anderem beim Atmen, Sprechen oder Singen ausgestoßen werden, auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich verteilen. Ob und wie schnell die Tröpfchen und Aerosole absinken oder in der Luft schweben bleiben, ist neben der Größe der Partikel von einer Vielzahl weiterer Faktoren, unter anderem der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit, abhängig. Um die Gefahr der Übertragung des Virus von einer infizierten Person auf andere Menschen zu begegnen, ist die angeordnete Quarantäne eine notwendige Schutzmaßnahme.
9
Die Antragstellerin ist als Bewohnerin eines Pflegeheims zweimal positiv getestet worden. Es liegt gegenwärtig kein Nachweis darüber vor, dass die Antragstellerin nicht mehr infektiös ist. Solange dieser Nachweis nicht vorliegt, stellt die Quarantäne eine notwendige Schutzmaßnahme gegenüber anderen Menschen dar, die sich durch die Antragstellerin infizieren könnten.
10
Hinsichtlich der Anordnung einer Absonderung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist dem Antragsgegner Ermessen eingeräumt. Dieses Ermessen hat der Antragsgegner, soweit es der Überprüfung des Gerichts unterliegt (§ 114 Satz 1 VwGO), zumindest in den in der Antragserwiderung dargestellten Erwägungen ordnungsgemäß ausgeübt. Vom Gericht überprüfbare Ermessenfehler sind nicht ersichtlich. Der Antragsgegner hat sowohl das ihm zustehende Ermessen als auch die mit der häuslichen Absonderung für die Antragstellerin bestehenden Einschränkungen erkannt. Er hat von dem Ermessen auch in einer dem Zweck der Ermächtigung – Infektionsschutz – entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht überschritten und insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingehalten. Es ist für die Kammer nachvollziehbar, dass eine Quarantäne eine sehr starke psychische Belastung darstellt, es entsteht ein Gefühl des Eingesperrtseins und der Isolierung, was mit zunehmender Dauer schwer zu ertragen ist. Andererseits soll die Quarantäne eine Vielzahl anderer möglicher Kontaktpersonen davor schützen, sich mit dem Virus zu infizieren und unter Umständen schwerwiegende Folgeschäden, die auch lebensgefährlich sein können, zu erleiden und das Virus auf weitere Personen zu übertragen.
11
Die streitige Maßnahme stellt sich auch nicht deswegen als rechtswidrig dar, weil sie nicht richterlich angeordnet bzw. die behördlicherseits verfügte Entscheidung nicht unverzüglich einer richterlichen Entscheidung zugeführt worden wäre (vgl. Art. 104 Abs. 2 GG). Die Anordnung der häuslichen Absonderung zielt darauf, die Antragstellerin in räumlicher Sicht auf ihre Wohnung zu beschränken und die „Quarantäne“ umfasst einen nicht nur unerheblichen Zeitraum. Nach der gesetzgeberischen Konzeption ist die häusliche Absonderung nach §§ 28 Abs. 1, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG jedoch lediglich als freiheitsbeschränkende Maßnahme ausgestaltet (OVG Lüneburg, Beschluss vom 5. Juni 2020 – 13 MN 195/20 –, juris Rn. 38; OVG Münster, Beschluss vom 13. Juli 2020 – 13 B 968/20.NE – Rn. 41 m.w.N.; VG Berlin, Beschluss vom 10. Juni 2020 – 14 L 150/20 – juris Rn. 46; Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 23. September 2020 – 6 L 1001/20 –, Rn. 24 - 30, juris). Denn die Maßnahme ergeht zwar in Gestalt eines befehlenden Verwaltungsaktes, setzt nach der gesetzgeberischen Konzeption aber die „Freiwilligkeit des Betroffenen und damit seine Einsicht in das Notwendige“ (BT-Drs. 14/2530 S. 75) voraus. Die gegen die Antragstellerin verfügte Absonderung ist nicht im Wege des Verwaltungsvollzuges vollstreckbar. Erst wenn sich der Betroffene weigert, der Absonderung nachzukommen, ist die Anordnung nach Maßgabe des § 30 Abs. 2 IfSG, der insbesondere die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 104 Abs. 2 GG berücksichtigt, durchsetzbar.
12
Selbst wenn man vorliegend den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache als offen ansehen wollte, führt eine allgemeine Interessenabwägung zu einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung und der Sicherung des Gesundheitssystems gegenüber dem kurzfristigen Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin auf Freiheit ihrer Person gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Würde der Vollzug der streitgegenständlichen Anordnung ausgesetzt, erwiese diese sich aber als rechtmäßig, so könnten aufgrund der bekanntermaßen vorkommenden schweren Verläufe bis hin zu Todesfällen bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 erhebliche und möglicherweise irreversible Gesundheitsschäden eintreten. Erweist sich die Verfügung in der Hauptsache hingegen als rechtswidrig, ist die Freiheit der Antragstellerin zwar erheblich eingeschränkt und sie kann nicht nach draußen und Kontakt zu anderen Menschen nur mittelbar pflegen; der durch die Anordnung des Antragsgegners bezweckte Schutz der menschlichen Gesundheit einer Vielzahl von möglicherweise betroffenen Menschen ist im konkreten Fall jedoch als höherrangig einzustufen, zumal ärztlich bestätigte drohende schwerwiegende Folgeschäden für die Gesundheit der Antragstellerin durch die Quarantäne, die weiteren Maßnahmen erforderlich machen könnten, gegenwärtig nicht belegt sind.
13
Die Anordnung zur Beobachtung durch das Gesundheitsamt findet ihre rechtliche Grundlage in § 29 IfSG.
14
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 iVm § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.376,00 Euro festgesetzt.
Der Tenor der Entscheidung wird den Beteiligten wegen der Eilbedürftigkeit der Sache vorab telefonisch bekanntgegeben.
1G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 30.10.2020, mit dem dieses den sinngemäß gestellten Antrag des Antragstellers, den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 17.6.2019 (10 L 385/20) abzuändern und die aufschiebende Wirkung seiner Klage (10 K 1071/20) anzuordnen, abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.
3Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände verlangen. Solche Umstände können in nachträglich eingetretenen tatsächlichen Verhältnissen liegen, die die Interessenabwägung beeinflussen können.
4Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 14.4.2014 - 7 B 382/14 -, n. v., und vom 17.9.2014 - 7 B 767/14 -, NVwZ-RR 2015, 14 = juris.
5Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die für eine Änderung des Beschlusses erforderliche Änderung der Sach- und/oder Rechtslage liege nicht vor. Insbesondere komme es nicht auf die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung an. Soweit der Antragsteller hinsichtlich des Verfahrens zur Festsetzungsverfügung (VG Az.: 10 L 1471/20; OVG Az.: 7 B 1648/20) ausführe, am 19.10.2020 sei ein Bauantrag gestellt worden, sei diesem Vortrag in diesem die Zwangsgeldfestsetzung und Androhung des unmittelbaren Zwangs betreffenden Verfahren nicht weiter nachzugehen. Bei den im Zusammenhang mit der derzeitigen Pandemie geltend gemachten Einschränkungen des öffentlichen Lebens handele es sich um keine neuen Umstände.
6Soweit der Antragsteller dagegen einwendet, eine Veränderung der für die Entscheidung maßgeblichen Sach- und/oder Rechtslage liege hier infolge des neu eingereichten offensichtlich genehmigungsfähigen Bauantrags vom 19.10.2020 sowie mit Blick auf die aktuelle Pandemie-Lage vor, führt dies aus den Gründen des Senatsbeschlusses vom heutigen Tag in dem Verfahren - 7 B 1648/20 - zu keinem anderen Ergebnis.
7Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
8Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
9Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.376,00 Euro festgesetzt.
Der Tenor der Entscheidung wird den Beteiligten wegen der Eilbedürftigkeit der Sache vorab telefonisch bekanntgegeben.
1G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 30.10.2020, mit dem dieses den sinngemäß gestellten Antrag der Antragstellerin, den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 17.6.2019 (10 L 386/20) abzuändern und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (10 K 1072/20) anzuordnen, abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.
3Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände verlangen. Solche Umstände können in nachträglich eingetretenen tatsächlichen Verhältnissen liegen, die die Interessenabwägung beeinflussen können.
4Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 14.4.2014 - 7 B 382/14 -, n. v., und vom 17.9.2014 - 7 B 767/14 -, NVwZ-RR 2015, 14 = juris.
5Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die für eine Änderung des Beschlusses erforderliche Änderung der Sach- und/oder Rechtslage liege nicht vor. Insbesondere komme es nicht auf die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung an. Soweit die Antragstellerin hinsichtlich des Verfahrens zur Festsetzungsverfügung (VG Az.: 10 L 1471/20; OVG Az.: 7 B 1648/20) ausführe, am 19.10.2020 sei ein Bauantrag gestellt worden, sei diesem Vortrag in diesem die Zwangsgeldfestsetzung und Androhung des unmittelbaren Zwangs betreffenden Verfahren nicht weiter nachzugehen. Bei den im Zusammenhang mit der derzeitigen Pandemie geltend gemachten Einschränkungen des öffentlichen Lebens handele es sich um keine neuen Umstände.
6Soweit die Antragstellerin dagegen einwendet, eine Veränderung der für die Entscheidung maßgeblichen Sach- und/oder Rechtslage liege hier infolge des neu eingereichten offensichtlich genehmigungsfähigen Bauantrags vom 19.10.2020 sowie mit Blick auf die aktuelle Pandemie-Lage vor, führt dies aus den Gründen des Senatsbeschlusses vom heutigen Tag in dem Verfahren - 7 B 1648/20 - zu keinem anderen Ergebnis.
7Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
8Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
9Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.376,00 Euro festgesetzt.
Der Tenor der Entscheidung wird den Beteiligten wegen der Eilbedürftigkeit der Sache vorab telefonisch bekanntgegeben.
1G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 30.10.2020, mit dem dieses den sinngemäß gestellten Antrag der Antragstellerin, den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 17.6.2019 (10 L 387/20) abzuändern und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (10 K 1073/20) anzuordnen, abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.
3Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände verlangen. Solche Umstände können in nachträglich eingetretenen tatsächlichen Verhältnissen liegen, die die Interessenabwägung beeinflussen können.
4Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 14.4.2014 - 7 B 382/14 -, n. v., und vom 17.9.2014 - 7 B 767/14 -, NVwZ-RR 2015, 14 = juris.
5Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die für eine Änderung des Beschlusses erforderliche Änderung der Sach- und/oder Rechtslage liege nicht vor. Insbesondere komme es nicht auf die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung an. Soweit die Antragstellerin hinsichtlich des Verfahrens zur Festsetzungsverfügung (VG Az.: 10 L 1471/20; OVG Az.: 7 B 1648/20) ausführe, am 19.10.2020 sei ein Bauantrag gestellt worden, sei diesem Vortrag in diesem die Zwangsgeldfestsetzung und Androhung des unmittelbaren Zwangs betreffenden Verfahren nicht weiter nachzugehen. Bei den im Zusammenhang mit der derzeitigen Pandemie geltend gemachten Einschränkungen des öffentlichen Lebens handele es sich um keine neuen Umstände.
6Soweit die Antragstellerin dagegen einwendet, eine Veränderung der für die Entscheidung maßgeblichen Sach- und/oder Rechtslage liege hier infolge des neu eingereichten offensichtlich genehmigungsfähigen Bauantrags vom 19.10.2020 sowie mit Blick auf die aktuelle Pandemie-Lage vor, führt dies aus den Gründen des Senatsbeschlusses vom heutigen Tag in dem Verfahren - 7 B 1648/20 - zu keinem anderen Ergebnis.
7Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
8Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
9Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 3.000,00 Euro festgesetzt.
Der Tenor der Entscheidung wird den Beteiligten wegen der Eilbedürftigkeit der Sache vorab telefonisch bekanntgegeben.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
3Der Beschluss des Verwaltungsgerichts ist summarischer Beurteilung zufolge entgegen dem Vorbringen der Antragsteller trotz der fehlenden Unterschrift der Vorsitzenden wirksam. Die Unterschrift wurde in entsprechender Anwendung des § 117 Abs. 1 Satz 3 VwGO i. V. m. § 122 VwGO zulässigerweise ersetzt.
4Vgl. Kilian/Hissnauer in Sodan Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 117 Rn. 40 ff., § 122 Rn. 15.
5Ausweislich der - vom Senatsvorsitzenden in seinem Vermerk vom 2.11.2020 dokumentierten - telefonischen Mitteilung der Vorsitzenden der 10. Kammer des Verwaltungsgerichts war diese zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beschlusses nicht am Gerichtsort anwesend und an der Hinzufügung ihrer elektronischen Signatur wegen technischer Störungen gehindert.
6Der Beschwerde bleibt auch im Übrigen der Erfolg versagt.
7Das Verwaltungsgericht hat den sinngemäßen Antrag,
8die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 30.10.2020 im Verfahren - 10 K 4119/20 - gegen die Festsetzung unmittelbaren Zwangs im Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.10.2020 anzuordnen und
9der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die Vollstreckung der Nutzungsuntersagung bezüglich des Gebäudes X.-straße 46a in E. im Wege unmittelbaren Zwangs einzustellen,
10im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, im Hinblick auf die Festsetzung unmittelbaren Zwangs überwiege wegen der fehlenden Erfolgsaussicht der Klage der Antragsteller gegen den Bescheid vom 22.10.2020 das öffentliche Vollzugsinteresse, der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung habe vor dem Hintergrund ebenfalls keinen Erfolg. Rechtsgrundlage für die von der Antragsgegnerin verfügte Festsetzung des unmittelbaren Zwangs seien § 55 Abs. 1, § 57 Abs. 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1 Satz 1, § 63 Abs. 1 Satz 3, § 64 Satz 1 VwVG NRW. Die zugrundeliegenden Ordnungsverfügungen vom 16./17.1.2014 und 25.4.2018 sowie 27.2.2020 seien bestandskräftig bzw. sofort vollziehbar und damit vollstreckbar. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs sei gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 VwVG NRW angedroht worden. Die Festsetzung des Zwangsmittels sei nicht unverhältnismäßig, insbesondere seien keine gegen die Vollstreckung sprechenden außergewöhnlichen Umstände ersichtlich. Es sei auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens nicht ersichtlich, dass es den Antragtellern nicht zumutbar sein könnte, die Wohnnutzung im streitgegenständlichen Gebäude aufzugeben.
11Diese Würdigung wird durch das Beschwerdevorbringen nicht erschüttert.
12Soweit sich die Antragsteller gegen die Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagungen wenden und (erneut) geltend machen, das Verwaltungsgericht sei von einem unvollständigen Akteninhalt ausgegangen, die Baugenehmigung von 1958 sei nicht erloschen, es handele sich nicht um einen Schwarzbau, da eine Genehmigung zur Errichtung vorliege, die Antragsgegnerin habe die Wohnnutzung aktiv geduldet und die Bestandskraft der Ordnungsverfügung vom 16.1.2014 sei nur infolge einer arglistigen Täuschung durch die Antragsgegnerin eingetreten, führt dies nicht dazu, dass das öffentliche Interesse an der Vollziehung hinter ihrem Aussetzungsinteresse zurückbleibt. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat dazu auf seine Ausführungen in dem Beschluss vom 17.9.2020 - 7 B 912/20 -, der u. a. die Androhung unmittelbaren Zwangs zum Gegenstand hatte.
13Soweit die Antragsteller vortragen, die Zwangsmaßnahme sei aufgrund des von ihnen gestellten Bauantrages vom 19.10.2020 nicht erforderlich, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Es fehlt schon an der erforderlichen Darlegung, dass der behauptete neuerliche Bauantrag nach Auffassung der Baugenehmigungsbehörde genehmigungsfähig sein könnte.
14Vgl. zum Erfordernis der Annahme der Genehmigungsfähigkeit durch die Baugenehmigungsbehörde: OVG NRW, Beschluss vom 25.6.2015 - 7 B 583/15 -, juris.
15Die von den Antragstellern mit Blick auf den Bund-Länder-Beschluss vom 28.10.2020 zum "coronabedingten Lockdown" und ihre wirtschaftliche Situation geltend gemachte drohende Obdachlosigkeit, rechtfertigt weiterhin nicht die Annahme außergewöhnlicher Umstände. Auch mit dem aktuellen Beschwerdevorbringen haben die Antragsteller die Unrichtigkeit der Wertung des Verwaltungsgerichts nicht hinreichend dargetan, dass in E. trotz der Corona-Pandemie ein funktionierender Wohnungsmarkt existiere. Der Senat verweist auch insoweit auf die Gründe seines Beschlusses vom 17.9.2020 - 7 B 912/20 -. Soweit die Antragsteller mit eidesstattlicher Versicherung geltend machen, sie hätten keine Ersatzunterkunft zur Verfügung, ist es im übrigen Sache der Antragsgegnerin, zur Vermeidung von Obdachlosigkeit ggfs. für eine Unterbringung der Antragsteller zu sorgen.
16Unabhängig davon hat die Beschwerde auch dann keine Aussicht auf Erfolg, wenn der Senat zugunsten der Antragsteller unterstellt, die Erfolgsaussichten ihrer Klage gegen die Verfügung vom 22.10.2020 seien offen. Auch dann überwiegt wegen der nach den Feststellungen der Antragsgegnerin bestehenden akuten Brandschutzmängel das öffentliche Interesse an der unverzüglichen Räumung des Gebäudes. Die Antragsgegnerin hat in ihrer Ordnungsverfügung vom 27.2.2020 (61/5-1-041524 – A. H.) u. a. ausgeführt, eine Legalisierung des baurechtswidrigen Zustandes des Gebäudes sei nach der derzeitigen Aktenlage nicht möglich, da ein zweiter Rettungsweg nicht vorhanden sei. Die baulichen Anforderungen an die Rettungswege könnten auf dem Grundstück selbst nicht erfüllt werden. Das in Rede stehende Gebäude befinde sich im hinteren Grundstücksbereich in einer Insellage. Eine "Entfluchtung" im Brandfall zu den Nachbargrundstücken scheide aus. Zur öffentlichen Wegefläche betrage der Abstand mehr als 30 m und es müsse dabei das seit Jahren leerstehende und baurechtlich nicht genehmigte Gebäude X.-straße 46 durchquert werden. Auch der erste Rettungsweg entspreche nicht den bauordnungsrechtlichen Bestimmungen. Ausgehend von diesen - mit dem Beschwerdevorbringen nicht widerlegten - Feststellungen zur Sachlage ist eine akute Gefahr für das Leben und die Gesundheit der sich in dem Gebäude aufhaltenden Personen in Rechnung zu stellen, der nur durch die Räumung des Gebäudes begegnet werden kann. Mit der Entstehung eines Brandes muss grundsätzlich jederzeit gerechnet werden. Der Umstand, dass in vielen Gebäuden jahrzehntelang kein Brand ausgebrochen ist, belegt nicht, dass insofern keine Gefahr besteht.
17Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.2.2010, - 7 A 1235/08 -, BRS 76 Nr. 131 = BauR 2010, 1568.
18Kommt es zu einem solchen jederzeit möglichen Brand, ist auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einer Gefährdung von Leben und Gesundheit der Personen zu rechnen, die sich in dem hier in Rede stehenden Gebäude aufhalten.
19Aufgrund der zuvor beschriebenen akuten Gefahrenlage sah sich der Senat gehalten, schon vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist und trotz der Ankündigung weiteren Beschwerdevorbringens über die Beschwerde zu entscheiden.
20Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
21Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
22Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens
III. Der Streitwert wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller zeigte am 29.10.2020 beim Landratsamt ... für den 2.11.2020 in der Zeit von 15:30 Uhr bis 18:30 Uhr eine Kundgebung auf einem Teil der Festwiese in P. an. Unter dem Thema „Wir klären auf. Wir halten zusammen.“ war geplant, dass Reden gehalten werden sollten und Eltern von ihren Erfahrungen an Schulen berichten könnten. Den Versammlungsteilnehmern solle die Möglichkeit gegeben werden, sich zu äußern. Der Antragsteller gab an, dass er eine Anzahl von circa 500 Personen erwarte.
Unter dem 30.10.2020 erließ das Landratsamt ... einen versammlungsrechtlichen Auflagenbescheid, welcher unter Nummer 1.9 folgende Bestimmung enthielt:
Allgemeine infektionsschutzrechtliche Vorgaben:
Für alle Versammlungsteilnehmer einschließlich der Ordner und des Versammlungsleiters gilt Maskenpflicht.
Alle Teilnehmer die von der Maskenpflicht befreit sind, haben sich vor Beginn der Versammlung bei den zuständigen Mitarbeitern des Landratsamtes zu melden und ihre Befreiung glaubhaft zu machen.
Die Nahrungsaufnahme und das Rauchen am Versammlungsort sind untersagt.
Zur Begründung dieser Auflage führte das Landratsamt ... aus, dass die Maskenpflicht angeordnet werde, weil im Landkreis derzeit ein diffuses Infektionsgeschehen herrsche. Laut Feststellung des Robert-Koch-Instituts betrage die Zahl der Neuinfektionen mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 derzeit über 100 pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, weshalb auch spezielle und strengere infektionsschutzrechtliche Vorgaben nach § 25 7. BayIfSMV greifen und durch Allgemeinverfügung sogar ein Lock-Down angeordnet worden sei. Es sei eine Anordnung ergangen, dass alle Versammlungsteilnehmer eine Maske tragen müssten, um sicherzustellen, dass eine Ansteckung der Versammlungsteilnehmer untereinander und von Personen, die auf dem P+R geparkt hätten und an der Versammlung vorbeigingen, nicht möglich sei und sich das Infektionsgeschehen im Landkreis nicht weiter verschlimmere. Gemäß § 1 Abs. 2 7. BayIfSMV seien Kinder bis zum 6. Geburtstag und Personen, die glaubhaft machen könnten, dass ihnen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aufgrund einer Behinderung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich oder unzumutbar sei, von der Trageverpflichtung befreit. Glaubhaftmachung sei dabei mehr als die bloße Behauptung. Insbesondere genügten ärztliche Atteste, die alleine das Ergebnis bescheinigten, nicht. Vielmehr müsse substantiiert dargelegt werden, aus welchen konkreten gesundheitlichen Gründen in der konkreten relevanten Tragesituation keine Maske getragen werden könne. Zweifel an der Richtigkeit eines Attestes seien u.a. auch dann möglich, wenn es erkennbar ohne persönliche Untersuchung erstellt worden sei oder wenn identische Atteste zu mehreren Personen vorlägen. Versammlungsteilnehmer, die sich weigerten, eine Maske zu tragen, ohne glaubhaft machen zu können, von der Maskenpflicht aus gesundheitlichen Gründen befreit zu sein, etwa weil ein vorgezeigtes ärztliches Attest den Anforderungen nicht genüge, müssten eine Maske tragen oder seien vom Versammlungsleiter von der Versammlung auszuschließen. Bei vorangegangen Versammlungen, die sich gegen die Corona-Maßnahmen richteten, habe festgestellt werden können, dass Versammlungsteilnehmer am Versammlungsort mit der Absicht Lebensmittel verzehrten, die Maskenpflicht zu umgehen, weil die Mund-Nasen-Bedeckung während der Nahrungsaufnahme notwendig abgenommen werden müsse. Um eine Umgehung der Maskenpflicht zu verhindern, sei angeordnet worden, dass Versammlungsteilnehmer am Versammlungsort keine Nahrung zu sich nehmen und nicht rauchen dürften. Den Versammlungsteilnehmern bleibe es unbenommen, den Versammlungsort kurz zu verlassen, um etwas zu sich zu nehmen oder zu rauchen. Das Landratsamt weise außerdem darauf hin, dass auch die übrigen Vorgaben von § 7 Abs. 1 7. BayIfSMV, u.a. der Mindestabstand von 1,5 m einzuhalten seien. Zur Verhältnismäßigkeit führte das Landratsamt aus, dass die getroffenen Beschränkungen erforderlich gewesen seien, um einen störungsfreien Ablauf der Versammlung unter freiem Himmel sicherzustellen. Sie dienten der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere der Sicherheit der Versammlungsteilnehmer und von Dritten vor Infektionen.
Am 2.11.2020 ließ der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz stellen.
Er trug vor, dass er sich nicht gegen die Maskenpflicht an sich wende, sondern gegen die Auslegung des Begriffs der Glaubhaftmachung durch das Landratsamt, welche im Gesetz keine Stütze finde. Außerdem beziehe sich der Antrag auf die Untersagung der Nahrungsaufnahme der Versammlungsteilnehmer am Versammlungsort. Es bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes, weshalb an der sofortigen Vollziehung kein überwiegendes Interesse bestehen könne. Sollte das Gericht zum Ergebnis kommen, dass die Erfolgsaussichten unklar seien, sei die Klage ebenfalls begründet, weil die vorzunehmende Interessenabwägung im Sinne einer Folgenbetrachtung zu Gunsten des Antragstellers ausgehe. Der Verwaltungsakt sei bereits formell rechtswidrig, da bezüglich der angegriffenen Auflagen keine Gelegenheit zur Stellungnahme, also Anhörung im Sinne des Art. 28 BayVwVfG gewährt worden sei. Insbesondere sei er materiell rechtswidrig. Sowohl in der 7. als auch in der 8. BayIfSMV sei bewusst keine weitere Konkretisierung der Glaubhaftmachung vorgenommen worden - trotz der öffentlichen Diskussion sowie anhängiger bzw. bereits vereinzelt entschiedener gerichtlicher Verfahren diesbezüglich. Glaubhaftmachung könne demnach nur heißen, dass es überwiegend wahrscheinlich sein müsse, dass das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aufgrund einer Behinderung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich oder unzumutbar sei. Sowohl der Wortlaut als auch die vertane Möglichkeit des Verordnungsgebers, die bestehenden Unsicherheiten und manchmal abweichenden Gerichtsurteile durch konkretere Formulierung zu entwirren, ergäben eindeutig den gesetzgeberischen Willen, dass keine überspitzten Anforderungen an die Glaubhaftmachung gestellt werden sollten und dürften. Da im Verordnungstext noch nicht einmal ein Attest gefordert werde, sei gerade dies ein ausreichendes Mittel der Glaubhaftmachung. Mit keinem Wort werde konkretisiert, was im Attest an Informationen aufgenommen sein müsse. Lediglich dann, wenn das Attest offensichtlich gefälscht oder ohne Bezug zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung stehe, könne die Ansicht vertreten werden, dass jenes Attest einer Glaubhaftmachung nicht genüge. Jedes Attest, das bescheinige, dass aus gesundheitlichen Gründen oder einer Behinderung das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht möglich sei, genüge grundsätzlich dem Erfordernis des § 1 Abs. 2 der 7. BayIfSMV (jetzt § 2 Nr. 2 der 8. BayIfSMV). Durch die Konkretisierung des Gesetzestextes durch das Landratsamt werde eine unbestimmte Anzahl an Versammlungsteilnehmern, Ordnern und ggf. auch der Versammlungsleiter davon abgehalten, die Versammlung wie beantragt ganz oder teilweise durchführen zu können. Das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG werde beschränkt, da das Verkünden jener Auflage die Teilnahme an der Versammlung unattraktiv oder gar unmöglich mache, wenn ein entsprechendes Attest nicht existiere. Damit sei insgesamt der Erfolg der Versammlung und das Grundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG gefährdet, ohne dass dies gerechtfertigt wäre. Der Verordnungsgeber habe bewusst jede Art der Glaubhaftmachung zugelassen, so dass dies auch mit Attesten möglich sein müsse, die nicht gleich die gesamte medizinische Vorgeschichte und damit sensible, höchst private bzw. sogar intime Details preisgäben. Somit sei auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG betroffen. Hilfsweise sei die Anordnung aber auch deshalb rechtswidrig, da zumindest die Nennung des Diagnoseschlüssels (ICD-10) auf einem Attest ausreichen müsse. Zudem sei das Verbot der Nahrungsaufnahme völlig unverhältnismäßig, weil es ausreiche, anzuordnen, dass nur für die Dauer der Nahrungsaufnahme die Mund-Nasen-Bedeckung abgesetzt werden dürfe. Den Versammlungsort hierfür verlassen zu müssen, stelle Eingriffe in Art. 8 Abs. 1 GG und Art. 11 Abs. 1 GG, hilfsweise in Art. 2 Abs. 1 GG dar, die nicht gerechtfertigt seien. Die bloße Behauptung, dass auf einer anderen Versammlung zuvor die Maskenpflicht in der Gestalt umgangen worden sein solle, dass gegessen worden sei, genüge für das pauschale Verbot nicht. Zum einen müsse dies damals nicht der gleiche Versammlungsleiter gewesen sein, der die Verstöße nicht unterbunden habe und falls doch, möge es ihm zum anderen trotz des Einsatzes von Ordnern ggf. nicht möglich gewesen sein, dies zu unterbinden. In jedem Fall sei das Verbot der Nahrungsaufnahme zu pauschal und ohne Abwägung des Einzelfalls getroffen worden. Es hätte z.B. die Einschränkung erfolgen müssen, dass das Abnehmen der Maske nur für eine zügige Nahrungsaufnahme, die 15 Minuten nicht übersteige, erfolgen dürfe. Es gebe Bevölkerungsgruppen wie Diabetiker oder Kinder, die nicht einfach auf Essen verzichten könnten. Der Verweis auf einen Ort außerhalb der Versammlung sei nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG und Art. 11 Abs. 1 GG, sondern auch gar nicht zur Zweckerreichung geeignet. Bei Einhalten der Abstände von mind. 1,5 m sei der Verzehr von Nahrungsmitteln sogar unbedenklicher als irgendwo abseits der Versammlung wo Abstände nicht mehr eingehalten werden könnten und wo es auch keine polizeiliche Überwachung und Überprüfung mehr gebe.
Der Antragsteller lässt beantragen,
die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage gegen Nr. 1.9 des Bescheids des Landratsamts ... vom 30.10.2020 anzuordnen.
Der Antragsgegner hat keinen Antrag gestellt.
Für den Sachverhalt und das Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte mit den eingereichten Schriftsätzen.
II.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unzulässig (dazu 1.1), er wäre aber auch in der Sache ohne Erfolg geblieben (dazu 1.2).
1.1 Die Zulässigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO setzt als ein Gebot der Logik voraus, dass spätestens im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt ist, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet oder wiederhergestellt werden kann (vgl. dazu ausführlich Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80, Rn. 81 m.w.N.). Die Kammer schließt sich insoweit ausdrücklich der soweit ersichtlich ganz überwiegend in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung an (vgl. beispielhaft VGH Mannheim, B. v. 18.6.1991 - 8 S 1306/91, juris; OVG Weimar, B. v. 25.5.1994 - 1 EO 178/93, juris Rn. 44). Ein anderes Ergebnis folgt insbesondere nicht aus dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG (so Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 80, Rn. 139). Denn wenn jemand gerichtlichen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO in Anspruch nimmt, so ist ihm auch zuzumuten, den entsprechenden Rechtsbehelf in der Hauptsache einzulegen (überzeugend Hoppe in Eyermann, VwGO, a.a.O.), weil ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gerade nicht dazu dient, die Auffassung des Gerichts zu einer Rechtsfrage zu erfahren, bevor die Entscheidung über die Erhebung des Rechtsbehelfs in der Hauptsache getroffen wird (Schoch in Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 80 Rn. 461).
1.2 Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass der Antrag auch in der Sache erfolglos geblieben wäre.
Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt allerdings nach § 80 Abs. 2 VwGO dann, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. In diesen Fällen kann das Gericht nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung von Klage und Widerspruch anordnen. Das Gericht trifft insoweit eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat dabei zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind vorrangig die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die gebotene summarische Prüfung, dass Rechtsbehelfe gegen den angefochtenen Bescheid keinen Erfolg versprechen, tritt das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung regelmäßig hinter das Vollziehungsinteresse zurück und der Antrag ist unbegründet. Erweist sich die erhobene Klage hingegen bei summarischer Prüfung als zulässig und begründet, dann besteht kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids und dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist stattzugeben. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht ausreichend absehbar, muss das Gericht die widerstreitenden Interessen im Einzelnen abwägen.
Gemessen an diesen Maßstäben wäre der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich Nr. 1.9 des streitgegenständlichen Bescheides auch in der Sache abzulehnen, da sich diese bei der gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig erweist.
Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Anordnung ist Art. 15 Abs. 1 BayVersG. Danach kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Gefährdungen der Gesundheit und des Lebens, wie sie die Antragsgegnerin hier anführt, können daher prinzipiell Beschränkungen von Versammlungen rechtfertigen, zumal Leben und körperliche Unversehrtheit ihrerseits verfassungsrechtlich geschützt sind (BayVGH, B.v. 30.4.2020 - 10 CS 20.999 - juris Rn. 23). Allerdings ist mit dem Merkmal der unmittelbaren Gefährdung ein hoher Gefahrenmaßstab angesprochen, den nicht schlechterdings jede zu erwartende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit erreicht. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 der 7. BayIfSMV führt vor diesem Hintergrund aus, dass die Versammlungsbehörden, soweit im Einzelfall erforderlich, durch Beschränkungen sicherzustellen haben, dass die von der Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auf ein infektionsschutzrechtlich vertretbares Maß beschränkt bleiben; davon sei in der Regel auszugehen, wenn die Versammlung nicht mehr als 200 Teilnehmer habe und ortsfest stattfinde.
Dabei darf die Behörde keine völlige Risikofreiheit im Sinne einer absoluten infektionsschutzrechtlichen „Unbedenklichkeit“ fordern (vgl. BayVGH, B.v. 30.4.2020 - 10 CS 20.999 - juris Rn. 24 zur Vorgängervorschrift aus der 2. BayIfSMV). Sie hat vielmehr eigene Überlegungen zur Minimierung von Infektionsrisiken anzustellen (BVerfG, B.v. 17.4.2020 - 1 BvQ 37/20 - juris Rn. 25) und ist daher verpflichtet, sich um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter zu bemühen (BayVGH, B.v. 30.4.2020 - 10 CS 20.999 - juris Rn. 24). Bei ihrer Entscheidung hat die Behörde auch zu würdigen, dass Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur das Recht zur Teilnahme an öffentlichen Versammlungen gewährleistet, sondern dem Veranstalter zugleich ein Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich der Modalitäten der Versammlung gewährt, also namentlich zu der Frage, ob sie als Aufzug durchgeführt wird und an welchen Orten sie stattfinden soll (BVerfG, B.v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 - juris Rn. 16).
Angesichts dieser Maßstäbe folgt die Kammer bei summarischer Prüfung der von der Antragsgegnerin getroffenen Einschätzung, dass es zur Glaubhaftmachung einer Befreiung von der Maskenpflicht eines qualifizierten ärztlichen Attestes bedarf und dass es ohne die Untersagung der Nahrungsaufnahme und des Rauchens während der Versammlung zu unmittelbaren Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung kommen kann. Auf die Gründe des angefochtenen Bescheids, denen sich das entscheidende Gericht anschließt, wird insoweit zunächst ausdrücklich Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Ergänzend weist das Gericht auf folgendes hin:
Nach dem täglichen Lagebericht des ----Instituts zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 1.11.2020 ist aktuell eine zunehmende Beschleunigung der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage ist deutschlandweit auf 114,6 Fälle pro 100.000 Einwohner angestiegen, wobei seit Anfang September der Anteil älterer Personen unter den COVID-19 Fällen wieder zunimmt. In der Risikogruppe der Personen über 60 Jahre ist der Inzidenzwert auf 75,1 Fälle pro 100.000 EW angestiegen. Als Ursache hierfür nennt das Robert-Koch-Institut diffuse Geschehen, mit zahlreichen Häufungen unter anderem im Zusammenhang mit Gruppenveranstaltungen. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich in den vergangenen zwei Wochen von 769 Patienten am 18.10.2020 auf 2.061 Patienten am 1.11.2020 fast verdreifacht.
Allein für den hier betroffenen Landkreis --- meldet das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) in der „Übersicht der Fallzahlen von Coronavirusinfektionen in Bayern am 2.11.2020“ eine Zunahme um 62 Fälle am Tag und damit einen Siebentagwert von 314,4. Damit liegt der Landkreis --- nicht nur weit über dem bayerischen Durchschnittswert der Siebentageinzidenz von 134,4, sondern nimmt nach der tabellarischen Aufstellung des Robert-Koch-Instituts zugleich einen Spitzenplatz in Deutschland ein.
Bei dieser Sachlage bedarf es nach der Überzeugung des Gerichts keiner weiteren Erläuterung, dass eine Versammlung von erwarteten ca. 500 Personen auch im Freien erhebliche Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen haben kann und sich damit als unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt.
Die durch das Landratsamt --- zur Begrenzung dieser Gefahr verfügte und vom Antragsteller angegriffene Auflage 1.9 begegnet vor diesem Hintergrund bei summarischer Prüfung auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 S. 3 der 7. BayIfSMV keinen rechtlichen Bedenken.
Die Regelung aus § 7 Abs. 1 der 7. BayIfSMV hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand (dazu a)), sie rechtfertigt grundsätzlich auch die Anordnung einer Maskenpflicht (dazu b)). Dabei ist weder die Forderung des Landratsamts nach einem qualifizierten Attest zur Glaubhaftmachung einer Befreiung von der Maskenpflicht (dazu c)) noch die Anordnung des Verbots der Nahrungsaufnahme und des Rauchens während der Versammlung (dazu d)) zu beanstanden.
a) Gegen die Regelung von § 7 Abs. 1 der 7. BayIfSMV bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, denn die Vorschrift konkretisiert lediglich die versammlungsrechtliche Befugnisnorm des Art. 15 Abs. 1 BayVersG sowohl auf der Tatbestands- wie auch auf der Rechtsfolgenseite im Hinblick auf von Versammlungen unter freiem Himmel ausgehende Gefahren für die Gesundheit und das Leben Einzelner (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie den Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung (vgl. BayVGH, B. v. 11.9.2020 - 10 CS 20.2064, juris Rn.22 m.w.N. zu § 7 Abs. 1 der 6. BayIfSMV). Selbst wenn es diese Konkretisierung nicht gäbe, wären entsprechende Anordnungen zum Abstandsgebot und zur Maskenpflicht auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 BayVersG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG möglich (BayVGH, B. v. 11.9.2020, a.a.O., Rn. 23).
b) Die Anordnung einer Maskenpflicht lässt sich vorliegend auf § 7 Abs. 1 S. 3 der 7. BayIfSMV stützen, der bestimmt, dass jedenfalls ab einer Teilnehmerzahl von 200 Personen „in der Regel“ Maskenpflicht anzuordnen ist. Zum einen hat der Antragsteller eine erwartete Teilnehmerzahl von 500 Personen angegeben, so dass die Teilnehmerzahl weit über dem normierten Grenzwert liegt, zum anderen findet die von ihm geplante Versammlung in einem Landkreis mit einem im Vergleich zum bayerischen Landesdurchschnitt zweieinhalbfachen Siebentageinzidenzwert statt. Bereits aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass für ein Abweichen von der Regel, bei einer Versammlung mit mehr als 200 Teilnehmern eine Maskenpflicht anzuordnen, kein Raum verbleibt.
c) Weder gegen die Auflage, dass alle Teilnehmer, die von der Maskenpflicht befreit sind, sich vor Beginn der Versammlung bei den zuständigen Mitarbeitern des Landratsamtes zu melden und ihre Befreiung glaubhaft zu machen haben noch die Erläuterung der Anforderungen an diese Glaubhaftmachung in den Gründen bestehen rechtliche Bedenken. Der vom Landratsamt in den Gründen des Bescheids aufgenommene Hinweis, welche Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer Befreiung von der Maskenpflicht zu stellen sind, erweist sich lediglich als Erläuterung der geltenden Rechtslage. Insoweit entspricht es nämlich der obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich die entscheidende Kammer anschließt, dass für eine Befreiung vom Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung erforderlich ist, welche nachvollziehbare Befundtatsachen sowie eine Diagnose enthält (BayVGH, B. v. 26.10.2020 - 20 CE 20.2185, juris Rn.18). Da das Wesen der Glaubhaftmachung darin liegt, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit zu belegen, dass Personen aus gesundheitlichen Gründen von der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung befreit sind, muss die Verwaltung bzw. das Gericht aufgrund von konkreten und nachvollziehbaren Angaben in den ärztlichen Bescheinigungen in die Lage versetzt werden, das Vorliegen der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen selbständig zu prüfen (OVG NRW, B. v. 24.9.2020 - 13 B 1368/20, juris Rn. 12). Dass dies bei einem ärztlichen Attest, das alleine das Ergebnis bescheinigt, nicht der Fall ist, liegt für das Gericht auf der Hand. Soweit das Landratsamt meint, dass Zweifel an der Richtigkeit eines Attests dann „möglich“ sind, wenn es erkennbar ohne persönliche Untersuchung erstellt wurde oder wenn identische Atteste zu mehreren Personen vorliegen, geht das Gericht davon aus, dass hierin regelmäßig sogar ein gewichtiges gegen eine Glaubhaftmachung sprechendes Indiz liegen wird. Nicht einzugehen war auf die vom Antragsteller aufgeworfene Frage, ob die Nennung des Diagnoseschlüssels (ICD-10) ausreicht, weil sich der Bescheid hierzu nicht verhält.
d) Auch das vom Landratsamt verfügte Verbot der Nahrungsaufnahme und des Rauchens während der Versammlung begegnet bei summarischer Prüfung keinerlei rechtlichen Bedenken. Es erweist sich insbesondere als verhältnismäßig.
Dass ein Verbot der Nahrungsaufnahme und des Rauchens für eine Wirksamkeit der angeordneten Maskenpflicht erforderlich ist, ergibt sich schon daraus, dass es ansonsten jeder Versammlungsteilnehmer selbst in der Hand hätte, darüber zu entscheiden, ob er die angeordnete Maskenpflicht einhalten oder sie durch Essen, Trinken oder Rauchen umgehen will. Ohne dem Antragsteller oder einzelnen Versammlungsteilnehmern eine Umgehungsabsicht zu unterstellen, liegt damit auf der Hand, dass dies geradezu zwangsläufig dazu führt, dass die Anordnung der Maskenpflicht insgesamt völlig ins Leere läuft, wenn sie ins Belieben der einzelnen Versammlungsteilnehmer gestellt wird. Da die Maskenpflicht dem Schutz überragender Gemeinschaftsgüter wie Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie dem Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung zu dienen bestimmt ist, wäre dies kaum hinnehmbar.
Entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers vermag das Gericht auch kein milderes Mittel zu erkennen. Insbesondere wäre die vom Antragsteller angesprochene Beschränkung der Nahrungsaufnahme auf 15 Minuten schon deshalb ersichtlich ungeeignet, weil die Annahme dass die Einhaltung derartiger zeitlicher Vorgaben auch nur ansatzweise überprüfbar wäre, vollkommen lebensfremd ist.
Die getroffene Einschätzung findet eine zusätzliche Stütze darin, dass § 7 Abs. 1 S. 4 der 7. BayIfSMV anordnet, dass die Versammlung zu verbieten ist, wenn die Anforderungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 der 7. BayIfSMV auch durch Beschränkungen nicht sichergestellt werden können. Die vom Landratsamt verfügten Auflagen erweisen sich daher letztlich als milderes Mittel zu einem vollständigen Verbot der Versammlung.
Schließlich wird das Ergebnis durch eine Abwägung der widerstreitenden Grundrechte bestätigt. Dem schon in Anbetracht der im betroffenen Landkreis vorliegenden extrem hohen Infektionszahlen geschuldeten erheblichen Risiko für Leben und Gesundheit Einzelner (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems insgesamt steht auf Seiten der Versammlungsteilnehmer der lediglich geringfügige Eingriff in ihr durch Art. 8 Abs. 1 GG geschütztes Grundrecht gegenüber, für eine Dauer von drei Stunden, entweder auf das Essen, Trinken oder Rauchen zu verzichten oder hierfür kurzzeitig die Versammlung zu verlassen.
2. Die gerichtliche Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
3. Rechtsgrundlage der Streitwertfestsetzung sind § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 Gerichtskostengesetz. Die Kammer hat ihrer Entscheidung Nr. 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zugrunde gelegt, aber auf eine Verminderung des Streitwerts nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs verzichtet, weil mit dem vorliegenden Beschluss die Hauptsache vorweggenommen wird.
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Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Berichterstatterin der 4. Kammer - vom 19. Mai 2020 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
1
Die Beteiligten streiten um die Entstehung einer Erledigungsgebühr. Die Klägerin begehrte im Wege der Untätigkeitsklage die Verpflichtung der Beklagten zur Verlängerung eines Bauvorbescheides. Hilfsweise beantragte sie die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet war, mit Ablauf des 5. Juli 2019 den Verlängerungsbescheid zu erteilen. Hierzu führte sie aus, der Hilfsantrag habe zunächst keine eigenständige Bedeutung; er sei für den Fall gestellt, dass die Stadt nach Ablauf der angemessenen Bearbeitungsfrist gemäß § 75 VwGO von plansichernden Instrumenten Gebrauch gemacht habe oder Gebrauch machen werde. Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens erteilte die Beklagte den beantragten Verlängerungsbescheid. Hierauf erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt, und das Verwaltungsgericht erlegte die Verfahrenskosten im Einstellungsbeschluss der Beklagten auf. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 22. April 2020 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die der Klägerin zu erstattenden Kosten ohne Berücksichtigung einer Erledigungsgebühr fest. Die Erinnerung dagegen hat das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Entstehung einer Erledigungsgebühr setze eine Mitwirkung des Prozessbevollmächtigten an der materiell-rechtlichen Erledigung des Rechtsstreits voraus. Die bloße Beratung des Mandanten zu einer verfahrensmäßig angemessenen Reaktion auf eine ohne sein Zutun eingetretene Erledigungssituation genüge hierfür nicht.
2
Die dagegen gerichtete Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für die Entstehung einer Erledigungsgebühr hat das Verwaltungsgericht zutreffend zusammengefasst; auch die Klägerin greift diese Ausführungen nicht an. Sie beruft sich auch nicht darauf, durch ein nicht von der Verfahrensgebühr abgegoltenes anwaltliches Tätigwerden zum Erlass des Verlängerungsbescheides beigetragen zu haben. Vielmehr macht sie geltend, die Rechtssache i.S.d. Nr. 1002 VV-RVG habe sich materiell-rechtlich durch die Erteilung des Verlängerungsbescheides noch nicht erledigt, da ihr noch die Möglichkeit offen gestanden hätte, einen Fortsetzungsfeststellungsantrag zur Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses zu stellen; ihr Prozessbevollmächtigter habe durch schriftliche und telefonische Beratung dazu beigetragen, dass sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht habe.
3
Dieser Einlassung ist nicht zu folgen. Die bloße Möglichkeit, einen Verpflichtungsantrag auf einen Fortsetzungsfestsetzungsantrag umzustellen, ändert in der Regel nichts daran, dass die bis dahin streitgegenständliche Rechtssache im Sinne von Nr. 1002 VV-RVG erledigt ist, wenn die Behörde dem Verpflichtungsbegehren vollständig abhilft (OVG Lüneburg, 5. Senat, Beschl. v. 8.7.2013 - 5 OA 137/13 -, DÖD 2013, 242 = juris Rn. 9; VGH München, Beschl. v. 4.12.2007 - 3 C 07.2689 -, juris Rn. 11 m.w.N.; OVG Münster, Beschl. v. 31.1.2013 - 6 E 1129/12 -, juris Rn. 9). Das gilt jedenfalls dann, wenn - wie im Regelfall - das nach der Interessenlage der Klägerseite allenfalls sinnvolle Fortsetzungsfeststellungsbegehren seinem Inhalt nach über die Feststellung hinausgehen müsste, die mit einem Verpflichtungsausspruch des Gerichts verbunden gewesen wäre.
4
So liegt der Fall hier. Für einen Fortsetzungsfeststellungsausspruch dahingehend, dass die Klägerin im Zeitpunkt der Abhilfeentscheidung der Beklagten einen Anspruch auf die Verlängerung hatte, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, denn einen solchen Anspruch bestreitet die Beklagte nicht; anderenfalls hätte sie den Verlängerungsbescheid nicht erlassen dürfen. Gedient wäre der Klägerin allenfalls mit einer Feststellung dahingehend, dass der Anspruch bereits für einen bestimmten Zeitraum in der Vergangenheit bestanden hätte, da nur daraus ein Verzögerungsschaden abgeleitet werden könnte (zur zusätzlichen Schwierigkeit, dass der zusätzlich erforderliche Ablauf einer angemessenen Bearbeitungsfrist nicht Gegenstand des Fortsetzungsfeststellungsausspruchs wäre, VGH München, Beschl. v. 29.11.2010 - 15 B 10.1453 -, NVwZ-RR 2011, 310 = juris Rn. 19 f.). Ein auf das Bestehen eines Anspruchs in der Vergangenheit gerichtetes Feststellungsbegehren setzte jedoch eine Klageerweiterung voraus (BVerwG, Urt. v. 28.4.1999 - 4 C 4.98 -, BVerwGE 109, 74 = juris Rn. 15), die über die bisher anhängige Rechtssache i.S.d. Nr. 1002 VV-RVG hinausginge. Der Umstand, dass die Klägerin bereits bei Klageerhebung hilfsweise die Feststellung des Bestehens eines Bescheidungsanspruchs seit dem 5. Juli 2019 beantragt hatte, ändert daran vorliegend nichts. Dieser Antrag ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits geworden, da die Bedingung, von der er abhängig gemacht worden war, nicht eingetreten ist.
5
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
6
Eine Streitwertfestsetzung ist entbehrlich, weil bei Erfolglosigkeit der Beschwerde eine streitwertunabhängige Gerichtsgebühr in Höhe von 60,00 EUR anzusetzen ist (vgl. Nr. 5502 KV).
7
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Die Betroffenen werden freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
1Gründe
2I.
3Aufgrund vermehrt auftretender Krankheitsfälle des Coronavirus SARS-CoV-2 im Februar und März 2020 im Bundesgebiet und der Gefahr einer pandemischen Ausbreitung des Virus fanden mehrere Beratungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Bundesländer statt. In diesen Beratungen wurde Übereinkunft darüber erzielt, dass zur Verhinderung des exponentiellen Anstiegs der Infizierungen mit dem Covid-19 Virus und einer damit möglicherweise einhergehenden Überforderung der Kapazitäten des deutschen Gesundheitssystems Maßnahmen zu ergreifen seien, die zu einer massiven Reduzierung der sozialen Kontakte führen sollten.
4In Folge dessen erließ der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen am 22.03.2020 auf Grund der §§ 28 Abs. 1 Satz 1 und 2, 32 IfSG sowie des § 10 der Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz eine Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2.
5Neben Betretungsverboten bestimmter Einrichtungen für Reiserückkehrer, der Untersagung von Besuchen in Pflege- und Krankeneinrichtungen, der Betriebsuntersagung für Verkaufsstellen des Einzelhandels unter Ausnahme enumerativ genannter Geschäftsbereiche, der weitgehenden Untersagung von Dienstleistungen und Handwerksleistungen, der Untersagung von Beherbergungsangeboten zu touristischen Zwecken, der Untersagung des Gastronomiebetriebs mit Ausnahme des Außer-Haus-Verkaufs und der Belieferung mit Speisen und Getränken, dem weitgehenden Verbot von Veranstaltungen, Versammlungen und Gottesdiensten enthält die Verordnung in § 12 eine in der öffentlichen Darstellung als Kontaktverbot bezeichnete Regelung, die im Grundsatz Zusammenkünfte und Ansammlungen von mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum untersagte.
6Am 27.03.2020 erließ der Deutsche Bundestag das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, durch das weitreichende Änderungen des IfSG, insbesondere weitgehende Eingriffsbefugnisse für das Bundesministerium für Gesundheit unter dem Vorbehalt der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Deutschen Bundestag, normiert wurden. Darüber hinaus wurde § 28 Abs. 1 IfSG neu gefasst.
7In der bis zum 28.03.2020 geltenden Fassung lautete die Vorschrift wie folgt:
8§ 28
9Schutzmaßnahmen
10(1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. 2 Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. 3 Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. 4 Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz) werden insoweit eingeschränkt.
11Mit der am 28.03.2020 in Kraft getretenen Gesetzesänderung lautet § 28 IfSG nunmehr wie folgt:
12§ 28
13Schutzmaßnahmen
14(1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt.
15Mit Rechtsverordnung zur Änderung der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coranvirus SARS-CoV-2 vom 30.03.2020 wurde die Verordnung abgeändert. An dem Tag des Inkrafttretens der Änderungsverordnung galt danach bis zum Ablauf des 19.04.2020 folgende Fassung von § 12 CoronaSchVO:
16§ 12Zusammenkünfte, Ansammlungen, Aufenthalt im öffentlichen Raum
17 (1) Zusammenkünfte und Ansammlungen im öffentlichen Raum von mehr als 2 Personen sind untersagt. Ausgenommen sind
181. Verwandte in gerader Linie,
192. Ehegatten, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner sowie in häuslicher Gemeinschaft lebende Personen,
203. die Begleitung minderjähriger und unterstützungsbedürftiger Personen,
214. zwingend notwendige Zusammenkünfte aus geschäftlichen, beruflichen und dienstlichen sowie aus prüfungs- und betreuungsrelevanten Gründen,
225. bei der bestimmungsgemäßen Verwendung zulässiger Einrichtungen unvermeidliche Ansammlungen (insbesondere bei der Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs).
23(2) Die nach dem Landesrecht für Schutzmaßnahmen nach § 28 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes zuständigen Behörden können generelle Betretungsverbote für bestimmte öffentliche Orte aussprechen.
24(3) Das Picknicken und das Grillen auf öffentlichen Plätzen oder Anlagen sind untersagt. Die nach dem Landesrecht für Schutzmaßnahmen nach § 28 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes zuständigen Behörden können weitere Verhaltensweisen im öffentlichen Raum generell untersagen.
25In der Nacht vom 09.04.2020 auf den 10.04.2020 hielten sich die Betroffenen gemeinsam in der Zeit vom 23:53 Uhr bis 0:08 Uhr auf dem X-platz in E auf.
26Mit Bescheiden vom 23.04.2020 bzw. 12.05.2020 hat die Stadt E gegen die Betroffenen Bußgeldbescheide wegen verbotswidriger Teilnahme an einer Zusammenkunft oder Ansammlung im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen über jeweils 200,00 € erlassen.
27Gegen diese Bescheide haben die Betroffenen fristgerecht Einspruch eingelegt.
28II.
29Angesichts der besonderen Materie der vorliegenden Entscheidung ist ihrer Begründung voranzustellen, dass sie mit dem größten Respekt vor den seit Anfang März 2020 getroffenen Entscheidungen der Bundesregierung und der Landesregierungen ergeht und in keiner Weise von einem staatspolitischen Misstrauen oder Argwohn gegenüber diesen und der sie repräsentierenden Personen getragen ist. Dem Gericht ist bewusst, dass der Erlass der hier maßgeblichen Verordnung im Rahmen einer der größten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und zudem unter großem Zeitdruck erfolgt ist und nach bislang vorliegenden Erkenntnissen ihren Zweck zumindest vorübergehend erfüllt hat, Gesundheit und Leben der Bürgerinnen und Bürger vor den Gefahren einer sich unkontrolliert ausbreitenden Epidemie und einer damit einhergehenden Überlastung der medizinischen Versorgung zu schützen.
30Der Betroffene war gleichwohl freizusprechen, da § 12 CoronaSchVO gegen höherrangiges Recht verstößt. Zum einen ist die Vorschrift von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage der §§ 28 Abs. 1 Satz 1 und 2, 32 IfSG nicht gedeckt und verstößt damit gegen Bundesrecht. Zum anderen ist die Norm für sich genommen keine geeignete gesetzliche Grundlage, weil eine solche Regelung dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten war und die Norm damit wegen Verstoßes gegen den Parlamentsvorbehalt verfassungswidrig ist.
311.
32Ausgangspunkt beider Begründungsansätze ist hierbei, dass es sich bei dem in Rede stehenden Kontaktverbot um einen äußerst schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützten Interessen der Bürgerinnen und Bürger Nordrhein-Westfalens handelt. Das Verbot von Zusammenkünften und Ansammlungen im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen betrifft den Kern einer durch Interaktion seiner Bürger in allen Lebensbereichen ausgezeichneten offenen, freiheitlichen und sozialen Gesellschaft, wie sie das Grundgesetz im Blick hat. Für sich genommen greift ein solches Verbot zwar unmittelbar lediglich in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG ein, da anders als die Ausgangsbeschränkungen in anderen Bundesländern die körperliche Fortbewegung nicht erschwert oder unmöglich gemacht wird und somit ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ausscheidet. Das Kontaktverbot stellt aber das Grundkonzept der Pandemiebekämpfung in Nordrhein-Westfalen wie auch in vielen anderen Bundesländern dar. Nachvollziehbarer Weise und wahrscheinlich auch erfolgreich wurde durch eine möglichst große Reduzierung der sozialen Kontakte der Menschen untereinander durch ein final bezwecktes „Herunterfahren“ des öffentlichen Lebens eine unkontrollierte Infizierung der Bevölkerung mit einem in seinen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen noch weitgehend unbekannten Virus und eine damit zu befürchtende Überlastung des Gesundheitssystems verhindert. Dieser Logik der Pandemiebekämpfung folgt das Kontaktverbot bzw. ist dessen normativer Grundpfeiler. Durch die übrigen in der CoronaSchVO enthaltenen Ge- und Verbote, die besondere Lebensbereiche betreffen, wird diese Logik fortgeschrieben. So stehen sämtliche in den §§ 1 bis 11 CoronaSchVO in der hier maßgeblichen Fassung vom 30.03.2020 genannten Maßnahmen in unauflösbarem Zusammenhang mit der Systematik der Pandemiebekämpfung durch Kontaktreduzierung und damit dem allgemeinen Kontaktverbot des § 12 CoronaSchVO. Daher betrifft diese Norm nicht nur den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern darüber hinaus mittelbar die Berufsfreiheit, die Eigentumsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Versammlungsfreiheit (vgl. im Einzelnen: Wissenschaftliche Dienste-Deutscher Bundestag, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, WD 3-3000-079/20).
33Der hier dargestellten Schwere des Grundrechtseingriffs steht angesichts seiner beschriebenen Wirkung auch nicht entgegen, dass in § 12 Abs. 1 Satz 2 CoronaSchVO Ausnahmen von dem Kontaktverbot vorsieht. Gleiches gilt hinsichtlich der in § 17 CoronaSchVO vorgesehenen Befristung. Sie belegen den Befund, dass grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Landesregierung hinsichtlich der mit den ergriffenen Maßnahmen verfolgten Ziele vollkommen unangebracht ist und in der öffentlichen Debatte insofern laut gewordene Vorwürfe dem Bereich irrationaler Verschwörungstheorie zuzuordnen sind. Durch Befristung und Schaffung von Ausnahmetatbeständen hat der Verordnungsgeber vielmehr klar zu erkennen gegeben, dem in materieller Hinsicht jeden staatlichen Eingriff in Grundrechte begrenzenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit uneingeschränkt verpflichtet zu sein.
34An der qualitativen Bewertung des Grundrechtseingriffs ändert dieser Umstand nichts. Sie steht im Übrigen in Einklang mit der Einschätzung der politischen Verantwortlichen selbst. Die nach dem 22.03.2020 ergriffenen Maßnahmen sind sowohl von der Bundeskanzlerin als auch von dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen als die schwerwiegendsten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet worden.
352.
36Das in § 12 CoronaSchVO normierte Kontaktverbot kann unter Berücksichtigung dieser Bewertung nicht auf § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG gestützt werden. Eine Ermächtigung zu einem flächendeckenden, jede Bürgerin und jeden Bürger unabhängig von der konkreten Gefährdungssituation betreffenden Kontaktverbot mit dem Ziel, das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen zu bringen, kann § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG nicht entnommen werden, ohne dass die Vorschrift selbst als verfassungswidrig angesehen werden müsste.
37a)
38Bereits die Wortlautgrenze der genannten Vorschriften würde in unzulässiger Weise überschritten, wollte man diese als Ermächtigungsgrundlage für ein Kontaktverbot für den gesamten öffentlichen Raum Nordrhein-Westfalens und damit den gesamten örtlichen Wirkungsbereich der Verordnung aktivieren.
39§ 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ermächtigt die zuständige Behörde, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden und soweit und solange solche Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten notwendig sind. Als denkbare notwendige Maßnahmen in diesem Sinne wird die Verpflichtung von Personen genannt, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Wenn überhaupt, ließe sich das Kontaktverbot unter die mögliche Verpflichtung von Personen fassen, öffentliche Orte nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich nur mit höchstens zwei Personen, zu betreten. Aus der Verwendung des Plurals im Begriff Orte wird jedoch klar bestimmt, dass zumindest Differenzierungsmöglichkeiten denknotwendig verbleiben müssen. Die flächendeckende, das gesamte Landesgebiet betreffende Regelung sprengt die durch den Wortlaut begrenzte Auslegungsmöglichkeit der Norm.
40Gleiches gilt für die Wortlautgrenze des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Danach können unter den Voraussetzungen des Satzes 1 Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränkt oder verboten werden. Unabhängig davon, dass der Verordnungsgeber mit dem Begriff der "Zusammenkunft" einen weiteren dem Gesetz nicht zu entnehmenden Begriff als Tatbestandsvoraussetzung einführt, der von dem Begriff der Ansammlung zumindest qualitativ abzugrenzen wäre, kann das Zusammensein von mindestens drei Personen weder als Zusammenkunft noch als Ansammlung im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz IfSG angesehen werden. Der Gesetzgeber hat nämlich in seiner Begründung zum Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite seine Änderung des Wortlauts von § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG lediglich damit begründet, dass es sich um eine Anpassung des Gesetzes aus Gründen der Normenklarheit handelt (BT-Drs. 19/18111, S. 24). Geändert wurde § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG insbesondere dadurch, dass das die dort genannten Ansammlungen beschreibende Tatbestandsmerkmal „einer größeren Anzahl von Menschen“ gestrichen wurde. Will man den Gesetzgeber ernst nehmen, dass mit der Streichung keine inhaltliche Änderung des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG einhergehen sollte, muss das Tatbestandsmerkmal im Wege der Auslegung der Norm beigemessen werden. Eine Ansammlung von mehr als drei Personen als solche einer größeren Anzahl von Menschen anzusehen, verbietet sich aber von selbst.
41b)
42Auch in einer Zusammenschau der beiden ersten Sätze des § 28 Abs. 1 IfSG kann der Vorschrift eine tragfähige gesetzliche Grundlage für das Kontaktverbot des § 12 Abs. 1 Satz 1 CoronSchVO nicht entnommen werden. Die Vorschrift stellt besonderes Gefahrenabwehrrecht dar, auf das die allgemeinen Grundsätze dieses Rechtsgebiets unter Berücksichtigung der Eigenarten der Spezialmaterie des Infektionsschutzes anwendbar sein müssen. § 28 Abs. 1 IfSG ist als offene Generalklausel ausgestaltet (OVG Münster, Beschl. v. 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE – juris, Rn. 44), in der exemplarisch einzelne Maßnahmen benannt werden. Gemäß dem Zweck des IfSG, die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhindern, dient die Norm, wie gefahrenabwehrrechtliche Generalklauseln im Allgemeinen, der Effektivität der Gefahrenabwehr. Aus den Gesetzesmaterialien zur seinerzeitigen Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, durch die der mit dem § 28 IfSG a.F. inhaltsgleiche § 34 BSeuchG als Generalklausel neben dem bis dahin geltenden abschließenden Katalog an Schutzmaßnahmen eingeführt wurde, kann entnommen werden, dass diese Gesetzesänderung den Gefahrenabwehrbehörden ein flexibel handhabbares Instrumentarium an Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Übertragung von Krankheiten an die Hand geben wollte (BT-Drs. 8/2468, S. 27). Gerade angesichts des dort ebenfalls erwähnten Umstands, dass nicht jede staatliche Reaktion auf jede denkbare Gefahrenlage durch typisierte Standardbefugnisse abzubilden ist, sind Generalklauseln notwendig und im Grundsatz auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, soweit die ihnen begriffsnotwendig eigene tatbestandliche Weite durch Anwendung bestimmter Rechtsgrundsätze eingehegt wird (zur polizeirechtlichen Generalklausel: BVerwGE 115, 189 unter Hinweis auf BVerfGE 54, 143; vgl. auch BVerfG DVBl 2001, 558.).
43aa)
44Gefahrenabwehrrechtliche Generalklauseln setzen demgemäß in der Regel als Tatbestandsvoraussetzung eine konkrete Gefahrenlage voraus, um im Hinblick auf die regelmäßig mit präventiven Maßnahmen verbundenen Grundrechtseingriffe ein gewisses Maß an Konturierung und Vorhersehbarkeit zu gewährleisten. Als konkrete Gefahr ist dabei eine im Einzelfall bestehende Sachlage zu verstehen, bei der in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schadenseintritt für ein zu schützendes Rechtsgut prognostiziert werden kann. Ein Blick in die Legaldefinitionen der Begriffe „Krankheitsverdächtiger“ und „Ansteckungsverdächtiger“ in § 2 IfSG in Verbindung mit den gemäß §§ 28 bis 31 IfSG gegen diese Personengruppen zugelassenen Eingriffsmöglichkeiten könnte darauf schließen lassen, dass das Infektionsschutzgesetz bereits bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts, also einer Sachlage im Vorfeld konkreter Gefahr, in der nicht mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit ein Schadenseintritt prognostiziert werden kann, grundrechtsrelevante Eingriffsmaßnahmen möglich sein sollen (vgl. BVerwG, Urteil v. 22.03.2012 – 3 C 16/11 – juris, Rn. 25). Ein solches Verständnis des Gefahrenbegriffs übersieht den Grundsatz der umgekehrten Proportionalität. Danach sind für die Annahme einer konkreten Gefahr desto geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je schwerer der in Aussicht stehende Schaden wiegt. Gefahr ist also kein naturwissenschaftlich zu ermittelnder Zustand, sondern vielmehr durch situative Wertung festzustellen. Wird eine solche unmöglich gemacht, verlässt man das Grundkonzept gefahrenabwehrrechtlicher Betrachtung.
45Eben dies geschieht jedoch gerade dann, wenn wie vorliegend eine Maßnahme wie das Kontaktverbot von dem zu prognostizierenden Kausalverlauf, der zu einem Schadenseintritt führen kann, sowohl im Hinblick auf seine Wahrscheinlichkeit als auch hinsichtlich seiner zeitlichen Komponente gänzlich entkoppelt wird und sich schlichtweg unabhängig von der Gefahr im Einzelfall an jeden Bürger in einem Staatsgebiet richtet.
46bb)
47Ein weiterer und mit dem zuvor Gesagten in unmittelbarem Zusammenhang stehender Grundsatz im Gefahrenabwehrrecht, der die Weite generalklauselbasierter Eingriffsmöglichkeiten begrenzt, ist der der vorrangigen Inanspruchnahme des sogenannten Störers, d.h. des Betroffenen der in einem Ursächlichkeits- und/oder Verantwortungszusammenhang zu der abzuwehrenden Gefahr steht. Die Inanspruchnahme von Personen, die diesen Zusammenhang zu der abzuwehrenden Gefahr nicht aufweisen, ist regelmäßig nur unter besonderen qualifizierenden Voraussetzungen möglich (vgl. insoweit §§ 4 bis 6 PolG NRW; allg. zur gefahrenabwehrrechtlichen Verantwortlichkeit: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. A., Kap. D, Rn. 71 ff.). Von diesen Grundsätzen sind auch die Schutzmaßnahmen des IfSG geleitet, wie insbesondere ein Blick in die Spezialermächtigungen der §§ 29 bis 31 IfSG belegt. Diese erlauben bestimmte Maßnahmen wie Beobachtung, Absonderung oder ein berufliches Tätigkeitsverbot gegen Personen, die mit übertragbaren Krankheiten infiziert sind oder möglicherweise infiziert sind, also gegen Störer im gefahrenabwehrrechtlichen Sinne. Aber auch die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG geht von der Wertung aus, dass vorrangige Adressaten Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider und damit Personengruppen sind, die in einer Kausalitätsbeziehung zu der abzuwehrenden Gefahr stehen (BVerwG, Urteil v. 22.03.2012 – 3 C 16/11 – juris, Rn. 25). Zwar lässt die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG auch Maßnahmen gegen sogenannte Nichtstörer zu. Dies gilt insbesondere auch für Ansammlungsverbote gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG (BVerwG, Urteil v. 22.03.2012 – 3 C 16/11 – juris, Rn. 26). In der Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift des § 34 BSeuchG hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel auch Maßnahmen gegen Nichtstörer gestützt werden können und durch die Einarbeitung weiter Passagen des § 43 BSeuchG, der Schutzmaßnahmen gegen Allgemeinheit vorsah, in den Tatbestand des § 34 BSeuchG hinreichend deutlich gemacht, dass nunmehr auch allgemeinwirkende Maßnahmen auf der Grundlage der Generalklausel möglich sein sollen (BT-Drs. 8/2468, S. 27). Eine vollkommene Abkehr vom Grundsatz der ermessensfehlerfreien Auswahl des Adressaten einer gefahrenabwehrenden Maßnahme ist damit jedoch gerade nicht verbunden gewesen.
48Von diesen Grundsätzen aber löst sich eine Regelung wie § 12 CoronaSchVO gänzlich, wenn ein Zusammenkunfts- und Ansammlungsverbot vollkommen unabhängig von situativen, örtlichen und persönlichen Zusammenhängen zu der zu bekämpfenden übertragbaren Krankheit erlassen wird. In dieser Ausgestaltung werden Gefahrenprognose und Adressatenauswahl derart pauschaliert, dass sie als Grundsätze der Gefahrenabwehr gänzlich zu Gunsten einer allgemein gültigen und gänzlich abstrakten Einschätzung aufgegeben werden.
49Auf der Grundlage von § 28 Abs. 1 IfSG kann daher zumindest kein für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen und damit flächendeckendes situationsunabhängiges Verbot der Zusammenkunft von mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum ergehen, will die Norm einer geltungserhaltenden verfassungskonformen Auslegung zugänglich sein. Denn der Finalität eines solchen Kontaktverbots im Hinblick auf das Erliegen des öffentlichen Lebens (sog. Lockdown) kommt angesichts der Konzeption des Grundgesetzes als von der Freiheit des Einzelnen und seiner sozialen Eingebundenheit zur Verwirklichung dieser Freiheit getragenen Ordnung der Charakter eines Ausnahmezustands zu. Den Ausnahmezustand kennt das Grundgesetz jedoch gerade nicht.
50cc)
51Das Gericht verkennt bei seiner Entscheidung nicht, dass das OVG Münster zumindest im Zusammenhang mit der flächendeckenden Betriebsuntersagung im Bereich des Einzelhandels durch § 5 Abs. 4 CoronaSchVO i.d.F.v. 30.03.2020 eine dezidiert andere Auffassung vertreten hat (OVG Münster, Beschl. v. 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE – juris). Der Auffassung des OVG Münster kann im Hinblick auf das hier zu beurteilende Kontaktverbot des § 12 CoronaSchVO nicht gefolgt werden. Das OVG argumentiert in seiner Entscheidung, dass zumindest mit Änderung des § 28 IfSG durch den Bundesgesetzgeber mit Wirkung zum 28.03.2020 eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage für die dort zu beurteilende Betriebsschließung vorgelegen habe. Dem OVG Münster ist zwar darin zuzustimmen, dass durch die zum 28.03.2020 in Kraft getretene Änderung des § 28 Abs. 1 IfSG de facto die offensichtliche Unvereinbarkeit der bis dahin im Verordnungswege getroffenen Regelungen der Bundesländer mit dem IfSG beseitigte, also die Norm des § 28 IfSG zumindest ihrem Wortlaut nach in ihrem materiellen Gehalt veränderte. Eine solche Auslegung verbietet sich jedoch angesichts der insofern eindeutigen Gesetzesbegründung. Danach handelte es sich ausschließlich um eine Anpassung des Gesetzes aus Gründen der Normenklarheit (BT-Drs. 19/18111, S.24). Dass flächendeckende, tief in die Grundrechte der Bürger eingreifende und von der Kausalität oder der Verantwortung für die zu bekämpfende Gefahr völlig unabhängige Maßnahmen durch die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IFSG a.F. ermöglicht werden sollten, ist den Gesetzesmaterialien gerade nicht zu entnehmen.
52dd)
53Ein solches Verständnis würde im Übrigen dem im Gefahrenabwehrrecht allgemein anerkannten Grundsatz widersprechen, dass auf der Grundlage von Generalklauseln im Allgemeinen nur weniger einschneidende Maßnahmen ergehen können als auf spezialgesetzlicher Grundlage (Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. A., Rn. 50). Der Hinweis des OVG Münster, dass anerkannt sei, dass im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein kann, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum insbesondere auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen (OVG Münster, Beschl. v. 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE – juris, Rn. 59, 60 m.w,.N.), ist richtig, verfängt vorliegend aber gerade nicht. Denn zum einen war die Bedrohung durch den Ausbruch einer pandemisch verlaufenden Infektionserkrankung dem Gesetzgeber durchaus bekannt. Bereits im Januar 2013 lag dem Deutschen Bundestag ein Bericht der Bundesregierung zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz vor, in dem die Folgen des Ausbruchs eines fiktiven Coronavirus beschrieben wurde (BT-Drs. 17/12501). Zum anderen ist der parlamentarische Gesetzgeber durch Erlass des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.03.2020 gerade tätig geworden, ohne nach eigenem Bekunden an den materiellen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 IfSG etwas geändert zu haben. Die vom OVG Münster angenommene Regelungslücke kann damit zumindest zum hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht bestanden haben.
543.
55Eine in die Grundrechte derart tief eingreifende Regelung wie das hier in Rede stehende Kontaktverbot für alle Bürgerinnen und Bürger des Landes NRW hätte aber auch unabhängig von der Frage, ob ein solches auf § 28 IfSG gestützt werden kann, nicht im Wege der Rechtsverordnung durch die Exekutive erlassen werden dürfen, sondern war von vornherein dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten.
56Dem Grundgesetz ist zwar kein grundsätzlicher Vorrang des Parlaments – auch nicht aufgrund seiner im Gegensatz zu den anderen Staatsgewalten unmittelbaren demokratischen Legitimation – für alle staatliche Entscheidungen zu entnehmen. Aus der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes folgt aber das zur Gesetzgebung vorrangig die Parlamente berufen sind, die gemäß Art. 80 GG diese Kompetenz per Gesetz an die Exekutive delegieren können. Aus dem Demokratieprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten folgt aber, dass im Bereich der Rechtsetzung der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, verpflichtet ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (BVerfG, Beschl. v. 08.08.1978, 2 BvL 8/77 – juris – Rn. 77 m.w.N.). Ob es eines förmlichen Gesetzes zur Regelung eines Lebensbereiches bedarf oder der parlamentarische Gesetzgeber die Normsetzung der vollziehenden Gewalt überlassen darf, bestimmt sich nach der Regelungsmaterie und der Intensität der mit der jeweiligen Regelung verbundenen Grundrechtseingriffe (BVerfG, Beschl. v. 08.08.1978, 2 BvL 8/77 – juris – Rn. 78 m.w.N.).
57Nach diesen Grundsätzen konnte eine Regelung eines Kontaktverbots in der Ausprägung des § 12 CoronaSchVO durch eine Rechtsverordnung nicht erfolgen. Zwar basiert das Kontaktverbot auf den §§ 28 Abs. 1 Satz 2 und 32 IfSG und wird wie Art. 80 Abs. 1 GG vorsieht formell-gesetzlich legitimiert. Der durch das Kontaktverbot bewirkte Grundrechtseingriff stellt sich aber als so schwerwiegend dar, dass die Normierung der Voraussetzungen eines solchen Eingriffs dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten war. Angesichts dieser Intensität, muss von einer wesentlichen normativen Entscheidung ausgegangen werden, den der parlamentarische Gesetzgeber nicht auf den Verordnungsgeber delegieren durfte. Dies gilt umso mehr, als der Verordnungsgeber, wie oben dargestellt, die Verordnung auf eine offene Generalklausel gestützt hat, die – wie oben dargestellt – als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für das in Rede stehende Kontaktverbot nicht in Betracht kommt.
58Diese Wesentlichkeit wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass § 12 CoronaSchVO i.d.F.v. 30.03.2020 ausdrücklich Ausnahmen von dem Kontaktverbot normiert. Diese sind derart begrenzt, dass sie insbesondere aufgrund der Fernwirkung des Kontaktverbots auf eine Vielzahl grundrechtsrelevanter Bereiche nicht geeignet sind, die Regelung als unwesentlich im oben verstandenen Sinne anzusehen.
59Gleiches gilt hinsichtlich der vom Verordnungsgeber in § 17 CoronaSchVO vorgenommenen Befristung der Regelung. Denn der parlamentarische Gesetzgeber war bereits am 27.03.2020 mit Erlass des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite tätig geworden. In diesem Zusammenhang hätten also auch entsprechende Ermächtigungsgrundlagen für Kontaktverbote normiert werden können. Dies gilt umso mehr, als dem Gesetzgeber wie oben bereits dargestellt das Szenario einer pandemisch verlaufenden Infektionskrankheit bekannt war.
60Für die Wesentlichkeit sprechen im Übrigen auch der Grad der Gefahr, der durch normsetzendes Handeln zu begegnen war und der Wert der zu schützenden Rechtsgüter. Vorliegend bestand die Gefahr für die Gesundheit und das Leben eines nicht überschaubaren Teils der Bevölkerung durch ein in seiner Verbreitung und seinen Auswirkungen nicht hinlänglich bekanntes Virus und damit für besonders hochrangige Rechtsgüter.
61Schließlich sprechen auch die mit den Maßnahmen für das Gemeinwesen entstehenden wirtschaftlichen Belastungen für eine wesentliche gesetzgeberische Entscheidung, die den Parlamenten vorbehalten war.
624.
63Die hier getroffene Entscheidung musste ohne Vorlage des § 12 CoronaSchVO i.d.F.v. 30.03.2020 an das Bundesverfassungsgericht oder den Verfassungsgerichtshof des Landes NRW erfolgen.
64Gemäß Art. 100 GG obliegt das Verwerfungsmonopol für Gesetze grundsätzlich dem Bundesverfassungsgericht bzw. den Landesverfassungsgerichten. Hält ein Richter eine entscheidungserhebliche Norm für mit höherrangigem Recht unvereinbar, hat er die Norm dem BVerfG zur Entscheidung vorzulegen. Diese Vorlagepflicht gilt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG jedoch nur für formelle, d.h. solche Rechtsnormen, die in dem von der Verfassung hierfür vorgesehenen formellen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen sind. Rein materielle Gesetze wie Rechtsverordnungen sind grundsätzlich nicht vorlagefähig (Müller-Terpitz, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 58. EL Januar 2020, § 80 Rn. 80, 124 ff). Über ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht auch mit Verfassungsrecht hat der Richter selbst zu entscheiden. Von diesem Grundsatz werden nur dann Ausnahmen gemacht, wenn zwar unmittelbar entscheidungserheblich allein Normen einer Verordnung sind, jedoch eine mittelbare Entscheidungserheblichkeit der verfassungsrechtlichen Bewertung des der Verordnung zu Grunde liegenden Gesetzes anzunehmen ist, da ihre verfassungsrechtliche Bewertung auf die der unmittelbar entscheidungsrelevanten Rechtsgrundlage durchschlägt (BVerfG, Beschluss vom 14.04.1987 – 1 BvL 25/84 – juris, Rn. 33). Ein solcher Fall liegt nicht vor. Wie oben dargestellt bestehen keine Bedenken an der grundsätzlichen Verfassungsgemäßheit der §§ 28, 32 IfSG. Die Normen sind wie andere gefahrenabwehrrechtliche Generalklauseln und Verordnungsermächtigungen einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich, soweit die oben im Detail beschriebenen Grundsätze des Gefahrenabwehrrechts Beachtung finden und nicht zugunsten einer in Tatbestand und Rechtsfolge grenzenlosen Eingriffsbefugnis aufgegeben werden. Der festgestellte Verstoß gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz wird von der dem § 12 CoronaSchVO zugrunde liegenden Gesetzesnorm nicht geteilt, da § 28 Abs. 1 IfSG einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich ist.
655.
66Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 StPO.
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird unter Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses für das Verfahren in beiden Instanzen auf 41,78 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Diesen Anforderungen genügt die auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 VwGO gestützte Antragsbegründung, auf deren Prüfung der Senat im Zulassungsverfahren beschränkt ist, nicht. Die Zulassung der Berufung ist aus keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe gerechtfertigt.
41. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
5Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Beschluss vom 26. März 2007 - 1 BvR 2228/02 -, NVwZ-RR 2008, 1, juris Rn. 25.
6Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.
7Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Gebührenbescheide vom 15. August 2018 und vom 8. Januar 2019 abgewiesen und ausgeführt: Sowohl Ermahnung als auch Verwarnung seien rechtmäßig erfolgt, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG. Zum Zeitpunkt der Ermahnung seien vier Verkehrszuwiderhandlungen im Fahreignungsregister eingetragen gewesen. Auch die Tat vom 21. April 2018 sei verwertbar gewesen. Die Behörde sei nach § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG an die rechtskräftigen Entscheidungen über die Straftaten und Ordnungswidrigkeiten gebunden. Eine Überprüfung der mit Punkten bewerteten rechtskräftigen Entscheidungen durch die Fahrerlaubnisbehörde finde nicht statt. Ein anhängig gemachtes Wiederaufnahmeverfahren sei allenfalls dann zu berücksichtigen, wenn sich bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung feststellen lasse, dass es mit derart hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Freispruch führen müsse, dass es im Hinblick darauf grob unbillig wäre, trotz der Bindung an der rechtskräftigen Entscheidung festzuhalten. Für einen derartigen Fall sei nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich (Urteilsabdruck S. 5). Mit Blick auf die Verwarnung sei die Tat vom 14. Februar 2016 noch verwertbar gewesen. Es handele sich um eine Ordnungswidrigkeit, über die eine rechtskräftige Entscheidung gefallen und die daraufhin im Fahreignungsregister nach § 28 Abs. 3 Nr. 3 a) bb) StVG gespeichert worden sei. Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG habe die Tilgungsfrist für diese Eintragung zwei Jahre und sechs Monate betragen. Rechtskraft sei am 24. Juni 2016 eingetreten, Tilgungsreife am 24. Dezember 2018. Rechtskraft der beiden Ordnungswidrigkeiten vom 10. Juni 2018 sei im September 2018 eingetreten. Der für den Ausspruch der Verwarnung maßgebliche Punktestand sei bereits deutlich vor dem Eintritt der Tilgungsreife der Ordnungswidrigkeit vom 14. Februar 2016 erreicht worden. Dass der Beklagte die Verwarnung erst zu einem Zeitpunkt ausgesprochen habe, als im Hinblick auf die Ordnungswidrigkeit vom 14. Februar 2016 Tilgungsreife eingetreten sei, sei nicht relevant (Urteilsabdruck S. 6 f.).
8Die hiergegen im Zulassungsverfahren erhobenen Rügen vermögen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht in Frage zu stellen.
9a) Hinsichtlich der Ermahnung wendet der Kläger ein, dass die Behörde für den Fall eines Wiederaufnahmeverfahrens verpflichtet sei, zuzuwarten, bis das Verfahren endgültig abgeschlossen ist. Dies gelte umso mehr, da es sich um einen Bußgeldbescheid aus dem Hause des Beklagten handele. Mit diesem Vorbringen setzt sich der Kläger schon nicht hinreichend mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Bindung an rechtskräftige Entscheidungen nach § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG auseinander, vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Darüber hinaus steht die Ansicht des Verwaltungsgerichts in Einklang mit der zu dieser Frage ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur. Der Betroffene muss den Bußgeldbescheid solange gegen sich gelten lassen, wie die Rechtskraft dieser Entscheidung nicht durch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder eine Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens beseitigt wird.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 2017 - 16 B 432/17 -, juris Rn. 6 f.; OVG S.-H., Beschluss vom 27. Januar 2017 - 4 MB 3/17 -, juris Rn. 9 ff.; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 28. Mai 2015 - OVG 1 S 71.14 -, juris Rn. 7 (zu § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG a. F.); Bay. VGH, Beschluss vom 6. März 2007 - 11 CS 06.3024 -, juris Rn. 11 (zu § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG a. F.); Stieber, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016 (Stand: 2. Mai 2017), § 4 StVG Rn. 59; Zwerger, in: ZfSch 2009, 128 ff.
11Der Kläger legt nicht dar, dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder eine Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens erfolgt wäre. Er trägt auch (weiterhin) nichts für den allenfalls anzunehmenden Ausnahmefall vor, dass sich feststellen ließe, dass das Wiederaufnahmeverfahren mit derart hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Freispruch führen müsse, dass die sich aus § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG ergebende Bindung an die rechtskräftige Entscheidung grob unbillig sein könnte.
12Vgl. hierzu im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes Bay. VGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 11 CS 12.27 -, juris Rn. 14 (zu § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG a. F.); Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 4 StVG Rn. 79.
13b) Mit Blick auf die Verwarnung legt der Kläger ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung dar. Er trägt insoweit vor, dass die Verwarnung erst ausgesprochen worden sei, als der Verstoß vom 14. Februar 2016, der zum 24. Juni 2016 rechtskräftig geworden sei, getilgt gewesen sei. Es sei unter Berücksichtigung der Untätigkeit der Fahrerlaubnisbehörde von drei Monaten zumindest ein Vertrauenstatbestand durch die Behörde geschaffen worden, nicht einzuschreiten. Die Behörde hätte nach Mitteilung des Punktestandes durch das Kraftfahrt-Bundesamt am 4. Oktober 2018 unverzüglich handeln müssen. Dies verhilft dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg.
14Auf die Frage, ob zum Zeitpunkt der Verwarnung eine Tilgung hinsichtlich des Verstoßes vom 14. Februar 2016 vorgelegen hat, kommt es nicht an. Die Fahrerlaubnisbehörde hat für das Ergreifen der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG. Bei der Berechnung des Punktestandes werden Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind (§ 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG), und nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war (§ 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 StVG). Spätere Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen bleiben unberücksichtigt, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG. Zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Verwarnung führenden Ordnungswidrigkeit am 10. Juni 2018 war die Tilgungsfrist hinsichtlich der Ordnungswidrigkeit vom 14. Februar 2016 noch nicht abgelaufen.
15Vor diesem Hintergrund kommt es auf die vom Verwaltungsgericht und dem Kläger thematisierte Überliegefrist in § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG nicht an. Rechtskraft hinsichtlich der Ordnungswidrigkeiten vom 10. Juni 2018 ist im Übrigen im September 2018 eingetreten, Eintragung in das Register ist am 17. September 2018 bzw. am 4. Oktober 2018 erfolgt, also vor Eintritt der Tilgungsreife hinsichtlich der Tat vom 14. Februar 2016, so dass die Funktion der Überliegefrist – die Ermöglichung einer Tilgungshemmung, wenn vor dem Eintritt der Tilgungsreife eine neue Tat begangen, diese aber erst nach dem Eintritt der Tilgungsreife, aber vor dem Ablauf der Überliegefrist, rechtskräftig geahndet bzw. in das Register eingetragen worden ist – nicht zum Tragen kommt.
16Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 24. Mai 2007 - 16 B 377/07 -, juris Rn. 6 ff. (zur Vorgängerregelung); Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 29 StVG Rn. 32.
17Der Kläger legt nicht dar, dass er auf das Nicht-Einschreiten der Fahrerlaubnisbehörde vertrauen durfte. Dies könnte – ungeachtet der Frage der Anwendbarkeit dieses Rechtsinstituts im Rahmen sicherheitsrechtlicher Befugnisse – im Fall einer Verwirkung anzunehmen sein, wenn neben dem Verstreichen eines längeren Zeitraums (Zeitmoment) weitere Umstände hinzukämen, die ein schutzwürdiges Vertrauen darauf begründeten, die Behörde werde von ihrer Befugnis auch künftig keinen Gebrauch mehr machen (Umstandsmoment).
18Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 17. Januar 2020 - 11 B 19.1274 -, juris Rn. 25, sowie Beschlüsse vom 19. August 2019 - 11 ZB 19.1256 -, juris Rn. 15 und vom 7. Januar 2014 - 11 CS 13.2005 -, juris Rn. 7.
19Der Zeitraum von gut drei Monaten zwischen der Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 4. Oktober 2018 und der Verwarnung vom 8. Januar 2019 dürfte bereits bei Weitem nicht ausreichen, um das Zeitmoment zu begründen. Jedenfalls trägt der Kläger aber keinerlei Umstände vor, die ein schutzwürdiges Vertrauen begründen könnten. Insbesondere sind sie nicht in der vorgebrachten Tilgungsreife hinsichtlich der Ordnungswidrigkeit vom 14. Februar 2016 zum Zeitpunkt der Verwarnung zu sehen. Hierauf kommt es nach den obigen Ausführungen schon nicht an. Es handelt sich nicht um einen Umstand, der geeignet ist, ein schutzwürdiges Vertrauen in das Nichteinschreiten der Fahrerlaubnisbehörde zu begründen.
202. Die Berufung ist auch nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen der geltend gemachten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten zuzulassen.
21Eine Rechtssache weist besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten auf, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern. Oder anders formuliert: Die Berufung ist nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen, wenn der Ausgang des Rechtsstreits aufgrund der summarischen Prüfung im Zulassungsverfahren als offen erscheint.
22Vgl. Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 124 Rn. 106.
23Aus den Ausführungen zu 1. ergibt sich zugleich, dass sich im Rahmen der vorliegenden Rechtssache keine Fragen stellen, die sich nicht ohne weiteres im Zulassungsverfahren beurteilen lassen.
243. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist ebenfalls nicht gegeben. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung des Streitfalls im Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft. Die Darlegung dieses Zulassungsgrundes setzt die Formulierung einer bestimmten, noch nicht geklärten und für die Rechtsmittelentscheidung erheblichen Frage und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll.
25Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 ‑ 7 B 261.97 - (zu § 132 VwGO), NJW 1997, 3328, juris Rn. 2.
26Daran fehlt es hier. Die Zulassungsbegründung hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
27die Frage der Reichweite von §§ 4, 29 StVG, insbesondere unter Berücksichtigung, inwieweit tilgungsreife Eintragungen bzw. Eintragungen, die unmittelbar vor Eintritt der Tilgungsreife stehen, noch berücksichtigt werden dürfen bzw. wenn Eintragungen gelöscht worden sind und die Behörde über einen längeren erheblichen Zeitraum von fast 3 Monaten Kenntnis über die Eintragung hatte,
28und
29inwieweit ein Vertrauenstatbestand durch das Nichteinschreiten geschaffen wird und darüber hinaus durch das Kenntniserlangen der Behörde aufzuerlegen ist, im Falle dieser Kenntnis die geeigneten Maßnahmen unverzüglich zu ergreifen und nicht über einen derartig langen Zeitraum zuzuwarten, bevor dann eine Ermahnung bzw. hier Verwarnung ausgesprochen wird.
30Eine grundsätzliche Bedeutung wird damit nicht aufgezeigt.
31Die Frage nach der Berücksichtigung von tilgungsreifen oder unmittelbar vor Eintritt der Tilgungsreife stehenden Eintragung lässt sich auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen beantworten, ohne dass es hierfür der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedürfte. Hinsichtlich der mit der ersten Frage weiter angesprochenen Löschung der Eintragung ist eine Entscheidungserheblichkeit nicht dargelegt, weil keine Löschung der Eintragung der insoweit in Frage kommenden Ordnungswidrigkeit vom 14. Februar 2016 ersichtlich ist. Inwieweit die Kenntnis der Behörde im Rahmen der Berücksichtigung von Eintragungen erheblich sein soll, zeigt der Kläger nicht auf. Mit Blick auf die zweite Frage ist eine Klärungsfähigkeit in dieser Allgemeinheit nicht dargelegt. Die Annahme eines Vertrauenstatbestands setzt die Würdigung der Umstände des Einzelfalls voraus.
32Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG. Schon im erstinstanzlichen Klageverfahren waren ausschließlich die Gebührenbescheide angegriffen, die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Ermahnung und Verwarnung erfolgt lediglich inzident. Der Senat ist befugt, den erstinstanzlichen Streitwert von Amts wegen zu ändern (§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG).
33Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf die Wertstufe bis 13.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist unbegründet. Aus der Beschwerdebegründung, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht dem gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hätte stattgeben müssen.
3Mit der Beschwerde macht der Antragsteller erfolglos geltend, die ihm erteilte dienstliche Beurteilung vom 1. März 2019 sowie die übrigen Beurteilungen, die Grundlage der Entscheidung über die streitgegenständliche Stellenbesetzung seien, stellten sich als rechtsfehlerhaft dar.
4Dienstliche Beurteilungen unterliegen wegen der dem Dienstherrn zukommenden Beurteilungsermächtigung mit dem damit korrespondierenden Bewertungsspielraum nur einer eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Es ist in erster Linie Aufgabe des Dienstherrn oder des für ihn handelnden jeweiligen Vorgesetzten des Beamten, ein persönlichkeitsbezogenes Werturteil darüber abzugeben, ob und inwieweit der zu beurteilende Beamte den - ebenfalls vom Dienstherrn zu bestimmenden - zahlreichen fachlichen und persönlichen Anforderungen des konkreten Amtes und der Laufbahn entspricht. Bei einem derartigen Akt wertender Erkenntnis steht dem Dienstherrn eine der gesetzlichen Regelung immanente Beurteilungsermächtigung zu. Erlässt der Dienstherr zur Ergänzung der gesetzlichen Vorgaben verwaltungsinterne Richtlinien, so hat er nach dem allgemeinen Gleichheitssatz ihre gleichmäßige Anwendung hinsichtlich des vorgesehenen Verfahrens und der einzuhaltenden Maßstäbe auf alle Beamten sicherzustellen. Im Übrigen erfolgt die verwaltungsgerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle einer dienstlichen Beurteilung nur daraufhin, ob die Beurteiler gegen Verfahrensvorschriften verstoßen, anzuwendende Begriffe oder den rechtlichen Rahmen, in dem sie sich bewegen können, verkannt haben bzw. ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen sind, allgemein gültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt haben.
5Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 27. November 2014 ‑ 2 A 10.13 -, BVerwGE 150, 359 = juris Rn. 14.
6Dass dies hier der Fall ist, ergibt sich aus der Beschwerdebegründung nicht.
71. Das Vorbringen, anders als bei der Beurteilung aller anderen Beteiligten im Auswahlverfahren sei im Fall des Antragstellers der zuständige Abteilungsleiter Branddirektor H. nicht an der Erstellung der Beurteilung beteiligt worden, bleibt ohne jede Substanz. Die Antragsgegnerin hat hierzu ausgeführt, der Abteilungsleiter sei weder bei der Beurteilung des Antragstellers noch bei denjenigen der anderen Bewerber beteiligt worden. Dem hat der Antragsteller nichts weiter entgegen gesetzt.
82. Der Antragsteller zieht ferner nicht durchgreifend in Zweifel, dass der Erstbeurteiler Brandamtsrat L. in der Vorbereitung der ihm erteilten dienstlichen Beurteilung mit dem zuständigen Sachgebietsleiter Brandrat B. über sein Leistungsbild gesprochen hat, wie es in der undatierten erläuternden Stellungnahme des Beurteilers (Bl. 92 des Besetzungsvorgangs) ausgeführt ist. Das Vorbringen, eine solche Beteiligung habe nicht stattgefunden, ist in keiner Weise glaubhaft gemacht, insbesondere weder durch Vorlage einer Erklärung des Herrn B. noch durch eidesstattliche Versicherung des Antragstellers. Der Antragsteller behauptet - wiederum ohne jede Substantiierung - allein eine entsprechende Aussage des Abteilungsleiters H. .
93. Sofern mit der Beschwerde die Beteiligung eines direkten Konkurrenten um die ausgeschriebene Stelle (Hauptbrandmeister T. ) überhaupt beanstandet werden soll - was unklar ist -, verfehlt sie insoweit die Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO, da sie sich insoweit auf die Erwähnung dieses Umstands ohne jegliche inhaltliche Auseinandersetzung und Bewertung beschränkt.
10Im Übrigen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass Erkenntnisse über das Leistungsbild eines zu beurteilenden Beamten auch von einer sachkundigen Auskunftsperson vermittelt werden können, die demselben Statusamt wie der zu Beurteilende angehört, sofern der Beurteiler diesem potentiellen Konkurrenzverhältnis im Rahmen der eigenen Überzeugungsbildung hinreichend Rechnung trägt. Der Beurteiler muss sich bewusst sein, dass die Angaben von einem möglichen Konkurrenten stammen, und er muss sie vor diesem Hintergrund würdigen.
11BVerwG, Urteil vom 21. März 2007 - 2 C 2.06 -, juris Rn. 10; Hess. VGH, Beschluss vom 31. März 2020 ‑ 1 B 1751/19 -, juris Rn. 40; OVG NRW, Urteil vom 29. September 2005 - 1 A 4240/03 -, RiA 2006, 79 = juris Rn. 42.
12Es ist nach den substantiierten Angaben der Antragsgegnerin hierzu davon auszugehen, dass diesen Anforderungen genügt ist. Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, Herr L. habe für die Beurteilung eine Einschätzung des Herrn T. als stellvertretendem Wachabteilungsleiter eingeholt, der bereits von sich aus auf eine etwaige Konkurrenzsituation hingewiesen und im Rahmen des darauffolgenden Gesprächs darum gebeten habe, sich zum Antragsteller nicht äußern zu müssen, um diesem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Hinzu komme, dass der Antragsteller und Herr T. privat befreundet seien. Letztlich habe sich Herr T. jedoch dahin geäußert, dass er die Leistungen des Antragstellers in fachlicher Hinsicht besser beurteile als Herr L. . Der Antragsteller ist diesen Angaben nicht entgegen getreten.
134. Die Beschwerde greift auch ohne Erfolg die Feststellung des Verwaltungsgerichts an, die Bewertung des Merkmals "Fachwissen und Anwendung des Wissens" habe der Beurteiler nachvollziehbar - unter anderem - damit erläutert, dass der Antragsteller aus Furcht vor dem Nichtbestehen der Prüfung bislang keine Fortbildung im Rettungsdienst absolviert habe. Der Antragsteller sei der einzige von 156 Mitarbeitern, der bislang keine Fortbildungsprüfung bestanden habe.
14Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass die Teilnahme an Fortbildungen geeignet ist, das Fachwissen zu festigen und zu erweitern, weshalb sie bei der dienstlichen Beurteilung Berücksichtigung finden darf. Der dagegen gerichtete Vortrag des Antragstellers, er habe die Prüfung der Notfallsanitäterausbildung nicht absolvieren können, weil er selbst als Mitglied des Personalrats an der mündlichen Prüfung der Leverkusener Kollegen teilgenommen habe, ist schon nicht verständlich. Wieso der Antragsteller aus dem genannten Grund im gesamten Beurteilungszeitraum an entsprechender Fortbildung und Prüfung gehindert gewesen sein sollte, erschließt sich nicht und wird mit der Beschwerde auch nicht weiter ausgeführt. Falls der Antragsteller darauf hinaus will, er habe als Mitglied des Personalrats Teil der Prüfungskommission oder möglicherweise auch nur Prüfungsbeobachter sein müssen, ist das in jeder Hinsicht unzureichend dargelegt. Jedenfalls versteht es sich von selbst, dass ggfs. ein anderes Mitglied der Personalvertretung an die Stelle des Antragstellers treten kann und muss, wenn er selbst sich der Prüfung unterziehen will.
15In der Folge ist ebenso wenig nachvollziehbar, inwieweit ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1, 2. Hs. LPVG NRW vorliegen sollte.
16Fehl geht auch das Vorbringen, in der Sache liege in der Stellungnahme des Beurteilers eine rechtswidrige Anweisung zum Erlernen eines Zweitberufs. Dass gegenüber dem Antragsteller eine Weisung im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG ergangen wäre, sich einer Fortbildung zu unterziehen, legt die Beschwerde schon nicht dar und trifft nach der Darstellung der Antragsgegnerin auch nicht zu; die Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. Januar 2020 - 2 B 311/19 - ist daher für den Streitfall ohne erkennbare Relevanz. Überdies bestimmt, wie der Antragsteller selbst einräumt, § 23 BHKG NRW, dass Feuerwehren und mit ihnen die Feuerwehrbeamten am Rettungsdienst mitwirken. Dem entspricht es, dass gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung über die Ausbildung und Prüfung für die Laufbahn des mittleren feuerwehrtechnischen Dienstes im Land Nordrhein-Westfalen (VAPmD-Feu) der Vorbereitungsdienst eine rettungsdienstliche Ausbildung umfasst, die sich nach Absatz 3 auf die Ausbildung zum Rettungssanitäter nach den Bestimmungen der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter sowie Rettungshelferinnen und Rettungshelfer erstreckt und mit der Rettungssanitäterprüfung abschließt. Es ist vor diesem Hintergrund offensichtlich rechtsfehlerfrei, wenn in einer dienstlichen Beurteilung berücksichtigt wird, dass ein Feuerwehrbeamter sich im Bereich des Rettungsdienstes - anders als alle anderen Beamten - nicht fortgebildet hat und dazu auch nicht bereit ist.
175. Der Antragsteller weist in diesem Zusammenhang ferner vergeblich darauf hin, er habe in den letzten neun Jahren durchgängig so gute Beurteilungen gehabt, dass er zu Beginn einer neuen Beurteilungsrunde immer an erster Stelle gestanden habe. Dass mit der der Auswahlentscheidung zugrunde gelegten Beurteilung eine "Herabstufung" erfolgt ist, ist mit der Beschwerde schon in keiner Weise dargelegt. Es besteht im Übrigen nicht bereits dann ein Plausibilisierungserfordernis, wenn die Bewertungen in einer dienstlichen Beurteilung (geringfügig) ungünstiger ausfallen, als das in vorangegangenen Beurteilungen der Fall war.
186. Worauf die Beschwerde mit dem Vortrag hinaus will, die Antragsgegnerin habe den beruflichen Werdegang des Antragstellers nicht berücksichtigt, ist nicht erkennbar. Sie verfehlt auch insoweit die Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO.
197. Gleiches gilt in Bezug auf das Vorbringen, der Beurteiler habe Ausführungen des Antragstellers zur Differenzierung zwischen Rettungsdienst und Feuerwehr ausschließlich als "abschätzig" und "unverschämt" erfasst und negativ in die Beurteilung einfließen lassen. Da jede nähere Erläuterung ausbleibt, ist nicht nachzuvollziehen, inwieweit hier ein Rechtsfehler der dienstlichen Beurteilung des Antragstellers liegen könnte.
208. Es führt ferner nicht zur Rechtswidrigkeit der der Auswahlentscheidung zugrunde gelegten dienstlichen Beurteilungen, dass - so die Beschwerde - eine Angleichung der dienstlichen Beurteilungen des Antragstellers, des Beigeladenen und weiterer Beamter durch den Beurteiler L. erfolgt ist. Die Antragsgegnerin hat hierzu ausgeführt, nachdem Herr L. festgestellt habe, dass die Ergebnisse der Beurteilungsentwürfe in den Wachabteilungen sehr unterschiedlich ausgefallen seien, habe er das Gespräche mit allen Wachabteilungsleitern gesucht. Im Rahmen dieser Gespräche sei deutlich geworden, dass die Wachabteilungsleiter die Beurteilungsrichtlinien unterschiedlich interpretiert und sich unterschiedlich mit dem Beurteilungswesen und den einzelnen Mitarbeitern auseinandergesetzt hätten. Ein Teil der Wachabteilungsleiter tendiere dazu, nach Gefühl gute Beurteilungen zu vergeben, andere beurteilten eher strenger. Die Feststellungen beruhten auch auf eigenen Beobachtungen des Herrn L. . Er versehe regelmäßig Dienst auf allen Wachabteilungen, so dass er die Mitarbeiter sowohl während des Einsatzes als auch während des Arbeitsdienstes erlebe.
21Mit diesen Darlegungen, denen der Antragsteller nichts weiter entgegengesetzt hat, ist deutlich gemacht, dass Herr L. nicht etwa - wie die Beschwerde meint - eine "künstliche" oder willkürliche Anhebung bzw. Abwertung von Beurteilungen vorgenommen hat. Sein Vorgehen wird den Erfordernissen der Bestenauslese vielmehr gerecht. Herr L. hat - wie es geboten ist - die Beurteilungsentwürfe der Wachabteilungsleiter bewertet, indem er durch Gespräche mit den Entwurfsverfassern und nach Abgleich der Entwürfe mit den eigenen Erkenntnissen über das jeweilige Leistungsbild die jeweils angelegten Beurteilungsmaßstäbe ermittelt hat. Auf der geschilderten Grundlage hat er sodann eine eigene Bewertung vorgenommen. Das hält der Rechtskontrolle ohne Weiteres stand.
229. Mit der Beschwerde ist auch nicht dargelegt, dass der Beurteiler den Entwurf einer E-Mail des Antragstellers als auch sein Verhalten bei einem konkreten Einsatz zu Unrecht berücksichtigt hat. Ihr ist nichts dazu zu entnehmen, aufgrund welcher Zusammenhänge es unzulässig sein soll, dass der Beurteiler den immerhin auf dem Dienstrechner am NEF-Standort Klinikum gespeicherten, wenn auch - wie der Beurteiler erkannt hat - nicht abgesandten Entwurf einer E-Mail berücksichtigt hat, in dem der Antragsteller nach Darstellung des Herrn L. geschildert hat, sich der Aufgabe im Rettungsdienst nicht mehr gewachsen zu fühlen, und darum gebeten hat, ihn davon zu entbinden. Der Berücksichtigung seines Verhaltens bei einem Einsatz, bei dem der Beurteiler ihn persönlich erlebt und als aufgrund der psychischen Belastung handlungsunfähig empfunden hat, setzt der Antragsteller lediglich vermutungsweise entgegen, er könne bei dem Einsatz einen Dienstunfall erlitten haben. Der Vortrag bleibt wiederum ohne jegliche Substanz und Konkretisierung.
2310. Schließlich lässt die abschließende Äußerung des Herrn L. in seiner undatierten Stellungnahme, der Antragsteller lüge, wenn er bestreite, dass mit ihm über seine Leistungen Gespräche geführt worden seien, nicht darauf schließen, dass er voreingenommen ist.
24Allerdings ist eine dienstliche Beurteilung rechtswidrig, wenn der Dienstherr gegen seine Pflicht verstoßen hat, den Beamten gerecht, unvoreingenommen und möglichst objektiv zu beurteilen. Voreingenommenheit liegt vor, wenn der Beurteiler nicht willens oder nicht in der Lage ist, den Beurteilten sachlich und gerecht zu beurteilen. Dies kann sich aus der Beurteilung selbst, aber auch aus dem sonstigen Verhalten des Beurteilers in Angelegenheiten des zu Beurteilenden im Beurteilungszeitraum oder im Beurteilungsverfahren ergeben.
25Vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. November 2017
26- 2 B 19.17 -, Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 84 = juris Rn. 10 f.; OVG NRW, Urteil vom 7. Juli 2015
27- 6 A 360/14 -, ZBR 2016, 57 = juris Rn. 104.
28Dafür genügt die zitierte Äußerung indes nicht. Ein Beurteiler ist berechtigt, eine derartige klare Aussage zu treffen, wenn er der Auffassung ist, dass der Betreffende bewusst unwahre Angaben macht. Herr L. hat hierzu erläuternd angegeben, es seien im Gegenteil vielfach mit dem Antragsteller Gespräche über seine Leistungen geführt worden in der Hoffnung, eine Änderung zu erzielen, und zwar durch Herrn B. , Herrn G. , Frau Dr. L1. , Herrn X. , Herrn T. und ihn selbst. Auch dies hat der Antragsteller im Weiteren nicht in Abrede gestellt; er hat lediglich mit E-Mail vom 13. Januar 2020 die - abwegige - Auffassung vertreten, die Behauptung, dass solche Gespräche stattgefunden hätten, reiche nur aus, wenn darüber Protokolle als Nachweis vorlägen.
2911. Dafür, dass - wie die Beschwerde behauptet - die Beurteilungsmaßstäbe nicht einheitlich angewandt worden sind, ist über die - oben unter 8. angesprochene - Angleichung der Beurteilungen durch den Erstbeurteiler hinaus lediglich angeführt, dass Beurteilerbesprechungen nicht stattgefunden hätten. Das genügt nicht. Allein der Umstand, dass vor der Erstellung dieser dienstlichen Beurteilungen keine Besprechungen der Beurteiler stattgefunden haben, in denen sich auf einheitlich zu verwendende Beurteilungsmaßstäbe verständigt wurde, führt nicht auf die Annahme uneinheitlicher Beurteilungsmaßstäbe.
30OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 2. September 2015 - 2 B 10765/15 -, Schütz BeamtR ES/D I 2 Nr. 12 = juris Rn. 43 m. w. N.
31Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 4 i. V. m. Satz 1 Nr. 1, Sätze 2 und 3 GKG.
32Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Die Ziffern 1. und 2. des angefochtenen Beschlusses werden geändert.
Die aufschiebende Wirkung der am 28. April 2020 erhobenen Beschwerde des Antragstellers gegen den Entlassungsbescheid der Antragsgegnerin vom 2. April 2020 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 7.035,76 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Die gegen den angefochtenen Beschluss fristgerecht vorgebrachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat bei der hier veranlassten Überprüfung beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 i. V. m. Satz 1 und 3 VwGO), stellen die tragenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung durchgreifend in Frage. Da sich der erstinstanzliche Beschluss auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist, ist das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung (Ziffern 1. und 2.) zu korrigieren und in der Sache dem mit der Beschwerde weiterverfolgten Antrag des Antragstellers stattzugeben,
3die aufschiebende Wirkung seiner am 28. April 2020 erhobenen Beschwerde gegen den Entlassungsbescheid der Antragsgegnerin vom 2. April 2020 anzuordnen.
4Das Verwaltungsgericht hat diesen Eilantrag im Kern mit der folgenden Begründung abgelehnt: Der zulässige Aussetzungsantrag sei unbegründet. Das Vollziehungsinteresse überwiege das Suspensivinteresse des Antragstellers. Es spreche bei summarischer Prüfung vieles dafür, dass die auf § 55 Abs. 4 Satz 2 SG gestützte Entlassungsverfügung rechtmäßig sei. Zunächst sei sie nicht in formeller Hinsicht fehlerhaft. Insbesondere sei der Antragsteller nach § 55 Abs. 6 Satz 1 SG i. V. m. § 47 Abs. 2 SG ordnungsgemäß angehört worden. Die Pflicht zur Anhörung beziehe sich auf die Tatsachen, die für die behördliche Entscheidung erheblich seien. Das seien hier die Geschehnisse am 24. August 2019 nebst ihren Hintergründen. Hierzu habe der Antragsteller bei seinen beiden Vernehmungen sowie bei seiner Anhörung am 12. September 2019 Stellung nehmen können. Dem stehe nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin ihm bei dieser Anhörung ihre Absicht mitgeteilt habe, ihn nach § 55 Abs. 5 SG zu entlassen. Die geplante Maßnahme müsse nämlich nur in den wesentlichen Zügen dargestellt werden; das sei hier mit deren Bezeichnung als Entlassung geschehen. Zudem habe der Antragsteller erkennen können, dass es auf seine charakterliche Eignung ankommen könne, weil ihm bei der Anhörung auch der Entlassungsantrag seines Kompaniechefs ausgehändigt worden sei, der sich maßgeblich auf eine fehlende charakterliche Eignung stütze. Unabhängig davon begründe ein– nur unterstellter – Anhörungsmangel keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache, weil bei der noch ausstehenden Entscheidung über die Beschwerde eine Nachholung i. S. v. § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG zu erwarten sei. Auch in materieller Hinsicht sei die Entlassungsverfügung voraussichtlich fehlerfrei. Die getroffene Prognoseentscheidung, der Antragsteller werde sich in charakterlicher Hinsicht nicht zum Feldwebel eignen, lasse keine der gerichtlichen Überprüfung unterliegende Mängel erkennen. Die Antragsgegnerin habe den Begriff der (charakterlichen) Eignung nicht verkannt. Im Ausgangspunkt sei es nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin von einem angehenden Feldwebel erwarte, dass sich dieser auch außerhalb des Dienstes im Umgang mit Waffen rechtskonform verhalte. Ein Verhalten begründe nicht erst dann Zweifel an der charakterlichen Eignung eines Soldaten, wenn dem Soldaten eine schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten nachgewiesen werden könne. Hier spreche aber sogar vieles dafür, dass der Antragsteller mit seiner außerdienstlich begangenen Straftat gegen die allgemeine Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG verstoßen habe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts könne die außerdienstliche Begehung von Straftaten einen solchen Verstoß begründen, wenn das Verhalten mindestens mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht sei. Ein solcher Fall liege hier vor, da § 52 Abs. 3 Nr. 2 lit. a) WaffG eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorsehe. Ein Beurteilungsfehler liege auch nicht mit Blick auf das Vorbringen des Antragstellers vor, sein Fehlverhalten weise einen nur geringen Unrechtsgehalt auf, er sei gut beurteilt und sonst nicht negativ in Erscheinung getreten und er stehe noch am Beginn seiner Dienstzeit. Es sei nämlich nicht dargelegt oder sonst ersichtlich, dass die Behörde diese Aspekte, die die Annahme eines Eignungsmangels charakterlicher Art (im Übrigen) nicht durchgreifend in Zweifel ziehen könnten, unberücksichtigt gelassen habe. Die Behörde sei auch nicht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen. Die Angabe im Entlassungsbescheid zur Zahl der mitgeführten Patronen (12), die dem Inhalt der Strafakte widerspreche (8 Patronen), sei nicht (mit)tragend gewesen. Auch sonst seien Beurteilungsfehler nicht ersichtlich. Die Maßstäbe des § 55 Abs. 5 GG seien ebensowenig zu beachten gewesen wie die zur Ahndung von Dienstvergehen nach der WDO aufgestellten Maßstäbe. Ferner sei es nicht beurteilungsfehlerhaft, dass die Antragsgegnerin die charakterliche Eignung des Antragstellers mit Blick auf die angestrebte Position eines Feldwebels schon an den insoweit zu stellenden Anforderungen gemessen habe. Der Feldwebel sei bereits aufgrund seiner Stellung Vorgesetzter (§ 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 SG i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VorgV), solle als solcher in seiner Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel geben (§ 10 Abs. 1 SG) und habe nach § 10 Abs. 2 SG zudem die Pflicht zur Dienstaufsicht. Vor diesem Hintergrund sei es nicht sachfremd, an das Verantwortungsbewusstsein und an die Rechtstreue eines (späteren) Feldwebels höhere Anforderungen als bei einem Soldaten auf Zeit in der Laufbahn der Mannschaften zu stellen und eine hinreichende Auseinandersetzung mit Vorschriften zum Umgang mit Waffen zu verlangen. Eine beurteilungsfehlerhafte Erwägung liege auch nicht darin, dass dem Antragsteller in der Entlassungsverfügung eine Gefährdung anderer Personen vorgehalten werde, da ausweislich der Wertungen des Waffenrechts eine abstrakte Gefährdung vorgelegen habe. Die Entlassungsverfügung stelle in ihrer Begründung auch nicht, wie der Antragsteller meine, auf den (erlaubnisfreien) Besitz der Waffe, sondern auf deren Führen ab. Es spreche ferner vieles dafür, dass der angefochtene Bescheid frei von Ermessensfehlern sei. Das gelte zunächst für die Entscheidung nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG, den Antragsteller zu entlassen, die nach dem Wortlaut der Norm ("soll") bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen zu erfolgen habe, wenn keine atypische Sachlage gegeben sei (intendiertes Ermessen). Die im Bescheid verwendete Formulierung "Aufgrund des mir kraft Gesetzes eingeräumten Ermessens" belege, dass die Antragsgegnerin ihr Ermessen erkannt und das Vorliegen eines atypischen Falles verneint habe. Auch habe sie den Sachverhalt in einer Weise dargestellt, dass festgestellt werden könne, ob ein Regelfall vorliege. Die Antragsgegnerin habe auch das Vorliegen eines Ausnahmefalls fehlerfrei verneint. Anhaltspunkte, die dieser Bewertung entgegenstünden, seien weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Das gelte insbesondere für das Argument des Antragstellers, er stehe noch am Beginn seiner Dienstzeit. Ein solcher Umstand sei kein atypischer Sachverhalt, weil § 55 Abs. 4 Satz 2 SG typischerweise Personen am Anfang ihrer Dienstzeit betreffe. Beanstandungsfrei sei schließlich die Entscheidung der Antragsgegnerin nach § 55 Abs. 4 Satz 3 SG, den Antragsteller nicht in eine andere Laufbahn zurückzuführen, weil der Antragsteller nicht, wie es die Norm verlange, zuvor in einer anderen Laufbahn als der der Unteroffiziere verwendet worden sei.
5Hiergegen wendet der Antragsteller im Wesentlichen ein: Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts sei er nicht ordnungsgemäß angehört worden. Das folge schon daraus, dass er lediglich zu einer Entlassung wegen einer schuldhaften Dienstpflichtverletzung gemäß § 55 Abs. 5 SG angehört worden sei, nicht aber zu der verfügten, auf eine mangelnde Eignung gestützten und damit an andere Voraussetzungen und Tatsachen geknüpften Entlassung nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG. Wäre ihm dies aufgezeigt worden, so hätte er beispielsweise darauf hingewiesen, dass ihm im Lehrgangszeugnis vom 16. Dezember 2019 und damit nach dem Vorfall bescheinigt worden sei, dass er sich als Feldwebel bewähren werde. Der Anhörungsmangel sei, da bislang kein Beschwerdebescheid vorliege, auch noch nicht geheilt worden. Das Verwaltungsgericht habe insoweit nicht auf einen erst zukünftig möglichen Umstand abstellen dürfen. Ferner habe das Verwaltungsgericht fehlerhaft angenommen, er habe ein Dienstvergehen begangen, nämlich gegen § 17 Abs. 2 Satz 3 SG verstoßen. Die Annahme, die außerdienstliche Begehung von Straftaten könne einen Verstoß gegen diese Norm begründen, wenn das Verhalten mindestens mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht sei, habe es fehlerhaft auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2014 – 2 WD 5.13 – gestützt. Bei zutreffender Betrachtung handele es sich nämlich bei der hier in Rede stehenden Strafandrohung bis zu zwei Jahren noch um eine solche im unteren Bereich, die (bei einer außerdienstlich begangenen Straftat) gerade nicht schon für sich genommen die Annahme einer ernsthaften Beeinträchtigung der Achtung und des Vertrauens, die die dienstliche Stellung des Soldaten erfordere, erlaube, zumal die Tat auch nur mit einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen geahndet worden sei. Vor allem aber sei die Entlassung rechtswidrig, weil die Antragsgegnerin das ihr nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG eingeräumte intendierte Ermessen nicht erkannt und nicht ausgeübt habe. Das Verwaltungsgericht habe mit seiner Annahme, die Antragsgegnerin habe in der Verfügung zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht von einem atypischen Fall ausgehe, in den Bescheid etwas hineingelesen, was dort tatsächlich nicht einmal "zwischen den Zeilen" stehe. Die allein verwendete pauschale Formulierung "auf Grund des mir kraft Gesetzes eingeräumten Ermessens" reiche insoweit nicht aus. Es fehle eine Sachverhaltsdarstellung, die die Prüfung, ob ein atypischer Fall vorliege, erlaube, und es gebe auch keine Ausführungen zum Vorliegen eines Regelfalles. Insoweit schlage der Anhörungsmangel durch. Unberücksichtigt geblieben sei insbesondere das Lehrgangszeugnis vom 16. Dezember 2019.
6Unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens erweist sich der angefochtene Entlassungsbescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, weshalb das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers das nach §§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Var. 1 VwGO, 23 Abs. 6 Satz 2 WBO grundsätzlich als vorrangig bewertete öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung überwiegt und dem– zulässigen – Antrag stattzugeben ist.
71. Die Rüge des Antragstellers, das Verwaltungsgericht hätte einen (nicht geheilten) Anhörungsmangel annehmen und damit bereits von der formellen Rechtswidrigkeit der Entlassungsverfügung ausgehen müssen, dürfte allerdings nicht durchgreifen. Die Pflicht aus § 55 Abs. 6 Satz 1 SG i. V. m. § 47 Abs. 2 SG, den Soldat vor der Entscheidung über seine Entlassung anzuhören, verlangt, dass dem Soldaten Gelegenheit gegeben wird, sich zu der beabsichtigten Entlassung und ihren Gründen mündlich oder schriftlich zu äußern. Um ihm dies zu ermöglichen, ist er umfassend über die für die beabsichtigte Entscheidung erheblichen Tatsachen zu informieren (vgl. insoweit auch die allgemeine Regelung in der – jüngeren – Vorschrift des § 28 Abs. 1 VwVfG). Das schließt es ein, dass der Dienstherr dem Soldaten auch die wesentlichen rechtlichen Grundlagen für die zu treffende Entscheidung mitteilt, weil dieser nur dann in die Lage versetzt wird, die womöglich von der Behörde noch nicht berücksichtigten oder ermittelten Tatsachen im Rahmen der Anhörung vorzutragen.
8Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Februar 2006– 1 B 1659/05 –, juris, Rn. 7 f., Lucks, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 47 Rn. 3 (Information über die maßgeblichen Gründe und entscheidungserheblichen Tatsachen), und – jeweils zu § 28 Abs. 1 VwVfG – Herrmann, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, 48. Edition, Stand: 1. Juli 2020, § 28 Rn. 16.1, Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn. 41, und Huck, in: Huck/Müller, VwVfG, 3. Aufl. 2020, § 28 Rn. 14 f., der zu Recht darauf hinweist, dass die rechtliche Schlussfolgerung der Behörde von der Tatsachenbasis nicht zu trennen ist.
9Zwar hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller ausweislich der Eröffnungs- und Anhörungsniederschrift vom 12. September 2019, des Anhörungs- und Eröffnungsvermerks vom gleichen Tage und des ihm ausgehändigten Entwurfs des Entlassungsantrages vom 11. September 2019 als beabsichtigte Maßnahme eine Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG genannt, die (bei einem weiter gefassten Ermessen) ersichtlich an andere tatbestandliche Voraussetzungen geknüpft ist als die nachfolgend verfügte Entlassung nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG. Sie hat hierbei aber – einheitlich durch den Kompaniechef handelnd – der Sache nach eine Anhörung zu einer Entlassung nach § 55 Abs. 4 SG durchgeführt, die den Antragsteller in die Lage versetzt hat, entsprechend vorzutragen. Sie hat nämlich die beabsichtigte Maßnahme einer (fristlosen) Entlassung in rechtlicher Hinsicht auf eine aus dem Vorfall vom 24. August 2019 abgeleitete mangelnde charakterliche Eignung des Antragstellers zum Feldwebel gestützt.
10Liegt schon kein Anhörungsmangel vor, so ist das Beschwerdevorbringen, dass bislang keine Heilung nach § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG
11– zur Anwendbarkeit dieser Regelungen in soldatenrechtlichen Entlassungsverfahren vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Februar 2006 – 1 B 1659/05 –, juris, Rn. 8 ff. –
12erfolgt sei, unerheblich. Allerdings hat das Verwaltungsgericht, wie nur ergänzend ausgeführt werden soll, mit seiner entsprechenden Hilfserwägung zu Unrecht angenommen, dass der (nur unterstellte) Anhörungsmangel keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache begründe, weil "zu erwarten" sei, dass eine fehlende Anhörung bei der noch ausstehenden Beschwerdeentscheidung nachgeholt werde. Richtig ist zwar, dass eine Nachholung in einem Beschwerdeverfahren erst mit der Würdigung des Beschwerdevortrags im Beschwerdebescheid vorliegen kann.
13Vgl. allgemein etwa Schemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, 48. Edition, Stand: 1. Juli 2020, § 45 Rn. 42.
14Der Antragsteller weist aber zutreffend darauf hin, dass insoweit nicht auf ein zeitlich nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegendes und daher notwendig hypothetisches Geschehen abgestellt werden kann.
152. Auch die Rüge des Antragstellers, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, vieles spreche dafür, dass er gegen die allgemeine Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG verstoßen habe, hat keinen Erfolg. Zu dem Prüfungspunkt, ob die Antragsgegnerin den Begriff der (charakterlichen) Eignung verkannt hat, ist in dem angefochtenen Beschluss nämlich ausdrücklich ausgeführt (BA S. 14, vorletzter Absatz und nachfolgendes Zitat), dass ein Verhalten nicht erst dann Zweifel an der charakterlichen Eignung des Soldaten begründe, wenn diesem eine schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten nachgewiesen werden könne. Vor diesem Hintergrund und auch mit Blick auf die sie einleitende Formulierung, es spreche "aber sogar" vieles dafür, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs. 2 Satz 3 SG vorliege, erweisen sich die nachfolgenden Ausführungen zum voraussichtlichen Vorliegen einer Dienstpflichtverletzung als nicht entscheidungstragende Begründungselemente. Unabhängig davon trifft die Annahme des Antragstellers insoweit auch der Sache nach nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat dem von ihm zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
16– BVerwG, Urteil vom 20. März 2014 – 2 WD 5.13 –, juris, Rn. 57 ff. –
17zutreffend die Aussage entnommen, dass außerdienstliche Straftaten, die auch keinen dienstlichen Bezug aufweisen, regelmäßig nur dann gegen § 17 Abs. 2 Satz 3 SG verstoßen und disziplinare Relevanz haben, wenn sie mit einem mittleren Strafmaß bedroht sind, wobei hierunter eine angedrohte Freiheitsstrafe von mindestens bis zu zwei Jahren zu verstehen sei.
18Zu dieser Entscheidung vgl. auch Poretschkin, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 17 Rn. 27aa, und Eichen, in: Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, § 17 Rn. 49.
19Danach ist nicht zweifelhaft, dass die Straftat, wegen deren Begehung der Strafbefehl des Amtsgerichts S. (Jugendrichter) vom 8. Januar 2020 – 20 Cs 5/20 jug – ergangen ist, mit einem mittleren Strafmaß in diesem Sinne bedroht ist. Das folgt aus der nach dem Strafbefehl angewendeten Vorschrift des § 52 Abs. 3 Nr. 2 lit. a) WaffG, die eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorsieht.
203. Die Entlassungsverfügung ist aber, wie mit der Beschwerdebegründung hinreichend dargelegt ist, offensichtlich ermessensfehlerhaft (dazu nachfolgend a)) und leidet, wie ergänzend ausgeführt werden soll, aus den im Kern schon mit der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen auch schon (offensichtlich) an einem Beurteilungsfehler (dazu nachfolgend b)).
21a) Die in Rede stehende Ermessensentscheidung ist unzureichend begründet (formelles Erfordernis) und auch der Sache nach ermessensfehlerhaft (inhaltlicher Mangel). Nach der Regelung des § 55 Abs. 4 Satz 2 SG, die hier nach zutreffender, mit der Beschwerde nicht angegriffener Einschätzung hinsichtlich der von ihr angeordneten Rechtsfolge nicht durch § 55 Abs. 4 Satz 3 SG überlagert wird, soll u. a. ein Feldwebelanwärter, der sich nicht zum Feldwebel eignen wird, unbeschadet des Satzes 1 – d. h. ohne Bindung an die Vierjahresfrist des § 55 Abs. 4 Satz 1 SG – entlassen werden.
22aa) Die Formulierung "soll" bedeutet dabei, dass eine Entlassung bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen regelmäßig zu erfolgen hat, Ausnahmen hiervon aber bei Vorliegen einer atypischen Sachlage möglich sind.
23Zu § 55 Abs. 4 Satz 2 SG vgl. OVG Rh-Pf., Urteil vom 15. April 2011 – 10 A 11233/10 –, juris, Rn. 36, und Nds. OVG, Beschluss vom 7. März 2013– 5 LA 239/12 –, juris, Rn. 7; ebenso Vogelgesang, in: Fürst, Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht, Bd. I (Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Richterrecht und Wehrrecht) Teil 5, Stand: Oktober 2020, SG § 55 Rn. 15 und 19; allgemein zu diesem Verständnis von Soll-Vorschriften vgl. etwa Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 Rn. 26, 27; zu einer Regelung des BImSchG vgl. ferner BVerwG, Beschluss vom 3. März 2016 – 7 B 44.15 –, juris, Rn. 15.
24Abweichendes ergibt sich nicht aus der von der Antragsgegnerin erstinstanzlich angeführten Erwägung, die Sollvorschrift beziehe sich nur auf § 55 Abs. 4 Satz 3 SG und die Zurückführung in die (vorhandene) frühere Laufbahn. Der Wortlaut des § 55 Abs. 4 Satz 2 SG enthält nämlich keinen Anhaltspunkt für die Annahme, die Rechtsfolgenanordnung sei abweichend von dem üblichen Verständnis von Soll-Anordnungen (Muss-Anordnung im Regelfall und Möglichkeit, hiervon bei Vorliegen atypischer Umstände abzuweichen) zu verstehen.
25Vgl. Vogelgesang, in: Fürst, Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht, Bd. I (Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Richterrecht und Wehrrecht) Teil 5, Stand: Oktober 2020, SG § 55 Rn. 19.
26Hätte der Gesetzgeber eine Regelung schaffen wollen, die dem Gesetzesverständnis der Antragsgegnerin entspricht, hätte er für die Fälle des § 55 Abs. 4 Satz 2 eine zwingende Entlassung ("ist zu entlassen") anordnen und hiervon eine Ausnahme nur zulassen können, wenn eine Rückführung i. S. v. § 55 Abs. 4 Satz 3 SG erfolgen soll; eine solche Regelung hat er aber gerade nicht getroffen. Unter systematischen Gesichtspunkten kann insoweit, wie bereit das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, zusätzlich auf die Regelung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SG verwiesen werden, die eine Ist-Entlassung mit der Möglichkeit der Zulassung einer Ausnahme wegen besonderer Härte normiert.
27bb) Die Anforderungen an die Begründung eines (Ermessens-)Verwaltungsakts bestimmen sich nach der vorliegend anwendbaren, die formelle Rechtmäßigkeit betreffenden Regelung des § 39 Abs. 1 VwVfG. Verlangt eine Ermessensregelung– wie hier die Sollregelung des § 55 Abs. 4 Satz 2 SG – für den Regelfall eine bestimmte Entscheidung und lässt sie Ausnahmen hiervon nur bei einer atypischen Sachlage zu, kommt es für den Inhalt der Anforderungen nach § 39 Abs. 1 VwVfG darauf an, ob ein vom Regelfall abweichender Sachverhalt vorliegt oder nicht.
28Liegt ein atypischer Sachverhalt und damit ein Ausnahmefall vor, so sind in der Begründung die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben (§ 39 Abs. 1 Satz 2 VwVfG) und soll die Begründung der Ermessensentscheidung zudem auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (§ 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG).
29Ist hingegen ein Regelfall im Sinne der Vorschrift gegeben, so bedarf es abweichend von der Sollvorschrift des § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG keiner Darlegung und Gewichtung von Ermessensgesichtspunkten, weil sich das Ergebnis der Abwägung von selbst versteht und es keiner das Selbstverständliche darstellenden Begründung bedarf.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juni 1997 – 3 C22.96 –, juris, Rn. 14, m. w. N., und Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 39 Rn. 70.
31Allerdings entbindet dies die Behörde nicht davon, entsprechend der Anordnung des § 39 Abs. 1 Satz 2 VwVfG den Sachverhalt so darzustellen, dass festgestellt werden kann, ob ein Regelfall, bei dem die Ermessensausübung vorgegeben ist, überhaupt vorliegt,
32vgl. Schl.-H. VG, Urteil vom 21. Juli 2016– 12 A 283/15 –, juris, Rn. 35, und Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 39 Rn. 70, m. w. N.
33bzw. wenigstens auf das Gesetz, die in diesem für den Regelfall vorgesehene Entscheidung und darauf zu verweisen, dass besondere Umstände, die eine andere Beurteilung oder Entscheidung rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich sind.
34Vgl. Schl.-H. VG, Urteil vom 21. Juli 2016– 12 A 283/15 –, juris, Rn. 35, und Müller, in: Huck/Müller, VwVfG, 3. Aufl. 2020, § 39 Rn. 6.
35Sind der Behörde außergewöhnliche Umstände des Falles bekannt geworden oder erkennbar, die eine andere Entscheidung als die für den Regelfall vorgesehene möglich erscheinen lassen, liegt ein rechtsfehlerhafter Gebrauch des Ermessens vor, wenn diese Umstände von der Behörde nicht erwogen worden sind.
36Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juni 1997 – 3 C22.96 –, juris, Rn. 14 m. w. N.
37cc) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist die Entlassungsverfügung, wie mit der Beschwerde geltend gemacht, unzureichend begründet und ermessensfehlerhaft. In der Verfügung vom 2. April 2020 ist zur Begründung der Ermessensentscheidung allein ausgeführt: "Auf Grund des mir kraft Gesetzes eingeräumten Ermessens und unter Berücksichtigung Ihrer persönlichen Verhältnisse entlasse ich Sie somit gemäß § 55 Abs. 4 Satz 2 SG aus der Bundeswehr". Das lässt trotz aller Floskelhaftigkeit zwar noch hinreichend klar hervortreten, dass die Antragsgegnerin erkannt hat, dass das Gesetz ihr bei der getroffenen Entscheidung Ermessen einräumt, solches also grundsätzlich auszuüben ist. Den Ausführungen ist aber nicht einmal ansatzweise zu entnehmen, dass die Antragsgegnerin das Vorliegen besonderer Umstände, die eine andere Beurteilung oder Entscheidung rechtfertigen könnten, erwogen und verneint hat. Auch die in der Verfügung erfolgte Darstellung des Sachverhalts lässt insoweit nichts erkennen, weil sie sich auf den Verfahrensablauf und dabei nahezu ausschließlich auf die in Rede stehende Straftat beschränkt. Defizitär ist die Ermessensausübung hier deshalb, weil bereits bei der Entlassungsentscheidung atypische Umstände vorlagen, die eine andere Entscheidung als die für den Regelfall vorgesehene (mindestens) möglich erscheinen lassen, nämlich dass die Antragsgegnerin dem Antragsteller in der Anlage zum Lehrgangszeugnis des Feldwebellehrgangs AMT (30. September 2019 bis 17. Dezember 2019) unter dem 16. Dezember 2019 und damit etwa vier Monate nach dem Vorfall vom 24. August 2019 prognostisch die Eignung zum Feldwebel attestiert und sich dabei auch positiv zu seiner charakterlichen Eignung geäußert hat. Major und Inspektionschef C. führt in dem Schriftstück u. a. aus, dass die charakterliche Einstellung und die Leistungen des Antragstellers stimmten und dass dieser sich "als Feldwebel bewähren" werde, wenn er seinen Weg weiterhin so gehe (wie während des Lehrgangs). Insbesondere hat Major C. ausdrücklich festgehalten, dass der Antragsteller in seiner Funktion als Munitionswart des Hörsaals durchweg überzeugt habe, was ein ersichtlich geändertes Verantwortungsbewusstsein in Bezug auf Waffen belegt. Ergänzend tritt hinzu, dass die Straftat noch nach Jugendstrafrecht und lediglich mit einer geringen Geldstrafe von 20 Tagessätzen geahndet worden ist
38– vgl. insoweit auch Sohm, in: Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, § 37 Rn. 33, der eine charakterliche Eignung i. S. v. § 37 Abs. 1 Nr. 3 SG regelmäßig bei nicht allzu lange vor dem Berufungszeitpunkt liegenden Straftaten von einigem Gewicht verneinen will, und solche Straftaten erst dann annimmt, wenn eine Verurteilung zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten erfolgt ist –
39und dass der Antragsteller bei ihrer Begehung am 24. August 2019 erst ganz am Anfang der von § 55 Abs. 4 Satz 2 SG erfassten Anwärterzeit stand. Diese konnte erst mit der Ernennung zum Feldwebel enden,
40vgl. Lucks, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 55 Rn. 10, und Sohm, in: Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, § 55 Rn. 34,
41die hier frühestens nach 36monatiger Anwärterzeit (1. Januar 2022) möglich war (§ 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SLV).
42b) Mit Blick auf ein etwaiges weiteres Vorgehen der Antragsgegnerin weist der Senat ergänzend darauf hin, dass die Entlassungsverfügung auch schon (offensichtlich) beurteilungsfehlerhaft ist.
43Nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG soll ein Feldwebelanwärter, der sich nicht zum Feldwebel eignen wird, unbeschadet des Satzes 1 entlassen werden. Mit dem von der Vorschrift nicht weiter erläuterten unbestimmten Rechtsbegriff der Eignung nimmt diese (u. a.) auf die Eignung (im engeren Sinne) nach Art. 33 Abs. 2 GG Bezug,
44hierzu vgl. etwa Hense, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 44. Edition, Stand: 15. August 2020, GG Art. 33 Rn. 14 f.,
45wie sie auch etwa in der – unmittelbar nur die Berufung in das Dienstverhältnis eines Berufssoldaten oder eines Soldaten auf Zeit betreffenden – Regelung des § 37 Abs. 1 Nr. 3 SG umschrieben ist. Erfasst sind danach (jedenfalls) die charakterliche, geistige und körperliche Eignung. Die charakterliche Eignung umfasst alle wesentlichen Eigenschaften des Menschen, die unter dem Begriff Persönlichkeit zusammengefasst werden können, d. h. – da das Gesetz die geistige Eignung gesondert aufführt – insbesondere die Persönlichkeitsmerkmale, die auf verantwortliches Handeln, auf die Fähigkeit zur Menschenführung und auf positives Gemeinschaftsverhalten bezogen sind.
46Vgl. Lucks, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 55 Rn. 11 und § 3 Rn. 14, 18.
47Die charakterliche Eignung eines Soldaten ist gegeben, wenn aufgrund seiner Lebenshaltung im Allgemeinen und seiner Einstellung zum Soldatenberuf im Besonderen davon auszugehen ist, dass er den Anforderungen und Pflichten, die ihm als Soldat im Umgang mit Vorgesetzten, Kameraden und Untergebenen sowie gegenüber dem Dienstherrn obliegen, gerecht zu werden vermag. In die Beurteilung der charakterlichen Eignung ist sowohl das dienstliche als auch das außerdienstliche Verhalten des Soldaten einzubeziehen. Entscheidend ist insoweit eine prognostische Einschätzung, die eine wertende Würdigung aller Aspekte des Verhaltens des Soldaten erfordert, die einen Rückschluss auf die für die charakterliche Eignung relevanten persönlichen Merkmale zulassen.
48Vgl. OVG S.-A., Beschluss vom 28. November 2019 – 1 M 119/19 –, juris, Rn. 6, m. w. N. (zu einer Entlassung nach § 55 Abs. 4 Satz 1 SG wegen Zweifeln an der charakterlichen Eignung des Soldaten).
49Dass es insoweit einer prognostischen Einschätzung bedarf, ist bereits dem Begriff der Eignung immanent und wird von § 55 Abs. 4 Satz 2 SG zudem dadurch hervorgehoben, dass die Norm ausdrücklich auf die Eignung des Anwärters für das erst zukünftig zu erlangende Amt des Feldwebels abstellt und dies auch noch durch die Verwendung des Futur ("eignen wird") unterstreicht.
50Vgl. insoweit auch BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 2006 – 1 WB 9.05 –, juris, Rn. 22 (zu § 40 Abs. 1 SLV).
51Die nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG vorzunehmende Prognoseentscheidung, dass der Feldwebelanwärter sich nicht zum Feldwebel eignen wird, ist ein Akt wertender Erkenntnis, weshalb dem Dienstherrn ein weiter, gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht. Die Gerichte dürfen dessen Entscheidung daher nur dahingehend überprüfen, ob die zuständige Stelle den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat.
52Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2006– 1 WB 8.06 –, juris, Rn. 21 (zur Frage der fehlenden Eignung zum Feldwebel i. S. v. §§ 55 Abs. 4 Satz 3 SG, 6 Abs. 4 Satz 2 SLV), und OVG NRW, Beschluss vom 17. Februar 2020 – 1 E 11.20 –, juris, Rn. 13 (zur geistigen Eignung nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 SG); ferner Lucks, in: Scherer/Alff/Poretsch-kin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 55 Rn. 11, und Sohm, in: Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, § 55 Rn. 37, jeweils m. w. N.
53Ausgehend von diesen Grundsätzen weist die Entlassungsverfügung Beurteilungsfehler auf. Die Antragsgegnerin ist von einem unrichtigen, nämlich unvollständigen Sachverhalt ausgegangen (dazu aa)) und hat ferner den Bedeutungsgehalt des Begriffs der Eignung verkannt (dazu bb)).
54aa) Die Antragsgegnerin hat ihrer Eignungseinschätzung einen unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt. Sie hat nämlich den für die insoweit zu leistende Prognoseentscheidung evident bedeutsamen Umstand unberücksichtigt gelassen, dass dem – trotz seiner Verfehlung noch fast 9 Monate weiterbeschäftigten – Antragsteller nach dem erfolgreichen Abschluss des zeitlich seiner Verfehlung nachgelagerten Feldwebellehrgangs AMT prognostisch die (auch charakterliche) Eignung zum Feldwebel attestiert und eine überzeugende Leistung als Munitionswart bescheinigt worden ist (s. o.). Letzteres ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil die Verfehlung des Antragstellers in der (außerdienstlichen) Begehung eines Waffendelikts bestanden hat und das spätere (dienstliche) Verhalten als Munitionswart ersichtlich ein zum Positiven verändertes Verantwortungsbewusstsein in Bezug auf Waffen belegt.
55bb) Die Antragsgegnerin hat ferner den Bedeutungsgehalt des Begriffs der Eignung verkannt. Sie hat nämlich eine Prognose schon nicht (nachvollziehbar) vorgenommen und es insbesondere versäumt, sich mit den Auswirkungen des positiven Eignungsurteils von Major C. vom 16. Dezember 2019 auf eine Prognose auseinanderzusetzen.
56Die Einschätzung der charakterlichen Eignung zum Feldwebel erfordert eine umfassende und plausibel begründete Prognoseentscheidung, bei der auch zu prüfen ist, ob Umstände, die im Beurteilungszeitpunkt aktuell (noch) für die Nichteignung sprechen, diesen Schluss auch für den zu beurteilenden künftigen Zeitraum tragen.
57Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 2006– 1 WB 9.05 –, juris, Rn. 21 f., und Lucks, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 55 Rn. 11 und § 3 Rn. 18.
58Dass die Antragsgegnerin diesen Anforderungen genügt hat, ergibt sich aus dem Entlassungsbescheid nicht. Darin ist – beanstandungsfrei – zunächst ausgeführt, dass von einem Soldaten auf Zeit und Vorgesetzten zu erwarten sei, dass er sich in und außer Dienst vorschriftgemäß verhalte, und dass namentlich von einem zukünftigen Vorgesetzten erwartet werden könne, dass er sich im Vorfeld des Erwerbs einer Waffe mit den Gesetzen und Verordnungen auseinandersetze und dies auch umsetze. Weil der Antragsteller dies unterlassen habe, stehe fest, dass er den charakterlichen Anforderungen, die an ihn in seiner angestrebten Funktion als Vorgesetzter zu stellen seien, nicht genüge. In prognostischer Hinsicht beschränkt sich der Bescheid sodann aber auf die Feststellung, vor dem Hintergrund der (aktuell) fehlenden Eignung sei "auch für die Zukunft keine Veränderung, die diese Einschätzung gegenteilig ausfallen ließe", zu erwarten. Das ist ersichtlich keine nachvollziehbar begründete Prognose, sondern nur die Behauptung einer Prognose, die die künftige Nichteignung allein aus der begangenen Straftat herleiten will und sich nicht ansatzweise mit allen übrigen prognoserelevanten, dem Antragsteller günstigen Umständen befasst. Diese Umstände (Bestrafung noch nach Jugendstrafrecht, geringe Geldstrafe, Begehung der Tat ganz zu Anfang der Anwärterlaufbahn, Weiterbeschäftigung, nachfolgendes positives Eignungsurteil) dürften im Übrigen jedenfalls in ihrer Gesamtheit schon einer negativen Eignungsprognose und damit bereits tatbestandlich einer Entlassung nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG entgegenstehen, so dass für eine Pflichtenmahnung, sollte sie noch für erforderlich gehalten werden, eine disziplinare Ahndung auszureichen hätte.
59Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
60Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG sowie § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 (Dienstverhältnis auf Zeit), Satz 2 und 3 GKG. Auszugehen ist nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 GKG von dem Jahresbetrag der Bezüge, die dem jeweiligen Antragsteller nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Einleitung der jeweiligen Instanz (hier: Beschwerdeerhebung am 17. Juli 2020) bekanntgemachten, für Soldatinnen und Soldaten des Bundes geltenden Besoldungsrechts unter Zugrundelegung der jeweiligen Erfahrungsstufe fiktiv für das innegehabte Amt im Kalenderjahr der Einleitung der Instanz zu zahlen sind. Nicht zu berücksichtigen sind dabei die nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 und Satz 3 GKG ausgenommenen Besoldungsbestandteile. Der nach diesen Maßgaben zu bestimmende Jahresbetrag ist, da ein Dienstverhältnis auf Zeit in Rede steht, zunächst gemäß § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG um die Hälfte zu reduzieren und sodann, da nur eine vorläufige Regelung begehrt wird, die die Hauptsache nicht vorwegnimmt, noch einmal zu halbieren.
61Zu Letzterem vgl. den Senatsbeschluss vom 13. Januar 2020 – 1 B 1640/19 –, juris, Rn. 22 f., m. w. N.
62Der nach den vorstehenden Grundsätzen zu ermittelnde Jahresbetrag beläuft sich hier angesichts des von dem Antragsteller zuletzt innegehabten Amtes nach A 4 BBesO bei Zugrundelegung der hier maßgeblichen Erfahrungsstufe 1 für das maßgebliche Jahr 2020 auf 28.143,04 Euro (für Januar und Februar 2020 jeweils noch 2.324,72 Euro, multipliziert mit 2 = 4.649,44 Euro; für die übrigen Monate jeweils schon 2.349,36 Euro, multipliziert mit 10 = 23.493,60 Euro). Ein Viertel dieses Betrages beläuft sich auf 7.035,76 Euro.
63Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung gemäß § 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen Beschränkungen einer für den 1. November 2020 angezeigten Versammlung im Stadtgebiet der Landeshauptstadt M.
Am 14. Oktober 2020 wurde für den 1. November 2020 eine stationäre Versammlung auf der T.wiese zwischen 16:30 und 21:00 Uhr angezeigt. Die Anzahl der gleichzeitig teilnehmenden Personen wurde mit 5.000 angegeben.
Mit Bescheid vom 30. Oktober 2020 beschränkte die Antragsgegnerin die angezeigte Versammlung u. a. damit, dass die Teilnehmerzahl auf 1000 Personen beschränkt wurde (Ziffer 1). Es wurde angeordnet, dass grundsätzlich alle Teilnehmer eine Mund-Nasenbedeckung zu tragen haben (Ziffer 2). Die Dauer der Veranstaltung wurde auf maximal 270 Minuten begrenzt (Ziffer 6). Dem Antragsteller wurde aufgegeben, pro 10 Teilnehmer jeweils einen Ordner bereitzustellen (Ziffer 8). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die infektionsschutzrechtliche Lage in M. und nahezu im gesamten Bundesgebiet sich dramatisch zugespitzt habe. Der infektionsschutzrechtliche Schwellenwert von über 100 für drastische Beschränkungen des öffentlichen Lebens nach § 26 der 7. BayIfSMV sei mit einem am 28.10.20 veröffentlichten Wert des RKI von 122,3 deutlich überschritten, wie sich aus der Gefahrenprognose des Referates für Gesundheit und Umwelt ergebe. In der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung seien derzeit nur Versammlungen bis zu einer Größe von bis zu 200 Personen in der Regel als infektionsschutzrechtlich vertretbar anzusehen, sofern diese ortsfest durchgeführt würde. Hier seien 5000 Personen angezeigt, also eine Überschreitung um das 25-fache. Grundsätzlich dürften für die Gefahrenprognose Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indiz für das Gefahrenpotential herangezogen werden, soweit diese bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen. Die Versammlung sei Teil eines einheitlichen Versammlungsgeschehens der Initiative „Querdenken“. Deswegen seien entsprechende Erfahrungen aus den einschlägigen Versammlungslagen in der Vergangenheit zu berücksichtigen. Es wurden die Zustände verschiedener Versammlungen aufgeführt. Bei einem Versammlungsgeschehen vom 25. Oktober 2020 in Berlin habe sich der überwiegende Teil der 1500 bis 2000 Anwesenden sich nicht an die Hygieneregeln, insbesondere die Maskenpflicht gehalten. Der Antragsteller habe die Teilnehmer aufgefordert, dennoch loszulaufen und sich damit den polizeilichen Vorgaben zu widersetzen. Es sei zu tätlichen Angriffen und Widerstandshandlungen gegen die Einsatzkräfte gekommen. Über 100 Straf- und Ordnungswidrigkeitenanzeigen seien erstattet worden. Der Antragsteller sei wegen Landfriedensbruchs angezeigt worden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid verwiesen.
Am 31. Oktober 2020 hat der Antragsteller Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtschutzes gestellt. Er beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Auflagen Nr. 1, Nr. 4, Nr. 6 und Nr. 8 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 30.10.2020 anzuordnen.
Der Antragsteller macht im Wesentlichen geltend, dass die Antragsgegnerin in verfassungswidriger Weise in die Versammlungsfreiheit eingreife. Art. 8 GG dürfe nur bei unmittelbaren Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung beschränkt werden. Eine unmittelbare Gefährdung des Schutzgutes Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) durch das neue Coronavirus (Sars-CoV-2) sei jedoch nicht nachgewiesen. Soweit sich die Antragsgegnerin auf die 7-Tages-Inzidenz von Neuinfektionen im Stadtgebiet Münchens beziehe, könne aus den zugrundeliegenden PCR-Tests nicht zwingend geschlossen werden, dass die getesteten Personen krank oder ansteckend seien. Auch eine Überlastung des Gesundheitssystems sei derzeit nicht festzustellen. Die 7. BayIfSMV müsse im Übrigen dahin ausgelegt werden, dass geringfügige Verstöße gegen den Mindestabstand zulässig seien. Der Mindestabstand müsse nur im Rahmen des Möglichen eingehalten werden; bei kurzen Unterschreitungen genüge das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung. Für eine ordnungsgemäße Durchführung der Versammlung sei schließlich ein Ordner-Teilnehmer-Verhältnis von 1:25 ausreichend, was sich aus den Erfahrungen bei Demonstrationen in Hamburg, in Berlin, München und Nürnberg mit jeweils vier- bis fünfstelliger Teilnehmerzahl ergebe.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO abzulehnen.
Zur Begründung wurde auf die Ausführungen im Bescheid vom 30.10.2020 und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die angegriffenen Beschränkungen der Versammlung des Antragstellers ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Er führt jedoch in der Sache nicht zum Erfolg.
I.
Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist eine Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Suspensivinteresse am Eintritt der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs vorzunehmen. Nach herrschender Meinung trifft das Gericht dabei eine eigene Ermessensentscheidung, für die in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs maßgeblich sind. Bei offener Erfolgsprognose ist eine Interessenabwägung durchzuführen. Dem Charakter des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO entspricht dabei in der Regel eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage (Gersdorf, BeckOK VwGO, Stand 1.10.2019, § 80 Rn. 176). Zum Schutz von Versammlungen ist indes schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt (BVerfG, B.v. 12.5.2010 - 1 BvR 2636/04 - juris Rn. 18 m.w.N.).
II.
Die Begrenzung der Teilnehmerzahl der angezeigten Versammlung ist nach summarischer Prüfung rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten; insoweit bestehen in der Hauptsache keine Erfolgsaussichten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Gemäß Art. 15 Abs. 1 BayVersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Nach § 7 Abs. 1 7. BayIfSMV hat die zuständige Behörde durch Beschränkungen der Versammlung sicherzustellen, dass bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel im Sinne des BayVersG zwischen allen Teilnehmern ein Mindestabstand von 1,5 m gewahrt wird, dass Körperkontakte, auch mit Dritten, vermieden werden und dass die von der Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auch im Übrigen auf ein vertretbares Maß beschränkt bleiben. Erforderlichenfalls ist die Versammlung zu verbieten. Diese Bestimmung konkretisiert die versammlungsrechtliche Befugnisnorm des Art. 15 BayVersG auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite, soweit die von einer Versammlung unter freiem Himmel ausgehenden Infektionsgefahren in Rede stehen (BayVGH, B.v. 19.09.2020 - 10 CS 20.2103 - juris Rn. 7). Unmittelbar gefährdet ist die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Ordnung, wenn eine Sachlage vorliegt, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge den Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt (vgl. Dürig-Friedl in Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 1. Aufl. 2016, § 15 Rn. 53). Wird eine versammlungsbehördliche Verfügung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit gestützt, erfordert die anzustellende Gefahrenprognose hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus (vgl. BayVGH, U. v. 10.07.2018 - 10 B 17.1996 - juris Rn. 26). Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt grundsätzlich bei der Behörde (vgl. BVerfG, B. v. 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 - juris Rn. 19 m.w.N.; SächsOVG, U. v. 31.05.2018 - 3 A 199/18 - juris Rn. 23). In die Prognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen einbezogen werden, soweit sich hinsichtlich des Versammlungsthemas, des Ortes, des Datums oder des Teilnehmer- und Organisatorenkreises bei verständiger Würdigung Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen (vgl. BVerfG, B.v. 4.9.2009 - 1 BvR 2147/09 - NJW 2010, 141).
2. Hieran gemessen bestand für die Antragsgegnerin vorliegend hinreichender Anlass, eine Beschränkung der Teilnehmerzahl auszusprechen. Die Antragsgegnerin hat unter maßgeblicher Berücksichtigung der Stellungnahmen des Polizeipräsidiums und des Referats für Gesundheit und Umwelt nachvollziehbar ausgeführt, dass bei einer Versammlung mit 5.000 Teilnehmern am gewünschten Versammlungsort die infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gewährleistet wäre.
a) Bei den aufgrund der thematischen und organisatorischen Überschneidungen als Bezugsfälle herangezogenen Versammlungen u.a. am 12. September 2020 in M., am 11. Oktober 2020 in N., am 19. Oktober 2020 in St. und am 25. Oktober 2020 in B. ist es neben Unterschreitungen des in § 7 Abs. 1 Satz 1 7. BayIfSMV vorgegebenen Mindestabstands insbesondere zu zahlreichen Verstößen gegen die in § 7 Abs. 1 Satz 3 BayIfSMV (bzw. nach Berliner Landesrecht) angeordnete Maskenpflicht gekommen. Polizeiliche Einwirkungsversuche gestalteten sich schwierig; seitens der Versammlungsleiter wurde teilweise sogar dazu aufgerufen, auf den Versammlungen keine Masken zu tragen. Im Rahmen der Versammlung auf der Theresienwiese am 12. September 2020 konnte die überwiegende Befolgung der Beschränkung nur durch polizeiliches Eingreifen und die Ahndung zahlreicher vollendeter einzelner Verstöße erreicht werden. Diese Erfahrungen erlauben den Schluss darauf, dass es auch bei der nunmehr angezeigten Versammlung auf der Theresienwiese in erheblichem Umfang zu Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit durch infektionsschutzrechtlich unerwünschte Zustände kommen würde, sollten keine geeigneten Beschränkungen der Versammlung angeordnet werden. Die Heranziehung von Erkenntnissen aus den genannten früheren Versammlungen ist rechtlich nicht zu bestanden. Die seitens der Antragsgegnerin insoweit konkret dargestellten Überschneidungen hinsichtlich Versammlungsthema und des Teilnehmer- und Organisatorenkreises wurden vom Antragsteller nicht infrage gestellt. Der Einwand des Antragstellers, kurzfristige Unterschreitungen des Mindestabstands im Rahmen einer Versammlung dürften nicht zu Beschränkungen einer Versammlung führen, liegt neben der Sache. Die angeordneten Beschränkungen der Versammlung dienen erkennbar nicht der Verhinderung von ganz untergeordneten und geringfügigen Abstandsunterschreitungen, sondern auf die Abwendung einer Vielzahl nachhaltiger Verstöße gegen infektionsschutzrechtliche Vorgaben.
b) Soweit der Antragsteller rügt, die Antragsgegnerin hätte die sog. 7-Tages-Indizenz, d.h. die Anzahl der Neuinfektionen im Stadtgebiet M. der letzten sieben Tage, nicht berücksichtigen dürfen, weist die Kammer auf Folgendes hin: Grundsätzlich ist es nicht zu beanstanden, dass dieser Inzidenzwert im Rahmen der Prognose von Infektionsrisiken ergänzend herangezogen wird, auch wenn sich aus dem Wert allein jedoch noch keine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ergibt (vgl. BayVGH, B.v. 19.9.2020 - 10 CS 20.2103 - juris Rn. 10). Der Einwand des Antragstellers, positive PCR-Virusnachweise genügten nicht für die Diagnose einer (übertragbaren) Erkrankung, übersieht, dass die Antragsgegnerin ihre Gefahrenprognose nicht allein auf solche Nachweise abstellt, sondern darüber hinaus die umfassende Risikobewertung des Robert-Koch-Instituts (RKI) berücksichtigt hat. Das RKI, dem der Gesetzgeber im Bereich des vorbeugenden Infektionsschutzes besonderes Gewicht einräumt (§ 4 IfSG; vgl. BayVGH, B.v. 11.09.2020 - 10 CS 20.2064 - Rn. 25 m.w.N.), schätzt die Lage in Deutschland auch in seiner aktuellen Risikoeinschätzung zu Covid-19 als sehr ernst und dynamisch ein. Das Risiko für die Bevölkerung sei weiterhin hoch, seit Ende August würden wieder vermehrt Übertragungen des neuen Coronavirus in Deutschland beobachtet. Die Ressourcenbelastung des Gesundheitssystems könne örtlich sehr schnell zunehmen. (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html; abgerufen am 31.10.2020). Vor diesem Hintergrund ist es dem Antragsteller zumutbar, die geplante Versammlung mit einer geringeren Teilnehmerzahl durchzuführen. Er kann seinen Anliegen gleichwohl an einem zentralen Ort öffentlichkeitswirksam Ausdruck verleihen und damit an der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben. Der Risikobewertung des RKI, die sich die Antragsgegnerin zu eigen gemacht hat, ist der Antragsteller nicht substanziiert entgegengetreten. Der bloße Zweifel an den durch die Gesundheitsämter gemeldeten „Fallzahlen“ durch Hinweis darauf, dass ein PCR-Nachweis von Virus-RNA nicht stets bedeute, dass der Virusträger ansteckend erkrankt sei, genügt nicht, um die Gesamteinschätzung der Lage durch das RKI, in die neben der Anzahl positiv getesteter Personen auch die Entwicklung der gemeldeten Fälle, das Schwereprofil der Krankheitsverläufe und die Ressourcenbelastung des Gesundheitswesen in Deutschland und anderen Ländern einfließen (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung_Grundlage.html), durchgreifend infrage zu stellen.
c) Dem (sinngemäßen) Vorbringen des Antragstellers, „Störer“ im Rahmen des § 28 Abs. 1 Satz 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG), auf dem die 7. BayIfSMV beruht, seien nur nachweislich an Covid-19-Erkrankte und sonstige Träger des Virus, von denen eine individuelle Infektionsgefahr ausgehe, folgt die Kammer nicht. Wer zulässiger Adressat einer Maßnahme aufgrund des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist, wird im IfSG nicht ausdrücklich bestimmt. Die Auslegung der Norm nach ihrer Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck ergibt jedoch, dass die Behörde auch Maßnahmen gegen die Allgemeinheit ergreifen darf (vgl. BayVGH, B.v. 11.09.2020 - 10 CS 20.2064 - juris Rn. 27; Martini/Thiessen/Ganter, NJOZ 2020, 929, 932 m.w.N.).
d) Die Begrenzung der Teilnehmer der geplanten Versammlung ist geeignet und erforderlich, um die überwiegende Einhaltung der infektionsschutzrechtlichen Vorgaben der 7. BayIfSMV sicherzustellen. Für die Eignung genügt insoweit, dass die Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Zwecks zu fördern (vgl. Greszick, Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand April 2020, Art. 20 Rn. 112). Dies ist aus Sicht der Kammer nicht zweifelhaft. Es liegt auf der Hand, dass eine Versammlung mit 1000 Teilnehmern besser überblickt und beherrscht werden kann als eine Versammlung mit 5000 Teilnehmern. Bereits in der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 6. BayIfSMV kommt zum Ausdruck, dass Versammlungen mit zunehmender Teilnehmerzahl unübersichtlicher und schwerer beherrschbar werden. Sowohl für die Veranstalterseite als auch für die polizeilichen Einsatzkräfte wird es bei hohen Teilnehmerzahlen immer schwieriger, auf die Einhaltung von infektionsschutzrechtlichen Vorgaben hinzuwirken (vgl. BayVGH, B.v. 22.5.2020 - 10 CE 20.1236 - juris). Die Erforderlichkeit wäre nur zu verneinen, wenn sich andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellten (vgl. Greszick, a.a.O., Art. 20 Rn. 114). Diese Voraussetzung liegt nicht vor. Im Gegenteil legen die Erfahrungen mit den Versammlungen am 19. Oktober 2020 in St. und am 23. Oktober 2020 in M. nahe, dass schon bei weniger als 1000 Teilnehmern die Umsetzung einer auf § 7 Abs. 1 Satz 3 7. BayIfSMV gestützten Anordnung auf erhebliche Vollzugsschwierigkeiten stößt. Eine Auflösung der Versammlung durch die Polizei nach Beginn ist nicht in gleicher Weise geeignet, Infektionsgefahren abzuwehren, da diese Maßnahme erst nach Eintritt der unerwünschten Gefahrensituation wirksam würde (vgl. BayVGH, B.v. 19.9.2020 - 10 CS 20.2103 - juris Rn. 10).
e) Die Schwere des durch die Begrenzung der Teilnehmerzahl bewirkten Eingriffs in die grundrechtliche geschützte Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) steht nicht außer Verhältnis zu den damit verfolgten Zielen des Infektions- bzw. Gesundheitsschutzes. Bei Durchführung der Versammlung wie angezeigt wären grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Interessen einer großen Anzahl Dritter von hohem Gewicht betroffen. Vor diesem Hintergrund ist es dem Antragsteller zumutbar, die geplante Versammlung mit einer geringeren Teilnehmerzahl durchzuführen. Er kann seinen Anliegen gleichwohl an einem zentralen Ort öffentlichkeitswirksam Ausdruck verleihen und damit an der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben.
III.
Auch die in Ziffer 4 des Bescheides der Antragsgegnerin ausgesprochene Verpflichtung der Teilnehmer der Versammlung, aus Gründen des Infektionsschutzes eine Maske zu tragen, begegnet keinen Bedenken. Nach § 7 Abs. 1 Satz 3 7. BayIfSMV ist bei Versammlungen jedenfalls ab einer Teilnehmerzahl von 200 Personen in der Regel Maskenpflicht anzuordnen. Das Gericht sieht im vorliegenden Eilverfahren keinen Anlass, von der Einschätzung des Verordnungsgebers abzuweichen, dass das Tragen von Mund und Nase bedeckenden Masken in bestimmten sozialen Situationen einen Beitrag zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie leisten kann (vgl. u. a. § 5 Abs. 3 Nr. 3, § 6 Satz 1 Nr. 2, § 8 Satz 1 7. BayIfSMV). Dass durch die einschlägigen Bestimmungen der 7. BayIfSMV der insoweit bestehende Einschätzungsspielraum des Verordnungsgebers überschritten worden wäre, wurde nicht substanziiert aufgezeigt und ist auch im Übrigen nicht ersichtlich (vgl. auch BayVGH, B.v. 11.09.2020 - 10 CS 20.2064 - juris Rn. 36 mit Nachweisen zur Einschätzung des RKI).
IV.
Soweit sich die Klage in der Hauptsache gegen die zeitliche Beschränkung der Versammlung auf maximal 270 Minuten richtet (Ziffer 6 des Bescheides der Antragsgegnerin), hat sie keine Aussicht auf Erfolg. Die Beschränkung kann sich auf Art. 15 Abs. 1 BayVersG i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 2 BayIfSMV stützen. Bei der Bewertung der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit orientiert sich die Kammer insoweit an der fachlichen Stellungnahme des Referats für Gesundheit und Umwelt, die sich die Antragsgegnerin zu eigen gemacht hat, wonach eine zeitliche Begrenzung notwendig sei, um die Infektionsgefahr zu verringern. Auf den Bescheid wird verwiesen (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) des Antragstellers im Rahmen der Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite aus Sicht der Kammer hinreichend Rechnung getragen wurde, da er die Versammlung zur gewünschten Zeit mit der angezeigten Dauer durchführen darf.
V.
Im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung ergeben sich auch keine Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit des in Ziffer 8 des Bescheides angeordneten Ordnerschlüssels. Nach der infektionsschutzrechtlichen Einschätzung des Referats für Umwelt und Gesundheit erfordert die Überwachung der Einhaltung der gebotenen Mindestabstände Ordnerpersonal von mindestens einem Ordner pro zehn Personen, da die erforderlichen Kontaktminimierungen als wirksamstes Mittel zur Verhinderung der Verbreitung von SARS-CoV-2 entsprechend kontrolliert werden müssen. Wie die Antragsgegnerin zu Recht ausgeführt hat, dient die Verpflichtung der Ordner zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung der Gewährleistung eines ausreichenden Infektionsschutzes, da diese bei der Ausübung ihrer Funktion unter Umständen in nahen Kontakt zur anderen Versammlungsteilnehmer treten müssen.
VI.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG.
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Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird die Streitwertfestsetzung im Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 12. Kammer, Berichterstatterin - vom 28. April 2020 geändert.
Der Streitwert wird auf 9.800,01 Euro festgesetzt.
Der Beschluss ergeht gerichtsgebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
1
Über die Beschwerde gegen den Streitwertbeschluss entscheidet gemäß § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 6 Satz 2 GKG der Senat.
2
Die zulässige Beschwerde mit dem Ziel, den vom Verwaltungsgericht festgesetzten Streitwert für das einstweilige Rechtschutzverfahren – 12 B 73/19 – abzuändern, ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Streitwertberechnung in seinem Beschluss zwar zutreffend auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 6 Satz 4 i.V.m. Satz 1 Nr. 1 GKG gestützt, in der Höhe aber zu Unrecht auf € 52.152,45 festgesetzt.
3
Der Streitwert bemisst sich aufgrund § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 6 Satz 4 i.V.m. Satz 1 Nr. 1 GKG nach einem Viertel der fiktiv an die Antragstellerin für das angestrebte Beförderungsamt (hier: A 8) in der maßgeblichen Erfahrungsstufe (hier: Stufe 8) im Kalenderjahr der instanzbegründenden Antragstellung (hier: Jahr 2019). Ein Abstellen auf das Endgrundgehalt des angestrebten Amtes ist aufgrund des eindeutigen Wortlauts des § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 GKG nicht (mehr) möglich (vgl. Beschluss des Senats vom 20. April 2018 – 2 MB 5/18 –, n.v.; ebenso OVG Nordrhein-Westphalen, Beschluss vom 20. Juli 2017 – 1 B 1417/16 –, Juris Rn. 20; a.A. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 23. Dezember 2013 – 2 B 11209/13 –, Juris Rn. 19 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. April 2013 – 4 S 439/13 –, Juris Rn. 4, unter Anwendung des Auffangstreitwertes gemäß § 52 Abs. 2 GKG).
4
Der so ermittelte Streitwert des maßgeblichen Kalenderjahrs (hier: 12 x € 3.266,67) ist zu vierteln. Eine Halbierung des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 6 Satz 4 GKG und eine weitere Halbierung aus dem im Eilverfahren lediglich verfolgten vorläufigen Sicherungszweck (vgl. hierzu die ausführliche Begründung im Beschluss des Senats vom 7. Oktober 2013 – 2 MB 31/13 –, Juris Rn. 76 sowie vom 2. August 2016 – 2 MB 16/16 – Juris Rn. 26).
5
Die beantragte Anzahl der freizuhaltenden Stellen wirkt sich vorliegend nicht streitwerterhöhend aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. November 2011 – 2 VR 5.12 –, Juris Rn. 40; OVG für das Land Nordrhein-Westphalen, Beschluss vom 30. September 2013 – 1 E 600/13 –, Juris Rn. 7 ff.; Bayerischer VGH, Beschluss vom 24. Oktober 2017 – 6 C 17.1429 –, Juris Rn. 6; a.A. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. April 2013 – a.a.O. –, Juris Rn. 5; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 4. Januar 2013 – 5 OA 290/12 –, Juris Rn. 2). Dafür streitet bereits der verfassungsrechtlich normierte Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG). Danach darf ein Streitwert nicht so festgesetzt werden, dass die Möglichkeit des Betroffenen um Rechtsschutz nachzusuchen, durch ein unangemessen hohes Kostenrisiko faktisch uneingeschränkt oder gar ausgeschlossen wird (vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westphalen, Beschluss vom 30 September 2013 – a.a.O. –, Juris Rn. 12).
6
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.1 Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Allgemeinverfügung des Gesundheitsamtes Karlsruhe über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-lnzidenz innerhalb des Stadtkreises Karlsruhe von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner in der aktuellen Fassung.2 Die Antragstellerin, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, betreibt eine Cocktail-Bar in Karlsruhe.3 Die Stadt Karlsruhe hat unter dem Datum des 23.10.2020 eine Allgemeinverfügung erlassen, die unter Nr. 2 eine Sperrzeitenregelung sowie in Nr. 3 und 4 Alkoholausschankbeschränkungen enthielt.4 Das Gesundheitsamt Karlsruhe hat mit Allgemeinverfügung über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-Inzidenz innerhalb des Stadtkreises Karlsruhe von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner vom 23.10.2020 u.a. wie folgt verfügt:5 „2. Im Stadtkreis Karlsruhe beginnt die Sperrzeit für Speise- und/oder Schankwirtschaften im Sinne des Gaststättengesetzes bereits um 23.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr des Folgetages, soweit im Einzelfall für den Beginn keine frühere und für das Ende keine spätere Uhrzeit festgelegt ist.6 3. Abweichend von § 7 Gaststättengesetz (GastG) dürfen in Gaststätten und in gastgewerblichen Einrichtungen im Sinne des § 25 GastG im gesamten Stadtgebiet an Freitagen, Samstagen und vor Feiertagen in der Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr des Folgetags keine alkoholischen Getränke zum alsbaldigen Verzehr über die Straße („Gassenschank“) abgegeben werden.7 4. In Verkaufsstellen dürfen an Freitagen, Samstagen und vor Feiertagen in der Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr des Folgetags keine alkoholischen Getränke abgegeben werden.“8 Am 27.10.2020 hat das Gesundheitsamt Karlsruhe eine weitere, insoweit gleichlautende Allgemeinverfügung erlassen.9 Mit Telefax vom 27.10.2020 hat eine von zwei Gesellschaftern Widerspruch bei der Stadt Karlsruhe eingelegt. Daraufhin hat die Stadt Karlsruhe mit Schreiben vom 28.10.2020 auf die Allgemeinverfügung des Gesundheitsamts Karlsruhe vom 27.10.2020 verwiesen und ausgeführt, die Entscheidung über den Widerspruch liege nunmehr beim Landratsamt Karlsruhe.10 Am 29.10.2020 hat die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht Karlsruhe unter Beifügung der Allgemeinverfügung des Gesundheitsamts Karlsruhe vom 27.10.2020 vorläufigen Rechtsschutz beantragt und zur Begründung ausgeführt, die Allgemeinverfügung stelle einen rechtswidrigen Eingriff in ihre Grundrechte aus Art. 12 GG sowie Art. 2 Abs. 1 GG dar. Sie wendeten sich insbesondere gegen die Anordnung des Beginns der Sperrzeit für Speise- und/oder Schankwirtschaften mit bereits 23.00 Uhr (Nr. 2); weiterhin richtet sie sich gegen das Verbot des Gassenausschanks an Freitagen, Samstagen und vor Feiertagen in der Zeit von 22.00 Uhr bis 06.00 Uhr des Folgetages (Nr. 3); schließlich richtet sie sich gegen das Verbot, an Verkaufsstellen an Freitagen, Samstagen und vor Feiertagen in der Zeit von 22.00 bis 06.00 Uhr des Folgetages keine alkoholischen Getränke abzugeben (Nr. 4).11 Die Maßnahmen seien weder geeignet, noch erforderlich, noch im engeren Sinne als verhältnismäßig einzustufen. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Uhrzeit und Corona-Verbreitung oder Alkohol und Corona-Verbreitung bestehe nicht; die Annahme eines solchen sei als konstruiert zu bezeichnen.12 Den Verlautbarungen des Robert-Koch-Institutes (RKI) sei zu entnehmen, dass lediglich 1,7 % der Covid-19-lnfektionen aus der Gastronomie kämen. Auch sei die Sperrstunde und das Einhergehen des Alkoholverkaufsverbotes nicht das mildeste Mittel; geeignet und erforderlich diesbezüglich wären engmaschige und dichte Kontrollen auch in den Abendstunden, um das Hygienekonzept der Gastronomie, die Mund-Nasenbedeckungen sowie das Abstandsgebot zu kontrollieren und somit einzuhalten. Dies sei den Behörden auch zuzumuten, da im Gegenzug die erlassene Allgemeinverfügung letztlich auch für ihren Betrieb einem Quasi-Berufsverbot gleichkomme.13 Sie könnten auch ihre Terrasse mit Heizpilzen letztlich im Freien unter Einhaltung der Abstandsregeln betreiben. Des Weiteren sei zu sehen, dass durch die angeordneten Maßnahmen jüngere Personen keinesfalls vom Feiern abgehalten werden könnten; diese Feiern verlagerten sich dann mehr in den privaten Bereich und die Corona-Abstandsregeln und Hygieneregeln würden überhaupt nicht mehr eingehalten. Hier sei ein Zusammenkommen unter kontrollierten Bedingungen sehr viel effizienter, da die Einhaltung der Regeln durch die Betreiber der Gaststätten effizient kontrolliert werden könnten. Private Feiern und Zusammenkünfte seien so gut wie nicht zu kontrollieren.14 Auch das Verbot, nach 23.00 Uhr alkoholische Getränke außer Haus verkaufen zu dürfen, führe nicht zu einem Risiko der Verbreitung des Virus.15 In Anbetracht der sehr geringen Erfolgsaussichten der verlängerten Sperrstunde sowie des Alkoholverbotes im Hinblick auf die Eindämmung der Covid-19-Pandemie im Gegensatz zu ihren Rechten aus Art. 12 GG und dem Recht, nicht gänzlich beruflich und finanziell ruiniert zu werden, stellten die angeordneten Maßnahmen insoweit einen groben Verstoß gegen die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dar. Ein halbwegs rentabler Barbetrieb sei auch bei Öffnungszeiten zwischen 19.00 und 23.00 Uhr nicht möglich. Sie hätten sämtliche Hygienekonzepte peinlich genau umgesetzt und gelebt.16 Die Antragstellerin beantragt – sinngemäß ausgelegt –,17 die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen Nr. 2, 3 und 4 der Allgemeinverfügung über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-lnzidenz innerhalb des Landkreises Karlsruhe von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner des Gesundheitsamts Karlsruhe vom 29.10.2020 anzuordnen.18 Der Antragsgegner beantragt,19 den Antrag abzulehnen.20 Zur Begründung verweist er auf seine Begründung in der angefochtenen Allgemeinverfügung. Ergänzend verweist der Antragsgegner darauf, dass der Inzidenzwert am 29.10.2020 für den Landkreis bei 91, für die Stadt bei 102,2 auf 100.000 Einwohner lag und zwischenzeitlich für das Stadtgebiet auf 115,4 und für den Landkreis auf 99,1 gestiegen sei, was bestätige, dass weitergehende Maßnahmen über die Corona-Verordnung des Landes erforderlich blieben. Soweit die Antragstellerin die bzw. ihre Gastronomie ausnehmen wolle, sei das weitgehend diffuse Pandemiegeschehen entgegenzuhalten mit mehr als 1/3 unklarer Ursache im Stadt- und Landkreis Karlsruhe (Stand: 27.10.2020). Soweit ausgeführt werde, durch die Verbote würden die Menschen die „Feierlichkeiten“ in den privaten Haushalt verlagern, so sei dem entgegenzuhalten, dass dies richtig sein möge, aber dort weniger unbekannte Kontakte mit einer beliebigen Vielzahl Dritter entstünden. Dies sei in der derzeitigen eskalierenden Situation essentiell und noch viel wichtiger, damit das Gesundheitsamt in der Lage bleibe, Infektionsketten zu durchbrechen und dem Pandemiegeschehen nicht tatenlos, sondern wirksam entgegenzutreten.21 Ebenfalls am 29.10.2020 hat eine Gesellschafterin der Antragstellerin bei dem Antragsgegner Widerspruch erhoben. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.II.22 Der Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 27.10.2020 gegen die Festsetzung einer Sperrzeit (Nummer 2), gegen das Ausschankverbot (Nummer 3) und gegen das Alkoholausgabeverbot (Nummer 4) in der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 27.10.2020 hat keinen Erfolg.23 1. Der Antrag der Antragstellerin ist sachdienlich dahingehend auszulegen, dass er sich gegen die aktuell gültige Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 27.10.2020 über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-Inzidenz innerhalb des Stadtkreises Karlsruhe von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohnern wendet. Zwar hat die Antragstellerin den Antrag ausdrücklich gegen die Stadt Karlsruhe gerichtet. Sie hat aber die Allgemeinverfügung des Antragsgegners beigefügt und damit ihr eigentliches Rechtsschutzziel trotz anwaltlicher Vertretung noch hinreichend klar zum Ausdruck gebracht. Schließlich hat sie auf einen entsprechenden gerichtlichen Hinweis vom 29.10.2020 nicht widersprochen.24 2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.25 Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung ist maßgeblich auf die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens abzustellen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein gebotene summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.02.2018 – 1 VR 11.17 –, juris Rn. 15). Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.03.1997 – 13 S 1132/96 –, juris Rn. 3; VG Karlsruhe, Beschlüsse vom 18.04.2016 – 3 K 2926/15 – und vom 25.09.2017 – 9 K 11521/17 –).26 Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischer Prüfung hat der Widerspruch der Antragstellerin voraussichtlich keinen Erfolg, da die Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 rechtmäßig ist.27 2.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1, 1. HS, Satz 2 IfSG trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde unter anderem Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten (§ 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG). Letzteres beruht auf dem Gedanken, dass bei Menschenansammlungen Krankheitserreger besonders leicht übertragen werden können (vgl. BR-Drs. 566/99, S. 169 f.; BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 3 C 16.11 –, juris Rn. 26). Dabei lassen die von der baden-württembergischen Landesregierung erlassenen Regelungen das Recht der zuständigen Behörden, weitergehende Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen zu erlassen, unberührt (§ 20 Abs. 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 [Corona-Verordnung] vom 23.06.2020 [in der Fassung vom 19.10.2020]).28 2.2. Die Allgemeinverfügung ist voraussichtlich auch formell rechtmäßig. Insbesondere hat das Gesundheitsamt Karlsruhe als zuständige Behörde gehandelt. Nach § 1 Abs. 6a Verordnung des Sozialministeriums über Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz ist im Falle einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite im Sinne des § 5 IfSG und des Überschreitens eines Schwellenwertes von 50 neu gemeldeten SARS-Cov-2 Fällen pro 100.000 Einwohner in den vorangehenden sieben Tagen (7-Tage-Inzidenz) innerhalb eines Stadt- oder Landkreises bis zum Ablauf des 31.05.2021 abweichend von Abs. 6 S. 1 das Gesundheitsamt für Maßnahmen nach §§ 16, 17, 28 und 31 IfSG zur Bekämpfung dieses Infektionsgeschehens zuständig. Hat der Stadtkreis kein eigenes Gesundheitsamt, trifft das zuständige Gesundheitsamt die Maßnahme im Einvernehmen mit der Ortspolizeibehörde. Das ist hier durch das nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Gesundheitsdienstgesetz (ÖGDG) zuständige Landratsamt Karlsruhe geschehen, da die Stadt Karlsruhe kein eigenes Gesundheitsamt hat. Die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ hat der Bundestag am 27.03.2020 festgestellt (https://www.bundesregierung.de/Breg-de/aktuelles/epidemie-bund-kompetenzen-1733634). Eine 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 Fällen pro 100.000 Einwohner lag bereits seit dem 23.10.2020, Stand 17.31 Uhr und auch zum Zeitpunkt des Erlasses der Allgemeinverfügung (und liegt weiterhin zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung; vgl. Abbildung 1 auf Seite 3 des COVID-19 Lageberichts des RKI vom 29.10.2020) vor.29 2.3. Die Allgemeinverfügung ist voraussichtlich auch materiell rechtmäßig.30 Die Voraussetzungen für ein Einschreiten nach § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG liegen vor. Gemäß § 28 Abs. 1 IfSG trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war.31 Bei der durch das Virus COVID-19 verursachten Erkrankung handelt es sich um eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG (s. im Einzelnen RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 [COVID-19], Stand: 16.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html [Abruf am 29.10.2020]; RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 26.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html?nn=13490888 [Abruf am 30.10.2020]; vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 17). Ansonsten setzt § 28 Abs. 1 IfSG tatbestandlich lediglich voraus, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war. Diese Voraussetzungen liegen angesichts der anhaltenden SARS-CoV-2-Pandemie vor. § 28 Abs. 1 Satz 1 HS 1 IfSG ermächtigt dabei nach seinem Wortlaut, seinem Sinn und Zweck und dem Willen des Gesetzgebers auch zu Maßnahmen gegenüber Nichtstörern, soweit eine Differenzierung von Störern und Nichtstörern im Fall des SARS-CoV-2-Virus überhaupt sachgerecht ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 3 C 16/11 –, juris Rn. 26; VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 09.04.2020 – 1 S 925/20 –, juris Rn. 33, und vom 13.05.2020 – 1 S 1281/20 –, juris Rn. 17). Die niedrige Eingriffsschwelle der Norm ist nicht auf Tatbestandsebene, sondern im Einzelfall gegebenenfalls auf der Ermessensebene zu kompensieren, indem an die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Maßnahme je nach deren Eingriffstiefe erhöhte Anforderungen zu stellen sind (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.08.2020 – 20 CS 20.182 –, juris Rn. 24 f). Daher ist es im vorliegenden Falle gleichgültig, ob die Gesellschafter der Antragstellerin und ihre Mitarbeiter selbst krank, krankheitsverdächtig oder ansteckungsverdächtig sind.32 2.4. Hinsichtlich der Art und des Umfangs der Bekämpfungsmaßnahmen ist der Behörde ein Auswahlermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Maßnahmen nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss. Zudem sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2012– 3 C 16.11 –, juris Rn. 23 f.; VG Berlin, Beschluss vom 15.10.2020 – 14 L 422/20 –, juris Rn. 16; Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.08.2020 – 20 CS 20.182 –, juris Rn. 27).33 Das dem Antragsgegner somit eröffnete Ermessen ist nach der gebotenen summarischen Prüfung auch fehlerfrei betätigt worden.34 2.4.1. Die Festsetzung der Sperrzeit für das Stadtgebiet Karlsruhe weist bei der Auswahl der Maßnahme aller Voraussicht nach keine Ermessensfehler nach § 114 Satz 1 VwGO auf. Insbesondere beeinträchtigt sie die Antragstellerin voraussichtlich nicht unverhältnismäßig in ihrer Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG. Die Festsetzung der Sperrzeit auf 23.00 Uhr durch Nummer 2 der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 27.10.2020 ist, da sie die jedenfalls teilweise Schließung von Gaststättenbetrieben zur Folge hat, als eine Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit anzusehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 09.04.2020 – 1 S 925/20 –, juris Rn. 44 f., vom 30.04.2020 – 1 S 1101/20 –, juris Rn. 41 f. und vom 20.08.2020 – 1 S 2347/20 –, juris Rn. 21). Insofern ist sie mit Art. 12 Abs. 1 GG nur vereinbar, wenn sie durch hinreichende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt ist, wenn die gewählten Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und auch erforderlich sind und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit, d. h. der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, noch gewahrt wird (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12.02.1986 – 1 BvR 1770/83 –, juris Rn. 18, vom 15.12.1987 – 1 BvR 563/85 –, juris Rn. 90 und vom 11.02.1992 – 1 BvR 1531/90 –, juris Rn. 59; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.04.2020 – 1 S 925/20 –, juris Rn. 44 f.).35 2.4.1.1. Die Festsetzung der Sperrzeit auf 23.00 Uhr für das Gebiet des Stadtkreises Karlsruhe in Nummer 2 der Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 dient einem legitimen Zweck. Der Antragsgegner verfolgt mit der Maßnahme das Ziel, die Pandemie des Virus SARS-CoV-2 zum Schutze der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu bekämpfen sowie eine Überlastung des Gesundheitsversorgungssystems durch einen zu hohen gleichzeitigen Anstieg von Patienten mit gleichem Behandlungsbedarf zu vermeiden. Dies ist ein legitimes Ziel (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 26), welches die Antragstellerin auch nicht in Frage stellt.36 2.4.1.2. Das Betriebsverbot für gastronomische Einrichtungen in der Zeit von 23.00 Uhr bis 06.00 Uhr ist geeignet, einen Beitrag zur effektiven Eindämmung der Weiterverbreitung des Coronavirus zu leisten, weil es die Kontaktmöglichkeiten in den gastronomischen Einrichtungen während dieses Zeitraums beschränkt. Dabei ist eine voraussichtlich vollständige Zweckerreichung regelmäßig nicht erforderlich. Vielmehr kommt es darauf an, dass die zu treffende Maßnahme ein „Schritt in der richtigen Richtung“ ist (Rachor/Graulich in Lisken/Denniger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, E. Rn. 159). Der Antragsgegner hat in der Begründung nachvollziehbar ausgeführt, dass hinsichtlich der Neuinfektionen keine schwerpunktmäßige Betroffenheit einzelner Einrichtungen bzw. abgrenzbarer Lebensbereiche mehr erkennbar sei. Es bestehe daher Anlass, die Zusammenkünfte von vielen Menschen grundsätzlich zu beschränken. Dies sei unter anderem durch die verfügte Einschränkung der Betriebszeit von gastronomischen Betrieben möglich, da damit die Zahl der Kontakte zwischen Personen und damit auch das Risiko einer Ansteckung vermindert werden könne. Die Einführung einer Sperrstunde für Gaststätten ab 23.00 Uhr diene insbesondere dazu, dem nächtlichen Ausgehverhalten der Bevölkerung ein steuerbares zeitliches Ende zu setzen.37 Die Sperrzeit vermindert die Ansteckungsgefahr bereits dadurch, dass sich wechselnde Gäste oder Gästegruppen ab einer bestimmten Zeit nicht mehr in den Einrichtungen einfinden. Die Sperrstunde reduziert überdies Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu gastronomischen Einrichtungen. Zusätzlich trägt sie durch die Reduzierung der Gästezahlen dazu bei, dass die Gefahr eines Eintrags der Infektion in das weitere berufliche und private Umfeld der (ausbleibenden) Gäste reduziert wird. Angesichts der derzeit bekannten Übertragungswege des Virus COVID-19 ist die Sperrzeit eine Maßnahme, die eine Einschränkung möglicher Übertragungen zur Folge hat.38 Der Hauptübertragungsweg für SARS-CoV-2 ist die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Dabei wird zwischen größeren Tröpfchen und kleineren Aerosolen unterschieden. Während insbesondere größere respiratorische Partikel schnell zu Boden sinken, können Aerosole auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen (RKI, SARS-CoV-2, Steckbrief zur Corona Krankheit 2019 (COVID-19), Stand 16.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges _Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2). Die Aerosolausscheidung steigt bei lautem Sprechen, Singen oder Lachen stark an. In Innenräumen steigt hierdurch das Risiko einer Übertragung deutlich, auch über einen größeren Abstand als 1,5 m (RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 26.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung. html). Nach den Empfehlungen des RKI bleiben daher intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Um Infektionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich so weit wie möglich zu vermeiden, ist eine Intensivierung der gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen nötig (RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 26.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html [Abruf am: 30.10.2020]). Dem trägt die festgesetzte Sperrzeit Rechnung, indem sie – neben vielen weiteren Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus SARS-CoV-2, welche auf andere Lebensbereiche abzielen und in deren Zusammenschau die Regelung zu sehen ist – einen weiteren gesellschaftlichen Bereich erfasst, bei dem die Gelegenheit zur Übertragung des Virus eingeschränkt wird (so auch VG Freiburg, Beschluss vom 26.10.2020 – 5 K 3359/20 –).39 Im Übrigen trifft es zwar zu, dass sich das Infektionsrisiko in gastronomischen Einrichtungen, deren Gästezahl bereits durch die Regelungen der derzeit geltenden Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung) des Landes Baden-Württemberg vom 23.06.2020 in der ab 19. Oktober 2020 gültigen Fassung (vgl. § 4) beschränkt wird, nach 23.00 Uhr nicht anders darstellt als zuvor. Das ändert, wie ausgeführt, aber nichts daran, dass die Sperrstunde für die Zeit danach einen Beitrag zur Kontaktreduzierung leistet. Der Hinweis der Antragstellerin, bei einer verlängerten Sperrstunde würde lediglich eine Verlagerung hin zu privaten Feiern stattfinden, die nach den Feststellungen des RKI ganz maßgeblich für die steigenden Infektionszahlen ursächlich seien, stellt die Geeignetheit der Verlängerung der Sperrzeit nicht in Frage. Dabei ist zunächst darauf zu verweisen, dass nach der Corona-Verordnung sowohl Ansammlungen (§ 9 Abs. 1) als auch private Veranstaltungen (§ 10 Abs. 3 Nr. 1) von mehr als zehn Personen ohnehin verboten sind. Auch insoweit mag es zu Verstößen kommen. Dass die befürchtete Verlagerung aber zumindest annähernd im gleichen Umfang stattfinden sollte, ist nicht anzunehmen (OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2020 – 13 B 1581/20.NE –, juris Rn. 54). Angesichts der Tatsache, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass bei einer Sperrstunde um 23.00 Uhr sämtliche Gäste privat weiter feiern, kommt es aber durch die angegriffene Sperrzeitverlängerung jedenfalls zu einer Reduzierung der Kontakte bzw. Kontaktdauer.40 2.4.1.3. Die Sperrzeitverlängerung ist aller Voraussicht nach auch erforderlich. Das setzt voraus, dass keine andere, die Rechte des Betroffenen schonendere Maßnahme, kein milderes Mittel, in Betracht kommt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.10.2020 – 1 S 2871/20 –, juris Rn. 41; Rachor/Graulich in Lisken/Denniger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, E. Rn. 164). Verfassungsrechtlich geboten ist die Anwendung eines milderen Mittels aber nur bei dessen voraussichtlich gleicher Eignung für die Erreichung des angestrebten Zwecks (Rachor/Graulich, in Lisken/Denniger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, E. Rn. 165). Ein solches, gleich geeignetes milderes Mittel ist hier bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht ersichtlich. Sofern nach § 5 Corona-Verordnung bereits Hygienekonzepte als mildere Mittel vorgeschrieben sind, von der Antragstellerin umgesetzt und auch als wirksame Maßnahme erachtet werden (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 42), sind solche Regelungen jedenfalls nicht gleichermaßen geeignet, eine Ansteckungswahrscheinlichkeit zu verringern (a.A. aber VG Berlin, Beschluss vom 15.10.2020 – 14 L 422/20 –, juris Rn. 20).41 2.4.1.4. Nach Einschätzung der Kammer ist die Sperrzeitverlängerung auch angemessen, d.h. verhältnismäßig im engeren Sinne. Eingriffszweck und Eingriffsintensität stehen in einem angemessenen Verhältnis zueinander (vgl. allgemein VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 32). Das gilt auch in Ansehung des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Antragstellerin, der diese in Anbetracht des hinter der Bezeichnung als Cocktail-Bar mutmaßlich stehenden Konzepts schwerer treffen wird als andere vergleichbare Einrichtungen. Dem erheblichen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit steht jedoch ein nach Auffassung der Kammer noch gewichtigeres Allgemeininteresse entgegen. Die Antragstellerin stellt selbst nicht in Abrede, dass ein erhebliches öffentliches Interesse an der Bekämpfung der COVID-19 Pandemie besteht. Die durch das SARS-CoV-2 ausgelöste Erkrankung COVID-19 kann in Einzelfällen einen schweren, bis hin zum Tode führenden Verlauf nehmen und im Falle einer weiten, schlimmstenfalls exponentiellen Verbreitung zu einer Hospitalisierung einer Vielzahl von Personen und damit einhergehend zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.09.2020 – 1 S 2831/20 –, juris Rn. 16 m.w.N.). Die Gefahr eines exponentiellen Wachstums wird auch anhand des täglichen Lageberichts des RKI zur Corona-Virus-Krankheit-2019 vom 29.10.2020 deutlich (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-29-de.pdf?__blob=publicationFile, Abruf am 30.10.2020). Daraus ergibt sich, dass in diesem Zeitraum die 7-Tage-Inzidenz deutschlandweit auf 99 Fälle pro 100.000 Einwohnern gestiegen ist (Am 23.10.2020 lag sie deutschlandweit noch bei 60,3 Fällen, vgl. täglicher Lagebericht vom 23.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-23-de.pdf?__blob=publicationFile). In Baden-Württemberg ist nach dieser Quelle diese Inzidenz von 61,3 Fälle (am 23.10.2020) auf 95,9 Fälle pro 100.000 Einwohner (am 29.10.2020) gestiegen. Auch im Stadtkreis Karlsruhe stieg die 7-Tage-Inzidenz nach den Angaben des Antragsgegners von 55,4 am 23.10.2020 auf 102,2 am 29.10.2020.42 Die steigenden Infektionszahlen gaben und geben mithin Anlass, über die bereits bestehenden Einschränkungen hinaus weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus SARS-CoV-2 in Form der streitgegenständlichen Sperrstundenfestsetzung zu ergreifen. Aufgrund des vom Antragsgegner in der Begründung zur Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 zutreffend beschriebenen zunehmend diffusen Ausbreitungsgeschehens bedeutet dies, neben den bisher als hauptsächlich angeführten Infektionsquellen wie privaten Feiern oder Altenheimen auch Maßnahmen in weiteren Lebensbereichen zu ergreifen, um Zusammenkünfte von vielen Menschen generell zu beschränken. Durch das rechtzeitige Einführen örtlicher Beschränkungen soll ein Übergreifen der Infektionsdynamik auf ganz Deutschland und damit die Wiedereinführung deutsch-landweiter und umfassender Beschränkungen verhindert werden.43 Hinzukommt, dass der Betrieb der Antragstellerin – anders als die Beherbergungsbetriebe in der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 15.10.2020 (– 1 S 3156/20 – juris) – von seinem Typ auf Kontaktaufnahme gerichtet ist. Anders als in Beherbergungsbetrieben, in denen die Gäste in abgeschlossenen Räumlichkeiten gegebenenfalls mit einer überschaubaren Personenanzahl übernachten und deren Kontaktdaten hinterlegt sind (juris Rn. 44), dient der Betrieb einer Gaststätte in den Abendstunden ab 23.00 Uhr typischerweise nicht mehr der Einnahme von Mahlzeiten, sondern der Geselligkeit.44 Hinzukommt ferner, dass die Verlängerung der Sperrzeit Teil eines Bündels von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist. So wird zusätzlich der Ausschank, Verkauf und die Abgabe von alkoholischen Getränken zum alsbaldigen Verzehr über die Straße („Gassenschank“) in der Zeit von 22.00 Uhr bis 06.00 Uhr verboten (Ziff. 3 der angefochtenen Allgemeinverfügung). Dies dient ausweislich der Begründung der angefochtenen Allgemeinverfügung auch dazu, ein Ausweichverhalten der betroffenen Kundenkreise ab der Sperrstunde in den öffentlichen Raum zu verhindern. Des Weiteren wird eine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in der Karlsruher Innenstadt auf öffentlichen Straßen und Wegen und Plätzen sowie in öffentlichen Grünanlagen sowie auf Wochenmärkten und beim Besuch von Messen angeordnet.45 Des Weiteren dürfen die durch die Corona-Verordnung eingeführten Beschränkungen nicht unberücksichtigt bleiben. Wie oben angesprochen werden in dieser private Ansammlungen und Versammlungen zahlenmäßig beschränkt. Auch wurden die Situationen, in denen eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden muss, zuletzt erheblich ausgeweitet (vgl. § 3 Corona-Verordnung). Der Betrieb von Clubs und Diskotheken bleibt verboten (§ 13 Nr. 1 Corona-Verordnung). Dasselbe gilt für Tanzveranstaltungen mit Ausnahme von Tanzaufführungen sowie Tanzunterricht und -proben (§ 10 Abs. 5 Corona-Verordnung).46 Insgesamt ist nach Auffassung der Kammer ein hinreichend systematisches Vorgehen zu erkennen, bei dem für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen weiterhin möglichst offengehalten werden sollen. Insoweit werden Schutz- und Hygieneanforderungen gestellt. Im Übrigen ist das Bestreben einer weitgehenden Kontaktreduzierung ersichtlich.47 Abschließend ist darauf zu verweisen, dass die Allgemeinverfügung auf den 20.11.2020 zeitlich befristet ist und zudem bei Unterschreiten der 7-Tage-Inzidenz von 50 automatisch außer Kraft tritt.48 2.4.2. Auch das Ausschank- (Nr. 2) und Alkoholverkaufsverbot (Nr. 3) erweist sich aus Sicht der Kammer als verhältnismäßig.49 2.4.2.1. Beides dient ebenfalls einem legitimen Zweck. Der Antragsgegner verfolgt mit dieser Maßnahme ebenfalls das Ziel, die Pandemie des Virus SARS-CoV-2 zum Schutze der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu bekämpfen sowie eine Überlastung des Gesundheitsversorgungssystems durch einen zu hohen gleichzeitigen Anstieg von Patienten mit gleichem Behandlungsbedarf zu vermeiden. Dies ist ein legitimes Ziel (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 26), welches die Antragstellerin ebenfalls nicht in Frage stellt.50 2.4.2.2. Beides ist auch geeignet, das Infektionsrisiko zu reduzieren. Alkoholkonsum kann im Einzelfall aufgrund seiner enthemmenden Wirkung zu im Hinblick auf den Infektionsschutz problematischen Verhaltensweisen (Schreien, lautes Reden, geringere Distanz zwischen Einzelpersonen etc.) im Rahmen einer Ansammlung führen. Daher trägt das Alkoholverkaufsverbot ab 22.00 Uhr sowohl im Rahmen der Gastronomie als auch ausgehend von allen übrigen Verkaufsstellen dazu bei, eine alkoholbedingte Enthemmung und eine fortgesetzte Nichtbeachtung der Hygiene und Infektionsschutzregeln zu verhindern. Die enthemmende Wirkung von Alkohol erscheint ohne Weiteres dazu angetan, die Wirksamkeit der zur Kontaktbeschränkung und zur Einhaltung von Mindestabständen im öffentlichen Raum erlassenen Regelungen (vgl. § 1 Abs. 2 und 3, § 2 Abs. 1 Corona-Verordnung) negativ zu beeinflussen. Dass die diesbezüglichen Vorgaben bei alkoholbedingter Enthemmung zwar nicht notwendigerweise vorsätzlich missachtet, aber schlicht vergessen werden können, dürfte nicht zweifelhaft sein. Im Übrigen dürfte auch davon auszugehen sein, dass die Bereitschaft zur Einhaltung hygienerechtlicher Schutzvorschriften in einer auch alkoholbedingt enthemmten Grundstimmung generell sinkt (OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2020 – 13 B 1581/20 NE –, juris Rn. 55). Der Antragsgegner hat in der Begründung der Allgemeinverfügung nachvollziehbar ausgeführt, dass Beobachtungen in der Vergangenheit gezeigt haben, dass die geltenden Maßgaben der Corona-Verordnung vor allem zu fortgeschrittener Stunde und mit fortschreitendem Alkoholkonsum missachtet wurden. Insbesondere vor dem Hintergrund der Sperrstunde ab 23.00 erscheint es der Kammer nachvollziehbar, dass das Alkoholverkaufsverbot weiter dazu dient, die kontaktbeschränkenden Wirkungen der Sperrzeit zu unterstützen und fortzuführen. Denn wenn ab 23.00 Uhr sämtliche Gastronomiebetriebe endgültig schließen müssen, ist davon auszugehen, dass insbesondere in diesen Betrieben in der letzten Stunde vermehrt Alkohol konsumiert werden würde, um dem Verkaufsverbot sozusagen vorzugreifen und soweit es nach der Sperrzeit weiterhin an anderen Verkaufsstellen noch Alkohol verfügbar wäre, so wäre davon auszugehen, dass sich ab diesem Zeitpunkt, alkoholisierte Gruppen im öffentlichen Raum ansammeln, was dem Ziel der Sperrzeit, die Kontakte zu beschränken, gerade widersprechen würde.51 2.4.2.3 Beide Verbote sind aller Voraussicht nach auch erforderlich. Ein milderes Mittel bei dessen voraussichtlich gleicher Eignung für die Erreichung des angestrebten Zwecks ist hier bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht ersichtlich (so auch VG Berlin, Beschluss vom 15.10.2020 – 14 L 422/20 –, juris Rn. 20). Sofern nach § 5 Corona-Verordnung bereits Hygienekonzepte als mildere Mittel vorgeschrieben sind, von der Antragstellerin umgesetzt und auch als wirksame Maßnahme erachtet werden (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 42), sind solche Regelungen jedenfalls nicht gleichermaßen geeignet, eine Ansteckungswahrscheinlichkeit zu verringern. Denn wie der Antragsgegner zutreffend in seiner Begründung der Allgemeinverfügung ausführt, führt eine steigende Alkoholisierung gerade dazu, dass sich einzelne Personen oder Gruppen weniger an entsprechende Hygienevorschriften halten. Eine weitere allgemeine alleinige Sperrzeitverkürzung der Gastronomie auf 22.00 Uhr wäre dagegen für den Antragsteller belastender (Bayerischer VGH, Beschluss vom 19.06.2020 – 20 NE 20.1127 –, juris Rn. 40 ff.). Ebenso sind auch hinsichtlich des zeitlich beschränkten Verbots des Verkaufs alkoholischer Getränke, gleich geeignete, den Adressatenkreis des Verbots weniger belastende Maßnahmen nicht ersichtlich. Insbesondere stellte eine strengere Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung der Vorgaben der Corona-Verordnung durch die Polizei- und Ordnungsbehörden schon mit Blick darauf, was insoweit angesichts der zwangsläufig begrenzten personellen Ressourcen vernünftigerweise erwartbar ist, keine gleichwertige Alternative dar (so auch OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2020 – 13 B 1581/20 NE –, juris Rn. 64). Eine Beschränkung der Verbote auf bestimmten Alkohol wäre im vorliegenden Fall auch kein milderes Mittel, da eine Alkoholisierung und die daraus folgende sinkende Bereitschaft, sich an Hygienevorschriften zu halten, nicht an eine bestimmte Sorte Alkohol geknüpft ist, sondern von jedweder Sorte ausgehen kann.52 2.4.2.4. Die fraglichen Maßnahmen sind auch angemessen, d.h. verhältnismäßig im engeren Sinne. Eingriffszweck und Eingriffsintensität stehen auch hier in einem angemessenen Verhältnis zueinander (vgl. allgemein VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 32). Das gilt auch in Ansehung des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Antragstellerin. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass jedenfalls das Ausschankverbot ab 22.00 Uhr – für den Straßenschank ist eine vergleichbare Betroffenheit nicht näher geltend gemacht und auch sonst nicht zu erkennen – einen immerhin gewichtigen Eingriff darstellen dürfte. Diesem steht jedoch ein nach Auffassung der Kammer noch gewichtigeres Allgemeininteresse entgegen. Die steigenden Infektionszahlen (vgl. zu den konkreten Zahlen insofern unter 2.4.1.4.) gaben und geben Anlass, über die bereits bestehenden Einschränkungen hinaus weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus SARS-CoV-2 in Form des streitgegenständlichen Alkoholabgabeverbots zu ergreifen. Aufgrund des vom Antragsgegner in der Begründung zur Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 zutreffend beschriebenen zunehmend diffusen Ausbreitungsgeschehens bedeutet dies, neben den bisher als hauptsächlich angeführten Infektionsquellen wie privaten Feiern oder Altenheimen auch Maßnahmen in weiteren Lebensbereichen zu ergreifen, um Zusammenkünfte von vielen Menschen generell zu beschränken.53 Den Umfang der durch die Verbote verursachten Umsatzeinbußen hat die Antragstellerin nicht mitgeteilt; schon deswegen kann nicht davon ausgegangen werden, dass das zeitlich beschränkte und bis zum 20.11.2020 befristete Verbot für sich genommen ihren Betrieb existenziell bedroht. Angesichts dessen überwiegen die dargestellten öffentlichen Interessen an der Unterbindung weiterer Infektionen und der damit verbundenen Gefahren für die Gesundheit und das Leben einzelner Personen und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems die finanziellen Interessen der Antragstellerin (vgl. hierzu ausführlich unter 2.4.1.4.).54 Ferner ist zu bedenken, dass die fraglichen Maßnahmen Teil eines Bündels von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind, welche insgesamt ausweislich der Begründung der angefochtenen Allgemeinverfügung auch gerade dazu dienen, ein Ausweichverhalten der betroffenen Kundenkreise ab der Sperrstunde in den öffentlichen Raum zu verhindern. Des Weiteren dürfen die durch die Corona-Verordnung eingeführten Beschränkungen auch beim Alkoholverbot nicht unberücksichtigt bleiben. Wie oben angesprochen werden in dieser private Ansammlungen und Versammlungen zahlenmäßig beschränkt. Auch wurden die Situationen, in denen eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden muss, zuletzt erheblich ausgeweitet (vgl. § 3 Corona-Verordnung). Der Betrieb von Clubs und Diskotheken bleibt völlig verboten (§ 13 Nr. 1 Corona-Verordnung). Dasselbe gilt für Tanzveranstaltungen mit Ausnahme von Tanzaufführungen sowie Tanzunterricht und -proben (§ 10 Abs. 5 Corona-Verordnung).55 Insgesamt ist nach Auffassung der Kammer auch hinsichtlich des Alkoholverkaufsverbots ab 22.00 Uhr ein hinreichend systematisches Vorgehen zu erkennen, bei dem die für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen weiterhin möglichst offengehalten werden sollen und gleichzeitig eine weitgehende Kontaktreduzierung umgesetzt werden kann.56 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.57 B E S C H L U S S58 Der Streitwert wird gemäß § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG (in Anlehnung an Ziffer 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der zuletzt am 18.07.2013 beschlossenen Änderungen) auf 5.000 EUR festgesetzt. Da die angegriffene Regelung spätestens mit Ablauf des 20. November 2020 außer Kraft tritt, voraussichtlich aber durch die ab dem 02.11.2020 geltende komplette Schließung aller Gastronomiebetriebe für die Dauer des Monats November keine Wirkung mehr auf die Antragstellerin haben wird, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2020 – 13 B 1581/20.NE –, juris Rn. 71; VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.10.2020 – 1 K 4274/20 –). | {
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Tenor
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 25.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
A.
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen den Ausschluss aus der Fraktion der Freien Demokratischen Partei (FDP) im Landtag Rheinland-Pfalz.
I.
2
Die Antragstellerin ist Mitglied der FDP und seit Beginn der 17. Legislaturperiode Abgeordnete im Landtag Rheinland-Pfalz. Sie gehörte der antragsgegnerischen Fraktion an, die ursprünglich – mit ihr – sieben Mitglieder hatte und die gemeinsam mit den Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Landesregierung trägt.
3
In der Satzung der Antragsgegnerin heißt es (u.a.) wie folgt:
„§ 3 Mitgliedschaft
(1) […]
(2) […]
(3) […]
(4) Die Mitgliedschaft endet
1. […]
2. durch Ausschluss,
3. […]
4. […]
(5) Über den Ausschluss eines Fraktionsmitglieds entscheidet die Fraktionsversammlung. Der Ausschluss ist nur aus wichtigem Grund zulässig. Der Antrag auf Ausschluss muss mindestens von einem Viertel der Fraktionsmitglieder unterstützt werden. Die Fraktionsversammlung kann die Einleitung mit Mehrheit ablehnen. Über den Antrag auf Ausschluss eines Fraktionsmitglieds entscheidet die Fraktionsversammlung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Fraktionsmitglieder in geheimer Abstimmung. Die Beschlussfassung ist nur zulässig, wenn Antrag, Anhörung und Abstimmung auf den jeweiligen Tagesordnungen stehen. Zwischen dem Antrag und dem Termin zur Anhörung sowie zwischen dem Termin zur Anhörung und der Abstimmung müssen jeweils mindestens sieben Tage liegen.“
4
Am 23. Oktober 2019 äußerte sich die Antragstellerin als Rednerin der Fraktion in einer Plenardebatte zur Besprechung einer Großen Anfrage zum Thema „Regulierungsmethoden des Unterrichtsausfalls“ in Bezug auf Unterrichtsausfall bzw. Unterrichtsversorgung u.a. wie folgt: „Eine Lösung wäre […], den strukturellen Ausfall so gering wie möglich zu machen. 105 %, das wäre die Idealvorstellung; denn das wirkt sich auch auf den temporären Ausfall aus.“ In dem dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Antragsgegnerin vorab übermittelten Redemanuskript fand sich diese Aussage nicht. Im Wahlprogramm der FDP zur Landtagswahl 2016 heißt es: „Die FDP setzt sich dafür ein, dass an allen Schularten eine 100%ige Lehrerversorgung sichergestellt wird: […] Deshalb ist bei der Besetzung von Stellen eine 100%ige Versorgung aller Schulen schon im Planungsansatz für kommende Schuljahre sicherzustellen. […] Da Ausfälle […] eintreten, wird es auch in Zukunft erst bei einer Stellenzuweisung von 105 % zu einer optimalen Versorgung kommen, was längerfristig angestrebt werden muss.“ Im Koalitionsvertrag 2016 - 2021 heißt es: „Wir wollen die Unterrichtsversorgung weiter verbessern und streben eine 100-prozentige Versorgung an.“ Im Anschluss an die Plenardebatte forderte die Vorsitzende der Antragsgegnerin die Antragstellerin auf, bei ihren parlamentarischen Redebeiträgen zukünftig zu beachten, dass sie für die Fraktion spreche und daher politische Forderungen zuvor in der Fraktionsversammlung zu beraten seien.
5
Für die Plenarsitzung am 13. November 2019 hatte die Antragsgegnerin festgelegt, dass ihre Vorsitzende und nicht die Antragstellerin in der auf Antrag der CDU-Fraktion angesetzten Aktuellen Debatte zum Thema „Eltern, Lehrer und Verbände bestätigen Kritik der CDU-Fraktion an der Bildungspolitik der Landesregierung“ sprechen sollte. Die Vorsitzende führte in ihrer Rede u.a. aus: „Wir haben zu Beginn der Legislaturperiode gesagt, dass wir eine 100 %ige Unterrichtsversorgung herstellen wollen. Heute […] kann ich sehr selbstbewusst sagen, wir sind kurz davor, unser selbstgestecktes Ziel zu erreichen. Der bildungspolitische Meilenstein 100 % ist in greifbarer Nähe […].“In einem Zeitungsbericht vom nächsten Tag heißt es: „Aufschlussreich war das Verhalten A.‘s bei den Wortbeiträgen der eigenen Leute. Sie klatschte weder bei der Rede der Bildungsministerin noch bei der eigenen Fraktionschefin.“ In demselben Zeitungsbericht heißt es zuvor: „Es wurde viel geredet über … A. in den vergangenen Wochen. Die streitbare FDP-Abgeordnete war bei einer Landtagsdebatte […] aus der Reihe getanzt und hatte es tatsächlich gewagt, 105 Prozent Unterrichtsversorgung […] zu fordern.“
6
In der Sitzung des Ausschusses für Gleichstellung und Frauenförderung am 23. Januar 2020 lenkte die Antragstellerin zum Tagesordnungspunkt „Schutz von Mädchen vor sexueller Gewalt“ den Blick auf die interne Situation in der Schule und auf sexuelle Gewalt, die von Lehrern ausgehe und Schüler betreffe. Wörtlich – so in einem Pressebericht am folgenden Tag wiedergegeben – sagte sie: „Wir haben an unseren Schulen selten, aber immer wieder Probleme mit Lehrern, in erster Linie sind es Männer, die ihre Finger nicht bei sich behalten können. Ich weiß, wovon ich spreche.“ Sie führte weiter aus, sie habe die Erfahrung gemacht, dass vonseiten der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), die letztendlich als Dienstherr verantwortlich sei, lange gezögert werde, Kollegen aus dem Schuldienst zu entfernen. Das passiere in den allerseltensten Fällen. Oftmals fänden Versetzungen an andere Schulstandorte statt, die aber nach einer gewissen Zeit der „Bewährung“ wieder in die Region, in der der Betreffende wohne, zurückführten. Nach dem Beamtenrecht bestünde wenig Spielraum, entsprechende Kollegen aus dem Schuldienst zu entfernen. Wünschenswert wäre, dass dort wirklich genauer hingeschaut werde. Auf Nachfrage eines anderen Abgeordneten bestätigte die Antragstellerin, dass es um sexuelle Gewalt und nicht um das Verhältnis eines Lehrers mit einer Schülerin oder einem Schüler gehe. An das Ministerium für Bildung richtete sie die Bitte, sich noch einmal das Beamtenrecht genau anzuschauen. Weiter führte sie aus, im Ministerium bestünden sicherlich bezüglich der geschilderten Fälle auch interne Daten. Es stellten sich die Fragen, was aus diesen Kolleginnen und Kollegen geworden sei, wer von diesen Lehrern noch im Schuldienst und „was im Laufe der Biografie dieser Persönlichkeiten passiert“ sei. Über die Äußerungen der Antragstellerin wurde in der Presse berichtet. So heißt es in einem Zeitungsartikel vom folgenden Tag: „Lehrer, die minderjährige Schülerinnen sexuell belästigt haben, wurden in Rheinland-Pfalz nicht aus dem Schuldienst entfernt, sondern lediglich versetzt – diesen Vorwurf hat die bildungspolitische Sprecherin der FDP, … A., im Landtagsausschuss für Gleichstellung und Frauenförderung erhoben.“
7
Am Abend desselben Tages kontaktierte der Abgeordnete B., der Parlamentarischer Geschäftsführer der Antragsgegnerin ist, die Antragstellerin telefonisch und konfrontierte sie mit ihrem Verhalten in der Ausschusssitzung, das er missbilligte. Die Einzelheiten des Gesprächs sind zwischen den Beteiligten streitig. Die Antragstellerin führt diesbezüglich an, nach ihrer Erinnerung habe der Parlamentarische Geschäftsführer ihr vorgeworfen, sie wolle sich nur profilieren und es gehe ihr nur um sie, woraufhin sie entgegnet habe, er solle „vor seiner eigenen Haustür kehren“, da er doch wisse, dass seine Lebensgefährtin als Mitarbeiterin seines Abgeordnetenbüros unter Vertrag sei, und dass er auch wisse, dass dies nicht erlaubt sei. Die Antragsgegnerin macht demgegenüber geltend, die Antragstellerin habe gedroht, Aufzeichnungen über das Privatleben des Parlamentarischen Geschäftsführers angefertigt zu haben und öffentlich zu machen. Außerdem habe die Antragstellerin erklärt, dass ihr „die FDP-Fraktion und die Koalition egal seien“ und dass sie „uneingeschränkt für ihre Interessen eintreten werde“.
8
Am 29. Januar 2020 fand eine Fraktionssitzung statt. In dieser wurde (u.a.) die Äußerung der Antragstellerin in der Ausschusssitzung am 23. Januar 2020 thematisiert. In diesem Zusammenhang sprach die Fraktionsvorsitzende auch zwei Presseberichte dazu an. Die am gleichen Tage stattgefundene Plenarsitzung verließ die Antragstellerin vorzeitig, als noch mehrere Gesetze zur Abstimmung anstanden. Dabei meldete sie sich nicht bei der Fraktionsvorsitzenden oder dem Parlamentarischen Geschäftsführer ab.
9
Unter dem 30. Januar 2020 beantragten die übrigen sechs Fraktionsmitglieder unter Darlegung und Bewertung der Geschehnisse den Ausschluss der Antragstellerin aus der Fraktion und die unverzügliche Einberufung einer Fraktionsversammlung unter Aufnahme dieses Tagesordnungspunktes (vgl. Anlage 6 zum Schriftsatz der Antragstellerin vom 15. Juli 2020, Bl. 101 bis 108 d. GA). Das Vertrauensverhältnis zur Antragstellerin sei so nachhaltig gestört, dass die weitere Zusammenarbeit mit ihr nicht mehr zumutbar sei. Darüber hinaus habe sie das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit nachhaltig geschädigt und damit die Außenwirkung der Fraktion und deren Wirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. In Bezug auf die Sitzung des Ausschusses für Gleichstellung und Frauenförderung am 23. Januar 2020 seien die fraglichen Äußerungen ohne vorherige Erörterung in der Fraktionsversammlung am Vortag – in dieser Sitzung sei auch der Staatssekretär des Ministeriums für Bildung anwesend gewesen – erfolgt und dies obwohl die Antragstellerin zuvor mehrmals ausdrücklich darauf hingewiesen worden sei, dass sie sich als Mitglied der Fraktion in parlamentarischen Äußerungen für die Fraktion erkläre und entsprechende Äußerungen in der Fraktionsversammlung zu besprechen seien. Die Äußerungen und die erfolgte und aufgrund der Brisanz des Themas vorhersehbare Presseresonanz sei geeignet, Lehrer unter einen Generalverdacht zu stellen und zu erheblicher Verunsicherung bei Eltern und Schülern zu führen. Es werde der Verdacht zum Ausdruck gebracht, die von der Fraktion gestützte Landesregierung reagiere auf Fälle sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen nicht adäquat. Schon dieses Verhalten sorge für einen endgültigen Vertrauensverlust. Weiter ist in diesem Zusammenhang folgende Passage enthalten:
10
„Besonders gravierend stellt sich auch ihr Verhalten gegenüber dem unterzeichnenden Abgeordneten B. am Tag der oben genannten Ausschusssitzung dar. Am Abend des 23.01.2020 kontaktierte der Abgeordnete B. die Abgeordnete A. telefonisch und brachte seine Missbilligung darüber zum Ausdruck, dass sie die von ihr getätigten Äußerungen zuvor nicht zum Gegenstand einer Fraktionsversammlung gemacht habe. Auf den entsprechenden Hinweis des Abgeordneten B., dass dieses Verhalten nicht ohne Konsequenzen innerhalb der FDP-Fraktion bleiben werde, erklärte die Abgeordnete A., dass sie Aufzeichnungen über das Privatleben des Abgeordneten B. gefertigt habe und diese öffentlich machen werde, wenn sie aufgrund ihrer Äußerungen durch die Fraktion in irgendeiner nachteiligen Weise behandelt werde. Auch erklärte sie in diesem Telefonat, dass ihr die FDP-Fraktion und die Koalition egal seien und sie uneingeschränkt für ihre Interessen eintreten werde.“
11
Diese „persönlich motivierte Drohung“ gegenüber dem Abgeordneten B. sei „völlig infam“. In der Fraktionsversammlung am 29. Januar 2020 habe die Antragstellerin eine angemessene Vorbereitung der von der CDU-Fraktion beantragten Sondersitzung des Ausschusses für Bildung und eine gemeinsame Strategie für den Umgang mit den im Raum stehenden Vorwürfen nicht ermöglicht. Mit ihrer Äußerung zur Unterrichtsversorgung in der Plenarsitzung am 23. Oktober 2019 habe sie im Alleingang und ohne politische Abstimmung mit der Fraktion die erzielten Verhandlungs- und Umsetzungserfolge nicht konkret erwähnt und gleichzeitig öffentlich im Parlament eine politische Forderung von erheblicher finanzieller Tragweite erhoben. Durch die vorherige Übersendung des Redemanuskripts, das eine Würdigung der erzielten Erfolge enthalten und die im Parlament geäußerte weitreichende politische Forderung nicht beinhaltet habe, fühlten sich die Fraktionsmitglieder in einer Frage von erheblicher politischer Bedeutung getäuscht und hintergangen. Das Verhalten der Antragstellerin in der Plenarsitzung am 13. November 2019 habe unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie sich von der Fraktion distanziert habe. Die Plenarsitzung am 29. Januar 2020 habe die Antragstellerin unentschuldigt verlassen, als noch Abstimmungen zu Gesetzen stattgefunden hätten – u.a. zum Gesetzentwurf der regierungstragenden Fraktionen zum Landesverfassungsschutzgesetz, das für eine liberale Fraktion von besonderer politischer Bedeutung sei. Diese Sachverhalte seien teilweise Gegenstand umfangreicher Presseberichterstattung gewesen, die das legitime Interesse der Fraktion an einem einheitlichen Erscheinungsbild und damit an einem wirkungsmächtigen Auftreten der Fraktion in Parlament und Öffentlichkeit erheblich beeinträchtige. So habe eine Lehrkraft gegenüber der Fraktionsvorsitzenden und der Presse erklärt, die Äußerungen der Antragstellerin seien „ein Schlag ins Gesicht eines jeden aufrechten Pädagogen“ und die FDP sei nicht mehr wählbar. Die Antragstellerin habe in einem weiteren Pressebericht von „Grapschern“ gesprochen, was für den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen eine nicht akzeptable Wortwahl sei. Die Verhaltensweisen der Antragstellerin zeigten eindeutig, dass sie sich von der Fraktion distanziert habe und zu einer konstruktiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht bereit sei. Trotz einer Vielzahl von Gesprächen bestehe auch keinerlei Aussicht, das über lange Zeit zerstörte Vertrauen wiederherzustellen.
12
Mit anwaltlichem Schreiben vom 3. Februar 2020 forderte die Antragstellerin den Abgeordneten B. im Hinblick auf die oben zitierte Passage zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf. Dieser gab eine solche Erklärung nicht ab, woraufhin die Antragstellerin beim Landgericht … unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellte (Az.: 4 O 25/20). In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 13. Februar 2020 reichte auch der Abgeordnete B. eine eidesstattliche Versicherung zur Akte. Das Landgericht wies den Antrag mit am 18. Februar 2020 verkündeten Urteil zurück. Es sah bereits den Rechtsweg zu den Zivilgerichten nicht eröffnet und wies darauf hin, dass die von der Antragstellerin beanstandete Tatsachenbehauptung nach ihren eigenen Angaben ausschließlich im Rahmen des Fraktionsausschlussverfahrens getätigt worden sei. Zudem hielt das Gericht den Antrag wegen der verfassungsrechtlich gewährleisteten Indemnität des Abgeordneten für unzulässig. In jedem Fall sei der Antrag im Hinblick auf die widersprüchlichen Angaben der Parteien und der fehlenden weiteren Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung unbegründet.
13
Am 3. Februar 2020 beschloss die Fraktionsversammlung, ein Verfahren zum Ausschluss der Antragstellerin einzuleiten. Mit Schreiben vom 4. Februar 2020 lud die Fraktionsvorsitzende daraufhin für den 11. Februar 2020 zu einer Fraktionsversammlung ein. In der Einladung waren als Tagesordnungspunkt 3 „Durchführung einer Anhörung der Fraktionsmitglieder zum beantragten Ausschluss der Abgeordneten …A. aus der FDP-Fraktion des Landtags Rheinland-Pfalz“ und als Tagesordnungspunkt 4 „Festsetzung eines Termins zur Abstimmung über den beantragten Ausschluss der Abgeordneten … A. aus der FDP-Fraktion des Landtags Rheinland-Pfalz“ aufgeführt.
14
In der Fraktionsversammlung am 11. Februar 2020 äußerte sich die Antragstellerin, nachdem ihr dort vorgebrachter Antrag, Medienvertreter zu der Sitzung zuzulassen, erfolglos geblieben war, unter Hinzuziehung eines Rechtsbeistands zu dem Antrag über ihren Ausschluss. In ihrer Stellungnahme, die sich aus dem Protokoll der Fraktionsversammlung (Anlage 12 zum Schriftsatz der Antragstellerin vom 15. Juli 2020, Bl. 122 bis 131 d. GA) und aus den von der Antragstellerin in ihrer Antragsschrift zitierten schriftlich niedergelegten Ausführungen (vgl. Schriftsatz der Antragstellerin vom 15. Juli 2020, S. 17 bis 20, Bl. 18 bis 21 d. GA) ergibt, äußerte sie sich im Wesentlichen wie folgt: Ihre Aussage zur Lehrerversorgung von 105 % sei keine von ihr erhobene Forderung gewesen, sondern lediglich – unter Verwendung des Konjunktivs „wäre“ – eine „Idealvorstellung“ bzw. „perspektivische Äußerung“. Im Wahlprogramm der FDP sei eine Versorgung mit 105 % als längerfristige Perspektive formuliert. Was ihre Äußerungen zum Thema „sexuelle Gewalt im schulischen Bereich“ im Ausschuss betreffe, so habe sie diese zuvor nicht thematisieren können, weil sie vorher nicht habe wissen können, was dort überhaupt angesprochen werden würde. In der Ausschusssitzung habe der anwesende Referent des Bildungsministeriums erklärt, ihre Schilderungen entsprächen sicher den Tatsachen. Die von ihr angesprochenen Fälle – sie wisse ganz konkret von zweien – seien der ADD bekannt und sie habe diese dem Staatssekretär später nochmals persönlich namentlich benannt. Sie habe eine bloße Bitte um Klärung der Rechtslage geäußert und ihre Frage an das Ministerium spontan gestellt. Wenn sie in der Plenarsitzung am 13. November 2019 die Reden der Bildungsministerin und der Fraktionsvorsitzenden nicht mit Applaus bedacht habe, so sei dies damit begründet, dass sie diesen Punkt kritischer sehe. Das Verhalten als Rechtfertigung für den Ausschluss heranzuziehen, sei nicht nachvollziehbar. Dass sie die Plenarsitzung am 29. Januar 2020 vorzeitig verlassen habe, ohne sich abzumelden – was ein Versäumnis darstelle – sei ihrer gesundheitlichen Verfassung geschuldet gewesen, aber nicht Ausdruck einer wie auch immer gearteten politischen Demonstration. Hinsichtlich des Telefonats mit dem Abgeordneten B. am 23. Januar 2020 verwies die Antragstellerin auf das anwaltliche Schreiben im Verfahren vor dem Landgericht. Im Folgenden schloss sich eine umfangreiche Diskussion der Fraktion an. Am Ende dieser äußerte die Antragstellerin, dass man sich nun ausgetauscht habe und ihrerseits keine weiteren Fragen bestünden. Abschließend erklärte sie, dass sie bereit sei, in der Fraktion weiterzuarbeiten, dies allerdings nur „mit anderen, neuen Regeln“ geschehen könne. Die Satzung der Fraktion als Regelwerk für die gemeinsame Arbeit habe in der Vergangenheit nicht funktioniert. Auf Nachfrage, ob die Zusammenarbeit weiterhin über Anwälte stattfinden solle, äußerte sie, ja, dies müsse so sein.
15
Mit Schreiben vom 13. Februar 2020 lud die Fraktionsvorsitzende für den 20. Februar 2020 zu einer Fraktionsversammlung ein. In der Einladung war als Tagesordnungspunkt 4 aufgeführt: „Geheime Abstimmung über den beantragten Ausschluss der Abgeordneten … A. aus der FDP-Fraktion des Landtags Rheinland-Pfalz.“
16
In der Fraktionsversammlung am 20. Februar 2020 waren sämtliche sieben Mitglieder der Fraktion anwesend. Die Antragstellerin nahm unter Begleitung ihres Rechtsbeistands teil. Zum Tagungsordnungspunkt 3 äußerte die Antragstellerin Anmerkungen zum Protokoll der Fraktionsversammlung vom 11. Februar 2020, die sodann besprochen wurden. Unter Tagungsordnungspunkt 4 erfolgte die geheim durchgeführte Abstimmung über den Antrag auf Ausschluss der Antragstellerin, an der sämtliche Mitglieder der Fraktion teilnahmen. Dabei stimmten sechs Mitglieder für und eines gegen den Antrag. Dieses Ergebnis wurde von der Fraktionsvorsitzenden in der Sitzung festgestellt und verkündet, verbunden mit der Aufforderung an die Antragstellerin, den Raum zu verlassen.
II.
17
Die Antragstellerin macht mit ihrer Organklage geltend, der Fraktionsausschluss verstoße gegen ihre organschaftlichen Rechte aus Art. 79 Abs. 2 und Art. 85a Abs. 1 Satz 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –.
18
Dem Fraktionsausschluss sei kein den rechtsstaatlichen Anforderungen genügendes Verfahren vorausgegangen. Es sei zumindest fraglich, ob ihr hinreichend rechtliches Gehör gewährt worden sei. Sie habe zwar ausreichend Gelegenheit gehabt, sich auf den Ausschlussantrag und dessen Begründung vorzubereiten und diesen zu diskutieren; im Rahmen der Anhörung am 11. Februar 2020 habe sie zu den im Ausschlussantrag genannten Gründen mündlich und schriftlich Stellung genommen. Allerdings sei der Antrag ausgehend von ihren Erwiderungen nicht weiter diskutiert worden und mit ihrem Vorbringen hätten sich die übrigen Fraktionsmitglieder nicht auseinandergesetzt. Die Erörterungen seien über die in dem Antrag angeführten Umstände hinaus gegangen, so dass sie dazu nicht mehr habe substantiiert Stellung nehmen können. Der Ablauf der Anhörung habe sich in keiner Weise an der Reihenfolge der Tatsachen, wie sie sich im Antrag ergäben, orientiert. Es seien zum Teil neuerliche Tatsachen vorgebracht worden. Die Diskussion sei teilweise von persönlichen Vorwürfen getragen gewesen und habe keine Bezüge mehr zu einem politischen Meinungsbildungsprozess aufgewiesen. Die Entscheidung über den Ausschluss am 20. Februar 2020 sei ihr nicht ordnungsgemäß bekannt gegeben worden. Ihr sei lediglich das Abstimmungsergebnis mitgeteilt worden. Am 20. Februar 2020 habe keine Debatte mehr stattgefunden. Insgesamt bleibe unklar, wie sich ihre Einlassung in der Sitzung am 11. Februar 2020 und ihr dortiger substantiierter Vortrag ausgewirkt hätten.
19
In der Sache halte der Beschluss über den Fraktionsausschluss einer Evidenz- und Willkürkontrolle nach der am Tage der Beschlussfassung maßgeblichen Sachlage nicht stand. Die Antragsgegnerin habe der Entscheidung über den Fraktionsausschluss evident unzutreffende tatsächliche Annahmen zu Grunde gelegt. Die von der Antragsgegnerin angeführten Ausschlussgründe fänden keinen Ausgangspunkt in einem feststehenden Tatsachenkern. Soweit die Antragsgegnerin meine, das Vertrauensverhältnis sei nachhaltig gestört aufgrund ihrer Äußerungen in der Sitzung des Ausschusses für Gleichstellung und Frauenförderung sowie ihres Verhaltens in diesem Zusammenhang, habe diese der Entscheidung einen unvollständigen bzw. unzutreffenden Sachverhalt zu Grunde gelegt. Insbesondere sei verkannt worden, dass sie vor der Ausschusssitzung noch gar nicht habe wissen können, was dort konkret thematisiert werden würde. Sie habe dort spontan von ihren Erfahrungen als Schulleiterin berichtet. Nicht angeführt werde seitens der Antragsgegnerin, dass der Referent des Bildungsministeriums angemerkt habe, ihre Schilderungen entsprächen „sicher den Tatsachen“. Sie habe mit ihrer Bitte um rechtliche Klärung eine Frage gestellt. Die Antragsgegnerin unterstelle ihr, dass sie aus ihrer Dienstzeit als Schulleiterin von Vorfällen wisse, diese aber nicht gemeldet habe. Dies treffe nicht zu. Die angesprochenen Sachverhalte habe sie seinerzeit der ADD gemeldet, was sie in der Fraktionsversammlung am 29. Januar 2020 auch klargestellt habe. Sie habe die Fälle dem Staatssekretär am Nachmittag des 29. Januar 2020 erneut namentlich genannt. Auch in ihrer Stellungnahme am 10. Februar 2020 habe sie dies unterstrichen. Hinsichtlich des Inhalts des Telefonats, das sie am 23. Januar 2020 mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Antragsgegnerin geführt habe, lägen der Ausschlussentscheidung ebenfalls evident unzutreffende tatsächliche Annahmen zu Grunde. Dies ergebe sich aus ihrer vor dem Landgericht vorgelegten eidesstattlichen Versicherung. Außerdem seien die behaupteten Umstände betreffend das Telefonat zwischen ihr und dem Parlamentarischen Geschäftsführer nicht geeignet, die Funktionen der Fraktion zu unterlaufen; insbesondere sei nicht ersichtlich, inwieweit daraus ein Vertrauensverlust auch zu den übrigen Mitgliedern der Fraktion resultieren sollte. Sofern die Antragsgegnerin eine Störung des Vertrauensverhältnisses auf den Redebeitrag in der Plenarsitzung am 23. Oktober 2019 und ihr Verhalten in der Plenarsitzung am 13. November 2019 stütze, so liege auch hierin eine Verletzung des freien Mandats. Sie habe betreffend die Unterrichtsversorgung eine Idealvorstellung geäußert, aber keine politische Forderung erhoben. Im Wahlprogramm der FDP sei die Versorgung mit 105 % als längerfristige Perspektive formuliert; dies finde sich in der Sachverhaltsdarstellung im gesamten Verfahrensgang nicht, so dass der Sachverhalt insofern zumindest unvollständig und insoweit unzutreffend sei. Ihr den Inhalt ihrer Rede vorzuhalten, stelle eine unzulässige Ausübung von Fraktionszwang dar. Den Vorwurf, sie habe in der Plenarsitzung am 13. November 2019 nicht geklatscht, habe die Antragsgegnerin bereits tatsächlich nicht näher dargelegt. Zudem sei sie – die Antragstellerin – in der Anhörung am 10. Februar 2020 dem substantiiert entgegen getreten. Die Antragsgegnerin missbillige ein Verhalten, das vom freien Mandat gedeckt sei, was einer nachträglichen Bestrafung gleichkomme. Auch hinsichtlich des Vorwurfs, die Plenarsitzung am 29. Januar 2020 unentschuldigt – wie in der Anhörung dargelegt aus gesundheitlichen Gründen – vorzeitig verlassen zu haben, verletzte der Fraktionsausschluss das freie Mandat. Ein fraktionsschädigendes Verhalten – jedenfalls durch sie – ergebe sich aus der Presseberichterstattung nicht. Auch die Gesamtschau, dass sie sich von der Fraktion distanziert habe und zu einer konstruktiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht mehr bereit sei, treffe nicht zu. Das Gegenteil sei der Fall. Schließlich sei der Ausschluss jedenfalls unverhältnismäßig, da ein solcher nur als letztes Mittel in Betracht komme und hier als weniger einschneidende Maßnahmen eine Abmahnung bzw. Ermahnung oder ein Ausschussrückruf ausreichend gewesen wären.
20
Die Antragstellerin beantragt,
21
festzustellen, dass der Beschluss der Antragsgegnerin vom 20. Februar 2020 betreffend ihren Fraktionsausschluss wegen Verstoßes gegen Art. 79 Abs. 2 und Art. 85a Abs. 1 Satz 1 LV verfassungswidrig ist,
22
die Erstattung ihrer notwendigen Auslagen anzuordnen,
23
den Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf 25.000,00 € festzusetzen.
III.
24
Die Antragsgegnerin beantragt,
25
den Antrag zurückzuweisen.
26
Sie macht geltend, der Fraktionsausschluss habe die verfassungsrechtlichen Anforderungen beachtet. In formeller Hinsicht sei der Antragstellerin insbesondere hinreichende Gelegenheit zur wirksamen Stellungnahme gegeben worden. Was ihre Einwendungen betreffe, so mache die Antragsschrift der Antragstellerin noch nicht einmal jetzt deutlich, in welchen konkreten Punkten sie sich überfordert gefühlt haben könnte, ihre Position angemessen zu vertreten. Gegebenenfalls hätte es ihr oblegen, dies bereits während der Anhörung geltend zu machen. Zudem könnten in der Diskussion auch andere Themen angesprochen werden, jedenfalls soweit ein Bezug zu dem Ausschlussverfahren erkennbar sei. Einer schriftlichen Bekanntgabe sowie einer gesonderten Begründung bedürfe der mündlich bekanntgegebene Beschluss der Fraktionsversammlung nicht. Darüber hinaus sei es auch nicht erforderlich gewesen, im Hinblick auf die Stellungnahme der Antragstellerin vor der Abstimmung eine weitere Debatte durchzuführen. Das Fraktionsausschlussverfahren könne nicht als „endloser Prozess“ begriffen werden. Auch in materieller Hinsicht sei der Ausschluss rechtmäßig. Dabei betont die Antragsgegnerin, sie habe ihre Entscheidung nicht auf das Fehlen eines erforderlichen Mindestmaßes an prinzipieller politischer Übereinstimmung gestützt. Die von der Antragstellerin ohne Absprache mit der Fraktion in die Öffentlichkeit getragenen Diskussionspunkte stünden nicht im Widerspruch zu den Grundüberzeugungen der Fraktion und der Partei. Die Störung des Vertrauensverhältnisses beziehe sich vielmehr auf das persönliche Verhalten der Antragstellerin und damit auf diese als Person. Hinsichtlich ihrer Äußerung in der Sitzung des Ausschusses für Gleichstellung und Frauenförderung und das anschließende Verhalten sei die Solidaritäts- und Loyalitätserwartung der Fraktion erheblich enttäuscht worden. Die Fraktion insgesamt habe erst aus den Medien erfahren, dass die Antragstellerin den Vorwurf erhoben habe, Fälle von sexuellem Missbrauch an Schulen würden nicht mit der nötigen Konsequenz verfolgt. Anschließend sei das Verhalten der Antragstellerin durch Hinhaltetaktik geprägt gewesen und habe kaum Ansätze, an einer zügigen Aufklärung angemessen mitzuwirken, erkennen lassen. Ohne Belang sei, ob die Antragstellerin am Tag vor der Ausschusssitzung habe wissen können, was dort thematisiert werden würde, oder dass der Referent des Bildungsministeriums ihre Schilderung bekräftigt habe. Bei der Beurteilung des Zustands eines Vertrauensverhältnisses komme es nicht auf ein vorwerfbares schuldhaftes Verhalten an. Auch spontane Reaktionen, ein Mangel an (politischer) Fantasie über die Auswirkungen bestimmter Äußerungen und sonstige Ungeschicklichkeiten könnten, zumal wenn sich solche Eindrücke häuften und verfestigten, geeignet sein, die politische Zusammenarbeit ernsthaft in Frage zu stellen. Trotz des heftigen medialen und politischen Echos habe die Antragstellerin weiterhin ohne fraktionsinterne Abstimmung zu dem sensiblen Thema die Öffentlichkeit gesucht – ausweislich eines Presseberichts habe sie in diesem Zusammenhang von „Grapschern“ gesprochen – und die Debatte angeheizt. Der Fraktionsantrag habe bereits dieses Verhalten isoliert gesehen als für den Vertrauensverlust ausreichend bewertet. Zusätzlich komme als besonders gravierendes Fehlverhalten das Verhalten der Antragstellerin gegenüber dem Fraktionskollegen B. hinzu. Insoweit existierten zwei sich widersprechende eidesstattliche Versicherungen; in nicht eindeutig aufklärbaren Fällen sei letztlich die Einschätzung der Fraktion entscheidend, wessen Version sie für glaubhafter halte bzw. mit wem sie ihre politische Arbeit fortsetzen zu können glaube. Der Einwand der Antragstellerin, ihr Verhalten sei nicht geeignet, zum Vertrauensverlust auch bei den übrigen Mitgliedern zu führen, sei eine selektive Sichtweise, die belege, dass sie Sinn und Funktionsweise parlamentarischer Fraktionen nicht zutreffend erfasst habe. Darüber hinaus sei das Vertrauen aus dem weiteren – isoliert gesehen den Ausschluss rechtfertigenden – Grund (zusätzlich) erheblich beschädigt, dass die Antragstellerin die strittige – zunächst nur fraktionsintern diskutierte – Angelegenheit öffentlich gemacht habe. Dadurch habe sie Fraktionsinterna und persönliche Umstände eines Fraktionsmitglieds ohne Not in die Öffentlichkeit getragen, ohne zuvor intern eine für beide Seiten verträgliche Lösung angestrebt zu haben. Dieses Vorgehen sei alleine hinreichend, das Vertrauensverhältnis innerhalb der Fraktion grundlegend und nicht mehr reparabel zu zerstören. Besonderes Gewicht habe auch die weithin fehlende Bereitschaft zu fraktionsinterner Abstimmung und das mangelnde Verständnis von der Rolle und Aufgabe als Vertreterin der Fraktion. Die Antragstellerin sei nicht gehindert, ihr Mandat ihrem Gewissen folgend auszuüben; als Fraktionsmitglied sei sie jedoch gehalten, die Auffassung der anderen Fraktionsmitglieder insbesondere bei der Außendarstellung zu berücksichtigten. Jedes Fraktionsmitglied könne mit Rücksicht auf das eigene Mandat eine vertrauensvolle und konstruktive Mit- und Zusammenarbeit erwarten. Dies gelte in besonderem Maße dann, wenn es – wie hier – nicht um als höchstpersönlich zu qualifizierende oder besonders sensible Gewissensentscheidungen gehe. Die Antragstellerin habe die eigene Sichtweise absichtlich – oft zunächst nicht einmal erkennbar bzw. ohne Vorankündigung – über die der Fraktion gestellt. Die Vorwürfe des fehlenden Beifalls und des unentschuldigten Entfernens aus einer Plenarsitzung seien für sich gesehen in der Tat noch nicht zwingend als so gravierende Illoyalität anzusehen, dass sie einen Fraktionsausschluss rechtfertigen könnten. In der Gesamtschau seien sie jedoch „nicht nur völlig unwesentliche Mosaiksteine“. In der Summe und unter Berücksichtigung der engen zeitlichen Abfolge seien die einzelnen Ereignisse für einen Vertrauensverlust als erdrückend zu bewerten. Des Weiteren habe die Antragstellerin in der Anhörung betont, sie sei bereit, in der Fraktion weiterzuarbeiten, „allerdings nur mit anderen, neuen Regeln“. Sie habe die weitere Zusammenarbeit lediglich konditioniert in Aussicht gestellt. Zudem habe sie die Frage, ob die Zusammenarbeit weiterhin über Anwälte stattfinden solle, bejaht. Eine Besserung für die Zukunft sei daher nicht mehr zu erwarten gewesen. Zahlreiche Berichterstattungen in den Medien und die öffentlichkeitswirksamen Äußerungen der Antragstellerin hätten die Fraktion als auch andere, die Regierung tragende Fraktionen und die Regierung selbst ohne Not und zum Teil völlig unberechtigt in die Defensive gebracht. Dabei sei letztlich auch zu berücksichtigen, dass im Frühjahr 2021 Landtagswahlen anstünden. Für ein milderes Mittel als den Fraktionsausschluss habe nach alledem kein Raum bestanden.
IV.
27
Der Verfassungsgerichtshof hat dem Landtag und der Landesregierung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Beide haben davon abgesehen.
B.
28
Der Antrag ist zulässig.
29
Der gegen eine Fraktion des Landtags gerichtete Antrag einer aus dieser ausgeschlossenen Abgeordneten kann Gegenstand eines Organstreitverfahrens nach Art. 130 Abs. 1 LV, § 2 Nr. 1 a), §§ 23 ff. des Landesgesetzes über den Verfassungsgerichtshof – VerfGHG – sein (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 5. November 2018 – VGH A 19/18 –, AS 46, 365 [368]; Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [432] m.w.N.). Die Antragstellerin ist als Abgeordnete des Landtags ein „anderer Beteiligter“ im Sinne von Art. 130 Abs. 1 Satz 2 LV; sie ist damit parteifähig und antragsberechtigt (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 5. November 2018 – VGH A 19/18 –, AS 46, 365 [368]; Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [432]; Jutzi, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, Art. 130 Rn. 16; ders., ZParl 50 [2019], 299 [304]; Bier, in: Grimm/Caesar [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2001, Art. 130 Rn. 30). Soweit sie eine Verletzung ihrer in Art. 79 Abs. 2 und Art. 85a Abs. 1 Satz 1 LV gewährleisteten Rechte rügt, ist die Antragstellerin auch antragsbefugt.
C.
30
Der Antrag ist unbegründet. Der Ausschluss der Antragstellerin aus der Fraktion ist mit der Verfassung von Rheinland-Pfalz vereinbar. Die Fraktion der FDP hat durch den Ausschluss der Antragstellerin deren Anspruch aus Art. 79 Abs. 2, Art. 85a Abs. 1 Satz 1 LV auf willkürfreie Entscheidung nicht verletzt.
I.
31
1. Fraktionen sind für das Verfassungsleben notwendige und zugleich die das Parlament bestimmenden Einrichtungen, denen von Verfassungs wegen das Recht zur Mitwirkung an der Erfüllung der Aufgaben des Landtags garantiert ist (siehe Art. 85a Abs. 2 Satz 1 LV). Sie organisieren das parlamentarische Geschehen arbeitsteilig und sichern die parlamentarische Funktionsfähigkeit vor allem durch mehrheitsfähige Meinungsbündelung (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 19. August 2002 – VGH O 3/02 –, AS 29, 362 [372 f.]; Urteil vom 11. Oktober 2010 – VGH O 24/10 –, AS 38, 322 [326]; Urteil vom 23. Januar 2018 – VGH O 17/17 –, AS 46, 166 [173]; Beschluss vom 5. November 2018 – VGH A 19/18 –, AS 46, 365 [369]; Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [432] m.w.N.). Den Fraktionen kommt im parlamentarischen Willensbildungsprozess eine „Filterfunktion“ zu: Die unterschiedlichen Vorstellungen der Abgeordneten sollen durch die Sacharbeit in den Fraktionen gebündelt werden, so dass an das Parlament mehrheitsfähige bzw. vorabgestimmte Positionen herangetragen werden (vgl. VerfG Brandenburg, Urteil vom 20. Juni 1996 – 14/96 EA –, NVwZ-RR 1997, 577 [579]; Schneider, in: Grimm/Caesar [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2001, Art. 85a Rn. 3). Zudem ist für die Bewältigung der komplexen Aufgaben eines modernen Parlaments die fraktionsinterne Arbeitsteilung unentbehrlich (vgl. Brocker, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rn. 215 [Sept. 2019]; Morlok, JZ 2019, 790 f.). Eine wirksame parlamentarische Aufgabenerfüllung wäre ohne die innerhalb der Fraktionen stattfindende Vorklärung von Sachfragen, Informationsverarbeitung und Abstimmung divergierender Meinungen nicht möglich, so dass die von den Fraktionen wahrgenommenen „Koordinierungsaufgaben“ für die parlamentarische Arbeit unabdingbar sind (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [630]). In den Parlamentsfraktionen vollzieht sich damit ein erheblicher Teil der Meinungs- und Willensbildung der Abgeordneten und dadurch des Parlaments im Ganzen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [432]; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 1976 – 2 BvR 802/75 –, BVerfGE 43, 142 [149]).
32
2. Die Möglichkeit, eine Fraktion zu bilden und in ihr mitzuarbeiten, verändert die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten daher nicht unerheblich. Die Fraktionsmitgliedschaft erweitert nämlich die Mitgestaltungsmöglichkeiten eines Abgeordneten in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht. Über die jedem Abgeordneten zustehenden Rechte hinaus kann der fraktionsangehörige Abgeordnete vermittelt durch die Fraktion die in der Geschäftsordnung des Landtags den Fraktionen zugewiesenen Abgeordnetenrechte („Kollektivierung der Abgeordnetenrechte“, vgl. Perne, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, Art. 79 Rn. 83) sowie die dort normierten ausschließlichen Fraktionsrechte wahrnehmen. In tatsächlicher Hinsicht stehen dem fraktionsangehörigen Abgeordneten Hilfestellungen durch die von den Fraktionen unterhaltenen Fraktionsbüros, Archive, Pressestellen und wissenschaftlichen Hilfsdienste zur Verfügung. Die Bildung und Mitarbeit in einer Fraktion hat daher im parlamentarischen Alltag – nicht zuletzt wegen dieser erweiterten Informations- und Mitgestaltungsmöglichkeiten – eine gewichtige Bedeutung bei der Ausübung des Abgeordnetenmandats (VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [432]; VerfGH Berlin, Beschluss vom 26. Mai 2005 – 53 A/05 –, NVwZ-RR 2005, 753 [754]; Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [433 f.]; Morlok, JZ 2019, 790 [791]).
33
3. Fraktionen sind freiwillige Zusammenschlüsse von Abgeordneten im Parlament. Die Bildung einer Fraktion beruht auf der in Art. 79 Abs. 2 Satz 2, Art. 85a Abs. 1 Satz 1 LV jedem einzelnen Abgeordneten gewährleisteten Ausübung des freien Mandats getroffenen freien Entscheidung, ein innerparlamentarisches Abgeordnetenbündnis zu bilden (VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [434] m.w.N.; Jutzi, ZParl 50 [2019], 299 [304]), d.h. sich mit anderen Abgeordneten zu einer Fraktion zusammenzuschließen und mit ihnen zusammen zu bleiben (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [629]).
34
Die Abgeordneten sind dabei frei in der Entscheidung, mit wem und unter welchen Bedingungen sie sich zur gemeinsamen politischen Arbeit zusammenschließen (vgl. C. Arndt, in: Schneider/Zeh [Hrsg.], Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 21 Rn. 24; Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [639]). Als freiwilliger Zusammenschluss von Abgeordneten genießt die Fraktion die Autonomie eines solchen Verbundes, die auch die „Personalhoheit“ als „gebündelte Wahrnehmung der Assoziationsfreiheit der einzelnen Abgeordneten“ umfasst (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [636, 639]). Diesen kommt daher auch die Entscheidung darüber zu, wer Mitglied der Fraktion werden oder bleiben darf (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [631]). Die freie Mandatsausübung berechtigt ebenso grundsätzlich dazu, das Zusammenwirken mit einzelnen Abgeordneten abzulehnen, sie bereits nicht in die Fraktion aufzunehmen oder auch aus ihr wieder auszuschließen (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 27. Mai 2003 – 10/02 –, DÖV 2003, 765 [767]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [365]), d.h. die Fraktionsmitgliedschaft einseitig und insbesondere gegen den Willen des betroffenen Abgeordneten zu entziehen (vgl. Brocker/Perne, LKRZ 2011, 161 [165]). Nicht nur ein vom Fraktionsausschluss bedrohter Abgeordneter kann sich auf die Gewährleistung des freien Mandats berufen, sondern auch die übrigen der Fraktion angehörigen Abgeordneten. In Wahrnehmung ihrer Mandatsfreiheit können die übrigen Fraktionsmitglieder daher grundsätzlich einen einzelnen Abgeordneten aus ihren Reihen ausschließen. Die Freiheit der Mandatsausübung und Fraktionsbildung des einzelnen Abgeordneten findet damit ihre Grenze in den gleichen Rechten der übrigen Fraktionsmitglieder. Darüber hinaus ergibt sich aus den verfassungsrechtlich geschützten Belangen der Fraktion und ihrer Funktion für einen effektiven Parlamentsbetrieb eine verfassungsrechtliche Grenze für die Rechte der einzelnen Abgeordneten (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [434 f.] m.w.N.).
35
4. Bestehen daher an der grundsätzlichen Berechtigung einer Fraktion, eines ihrer Mitglieder gegen dessen Willen auszuschließen, keine Zweifel (vgl. Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 475; Lenz, NVwZ 2005, 364 [365], jeweils m.w.N.), steht die Entscheidung über den Verlust der Fraktionszugehörigkeit eines Abgeordneten angesichts der zentralen Bedeutung der Fraktionen für die Arbeit und politische Willensbildung des Parlaments sowie für die politischen Einfluss- und parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten allerdings nicht im Belieben der Fraktion (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [435] m.w.N.). Die jedem Abgeordneten verfassungsrechtlich zustehende „Chance auf Fraktionszugehörigkeit“ (LVerfG MV, Urteil vom 27. Mai 2003 – 10/02 –, DÖV 2003, 765 [767]; Brocker/Perne, LKRZ 2011, 161 [165]; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 1976 – 2 BvR 802/75 –, BVerfGE 43, 142 [149]) und der Status des Abgeordneten erfordern vielmehr Begrenzungen. Das Statusrecht des Abgeordneten und das daraus folgende Fraktionsbildungsrecht sind damit Grund und Grenze der Entscheidung der Fraktion über den Ausschluss eines ihrer Mitglieder. Der Fraktionsausschluss setzt daher ein rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügendes Verfahren sowie einen willkürfreien Entschluss der Fraktionsversammlung voraus (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [435 f.] m.w.N.).
36
a) Die verfahrensrechtlichen Anforderungen an den Fraktionsausschluss ergeben sich aus dem in Art. 85a Abs. 2 Satz 2 LV niedergelegten Rechtsstaatsprinzip, dem das Parlament und infolgedessen auch seine Fraktionen unterliegen. Zudem vermittelt auch das Statusrecht des Abgeordneten aus Art. 79 Abs. 2 Satz 2 LV selbst angesichts der mit der Fraktionszugehörigkeit verbundenen besonderen Mitwirkungs- und Teilhabemöglichkeiten einen Mindestbestand an prozeduralen Garantien (vgl. zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Brocker, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rn. 230 [Sept. 2019]; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2001 – 2 BvE 2/00 –, BVerfGE 104, 310 [332 ff.] zum Immunitätsrecht). Hierzu gehören insbesondere die Zuständigkeit der Fraktionsversammlung für die Entscheidung über den Fraktionsausschluss (aa) und ein Ausschlussverfahren, das dem betroffenen Abgeordneten hinreichend Gelegenheit zur wirksamen Stellungnahme einräumt und den Fraktionsmitgliedern die Möglichkeit gibt, diese zu berücksichtigen und an der Entscheidung verantwortlich mitzuwirken. Insoweit unterliegt das Verfahren rechtsstaatlichen Mindestanforderungen betreffend die Mitteilung des Ausschlussantrags und der geltend gemachten Gründe, eine angemessene Vorbereitungszeit für die Beteiligten, die Einberufung der Fraktionsversammlung, die Abstimmung und die erforderliche Mehrheit bei der Beschlussfassung (bb) (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [436 f.] m.w.N.).
37
aa) Der Ausschluss eines Fraktionsmitglieds aus seiner Fraktion bedarf einer Entscheidung der Fraktionsversammlung (vgl. Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 475; Lenz, NVwZ 2005, 364 [366]). Aus der verfassungsrechtlichen Maßgabe, dass die innere Organisation und Arbeitsweise der Fraktionen nach Art. 85a Abs. 2 Satz 2 LV den Grundsätzen parlamentarischer Demokratie entsprechen müssen, ergibt sich die Notwendigkeit einer Fraktionsversammlung für die wesentlichen Entscheidungen. Eine solche stellt der Fraktionsausschluss als Entscheidung von erheblichem Gewicht für den parlamentarischen Wirkungskreis des Abgeordneten dar, die zudem sämtliche Fraktionsmitglieder in ihrer Kooperationskompetenz als Bestandteil des freien Mandats berührt (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [437] m.w.N.).
38
bb) Hinsichtlich der im Ausschlussverfahren einzuhaltenden prozeduralen Gewährleistungen ist insbesondere dem betroffenen Abgeordneten zum Schutz seiner parlamentarischen Rechte hinreichend Gelegenheit einzuräumen, zum beabsichtigten Ausschluss wirksam Stellung nehmen zu können (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 27. Mai 2003 – 10/02 –, DÖV 2003, 765 [766]; VerfGH Berlin, Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [443]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [367]). Dem Betroffenen ist Gehör zu gewähren und die Möglichkeit einer Verteidigung gegen die ihm gegenüber namhaft zu machenden Vorwürfe einzuräumen (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [643]). In notwendiger Ergänzung dazu müssen die Fraktionsmitglieder die Möglichkeit haben, die Stellungnahme des Abgeordneten ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 27. Mai 2003 – 10/02 –, DÖV 2003, 765 [766]; VerfGH Berlin, Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [443]). Der Betroffene muss sich zu dem auf seinen Ausschluss gerichteten Antrag äußern können und seine Äußerung muss den Fraktionsmitgliedern vor ihrer Entscheidung so bekannt gemacht sein, dass sie diese berücksichtigen können (vgl. betreffend die Abwahl aus einem Ausschuss VerfGH BW, Urteil vom 27. Oktober 2017 – 1 GR 35/17 –, NVwZ-RR 2018, 129 [132]). Dies erfordert es, dass der betroffene Abgeordnete über den Antrag auf Ausschluss aus der Fraktion und die dafür geltend gemachten Gründe so rechtzeitig und hinreichend informiert wird, dass er seinen Standpunkt wirksam darlegen kann. Gleichermaßen sind die Fraktionsmitglieder durch entsprechende Information in die Lage zu versetzen, verantwortlich an der zu treffenden Entscheidung mitzuwirken. Für alle Beteiligten bedarf es daher insbesondere einer ausreichenden Kenntnis der Gründe, auf die sich der Antrag auf Fraktionsausschluss stützt (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [437 f.]). Eine schriftliche Fixierung des Antrags und der relevanten wesentlichen Gründe ist insoweit grundsätzlich unumgänglich (vgl. Lenz, NVwZ 2005, 364 [367]).
39
Eine wirksame Stellungnahme seitens des Betroffenen und eine verantwortliche Entscheidung der Fraktionsmitglieder setzen darüber hinaus eine angemessene Vorbereitungszeit voraus. Welche Frist in diesem Sinne angemessen ist, lässt sich nur im Einzelfall bestimmen, wobei insbesondere die Komplexität der Vorwürfe und der bereits erreichte Diskussionsstand in der Fraktion in den Blick genommen werden können. Für die Ankündigung und Vorbereitung der Fraktionsversammlung ist neben einer rechtzeitigen Ladung zu dieser auch die Ankündigung eines entsprechenden konkreten Tagesordnungspunktes erforderlich (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [438]; LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [472 f.]; T.I. Schmidt, DÖV 2003, 846 [848]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [367]).
40
Hinsichtlich der für die Entscheidung erforderlichen Mehrheit erscheint das für wichtige Entscheidungen weit verbreitete Quorum einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder jedenfalls grundsätzlich als unbedenklich (vgl. Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 476 ff.; Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [644]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [367 f.]). Ob dieses Quorum auch verfassungsrechtlich geboten ist oder ob, wofür einiges spricht, auch eine einfache Mehrheit ausreichend sein kann (so auch Morlok, JZ 2019, 790 f.), ist vorliegend nicht entscheidungserheblich und kann daher offen bleiben (vgl. auch VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [438]).
41
Soweit eine geheime Abstimmung in Anwesenheit und unter Beteiligung des betroffenen Abgeordneten erfolgt, genügt ein solches Verfahren – ungeachtet der Frage der verfassungsrechtlichen Gebotenheit insbesondere einer geheimen Abstimmung – ebenfalls den prozeduralen Anforderungen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [438]; T.I. Schmidt, DÖV 2003, 846 [848 f.]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [367 f.]).
42
Ist der Ausschluss von der Fraktionsversammlung derart beschlossen worden, wird dieser mit der Beschlussfassung unmittelbar wirksam, ohne dass es noch – konstitutiv – einer schriftlichen Bekanntgabe an den Betroffenen bedarf (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [438]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [368]).
43
cc) Die sich in diesem Sinne als rechtsstaatliche Mindestanforderungen ergebenden formellen Voraussetzungen eines Fraktionsausschlusses sind – mangels Wertungsbedürftigkeit – der uneingeschränkten verfassungsgerichtlichen Überprüfung zugänglich (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [439]; VerfG Brandenburg, Urteil vom 16. Oktober 2003 – 4/03 –, NVwZ-RR 2004, 161 [162]; LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [472]; Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 480; Lenz, NVwZ 2005, 364 [366, 370]; Morlok, JZ 2019, 790 [791]).
44
b) Ein Fraktionsausschluss ist darüber hinaus an materielle Voraussetzungen gebunden und nicht nach Belieben der Fraktion zulässig, stellt er auch im Ergebnis eine „politische Zweckmäßigkeitsentscheidung“ (Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [636]) dar. Ganz überwiegend wird insoweit das Vorliegen eines qualifizierten – „(besonders) wichtigen“ – Grundes verlangt (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 27. Mai 2003 – 10/02 –, DÖV 2003, 765 [768]; VerfGH Berlin, Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [443] und Urteil vom 4. Juli 2018 – 130/17 –, DVBl. 2018, 1287 [1288 f.]; Badura, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 38 Rn. 92 [Okt. 2018]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [368]). Als solcher kommt nur ein Verhalten in Betracht, das die wesentlichen Grundlagen und Ziele der Fraktion nachhaltig beeinträchtigt (vgl. Badura, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 38 Rn. 92 [Okt. 2018]). Maßgeblich für die verfassungsgerichtliche Überprüfung des Vorliegens eines den Fraktionsausschluss rechtfertigenden „wichtigen Grundes“ ist dabei die Sachlage, über welche die Fraktion bei der Beschlussfassung über den Ausschluss zu befinden hatte (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [439]; VerfGH Berlin, Urteil vom 4. Juli 2018 – 130/17 –, DVBl. 2018, 1287 [1289]).
45
aa) Bei der Entscheidung über den Ausschluss aus einer Fraktion stehen sich in der Sache zwei rechtlich geschützte Interessenpositionen gegenüber: auf der einen Seite das Interesse des Abgeordneten an der Mitarbeit in der Fraktion, auf der anderen Seite das Interesse der Fraktion an der Selbstbestimmung über ihren Mitgliederbestand (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [638]). Das sich aus der Zugehörigkeit zu einer Fraktion ergebende Mitgliedschaftsverhältnis ist dabei von wechselseitigen Loyalitätspflichten geprägt; sowohl das einzelne Mitglied als auch die Gesamtheit der Fraktionsmitglieder sind zur Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen verpflichtet (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [640]; ders., JZ 2019, 790 [791]). Die Solidaritäts- und Loyalitätserwartung der Fraktion geht einher mit den dem Abgeordneten über die Fraktionszugehörigkeit vermittelten erweiterten Wirkungsmöglichkeiten in der parlamentarischen Arbeit (vgl. betreffend die Abwahl aus einem Ausschuss VerfGH BW, Urteil vom 27. Oktober 2017 – 1 GR 35/17 –, NVwZ-RR 2018, 129 [130]). Steht der Bestand dieses Mitgliedschaftsverhältnisses und damit ein Ausschluss eines Abgeordneten aus der Fraktion im Raum, können sich sowohl der vom Fraktionsausschluss bedrohte Abgeordnete als auch die übrigen Fraktionsmitglieder auf das ihnen verfassungsrechtlich in Art. 79 Abs. 2 Satz 2 LV gewährleistete freie Mandat i.V.m. Art. 85a Abs. 1 Satz 1 LV berufen. Dieses ist gleichermaßen Grund und Grenze des Fraktionsbildungsrechts. Die Kollision dieser verfassungsrechtlichen Positionen im Wege einer Auflösung im Einzelfall erfordert damit im Wesentlichen eine Abwägung innerhalb von Art. 79 Abs. 2 Satz 2, Art. 85a Abs. 1 Satz 1 LV selbst (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [439 f.]; LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [474]; Morlok, JZ 2019, 790 [791]; vgl. zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Lenz, NVwZ 2005, 364 [365 f.]; Brocker, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rn. 229 [Sept. 2019]).
46
bb) Ein in diesem Sinne „wichtiger Grund“ für einen Fraktionsausschluss kann insbesondere dann angenommen werden, wenn das für eine sinnvolle Meinungsbildung und Arbeit der Fraktion erforderliche Mindestmaß an prinzipieller politischer Übereinstimmung fehlt oder wenn das Fraktionsmitglied das Vertrauensverhältnis so nachhaltig gestört hat, dass den anderen Fraktionsmitgliedern die weitere Zusammenarbeit nicht mehr zugemutet werden kann (vgl. VerfGH Berlin, Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [444]; Urteil vom 4. Juli 2018 – 130/17 –, DVBl. 2018, 1287 [1289]). Ist die parlamentarische Effizienz der Grund für den Zusammenschluss der Abgeordneten zu einer Fraktion, so entfällt die Grundlage dafür dann, wenn die politischen Handlungs- und Wirkmöglichkeiten der Fraktion durch das Verhalten eines ihrer Mitglieder nachhaltig beeinträchtigt werden (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [631]; siehe auch T.I. Schmidt, DÖV 2003, 846 [850]). So setzt die in den Fraktionen erfolgende gewichtige Vorarbeit für die parlamentarische Willensbildung eine Zusammenarbeit in der Fraktion und die Verständigung auf eine einheitliche Fraktionslinie voraus, die ihrerseits eine offene, unbefangene und vertrauensvolle Diskussion erfordern. Geht die Bereitschaft zu vertrauensvoller Sachdiskussion jedoch verloren, besteht die Gefahr der Beeinträchtigung des innerfraktionellen Willensbildungsprozesses. Damit geht auch eine Gefährdung des parlamentarischen Willensbildungsprozesses und der parlamentarischen Funktionsfähigkeit insgesamt einher, weil eine Meinungsbündelung in der Fraktion nicht mehr gewährleistet ist (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 5. November 2018 – VGH A 19/18 –, AS 46, 365 [369 f.]; Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [440] m.w.N.; Morlok, JZ 2019, 790 [791 f.]).
47
cc) Darüber hinaus kann ein „wichtiger Grund“ darin bestehen, dass ein Fraktionsmitglied durch sein Verhalten das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit nachhaltig schädigt und die Außenwirkung der Fraktion und deren Wirkungsmöglichkeiten damit beeinträchtigt (vgl. VerfGH Berlin, Beschluss vom 26. Mai 2005 – 53 A/05 –, NVwZ-RR 2005, 753 [754]; Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [444]). Fraktionen stehen mit anderen politischen Gruppierungen sowohl im Parlament als auch vor den Bürgern im Wettbewerb. Das parlamentarische Geschehen weist stets auch einen Öffentlichkeitsbezug auf, indem die Vertreter des Volkes sichtbar und wahrnehmbar für das Volk handeln (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 19. August 2002 – VGH O 3/02 –, AS 29, 362 [374]; Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [634]). Fraktionen sind insoweit „politisch-parlamentarisch auch nach außen agierende“ Einrichtungen (Grzeszick, NVwZ 2017, 985 [990]). Unter Wettbewerbsgesichtspunkten ist es daher ein legitimes Anliegen und Bedürfnis der Fraktion, in der öffentlichen Darstellung ein einheitliches Erscheinungsbild zu bieten und auf ein geschlossenes, glaubwürdiges und wirkungsmächtiges Auftreten der Fraktion in Parlament und Öffentlichkeit hinzuwirken (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [635]; H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [629]; siehe auch betreffend die Abwahl aus einem Ausschuss VerfGH BW, Urteil vom 27. Oktober 2017 – 1 GR 35/17 –, NVwZ-RR 2018, 129 [130]). In den Blick zu nehmen sind dabei die Wirkungen ihres eigenen Handelns und das ihrer Mitglieder auf die Öffentlichkeit sowohl hinsichtlich parlamentsinterner Vorgänge als auch parlamentsexterner Geschehnisse. Erhält das Erscheinungsbild der Fraktion damit den Rang eines schützenswerten Gutes (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [635]), kann auch die Öffentlichkeitswirkung der Fraktion einen erheblichen Gesichtspunkt für die Entscheidung über einen Fraktionsausschluss darstellen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [441]).
48
dd) Die durch einen Fraktionsausschluss im Einzelfall konkret zu schützenden Belange der Fraktion sind ganz wesentlich von den Fraktionsmitgliedern selbst zu bestimmen. Die Festlegung ihrer programmatischen Grundlagen und der Anforderungen in personeller Hinsicht unterliegt weitgehend der Definitionsmacht der Fraktion; gleiches gilt, soweit es um die Beurteilung geht, wann ein schwerer politischer Schaden für die Fraktion vorliegt (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [644]). In diesem Sinne ist bei der Beurteilung der Frage, ob das Verhalten eines Fraktionsmitglieds einen seinen Ausschluss rechtfertigenden „wichtigen Grund“ darstellt, zu berücksichtigen, dass der Fraktion wegen der ihr durch Art. 79 Abs. 2 Satz 2, Art. 85a Abs. 1 Satz 1 LV vermittelten Befugnis zur selbständigen und alleinigen Regelung ihrer inneren Angelegenheiten (Fraktionsautonomie) in der Einschätzung der Wirkung und in der wertenden Beurteilung des Verhaltens der Abgeordneten ein weiter Spielraum zuzugestehen ist (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [441 f.] m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 15. Juli 2015 – 2 BvE 4/12 –, BVerfGE 140, 1 [31 Rn. 86]). Die Fraktionsautonomie beansprucht nicht nur gegenüber Dritten Geltung, sondern ist als „innere Fraktionsautonomie“ auch innerhalb des Parlaments und innerhalb der Fraktion selbst zu beachten (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [442]; Grzeszick, NVwZ 2017, 985 [990]; Brocker, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rn. 222 [Sept. 2019]). Bei der Einschätzung der Auswirkungen von Verhaltensweisen eines Abgeordneten auf die Gremienarbeit und der Beurteilung, ob ein Vertrauensverhältnis derart nachhaltig gestört ist, dass eine Zusammenarbeit in der Fraktion nicht mehr zumutbar erscheint, spielen zudem auch persönliche Erfahrungen und Eindrücke eine nicht unerhebliche Rolle (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [442]; VerfGH Berlin, Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [444 f.] und vom 4. Juli 2018 – 130/17 –, DVBl. 2018, 1287 [1289]). Gleiches gilt für die Einschätzung, ob und inwiefern das Verhalten des Abgeordneten in der Öffentlichkeitswirkung einen schweren Schaden für das Erscheinungsbild der Fraktion hervorzurufen vermag, denn auch das von ihr intendierte „Idealbild“ wird maßgeblich durch die Fraktion selbst definiert. Für solche insgesamt stark wertungsgebundene Einschätzungen sind allein die Fraktionsmitglieder zuständig; eine gerichtliche Kontrolle der Ausschlussentscheidung der Fraktion hat daher die fraktionseigenen Wertungen zu achten und ihr einen erheblichen Entscheidungsspielraum zu belassen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [442]; Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [644 f.]; A. Bäcker, Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, 2011, S. 185 m. Fn. 780; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2001 – 2 BvE 2/00 –, BVerfGE 104, 310 [332] zur Immunitätsaufhebung sowie allgemein Risse, JZ 2018, 71 [77]). Es ist nicht Sache des Verfassungsgerichtshofs, seine Beurteilung an die Stelle derjenigen politischen und sonstigen, an innerfraktionellen Maßstäben ausgerichteten, Wertungen der Fraktion zu setzen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [442]; VerfGH Berlin, Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [445] und vom 4. Juli 2018 – 130/17 –, DVBl. 2018, 1287 [1289]). Die politische Opportunität der getroffenen Maßnahme ist mit Blick auf die verfassungsrechtlich gewährleistete Autonomie der Fraktion daher nicht zu prüfen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [442]; BVerfG, Beschluss vom 15. Juli 2015 – 2 BvE 4/12 –, BVerfGE 140, 1 [31 Rn. 86] zur Mittelverwendung).
49
ee) Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass ein Fraktionsausschluss keine Strafmaßnahme, sondern letztlich ein Akt des Selbstschutzes zur Aufrechterhaltung der effektiven politischen Arbeit der Fraktion ist. Es kommt dabei nicht darauf an, ob der vom Ausschluss betroffene Abgeordnete der Fraktion bewusst und gezielt geschadet hat; die Schuldfrage ist daher irrelevant (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [443]; H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [631 f.]; ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38 Rn. 252 [August 2018]; Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [642]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [368]). Insbesondere was die Auswirkungen des Verhaltens des Abgeordneten auf die Öffentlichkeitsdarstellung der Fraktion betrifft, rückt der tatsächliche – sogar auch nur mögliche – Schaden für die Fraktion in den Vordergrund, ohne dass es dabei auf ein Verschulden des Fraktionsmitglieds ankommt. Dies mag das betroffene Fraktionsmitglied im Einzelfall zwar hart treffen; ein Abgeordneter steht mit seinem Handeln jedoch gleichsam unter „öffentlicher Dauerbeobachtung“, so dass es insoweit zumutbar ist, bereits für die rein objektive Wirkung seines Verhaltens einstehen zu müssen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [443]; vgl. bereits Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [635 f., 642 f.]: „reine Erfolgshaftung“ bzw. „Gefährdungshaftung“; vgl. auch Morlok, JZ 2019, 790 [792]; LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [474]).
50
ff) Während die Einhaltung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Verfahrensanforderungen gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar ist, hat sich die Prüfung eines „wichtigen Grundes“ nach alledem daher auf eine Willkürkontrolle zu beschränken (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [443] m.w.N.). Als letztlich politische Entscheidung ist der Fraktionsausschluss verfassungsgerichtlich nicht daraufhin zu überprüfen, ob er vertretbar ist, sondern im Rahmen der Willkürkontrolle allein darauf, ob das Statusrecht des betroffenen Abgeordneten in grundlegender Weise evident verkannt wurde (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [443]; BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2001 – 2 BvE 2/00 –, BVerfGE 104, 310 [332 f.] zur Immunitätsaufhebung sowie A. Bäcker, Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, 2011, S. 185 m. Fn. 780).
51
Das Willkürverbot ist dabei dann verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund für die Entscheidung nicht finden lässt, sondern vielmehr evident sachfremd entschieden wurde (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [443]; LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [474]; vgl. betreffend die Abwahl aus einem Ausschuss VerfGH BW, Urteil vom 27. Oktober 2017 – 1 GR 35/17 –, NVwZ-RR 2018, 129 [132]; vgl. auch Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [645]: „Extremfälle offensichtlicher Willkür“; siehe allgemein zum Willkürverbot BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 1951 – 1 BvR 201/51 –, BVerfGE 1, 14 [52]; Beschluss vom 17. Oktober 1990 – 1 BvR 283/85 –, BVerfGE 83, 1 [23]; Beschluss vom 5. Oktober 1993 – 1 BvL 34/81 –, BVerfGE 89, 132 [141]).
52
gg) Zwar setzt eine willkürfreie Entscheidung der Fraktion in materieller Hinsicht grundsätzlich voraus, dass die Fraktionsmitglieder ihr die zutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu Grunde gelegt haben und von einem möglichst vollständig aufgeklärten Sachverhalt ausgehen konnten (vgl. LVerfG MV, Urteil vom 27. Mai 2003 – 10/02 –, DÖV 2003, 765 [768]; VerfGH Berlin, Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [445]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [370]). Im Hinblick auf den der Fraktion zukommenden Entscheidungsspielraum unterliegt jedoch gerade auch die tatsächliche Entscheidungsgrundlage des Fraktionsausschlusses nur einer beschränkten gerichtlichen Kontrolle. Der der Fraktion zukommende Entscheidungsspielraum wirkt sich nicht erst auf die Bejahung oder Verneinung eines „wichtigen Grundes“ als solches aus, sondern auch bereits auf die dieser Entscheidung vorgelagerte Tatsachenebene. Ob nämlich eine ausreichend „sichere Feststellung eines Anknüpfungsverhaltens des Abgeordneten von gewisser Erheblichkeit“ (vgl. Lenz, NVwZ 2005, 364 [368]) bejaht und zur Grundlage einer willkürfreien Entscheidung der Fraktionsmitglieder gemacht werden kann, lässt sich im Ergebnis gleichermaßen nur unter (Mit-)Einbeziehung fraktionsinterner Wertungen beurteilen. Genauso wie die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten die Handlungs- und Wirkmöglichkeiten der Fraktion nachhaltig beeinträchtigt, entscheidend von diesen Wertungen abhängt, so ist auch die Frage, in welchem Maße ein solches Verhalten im Einzelnen „erwiesen“ sein muss, um unter Zugrundelegung der innerfraktionellen Maßstäbe aus Sicht der Fraktionsmitglieder ein Handeln zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Fraktion zu erfordern, einer verfassungsrechtlich exakten Grenzziehung nicht zugänglich, zumal die Annahme einer (noch) möglichen vertrauensvollen und effektiven Zusammenarbeit allein der Fraktion obliegt. Der den Fraktionen zukommende Entscheidungsspielraum weist insoweit über die rein rechtliche notwendigerweise auch eine tatsächliche Dimension auf. Auch insofern unterfällt es der von den innerfraktionellen Vorstellungen abhängigen wertenden Einschätzung der Fraktionsmitglieder, aufgrund welcher tatsächlicher Umstände ein Anknüpfungsverhalten (bereits) mit einer derart ausreichenden Gewissheit angenommen werden kann, um die für den betroffenen Abgeordneten schwerwiegende Entscheidung über den Fraktionsausschluss frei von Willkür zu treffen. Eine solche Bewertung bewegt sich außerhalb eines rechtlich exakt fassbaren Bereichs (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [444 f.]; vgl. auch zustimmend Jutzi, ZParl 50 [2019], 299 [305]; Morlok, JZ 2019, 790 [792]; offengelassen von LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [474]).
53
Dies bedeutet gleichwohl keinen „Freibrief“ für eine Fraktion oder eine völlige Zurückdrängung der verfassungsrechtlichen Kontrolle auf tatsächlicher Ebene. Solange und soweit jedoch der Entscheidung über den Ausschluss nicht evident unzutreffende tatsächliche Annahmen zu Grunde gelegt worden sind, ist es nicht Sache des Verfassungsgerichtshofs, die tatsächlichen (ihrerseits bereits wertungsbedürftigen) Annahmen der Fraktion im Einzelnen durch eigene gegenläufige Annahmen zu ersetzen. Dies wird jedenfalls insoweit zu gelten haben, als die angeführten Ausschlussgründe ihren Ausgangspunkt in einem feststehenden Tatsachenkern finden und die Frage des erforderlichen Grades des Erwiesenseins im Einzelnen bereits in den Bereich der fraktionsinternen Wertungen hineinreicht und damit lediglich einer Evidenzkontrolle zugänglich sein kann (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [445]; vgl. entspr. auch BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2001 – 2 BvE 2/00 –, BVerfGE 104, 310 [333] zur Immunitätsaufhebung). Insbesondere die Bewertung, ob und bei welcher Tatsachendichte bereits eine Störung des Vertrauensverhältnisses innerhalb der Fraktion oder ein Schaden für ihre Öffentlichkeitsdarstellung vorliegt, hängt bereits von fraktionsinternen Vorstellungen und Wertungen ab (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [445]).
54
Zudem ist zu berücksichtigen, dass für die verfassungsgerichtliche Überprüfung des Vorliegens eines „wichtigen Grundes“ die Sachlage maßgeblich ist, über welche die Fraktion bei ihrer Beschlussfassung über den Fraktionsausschluss zu befinden hatte (vgl. VerfGH Berlin, Urteil vom 4. Juli 2018 – 130/17 –, DVBl. 2018, 1287 [1289]). Damit geht einher, dass es nicht dem Verfassungsgerichtshof obliegt, die damalige tatsächliche Entscheidungsgrundlage nachträglich im gerichtlichen Verfahren mit – der Fraktion selbst nicht möglichen oder nicht zustehenden – Sachverhaltsermittlungsmaßnahmen (weiter bzw. „besser“) aufzuklären (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [445]; Morlok, JZ 2019, 790 [792]). Dies gilt zumindest in dem Maße, wie die Fraktion nicht von evident unzutreffenden Tatsachen ausgegangen ist, insbesondere etwa weil der betroffene Abgeordnete im Ausschlussverfahren ihren tatsächlichen Annahmen nicht in substantiierter Weise entgegen getreten ist (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [445] m.w.N.).
55
Grundsätzlich verbietet sich angesichts des dem Fraktionsausschluss zugrundeliegenden Spannungsfelds zwischen dem Interesse der Fraktion an der Sicherung der Handlungs- und Wirkfähigkeit und den Zugehörigkeits- und Mitwirkungsinteressen des betroffenen Abgeordneten eine darüber hinaus gehende gerichtliche (Voll-)Kontrolle (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [446]; a.A. – volle Überprüfung, ob die Fraktion von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist – Lenz, NVwZ 2005, 364 [370]). Eine solche würde im Gegenteil den verfassungsmäßigen Entscheidungsspielraum der Fraktion aushebeln und dasjenige, was in den Spielraum fällt, den Grundsätzen der Gewaltenteilung zuwider in den Entscheidungsbereich der rechtsprechenden Gewalt überführen (vgl. auch bereits entspr. BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1984 – 2 BvE 13/83 –, BVerfGE 68, 1 [111]). Zwar bedeutet der Fraktionsausschluss für den Abgeordneten eine nicht unerhebliche Beschränkung seiner parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 5. November 2018 – VGH A 19/18 –, AS 46, 365 [371]; Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [445] jeweils m.w.N.); diese ist dem Ausschluss aus der Fraktion jedoch immanent und ihr ist im Rahmen der Auflösung des zwischen Fraktions- und Abgeordneteninteressen bestehenden Interessenkonflikts Rechnung zu tragen, ohne dass letzteren jedoch ein Vorrang gebührte. Der einzelne Abgeordnete hat insbesondere auch keinen Anspruch darauf, dass im Rahmen der Entscheidung über seinen Ausschluss eine Abwägung stattfindet, die seine Interessen gegenüber denjenigen der Fraktion in den Vordergrund rückt (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [446] m.w.N.).
II.
56
Gemessen an den vorstehenden Maßstäben ist der Ausschluss der Antragstellerin aus der Fraktion der FDP verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Er genügt sowohl den an die Entscheidung über den Ausschluss zu stellenden formellen (1.) als auch den materiellen Anforderungen (2.).
57
1. Der Fraktionsausschluss genügt den formellen Anforderungen. Er wurde von der dafür zuständigen Fraktionsversammlung in einem verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ausschlussverfahren beschlossen.
58
a) Soweit das Binnenrecht der Antragsgegnerin in § 3 Abs. 5 Satz 1 und 5 ihrer Satzung eine geheime Abstimmung der Fraktionsversammlung unter Einbeziehung des betroffenen Fraktionsmitglieds und das Erfordernis einer Mehrheit von zwei Dritteln der Fraktionsmitglieder vorsieht und diese Maßgaben ausweislich des Sitzungsprotokolls auch eingehalten worden sind, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken am Ausschlussverfahren.
59
b) Ebenso waren alle Beteiligten rechtzeitig und hinreichend über den Ausschlussantrag und die maßgeblichen Gründe informiert. Was die Einleitung des Verfahrens und die Information der Betroffenen und der übrigen Fraktionsmitglieder über den Antrag auf Fraktionsausschluss betrifft, sieht § 3 Abs. 5 Satz 3 und 6 der Satzung der Antragsgegnerin (lediglich) vor, dass der Antrag von mindestens einem Viertel der Fraktionsmitglieder gestellt und die Behandlung des Antrags, die Anhörung des Betroffenen und die Abstimmung als Tagesordnungspunkte auf den jeweiligen Tagesordnungen stehen müssen. Dieses Verfahren wurde einschließlich der Fristen hinsichtlich des Termins zur Anhörung und des Termins zur Abstimmung nach § 3 Abs. 5 Satz 7 der Satzung eingehalten. Der Antrag mitsamt den maßgeblichen Gründen war, auch wenn die Satzung der Antragsgegnerin dazu keine ausdrückliche Regelung vorsieht, allen Fraktionsmitgliedern hinreichend bekannt, um Grundlage für das rechtliche Gehör der Antragstellerin und für die verantwortliche Mitwirkung der übrigen Fraktionsmitglieder an der Entscheidung zu sein. Dafür ist es erforderlich, dass die Ausschlussgründe so detailliert und substantiiert erkennbar sind, dass der Betroffene wirksam dazu Stellung nehmen kann und die übrigen Fraktionsmitglieder die Gründe und das Vorbringen des Betroffenen zur Grundlage einer verantwortlichen Entscheidung machen können (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [447]).
60
Daran bestehen vorliegend keine Zweifel. Der Antrag selbst ist von sämtlichen Fraktionsmitgliedern (mit Ausnahme der Antragstellerin) eigenhändig unterschrieben und umfangreich begründet worden. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragstellerin davon ausgehend keine wirksame Stellungnahme möglich gewesen sein sollte, ergeben sich weder aus den Sitzungsprotokollen noch aus ihrem Vorbringen. Vielmehr hat die Antragstellerin im Einzelnen zu den genannten Punkten umfangreiche Ausführungen gemacht. Dass im Rahmen einer solchen Diskussion von den Beteiligten auch weitere – über die im Ausschlussantrag konkret genannten hinausgehende, gleichwohl mit diesem im Zusammenhang stehende – Umstände angesprochen werden, ist nicht ausgeschlossen, jedenfalls wenn – was hier unzweifelhaft der Fall ist – der Betroffene (auch) dazu wirksam Stellung nehmen kann und die übrigen Beteiligten diese Stellungnahme verantwortungsvoll in ihre Entscheidung einbeziehen können. In der Sitzung am 11. Februar 2020 hat die Antragstellerin ausweislich der von ihr nicht in Frage gestellten Darlegungen im Sitzungsprotokoll (Anlage 12 zum Schriftsatz der Antragstellerin vom 15. Juli 2020, S. 9, Bl. 130 d. GA) im Anschluss an die umfangreiche Diskussion „die Auffassung vertreten, dass man sich nun ausgetauscht habe und ihrerseits keine weiteren Fragen bestünden“.
61
c) Soweit die Antragstellerin vorträgt, ihr sei nicht in ausreichendem Umfang rechtliches Gehör gewährt worden, weil im Anschluss an ihre Stellungnahme in der Sitzung am 11. Februar 2020 nicht (weiter) diskutiert worden sei, ist dies bereits in tatsächlicher Hinsicht ausweislich der Protokolle unzutreffend. Die Antragstellerin hat sich vielmehr in zwei Sitzungen – am 11. und am 20. Februar 2020 – unter Hinzuziehung ihres Rechtsbeistands geäußert. Soweit die Antragstellerin eine hinreichende Stellungnahme- bzw. Diskussionsmöglichkeit nunmehr negiert, ergibt sich bereits aus dem Protokoll nicht, dass in der Sitzung am 11. Februar 2020 eine (weitere) Stellungnahme oder Diskussion erforderlich, aber nicht möglich gewesen sein sollte. Im Gegenteil hat ausweislich des Protokolls eine umfangreiche Aussprache zwischen den Fraktionsmitgliedern stattgefunden, an deren Ende die Antragstellerin selbst feststellte, dass man sich ausgetauscht habe und keine weiteren Fragen mehr bestünden. Auch ein weiterer Diskussionsbedarf seitens der übrigen Fraktionsmitglieder ist nicht geäußert worden. In der Sitzung am 20. Februar 2020 bestand ausweislich des Protokolls ebenfalls die Möglichkeit der Diskussion. Die Antragstellerin hat insoweit zunächst Ausführungen zum Protokoll der vorherigen Sitzung gemacht, die sodann besprochen wurden. Zudem wurde erneut das Thema „sexueller Missbrauch an Schulen“ und der Fortgang der Entwicklungen angesprochen und zwar unter Wortmeldung der Antragstellerin. Dass für die Antragstellerin weiterer Äußerungsbedarf – und worauf konkret bezogen – bestanden hätte, trägt sie selbst nicht vor. Zudem hätte es ihr – hätte sie sich noch äußern wollen – oblegen, darauf in den Sitzungen hinzuweisen und dies notfalls einzufordern (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [450]; LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [473]). Auch der Einwand, die Diskussion habe sich nicht an der Reihenfolge der Darlegung im Ausschlussantrag orientiert und (auch) persönliche Vorwürfe enthalten, vermag nichts daran zu ändern, dass sie Stellung nehmen konnte und für die übrigen Fraktionsmitglieder die Möglichkeit der Kenntnisnahme von ihren Ausführungen und einer Auseinandersetzung mit diesen bestanden hat.
62
Soweit die Antragstellerin schließlich vorträgt, die übrigen Fraktionsmitglieder hätten sich mit ihren im Rahmen der Anhörung vorgebrachten konkreten Erwiderungen nicht auseinandergesetzt, so spricht auch hiergegen schon in tatsächlicher Hinsicht der Inhalt des vorgelegten Protokolls der Sitzung vom 11. Februar 2020, demzufolge mehrere Fraktionsmitglieder sich zu ihren Ausführungen geäußert haben sowie die Antragstellerin sich ihrerseits an der Diskussion beteiligt hat. Gleiches gilt für den Inhalt des ebenfalls vorgelegten Protokolls der Sitzung vom 20. Februar 2020, ausweislich dessen die Antragstellerin einzelne Punkte des Protokolls ihrer Anhörung moniert und sich daran eine Besprechung angeschlossen hat. In ihrer Antragsschrift führt sie zur Anhörung am 11. Februar 2020 zudem aus, die Diskussion, die sich entwickelt habe, sei „weit über einen Austausch der von der Antragstellerin vorgebrachten konkreten Argumente“ hinausgegangen (vgl. S. 24 der Antragsschrift vom 15. Juli 2020, Bl. 25 d. GA). Damit geht sie selbst davon aus, dass ihre Ausführungen in der Fraktionsversammlung zur Kenntnis genommen und diskutiert worden sind. Nach alledem verfängt ihr Einwand, es habe keine Diskussion bzw. Auseinandersetzung stattgefunden, bereits tatsächlich nicht.
63
Unabhängig davon folgt aus dem durch Art. 79 Abs. 2, Art. 85a Abs. 1 Satz 1 LV vermittelten Anspruch auf Anhörung kein weitergehendes Recht auf Diskussion im Sinne einer Pflicht der übrigen Abgeordneten, zu diskutieren, und ebenso kein Anspruch auf einen bestimmten Inhalt einer Diskussion. Das freie Mandat verlangt, dass den Abgeordneten die Möglichkeit zur Diskussion gegeben wird; eine Pflicht zur Diskussion würde dem freien Mandat demgegenüber widersprechen (vgl. dazu entspr. Brocker, in: Epping/Hillgruber [Hrsg.], GG, 3. Aufl. 2020, Art. 42 Rn. 5.2 m.w.N.). Es ist vielmehr ausreichend, aber auch allein erforderlich, dass die Fraktionsmitglieder die Möglichkeit haben, die Stellungnahme des Betroffenen ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen (VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [437] m.w.N.). Ob die übrigen Fraktionsmitglieder sich nach der stattgefundenen Diskussion – in der die Antragstellerin ihren Standpunkt hinreichend vorbringen konnte – ausreichend informiert und in der Lage sehen, eine verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen, obliegt ihrer Beurteilung und nicht derjenigen der Antragstellerin. In diesem Zusammenhang gibt es auch kein von der Antragstellerin letztlich in der Sache reklamiertes Recht auf Neufassung der angeführten Ausschlussgründe im Lichte ihrer Einwendungen. Durch die Beschlussfassung über den Antrag auf Ausschließung der Antragstellerin aus der Fraktion und den Inhalt der unter Beteiligung der Antragstellerin geführten – und protokollierten – Diskussion hierüber hat die Antragsgegnerin vielmehr hinlänglich zu verstehen gegeben, welche Begründung und damit welche Sachlage sie ihrem Beschluss zu Grunde legt, die damit im Sinne eines Gesamtbildes (vgl. Morlok, JZ 2019, 790 [792]) auch den maßgeblichen Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung darstellt (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [439 u. 447] m.w.N.).
64
d) Das Ausschlussverfahren ist auch insoweit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, als die Antragstellerin das Fehlen einer nachträglichen Begründung des ihr unmittelbar im Anschluss an die Abstimmung mündlich bekanntgegebenen Beschlusses über den Fraktionsausschluss rügt. Insoweit ist zunächst festzuhalten, dass der Ausschluss mit der Beschlussfassung unmittelbar wirksam wird, ohne dass es noch einer Bekanntgabe an den Betroffenen bedarf (VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [438]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [368]). Die unabhängig davon verfahrensmäßig gebotene Bekanntgabe kann wie vorliegend in mündlicher Form erfolgen, zumal wenn der betroffene Abgeordnete – wie hier die Antragstellerin – in der Sitzung anwesend ist (VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [450]; T.I. Schmidt, DÖV 2003, 846 [849]).
65
Inhaltlich bedurfte der Beschluss keiner weitergehenden Begründung. Zum einen war die Antragstellerin in der Sitzung ebenso wie in der vorhergehenden Sitzung am 11. Februar 2020 anwesend und konnte der dortigen Diskussion beiwohnen und an ihr teilnehmen und hat dies ausweislich der Protokolle auch getan. Zum anderen hatte sie jedenfalls aus dem Ausschließungsantrag in Zusammenschau mit den begleitenden Umständen und der Diskussion in den Sitzungen am 11. und am 20. Februar 2020 hinreichende Kenntnis über die Entscheidung und ihre Gründe (vgl. auch VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [450]).
66
2. Die Antragsgegnerin hat nach den obigen Maßstäben in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise die materielle Voraussetzung für einen Fraktionsausschluss, nämlich das Vorliegen eines „wichtigen Grundes“, bejaht.
67
Das Binnenrecht der Antragsgegnerin verlangt in § 3 Abs. 5 Satz 2 ihrer Satzung – worauf sich der Antrag der übrigen Fraktionsmitglieder vom 30. Januar 2020 ausdrücklich bezieht – das Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ und nimmt damit die oben genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend auf. Einer weitergehenden Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „wichtigen Grundes“ in der Satzung bedarf es nicht (vgl. Morlok, JZ 2019, 790 [792]; vgl. im Ergebnis auch LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [474]).
68
Einen danach maßgeblichen „wichtigen Grund“ für den Fraktionsausschluss hat die Antragsgegnerin darin gesehen, dass das Vertrauensverhältnis der Fraktion zur Antragstellerin derart nachhaltig gestört sei, dass eine weitere Zusammenarbeit mit ihr unzumutbar sei, und sie durch ihr Verhalten das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit nachhaltig geschädigt und damit die Außenwirkung der Fraktion und deren Wirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt habe. Nach den obigen Darlegungen können beide dieser Gründe einen Fraktionsausschluss grundsätzlich rechtfertigen.
69
Die Entscheidung der Antragsgegnerin ist in der auf eine Willkürkontrolle beschränkten verfassungsgerichtlichen Überprüfung inhaltlich nicht zu beanstanden. Sie hat ihrer Entscheidung nicht evident unzutreffende tatsächliche Annahmen zu Grunde gelegt und auf dieser Grundlage in willkürfreier Weise den Fraktionsausschluss beschlossen.
70
a) Die für den Fraktionsausschluss von der Antragsgegnerin herangezogene tatsächliche Entscheidungsgrundlage begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Als solche hat die Antragsgegnerin – aus dem gesamten Verfahren und insbesondere aus dem Protokoll der Fraktionssitzung vom 11. Februar 2020 erkennbar – auf das persönliche Verhalten der Antragstellerin in der Zusammenarbeit abgestellt. Die entsprechenden tatsächlichen Annahmen sind nicht evident unzutreffend.
71
Es steht zunächst fest, dass die Antragstellerin in der Plenardebatte am 23. Oktober 2019 die im Ausschlussantrag genannten und sich aus dem Protokoll ergebenden Äußerungen zu einer Unterrichtsversorgung in Höhe von 105 % getan hat, ohne dass diese – über die im Koalitionsvertrag angestrebte 100%ige Versorgung hinausgehende – Äußerung aus dem Redemanuskript erkennbar bzw. mit den Fraktionskollegen zuvor abgestimmt war. Gleichermaßen steht fest, dass diese Äußerung von den Fraktionsmitgliedern und von der Öffentlichkeit als eine politische Forderung aufgefasst worden war.
72
Weiter steht fest, dass die Antragstellerin ihre öffentlichen Stellungnahmen – in der Sitzung des Landtagsausschusses für Gleichstellung und Frauenförderung und anschließend gegenüber der Öffentlichkeit – zum Thema „sexuelle Gewalt an Schulen“ im Vorfeld der Sitzung sowie danach nicht mit der Fraktion abgestimmt hat und diese Äußerungen von den Fraktionsmitgliedern und von der Öffentlichkeit als Vorwurf an die Landesregierung, Fälle von sexuellen Missbrauchs würden nicht mit der notwendigen Konsequenz verfolgt, aufgefasst wurden.
73
Des Weiteren steht fest, dass die Antragstellerin den Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion als Reaktion auf dessen telefonische Missbilligung ihres Verhaltens am Abend des 23. Januar 2020 auf sein angebliches Fehlverhalten in privaten Angelegenheiten hingewiesen sowie im weiteren Fortgang versucht hat, diesem seine dem Antrag auf Fraktionsausschluss u.a. zu Grunde gelegte Darstellung über das Telefonat gerichtlich verbieten zu lassen. Soweit die Antragsgegnerin ihrer Entscheidung (auch) die Aussage des Parlamentarischen Geschäftsführers der Fraktion über das Telefonat zu Grunde gelegt hat, ist der bloß behauptende Vortrag der Antragstellerin, seine Aussage sei unzutreffend, demgegenüber nicht geeignet, dieser Annahme substantiiert entgegenzutreten. Die Einschätzung, inwieweit die Entscheidung über den Fraktionsausschluss über den – feststehenden – Umstand, dass die Antragstellerin im Hinblick auf die Passage im Antrag auf Fraktionsausschluss ein zivilgerichtliches Verfahren angestrengt hat, hinaus (auch) davon abhängt, ob die Äußerungen der Antragstellerin in dem Telefonat wie von dem Parlamentarischen Geschäftsführer geschildert gefallen sind, unterfällt bereits der fraktionseigenen Bewertung. Sie hängt in der Sache nämlich von fraktionsspezifischen Maßstäben ab, ob und wodurch im Einzelnen die fraktionsinterne Vertrauensbasis gestört ist oder die Darstellung in der Öffentlichkeit das Ansehen der Fraktion schädigt. Wie die Antragsgegnerin ausgeführt hat, war für sie – isoliert gesehen – das Vertrauensverhältnis vor allem dadurch erheblich beschädigt, dass die Antragstellerin die strittige und zunächst fraktionsinterne Angelegenheit öffentlich gemacht und dadurch Fraktionsinterna und persönliche Umstände von Fraktionskollegen ohne Not in die Öffentlichkeit getragen habe, ohne zuvor intern eine für beide Seiten verträgliche Lösung angestrebt zu haben. Soweit die Antragsgegnerin darüber hinaus im Ausschlussantrag von einer „persönlich motivierten Drohung“ spricht, die „völlig infam“ sei und damit (auch) auf den Inhalt des Telefonats abstellt, reicht die Frage des erforderlichen Grades des Erwiesenseins in den Bereich der fraktionsinternen Wertungen hinein und ist lediglich einer Evidenzkontrolle zugänglich. Ob einer Aussage „geglaubt“ wird, ist ganz wesentlich von persönlichen Einschätzungen und Erfahrungen abhängig. Jedenfalls wenn sich zwei widersprechende Aussagen gegenüberstehen – hier im Zeitpunkt der Beschlussfassung die (jeweils durch eidesstattliche Versicherungen im Verfahren vor dem Landgericht untermauerten) Aussagen der Antragstellerin und des Parlamentarischen Geschäftsführers der Antragsgegnerin –, bewegt sich die fraktionseigene, ganz maßgeblich persönlichkeitsbezogene Bewertung, der einen oder der anderen Aussage zu glauben und diese der Entscheidung über den Fraktionsausschluss zu Grunde zu legen, innerhalb des der Fraktion zustehenden Entscheidungsspielraums auf der ihrer Ausschlussentscheidung vorgelagerten Tatsachenebene. Weitere „Beweise“ hatte die Antragstellerin der Fraktionsversammlung nicht angeboten. Eine nachträgliche Aufklärung – sollten für eine solche überhaupt Ansatzpunkte bestehen – durch den Verfassungsgerichtshof scheidet wie oben ausgeführt aus; gleichsam kann der Verfassungsgerichtshof keine „bessere“ Beweiswürdigung an Stelle der Fraktion vornehmen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [453]).
74
Gleichermaßen steht fest, dass die „Aufarbeitung“ der Geschehnisse in der Ausschusssitzung in der Folge sich zumindest nicht komplikationslos gestaltete, was insbesondere eine konkretere Information über die von ihr dort angesprochenen Sachverhalte und die Ermöglichung der Vorbereitung der Sondersitzung des Ausschusses für Bildung betrifft, zumal – was die Antragstellerin nicht bestritten hat – die Fraktion insgesamt erst aus den Medien von ihren Äußerungen erfahren hat. Der Ausschlussantrag beschreibt in diesem Zusammenhang die Fraktionsversammlung am 29. Januar 2020 dahingehend, dass die Antragstellerin diese zunächst kurzzeitig und später endgültig verlassen hat, als für die übrigen Fraktionsmitglieder offenbar noch Erörterungsbedarf bestanden hat. Dem ist die Antragstellerin in tatsächlicher Hinsicht nicht entgegen getreten. Im Übrigen zeigen auch die Äußerungen der Antragstellerin selbst, dass die Aufarbeitung der Thematik jedenfalls auch von ihrer Seite als nicht vollkommen „reibungslos“ angesehen wurde: In der Anhörung am 11. Februar 2020 hat sie auf den Einwand, sie habe noch immer nicht für eine vollständige Aufklärung der Vorwürfe gesorgt, angeführt, sie werde unmittelbar im Anschluss an die Fraktionssitzung Kontakt mit dem Bildungsministerium aufnehmen und wolle „ihr Versprechen einlösen“; dies geschehe erst jetzt, weil „sie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen sei“. Weiter hat sie sich dahingehend geäußert, es wäre „rückblickend vielleicht besser gewesen, alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen, was sich aber so nicht ergeben habe“ (vgl. Protokoll zur Sitzung der Fraktionsversammlung am 11. Februar 2020, Anlage 12 zum Schriftsatz der Antragstellerin vom 15. Juli 2020, S. 7, Bl. 128 d. GA).
75
Ebenso steht der Umstand fest, dass die Antragstellerin die Plenarsitzung am 29. Januar 2020 vorzeitig verlassen hat, ohne sich abzumelden. Was die Plenarsitzung am 13. November 2019 betrifft, so ist die Antragsgegnerin im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Ausschlussantrag ebenso von einer nicht evident unzutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen. Der Ausschlussantrag geht dabei erkennbar davon aus, dass das Verhalten der Antragstellerin in einem Presseartikel vom 14. November 2019 zutreffend dahingehend beschrieben wurde, dass sie den Reden der Bildungsministerin und der Fraktionsvorsitzenden keinen Beifall gespendet hat. In der Anhörung am 11. Februar 2020 hat die Antragstellerin dies ausweislich des Protokolls nicht ausdrücklich – tatsächlich – bestritten, sondern sie hat vielmehr eine Erklärung dafür angeführt, nämlich dass sie diesen Aspekt kritischer sehe (vgl. die Ausführungen im Schriftsatz der Antragstellerin vom 15. Juli 2020, S. 19, Bl. 20 d. GA zu ihrer Äußerung in der Anhörung: „Wenn ich […] eine Rede […] nicht mit dem vermeintlich gebührenden Applaus bedachte, dann lag das einzig und allein in der Tatsache begründet, dass ich die […] Zielerreichung […] kritischer sehe. […] Mein Verhalten in dieser Sitzung gar als Rechtfertigung für einen Ausschluss […] heranzuziehen, ist für mich nicht nachvollziehbar.“). Soweit sie in ihrer Antragsschrift geltend macht, der Sachverhalt stehe „nicht ohne Weiteres fest“, so liegt ein nunmehriges – bloßes – Bestreiten zum einen nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlussfassung der Fraktionsversammlung, zum anderen ist es aber auch ansonsten widersprüchlich. Die Angabe von Gründen, warum jemand ein bestimmtes Verhalten an den Tag gelegt hat, ergibt nämlich dann keinen Sinn, wenn der Betreffende behauptet, es habe dieses Verhalten überhaupt nicht gegeben. Im Übrigen wäre das Bestreiten aber auch unsubstantiiert, weil die Antragstellerin noch nicht einmal behauptet, die Beschreibung der Sitzung in der Presse sei falsch. Insoweit war ihr Vorbringen auch kein – erforderliches – substantiiertes Bestreiten der Tatsachengrundlage. Ihre Sichtweise, sie sei „in ihrer Anhörung am 10.02.2020 substantiiert entgegen getreten“ (vgl. Schriftsatz der Antragstellerin vom 15. Juli 2020, S. 35, Bl. 36 d. GA), trifft daher nicht zu.
76
Diese tatsächlichen Annahmen waren ausweislich des Antrags auf Ausschluss der Antragstellerin aus der Fraktion sowie des Sitzungsprotokolls Gegenstand der in der Fraktionssitzung erfolgten Aussprache und damit Grundlage der Beschlussfassung. Maßgeblich ist die Antragsgegnerin von einem Sachverhalt ausgegangen, der als solcher feststeht bzw. dessen Bestreiten seitens der Antragstellerin nicht tauglich ist. Dass die Antragstellerin diese Umstände in der Sache anders interpretiert und bewertet als die Antragsgegnerin – etwa hinsichtlich der Ausführungen zur Unterrichtsversorgung im Wahlprogramm der FDP zur Landtagswahl 2016 –, betrifft nicht die Frage nach einer hinreichenden Tatsachengrundlage für die Entscheidung über den Fraktionsausschluss. Insgesamt stellen nach alledem ihre Ausführungen keine hinreichend substantiierten Einwände dar, um die dem Fraktionsausschluss zu Grunde gelegte Entscheidungsgrundlage in Zweifel ziehen. Soweit sie behauptet, die Ausschlussgründe fänden keinen Ausgangspunkt in einem feststehenden Tatsachenkern, so trifft dies nach alledem nicht zu.
77
Damit hat die Antragsgegnerin dem Fraktionsausschluss keine evident unzutreffenden tatsächlichen Annahmen zu Grunde gelegt. In diesem Rahmen bedurfte es daher keiner tatsächlichen Aufklärung – insbesondere keiner Beweiserhebung – seitens des Verfassungsgerichtshofs (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [453] m.w.N.).
78
b) Auf dieser Entscheidungsgrundlage hat die Antragsgegnerin in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise einen „wichtigen Grund“ für den Fraktionsausschluss bejaht. Die inhaltliche Bewertung, ob das der Antragstellerin vorgeworfene Verhalten einen „wichtigen Grund“ für den Fraktionsausschluss darstellt, unterfällt dem Wertungsspielraum der Fraktion. Allein in ihrer Definitionsmacht liegt die Einschätzung, ob durch das der Antragstellerin vorgeworfene Verhalten das Vertrauensverhältnis zu den übrigen Fraktionsmitgliedern so nachhaltig gestört ist, dass den anderen Mitgliedern eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr zugemutet werden kann. Denn inwieweit ein Verhalten in der Gesamtschau (vgl. VerfG Brandenburg, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 4/03 –, NVwZ-RR 2004, 161 [162]; Morlok, JZ 2019, 790 [792]) das für eine wirkungsvolle Fraktionsarbeit erforderliche Vertrauensverhältnis zerstört hat, kann genauso wie der Umstand, ob es der Fraktion in der Öffentlichkeit einen Schaden zugefügt hat, ausschließlich an politischen und sonstigen innerfraktionellen Maßstäben gemessen werden.
79
Die Einschätzung der Antragsgegnerin, das Verhalten der Antragstellerin beschädige die vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Fraktion nachhaltig, kann danach nicht als willkürlich beanstandet werden. Die Antragsgegnerin durfte vielmehr im Rahmen ihres Entscheidungsspielraums willkürfrei annehmen, dass ihr das geschilderte Verhalten der Antragstellerin jedenfalls in der Gesamtschau, aber auch bereits isoliert im Hinblick auf deren Äußerungen in der Ausschusssitzung am 23. Januar 2020 und ihr anschließendes Verhalten im Zusammenhang mit dem Telefonat mit dem Abgeordneten B., dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Antragsgegnerin, eine weitere Zusammenarbeit unzumutbar gemacht hat.
80
aa) Die wirkungsvolle Zusammenarbeit in der Fraktion hängt nicht nur von wechselseitigen Loyalitäten in politischen Inhalten ab (sog. „Tendenztreue“, vgl. Morlok, JZ 2019, 2019, 790 [791]). Das arbeitsteilige Vorgehen und die „Überlassung politischer Felder an Fraktionskollegen“ (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [641]) erfordert nicht nur eine Verlässlichkeit in inhaltlicher, sondern auch in persönlicher Hinsicht. Die sinnvolle Arbeitsteilung in der Fraktion bedingt, dass jedes Fraktionsmitglied grundsätzlich auf den Sachverstand und die Empfehlungen jedes anderen vertraut (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [628]; ders./Krings, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz [Hrsg.], Parlamentsrecht, 2016, § 17 Rn. 43). Vielmehr erfordert der Charakter der Fraktion als „Arbeitsgemeinschaft“ auch ein anhaltendes wechselseitiges Vertrauen der Fraktionsmitglieder zueinander, das die persönliche Zuverlässigkeit und Umgänglichkeit einschließt und einen Schwerpunkt in der persönlichen Verlässlichkeit hat (Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [635, 641]; ders., JZ 2019, 790 [791]; vgl. auch OVG Saarl., Beschluss vom 20. April 2012 – 2 B 105/12 –, NVwZ-RR 2012, 613 [615]: „zumindest verträgliches Miteinander“). Das arbeitsteilige Zusammenwirken der Abgeordneten in einer Fraktion bedingt eine grundsätzliche Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit und damit ein wechselseitiges Grundvertrauen der Mitglieder untereinander (vgl. Butzer, in: Epping/Hillgruber [Hrsg.], GG, 3. Aufl. 2020, Art. 38 Rn. 184). Die einzelnen Fraktionsmitglieder dürfen eine wechselseitige Rücksichtnahme erwarten (vgl. P. Müller, in: v. Mangoldt/Klein/Starck [Hrsg.], GG, 7. Aufl. 2018, Art. 38 Rn. 98). Das danach erforderliche Vertrauensverhältnis bezieht sich auf den Abgeordneten als Person; Störungen können daher nicht nur aus der parlamentarischen Arbeit, sondern auch aus einem persönlichen Verhalten – auch außerhalb der Fraktion – folgen (vgl. VerfGH Berlin, Urteil vom 22. November 2005 – 53/05 –, NVwZ-RR 2006, 441 [445]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [368]).
81
Nicht jedes Abweichen von der Fraktionslinie wird bereits zu einem Vertrauensverlust führen und die Fraktion muss bis zu einem gewissen Grade auch eine „innerfraktionelle Opposition“ und interne Meinungsverschiedenheiten aushalten können (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [631]; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 4/03 –, NVwZ-RR 2004, 161 [162]). Denn das freie Mandat (Art. 79 Abs. 2 LV) wird durch die Anforderungen der in Fraktionen organisierten parlamentarischen Arbeit zwar mit geprägt, dies jedoch ohne den Grundsatz der Freiheit des Mandats zu verdrängen. Im organisatorischen Zusammenschluss zu Fraktionen geht die Freiheit des Mandats und damit die notwendige Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten nicht verloren, sondern bleibt innerhalb der Fraktionen und bei einzelnen Abweichungen von der Fraktionsdisziplin erhalten (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1959 – 2 BvE 2/58 u.a. –, BVerfGE 10, 4 [14]; Urteil vom 8. Dezember 2004 – 2 BvE 3/02 –, BVerfGE 112, 118 [135]; Wiefelspütz, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz [Hrsg.], Parlamentsrecht, 2016, § 12 Rn. 20; Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht, 2020, Rn. 278).
82
Gerade dann aber erfordert eine effektive, vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Fraktion es jedoch, dass Meinungsverschiedenheiten miteinander sachlich besprochen werden und alle Beteiligten an einer für alle akzeptablen Lösung konstruktiv mitwirken. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit in einer Fraktion verlangt somit auch die grundsätzliche Bereitschaft zum gedeihlichen Zusammenwirken, dies auch und gerade in der Auseinandersetzung. Es bedarf insgesamt in der Person jedes Einzelnen einer entsprechenden Streitkultur, die nicht zuletzt die grundsätzliche Bereitschaft, die eigenen inhaltlichen Präferenzen gegebenenfalls zurückzustellen, einschließt (vgl. H.H. Klein/Krings, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz [Hrsg.], Parlamentsrecht, 2016, § 17 Rn. 43; P. Müller, in: v. Mangoldt/Klein/Starck [Hrsg.], GG, 7. Aufl. 2018, Art. 38 Rn. 56). Hinzu kommt, dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit in einer Fraktion neben Loyalität auch ein Mindestmaß an Diskretion verlangt, das für eine abgestimmte politische Arbeit unerlässlich ist (vgl. OVG Saarl., Beschluss vom 20. April 2012 – 2 B 105/12 –, NVwZ-RR 2012, 613 [615]).
83
bb) Dem läuft es zuwider, wenn ein Fraktionsmitglied seinen – fraktionsinternen – Konflikt mit den übrigen Fraktionsmitgliedern unmittelbar in der Öffentlichkeit austrägt. Dass die Antragsgegnerin insoweit ein mit dem notwendigen Vertrauensverhältnis unvereinbares Verhalten der Antragstellerin angenommen hat, ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Führen einer rein fraktionsinternen Auseinandersetzung über die Reichweite innerfraktioneller politischer Abstimmungs- und Kooperationspflichten mit den Mitteln des fachgerichtlichen Rechtsschutzes kann danach willkürfrei als schwerer Loyalitätsverstoß gewertet werden. Zudem bleibt nach wie vor im Dunkeln, warum die Antragstellerin angesichts des von ihr behaupteten Einigungswillens den (von ihr nach wie vor bestrittenen bzw. anders dargestellten) Inhalt des Telefonats – der unbestritten auch persönliche Lebensumstände ihres Fraktionskollegen zum Gegenstand hatte – und Fraktionsinterna auf diesem Wege aus dem fraktionsinternen Raum in die Öffentlichkeit getragen hat, zumal sie selbst – vor der Beschlussfassung der Fraktion über ihren Ausschluss – vor dem von ihr angerufenen Landgericht angegeben hat, die beanstandete Tatsachenbehauptung sei ausschließlich im Rahmen des Fraktionsausschlussverfahrens getätigt worden. Ebenso unklar bleibt, welcher positive Effekt für eine einvernehmliche fraktionsinterne Lösung des Konflikts aus der von der Antragstellerin für die Fraktionssitzung am 11. Februar 2020 (erfolglos) beantragten Medienöffentlichkeit hätte resultieren können. Mediale Begleitung kann jedenfalls auch in Zusammenhang mit der Frage eines Fraktionsausschlusses durchaus geeignet sein, politische Handlungsspielräume zu verengen (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [632]).
84
Bereits angesichts dessen war es frei von Willkür, (alleine) auf dieser Grundlage einen irreparablen Vertrauensverlust anzunehmen.
85
Darüber hinaus widerspricht es dem für eine effektive arbeitsteilige Aufgabenwahrnehmung erforderlichen Vertrauensverhältnis, wenn ein Abgeordneter – wie hier die Antragstellerin – zumindest auf wesentlichen Politikfeldern politische Vorstöße unternimmt, die er zuvor nicht mit der Fraktion abgestimmt hat. Mit dem Anschluss an eine Fraktion geht der Abgeordnete eine politische Kooperationsverpflichtung ein (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [628]), die eine Bereitschaft der Fraktionsmitglieder zur politischen Abstimmung erfordert. Diese Pflicht schließt, wie dargelegt, auch die grundsätzliche Bereitschaft ein, gegebenenfalls persönliche inhaltliche Präferenzen zurückzustellen (H.H. Klein/Krings, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz [Hrsg.], Parlamentsrecht, 2016, § 17 Rn. 43; P. Müller, in: v. Mangoldt/Klein/Starck [Hrsg.], GG, 7. Aufl. 2018, Art. 38 Rn. 56). Eine solche Abstimmungspflicht setzt die Geschäftsordnung der Antragsgegnerin in § 4 Abs. 1 und § 7 im Übrigen auch voraus. Anders als die Antragstellerin meint, ist es der Fraktionsführung daher auch nicht verwehrt, sie – durchaus auch nachdrücklich – zur Einhaltung dieser Abstimmungs- und Kooperationsverpflichtung zu gemahnen (vgl. H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [628]). Durch ihre Fraktionsmitgliedschaft hat sich die Antragstellerin dieser Regelung, die als verbindliches Binnenrecht der Fraktion auch für sie gilt (vgl. Kürschner, DÖV 1995, 16 [18] m.w.N.), vielmehr freiwillig unterworfen (vgl. Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 479) und kann sich ihr als Mitglied der Fraktion nicht einseitig entziehen. Im Übrigen dient es der „Fraktionssolidarität“ bzw. „Fraktionsloyalität“, abweichendes Verhalten zumindest vorab mitzuteilen und dazu eine Begründung abzugeben (vgl. Butzer, in: Epping/Hillgruber [Hrsg.], GG, 3. Aufl. 2020, Art. 38 Rn. 131; Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht, 2020, Rn. 280).
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Erst recht in der Zusammenschau bzw. in der Gesamtbetrachtung der Vorkommnisse durfte die Antragsgegnerin willkürfrei ihre Entscheidung zusätzlich auch auf die Äußerungen der Antragstellerin in der Plenarsitzung am 23. Oktober 2019 zur Unterrichtsversorgung stützen. Es ist frei von Willkür, dass die Antragsgegnerin die von ihren Mitgliedern und der Öffentlichkeit als eine solche verstandene politische Forderung der Antragstellerin nach einer höheren als der im Koalitionsvertrag als Ziel angegebenen Unterrichtsversorgung, die für die Fraktionskollegen im Vorfeld nicht erkennbar und nicht abgestimmt war, als dieser Kooperationsverpflichtung und der Loyalitätserwartung der Fraktionsmitglieder zuwiderlaufend und damit als das Vertrauensverhältnis störend angesehen hat. Aus den Ausführungen der Antragsgegnerin wird insoweit deutlich, dass sie der Antragstellerin nicht die „bloße“ Äußerung als solche vorhält, sondern vielmehr den Umstand, dass sie ohne Vorankündigung und Abstimmung im landespolitisch bedeutsamen Bereich der Unterrichtsversorgung eine politische Forderung von erheblicher Tragweite in den Raum gestellt hat. Dass die Fraktionskollegen sich mit Blick auf das anderslautende Redemanuskript „getäuscht und hintergangen“ gefühlt haben, ist als fraktionsspezifische Einschätzung jedenfalls nicht willkürlich. Soweit die Antragstellerin dem entsprechenden Vorwurf damit entgegen treten will, dass sie keine Forderung erhoben habe, sondern ihre (perspektivische) Äußerung eine Idealvorstellung gewesen sei, die sich auch im Wahlprogramm der FDP gefunden habe, so betrifft dies (lediglich) ihr subjektives Verständnis des Inhalts der Äußerung. Ungeachtet dessen, wie die Antragstellerin ihre Äußerung „gemeint haben“ oder „verstanden wissen“ will, hat sie damit eine Aussage in den Raum gestellt, die für die Fraktionskollegen vorher nicht absehbar war und die allseits als über die Koalitionsvereinbarung hinausgehende Forderung wahrgenommen und im politischen Kontext entsprechend bewertet wurde.
87
Auch die Bewertung der Antragsgegnerin, die Antragstellerin habe durch ihre Äußerungen im Ausschuss für Gleichstellung und Frauenförderung betreffend das Thema „sexueller Missbrauch an Schulen“ und ihr sich daran anschließendes Verhalten das Vertrauensverhältnis zerstört, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Antragsgegnerin stellt dabei nicht alleine auf die – vorher nicht in der Fraktion thematisierte – Äußerung in der Ausschusssitzung ab, die von den Fraktionsmitgliedern und der Öffentlichkeit als Vorwurf an die Landesregierung verstanden wurde. Der Einwand der Antragstellerin, sie habe diese vorher in der Fraktionsversammlung nicht besprechen können, weil sie nicht gewusst habe, was am folgenden Tag in der Sitzung thematisiert werden würde, ist daher ohne Belang. Gleiches gilt hinsichtlich ihres Hinweises auf die Äußerung eines Referenten des Bildungsministeriums in der Sitzung sowie darauf, dass sie die Äußerungen spontan gemacht habe. Offen bleiben kann daher, inwieweit der Antragstellerin als ehemaliger Schulleiterin ein hinreichendes Bewusstsein für die Sensibilität dieses Themas und für die (vorhersehbaren) politischen und medialen Auswirkungen ihrer Äußerungen unterstellt werden kann. Aus dem Vorbringen der Antragsgegnerin lässt sich vielmehr im Kern und in der Gesamtwürdigung als für die Fraktionsmitglieder entscheidend herauslesen, dass die Antragstellerin sich zu einer in der Fraktion zuvor nicht besprochenen Thematik in einem brisanten Bereich geäußert hat und dabei – so jedenfalls aus Außensicht – der von der Fraktion getragenen Landesregierung den Vorwurf gemacht hat, diese würde nicht adäquat reagieren, und im Anschluss daran – insbesondere in der Fraktionsversammlung am 29. Januar 2020 – eine für die Fraktion angemessene Aufarbeitung dieser Thematik nicht ermöglicht und sich zuvor bzw. parallel ohne Abstimmung mit der Fraktion in der Öffentlichkeit bzw. der Presse geäußert hat. Es ist offenkundig, dass die „Aufarbeitung“ unter Mitwirkung der Antragstellerin insgesamt jedenfalls nicht „reibungslos“ verlaufen ist – was auch die Antragstellerin selbst zumindest teilweise kritisch gesehen hat. Wie die übrigen Fraktionskollegen anknüpfend an diese Vorkommnisse die darin zum Ausdruck kommende Art und Weise der Zusammenarbeit und die Schwere der Auswirkungen auf das Vertrauensverhältnis innerhalb der Fraktion bewerten, unterfällt in erster Linie der fraktionsspezifischen Betrachtung. Willkür lässt sich in alldem jedenfalls nicht feststellen.
88
Ausgehend von diesen – wie ausgeführt zum Teil bereits isoliert die Annahme eines endgültigen Vertrauensverlusts rechtfertigenden – Gesichtspunkten unterliegt die Bewertung der „Gesamtschau“ des Verhaltens der Antragstellerin keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, ohne dass es für die hier zu treffende Prüfung noch im Einzelnen auf das Verhalten in der Plenarsitzung am 13. November 2019 (keine Beifallsbekundung) und der verfassungsrechtlichen Bewertung einer darauf bezogenen „Vorwerfbarkeit“ im Hinblick auf die Grenzziehung zwischen Fraktionsdisziplin und Fraktionszwang ankommt (vgl. zur Androhung des Fraktionsausschlusses bei einer nicht völlig mit der von der Fraktion vertretenen Auffassung übereinstimmenden Rede etwa BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1959 – 2 BvE 2/58, 2 BvE 3/58 –, BVerfGE 10, 4 [15]; siehe auch VerfGH BW, Urteil vom 27. Oktober 2017 – 1 GR 35/17 –, NVwZ-RR 2018, 129, [131]). Die von der Antragstellerin geäußerten – und jedenfalls nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisenden – verfassungsrechtlichen Bedenken, insoweit würde ein in Betätigung ihres freien Mandats erfolgtes Verhalten missbilligt und nachträglich bestraft, bedürfen hier keiner weiteren Auseinandersetzung, denn die Antragsgegnerin hat ausdrücklich klargestellt, dass auch nach ihrer Bewertung dieses Verhalten „noch nicht zwingend“ einen Fraktionsausschluss rechtfertigen könnte. Dies beansprucht gleichermaßen Geltung, soweit sie das Verhalten der Antragstellerin in der Plenarsitzung am 29. Januar 2020 – vorzeitiges Verlassen der Sitzung ohne Abmeldung – ebenfalls in diese Gesamtbetrachtung einbezogen hat.
89
Soweit die Antragsgegnerin aus dem Umstand, dass die Antragstellerin im Rahmen ihrer Anhörung am 11. Februar 2020 in der Fraktionsversammlung auf Nachfrage bejaht hat, dass die „Zusammenarbeit weiterhin über Anwälte stattfinden solle“, auf einen (anhaltenden) Mangel an Kooperationsbereitschaft und Vertrauen geschlossen hat, stellt sich dies gleichfalls nicht als willkürlich dar. Im Gegenteil unterstreicht diese Äußerung vielmehr, dass die Antragstellerin selbst die Vertrauensbasis für ein gedeihliches Zusammenarbeiten innerlich zu verneinen scheint, wenn sie ankündigt, ihren Fraktionskollegen weiterhin nur unter Zuhilfenahme rechtlichen Beistands begegnen zu wollen. Gleiches gilt insoweit, als sie ihre Bereitschaft zur vertrauensvollen Zusammenarbeit von „anderen“ Regeln abhängig macht als denen, die sich die Fraktionsmitglieder – sie eingeschlossen – bei ihrem Zusammenschluss gegeben haben und die die anderen Mitglieder als Grundlage ihrer Zusammenarbeit ansehen. Die selbst gegebene Fraktionsgeschäftsordnung ordnet als verbindliches Binnenrecht der Fraktion das Verfahren der zusammengeschlossenen Abgeordneten. Ihre Einhaltung ist nicht in das freie Belieben der einzelnen Fraktionsmitglieder gestellt (vgl. Kürschner, DÖV 1995, 16 [18]; Butzer, in: Epping/Hillgruber [Hsrg.], GG, 3. Aufl. 2020, Art. 38 Rn. 195; Brocker, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rn. 224 [Sep. 2019]). Im Hinblick darauf ist auch die Einschätzung der Antragsgegnerin frei von Willkür, dass mit einer Wiederherstellung eines für eine gedeihliche Zusammenarbeit erforderlichen Vertrauensverhältnisses nicht mehr gerechnet werden kann.
90
Ohne dass es nach dem vorstehend Ausgeführten hierauf noch ankäme, ist auch die Wertung der Antragsgegnerin, die Antragstellerin habe das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit durch ihr Verhalten nachhaltig geschädigt und damit die Außenwirkung der Fraktion und deren Wirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt, nach den obigen Ausführungen frei von Willkür. Dabei ist es insbesondere nicht entscheidend, wie die Antragstellerin ihre in die Gesamtbewertung des Fraktionsausschlusses einbezogenen Äußerungen im Einzelnen „gemeint“ haben will. Vielmehr hat sie als Abgeordnete für „die rein objektive Wirkung des eigenen Verhaltens“ im Sinne einer „Gefährdungshaftung“ einzustehen (vgl. Morlok, ZParl 35 [2004], 633 [642 f.]). In diesem Zusammenhang ist zudem daran zu erinnern, dass es insbesondere auch in den Entscheidungsspielraum der Fraktion fällt, wie lange sie glaubt, einen Störer in ihren Reihen aushalten zu können bzw. umgekehrt ab wann erst die Trennung von dem Betroffenen aus ihrer Sicht „die Rückgewinnung ihres politischen Handlungsspielraums verheißt“ (H.H. Klein, ZParl 35 [2004], 627 [632]).
91
Darüber hinaus ist es nicht Sache des Verfassungsgerichtshofs, seine eigene Bewertung an die von politischen und sonstigen innerfraktionellen Maßstäben geprägte Wertung der Antragsgegnerin zu setzen (VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [442] m.w.N.). Dies gilt in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem es neben rein politischen Implikationen ganz maßgeblich und vor allem auf persönliche Erfahrungen und Eindrücke der Beteiligten ankommt, in besonderem Maße (vgl. VerfG Brandenburg, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 4/03 –, NVwZ-RR 2004, 161 [162]).
92
c) Auch der Einwand der Antragstellerin, der Fraktionsausschluss sei unverhältnismäßig, weil er nur als „letztes Mittel“ in Betracht komme und vorliegend eine förmliche Abmahnung bzw. Ermahnung oder ein Ausschussrückruf seitens der Fraktion ausreichend gewesen wären, verfängt nicht. Soweit die Antragsgegnerin im Rahmen ihres Entscheidungsspielraums in willkürfreier Weise einen „wichtigen Grund“ für einen Fraktionsausschluss bejaht hat, ist die Frage nach einem milderen Mittel bereits dorthin vorverlagert (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [455]; LVerfG SH, Urteil vom 29. August 2019 – 1/19 –, NordÖR 2019, 467 [475]; Lenz, NVwZ 2005, 364 [369]). In diesem Sinne ist es jedenfalls angesichts der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Annahme, den Fraktionsmitgliedern könne die weitere Zusammenarbeit mit der Antragstellerin wegen des zerstörten Vertrauensverhältnisses nicht mehr zugemutet werden, nicht zu beanstanden, darüber hinaus für ein milderes Mittel kein Raum mehr zu sehen (vgl. auch VerfGH RP, Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [455]).
D.
93
Das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist kostenfrei (§ 21 Abs. 1 VerfGHG). Gründe für die Anordnung der vollen oder teilweisen Erstattung der Auslagen gemäß § 21a Abs. 3 VerfGHG, die im Organstreitverfahren nur ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn besondere Billigkeitsgründe vorliegen (vgl. entspr. BVerfG, Urteil vom 2. März 1977 – 2 BvE 1/76 –, BVerfGE 44, 125 [166 f.]; Beschluss vom 20. Mai 1997 – 2 BvH 1/95 –, BVerfGE 96, 66 [67]; Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 2 BvE 1/18 –, BVerfGE 150, 194 [203 Rn. 29]), liegen wechselseitig nicht vor.
E.
94
Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz – RVG – (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 20. August 2014 – VGH B 16/14 –, AS 43, 45 f.; Beschluss vom 20. Oktober 2014 – VGH A 17/14 –, AS 43, 92 f.; Beschluss vom 25. November 2016 – VGH N 18/14 –, n.v.; Beschluss vom 27. Oktober 2017 – VGH N 2/15 –, juris Rn. 3; Urteil vom 29. Januar 2019 – VGH O 18/18 –, AS 46, 425 [456]).
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Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Streitwertbeschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 4. März 2020 geändert.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 975.000 EUR festgesetzt.
Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
1
Mit der der Streitwertbeschwerde zugrundeliegenden Klage begehrte die Klägerin die Verlängerung der Geltungsdauer eines planungsrechtlichen Bauvorbescheides für ein „Nahversorgungs- und Dienstleistungszentrum“ mit 6.500 m² Verkaufsfläche. Auf der Grundlage des ursprünglichen Bauvorbescheids ist der Klägerin bereits ein Einzelhandelsvorhaben mit 4.325 m² Verkaufsfläche genehmigt worden. Nachdem die Beklagte den Bauvorbescheid verlängert und die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt hatten, setzte die Berichterstatterin den Streitwert auf 326.250 EUR fest. Dabei legte sie den vom Senat für Verpflichtungsklagen auf Erteilung einer Baugenehmigung für großflächigen Einzelhandel regelmäßig angenommenen Streitwert von 150 EUR/m² Verkaufsfläche zugrunde und multiplizierte diesen mit der Differenz aus der vom Bauvorbescheid abgedeckten und der mit der Baugenehmigung vom 2. Mai 2018 bereits ausgenutzten Verkaufsfläche (6.500 - 4.325 = 2.175 m²).
2
Über die dagegen gerichtete Streitwertbeschwerde entscheidet in entsprechender Anwendung der § 66 Abs. 6 GKG und § 21g Abs. 3 GVG der Berichterstatter des Senats (ständige Rechtsprechung seit Senatsbeschluss vom 26.3.2008 - 1 OA 65/08 -, unter Hinweis auf VGH Mannheim, Beschl. v. 2.6.2006 - 9 S 1148/06 -, NVwZ-RR 2006, 648).
3
Die Beschwerde, mit der die Klägerin die Berücksichtigung einer Verkaufsfläche von 6.500 m² für den Streitwert begehrt, hat Erfolg. Die Erteilung einer Baugenehmigung für ein Vorhaben mit 4.325 m² Verkaufsfläche führt nicht dazu, dass der Bauvorbescheid sich in dieser Höhe erledigt hätte, und das Interesse der Klägerin lediglich noch anhand des Genehmigungswertes eines ergänzenden Vorhabens mit 2.175 m² zu ermitteln wäre. Die Verlängerung des Bauvorbescheides ermöglicht es der Klägerin vielmehr weiterhin, alternativ zum genehmigten Vorhaben ein als aliud zu beurteilendes Bauvorhaben mit insgesamt 6.500 m² Verkaufsfläche zur Genehmigung zu stellen und zu verwirklichen. Ebenso wie in sonstigen baurechtlichen Verfahren, in denen der Bauherr ein Vorhaben bzw. eine Nutzung an die Stelle eines/einer anderen setzen möchte, regelmäßig keine Differenzbetrachtung erfolgt, verbietet sich diese auch hier.
4
Eine Reduktion des Streitwertes mit Blick darauf, dass keine Baugenehmigung, sondern nur ein Bauvorbescheid begehrt wurde, ist nicht angezeigt; insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Bezug genommen. Auch die Tatsache, dass nicht die erste Erteilung, sondern die Verlängerung des Bescheides begehrt wird, wirkt sich auf den Streitwert nicht aus (Senatsbeschl. v. 13.5.1991 – 1 O 18/91 -; VGH Mannheim, Beschl. v. 22.4.1999 – 5 S 662/99 -, VBlBW 1999, 386 = NVwZ-RR 2000, 331).
5
Die Nebenentscheidungen folgen aus § 68 Abs. 3 GKG.
6
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1. Der 13-jährige Antragsteller (Schüler), vertreten durch seine Eltern, wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Anordnung der häuslichen Quarantäne als Kontaktperson der Kategorie I und gegen eine Anordnung der konkreten Testung.
Mit Schreiben vom 27. Oktober 2020 teilte der Antragsgegner, vertreten durch das Landratsamt Schweinfurt, Gesundheitsamt, dem Antragsteller mit, dass dieser vom Gesundheitsamt Schweinfurt nach den jeweils geltenden Kriterien des Robert-Koch-Instituts (im Folgenden: RKI) als Kontaktperson der Kategorie I ermittelt worden sei. Deshalb gelte für ihn die Allgemeinverfügung „Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I, von Verdachtspersonen und von positiv auf das Coronavirus getesteten Personen“ vom 18. August 2020, geändert durch Bekanntmachung vom 29. September 2020 (im Folgenden: Allgemeinverfügung). Auf den Inhalt der Allgemeinverfügung werde Bezug genommen. Danach dürfe der Haushalt nicht verlassen werden. Kontaktdaten seien festzuhalten. Der Kontakt zu Mitbewohnern des Haushalts sei möglichst einzuschränken. Weiterhin sei täglich Fieber zu messen und zu dokumentieren. Das Gesundheitsamt sei bei Änderung des Gesundheitszustandes unverzüglich zu unterrichten. Bei ärztlichem Behandlungsbedarf sei dies vorab telefonisch mitzuteilen. Eine Entisolierung und Entlassung sei frühestens 14 Tage nach Kontakt zum Indexfall (letzter Kontakt: 19.10.2020) möglich. Die Kontaktperson der Kategorie I müsse in Quarantäne bleiben, bis sie eine entsprechende Mitteilung erhalte. Weiterhin ergehe folgende Anordnung: Für den Antragsteller werde ein Test/Abstrich am Testzentrum Schweinfurt am Freitag, 30. Oktober 2020, 11:30 Uhr angeordnet.
In den Gründen ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller sei als Schüler über einen längeren Zeitraum mit einer positiv auf das Corona-Virus getesteten Person in einem Klassenzimmer gewesen. Das entsprechende RKI-Kriterium „Personen in relativ beengter Raumsituation oder schwer zu überblickender Kontaktsituation mit dem bestätigten COVID-19-Fall (z.B. Kita-Gruppe, Schulklasse), unabhängig von der individuellen Risikoermittlung“ sei somit erfüllt. Der Antragsteller sei Krankheitsverdächtiger bzw. Ansteckungsverdächtiger und unterliege daher einem höheren Infektionsrisiko. Um eine weitere Verbreitung der ansteckenden Krankheit zu verhindern, sei häusliche Absonderung für einen Zeitraum von mindestens 14 Tagen seit dem letzten Kontakt zum Erkrankungsfall erforderlich, um eine Weiterverbreitung des hochansteckenden Erregers zu verhindern. Zudem sei er als Kontaktperson der Kategorie I einzustufen, da der letzte Kontakt zu einer infizierten Person noch nicht länger als 14 Tage (Inkubationszeit) zurückliege und sich noch eine Infizierung einstellen könne. Die Aufhebung der Quarantänemaßnahme könne nicht vor Ablauf von 14 Tagen erfolgen. Die Anordnung der Testung beruhe auf Nr. 4.3 der Allgemeinverfügung. Dies diene dazu, frühzeitig COVID-19-Erkrankungen zu erkennen und durch weitere Maßnahmen gesundheitliche Risiken von anderen Personen, z.B. Haushaltsangehörigen, sowie den Verlauf der Situation einschätzen zu können.
2. Am 29. Oktober 2020 (Eingang bei Gericht kurz vor 15:00 Uhr) ließ der Antragsteller b e a n t r a g e n,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 27. Oktober 2020 in Verbindung mit der Allgemeinverfügung anzuordnen.
Hilfsweise werde gemäß § 123 VwGO
b e a n t r a g t:
Der Antragsteller wird mit sofortiger Wirkung aus der häuslichen Quarantäne entlassen. Die Vornahme der CoV-2-Testung wird verboten.
Zur Antragsbegründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Einordnung als Ansteckungsverdächtiger bzw. Krankheitsverdächtiger sei willkürlich. In der Medizin bestehe die einhellige Auffassung, dass ein PCR-Test, bei welchem die Referenzperson positiv auf das neuartige Corona-Virus SARS-Cov-2 getestet worden sei, zu diagnostischen Zwecken nicht geeignet sei. Insbesondere sage ein Test nichts darüber, ob es sich um infektionsfähige Viren oder Virusreste nach durchgemachter Infektion handele. Hierzu wäre eine hier nicht durchgeführte Erregeranzucht erforderlich. Ein PCR-Test allein sage nichts über eine mögliche Infektiosität des Betroffenen aus. Somit fehle bislang die notwendige amtsärztliche Bestätigung, dass bei der Kontaktperson eine Infektion nachgewiesen worden sei. Darüber hinaus sei der Antragsteller nicht Kontaktperson I. Grades. Die Schüler hielten im Klassenzimmer die Abstandsvorschriften ein. Daneben trügen sie eine Mund-Nasen-Bedeckung. Ein Klassenzimmer sei auch keine relativ beengte Räumlichkeit oder schwer zu überblickende Kontaktsituation. Das Klassenzimmer werde regelmäßig gelüftet. Willkürlich sei zudem, dass die Referenzperson nicht darauf überprüft worden sei, ob es sich um einen falschen positiven Test handele. So sei kürzlich über einen Fußballspieler berichtet worden, bei dem ein falscher positiver Test vorgelegen habe. Darüber hinaus sei die Quarantäneanordnung eine freiheitsentziehende Maßnahme und könne nicht durch Allgemeinverfügung ohne richterlichen Beschluss angeordnet werden. Dies ergebe sich aus den Vorschriften zur Isolation in der angefochtenen Allgemeinverfügung. So weitgehende Maßnahmen, gerade bei einem Kind, stellten keine freiheitsbeschränkenden Maßnahmen dar, sondern seien freiheitsentziehende Maßnahmen. Gerade die hier praktizierte Vorgehensweise zeige die Notwendigkeit richterlicher Kontrolle. Die Testung sei rechtswidrig, weil hier regelmäßig tief in die Mundhöhle bzw. Nasenhöhle eingedrungen und Probematerial entnommen werde. Dies sei aus gesundheitlicher Sicht nicht unbedenklich. Aus diesem Grund könnten gemäß § 25 Abs. 3 Satz 3 IfSG derartige invasive Eingriffe nur mit Einwilligung des Betroffenen vorgenommen werden. Diese Einwilligung liege nicht vor. Die fehlende Einwilligung könne auch nicht durch eine Anordnung ersetzt werden.
3. Das Landratsamt Schweinfurt b e a n t r a g t e mit Schriftsatz vom 30. Oktober 2020, den Antrag abzulehnen.
Zur Antragserwiderung ist im Wesentlichen ausgeführt: Das Schreiben vom 27. Oktober 2020 sei auf Wunsch des Vaters des Antragstellers ergangen. Am 29. Oktober 2020 sei ein Widerspruch eingegangen. Der Antrag sei unzulässig und unbegründet. Bei dem Schreiben vom 27. Oktober 2020 handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt. Die rechtliche Regelung folge unmittelbar aus der Allgemeinverfügung. Bei der bloßen Mitteilung des Gesundheitsamtes handele es sich um einen Realakt. Dies gelte auch für die Mitteilung der Quarantänedauer. Die Duldungspflicht zur Probeentnahme folge aus 4.3 der Allgemeinverfügung. In Nr. 4 des Schreibens vom 7. Oktober 2020 sei lediglich der Testtermin und -ort festgelegt worden. Zudem sei ein Widerspruch nicht statthaft (Art. 15 AGVwGO). Der Antrag sei jedenfalls unbegründet. Bei dem Antragsteller handele es sich um eine Kontaktperson der Kategorie I (höheres Infektionsrisiko). Dies seien unter anderem Personen, die nach Risikobewertung durch das Gesundheitsamt mit hoher Wahrscheinlichkeit einer hohen Konzentration von infektiösem Aerosol im Raum ausgesetzt gewesen seien oder Personen in relativ beengter Raumsituation oder schwer zu überblickender Kontaktsituation mit dem bestätigten COVID-19-Fall (z.B. Schulklassen), unabhängig von der individuellen Risikoermittlung. Der Antragsteller habe sich am 19. Oktober 2020 über einen längeren Zeitraum mit einer positiv getesteten Person in einem Klassenzimmer befunden. Die andere Person sei am 21. Oktober 2020 positiv auf das Corona-Virus getestet worden. Der CT-Wert betrage einen Wert von 20, weshalb der positiv getestete Schüler am 19. Oktober 2020 hoch infektiös gewesen sei. Darüber hinaus werde nach den RKI-Kriterien bei asymptomatischen Indexfällen das infektiöse Zeitintervall in Situationen, in dem keine weiteren Informationen zur Infektionsquelle vorliege und es sich um keine besondere Risikosituation handele, der Labornachweis als Näherung für den Symptombeginn angenommen. Damit seien Personen mit Kontakt ab 48 Stunden vor Probeabnahmedatum nachzuverfolgen. Bei dem RKI handele es sich gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 IfSG um die nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Verbreitung von Infektionen. Ihre fachliche Einschätzung könne das Gesundheitsamt zugrunde legen. Nach Nr. 6.1 2. Allgemeinverfügung ende bei Kontaktpersonen, bei denen kein positives Testergebnis vorhanden sei, die häusliche Isolation, wenn der enge Kontakt mindestens 14 Tage zurückliege und während der Isolation keine typischen Krankheitszeichen aufgetreten seien. Im Falle eines positiven Testergebnisses ende die Isolation frühestens zehn Tage nach dem Erstnachweis des Erregers bzw. bei leichtem Krankheitsverlauf frühestens zehn Tage nach Symptombeginn und Symptomfreiheit seit mindestens 48 Stunden. Die Festlegung des Testtermins und des Orts der Testung beruhe auf Nr. 4.3 der Allgemeinverfügung. Sie diene dazu, Infektionsketten lückenlos nachvollziehen zu können und gegebenenfalls geeignete weitere Schutzmaßnahmen (Isolation weiterer positiv Getesteter sowie Kontaktpersonen-Management) ergreifen zu können. Die Allgemeinverfügung sei kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Das Verwaltungsgericht Würzburg sei örtlich nicht zuständig. Dessen unbeschadet sei ein richterlicher Beschluss nach § 30 Abs. 2 IfSG nur bei der zwangsweisen Absonderung durch Unterbringung in einem abgeschlossenen Krankenhaus und dergleichen erforderlich, was sich aus dem Verweis auf Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ergebe. Bei der Anordnung der Isolation handele es sich um eine bloße freiheitsbeschränkende Maßnahme, für die kein richterlicher Beschluss erforderlich sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die eingereichten Schriftsätze samt Anlagen (einschließlich Behördenakte) Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
Das Verwaltungsgericht Würzburg ist örtlich zuständig. Hinsichtlich der Allgemeinverfügung ist das Gericht gemäß § 52 Nr. 3 Satz 2 örtlich zuständig, weil bei einem Verwaltungsakt, der sich über den Zuständigkeitsbereich mehrerer Verwaltungsgerichtsbezirke erstreckt, auf den Wohnsitz des Beschwerten abzustellen ist. Soweit das Schreiben des Landratsamtes Schweinfurt vom 27. Oktober 2020 selbst zusätzlich Verwaltungsaktscharakter hat, ergibt sich die örtliche Zuständigkeit aus § 52 Nr. 3 Satz 1 VwGO.
Statthaft zur Verfolgung des Begehrens des Antragstellers ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Die Pflicht, sich als Kontaktperson der Kategorie I in häusliche Quarantäne zu begeben, ergibt sich unmittelbar aus der Allgemeinverfügung. Die Mitteilung des Gesundheitsamtes vom 27. Oktober 2020 stellt insoweit keinen Verwaltungsakt im Sinne des Art. 35 Satz 1 BayVwVfG dar, da es insoweit an einer Regelungswirkung fehlt (vgl. VG Regensburg, B.v. 28.10.2020 - RO 14 S 20.2590; VG Würzburg, B.v. 18.9.2020 - W 8 S 20.1326 - juris).
Der Antrag richtet sich gegen den Freistaat Bayern, der bezogen auf die Allgemeinverfügung gegen das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege zu richten gewesen wäre. Dass der Freistaat Bayern im vorliegenden Sofortverfahren insgesamt durch das Landratsamt Schweinfurt vertreten war, macht den Antrag aber nicht unzulässig.
Soweit das Landratsamt in dem Schreiben vom 27. Oktober 2020 einzelfallbezogen auf den Antragsteller weitergehende Anordnungen getroffen hat, insbesondere Ort und Zeitpunkt der Testung individualisiert hat, hat diese Regelung Verwaltungsaktcharakter gemäß Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG (vgl. VG Bayreuth, B.v. 23.10.2020 - B 7 S 20.1094).
Im Ergebnis ohne Belang ist weiter der Umstand, dass der Antragsteller bislang nur einen Widerspruch eingelegt hat, obwohl das Vorverfahren nach § 68 VwGO entfallen ist (vgl. Art. 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGVwGO). Der Antrag ist gleichwohl statthaft, da der Antragsteller noch eine Anfechtungsklage erheben könnte.
Die streitgegenständlichen Regelungen aus der Allgemeinverfügung bzw. aus dem Schreiben vom 27. Oktober 2020 sind gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2, § 28 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 16 Abs. 8 IfSG kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Eine noch zu erhebende Anfechtungsklage würde gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO keine aufschiebende Wirkung entfalten.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unbegründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alternative 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene originäre Entscheidung. Es hat zwischen dem in der gesetzlichen Regelung - hier § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG - zum Ausdruck kommenden Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren dann voraussichtlich als erfolgreich, ist das Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
Bei summarischer Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass die noch zu erhebende Anfechtungsklage des Antragstellers im Hauptsacheverfahren erfolglos bleiben wird. Jedenfalls ist bei einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen vorliegend dem Interesse der Allgemeinheit am Sofortvollzug der Isolations- bzw. Quarantäneanordnung der Vorzug gegenüber dem Interesse des Antragstellers auf Aufhebung der Quarantäne zu geben.
Auf die zutreffende Begründung in der Allgemeinverfügung sowie im Schreiben des Landratsamtes Schweinfurt vom 27. Oktober 2020, welche in der Antragserwiderung vom 30. Oktober 2020 nachvollziehbar vertieft wurde, wird ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO analog).
Der Antragsteller ist eine ansteckungsverdächtige Person im Sinne des § 2 Nr. 7 IfSG und gehört zum Kreis der von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten Personen. Der Antragsteller ist als Kontaktperson der Kategorie I gemäß Nr. 1.1 der Allgemeinverfügung einzustufen. In personeller Hinsicht gilt die Allgemeinverfügung gemäß Nr. 1.1 insbesondere für Personen, denen vom Gesundheitsamt mitgeteilt wurde, dass sie aufgrund eines engen Kontakts zu einem bestätigten Fall von COVID-19 nach den jeweils geltenden Kriterien des RKI, das bei der Vorbeugung übertragbarer Krankheiten und der Verhinderung und Verbreitung von Infektionen eine besondere Sachkunde aufweist (§ 4 IfSG), Kontaktpersonen der Kategorie I sind. Die Kriterien, nach denen die Einordnung von Kontaktpersonen erfolgt, stellt das RKI allgemein zugänglich auf seiner Homepage dar („Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Corona-Virus SARS-CoV-2“, insbesondere Nr. 2.1. B., abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Kontaktperson/Management.html).
Das zuständige Gesundheitsamt ordnet die tatsächlichen Gegebenheiten im Einzelfall nach diesen Kriterien des RKI ein. Danach ist die Einordnung des Antragstellers als Kontaktperson nicht zu beanstanden. Der Antragsteller fällt unter die Kontaktpersonen der Kategorie I B, weil ein Kontakt unabhängig vom Abstand mit einer hohen Konzentration infektiöser Aerosole stattgefunden hat. In solchen Situationen mit hoher Konzentration infektiöser Viruspartikel im Raum sind nach Angaben des RKI auch Personen gefährdet, die sich weiter vom Quellfall entfernt aufgehalten haben. Die Situation wie hier im gemeinsamen Unterricht in einem Klassenzimmer ist grundsätzlich geeignet, einen Kontakt der Kategorie I B zu begründen. So nennt das RKI als Regelbeispiel für derartige Kontaktsituationen ausdrücklich: „optional: Personen in relativ beengter Raumsituation oder schwer zu überblickender Kontaktsituation mit dem bestätigten COVID-19-Fall (z.B. Schulklassen, Gruppenveranstaltungen), unabhängig von der individuellen Risikoermittlung“. Weiter empfiehlt das RKI, dass unter diesen Voraussetzungen eine Quarantäneanordnung für alle Personen unabhängig von der individuellen Risikobewertung sinnvoll sein kann (z.B. Schulklassen). Hieraus resultiert, dass Unterrichtssituationen grundsätzlich, aber nicht unbedingt zwingend geeignet sind, Kontakte der Kategorie I B zu begründen. Zur konkreten Einstufung gibt das RKI Kriterien vor. Demnach sind namentlich die Dauer, die Räumlichkeiten und die Aerosol-Emissionen zu berücksichtigen.
Aus den erwägungsleitenden Kriterien folgt, dass eine hohe Konzentration infektiöser Aerosole vorgelegen hat, weil dafür auch eine Dauer des gemeinsamen Aufenthalts im Raum von 30 Minuten oder mehr ausreicht. Bei einer Regeldauer einer Schulstunde von 45 Minuten, in denen die infektiöse Person durchgehend anwesend war und in denen zwischendurch nicht ausgiebig gelüftet worden war - erscheint zumindest aus diesem Aspekt heraus die Annahme des Gesundheitsamts sachgerecht, von einer Kontaktsituation der Kategorie I B auszugehen. Gegenteilige Anhaltspunkte (z. B. Raumgröße, Lüftungsverhältnisse) sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass zwischenzeitlich ein vollständiger Luftaustausch stattgefunden hätte. Das RKI schließt aus dem Umstand, dass bei einem nachgewiesenen Fall eine Infektion durch einen Schüler oder eine Schülerin die gesamte Klasse, zu der eine mindestens 30-minütige Exposition bestanden habe, als Kontaktperson der Kategorie I zu betrachten und entsprechend zu verfahren, also sofortige Quarantäne usw. einzuleiten ist. Die Einhaltung weiterer Hygienemaßnahmen etwa wie der Mund-Nasenschutz reichen in der Konstellation nicht aus (vgl. VG Regensburg, B.v. 28.10.2020 - RO 14 S 20.1590; VG Bayreuth, B.v. 23.10.2020 - B 7 S 20.1094 m.w.N.).
Zu Recht betont der Antragsgegner unter Bezugnahme auf das RKI, dass eine Unüberschaubarkeit der Kontaktsituation im Hinblick auf die Verbreitung des Coronavirus über eine hohe Konzentration infektiöser Areosole in der Räumlichkeit auch unter der Bedingung der Einhaltung von Abständen und Lüftungsvorgaben sowie das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung zu einem höheren Infektionsrisiko führen kann. Der gemeinsame Aufenthalt in einer Schulklasse und im Klassenraum wird laut RKI ausdrücklich als Beispiel für die Bejahung eines Ansteckungsverdachts im Sinne einer Qualifizierung als Kontaktperson der Kategorie I genannt (Nds. OVG, B.v. 22.10.2020 - 13 ME 386/20 - juris; VG Karlsruhe, B.v. 13.10.2020 - 8 K 4139/20 - juris).
Der weitere Einwand der Antragstellerseite, dass die Infektion des Mitschülers nicht nachgewiesen sei, weil der PCR-Test nicht zuverlässig sei, verfängt nicht. Auch der Verweis in diesem Zusammenhang auf eine fehlerhafte Testung eines Fußballspielers rechtfertigt keine andere Beurteilung. Mangels Detailkenntnisse hat das Gericht gerade im Eilverfahren zu den Umständen der Testung des Fußballspielers keine konkreten Kenntnisse. Im Übrigen ist zum Fall des Fußballspielers noch anzumerken, dass es keine Gleichheit im Unrecht gibt. Unabhängig davon gilt der PCR-Test laut verbreiteter wissenschaftlicher Einschätzung und gerade des RKI als extrem zuverlässig. Jedenfalls ist ein falsches positives Testergebnis unwahrscheinlich. Aufgrund des Funktionsprinzips von PCR-Tests und der hohen Qualitätsanforderungen liegt die analytische Spezifität bei korrekter Durchführung und Bewertung bei nahezu 100%. Im Rahmen von qualitätssichernden Maßnahmen nehmen diagnostische Labore an Ringversuchen teil. Die Herausgabe eines klinischen Befundes unterliegt einer fachkundigen Validierung. Nicht plausible Befunde werden in der Praxis durch Testwiederholung oder durch zusätzliche Testverfahren bestätigt oder verworfen. Bei korrekter Durchführung der Tests und fachkundiger Beurteilung der Ergebnisse geht das RKI nachvollziehbar von einer sehr geringen Zahl falscher positiver Befunde aus (siehe https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html sowie www.rki.de/covid-19-diagnostik; VG Regensburg, B.v. 28.10.2020 - RO 14 S 20.2590; B.v. 18.9.2020 - RO 14 S 20.2260 - juris). Das Gericht hat - zumal im vorliegenden Eilverfahren - keine triftigen Anhaltspunkte von der Einschätzung des Antragsgegners unter Berufung auf das RKI abzuweichen. Einzelne gegenteilige Veröffentlichungen von Medizinern bzw. Wissenschaftler sind nicht geeignet, die vorstehend zitierte Expertise des RKI zu erschüttern Des Weiteren führt der Einwand, dass vorliegend durch die Quarantäneanordnung eine Freiheitsentziehung gemäß Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG, die dem Richtervorbehalt unterliege, gegeben wäre, im Ergebnis nicht zu einer anderen Beurteilung, weil zum einen das Recht nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG nicht schrankenlos gewährleistet ist, sondern gemäß Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG durch formelles Gesetz eingeschränkt werden kann. Die hieran anzustellenden Anforderungen dürfte die spezielle Rechtsgrundlage des § 30 Abs. 1 IfSG, der die Absonderung gerade für Ansteckungsverdächtige vorsieht, aller Voraussicht nach genügen (VG Bayreuth, B.v. 23.10.2020 - B 7 S 20.1094). Darüber hinaus ist zum anderen - wie auch vom Antragsgegner angeführt - zu erwägen, ob hier schon gar keine freiheitsentziehende, sondern nur eine freiheitsbeschränkende Maßnahme vorliegt. Denn ausweislich der Gesetzesbegründung setzt die in § 30 Abs. 1 IfSG genannte Absonderung die Freiwilligkeit des Betroffenen und damit seine Einsicht in das Notwendige voraus (Bt-Drs. 14/253, 75). Weigert sich der Betroffene, der Absonderung nachzukommen, ist diese nach den Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 IfSG, der insbesondere die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 104 Abs. 2 GG berücksichtigt, anzuordnen. Hinzu kommt, dass selbst bei Vorliegen einer Quarantäneanordnung (hier zur häuslichen Isolation) diese nicht ohne weiteres für sich mit Zwangsmittel vollstreckt werden könnte. Dafür bräuchte es weiterer behördlicher Akte. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass nach der vom Gesetzgeber vorgesehenen Regelungssystematik eine Absonderung nach § 30 Abs. 1 IfSG stets auf freiwilliger Basis stattfinden und ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in diesem Stadium noch nicht stattfinden soll. Fehlt es an der Freiwilligkeit, muss die Absonderung nach den Vorgaben des § 30 Abs. 2 IfSG durchgesetzt werden. Allerdings kommt hier auch ohne die unmittelbare Vollstreckbarkeit über eine reine Freiwilligkeit hinaus eine rechtliche Zwangswirkung dadurch zustande, dass die Allgemeinverfügung nach ihrer Nr. 7 ausdrücklich bußgeldbewehrt ist (vgl. zum Ganzen Johann/Gabriel in BeckOK, Infektionsschutzrecht, Eckart/Winkelmüller, 1. Ed. Stand 1.7.2020, § 30 IfSG Rn. 24 ff.; Kies, IfSG, 1. Aufl. 2020, § 30 Rn. 29 f.; Saarl. VG, B.v. 23.9.2020, 6 L 1001/20 - juris m.w.N.). Aber auch unter Berücksichtigung des letzten Gesichtspunkts ist die Quarantäneanordnung - gerade auch nach richterlicher Entscheidung im vorliegenden Sofortverfahren - im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Schließlich bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Einwände gegen die unter Nr. 4 des Schreibens vom 27. Oktober 2020 in Verbindung mit Nr. 4.2 der Allgemeinverfügung angeordnete Testung des Antragstellers. In der Begründung der Allgemeinverfügung zu Nr. 4 ist insoweit ausgeführt: Zur Bestätigung einer COVID-19-Erkrankung muss das Gesundheitsamt eine entsprechende Diagnostik bzw. die Entnahme von Proben (z.B. Abstriche der Rachenwand) veranlassen können. Das ermöglicht auch dem Gesundheitsamt, gesundheitliche Risiken von anderen Personen, z.B. Haushaltsangehörigen, sowie den Verlauf der Isolation bzw. Erkrankung einschätzen zu können. In der Antragserwiderung ist dazu zutreffend weiter angemerkt, ein Testtermin und der Ort der Testung sei durch das Gesundheitsamt für den Antragsteller festgelegt worden, um Infektionsketten lückenlos nachvollziehen zu können und gegebenenfalls geeignete weitere Schutzmaßnahmen (Isolation weiterer positiv Getesteter sowie Kontaktpersonen-Management) ergreifen zu können. Die Anordnung hat ihre Rechtsgrundlage in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Bei der Testung handelt es sich um eine notwendige Maßnahme, um zu gewährleisten, dass mögliche Infektionsketten schnell nachverfolgt werden können, um eine weitere Ausbreitung des Virus innerhalb der Familie bzw. von dieser ausgehend nach außen zu kontrollieren (vgl. VG Karlsruhe, B.v. 13.10.2020 - 8 K 4139/20 - juris). Das Testen asymptomatischer Kontaktpersonen ist auch auf den Seiten des RKI („Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Corona-Virus SARS-CoV-2“, insbesondere Nr. 2.1. B., abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Kontaktperson/Management.html) genannt und ist ein wichtiger Baustein bei der Bewältigung der Pandemie. Der Eingriff durch den Abstrich ist nach dem Dafürhalten des Gerichts zwar unangenehm, aber nicht gravierend und auch nicht gesundheitsgefährdend. Schließlich ist in dem Zusammenhang noch anzumerken, dass bei einem Unterbleiben einer Testung die Quarantäne voraussichtlich nicht nach 14 Tagen enden würde, sondern wohl um weitere zehn Tage verlängert würde, weil nach den Vorgaben des RKI wohl davon auszugehen ist, dass noch am 14. Tag nach dem Kontakt mit der Referenzperson eine Symptomatik auftreten könnte. Eine Testung läge damit auch im Interesse des Antragstellers und seiner Kontaktpersonen im eigenen Haushalt.
Selbst wenn man die Erfolgsaussichten der in der Hauptsache noch zu erhebenden Klage als offen einstufen würde, führt eine Folgenabwägung gerade vor dem Hintergrund der aktuell exponentiell steigenden Infektionszahlen zu einem Überwiegen des Gesundheitsschutzes für dritte Personen gegenüber dem Interesse des Antragstellers, von einer vorübergehenden Quarantäne/Isolation verschont zu bleiben. Andernfalls würde ein wesentlicher Baustein bei der Bekämpfung und Eindämmung der Pandemie herausgebrochen, wenn sich Kontaktpersonen der Kategorie I weiter ungehindert unter die Bevölkerung mischen und so die Weiterverbreitung des Virus fördern könnten (VG Regensburg, B.v. 28.10.2020 - RO 14 S 20.2590; VGH BW, B.v. 16.10.2020 - 1 S 3196/30 - juris; VG Düsseldorf, B.v. 30.9.2020 - 7 L 1939/20 - juris).
Nach alledem war auch der Hilfsantrag gemäß § 123 VwGO, wonach der Antragsteller mit sofortiger Wirkung aus der häuslichen Quarantäne zu entlassen sei und die Vornahme der Testung verboten werde, mangels Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs abzulehnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da der Antrag angesichts der üblichen Zeitdauer der Quarantäneanordnung von 14 Tagen (gegebenenfalls verlängert um zehn Tage) und des Unterlassens einer zeitnahen Testung inhaltlich zumindest auf eine teilweise Vorwegnahme der Hauptsache zielt, war gemäß Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs von einer Halbierung des Streitwerts im Sofortverfahren abzusehen, so dass es beim Auffangwert von 5.000,00 EUR verbleibt (ebenso VG Karlsruhe, B.v. 13.10.2020 - 8 K 4139/20 - juris).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.1 Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Allgemeinverfügung des Gesundheitsamtes ... über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-lnzidenz innerhalb des Stadtkreises ... von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner in der aktuellen Fassung.2 Der Antragsteller betreibt den ... Club in der ... ....3 Das Gesundheitsamt ... hat mit Allgemeinverfügung über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-Inzidenz innerhalb des Stadtkreises ... von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner vom 23.10.2020 u.a. unter Nr. 2 sowie Nr. 4 verfügt:4 2. Im Stadtkreis ... beginnt die Sperrzeit für Speise- und/oder Schankwirtschaften im Sinne des Gaststättengesetzes bereits um 23.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr des Folgetages, soweit im Einzelfall für den Beginn keine frühere und für das Ende keine spätere Uhrzeit festgelegt ist.5 4. In Verkaufsstellen dürfen an Freitagen, Samstagen und vor Feiertagen in der Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr des Folgetags keine alkoholischen Getränke abgegeben werden.6 Am 27.10.2020 hat das Gesundheitsamt ... (Landkreis ...) eine weitere, insoweit gleichlautende Allgemeinverfügung erlassen.7 Mit Telefax vom 29.10.2020 hat der Antragsteller beim Landratsamt ... Widerspruch gegen die Allgemeinverfügung des Gesundheitsamts eingelegt, über den noch nicht entschieden wurde.8 Am gleichen Tag hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht ... vorläufigen Rechtsschutz beantragt und zur Begründung ausgeführt, insbesondere die Anordnung einer Sperrstunde für Speise- und/oder Schankwirtschaften von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr, sowie das Ausschankverbot für alkoholische Getränke von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Rechte aus Art. 12 GG dar. Allein die Tatsache, dass es sich um Maßnahmen gemäß § 28 Abs. 1, Abs 3 IfSG sowie §§ 29 bis 31 IfSG handele, mache diese nicht verhältnismäßig. Zwar sei es nachvollziehbar, dass das Gewicht und die Relevanz der Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems angesichts der Infektionszahlen steigen. Dennoch müssten die Maßnahmen stets verhältnismäßig sein. Vorliegend sei dies nicht der Fall.9 Möglicherweise sei die Anordnung einer Sperrstunde geeignet, die Ausbreitungsgeschwindigkeit der übertragbaren Krankheit COVID-19 innerhalb der Stadt ... zu verringern und damit die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, allerdings sei nicht ersichtlich, dass diese Maßnahme auch erforderlich sei. Nach den bisher veröffentlichten Daten des Robert Koch-Instituts hätten Speise- und Schankwirtschaften unter Einhaltung der bislang geltenden Schutz- und Hygienemaßnahmen keinen wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen, sodass aufgrund der steigenden Infektionszahlen eine Sperrstunde als weitere Maßnahme nicht erforderlich sei. Er habe bereits mildere Mittel in Form von verschiedenen Schutz- und Hygienemaßnahmen ergriffen, die bei konsequenter Durchsetzung in gleicher Weise geeignet seien. Nach den Feststellungen des Robert Koch-Institutes seien für die aktuellen steigenden Fallzahlen weiterhin insbesondere auf Feiern im Familien- und Freundeskreis sowie unter anderem auf Alten- und Pflegeheimen zurückzuführen. Eine weitere Einschränkung der Rechte der Gastronomen in Form der Sperrstunde sei daher unverhältnismäßig. Im Einzelnen habe er den vorher bestehenden Clubbetrieb in einen restaurantähnlichen Betrieb mit Sitzplätzen geändert. Innerhalb dieses „Sitzplatz-Betriebes“ seien alle erforderlichen Hygiene- und Schutzmaßnahmen ergriffen worden.10 Ebenso verhalte es sich mit dem Ausschankverbot für alkoholische Getränke. Die Gefahr einer alkoholbedingten Enthemmung bestehe nicht. Dies werde schon durch die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate bestätigt, in denen ein solches Verbot nicht galt und die Speise- und Schankwirtschaften keinen wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen gehabt hätten. Zwar sei ein solches Verbot ebenfalls möglicherweise geeignet, jedoch nicht erforderlich. Auch diesbezüglich stelle die Schutz- und Hygienemaßnahme ein milderes, ebenso effektives Mittel zur Bekämpfung der Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 dar. Durch den Ausschank und den Konsum von alkoholischen Getränken auch nach 22:00 bzw. 23:00 Uhr innerhalb von Speise- und Schankwirtschaften könne sichergestellt werden, dass Hygiene- und Schutzmaßnahmen eingehalten würden und keine Auslagerung solcher Zusammenkünfte in den öffentlichen oder privaten Bereich stattfänden. Durch die Sperrzeit und das Ausschankverbot für alkoholische Getränke werde ein solche Auslagerung jedoch hervorgerufen.11 Es erscheine zudem nicht geeignet, eine Sperrzeit und ein Verbot für den Ausschank alkoholischer Getränke auszusprechen, weil private Feierlichkeiten häufig auch in Gastronomiebereichen stattfänden. Solche privaten Feierlichkeiten in Gastronomiebereichen zu untersagen sei nicht nur milderes Mittel, sondern auch geeigneter. Durch die Sperrzeit werde schließlich nicht verhindert, dass solche Feierlichkeiten stattfänden, sondern gebe diesen gegebenenfalls einen zeitlichen Rahmen.12 Des Weiteren reichten das zwischenzeitlich diffuse Infektionsgeschehen und die Schwierigkeiten der Nachverfolgung der Infektionsketten nicht aus, die Geeignetheit dieser Maßnahmen zu begründen. Es gebe weder Anhaltspunkte dafür, dass die Ursache für diese Situation in Speise- und Schankwirtschaften läge und durch eine Sperrzeit oder ein Alkoholverbot bekämpft werden könne, noch dementsprechende Empfehlungen des Robert Koch-Instituts. Es gebe auch keine Belege dafür, dass Alkoholkonsum ein Treiber der Infektionszahlen sei.13 Die Allgemeinverfügung berufe sich auf den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und basiere im Wesentlichen darauf, wie schnell sich die Infektionszahlen pro 100.000 Einwohner entwickele. Diese Zahlen würden aber nichts über die Gefährdungslage in ... aussagen. Kritisch werde die Gesamtlage für das Gesundheitssystem aber erst bei einer Lage, die eine intensivmedizinische Betreuung notwendig mache. Hier könne das Gesundheitssystem an seine Grenzen kommen und hier könne staatliches Handeln mit einschneidenden Maßnahmen gerechtfertigt sein. Die Zahlen vom 28.10.2020 zeigten, dass in ... Stadt 34 freie Intensivbetten vorhanden seien, 130 Betten belegt seien, wovon aber nur 6 Fälle CODID-19 beträfen, hiervon würden 3 Fälle beatmet. Die hohen Zahlen der vergangenen Tage führten nicht zu einem rasanten Anstieg der Belegung der Intensivbetten. Daher sei die Anzahl der Infizierten pro Woche kein geeigneter Indikator für die getroffenen Maßnahmen.14 Das Entfallen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs habe im vorliegenden Fall außerdem schwere und unzumutbare Nachteile für ihn. Er werde nicht nur in unverhältnismäßigem Maße in seiner Berufsfreiheit eingeschränkt, sondern habe durch die Vollziehung auch erhebliche wirtschaftliche Einbüßen zu verzeichnen. Ein normaler Clubbetrieb finde nicht statt, sondern nur ein den Vorschriften entsprechender restaurantähnlicher Betrieb mit Sitzplätzen. Die Öffnungszeiten entsprächen jedoch weiterhin den üblichen Cluböffnungszeiten: Freitag und Samstag von 23.00 Uhr bis 5.00 Uhr. Die Erfahrung der letzten Wochen und Monaten hätten gezeigt, dass die Kunden in der Regel ab 1.00 Uhr den Club aufsuchten. Die Sperrstunde würde daher die komplette Schließung des Clubs bedeuten. Zudem handele es sich um eine reine Schankwirtschaft, da keine Speisen verkauft würden. Durch das Ausschank- und Verkaufsverbot von alkoholischen Getränken ab 22 Uhr würden maßgebliche Einnahmen ersatzlos ausfallen. Faktisch handele es sich bei der Sperrzeit für ihn daher im Ergebnis um ein Berufsausübungsverbot und bei dem Ausschankverbot um einen massiven Eingriff in die berufliche Ausübungsfreiheit.15 Der Antragsteller beantragt – sinngemäß ausgelegt –,16 die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 29.10.2020 gegen die Festsetzung einer Sperrzeit sowie das Alkoholausgabeverbot in der Allgemeinverfügung über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-lnzidenz innerhalb des Stadtkreises ... von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner des Gesundheitsamts ... vom 27.10.2020 (Nr. 2 und Nr. 4) anzuordnen.17 Der Antragsgegner beantragt,18 den Antrag abzulehnen.19 Zur Begründung verweist der Antragsgegner im Wesentlichen auf die Begründung der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung und verweist darüber hinaus auf die aktuelle Rechtsprechung zu Sperrzeitenregelungen aufgrund des Infektionsschutzgesetzes. Zusätzlich verweist es darauf, dass der Inzidenzwert für die Stadt ... (Stand: 29.10.2020) bei 102,2 pro 100.000 Einwohnern liege, was die Erforderlichkeit weiterer Maßnahmen bestätige. Außerdem habe der Antragsteller ausdrücklich die Allgemeinverfügung für den Landkreis angegriffen, obwohl er seinen Club im Stadtgebiet der Stadt ... betreibe.20 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.II.21 Der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 29.10.2020 gegen die Festsetzung einer Sperrzeit (Ziffer 2) und gegen das Alkoholausgabeverbot (Ziffer 4) in der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 27.10.2020 hat keinen Erfolg.22 1. Der Antrag des Antragstellers ist sachdienlich dahingehend auszulegen, dass er sich gegen die aktuell gültige Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 27.10.2020 über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-Inzidenz innerhalb des Stadtkreises ... von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohnern wendet. Zwar richteten sich der Widerspruch des Antragstellers vom 29.10.2020 und der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vom selben Tag ausdrücklich gegen die Allgemeinverfügung des Gesundheitsamtes ... über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-Inzidenz innerhalb des Landkreises ... von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohnern vom 23.10.2020. Auf die Anfrage des Gerichts, ob der Antrag sich gegen die aktuelle Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 für den Stadtkreis ... richten solle, hat der Antragsteller mitgeteilt, dass nach dem Zuständigkeitsübergang auf den Landkreis nur noch die Verfügung des Landkreises maßgeblich sei, er sich aber hilfsweise auch gegen die Verfügung des Stadtkreises wende. Mit weiterem Schriftsatz vom 30.10.2020 stellte der Antragsteller klar, dass sein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz sich auch gegen die Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 richte. Mithin sind der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und der Widerspruch des Antragstellers dahingehend auszulegen, dass er sich gegen die aktuell gültige Allgemeinverfügung des Landkreises vom 27.10.2020 über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-Inzidenz innerhalb des Stadtkreises ... wenden will, da sein Club sich im Stadtgebiet von ... befindet und damit im örtlichen Geltungsbereich der Allgemeinverfügung des Landkreises innerhalb des Stadtkreises ... vom 27.10.2020. Es ist davon auszugehen, dass es sich insofern lediglich um einen Irrtum hinsichtlich der Benennung der korrekten Allgemeinverfügung handelte, nachdem ursprünglich die Stadt ... und der Landkreis am 23.10.2020 jeweils eine Allgemeinverfügung erlassen hatten (die Allgemeinverfügung der Stadt wurde mittlerweile aufgrund des Zuständigkeitsübergangs auf das Gesundheitsamt ... vom Landratsamt ... aufgehoben durch die Allgemeinverfügung vom 30.10.2020, URL: https://www.landkreis-....de/Aktuelles-Landkreis/Aktuelles/Amtliche-Bekanntmachungen/Aufhebung-der-Allgemeinverfügung-der-Stadt-...-vom-23-Oktober-2020.php?object=tx,3051.3&ModID=6&FID=3051.2119.1&NavID=1863.12&La=1, abgerufen am 30.10.2020) und nach dem Zuständigkeitsübergang das Gesundheitsamt des Landkreises ... mit Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 die aktuell gültige Allgemeinverfügung für den Stadtkreis ... erließ.23 Der so verstandene Antrag ist statthaft gemäß § 80 Abs. 5, Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 28 Abs. 3, § 16 Abs. 8 IfSG und auch im Übrigen zulässig.24 2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.25 Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung ist maßgeblich auf die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens abzustellen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein gebotene summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.02.2018 – 1 VR 11.17 –, juris Rn. 15). Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.03.1997 – 13 S 1132/96 –, juris Rn. 3; VG Karlsruhe, Beschlüsse vom 18.04.2016 – 3 K 2926/15 – und vom 25.09.2017 – 9 K 11521/17 –). Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischer Prüfung hat der Widerspruch des Antragstellers voraussichtlich keinen Erfolg, da die Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 aller Voraussicht nach rechtmäßig ist.26 2.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1, 1. HS, Satz 2 IfSG trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde unter anderem Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten (§ 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG). Letzteres beruht auf dem Gedanken, dass bei Menschenansammlungen Krankheitserreger besonders leicht übertragen werden können (vgl. BR-Drs. 566/99, S. 169 f.; BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 3 C 16.11 –, juris Rn. 26). Dabei lassen die von der baden-württembergischen Landesregierung erlassenen Regelungen das Recht der zuständigen Behörden, weitergehende Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen zu erlassen, unberührt (§ 20 Abs. 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 [Corona-Verordnung] vom 23.06.2020 [in der Fassung vom 19.10.2020]).27 2.2. Die Allgemeinverfügung ist voraussichtlich auch formell rechtmäßig. Insbesondere hat das Gesundheitsamt ... als zuständige Behörde gehandelt. Nach § 1 Abs. 6a Verordnung des Sozialministeriums über Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz ist im Falle einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite im Sinne des § 5 IfSG und des Überschreitens eines Schwellenwertes von 50 neu gemeldeten SARS-Cov-2 Fällen pro 100.000 Einwohner in den vorangehenden sieben Tagen (7-Tage-Inzidenz) innerhalb eines Stadt- oder Landkreises bis zum Ablauf des 31.05.2021 abweichend von Abs. 6 S. 1 das Gesundheitsamt für Maßnahmen nach §§ 16, 17, 28 und 31 IfSG zur Bekämpfung dieses Infektionsgeschehens zuständig. Hat der Stadtkreis kein eigenes Gesundheitsamt, trifft das zuständige Gesundheitsamt die Maßnahme im Einvernehmen mit der Ortspolizeibehörde. Das ist hier geschehen, da die Stadt ... kein eigenes Gesundheitsamt hat. Die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ hat der Bundestag am 27.03.2020 festgestellt (https://www.bundesregierung.de/Breg-de/aktuelles/epidemie-bund-kompetenzen-1733634). Eine 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 Fällen pro 100.000 Einwohner lag bereits seit dem 23.10.2020, Stand 17:31 Uhr und auch zum Zeitpunkt des Erlasses der Allgemeinverfügung (und liegt weiterhin zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung; vgl. Abbildung 1 auf Seite 3 des COVID-19 Lageberichts des Robert Koch Instituts [RKI] vom 29.10.2020) vor.28 2.3. Die Allgemeinverfügung ist voraussichtlich auch materiell rechtmäßig.29 Die Voraussetzungen für ein Einschreiten nach § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG liegen vor. Gemäß § 28 Abs. 1 IfSG trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war.30 Bei der durch das Virus COVID-19 verursachten Erkrankung handelt es sich um eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG (s. im Einzelnen Robert Koch-Institut, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 [COVID-19], Stand: 16.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html [Abruf am 29.10.2020]; Robert Koch-Institut, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 26.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html?nn=13490888 [Abruf am 30.10.2020]; vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 17). Ansonsten setzt § 28 Abs. 1 IfSG tatbestandlich lediglich voraus, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war. Diese Voraussetzungen liegen angesichts der anhaltenden SARS-CoV-2-Pandemie vor. § 28 Abs. 1 Satz 1 HS 1 IfSG ermächtigt dabei nach seinem Wortlaut, seinem Sinn und Zweck und dem Willen des Gesetzgebers auch zu Maßnahmen gegenüber Nichtstörern, soweit eine Differenzierung von Störern und Nichtstörern im Fall des SARS-CoV-2-Virus überhaupt sachgerecht ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 3 C 16/11 –, juris Rn. 26; VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 09.04.2020 – 1 S 925/20 –, juris Rn. 33, und vom 13.05.2020 – 1 S 1281/20 –, juris Rn. 17). Die niedrige Eingriffsschwelle der Norm ist nicht auf Tatbestandsebene, sondern im Einzelfall gegebenenfalls auf der Ermessensebene zu kompensieren, indem an die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Maßnahme je nach deren Eingriffstiefe erhöhte Anforderungen zu stellen sind (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.08.2020 – 20 CS 20.182 –, juris Rn. 24 f). Daher ist es im vorliegenden Falle gleichgültig, ob der Antragsteller und seine Mitarbeiter selbst krank, krankheitsverdächtig oder ansteckungsverdächtig sind.31 2.4. Hinsichtlich der Art und des Umfangs der Bekämpfungsmaßnahmen ist der Behörde ein Auswahlermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Maßnahmen nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss. Zudem sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2012– 3 C 16.11 –, juris Rn. 23 f.; VG Berlin, Beschluss vom 15.10.2020 – 14 L 422/20 –, juris Rn. 16; Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.08.2020 – 20 CS 20.182 –, juris Rn. 27).32 Das dem Antragsgegner somit eröffnete Ermessen ist nach der gebotenen summarischen Prüfung auch fehlerfrei betätigt worden.33 2.4.1. Die Festsetzung der Sperrzeit für das Stadtgebiet ... weist bei der Auswahl der Maßnahme aller Voraussicht nach keine Ermessensfehler nach § 114 Satz 1 VwGO auf. Insbesondere beeinträchtigt sie den Antragsteller voraussichtlich nicht unverhältnismäßig in seiner Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG. Die Festsetzung der Sperrzeit auf 23:00 Uhr durch Ziffer 2 der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 27.10.2020 ist, da sie die jedenfalls teilweise Schließung von Gaststättenbetrieben zur Folge hat, als eine Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit anzusehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 09.04.2020 – 1 S 925/20 –, juris Rn. 44 f., vom 30.04.2020 – 1 S 1101/20 –, juris Rn. 41 f. und vom 20.08.2020 – 1 S 2347/20 –, juris Rn. 21). Insofern ist sie mit Art. 12 Abs. 1 GG nur vereinbar, wenn sie durch hinreichende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt ist, wenn die gewählten Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und auch erforderlich sind und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit, d. h. der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, noch gewahrt wird (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12.02.1986 – 1 BvR 1770/83 –, juris Rn. 18, vom 15.12.1987 – 1 BvR 563/85 –, juris Rn. 90 und vom 11.02.1992 – 1 BvR 1531/90 –, juris Rn. 59; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.04.2020 – 1 S 925/20 –, juris Rn. 44 f.).34 2.4.1.1. Die Festsetzung der Sperrzeit auf 23.00 Uhr für das Stadtgebiet des Stadtkreises ... in Ziffer 2 der Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 dient einem legitimen Zweck. Der Antragsgegner verfolgt mit der Maßnahme das Ziel, die Pandemie des Virus SARS-CoV-2 zum Schutze der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu bekämpfen sowie eine Überlastung des Gesundheitsversorgungssystems durch einen zu hohen gleichzeitigen Anstieg von Patienten mit gleichem Behandlungsbedarf zu vermeiden. Dies ist ein legitimes Ziel (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 26), welches der Antragsteller auch nicht in Frage stellt.35 2.4.1.2. Das Betriebsverbot für gastronomische Einrichtungen in der Zeit von 23:00 Uhr bis 6:00 Uhr ist geeignet, einen Beitrag zur effektiven Eindämmung der Weiterverbreitung des Coronavirus zu leisten, weil es die Kontaktmöglichkeiten in den gastronomischen Einrichtungen während dieses Zeitraums beschränkt. Dabei ist eine voraussichtlich vollständige Zweckerreichung regelmäßig nicht erforderlich. Vielmehr kommt es darauf an, dass die zu treffende Maßnahme ein „Schritt in der richtigen Richtung“ ist (Rachor/Graulich in Lisken/Denniger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, E. Rn. 159). Der Antragsgegner hat in der Begründung nachvollziehbar ausgeführt, dass hinsichtlich der Neuinfektionen keine schwerpunktmäßige Betroffenheit einzelner Einrichtungen bzw. abgrenzbarer Lebensbereiche mehr erkennbar sei. Es bestehe daher Anlass, die Zusammenkünfte von vielen Menschen grundsätzlich zu beschränken. Dies sei unter anderem durch die verfügte Einschränkung der Betriebszeit von gastronomischen Betrieben möglich, da damit die Zahl der Kontakte zwischen Personen und damit auch das Risiko einer Ansteckung vermindert werden könne. Die Einführung einer Sperrstunde für Gaststätten ab 23:00 Uhr diene insbesondere dazu, dem nächtlichen Ausgehverhalten der Bevölkerung ein steuerbares zeitliches Ende zu setzen.36 Die Sperrzeit vermindert die Ansteckungsgefahr bereits dadurch, dass sich wechselnde Gäste oder Gästegruppen ab einer bestimmten Zeit nicht mehr in den Einrichtungen einfinden. Die Sperrstunde reduziert überdies Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu gastronomischen Einrichtungen. Zusätzlich trägt sie durch die Reduzierung der Gästezahlen dazu bei, dass die Gefahr eines Eintrags der Infektion in das weitere berufliche und private Umfeld der (ausbleibenden) Gäste reduziert wird. Angesichts der derzeit bekannten Übertragungswege des Virus COVID-19 ist die Sperrzeit eine Maßnahme, die eine Einschränkung möglicher Übertragungen zur Folge hat.37 Der Hauptübertragungsweg für SARS-CoV-2 ist die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Dabei wird zwischen größeren Tröpfchen und kleineren Aerosolen unterschieden. Während insbesondere größere respiratorische Partikel schnell zu Boden sinken, können Aerosole auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen (Robert-Koch-Institut [RKI], SARS-CoV-2, Steckbrief zur Corona Krankheit 2019 (COVID-19), Stand 16.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2). Die Aerosolausscheidung steigt bei lautem Sprechen, Singen oder Lachen stark an. In Innenräumen steigt hierdurch das Risiko einer Übertragung deutlich, auch über einen größeren Abstand als 1,5 m (RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 26.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Nach den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts bleiben daher intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Um Infektionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich so weit wie möglich zu vermeiden, ist eine Intensivierung der gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen nötig (Robert Koch-Institut, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 26.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html [Abruf am: 30.10.2020]). Dem trägt die festgesetzte Sperrzeit Rechnung, indem sie – neben vielen weiteren Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus SARS-CoV-2, welche auf andere Lebensbereiche abzielen und in deren Zusammenschau die Regelung zu sehen ist – einen weiteren gesellschaftlichen Bereich erfasst, bei dem die Gelegenheit zur Übertragung des Virus eingeschränkt (so auch VG Freiburg, Beschluss vom 26.10.2020 – 5 K 3359/20 –).38 Im Übrigen trifft es zwar zu, dass sich das Infektionsrisiko in gastronomischen Einrichtungen, deren Gästezahl bereits durch die Regelungen der derzeit geltenden Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung) des Landes Baden-Württemberg vom 23.06.2020 in der ab 19. Oktober 2020 gültigen Fassung (vgl. § 4) beschränkt wird, nach 23:00 Uhr nicht anders darstellt als zuvor. Das ändert, wie ausgeführt, aber nichts daran, dass die Sperrstunde für die Zeit danach einen Beitrag zur Kontaktreduzierung leistet. Der Hinweis des Antragstellers, bei einer verlängerten Sperrstunde würde lediglich eine Verlagerung hin zu privaten Feiern stattfinden, die nach den Feststellungen des Robert Koch Instituts ganz maßgeblich für die steigenden Infektionszahlen ursächlich seien, stellt die Geeignetheit der Verlängerung der Sperrzeit nicht in Frage. Dabei ist zunächst darauf zu verweisen, dass nach der Corona-Verordnung sowohl Ansammlungen (§ 9 Abs. 1) als auch private Veranstaltungen (§ 10 Abs. 3 Nr. 1) von mehr als zehn Personen ohnehin verboten sind. Auch insoweit mag es zu Verstößen kommen. Dass die befürchtete Verlagerung aber zumindest annähernd im gleichen Umfang stattfinden sollte, ist nicht anzunehmen (OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2020 – 13 B 1581/20.NE –, juris Rn. 54). Angesichts der Tatsache, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass bei einer Sperrstunde um 23:00 Uhr sämtliche Gäste privat weiter feiern, kommt es aber durch die angegriffene Sperrzeitverlängerung jedenfalls zu einer Reduzierung der Kontakte bzw. Kontaktdauer. Überdies sieht der Antragsteller selbst die Geeignetheit der Sperrzeitenregelung als möglich an.39 2.4.1.3. Die Sperrzeitverlängerung ist aller Voraussicht nach auch erforderlich. Das setzt voraus, dass keine andere, die Rechte des Betroffenen schonendere Maßnahme, kein milderes Mittel, in Betracht kommt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.10.2020 – 1 S 2871/20 –, juris Rn. 41; Rachor/Graulich in Lisken/Denniger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, E. Rn. 164). Verfassungsrechtlich geboten ist die Anwendung eines milderen Mittels aber nur bei dessen voraussichtlich gleicher Eignung für die Erreichung des angestrebten Zwecks (Rachor/Graulich, in Lisken/Denniger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, E. Rn. 165). Ein solches, gleich geeignetes milderes Mittel ist hier bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht ersichtlich. Sofern nach § 5 CoronaVO bereits Hygienekonzepte als mildere Mittel vorgeschrieben sind, vom Antragsteller umgesetzt und auch als wirksame Maßnahme erachtet werden (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 42), sind solche Regelungen jedenfalls nicht gleichermaßen geeignet, eine Ansteckungswahrscheinlichkeit zu verringern (a.A. aber VG Berlin, Beschluss vom 15.10.2020 – 14 L 422/20 –, juris Rn. 20).40 Auch wenn der Antragsteller vorträgt, dass Gastronomiebetriebe grundsätzlich nicht Primärquelle der Verbreitung der Corona-Pandemie seien, das Infektionsgeschehen insbesondere auf Feiern im Familien- und Freundeskreis zurückzuführen sei und durch die Sperrzeit solche nicht verhindert würden, sondern lediglich ein zeitlicher Rahmen geschaffen werde, stellt die von ihm als milderes Mittel dargestellte Untersagung solcher Feiern anstelle der Festsetzung einer Sperrzeit kein gleichermaßen effektives Mittel zur Eindämmung des Infektionsgeschehens dar. Dies gilt ungeachtet der Frage, ob sich die Treffen in den öffentlichen – etwa wegen einer zeitgleichen Schließung einer Mehrzahl von Gaststätten und Bars – oder privaten Raum verlagern könnten, ohne dass die Möglichkeit der Nachverfolgung der Kontakte bestünde. Ein solches Ausweichverhalten mag zwar unter Umständen zu erwarten sein, die Kontakte insgesamt werden aber durch die Festsetzung der Sperrzeit jedenfalls reduziert, schon aus dem Grund, weil es sich bei Treffen im öffentlichen Raum – insbesondere vor dem Hintergrund sinkender Außentemperaturen – nicht um eine gleichwertige Alternative handelt. Zudem sind auch für private Zusammenkünfte Einschränkungen vorgesehen. So untersagt § 9 Abs. 1 i.V.m. § 10 Abs. 3 Nr. 1 CoronaVO (in der ab dem 19.10.2020 gültigen Fassung) grundsätzlich private Ansammlungen von mehr als zehn Personen bzw. private Veranstaltungen mit über zehn Teilnehmenden. Darüber hinaus kann die Sperrzeit – mehr als dies die Einschränkung privater Treffen könnte – die Begegnungen unbekannter Personen bzw. solcher aus zahlreichen unterschiedlichen Hausständen verringern.41 Soweit der Antragsteller vorträgt, dass er seinen Clubbetrieb in einen restaurantähnlichen Betrieb mit Sitzplätzen geändert habe (weswegen er seinen Betrieb momentan weiterbetreiben kann, da der Betrieb von Clubs noch immer nach der Corona-Verordnung untersagt ist, § 13 Nr. 1 Corona-Verordnung) und innerhalb dieses Sitzplatz-Betriebes alle erforderlichen Hygiene- und Schutzmaßnahmen ergriffen würden und konsequent durchgeführt würden, wobei es bei mehrfach stattgefundenen Kontrollen nie Beanstandungen gegeben habe, führt dies nicht zu einer anderen Entscheidung. Diese Mittel sind jedenfalls für die hier in Rede stehende Zeit als nicht gleich geeignet anzusehen. So erscheint es nachvollziehbar, dass jedenfalls am späten Abend und unter der Einwirkung von Alkohol die Schutz- und Hygienemaßnahmen (Abstandsregelung, Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, Dokumentationspflicht) nicht eingehalten werden. Selbst wenn – wie der Antragsteller ohne Belege vorträgt – bei einzelnen Kontrollen keine Beanstandungen festgestellt wurden, erscheint es der Kammer angesichts der enthemmenden Wirkung des in Geselligkeit genossenen Alkohols als wenig realistisch, davon auszugehen, es käme in der maßgeblichen Zeit zu keinen Verstößen.42 Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass selbst bei Einhaltung der Hygieneregeln bei geselligem Alkoholkonsum, zumal wenn Musik dargeboten wird, typischerweise laut gesprochen und gelacht wird, was – wie oben dargelegt – den Aerosolausstoß vergrößert. Wenn eine Gaststätte wegen einer früheren Sperrstunde geschlossen ist, wird die entsprechende Exposition jedenfalls vermindert.43 2.4.1.4. Nach Einschätzung der Kammer ist die Sperrzeitverlängerung auch angemessen, d.h. verhältnismäßig im engeren Sinne. Eingriffszweck und Eingriffsintensität stehen in einem angemessenen Verhältnis zueinander (vgl. allgemein VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 32). Das gilt auch in Ansehung des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Antragstellers. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass dieser Eingriff und die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen für den Antragsteller angesichts des Betriebstyps seiner Gaststätte gravierender sind als für andere Gastwirte, da er an den Tagen, an denen die Sperrzeit gilt, freitags und samstags erst um 23:00 Uhr seinen Betrieb öffnen würde und nach seinem Vortrag seine Gäste in der Regel ab 1:00 Uhr den Club aufsuchen. Diesem erheblichen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit steht jedoch ein nach Auffassung der Kammer noch gewichtigeres Allgemeininteresse entgegen. Der Antragsteller stellt selbst nicht in Abrede, dass ein erhebliches öffentliches Interesse an der Bekämpfung der COVID-19 Pandemie besteht. Die durch das SARS-CoV-2 ausgelöste Erkrankung COVID-19 kann in Einzelfällen einen schweren, bis hin zum Tode führenden Verlauf nehmen und im Falle einer weiten, schlimmstenfalls exponentiellen Verbreitung zu einer Hospitalisierung einer Vielzahl von Personen und damit einhergehend zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.09.2020 – 1 S 2831/20 –, juris Rn. 16 m.w.N.). Die Gefahr eines exponentiellen Wachstums wird auch anhand des täglichen Lageberichts des RKI zur Corona-Virus-Krankheit-2019 vom 29.10.2020 deutlich (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-29-de.pdf?__blob=publicationFile, Abruf am 30.10.2020). Daraus ergibt sich, dass in diesem Zeitraum die 7-Tage-Inzidenz deutschlandweit auf 99 Fälle pro 100.000 Einwohnern gestiegen ist (Am 23.10.2020 lag sie deutschlandweit noch bei 60,3 Fällen, vgl. täglicher Lagebericht vom 23.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-23-de.pdf?__blob=publicationFile). In Baden-Württemberg ist nach dieser Quelle diese Inzidenz von 61,3 Fälle (am 23.10.2020) auf 95,9 Fälle pro 100.000 Einwohner (am 29.10.2020) gestiegen. Auch im Stadtkreis ... stieg die 7-Tage-Inzidenz nach den Angaben des Antragsgegners von 55,4 am 23.10.2020 auf 102,2 am 29.10.2020.44 Die steigenden Infektionszahlen gaben und geben mithin Anlass, über die bereits bestehenden Einschränkungen hinaus weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus SARS-CoV-2 in Form der streitgegenständlichen Sperrstundenfestsetzung zu ergreifen. Aufgrund des vom Antragsgegner in der Begründung zur Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 zutreffend beschriebenen zunehmend diffusen Ausbreitungsgeschehens bedeutet dies, neben den bisher als hauptsächlich angeführten Infektionsquellen wie privaten Feiern oder Altenheimen auch Maßnahmen in weiteren Lebensbereichen zu ergreifen, um Zusammenkünfte von vielen Menschen generell zu beschränken. Durch das rechtzeitige Einführen örtlicher Beschränkungen soll ein Übergreifen der Infektionsdynamik auf ganz Deutschland und damit die Wiedereinführung deutsch-landweiter und umfassender Beschränkungen verhindert werden.45 Hinzu kommt, dass der Betrieb des Antragstellers – anders als die Beherbergungsbetriebe in der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 15.10.2020 (– 1 S 3156/20 –, juris) – von seinem Typ auf Kontaktaufnahme gerichtet ist. Anders als in Beherbergungsbetrieben, in denen die Gäste in abgeschlossenen Räumlichkeiten gegebenenfalls mit einer überschaubaren Personenanzahl übernachten und deren Kontaktdaten hinterlegt sind (juris Rn. 44), dient der Betrieb einer Gaststätte in den Abendstunden ab 23:00 Uhr typischerweise nicht mehr der Einnahme von Mahlzeiten, sondern der Geselligkeit. Dies wird im vorliegenden Fall dadurch unterstützt, dass der Antragsteller in seinem Betrieb gar nicht die Erlaubnis hat, Speisen zu servieren. Seine Gaststättenerlaubnis beinhaltet allein den Ausschank von Getränken.46 Hinzu kommt, dass die Verlängerung der Sperrzeit Teil eines Bündels von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist. So wird zusätzlich der Ausschank, Verkauf und die Abgabe von alkoholischen Getränken zum alsbaldigen Verzehr über die Straße („Gassenschank“) in der Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr verboten (Ziff. 3 und 4 der angefochtenen Allgemeinverfügung). Dies dient ausweislich der Begründung der angefochtenen Allgemeinverfügung auch dazu, ein Ausweichverhalten der betroffenen Kundenkreise ab der Sperrstunde in den öffentlichen Raum zu verhindern. Des Weiteren wird eine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in der ...r Innenstadt auf öffentlichen Straßen und Wegen und Plätzen sowie in öffentlichen Grünanlagen sowie auf Wochenmärkten und beim Besuch von Messen angeordnet.47 Des Weiteren dürfen die durch die Corona-Verordnung eingeführten Beschränkungen nicht unberücksichtigt bleiben. Wie oben angesprochen werden in dieser private Ansammlungen und Versammlungen zahlenmäßig beschränkt. Auch wurden die Situationen, in denen eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden muss, zuletzt erheblich ausgeweitet (vgl. § 3 Corona-Verordnung). Der Betrieb von Clubs und Diskotheken bleibt verboten (§ 13 Nr. 1 Corona-Verordnung). Dasselbe gilt für Tanzveranstaltungen mit Ausnahme von Tanzaufführungen sowie Tanzunterricht und -proben (§ 10 Abs. 5 Corona-Verordnung).48 Insgesamt ist nach Auffassung der Kammer ein hinreichend systematisches Vorgehen zu erkennen, bei dem für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen weiterhin möglichst offengehalten werden sollen. Insoweit werden Schutz- und Hygieneanforderungen gestellt. Im Übrigen ist das Bestreben einer weitgehenden Kontaktreduzierung ersichtlich.49 Abschließend ist darauf zu verweisen, dass die Allgemeinverfügung auf den 20.11.2020 zeitlich befristet ist und zudem bei Unterschreiten der 7-Tage-Inzidenz von 50 automatisch außer Kraft tritt.50 2.4.2. Auch das Alkoholverkaufsverbot dürfte verhältnismäßig sein.51 2.4.2.1. Die Festsetzung des Alkoholausgabeverbots von 22:00 Uhr bis 6:00 für das Stadtgebiet des Stadtkreises ... in Ziffer 4 der Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 dient ebenfalls einem legitimen Zweck. Der Antragsgegner verfolgt mit dieser Maßnahme ebenfalls das Ziel, die Pandemie des Virus SARS-CoV-2 zum Schutze der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu bekämpfen sowie eine Überlastung des Gesundheitsversorgungssystems durch einen zu hohen gleichzeitigen Anstieg von Patienten mit gleichem Behandlungsbedarf zu vermeiden. Dies ist ein legitimes Ziel (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 26), welches der Antragsteller ebenfalls nicht in Frage stellt.52 2.4.2.2. Das Alkoholverkaufsverbot zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr im Stadtgebiet von ... ist ebenfalls geeignet, das Infektionsrisiko zu reduzieren. Der Alkoholverkauf ab 22:00 Uhr auch innerhalb von Gastronomiebetrieben erhöht jedoch gerade in Zeiten geschlossener Clubs, Bars und Diskotheken durch die jederzeitige Verfügbarkeit auch alkoholischer Getränke die Anziehungskraft und Attraktivität des öffentlichen Raums, insbesondere des Innenstadtbereichs. Alkoholkonsum kann im Einzelfall aufgrund seiner enthemmenden Wirkung zu im Hinblick auf den Infektionsschutz problematischen Verhaltensweisen (Schreien, lautes Reden, geringere Distanz zwischen Einzelpersonen etc.) im Rahmen einer Ansammlung führen. Daher trägt das Alkoholverkaufsverbot ab 22:00 Uhr sowohl im Rahmen der Gastronomie als auch ausgehend von allen übrigen Verkaufsstellen dazu bei, eine alkoholbedingte Enthemmung und eine fortgesetzte Nichtbeachtung der Hygiene und Infektionsschutzregeln zu verhindern. Die enthemmende Wirkung von Alkohol erscheint ohne Weiteres dazu angetan, die Wirksamkeit der zur Kontaktbeschränkung und zur Einhaltung von Mindestabständen im öffentlichen Raum erlassenen Regelungen (vgl. § 1 Abs. 2 und 3, § 2 Abs. 1 CoronaSchVO) negativ zu beeinflussen. Dass die diesbezüglichen Vorgaben bei alkoholbedingter Enthemmung zwar nicht notwendigerweise vorsätzlich missachtet, aber schlicht vergessen werden können, dürfte nicht zweifelhaft sein. Im Übrigen dürfte auch davon auszugehen sein, dass die Bereitschaft zur Einhaltung hygienerechtlicher Schutzvorschriften in einer auch alkoholbedingt enthemmten Grundstimmung generell sinkt (OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2020 – 13 B 1581/20 NE –, juris Rn. 55). Der Antragsgegner hat in der Begründung der Allgemeinverfügung nachvollziehbar ausgeführt, dass Beobachtungen in der Vergangenheit gezeigt haben, dass die geltenden Maßgaben der Corona-Verordnung vor allem zu fortgeschrittener Stunde und mit fortschreitendem Alkoholkonsum missachtet wurden. Insbesondere vor dem Hintergrund der Sperrstunde ab 23:00 Uhr erscheint es der Kammer nachvollziehbar, dass das Alkoholverkaufsverbot weiter dazu dient, die kontaktbeschränkenden Wirkungen der Sperrzeit zu unterstützen und fortzuführen. Denn wenn ab 23:00 Uhr sämtliche Gastronomiebetriebe endgültig schließen müssen, ist davon auszugehen, dass insbesondere in diesen Betrieben in der letzten Stunde vermehrt Alkohol konsumiert werden würde, um dem Verkaufsverbot sozusagen vorzugreifen und soweit es nach der Sperrzeit weiterhin an anderen Verkaufsstellen noch Alkohol verfügbar wäre, so wäre davon auszugehen, dass sich ab diesem Zeitpunkt, alkoholisierte Gruppen im öffentlichen Raum ansammeln, was dem Ziel der Sperrzeit, die Kontakte zu beschränken, gerade widersprechen würde.53 2.4.2.3. Das Alkoholverkaufsverbot ist aller Voraussicht nach auch erforderlich. Ein milderes Mittel bei dessen voraussichtlich gleicher Eignung für die Erreichung des angestrebten Zwecks ist hier bei der gebotenen summarischen Prüfung ebenfalls nicht ersichtlich (so auch VG Berlin, Beschluss vom 15.10.2020 – 14 L 422/20 –, juris Rn. 20). Sofern nach § 5 CoronaVO bereits Hygienekonzepte als mildere Mittel vorgeschrieben sind, vom Antragsteller umgesetzt und auch als wirksame Maßnahme erachtet werden (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 42), sind solche Regelungen jedenfalls nicht gleichermaßen geeignet, eine Ansteckungswahrscheinlichkeit zu verringern. Denn wie der Antragsgegner zutreffend in seiner Begründung der Allgemeinverfügung ausführt, führt eine steigende Alkoholisierung gerade dazu, dass sich einzelne Personen oder Gruppen weniger an entsprechende Hygienevorschriften halten. Eine weitere allgemeine alleinige Sperrzeitverkürzung der Gastronomie auf 22:00 Uhr wäre dagegen für den Antragsteller belastender (Bayerischer VGH, Beschluss vom 19.06.2020 – 20 NE 20.1127 –, juris Rn. 40 ff.). Ebenso sind auch hinsichtlich des zeitlich beschränkten Verbots des Verkaufs alkoholischer Getränke, gleich geeignete, den Adressatenkreis des Verbots weniger belastende Maßnahmen nicht ersichtlich. Insbesondere stellte eine strengere Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung der Vorgaben der Corona-Verordnung durch die Polizei- und Ordnungsbehörden schon mit Blick darauf, was insoweit angesichts der zwangsläufig begrenzten personellen Ressourcen vernünftigerweise erwartbar ist, keine gleichwertige Alternative dar (so auch OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2020 – 13 B 1581/20 NE –, juris Rn. 64). Eine Beschränkung des Alkoholverbots auf bestimmten Alkohol wäre im vorliegenden Fall auch kein milderes Mittel, da eine Alkoholisierung und die daraus folgende sinkende Bereitschaft, sich an Hygienevorschriften zu halten, nicht an eine bestimmte Sorte Alkohol geknüpft ist, sondern vom Konsum jedweder Sorte ausgehen kann.54 2.4.2.4. Das Alkoholabgabeverbot ist auch angemessen, d.h. verhältnismäßig im engeren Sinne. Eingriffszweck und Eingriffsintensität stehen auch hier in einem angemessenen Verhältnis zueinander (vgl. allgemein VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.10.2020 – 1 S 3156/20 –, juris Rn. 32). Das gilt auch in Ansehung des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Antragstellers. Da der Antragsteller eine reine Schankwirtschaft betreibt, stellt ein Alkoholabgabeverbot ebenfalls wie die Sperrzeit ab 23:00 Uhr einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit dar. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass dieser Eingriff und die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen für den Antragsteller angesichts des Betriebstyps seiner Gaststätte gravierender sind als für andere Gastwirte, da er laut seiner Gaststättenerlaubnis lediglich Getränke ausschenken und gerade keine Speisen anbieten darf. Durch das Alkoholabgabeverbot ab 22:00 Uhr (auch wenn sein Betrieb erst ab 23:00 Uhr öffnen würde und die Ausübung seines Gewerbes ihm bereits durch die Sperrzeitenregelung nach Nr. 2 der Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 versagt ist) würde der Antragsteller im Prinzip keinerlei Umsatz mehr machen, selbst wenn man von der alleinigen Regelung des Alkoholverbots ausginge. Diesem erheblichen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit steht jedoch ein nach Auffassung der Kammer noch gewichtigeres Allgemeininteresse entgegen. Die steigenden Infektionszahlen (vgl. zu den konkreten Zahlen insofern unter (2.4.1.4.) gaben und geben mithin Anlass, über die bereits bestehenden Einschränkungen hinaus weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus SARS-CoV-2 in Form des streitgegenständlichen Alkoholabgabeverbots zu ergreifen. Aufgrund des vom Antragsgegner in der Begründung zur Allgemeinverfügung vom 27.10.2020 zutreffend beschriebenen zunehmend diffusen Ausbreitungsgeschehens bedeutet dies, neben den bisher als hauptsächlich angeführten Infektionsquellen wie privaten Feiern oder Altenheimen auch Maßnahmen in weiteren Lebensbereichen zu ergreifen, um Zusammenkünfte von vielen Menschen generell zu beschränken.55 Den Umfang der durch das Verbot verursachten Umsatzeinbußen hat der Antragstellerin nicht mitgeteilt; schon deswegen kann nicht davon ausgegangen werden, dass das zeitlich beschränkte und bis maximal bis zum 20.11.2020 befristete Verbot für sich genommen den Betrieb des Antragstellers existenziell bedroht. Angesichts dessen überwiegen die dargestellten öffentlichen Interessen an der Unterbindung weiterer Infektionen und der damit verbundenen Gefahren für die Gesundheit und das Leben einzelner Personen und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems die finanziellen Interessen des Antragstellers (vgl. hierzu ausführlich unter 2.4.1.4.).56 Auch beim Alkoholverkaufsverbot ist zu bedenken, dass es ebenso wie die Sperrzeit ab 23:00 Uhr und das Verbot des Gassenschanks nach Ziffer 3 der Allgemeinverfügung Teil eines Bündels von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist, welches insgesamt ausweislich der Begründung der angefochtenen Allgemeinverfügung auch gerade dazu dient, ein Ausweichverhalten der betroffenen Kundenkreise ab der Sperrstunde in den öffentlichen Raum zu verhindern. Des Weiteren dürfen die durch die Corona-Verordnung eingeführten Beschränkungen auch beim Alkoholverbot nicht unberücksichtigt bleiben. Wie oben angesprochen werden in dieser private Ansammlungen und Versammlungen zahlenmäßig beschränkt. Auch wurden die Situationen, in denen eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden muss, zuletzt erheblich ausgeweitet (vgl. § 3 Corona-Verordnung). Der Betrieb von Clubs und Diskotheken bleibt völlig verboten (§ 13 Nr. 1 Corona-Verordnung). Dasselbe gilt für Tanzveranstaltungen mit Ausnahme von Tanzaufführungen sowie Tanzunterricht und -proben (§ 10 Abs. 5 Corona-Verordnung).57 Insgesamt ist nach Auffassung der Kammer auch hinsichtlich des Alkoholverkaufsverbots ab 22:00 Uhr ein hinreichend systematisches Vorgehen zu erkennen, bei dem die für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen weiterhin möglichst offengehalten werden sollen und gleichzeitig eine weitgehende Kontaktreduzierung umgesetzt werden kann.58 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.59 B E S C H L U S S60 Der Streitwert wird gemäß § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG (in Anlehnung an Ziffer 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der zuletzt am 18.07.2013 beschlossenen Änderungen) auf 5.000 EUR festgesetzt. Da die angegriffene Regelung spätestens mit Ablauf des 20. November 2020 außer Kraft tritt, voraussichtlich aber durch die ab dem 02.11.2020 geltende komplette Schließung aller Gastronomiebetriebe für die Dauer des Monats November keine Wirkung mehr auf den Antragsteller haben wird, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2020 – 13 B 1581/20.NE –, juris Rn. 71; VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.10.2020 – 1 K 4274/20 –). | {
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Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen,
4mit dem sich der Antragsteller auf seine zum Aktenzeichen 7 K 2720/20 erhobene Klage gegen die Ziffer I.2. der Allgemeinverfügung der Beklagten vom 18. Oktober 2020 zur regionalen Anpassung an das Infektionsgeschehen bei einem 7-Tages-Inzidenz-Wert von 50 gemäß § 15a Coronaschutzverordung NRW (CoronaSchVO NRW) vom 30. September 2020 in der ab dem 17. Oktober 2020 gültigen Fassung (im Folgenden: Allgemeinverfügung) bezieht, hat keinen Erfolg.
5Der zulässige Antrag ist unbegründet.
6Das Gericht kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, wenn – wie hier hinsichtlich der in der Hauptsache angefochtenen Anordnung in der Allgemeinverfügung (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. §§ 16 Abs. 8, 28 Abs. 3 IfSG) – die aufschiebende Wirkung der Klage kraft Gesetzes entfällt. Hierbei hat das Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dem privaten Interesse des Antragstellers, von der sofortigen Durchsetzung des Verwaltungsakts vorläufig verschont zu bleiben, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts gegenüberzustellen, wobei hinsichtlich § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO die gesetzgeberische Wertung des Entfallens der aufschiebenden Wirkung der Klage zu beachten ist. Ausgangspunkt dieser Interessenabwägung ist eine – im Rahmen des Eilrechtsschutzes allein mögliche und gebotene summarische – Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Ergibt diese Prüfung, dass der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers und ist deshalb die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen. Denn an der Vollziehung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts kann grundsätzlich kein öffentliches Vollzugsinteresse bestehen. Erweist sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Erscheinen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, ist die Entscheidung auf der Grundlage einer umfassenden Folgenabwägung zu treffen.
7Die vom Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zulasten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ziffer I.2. der in der Hauptsache angefochtenen Allgemeinverfügung überwiegt das Interesse des Antragstellers, von einer Vollziehung einstweilen verschont zu bleiben. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage spricht vieles für die Rechtmäßigkeit der in der Allgemeinverfügung getroffenen Anordnung (I.). Jedenfalls geht aber die von den Erfolgsaussichten unabhängige Interessenabwägung zulasten des Antragstellers aus (II.).
8I. Ziffer I.2. der Allgemeinverfügung trifft folgende Anordnungen:
9„Die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung gilt nach § 15a Abs. 3 CoronaSchVO in öffentlichen Außenbereichen, in denen regelmäßig eine Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 m zu erwarten ist. Das gilt in C7. in folgenden Bereichen:
10Einkaufsbereiche
11• gesamte Fußgängerzone Altstadt
12• gesamte Fußgängerzone C.------straße einschließlich Nebenstraßen
13• K.---platz zwischen G. ., G1. -W. -Str. und I. Str. Hausnummer 1
14• G1. -W. -Str. zwischen K.---platz und Einmündung X. .
15• O.-----wall zwischen K.---platz und L1.-----straße
16• I3. straße in C1. zwischen Einmündung X1. . und Kreuzung C2. ./C3. Str.
17• Einkaufsbereich in T1. zwischen T2.---------ring / F.---allee und S.--------ring
18Bahnhofsumfeld
19• C4. . zwischen G2. ./K1. Str. und C5.----------platz
20• Am C8. einschließlich C5.----------platz
21• I1. -I2. -Str. zwischen Hausnummer 15 und Am C8. (einschließlich sog. U. )
22Sonstige Bereiche
23• F1. -H1. -Platz
24• B. . zwischen F2. -C6. -Str. und C4. .
25• L2. -F3. -Straße
26• T3. von der Promenade kommend ab Beginn der Brücke
27• Tierpark P1.
28Ausnahmen: Die Pflicht zum Tragen der Mund-Nase-Bedeckung gilt nicht für Kinder bis zum Schuleintritt und Personen, die aus medizinischen Gründen keine Mund-Nase-Bedeckung tragen können; die medizinischen Gründe sind durch ein ärztliches Zeugnis nachzuweisen, welches auf Verlangen vorzuzeigen ist.“
29Es spricht vieles dafür, dass die Ziffer I.2. der Allgemeinverfügung rechtmäßig ist.
301. Dies gilt zweifelsfrei, wenn man die Regelungen in der CoronaSchVO NRW als taugliche Ermächtigungsgrundlage für die getroffene Anordnung ansieht.
31a. Die Anordnung in der Allgemeinverfügung i.S.v. § 35 Satz 2 VwVfG NRW findet ihre Rechtsgrundlage in diesem Fall in § 15a Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Halbsatz 2, Abs. 4 Satz 1 CoronaSchVO NRW.
32b. Bei summarischer Prüfung bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung. Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin ergibt sich aus § 3 Abs. 1 IfSBG NRW. Auf eine Anhörung konnte wegen der Formenwahl zugunsten einer Allgemeinverfügung gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW verzichtet werden. Rechtsfehler bei der Bekanntgabe sind nicht ersichtlich.
33Einen zu unbestimmten Anwendungsbereich (§ 37 Abs. 1 VwVfG NRW) vermag die Kammer nicht zu erkennen. Der Antragsteller rügt insofern die Unbestimmtheit hinsichtlich des erfassten Bereichs „gesamte Fußgängerzone Altstadt“. Der Regelungsgehalt kann jedoch nach dem objektiven Empfängerhorizont ermittelt werden. Die Antragsgegnerin hat insoweit eine Karte zum örtlichen Geltungsbereich der Ziffer I.2. veröffentlicht.
34Vgl. https://www.bielefeld.de/ftp/dokumente/Maskenpflicht_C7. .pdf, zuletzt abgerufen am 30. Oktober 2020.
35c. Des Weiteren ist nach summarischer Prüfung von der materiellen Rechtmäßigkeit auszugehen.
36Nach § 15a Abs. 2 CoronaSchVO NRW stellt ein Kreis oder eine kreisfreie Stadt, in dem bzw. in der nach den täglichen Veröffentlichungen des Landeszentrums Gesundheit die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 innerhalb von sieben Tagen bezogen auf 100.000 Einwohner (7-Tages-Inzidenz) über dem Wert von 35 liegt und das Infektionsgeschehen nicht ausschließlich auf bestimmte Einrichtungen o.ä. zurückzuführen und einzugrenzen ist, am ersten Werktag, für den der entsprechende Inzidenzwert festgestellt wird, durch Allgemeinverfügung für ihr Gebiet das Erreichen der Gefährdungsstufe 1 fest (Satz 1). Bei einem Wert von 50 stellt der betroffene Kreis oder die kreisfreie Stadt das Erreichen der Gefährdungsstufe 2 fest (Satz 2). Mit Feststellung der Gefährdungsstufe 1 gilt nach § 15a Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 CoronaSchVO NRW die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung in öffentlichen Außenbereichen, in denen regelmäßig eine Unterschreitung des Mindestabstands zu erwarten ist (z.B. stark frequentierte Fußgängerzonen); die entsprechenden Bereiche sind in der Allgemeinverfügung nach Absatz 2 festzulegen. Mit Feststellung der Gefährdungsstufe 2 treten zusätzlich die weiteren Regelungen in § 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 - 5 CoronaSchVO NRW in Kraft.
37Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15a Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 CoronaSchVO NRW für die Festlegung der öffentlichen Außenbereiche, in denen regelmäßig eine Unterschreitung des Mindestabstands zu erwarten ist, liegen vor. Insoweit ist lediglich das Überschreiten der 7-Tages-Inzidenz von 35 bzw. 50 erforderlich. Hier ist für das Stadtgebiet der Antragsgegnerin jedenfalls seit dem 17 bzw. 18. Oktober 2020 durchgehend der Grenzwert von 50 überschritten.
38Vgl. die Daten des Landeszentrums Gesundheit, abrufbar unter https://www.mags.nrw/coronavirus-fallzahlen-nrw, zuletzt abgerufen am 30. Oktober 2020.
39Auf Rechtsfolgenseite ist die Auswahl der betroffenen Bereiche durch die Antragsgegnerin nicht zu beanstanden. Ihr steht dabei allerdings nur hinsichtlich der Auswahl der Bereiche ein Entscheidungsspielraum zu. Eine zeitliche Begrenzung kann die Antragsgegnerin nach § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 CoronaSchVO NRW nicht vornehmen.
40Bezüglich der von der Antragsgegnerin bestimmten Bereiche geht die Kammer davon aus, dass es sich dabei um öffentliche Außenbereichen im Sinne von § 15a Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 CoronaSchVO NRW handelt, in denen regelmäßig eine Unterschreitung des Mindestabstands zu erwarten ist. Die Antragsgegnerin hat nachvollziehbar dargelegt, dass die Auswahl der Bereiche auf den langjährigen Beobachtungen des Ordnungsamtes und unter Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Gegebenheiten – etwa durch die Berücksichtigung der Großbaustelle am K.---platz – erfolgt ist.
41Vgl. Stellungnahme des Ordnungsamtes der Antragsgegnerin vom 26. Oktober 2020, Bl. 74 ff. GA.
42Die Kammer hat keine durchgreifenden Bedenken daran, dass die Antragsgegnerin keine eigenständigen Erhebungen hinsichtlich der Nichteinhaltung des Abstandsgebotes vorgenommen, sondern sich bei der Entscheidung auf ihre allgemeinen Beobachtungen gestützt hat. Insbesondere im Hinblick auf die in der CoronaSchVO NRW selbst benannten Fußgängerzonen erweist sich die getroffene Auswahl nicht als willkürlich.
432. Nach summarischer Prüfung ergibt sich eine abweichende Bewertung auch dann nicht, wenn man § 15a Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Halbsatz 2, Abs. 4 Satz 1 CoronaSchVO NRW nicht als Ermächtigungsgrundlage für die umstrittene Ziffer I.2. heranziehen könnte.
44a. Denn dann könnte die Anordnung auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG gestützt werden. Da sich die Antragsgegnerin auch auf diese Regelung gestützt hat und insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Anordnung gesondert geprüft hat, kann unproblematisch auch auf diese Ermächtigungsgrundlage abgestellt werden.
45Der Einwand des Antragstellers, die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung in öffentlichen Außenbereichen könne als präventive Maßnahme nur auf Ermächtigungsgrundlagen aus dem Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes, insbesondere § 16 IfSG gestützt werden, trifft nicht zu.
46Diesbezüglich hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen bereits ausgeführt:
47„Aus der systematischen Einteilung des Infektionsschutzgesetzes in „Vorschriften zur Verhütung übertragbarer Krankheiten“ (Vierter Abschnitt, §§ 15a ff.) und in „Vorschriften zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“ (Fünfter Abschnitt, §§ 24 ff.) ergibt sich, dass § 16 Abs. 1 IfSG nur zu einem verhütenden Eingreifen ermächtigt, welches die Entstehung übertragbarer Krankheiten verhindern soll, während die besonderen Vorschriften des Fünften Abschnitts in den Fällen gelten, in denen es darum geht, die Verbreitung bereits aufgetretener Krankheiten zu verhindern. Ziel des § 16 Abs. 1 IfSG ist es, übertragbare Krankheiten bereits im Vorfeld, also noch vor ihrem Ausbruch und ihrer Verbreitung, bekämpfen zu können. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist daher nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist.
48Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1971 - I C 60.67 -, juris, Rn. 28; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 22. Mai 2001 - 6 A 12111/00 -, juris, Rn. 20; Nds. OVG, Urteil vom 3. Februar 2011 - 13 LC 198/08 -, juris, Rn. 40; Thür. OVG, Beschluss vom 8. April 2020 - 3 EN 245/20 -, Abdruck, S. 7, abrufbar unter: https://kurzlink.de/R5LNPvgmA; VG Stuttgart, Beschluss vom 19. August 2003 - 4 K 2818/03 -, juris, Rn. 2; VG Köln, Beschluss vom 10. Juli 2017 - 7 L 2889/17 -, juris, Rn. 9.
49[…]
50Schließlich steht der systematischen Unterscheidung von Maßnahmen zur Verhütung übertragbarer Krankheiten und solchen zu deren Bekämpfung nicht entgegen, dass mit repressiven Bekämpfungsmaßnahmen auch präventive Wirkungen einhergehen. Im Gegenteil sind derartige Wirkungen im Hinblick auf die Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung bereits aufgetretener Krankheiten gerade bezweckt.
51Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 9. April 2020 - 1 S 925/20 -, bislang nur als Pressemitteilung abrufbar unter: https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/6217676/?LISTPAGE=1213200.“
52Da hier eine übertragbare Krankheit bereits aufgetreten ist – dazu sogleich – ist der Anwendungsbereich des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG eröffnet.
53So auch bereits VG Minden, Beschluss vom 24. August 2020 - 7 L 662/20 -, juris Rn. 35 unter Bezugnahme auf VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30. April 2020 - 1 S 1101/20 -, juris Rn. 13 ff.
54Das Vorbringen des Antragstellers gegen die danach einschlägige Ermächtigungsgrundlage greift nicht. Es ist nicht feststellbar, dass § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG gegen höherrangiges Recht verstößt.
55Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 37 ff., bestätigt u.a. durch OVG NRW, Beschlüsse vom 31. Juli 2020 - 13 B 739/20.NE -, juris Rn. 30 ff., und vom 7. August 2020 - 13 B 785/20.NE -, juris Rn. 39 ff.; siehe auch bereits VG Minden, Beschluss vom 24. August 2020 - 7 L 662/20 -, juris Rn. 17.
56b. Hinsichtlich etwaiger Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
57c. Nach summarischer Prüfung bestehen auch keine durchgreifenden Bedenken gegen die materielle Rechtmäßigkeit der in der Allgemeinverfügung getroffenen Anordnung.
58Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.
59aa. Entgegen der Auffassung des Antragstellers liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG vor.
60Nach dem präventiven Zweck des IfSG, der darin liegt, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern (vgl. § 1 Abs. 1 IfSG), ist es bei § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG auf Tatbestandsebene nicht erforderlich, dass in den betroffenen Außenbereichen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (§ 2 Nr. 4 - 7 IfSG) festgestellt wurden.
61Vgl. VG Minden, Beschluss vom 12. März 2020 - 7 L 212/20 -, juris Rn. 10.
62Für die Anordnung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen ist es nach § 28 Abs. 1 IfSG erforderlich, aber auch ausreichend, dass eine übertragbare Krankheit (§ 2 Nr. 3 IfSG) aufgetreten ist, deren Weiterverbreitung verhindert werden soll. Das ist vorliegend der Fall, da in allen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland, auch in Nordrhein-Westfalen und insbesondere in C7. , eine Vielzahl von Infektionsfällen mit dem neuen Coronavirus SARS-CoV-2 bestätigt wurde.
63Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 31. Juli 2020 - 13 B 739/20.NE -, juris Rn. 35 und vom 7. August 2020 - 13 B 785/20.NE -, juris Rn. 23; siehe auch bereits VG Minden, Beschlüsse vom 27. März 2020 - 7 L 246/20 -, juris Rn. 15 ff. und vom 24. August 2020 - 7 L 662/20 -, juris Rn. 27 ff.; zu den Fallzahlen siehe nur COVID-19-Dashboard des Robert-Koch-Instituts,
64abrufbar unter https://experience.arcgis.com/experience/478220a4
65c454480e823b17327b2bf1d4, zuletzt abgerufen am 30. Oktober 2020.
66Bei der getroffenen Anordnung handelt es sich auch zweifellos um eine Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG.
67Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. August 2020 - 13 B 1197/20.NE -, juris Rn. 27 f. m.w.N.
68bb. Die Anordnung ist voraussichtlich auch auf Rechtsfolgenseite nicht zu beanstanden.
69Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG vor, ist die Antragsgegnerin zum Handeln verpflichtet (gebundene Entscheidung). Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „wie“ des Eingreifens - ist der Behörde allerdings Ermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um "notwendige Schutzmaßnahmen" handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt.
70Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 - 3 C 16.11 -, juris Rn. 23.
71Zunächst ist es auf Rechtsfolgenseite nicht zu beanstanden, dass u.a. der Antragsteller als Nichtstörer Adressat der Allgemeinverfügung ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
72„können Schutzmaßnahmen [unzweifelhaft] nicht nur gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern (sog. ‚Störer‘) erlassen werden, sondern auch gegenüber der Allgemeinheit oder (sonstigen) Dritten (sog. ‚Nichtstörer‘), wenn ein Tätigwerden allein gegenüber "Störern" eine effektive Gefahrenabwehr nicht gewährleistet, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen.“
73Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 7. August 2020 - 13 B 785/20.NE -, juris Rn. 64 ff. m.w.N.; VG Minden, Beschlüsse vom 21. April 2020 - 7 L 299/20 - Rn. 27 m.w.N. und vom 24. August 2020 - 7 L 662/20 -, juris Rn. 40.
74Im Übrigen sind Rechtsfehler auf Rechtsfolgenseite ebenfalls nicht ersichtlich.
75Die in der Allgemeinverfügung getroffene Anordnung erweist sich im Rahmen der insoweit eingeschränkten gerichtlichen Prüfungskompetenz als nicht ermessensfehlerhaft (§ 114 Satz 2 VwGO). Insbesondere ist die Maßnahme verhältnismäßig. Dabei ist voranzustellen, dass die Bestimmung der Bereiche, in denen eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen ist, nur dann verhältnismäßig ist, wenn das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung in öffentlichen Außenbereich, in denen regelmäßig eine Unterschreitung des Mindestabstands zu erwarten ist, im Grundsatz verhältnismäßig ist. Denn wenn diese Verpflichtung generell unverhältnismäßig – insbesondere ungeeignet – wäre, würde dies zwangsläufig auch für jeden Bereich gelten, den die Antragsgegnerin ausgewählt hat. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
76(1.) Die Anordnung, in den von der CoronaSchVO NRW erfassten und von der Antragsgegnerin präzisierten öffentlichen Außenbereichen eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen, verfolgt einen legitimen Zweck, nämlich die Eindämmung der weiteren Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und der damit einhergehen Gefahren für die Bevölkerung. Dabei ist die Gefahrenlage weiterhin als ernst einzuschätzen, insbesondere hinsichtlich einer Überlastung des Gesundheitswesens bei stärkerer Verbreitung. Dies gilt insbesondere in einer Situation, in der – wie hier – eine 7-Tage-Inzidenz von über 50 festgestellt wird und die Weiterverbreitung des Virus wegen fehlender Nachverfolgungsmöglichkeiten bei dem derzeit vermehrt diffusen Infektionsgeschehen außer Kontrolle zu geraten droht.
77Vgl. zu der Gefährdungslage beim derzeit vorliegenden Infektionsgeschehen OVG NRW, Beschluss vom 26. Oktober 2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 38 ff. und Robert-Koch-Institut, Risikobewertung zu COVID-19, Stand. 26. Oktober 2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, zuletzt abgerufen am 30. Oktober 2020.
78(2.) Die Maßnahme ist auch geeignet. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat in zahlreichen Entscheidungen ausgeführt, dass die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung grundsätzlich ein geeignetes Mittel zur Verhinderung der Weiterverbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 darstellt. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass der wissenschaftliche Diskurs über die Eignung sog. Behelfsmasken als Mittel zur Verringerung der Infektionszahlen (vgl. insoweit die vom Antragsteller vorgebrachten Beiträge) bisher nicht abgeschlossen sein dürfte. Gleiches gilt für die von einigen Stimmen angenommenen Risiken durch das Tragen einer solchen Mund-Nase-Bedeckung.
79Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 20. August 2020 - 13 B 1197/20.NE -, juris Rn. 67 ff. und vom 27. August 2020 -13 B 1220/20.NE -, juris Rn. 34 ff.
80Die danach grundsätzlich anzunehmende Eignung ergibt sich auch für Außenbereiche, in denen der Mindestabstand nicht eingehalten wird.
81Vgl. Robert-Koch-Institut, Risikobewertung zu COVID-19, Stand 26. Oktober 2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, zuletzt abgerufen am 30. Oktober 2020; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 13. August 2020 -13 B 984/20.NE -, und Bay. VGH, Beschluss vom 7. Juli 2020 - 20 NE 20.1477 -, juris Rn. 19 f. zur „Maskenpflicht“ in Außenbereichen der Gastronomie.
82Hier kann nach den obigen Ausführungen davon ausgegangen werden, dass in den erfassten Bereichen der Mindestabstand unterschritten wird.
83(3.) Die Maßnahme ist außerdem erforderlich. Angesichts der hohen Fragilität der Lage und der fortbestehenden gravierenden Unsicherheiten bei der prognostischen Bewertung des weiteren Ausbruchsverlaufs kommt der Antragsgegnerin ein Einschätzungsspielraum im Hinblick auf die zu ergreifenden Maßnahmen zu. Die gegenwärtige Situation kann es zudem weiterhin rechtfertigen, vorübergehend eine stärker typisierende Betrachtung (verbleibender) Risikotatbestände anzulegen und stärker generalisierende Regelungen zu treffen, während umgekehrt die Differenzierungsnotwendigkeit (erst) mit einer Verdichtung der Erkenntnislage und/oder mit der Dauer der bestehenden Einschränkungen steigen würde. Soweit sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellen, verbleibt der Antragsgegnerin der Einschätzungsspielraum.
84Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 90, vom 29. April 2020 - 13 B 512/20.NE -, juris Rn. 48 ff., vom 6. Juli 2020 - 13 B 940/20.NE -, juris Rn. 54 und vom 20. August 2020 - 13 B 1197/20.NE -, juris Rn. 65.
85Gleich geeignete, mildere Mittel zur Begegnung des Infektionsrisikos in stark frequentierten Außenbereichen drängen sich zurzeit nicht eindeutig auf. Insbesondere eine zeitliche Begrenzung auf besonders stark frequentierte Zeiträume scheidet insofern aus. Der Antragsgegnerin ist insoweit zuzustimmen, dass es in der derzeitigen Lage auch unvorhersehbar zu starker Frequentierung kommen kann.
86(4.) Die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Base-Bedeckung in den erfassten Bereichen erweist sich auch unter Abwägung der gegenläufigen Interessen als angemessen. Der verfolgte Zweck steht nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs. Die angefochtene Verpflichtung stellt sich – insbesondere für den Antragsteller, der sich nicht etwa aus beruflichen Gründen auf Dauer in den genannten Bereichen aufhalten muss – als Eingriff in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und gegebenenfalls das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) mit sehr geringer Intensität dar. Diese Rechte gelten jedoch nicht unbeschränkt, sondern unterliegen einem Gesetzesvorbehalt und treten hier im Ergebnis angesichts der drohenden Gefahren bei der sich abzeichnenden Verschärfung des Infektionsgeschehens, vor allem hinsichtlich der Überforderung des Gesundheitswesens, gegenüber dem mit der Allgemeinverfügung bezweckten Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) zurück. Unzumutbare Auswirkungen sind nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere für das geltend gemachte Beschlagen einer Brille. Die Kammer, deren Mitglieder ebenfalls Brillen tragen, ist nicht der Ansicht, dass das gelegentliche Beschlagen der Sehhilfe für die Träger unzumutbar ist, zumal bei zahlreichen handelsüblichen Masken – bei ordnungsgemäßer Verwendung des eingezogenen Nasenbügels – das beschriebene Problem vermieden werden kann. Beachtlich ist auch, dass die Verpflichtung kaum zusätzliche Belastungen mit sich bringt. Das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung ist mittlerweile – in rechtlich nicht zu beanstandender Weise – in vielen alltäglichen Situationen verpflichtend, insbesondere bei Tätigkeiten, die regelmäßig mit dem Aufsuchen der betroffenen Bereiche einhergehen (z.B. bei Besuch einer Handelseinrichtung oder Nutzung des Personenverkehrs, vgl. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr.4 und 9 CoronaSchVO NRW). Zudem sieht die Allgemeinverfügung bei nachgewiesenen medizinischen Gründen Ausnahmen von der Verpflichtung vor. Zuletzt ist durch § 15a Abs. 2 Satz 3 und 4 CoronaSchVO NRW und die Anknüpfung an die Feststellung einer Gefährdungsstufe sichergestellt, dass bei Verringerung der Inzidenzzahlen die Verpflichtung zum Tragen der Mund-Nase-Bedeckung wieder entfällt.
87II. Selbst wenn man nach alledem von offenen Erfolgsaussichten der Klage ausgehen wollte – eine offensichtliche Rechtswidrigkeit, insbesondere hinsichtlich der Erforderlichkeit der getroffenen Maßnahme, ist jedenfalls nicht gegeben –, führt die Interessenabwägung zu einem klaren Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses gegenüber dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Würde der Vollzug der Ziffer I.2. der Allgemeinverfügung ausgesetzt, erwiese sich diese aber im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig, so könnten in der Zwischenzeit durch einen weitere Zunahme der Infektionszahlen schwerwiegende und erhebliche Schädigungen eines überragenden Schutzgutes – der menschlichen Gesundheit – eintreten. Bleibt die Anordnung dagegen sofort vollziehbar, erweist sie sich aber im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig, entstehen beim Antragsteller keine tiefgreifenden und vor allem keine dauerhaften Beeinträchtigungen. Die zu befürchtenden Gesundheitsschädigungen sind dagegen möglicherweise nicht reversibel. Das Schutzgut der menschlichen Gesundheit ist gegenüber den vom Antragsteller abverlangten Einschränkungen – zumindest im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes – daher ohne Zweifel als höherrangig einzustufen.
88Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1I.
2Die Antragstellerin betreibt in der Rechtsform der GmbH den in der L. Innenstadt gelegenen "G. S. C. Club", der über eine gaststättenrechtliche Erlaubnis als "Schankwirtschaft im Rahmen einer Unterhaltungsgaststätte" verfügt. Sie begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung von § 10 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung - CoronaSchVO) vom 30. September 2020 (GV. NRW. S. 923), zuletzt geändert durch Verordnung vom 16. Oktober 2020 (GV. NRW. S. 978a).
3§ 10 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO lautet wie folgt: Der Betrieb von Clubs, Diskotheken und ähnlichen Einrichtungen ist untersagt.
4Die Antragstellerin hat am 5. Oktober 2020 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.
5Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend: Die Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung der Betriebsschließung in §§ 32, 28 IfSG sei nicht mit höherrangigem Recht vereinbar, weil die Regelungen keinen finanziellen Ausgleich für den Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Eigentums- und Berufsfreiheit der von langfristigen Betriebsschließungen betroffenen Unternehmer und Geschäftsinhaber enthielten. Unabhängig davon erweise sich das in der Verordnung geregelte Betriebsverbot als unverhältnismäßig. Es sei bereits ungeeignet, die mit dem Betrieb von Clubs einhergehenden Infektionsrisiken zu verringern, da sich das Partygeschehen lediglich hin zu legalen privaten Festen und illegalen Privatpartys verlagere. Das Verbot sei auch nicht erforderlich, da mit der Öffnung von Clubs unter den auch für private Feste geltenden Einschränkungen (Begrenzung der Gästezahl, Hygienekonzept, Rückverfolgbarkeit) ein milderes Mittel zur Verfügung stehe. Schließlich sei die bereits seit März 2020 unverändert fortgeltende Regelung angesichts der mit ihr verbundenen, sich in ihrer Intensität immer weiter steigernden Eingriffe in die Grundrechte der Betreiber und der fehlenden, bereits normativ verknüpften Entschädigung nicht mehr angemessen.
6Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
7im Wege der einstweiligen Anordnung den Vollzug von § 10 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO bis zu einer Entscheidung über einen noch zu erhebenden Normenkontrollantrag auszusetzen.
8Der Antragsgegner verteidigt die angegriffene Regelung und beantragt,
9den Antrag abzulehnen.
10II.
11Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. Der gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag ist unbegründet. Die von der Antragstellerin begehrte einstweilige Anordnung ist nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten (§ 47 Abs. 6 VwGO).
12Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Norm zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist.
13Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.9.2015 - 4 VR 2.15 -, juris.
14Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht dringend geboten, weil der Senat bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung von offenen Erfolgsaussichten eines noch zu stellenden Normenkontrollantrags ausgeht, die deswegen anzustellende Folgenabwägung aber zu Lasten der Antragstellerin ausfällt.
15Bei summarischer Prüfung erweist sich noch nicht als offensichtlich, dass § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als hinreichende, dem Parlamentsvorbehalt genügende Ermächtigungsgrundlage für die derzeit in § 10 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO geregelten, der Sache nach bereits seit März 2020 bestehenden Betriebsverbote aufgrund der sich mit zunehmender Dauer intensivierenden Eingriffe in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG von vornherein nicht mehr in Betracht kommt. Zwar gewinnen die in der Rechtsprechung des erkennenden Senats bereits angesprochenen, zu Beginn der Pandemielage jedoch verworfenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG als Grundlage für allgemeine flächendeckende Betriebsverbote,
16siehe insoweit grundlegend Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 37 ff.; vgl. ferner etwa Beschluss vom 23. Juni 2020 ‑ 13 B 695/20.NE ‑, juris, Rn. 43 ff., m. w. N.,
17mit Fortdauer der Pandemielage und der verordneten Betriebsschließungen zunehmend Gewicht. Insoweit spricht einiges dafür, dass der Gesetzgeber auf Dauer besonders grundrechtsintensive flächendeckende Maßnahmen, wie etwa Untersagungen unternehmerischer Tätigkeiten, selbst tatbestandlich und auf Rechtsfolgenseite konkretisieren und auch eine Entscheidung über etwaige Entschädigungsleistungen (wie sie bereits im 12. Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes für andere Sachverhalte normiert wurden) treffen muss.
18Allerdings ist in der Rechtsprechung auch anerkannt, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein kann, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum insbesondere auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen, um so auf schwerwiegende Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig reagieren zu können.
19Siehe dazu nochmals Senatsbeschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 59 ff., m. w. N.
20Dass ein solcher Übergangszeitraum ‑ die grundsätzliche Notwendigkeit einer näheren Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterstellt ‑ bereits abgelaufen ist, kann im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht als offensichtlich angenommen werden, sondern bedarf eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren.
21Vgl. zuletzt zu § 32 Satz 1 und 2 i. V .m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG als hinreichende Ermächtigungsgrundlage für Betriebsverbote: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 6. Oktober 2020 - 1 S 2871/20 -, juris, Rn. 30 (offen gelassen); zu Eingriffen in die Berufsfreiheit durch das Verbot von Zuschauern bei Sportveranstaltungen: Bay. VGH, Beschluss vom 16. September 2020 ‑ 20 NE 20.1994 ‑, juris, Rn. 17.; siehe auch Bay. VerfGH, Entscheidung vom 21. Oktober 2020 ‑ Vf.-VII-20 ‑, abrufbar unter: https://www.bayern.verfassungsgerichtshof.de/media/images/bayverfgh/26-vii-20.e.a.-entscheidung.pdf.
22Die Regelung in § 10 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO erweist sich im Übrigen nicht als offensichtlich rechtswidrig. Insbesondere ist nicht offensichtlich festzustellen, dass die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gewahrt ist.
23Das Verbot für den Betrieb von Clubs, Diskotheken und ähnlichen Einrichtungen dient dem legitimen Zweck, die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen. Der Verordnungsgeber darf davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie zumal angesichts der in jüngster Zeit erfolgten rapiden und flächendeckenden Zunahme der Zahl der nachweislich infizierten Personen eine ernstzunehmende Gefahrensituation begründet, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertigt, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates für Leib und Gesundheit der Bevölkerung auch gebietet.
24Vgl. zu dieser Schutzpflicht BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 - 1 BvR 1025/82 u.a. -, juris, Rn. 69, m. w. N.
25Die gegenwärtige Situation ist durch ein rapides Ansteigen der Infektionszahlen gekennzeichnet. Die 7-Tage-Inzidenz liegt mit Stand vom 29. Oktober 2020 für ganz Deutschland bei einem Wert von 99 und für Nordrhein-Westfalen nochmals deutlich darüber bei einem Wert von 131,5. Die berichteten R-Werte liegen anders als in früheren Phasen der Epidemie deutlich über 1. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich bundesweit in den vergangenen zwei Wochen von 618 Patienten am 13. Oktober 2020 auf 1.669 Patienten am 29. Oktober 2020 fast verdreifacht. Dies lässt sich auch nicht mehr durch wenige einzelne Ursachen erklären. Vielmehr stellt sich das aktuelle Infektionsgeschehen sehr diffus dar.
26Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 29. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-29-de.pdf?__blob= publicationFile.
27Gleichzeitig steigt mit der Zahl der Neuinfizierungen auch die Zahl der Corona-Patienten in den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern stark an. So wurden mit über 1.400 Patienten in der letzten Woche bereits 50 % mehr Personen mit Covid-19 stationär behandelt als noch eine Woche zuvor.
28Vgl. Süddeutsche Zeitung online vom 23. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/ gesundheit/gesundheit-duesseldorf-zahl-der-corona-patienten-in-nrw-kliniken-steigt-rasant-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-201023-99-51188.
29Zwar ist festzustellen, dass der Anteil der Verstorbenen unter den gemeldeten COVID-19-Fällen seit Ende Juli kontinuierlich unter 1 % liegt und damit im Vergleich zum Infektionsgeschehen im Frühjahr, insbesondere im April, deutlich abgenommen hat. Eine mögliche Veränderung des Virus, die zu einem milderen Verlauf führt, wird jedoch nicht als Ursache hierfür gesehen. Stattdessen gibt es für den niedrigeren Anteil an Verstorbenen verschiedene Gründe: einerseits sind unter den Fällen derzeit vor allem jüngere Menschen, die meist weniger schwer erkranken. Andererseits werden durch die breite Teststrategie auch vermehrt milde Fälle erfasst. Aktuell nehmen jedoch die Erkrankungen unter älteren Menschen wieder zu. Da diese häufiger einen schweren Verlauf durch COVID-19 aufweisen, steigt ebenso die Anzahl an schweren Fällen und Todesfällen.
30Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 28. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-28-de.pdf?__blob= publicationFile.
31Nach aktuellen Studien soll aber auch bei jungen Infizierten jeder fünfte Patient mit Spätfolgen zu kämpfen haben.
32Siehe https://www.mdr.de/brisant/spaetfolgen-corona-junge-menschen-100.html, Stand 8. Oktober 2020, 19.46 Uhr.
33Die anstehenden Wintermonate, in denen zu erwarten ist, dass sich die Bevölkerung vermehrt und längere Zeit in Innenräumen aufhält, lassen vor diesem Hintergrund ohne geeignete Schutzmaßnahmen eine weitere erhebliche Ausbreitung des Infektionsgeschehens erwarten.
34Angesichts der nicht zuletzt in dieser Entwicklung zum Ausdruck kommenden Dynamik des Infektionsgeschehens und der fortbestehenden tatsächlichen Ungewissheiten ist dem Verordnungsgeber nach wie vor eine Einschätzungsprärogative im Hinblick auf das gewählte Mittel einzuräumen, soweit und solange sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellen.
35Vgl. Senatsbeschluss vom 8. Juli 2020 - 13 B 870/20.NE - juris, Rn.
36Nach dieser Maßgabe ist die Betriebsuntersagung für Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen geeignet, einen Beitrag zur effektiven Eindämmung der Weiterverbreitung des Coronavirus zu leisten.
37Nach derzeitigen Erkenntnissen ist der Hauptübertragungsweg für SARS-CoV-2 die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Je nach Partikelgröße bzw. den physikalischen Eigenschaften unterscheidet man zwischen den größeren Tröpfchen und kleineren Aerosolen, wobei der Übergang zwischen beiden Formen fließend ist. Während insbesondere größere respiratorische Partikel schnell zu Boden sinken, können Aerosole auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen. Ob und wie schnell die Tröpfchen und Aerosole absinken oder in der Luft schweben bleiben, ist neben der Größe der Partikel von einer Vielzahl weiterer Faktoren, u. a. der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit, abhängig.
38Beim Atmen und Sprechen, aber noch stärker beim Schreien und Singen, werden Aerosole ausgeschieden; beim Husten und Niesen entstehen zusätzlich deutlich vermehrt größere Partikel. Neben der steigenden Lautstärke können auch individuelle Unterschiede zu einer verstärkten Freisetzung beitragen. Grundsätzlich ist die Wahrscheinlichkeit einer Exposition gegenüber infektiösen Partikeln jeglicher Größe im Umkreis von 1-2 m um eine infizierte Person herum erhöht.
39Bei längerem Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen kann sich die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als 1,5 m erhöhen, insbesondere dann, wenn eine infektiöse Person besonders viele kleine Partikel (Aerosole) ausstößt, sich längere Zeit in dem Raum aufhält und exponierte Personen besonders tief oder häufig einatmen.
40Vgl. Robert Koch-Institut, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Übertragungswege, abrufbar unter: https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText12, Stand: 16. Oktober 2020.
41Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen werden in geschlossenen Räumen bei lauter Musik betrieben, die unabhängig von der Gästezahl und der im Einzelfall gegebenen Lüftungsmöglichkeit zumindest lautes Sprechen unabdingbar machen und in denen jedenfalls im Bereich der Tanzflächen die Wahrung des Mindestabstands nicht sichergestellt werden kann. Risikoerhöhend kommt hinzu, dass Nähe und Kontakt zum Geschäftsmodell der Einrichtungen gehören.
42Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Juli 2020 - 13 B 870/20.NE, juris, Rn. 49, 53; ebenso unter Bezugnahme auf die spezifischen Bedingungen eines Clubbetriebs Bay. VGH, Beschluss vom 20. Juli 2020 ‑ 20 NE 20.1606 ‑, juris, Rn. 27; zum Betriebsverbot für Clubs und Diskotheken auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 27. Mai 2020 - 1 S 1528/20 -, juris, Rn. 38; Nds. OVG, Beschluss vom 29. Juni 2020 ‑ 13 MN 244/20 -, juris, Rn. 35.
43Diese werden regelmäßig zielgerichtet von wechselnden Gästen und Gästegruppen aufgesucht, die in einer Club- oder Diskoatmosphäre den Abend verbringen wollen. Eine alkoholbedingt enthemmte Grundstimmung sowie eine unbeschwerte Feierlaune begünstigen in infektionsrelevanter Weise das zufällige, aber auch das zielgerichtete Entstehen von Nahkontakten innerhalb, aber insbesondere auch außerhalb fester (Sitz-)Gruppen.
44Das Betriebsverbot für Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen verhindert eine Übertragung des Coronavirus in diesen Lokalitäten. Damit beugt es zugleich einem Eintrag der Infektion in das weitere berufliche und private Umfeld der Gäste vor. Zur Erreichung des von dem Verordnungsgeber verfolgten Zwecks ist die Regelung daher geeignet. Dem kann nicht entgegen gehalten werden, dass sich im Falle eines fortdauernden Betriebsverbots das Partygeschehen lediglich hin zu legalen oder illegalen privaten Festen verlagere und eine Weiterverbreitung gerade nicht verhindert werde. Die von dem Antragsteller angeführten illegalen Feste haben bei der Betrachtung der Geeignetheit der streitgegenständlichen Regelung außer Betracht zu bleiben. Zwar kommen solche Verstöße gegen die Maßgaben der Coronaschutzverordnung vor, sie dürften aber aufgrund ordnungsbehördlicher Kontrollen eher den Ausnahme- und jedenfalls nicht den Regelfall darstellen. Abgesehen dürfte auch keine Rede davon sein, dass die Verlagerung des Partygeschehens hin zu illegalen privaten Festen als Folge eines etwaigen Vollzugsdefizits auf ein normatives strukturelles Defizit der Coronaschutzverordnung zurückzuführen ist, welches die Annahme der Ungeeignetheit und damit letztlich auch der Nichtigkeit der angefochtenen Verbotsregelung rechtfertigen könnte.
45Vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen und sich daraus ergebenden Folgen: BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 8 C 6.15 -, juris Rn. 47.
46Legale private Feste sind gemäß § 13 Abs. 5 Satz 1 CoronaSchVO nur aus herausragendem Anlass zulässig und seit der ersten Änderung der geltenden Coronaschutzverordnung vom 30. September 2020 im "Normalfall" auf höchstens 50 Teilnehmer begrenzt (zur Reduzierung der zulässigen Teilnehmerzahl an Festen außerhalb des privaten Raums auf 25 bzw. 10 Personen bei einer 7-Tages-Inzidenz von über 35 bzw. über 50 siehe § 15a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 CoronaSchVO). Mit Blick auf diese Beschränkungen und den Umstand, dass für private Feste zur Verfügung stehende Räumlichkeiten in der Regel keine Clubatmosphäre bieten werden, ist nicht davon auszugehen, dass sich die privaten Feste als Club- bzw. Diskothekenersatz etablieren werden, sodass ihnen auch kein vergleichbares Infektionspotential zukommt.
47Das Betriebsverbot für Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen dürfte auch erforderlich sein. Ebenso wie für die Eignung einer Maßnahme kommt dem Gesetz- bzw. ‑ im Rahmen der Ermächtigung ‑ dem Verordnungsgeber auch für ihre Erforderlichkeit ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. Dieser ist nur dann überschritten, wenn aufgrund der dem Gesetzgeber bekannten Tatsachen und der bereits vorhandenen Erfahrungen feststellbar ist, dass weniger grundrechtsbelastende, aber gleich wirksame Regelungsalternativen in Betracht kommen.
48Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. September 2010 - 1 BvR 1789/10 -, juris, Rn. 21; BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 ‑ 8 C 6.15 -, juris, Rn. 49.
49Dem Verordnungsgeber wird voraussichtlich nicht vorgehalten werden können, sich nicht für ein anderes, die Berufsfreiheit der Antragstellerin weniger beeinträchtigendes Regelungsmodell entschieden zu haben. Der Senat hat bereits entschieden, dass die Umsetzung von Hygiene- und Infektionsschutzstandards, wie sie bei anderen Freizeit- und Vergnügungsstätten vorgesehen sind, unter den besonderen Bedingungen eines Club- oder Diskothekenbetriebs keine gleich geeignete Maßnahme darstellt. Daran ist festzuhalten.
50Vgl. dazu Senatsbeschluss vom 8. Juli 2020 ‑ 13 B 870/20.NE ‑, juris, Rn. 53.
51Soweit die Antragstellerin vorträgt, eine Öffnung von Clubs sei unter den für private Feste geltenden oder weiterreichenden infektionsschutzrechtlichen Vorgaben möglich (Begrenzung der Gästezahl auf 50 Personen, Registrierung der Gäste, feste Gästegruppe ohne Teilnehmerwechsel), handelt es sich auch hierbei um kein gleich geeignetes Regelungsmodell. Es ist davon auszugehen, dass nur aus herausragendem Anlass zulässige private Feste gegenüber einem regulären, täglich und mit möglicherweise mehreren wechselnden Gästegruppen pro Tag stattfindenden Clubbetrieb zahlenmäßig deutlich weniger ins Gewicht fallen. Die Öffnung von Clubs unter den für private Feste geltenden Infektionsschutzvorgaben hätte zur Folge, dass die ‑ nur wegen der herausragenden Bedeutung der privaten Feste ‑ vom Verordnungsgeber (im Rahmen der bis zum 31. Oktober 2020 geltenden Coronaschutzverordnung derzeit noch) in Kauf genommenen Infektionsrisiken sich mit der Zulassung des Club- und Diskothekenbetriebs deutlich erhöhen dürften.
52Vor diesem Hintergrund erweist sich das Betriebsverbot auch nicht als offensichtlich unangemessen.
53Angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne, ist eine freiheitseinschränkende Regelung, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Hierbei ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, deren Wahrnehmung der Eingriff in Grundrechte dient, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig. Die Interessen des Gemeinwohls müssen umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Zugleich wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
54St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 ‑ 2 BvR 2347/15 ‑, juris, Rn. 265, m. w. N.
55Davon ausgehend ist die fragliche Regelung nicht offensichtlich unangemessen, weil die Schwere der damit verbundenen Grundrechtseingriffe mittlerweile erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Verordnungszweck stünde. Die andauernde Schließung von Club, Diskotheken und ähnlichen Einrichtungen greift in ganz erheblicher Weise in das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und gegebenenfalls auch das von der Eigentumsgarantie erfasste Recht des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs (Art. 14 Abs. 1 GG) der davon betroffenen Betreiber ein. Infolge der langen Schließung dürften inzwischen ‑ trotz der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen und vielfach vorübergehend praktizierter betrieblicher Umstellung, wie sie auch die Antragstellerin vorgenommen hat ‑ viele Betriebe mit existenziellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein. Dem stehen jedoch nach wie ‑ in den letzten Tagen und Wochen ‑ erneut gestiegene, ebenfalls ganz erhebliche Gefahren für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen im Falle einer unkontrollierten Infektionsausbreitung gegenüber. Ob gleichwohl in den streitigen Betriebsverboten zwischenzeitlich eine Belastungssituation zu sehen sein könnte, deren Verhältnismäßigkeit nur noch bei Bestehen entsprechender Entschädigungs- oder Ausgleichsansprüche zu bejahen wäre,
56zweifelnd Senatsbeschluss vom 8. Juli 2020 ‑ 13 B 870/20.NE‑, juris, Rn. 59,
57muss gegebenenfalls der weiteren Prüfung in einem Hauptsacheverfahren überlassen bleiben und ist nach den Maßstäben des Eilverfahrens nicht zwingend im Sinne der Antragstellerin zu beantworten.
58Die angesichts der offenen Erfolgsaussichten anzustellende Folgenabwägung ergibt, dass die von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Einbußen unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Verbots hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen. Angesichts des eingangs beschriebenen rasanten Anstiegs der Zahl von Neuinfektionen und der vor diesem Hintergrund konkret zu befürchtenden Überlastung der intensivmedizischen Behandlungskapazitäten,
59vgl. dazu https://www.aerztezeitung.de/Politik/Inten sivmediziner-warnen-vor-drohender-Ueberlastung-414159.html; abgerufen am 29. Oktober 2020,
60fallen die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm schwerer ins Gewicht als die (insbesondere wirtschaftlichen) Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Bundesregierung im Zuge der für November neuerlich vorgesehenen weitreichenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens,
61vgl. dazu den Beschluss der Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 28. Oktober 2020; abrufbar unter:https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videokonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-28-oktober-2020-1805248,
62für diesen Monat zugunsten der von Schließungen betroffenen Unternehmen Umsatzerstattungen in Höhe von ‑ je nach Betriebsgröße ‑ bis zu 70 bis 75 % des Umsatzes des Vorjahresmonats plant, sodass akut ein gewisser zusätzlicher finanzieller Ausgleich zu erwarten ist.
63Siehe dazu https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/ 75-prozent-des-vorjahresumsatzes-diese-neue-coronahilfe-bekommen-unternehmen-im-teil-lock down/26568686.html; abgerufen 29. Oktober 2020.
64Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die angegriffene Regelung mit Ablauf des 31. Oktober 2020 außer Kraft tritt, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.
65Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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"jurisdiction": "Germany",
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
3Die mit der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe führen nicht zur Änderung der angefochtenen Entscheidung, mit der es das Verwaltungsgericht abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung der Klage - 5 K 1179/20 - gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 18.5.2020 wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
4Das Verwaltungsgericht hat in dem angegriffenen Beschluss tragend festgestellt, die vorzunehmende Interessenabwägung falle zu Lasten der Antragsteller aus, weil ihre Klage aller Voraussicht nach erfolglos bleiben werde; die Voraussetzungen für eine Nutzungsuntersagung wegen materieller Baurechtswidrigkeit der Stellplätze lägen vor. Den mit Buchstabe B der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … "Bereich W.-Straße, V.-straße, H.-Straße und K.-Straße" nicht vereinbaren Stellplätzen komme kein (materieller) Bestandsschutz zu, da es sich bei der jetzigen Stellplatzfläche mit 4 Stellplätzen im Vergleich zu dem im Jahr 1993 vorhandenen und von den Antragstellern erweiterten Stellplatz um ein aliud handele.
5Die Richtigkeit dieser Wertung haben die Antragsteller mit ihrem Vorbringen nicht erschüttert. Die geschotterte Stellplatzfläche ist eine bauliche Anlage. Ihre Errichtung wirft als ein Vorhaben die Genehmigungsfrage insgesamt neu auf. Hierzu hat das Verwaltungsgericht zu Recht auf das in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankerte Gebot der Rücksichtnahme verwiesen. Bei der Anordnung und Ausführung von Stellplätzen müssen auch die schutzwürdigen Interessen von Nachbarn berücksichtigt werden, vor unzumutbaren Auswirkungen des (zusätzlichen) Kraftfahrzeugverkehrs im hinteren Ruhebereich ihrer Grundstücke verschont zu bleiben. Dies erfordert regelmäßig eine Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalls.
6Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.8.2019- 4 B 31.19 -, juris; Schulte N. in Schulte/Radeisen/Schulte/van Schewick/Rasche-Sutmeier/Wiesmann, Die neue Bauordnung in Nordrhein-Westfalen, 4. Auflage, § 48 Rn. 73 ff.
7Dies gilt auch unabhängig von den Eigentumsverhältnissen an der Zuwegung.
8Soweit die Antragteller geltend machen, die ihnen gesetzte Frist zur Umsetzung der angefochtenen Nutzungsuntersagung von einem Tag nach Zustellung sei unangemessen kurz, ändert dies nichts am Ergebnis. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass kein Grund ersichtlich sei, warum es den Antragstellern nicht möglich gewesen sein sollte, der ihnen aufgegebenen Verpflichtung, die Stellplätze nicht weiter zu nutzen bzw. an Dritte zur Nutzung zu überlassen, innerhalb eines Tages nachzukommen. Der Einwand, der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller habe standesrechtlich eine Woche Zeit, das Schriftstück selber in Empfang und zur Kenntnis zu nehmen, führt zu keiner anderen Wertung. Der angefochtene Bescheid ist dem Prozessbevollmächtigten der Antragsteller gegen Postzustellungsurkunde zugestellt worden; von der Möglichkeit der Zustellung gegen Empfangsbekenntnis musste die Antragsgegnerin im Übrigen nach den gesetzlichen Vorgaben nicht Gebrauch machen (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 1, §§ 3, 5 Abs. 4 Landeszustellungsgesetz NRW). Auch der Einwand, es müsse hinreichend Zeit zur Weiterleitung des Bescheides an die Mandanten gegeben werden, bleibt erfolglos. Dies kann fristgerecht z. B. durch eine telefonische Information der Antragsteller erfolgen, denen aufgrund des Anhörungsschreibens der Antragsgegnerin vom 14.4.2020 der Sachverhalt im Übrigen auch schon bekannt war.
9Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO.
10Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
11Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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"jurisdiction": "Germany",
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene zu 1. trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens; der Antragsgegner und die Beigeladene zu 2. tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 € festgesetzt.
1G r ü n d e:
2Die zulässige Beschwerde der Beigeladenen zu 1. hat in der Sache keinen Erfolg.
3Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage - 14 K 1104/20 - gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26.2.2020 über die Zurückstellung des Antrags auf Erteilung eines abgrabungsrechtlichen Vorbescheids in der Fassung vom 22.11.2019 wiederhergestellt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die vom Antragsgegner auf § 5 AbgrG NRW i. V. m. § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB gestützte Zurückstellung des Antrags sei offensichtlich rechtswidrig. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners und der Beigeladenen sei nicht zu befürchten, dass die Flächennutzungsplanung der Beigeladenen durch den beantragten Vorbescheid für das Abgrabungsvorhaben unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert würde. Eine Gefährdung der Planung der Beigeladenen könne nicht damit begründet werden, dass der beantragte Vorbescheid im Rahmen der Fortschreibung des Regionalplans positiv bewertet werden und zur Ausweisung eines Bereichs für die Sicherung und den Abbau oberflächennaher Bodenschätze (BSAB) im Regionalplan führen könnte. Ein Vorbescheid in der beantragten Form, der nahezu alle wesentlichen Fragen der Genehmigungsfähigkeit ausklammere und zudem nur für ein Jahr gültig sei, lasse offen, ob das Vorhaben genehmigt sei, also verwirklicht werden könne. Im Rahmen der regionalplanerischen Entscheidung, an welchen Standorten die BSAB ausgewiesen werden sollten, müsse das Vorhaben der Antragstellerin deshalb auch nach Erteilung des beantragten Vorbescheids nicht als "gesetzt" angesehen werden. Der Standort der Antragstellerin müsse in der Regionalplanung jedenfalls nicht bei der Ausweisung der Konzentrationszone in die Abwägung eingestellt werden. Auch die Ausführungen im Planentwurf des Regionalplans K. Teilplanung Nichtenergetische Rohstoffe (Kap. 7.1.4 zu bestehenden BSAB und genehmigten Abgrabungen) zeigten keine Anhaltspunkte dafür auf, dass ein Vorbescheid bei der Festlegung von Konzentrationszonen zwingend berücksichtigt werden solle. Die dortigen Aussagen seien ausdrücklich auf genehmigte Vorhaben beschränkt, zu denen das Vorhaben der Antragstellerin auch nach Erteilung eines Vorbescheids nicht gehöre. Dass die Beigeladene ihre Flächennutzungsplanung möglicherweise an eine geänderte Regionalplanung anpassen müsste, sei lediglich ein Reflex der gesetzlichen Regelungen in § 1 Abs. 4 BauGB. Die Antragstellerin habe auch offensichtlich ein rechtliches Interesse an der Klärung der mit dem Vorbescheidsantrag zur Beurteilung gestellten Fragen. Der Antragstellerin gehe es um die "Immunisierung" ihrer Planungen gegen die mögliche Änderung des Regionalplans K. Teilplan Nichtenergetische Rohstoffe (Lockergestein), der derzeit mit dem Ziel überarbeitet werde, die BSAB als Vorranggebiete mit Konzentrationswirkung festzulegen. Der derzeitige Planentwurf sehe für den Bereich des geplanten Vorhabens keine derartige Darstellung mehr vor, aber wohl den Ausschluss von Abgrabungen außerhalb solcher BSAB. Insoweit könnten in Zukunft einer Genehmigung des geplanten Vorhabens Ziele der Raumordnung nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 AbgrG NRW zwingend entgegenstehen.
4Das gegen die tragende Begründung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts gerichtete Beschwerdevorbringen der Beigeladenen zu 1. führt nicht zu einer Änderung der angegriffenen Entscheidung.
5Der Zurückstellungsbescheid kann entgegen dem Beschwerdevorbringen voraussichtlich nicht damit begründet werden, dass die Durchführung der Flächennutzungsplanung der Beigeladenen zu 1. durch das Vorhaben der Antragstellerin wesentlich erschwert werden würde.
6Der Belang einer etwa entgegenstehenden Flächennutzungsplanung, einschließlich einer Wirkung nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB, ist aus dem Umfang der Prüfung durch die Fassung des Antrags vom 22.11.2019 ausgeklammert. Deshalb kann der Vorbescheid nicht verhindern, dass eine abgrabungsrechtliche Genehmigungsentscheidung zugunsten der Antragstellerin nach Abschluss des eingeleiteten Flächennutzungsplanänderungsverfahrens mit der Begründung abgelehnt wird, das Vorhaben widerspreche den Darstellungen des Flächennutzungsplans.
7Soweit die Beigeladene zu 1. befürchtet, dass eine positive Entscheidung über den Vorbescheid Einfluss auf die Entscheidung des Regionalrats über die Änderung des Regionalplans für den Bereich Nichtenergetische Rohstoffe im Rahmen des laufenden Verfahrens haben könnte, rechtfertigt dies ebenfalls keine Entscheidung zugunsten der Beigeladenen zu 1.
8Es kann offen bleiben, ob die Auswirkungen eines positiven Vorbescheids für die Entscheidung über die Änderung der Regionalplanung vom Verwaltungsgericht zutreffend eingeschätzt worden sind (vgl. dazu auch Abschnitt 7.7.4, Seite 227 des Teilplans Nichtenergetische Rohstoffe in der Fassung des derzeit offengelegten Ersten Planentwurfs vom Juni 2020). Sollte sich aus einem Vorbescheid in dem hier in Rede stehenden Umfang - betreffend die Vereinbarkeit mit den Zielen der Raumordnung und Landesplanung, den Belangen der Bauleitplanung mit Ausnahme des Belangs des § 35 Abs. 3 Satz 1 und 3 BauGB (keine widersprechenden Darstellungen im Flächennutzungsplan) sowie anderer öffentlicher Belange mit Ausnahme der in den Antragsschreiben vom 3.6.2019, 3.9.2019 und 22.11.2019 ausdrücklich ausgeschlossenen Belange - die von der Beigeladenen zu 1. beschriebene Beeinflussung der Abwägung des Regionalrats ergeben,
9vgl. zur Bedeutung von Vorbescheiden im Rahmen planerischer Abwägung allg. etwa OVG NRW, Urteil vom 5.12.2012 - 7 D 64/10.NE -, BRS 81 Nr. 21 = BauR 2013, 917,
10wäre es Sache der Landesplanungsbehörde bzw. der Bezirksregierung, zu prüfen, ob mit den Mitteln der raumordnungsrechtlichen Untersagung bzw. Anweisung eine sachgerechte Abwägungsentscheidung über die Änderung des Regionalplans zu gewährleisten wäre (vgl. § 12 Abs. 2 ROG, § 36 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 LPlG NRW bzw. § 36 Abs. 2 LPlG NRW). Vor diesem Hintergrund können Auswirkungen auf die Flächennutzungsplanung der Beigeladenen zu 1., die über die Ebene der Regionalplanung - etwa durch Ausweisung eines BSAB im Vorhabenbereich - mit Blick auf § 1 Abs. 4 BauGB vermittelt werden, nicht durch eine Zurückstellung entsprechend § 15 Abs. 3 BauGB verhindert werden. Ob dem Vorhaben der Antragstellerin in der Sache erstinstanzlich angesprochene anderweitige rechtliche Hindernisse entgegenstehen, bedarf im vorliegenden Verfahren über die Zurückstellung des Vorbescheidsantrags keiner Vertiefung.
11Vgl. dazu allg. BVerwG, Urteil vom 27.1.2005 - 4 C 5/04 -, BRS 69 Nr. 107 = BauR 2005, 987.
12Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
13Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 und 52 Abs. 1 GKG.
14Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 17. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
3Die zur Begründung der Beschwerde fristgemäß dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach Maßgabe von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und die von der Antragstellerin begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen, mit der diese die vorläufige Zulassung zum Studium der Humanmedizin im 5. FS (1. klinisches FS) nach den Rechtsverhältnissen des SS 2020 an der Universität E. erstrebt.
41. Die Ausführungen der Antragstellerin zur Belegung der Studienplätze verhelfen der Beschwerde nicht zum Erfolg.
5a) Soweit diese darauf abzielen sollten, zu klären, ob eine kapazitätsdeckende Vergabe der Studienplätze erfolgt ist, was dem Beschwerdevorbringen nicht mit hinreichender Klarheit zu entnehmen ist, ist darauf hinzuweisen, dass die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 12. Mai 2020 den Belegungsstand der sechs klinischen Semester ohne Beurlaubte mit Stand 12. Mai 2020 mitgeteilt hat. Beurlaubte sind, wie sie im Beschwerdeverfahren mit Schriftsatz vom 23. Juli 2020 wiederholt erklärt hat, nicht mitgezählt. Weiterhin hat sie mit Schriftsatz vom 14. August 2020 erläutert, dass es zum WS 2019/2020 und im SS 2020 jeweils zwei Beurlaubungen gegeben habe. Im Übrigen bestehe hinsichtlich der Studierenden Personenidentität. Anlass zur Annahme, die Erklärung der Antragsgegnerin könne unzutreffend sein, hat der Senat nicht. Zu den sich aus diesen Erklärungen der Antragsgegnerin ergebenden kapazitätsrechtlichen Schlussfolgerungen hat sich die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren nicht weiter geäußert.
6b) Sollten die Ausführungen der Antragstellerin in der Beschwerde hingegen darauf abzielen, zu klären, ob Studierende zu Recht im 1. bzw. 2. klinischen Semester geführt werden, worauf jedenfalls der mit der Beschwerde geltend gemachte Antrag hinweisen könnte, eine Einschreibestatistik vorzulegen, aus der sich ergibt, wann die eingeschriebenen Studierenden tatsächlich ihr Physikum bzw. die Prüfung zum Ersten Abschnitt der ärztlichen Prüfung abgelegt haben, hat die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 23. Juli 2020 erklärt, dass in den klinischen Semestern nur Studierende geführt werden, die den ersten klinischen Abschnitt erfolgreich absolviert haben. Weiter hat sie mit Schriftsatz vom 14. August 2020 mitgeteilt, dass hinsichtlich des Modellstudiengangs die Regelung des § 35 Abs. 5 der Studien- und Prüfungsordnung für den Modellstudiengang Humanmedizin greift, wonach beim Übergang vom zweiten ins dritte Studienjahr die ersten sechs fächerübergreifenden Abschlussprüfungen der in der Anlage 4 dieser Studien- und Prüfungsordnung aufgeführten Themenblöcke sowie der Famulaturreifekurs bestanden sein müssen. Seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so die Antragsgegnerin, sei der Übergang ins dritte Studienjahr nicht möglich. Hierzu verhält sich die Beschwerde nicht weiter.
7c) Anhand des Beschwerdevorbringens erschließt sich nicht, worauf die weiteren Informationsbegehren der Antragstellerin abzielen. Danach soll im Beschwerdeverfahren weiter aufgeklärt werden,
8- das Datum der ersten Immatrikulation der gelisteten Studierenden,
9- ob es sich um Ersteinschreiber, Neueinschreiber oder Beurlaubte handelt,
10- ob und ggf. wann in der Liste aufgeführte Studierende einen Beurlaubungsantrag für das Sommersemester 2020 gestellt haben,
11- wann und wie über diesen entschieden wurde bzw. ob der- bzw. diejenige bereits im WS 2019/2020 oder früher bei der Antragsgegnerin immatrikuliert war,
12- ob auf der Liste aufgeführte Studierende einen Exmatrikulationsantrag gestellt haben sowie
13- ob Studierende einen Höherstufungsantrag für das Sommersemester 2020 gestellt haben und wie über diesen entschieden wurde.
14Der Verweis der Antragstellerin auf den Beschluss des Bayerischen VGH vom 21. Oktober 2013 - 7 C 13.10252 -, aus dem nach Auffassung der Antragstellerin folgt, dass ihr wiederholte Beurlaubungen nicht entgegengehalten werden könnten, ist insoweit unergiebig. Welche Schlussfolgerungen sie aus diesem Beschluss angesichts des Umstands ziehen will, dass die Antragsgegnerin Beurlaubungen nicht berücksichtigt, ergibt sich aus ihrem Vortrag nicht.
15d) Der Senat sieht sich auch nicht wegen der Ausführungen der Antragstellerin, die Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seien angesichts des Wissensvorsprungs der Antragsgegnerin zu reduzieren, zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung veranlasst. Die Antragstellerin weist zwar zu Recht darauf hin, dass von ihr kein Vortrag erwartet werden kann, den sie mangels Kenntnis von den Entscheidungsgrundlagen nicht liefern kann.
16Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. März 2004 - 1 BvR 356/04 -, juris, Orientierungssatz 3c.
17Sie kann allerdings nicht erwarten, dass die Verwaltungsgerichte in kapazitätsrechtlichen Eilverfahren alle denkbaren Gesichtspunkte prüfen, um so günstige entscheidungserhebliche Tatsachen zu finden. Dies gilt angesichts der nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkten Prüfung erst Recht für das Beschwerdeverfahren. Wie in anderen Verfahren auch, gebietet die Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO im kapazitätsrechtlichen Eilverfahren, dass die Verwaltungsgerichte entscheidungsrelevanten Gesichtspunkten, die von den Beteiligten vorgetragen werden, nachzugehen haben und weiter die Elemente der Ermittlung der Zulassungszahl, die erkennbar überprüfungsbedürftig sind, untersuchen müssen.
18Zum Umfang der gerichtlichen Aufklärungspflicht in kapazitätsrechtlichen Eilverfahren vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 29. April 2014 - 2 NB 133/14 -, juris, Rn. 9 ff., insb. 11, unter Bezugnahme auf Bay. VGH, Beschluss vom 19. Februar 1999 - 7 ZE 98.10059 u.a. -, juris, Rn. 16 ff.
19Allerdings sind einer umfassenden Aufklärung des Sachverhalts im hochschulrechtlichen Eilverfahren naturgemäß Grenzen gesetzt, denn in die Kapazitätsberechnung fließen Zahlenwerte ein, die aus umfangreichen Erhebungen und Analysen hervorgehen und erst in Verbindung mit diversen Rechenoperationen zu konkreten Zulassungszahlen führen. Bei Ausbleiben konkreter Rügen zu nicht erkennbar überprüfungsbedürftigen Tatsachen besteht deshalb keine rechtliche Verpflichtung des Verwaltungsgerichts, sämtliche Unterlagen auf Verdacht anzufordern und zu überprüfen. Aus dem Grundsatz der fairen Verfahrensgestaltung,
20vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. März 2004 - 1 BvR 356/04 -, juris, Orientierungssatz 3d,
21folgt nichts anderes. Wird der Mangel an überprüfbaren Unterlagen im Beschwerdeverfahren gerügt, widerspricht es zwar einer fairen Verfahrensgestaltung und dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes, weiteren Vortrag zum - nur vermuteten - Inhalt dieser Unterlagen vom Rechtsmittelführer zu verlangen. Vom Rechtsmittelführer darf allerdings erwartet werden, dass er sich mit den ihm zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren um die Erlangung der aus seiner Sicht rechtlich und tatsächlich relevanten Informationen bemüht und bei Erfolglosigkeit dieser Bemühungen im Beschwerdeverfahren die konkrete Relevanz für das Entscheidungsergebnis darlegt.
22Vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 27. August 2013 ‑ 10 B 1540/13.GM.S3 -, juris, Rn. 3, zu den prozessualen Mitwirkungspflichten.
23Die Mitwirkungspflichten der Beteiligten stehen insoweit in einer Wechselwirkung zu der verwaltungsgerichtlichen Ermittlungspflicht. Im Übrigen darf von Antragstellern auch erwartet werden, dass sie sich bereits vorprozessual in zumutbarer Weise um die erforderlichen Informationen bemühen. Anlass zur Annahme, die Universitäten wollten oder könnten generell vorprozessual keine Akteneinsicht (§ 28 VwVfG NRW),
24etwa indem Anwälte nach Zuteilung einer Kennung Zugang zu den Kapazitätsunterlagen auf einer Plattform der Universität erhalten,
25gewähren oder sonstige entscheidungsrelevante Auskünfte erteilen, hat der Senat nicht.
262. Die Beschwerde bleibt weiter erfolglos, soweit die Antragstellerin sich - ebenfalls mit einer Aufklärungsrüge - gegen die Berechnung der tagesbelegten Betten wendet und hierbei konkret die Berücksichtigung der Privatpatienten rügt.
27Das Verwaltungsgericht hat insoweit auf seine Ausführungen in dem in juris veröffentlichen Beschluss vom 16. Januar 2020 - 15 Nc 140/19 - betreffend das Wintersemester 2019/2020 Bezug genommen und diese wiederholt (vgl. Beschlussabdruck Bl. 4, 8 f.). Zu den in diesem Beschluss zu Grunde gelegten Maßgaben verhält sich die Beschwerde nicht. Sie zeigt insbesondere nicht auf, weshalb es ausgehend vom rechtlichen Standpunkt des Verwaltungsgerichts weiterer Unterlagen bedurft hätte. Danach war, anders als die Antragstellerin meint, insbesondere nicht aufzuklären, wann welcher Altvertrag tatsächlich beendet wurde. Die Notwendigkeit folgte - anders als die Antragstellerin meint - auch nicht aus dem angeführten Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster vom 15. Januar 2019 - 9 Nc 25/18 -, denn das Verwaltungsgericht E. hat, anders als das Verwaltungsgericht Münster und wohl auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof in dem von der Antragstellerin benannten nicht veröffentlichten Beschluss vom 29. Mai 2019 - 10 B 2758/18 -, die Anzahl der Pflegetage allein danach bestimmt, in welcher Klinik der Patient stationär aufgenommen worden war (Beschlussabdruck Bl. 10), und im Übrigen Daten des Geschäftsjahrs 2018 (Beschlussabdruck Bl. 9) zugrunde gelegt. Auf dieses Geschäftsjahr bezogen hatte die Antragsgegnerin in dem das Wintersemester betreffende Verfahren eine Klinikliste vorgelegt und dargelegt, in welchen Abteilungen bzw. Kliniken die Chefärzte/Abteilungsleiter weiterhin das Recht besaßen, die Behandlung von Privatpatienten selbst zu liquidieren (vgl. Beschlussabdruck Bl. 9). Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln, hat der Senat nicht.
28Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Notwendigkeit der von der Antragstellerin begehrten weiteren Sachverhaltsaufklärung nicht. Abgesehen davon ist auch nicht erkennbar, auf welche konkreten Zeitpunkte sich diese beziehen soll.
293. Die Einwände der Antragstellerin gegen die Mitternachtszählung verhelfen der Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg. Der Senat hat wiederholt entschieden, dass ‑ auch wenn andere Methoden zur Ermittlung der patientenbezogenen Aufnahmekapazität denkbar sind - die sog. „Mitternachtszählung“, die nur die vollstationären Patienten in den Blick nimmt, mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der erschöpfenden Kapazitätsauslastung zur Ermittlung der Anzahl der tagesbelegten Betten vereinbar ist.
30Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 7. Mai 2018 ‑ 13 C 20/18 ‑, juris, Rn. 8 ff., m. w. N.
31Die Antragstellerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass Ausbildungseignung und Aufenthalt über Nacht nicht notwendiger Weise identisch sind. Auf welche Weise diesem Umstand Rechnung zu tragen ist und ob und in welchem Umfang teilstationäre Patienten oder solche aus Tageskliniken in die Berechnung eingezogen werden können und sollen, bleibt der ausstehenden Entscheidung des Verordnungsgebers vorbehalten.
32Entsprechendes gilt, soweit die Antragstellerin den Parameter von 15,5 % der tagesbelegten Betten gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KapVO rügt. Die Entscheidung des Verordnungsgebers, an dem Wert von 15,5 % der tagesbelegten Betten bis zu einer ersichtlich noch nicht erfolgten abschließenden Überprüfung der Validität der in diesen Wert eingestellten Parameter (etwa Patientenanwesenheit, Patientenmitwirkungsbereitschaft sowie die wertend zu betrachtende medizinische Geeignetheit und Patientenbelastbarkeit),
33vgl. dazu Zimmerling/Brehm, Hochschulkapazitätsrecht, Band 3, Rn. 742 ff.,
34festzuhalten, ist nicht zu beanstanden. Die Antragstellerin weist selbst darauf hin, dass der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Modellstudiengänge der Humanmedizin noch nicht vorliegt und es überdies unterschiedliche Methoden zur Ermittlung der Patienteneignung gibt. Welche Rückschlüsse der Verordnungsgeber deshalb aus den BACES-Studien für den Regelstudiengang und die in NRW angebotenen (unterschiedlichen) Modellstudiengänge zieht, ist derzeit noch völlig offen und bleibt abzuwarten.
35Anders als die Antragstellerin meint, leidet der das WS 2019/2020 in Bezug nehmende Beschluss des Verwaltungsgerichts deshalb auch nicht unter einem Aufklärungsmangel, weil das Verwaltungsgericht die vom BACES erhobenen Daten zum Universitätsklinikum E. nicht angefordert hat. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, dass die Datenlage für das Universitätsklinikum E. zwangsläufig repräsentativ für sämtliche humanmedizinische (Modell-)Studiengänge anbietende Hochschulen sein müsste, auf die § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KapVO generalisierend Anwendung findet.
36Aus dem Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 6. März 2020 - 5 NC 20.19 -, juris, kann die Antragstellerin zu ihren Gunsten nichts herleiten. Dieses hatte ausgeführt, § 17a KapVO BE in der Fassung der 27. Verordnung zur Änderung der Kapazitätsverordnung vom 19. Juni 2018 sei aufgrund einer unschlüssigen Berechnung des darin für die Kapazitätsberechnung bezüglich des Modellstudiengangs Humanmedizin an der Charité Berlin festgesetzten Prozentwerts von 17,1 % der Gesamtzahl der tagesbelegten Betten ab dem Wintersemester 2018/2019 unwirksam. In Ermangelung einer zulassungsbeschränkenden Norm, komme deshalb eine Versagung der Zulassung zum Studium nur dann in Betracht, wenn durch die Aufnahme weiterer Studienbewerber die Funktionsunfähigkeit im Modellstudiengang Humanmedizin einträte.
37Vgl. demgegenüber VerfGH NRW, Beschluss vom 22. September 2020 - VerfGH 36/20.VB-2 u.a. -, https://www.vgh.nrw.de/rechtsprechung/entscheidungen/2020/200922_36_20_VB-2_200922_37_20_VB-3_200922_38_20_VB-1_200922_39_20_VB-2.pdf, wonach aus der als rechtswidrig zu rügenden Untätigkeit des Verordnungsgebers hinsichtlich der Modellstudiengänge kein Zulassungsanspruch der Studienbewerber folgt (BA Bl. 19) und es zudem keine von der Kapazitätserschöpfung zu unterscheidende, eigenständige Grenze der Funktionsfähigkeit der Hochschule gibt (BA Bl. 16).
38Der nordrhein-westfälische Verordnungsgeber hat jedoch für seine (Modell-)Studiengänge bislang keine kapazitätsbestimmende Neuregelung geschaffen. Die Herleitung dieses Wertes mit Zahlenwerten und Formeln ist seinerzeit nachvollziehbar begründet worden. Bis zum Abschluss der noch andauernden Prüfung, ob die in die Berechnung eingeflossenen Zahlenwerte weiterhin zutreffen oder - wie die Antragstellerin meint - veraltet und deshalb zu korrigieren sind, sieht der Senat sich nicht veranlasst, von einer Unwirksamkeit der Regelung auszugehen, sodass diese einstweilen weiter zugrunde zu legen ist.
39Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG.
40Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf die Wertstufe bis 1.000,- Euro festgesetzt.
1G r ü n d e:
2Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3I. Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Klägerin abgewiesen, mit der sie die Verpflichtung der Beklagten begehrt, ihr für den Zeitraum von August 2012 bis März 2015 eine (weitere) Arbeitszeitgutschrift von arbeitstäglich 10 Minuten zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Ein Anspruch der Klägerin auf die weitere Gutschrift von Arbeitszeit folge insbesondere nicht aus § 88 BBG i.V.m. dem Grundsatz von Treu und Glauben. Dieser verpflichte den Dienstherrn, einen Freizeitausgleich auch für Fälle rechtswidrig abverlangter Dienstzeit, sog. „Zuvielarbeit“, zu gewähren. Von der Klägerin sei zunächst nicht rechtswidrig verlangt worden, 15 Minuten vor dem jeweiligen Schichtbeginn anwesend zu sein. Ein solches Verlangen enthalte die schriftliche Weisung vom 8. August 2012 nicht. Diese weise die Klägerin ohne weitere zeitliche Vorgaben lediglich dazu an, sich während ihrer planmäßigen Dienstzeit einsatzbereit in Dienstkleidung an der Dienststelle aufzuhalten. Zeiten für das Aufrüsten seien nach dem Wortlaut nicht erfasst und würden sich allein dann aus dem Wort „einsatzbereit“ herleiten lassen, wenn man den Zusatz „in Dienstkleidung“ entstellend entferne. Zudem sei in der Weisung ausdrücklich davon die Rede, dass die Dienstmittel an der Arbeitsstelle angelegt werden könnten. Diese Weisung sei auch nicht mündlich ergänzt worden. Die Klägerin habe insoweit in der mündlichen Verhandlung erklärt, sie habe ihren damaligen Dienstvorgesetzten Zolloberinspektor Große bei Aushändigung der Weisung gefragt, wie er sich den Ablauf vorstelle. Dieser habe wörtlich erklärt: „Dann kommst Du halt eine Viertelstunde früher.“ Dies sei aber keine Ergänzung der Weisung, sondern ein erneuter Hinweis darauf, dass die Dienstkleidung vor Schichtbeginn anzulegen sei. Das ergebe sich auch aus der Aussage des Zeugen Große. Dieser habe erklärt, dass die Klägerin regelmäßig in Privatkleidung zum Dienst erschienen sei und dann die für die Zeit des Schichtübergangs vorgesehene Viertelstunde, während derer sowohl die an- als auch die abrückende Schicht anwesend sei, mit dem Umziehen verbracht habe. Außerdem habe er der Klägerin nicht gesagt, sie solle 15 Minuten vor Schichtbeginn erscheinen, um sich einsatzfertig zu machen. Das sei schon deshalb nachvollziehbar, weil das Anlegen der Einsatzmittel nach Aussage des Zeugen lediglich 90 Sekunden bis zwei Minuten benötige, was sich in etwa mit den Ermittlungen des Gerichts decke. Eine Aufforderung, 15 Minuten vor Schichtbeginn zu erscheinen, um die Einsatzmittel anzulegen, mache daher keinen Sinn. Zudem folge aus dem Wortlaut der schriftlichen Weisung sowie den weiteren Angaben des Zeugen nachvollziehbar, dass es dem Dienstvorgesetzten primär darum gegangen sei, dass die Klägerin – wie alle anderen Beamten der Einsatzgruppe – ihre Dienstkleidung zu Schichtbeginn, oder wenigstens in einigermaßen angemessener Zeit danach, anlege, um einen reibungslosen Übergang der Schichten, insbesondere bei kontrollrelevanten Flugbewegungen, sicherzustellen. Das Gericht habe keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen Große, zumal dieser eingeräumt habe, die Weisung in einem anderen Punkt rechtswidrig ergänzt zu haben. Die Weisung, ihre Dienstkleidung vor Schichtbeginn anzulegen, begründe keinen Anspruch der Klägerin auf weitere Arbeitszeitgutschrift wegen rechtswidriger Zuvielarbeit. Das An- und Ablegen der Dienstkleidung sei kein Dienst.
4Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf eine zusätzliche Arbeitszeitgutschrift hinsichtlich des An- und Ablegens der persönlich zugewiesenen Ausrüstungsgegenstände, insbesondere der Dienstwaffe sowie des Reizstoffsprühgerätes. Insoweit habe sie allerdings rechtswidrig zusätzlichen Dienst geleistet. Der Zeuge H. habe ausgesagt, dass die Weisung so zu verstehen gewesen sei, dass die Klägerin bei Dienstbeginn mit den dienstlich vorgeschriebenen Einsatzmitteln ausgerüstet sein solle. Das An- und Ablegen der persönlich zugewiesenen Gegenstände sei jedoch Dienstzeit. Fordere der Dienstherr das Auf- und Abrüsten außerhalb der Dienstzeit, so müsse er hierfür Ausgleich gewähren.
5Für das arbeitstäglich Auf- und Abrüsten mit den im Bereich des Hauptzollamts C. dienstlich vorgeschriebenen Einsatzmitteln sei – bei zugunsten der Klägerin großzügiger Auffassung – jedoch lediglich ein Zeitaufwand von maximal fünf Minuten erforderlich. Der Zeitaufwand durfte daher entsprechend pauschaliert werden. Der von der Klägerin behauptete Zeitaufwand von 15 Minuten sei dagegen nicht nachvollziehbar. Diese Angabe habe ursprünglich ausdrücklich auch das Anziehen der Dienstkleidung umfasst, während das Aufnehmen der Ausrüstungsgegenstände erst später als zentraler Aspekt genannt und noch in der Klageschrift mit dem Anlegen der Dienstkleidung verbunden worden sei. Der Zeitaufwand von 15 Minuten entspreche zwar dem in den Urteilen der Verwaltungsgerichte Münster und Gelsenkirchen genannten; dort sei aber teils das Anlegen der Kleidung zeitlich hinzugerechnet worden, teils sei es um erheblich mehr Ausrüstungsgegenständen gegangen oder es habe ein „Übergabegespräch“ der Dienstgruppenleiter stattgefunden. Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf erachte einen Zeitaufwand von 15 Minuten für erforderlich für das Auf- und Abrüsten nebst Übergabe von Führungs- und Einsatzmitteln im Polizeibereich. Demgegenüber seien die von der Beklagten für das Auf- und Abrüsten pauschal angesetzten fünf Minuten vorliegend auch vor dem Hintergrund der Ermittlungen des Gerichts plausibel. Nach den Angaben des Herrn Zollsekretärs S. im Rahmen seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung, die von der Klägern insoweit bestätigt worden seien, werde die Dienstwaffe mit den zwei Magazinen in einem individuellen Waffenfach mit dem Reizstoffsprühgerät gelagert, während der Gürtel sich im Spind befinde oder von den Beamten als Teil der Dienstkleidung mit nach Hause genommen werde. Herr S. habe sodann das Aufrüsten mit den vorgeschriebenen Einsatzmitteln in der mündlichen Verhandlung vorgeführt. Die Handlungen seien mit ruhigen Bewegungen durchgeführt worden. Die Zeitmessung habe für das Auf- und Abrüsten eine Zeit von insgesamt 2:14,07 Minuten ergeben, für das von der Klägerin noch angeführte tägliche Befüllen und Entleeren beider Magazine eine Zeit von insgesamt 1:34,68 Minuten, mithin eine Gesamtzeit von 3:08,75 Minuten, die noch unter den von der Beklagten veranschlagten fünf Minuten liege.
6Ob die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung angeführten weiteren Gegenstände nach den Dienstvorschriften angelegt werden müssten oder tatsächlich angelegt würden, könne dahinstehen. Es sei nicht ersichtlich oder nachvollziehbar dargelegt, wie dies zu einer weiteren Rüstzeit von etwa zwei Minuten oder gar zu den von der Klägerin geforderten 15 Minuten führen solle. Insbesondere sei darauf hinzuweisen, dass das von der Klägerin angeführte Reinigen der Waffe nach Auskunft des Herr S. lediglich nach deren Einsatz und nach Schießübungen erfolge und dass die Kontrolle der Handfesseln einen kaum mehr messbaren Zeitaufwand in Bruchteilen von Sekunden benötigt. Aber selbst wenn man unterstelle, dass die durch das Gericht ermittelten 3:08,75 Minuten ein unter idealen Bedingungen erzielter Wert seien und es in der arbeitstäglichen Praxis immer wieder zu Verzögerungen aufgrund von Wartezeiten wegen überfüllter Waffenkammer oder wegen des Anlegens zusätzlicher (optionaler) Ausrüstungsgegenstände kommen könne, wären diese Zeiteinbußen jedenfalls durch die vorhandene Differenz zu den fünf Minuten, die die Beklagte angesetzt habe, gedeckt.
7Den damit erforderlichen arbeitstäglichen Zeitaufwand habe die Beklagte im Rahmen des Ausgleichs auf fünf Minuten pauschalieren dürfen. Insbesondere müsse sich die Beklagte – auch unter Berücksichtigung ihres Organisationsermessens – nicht an den Zeiten orientieren, die der jeweilige Beamte im konkreten Einzelfall, aus welchen Gründen auch immer, benötige, auch wenn diese über das erforderliche Maß des Zeitaufwands eines Durchschnittsbeamten weit hinausgingen. Auch einzelne Fälle, in denen das Auf- und Abrüsten länger dauere, etwa weil viele Beamte die Ladeecke zu Schichtbeginn gleichzeitig nutzten wollten, würden durch die Pauschalierung ausgeglichen.
8Dieser arbeitstägliche Ausgleich sei jedoch nicht für den gesamten geltend gemachten Zeitraum zu gewähren. Nach der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung, der das Verwaltungsgericht folge, gelte die Einschränkung, dass ein Anspruch auf Freizeitausgleich erst für die „Zeit vom Ende des Monats der Antragstellung“ bestehe. Der gesetzlich nicht geregelte Ausgleich rechtswidriger Zuvielarbeit im Beamtenrecht werde durch Besonderheiten des beamtenrechtlichen Treuverhältnisses mitgeprägt und begrenzt. Daran ändere sich auch nichts dadurch, dass die Beklagte die Weisung vom 8. August 2012 bereits vor dem Monat der Antragstellung gekannt haben möge oder ob die Beklagte sich die entsprechende Kenntnis des Dienstvorgesetzten der Klägerin habe zurechnen lassen müssen. Eine solche Kenntnis des Dienstherrn bestehe letztlich im Rahmen der Personalverwaltung immer, lasse aber gerade nicht die Pflicht des Beamten entfallen, einen entsprechenden Antrag auf Ausgleich zu stellen bzw. die Zuvielarbeit ausdrücklich zu rügen, um so dem Dienstherrn zu ermöglichen, den rechtswidrigen Zustand zu beenden. Ein „dulde und liquidiere“ solle durch die Rügeobliegenheit gerade verhindert werden. Ausnahmen von diesem Rüge- bzw. Antragserfordernis, sofern solche überhaupt für möglich gehalten würden, seien hier weder nachvollziehbar vorgetragen noch sonst ersichtlich.
9Weitergehende Ansprüche aus Unionsrecht kämen unabhängig davon, dass auch insoweit das Antragserfordernis gelte, nicht in Betracht, da jedenfalls kein Dienst über die unionsrechtlich höchstens zulässige durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden hinaus geleistet worden sei. Insoweit habe die Vertreterin der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung zu den von der Klägerin nach Monaten aufgeführten Stundenzahlen nachvollziehbar erklärt, dass es sich hierbei um den Stand des Arbeitszeitkontos der Klägerin und nicht etwa um Überstunden im jeweiligen Monat handele.
10II. Das hiergegen vorgebrachte Zulassungsvorbringen rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht. Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Dies ist nicht der Fall. Die Berufung ist weder wegen der ausdrücklich geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (dazu 1.) noch aufgrund des sinngemäß geltend gemachten Zulassungsgrundes nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (dazu 2.) zuzulassen.
111. Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt.
12Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. August 2018– 1 A 249/16 –, juris, Rn. 2, vom 9. Juli 2018 – 1 A 2592/17 –, juris, Rn. 2, vom 5. Januar 2017 – 1 A 2257/15 –, juris, Rn. 9 f., und vom 29. Januar 2016– 1 A 1862/14 –, juris, Rn. 3 f., jeweils m. w. N.
13Gemessen an diesen Anforderungen greift das fristgerechte Zulassungsvorbringen der Klägerin in der Zulassungsbegründung vom 11. Juli 2018 nicht durch.
14a) Die Klägerin trägt zunächst vor, sie sei entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts aufgrund der schriftlichen und später mündlich ergänzten Weisung vom 8. August 2012 rechtswidrig zu einer „Zuvielarbeit“ herangezogen worden. Die Weisung habe ausdrücklich ihr früheres Erscheinen am Arbeitsort bezweckt. Sie habe die tatsächliche Erklärung ihres Vorgesetzten nur als Anweisung verstehen können, 15 Minuten vor Dienstbeginn zu erscheinen. Der Zeuge H. habe ausgesagt, dass er nicht habe akzeptieren wollen, dass allein die Klägerin regelmäßig zehn bis 15 Minuten gebraucht habe, um am Dienstort zu erscheinen. Er habe daher mit seiner Weisung erreichen wollen, dass sie 15 Minuten eher erscheine, um rechtzeitig am konkreten Dienstort zu sein. Sie sei auch gezielt unter Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes „herausgegriffen“ worden. Sie sei, anders als der Zeuge behauptet habe, nicht die einzige gewesen, die in Privatkleidung gekommen sei und (wohl bei Schichtbeginn) länger gebraucht habe, aber die anderen Beamtinnen hätten keine schriftliche oder mündliche Anweisung erhalten, früher zu erscheinen. Sie sei seit 2009 zudem immer pünktlich gewesen. Eine zweite mündliche Weisung durch die Vertreterin ihres Vorgesetzten habe es nicht gegeben. Die Aussage des Zeugen H. sei daher insgesamt nicht glaubhaft.
15Dieses Vorbringen stellt die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht in Frage, die vom Dienstvorgesetzen mündlich um den Hinweis „Dann kommst Du halt eine Viertelstunde früher“ ergänzte schriftliche Weisung vom 8. August 2012 an die Klägerin, sich während der planmäßigen Dienstzeiten einsatzbereit in Dienstkleidung an der Dienstelle aufzuhalten, wobei es ihr grundsätzlich frei stehe, die Dienstkleidung schon auf dem Weg zur Arbeit zu tragen, sei nicht so zu verstehen, dass die Klägerin eine Viertelstunde früher zum Dienst erscheinen müsse, um am Dienstort ihre Dienstkleidung anzulegen. Auch die Klägerin geht davon aus, dass sie schriftlich lediglich angewiesen worden ist, während der (gesamten) planmäßigen Dienstzeit ihre Dienstkleidung zu tragen. Anders als sie meint, ist das Verwaltungsgericht auch beanstandungsfrei davon ausgegangen, dass der Dienstvorgesetzte mit der von ihr wörtlich wiedergegebenen Bemerkung den Inhalt der Weisung nicht geändert hat, sondern diese im Ergebnis nur dahingehend bekräftigt hat, dass sie ihre Dienstkleidung auch bei Dienstbeginn schon tragen müsse. Diese Wertung drängt sich nach der Schilderung der Klägerin sogar auf. Nach den Angaben der Klägerin hat das Gespräch mit ihrem Dienstvorgesetzten anlässlich der Übergabe der schriftlichen Weisung stattgefunden. Die o.a. Bemerkung des Dienstvorgesetzten erfolgte unmittelbar auf ihre Frage, wie er sich „den Ablauf“ vorstelle. Diese Frage konnte der Dienstvorgesetzte sinnvoll – und damit auch für die Klägerin ohne weiteres erkennbar – nur auf den in der soeben überreichten schriftlichen Weisung enthaltenen (einzigen) Hinweis zum Ablauf beziehen, es stehe ihr frei, die Dienstkleidung schon auf dem Weg zum Dienst tragen. In diesem Kontext musste er sie so verstehen, dass die Klägerin wissen wollte, wie sie es aus seiner Sicht bewerkstelligen solle, schon bei Dienstbeginn in Dienstkleidung zu sein, wenn sie – was in der Fragestellung angesichts ihrer bisherigen Gewohnheit, in Privatkleidung am Dienstort zu erscheinen, implizit zum Ausdruck kommt – den in der Weisung beschriebenen Ablauf nicht in Betracht zieht. Es lag daher nahe, ihr die allein noch verbleibende Alternative aufzuzeigen, nämlich dass sie „dann“ – nämlich für den Fall, dass sie die Dienstkleidung nicht schon auf dem Weg zum Dienst tragen wolle – „halt eine Viertelstunde früher“ kommen könne, damit sie sich noch vor Dienstbeginn an der Dienststelle umziehen könne. Vor diesem Hintergrund ist im Übrigen auch die Aussage des Dienstvorgesetzten in der mündlichen Verhandlung stimmig und glaubhaft, er habe der Klägerin nicht ausdrücklich („so“) gesagt, sie solle 15 Minuten vor Dienstbeginn da sein, um sich einsatzfertig zu machen. Der Dienstvorgesetzte der Klägerin wollte nach alledem mit seiner Bemerkung nicht erreichen, dass die Klägerin früher am Dienstort erscheint, sondern, dass sie schon bei Dienstbeginn in Dienstkleidung ist, selbst, wenn sie diese nicht zu Hause, sondern erst am Dienstort anlegt. Damit hat er aber nicht rechtswidrig „Zuvielarbeit“ verlangt. Die in ihrem Zulassungsvorbringen inzident zum Ausdruck kommende Auffassung der Klägerin, sie sei immer im Dienst, wenn sie sich am Dienstort aufhalte, trifft nicht zu. Daran, dass das An- und Ablegen der Dienstkleidung – wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat – keine Dienstzeit ist, ändert sich nämlich auch dann nichts, wenn der Beamte oder die Beamtin sich entscheidet, die Dienstkleidung statt zu Hause erst (vor dem Dienst) an der Dienststelle anzulegen oder sie dort (nach dem Dienst) abzulegen. Da die Klägerin nicht aufgefordert wurde, zum Anlegen der Dienstkleidung früher zum Dienst zu erscheinen, um ihre Dienstkleidung anzuziehen, kommt es nicht darauf an, ob andere Beamtinnen in der gleichen Situation ebenfalls eine solche Aufforderung erhalten haben oder nicht.
16b) Die Klägerin dringt auch mit ihrem Vortrag nicht durch, die Pauschalierung der Auf- und Abrüstzeit auf 5 Minuten sei rechtswidrig. Der vom Verwaltungsgericht festgestellte Zeitaufwand, der richtig 3 Minuten und 48 Sekunden und nicht – wie vom Verwaltungsgericht angegeben – 3 Minuten und 8 Sekunden betrage, sei viel zu gering bemessen. Der das Auf- und Abrüsten der Einsatzmittel in der mündlichen Verhandlung demonstrierende Zollsekretär S. , der zudem die Besonderheiten am Flughafen Q. nicht kenne, sei offensichtlich hoch motiviert gewesen und habe sehr schnell und geübt agiert. Es habe sich um einen besonders geschulten Beamten gehandelt, dessen Rüstzeit nicht maßgeblich sein könne für die Beurteilung, welchen Zeitraum ein durchschnittlicher Beamter benötige. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass in einer Schicht mindestens vier Leute ausgewechselt würden, was bedeute, dass beim Auf- und Abrüsten in der Waffenkammer häufig erhebliche Wartezeiten bestanden hätten. Ferner müsse berücksichtigt werden, dass der Umkleideraum für Frauen weiter von der Waffenkammer entfernt sei als der der Herren. Entgegen der Auffassung des Zollsekretärs S. sei es nach Kenntnis der Klägerin auch waffenrechtlich vorgeschrieben, die Munition vollständig aus dem Magazin zu entnehmen.
17Soweit die Klägerin auf im Einzelfall erhebliche Wartezeiten in der Waffenkammer und auf die in dem Fall, dass in einer Schicht nur Frauen eingeteilt worden seien, in zeitlicher Hinsicht relevante, größere Entfernung der Frauenumkleiden von der Waffenkammer hinweist, setzt sie sich nicht hinreichend substantiiert mit der Auffassung des Verwaltungsgerichts auseinander, die Beklagte habe den Zeitaufwand für das Auf- und Abrüsten der Einsatzmittel unter Berücksichtigung ihres Organisationsermessens pauschal bestimmen dürfen, mit der Folge, dass sie sich nicht an den Zeiten orientieren müsse, die der jeweilige Beamte im konkreten Fall, aus welchen Gründen auch immer, benötige, auch wenn diese über den Zeitaufwand eines Durchschnittsbeamten weit hinausgingen. Solche Einzelfälle würden durch die Pauschalierung ausgeglichen. Auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, der pauschal angesetzte Zeitaufwand von fünf Minuten sei plausibel, wird durch das Zulassungsvorbringen nicht in Frage gestellt. Insoweit kommt es nicht darauf an, dass dem Verwaltungsgericht bei der Addition der exakt gemessenen Zeiten für das Auf- und Abrüsten und der Zeiten für das Befüllen und Entleeren des Magazins ein Rechenfehler unterlaufen ist und es von einem um 40 Sekunden zu kurzen Zeitaufwand ausgegangen ist. Dieser Rechenfehler wirkt sich im Rahmen der bloßen Plausibilitätsprüfung nicht maßgeblich aus. Das letztlich ausschlaggebende Argument, der im Rahmen der Demonstration gemessene Zeitaufwand liege jedenfalls unter der von der Beklagten angesetzten Pauschale und trage daher das Plausibilitätsurteil, gilt auch bei einem Zeitaufwand von richtig 3 Minuten und 48 Sekunden und damit auch bei der von der Klägerin gewünschten (vollen) Berücksichtigung der Zeiten des Befüllens und Entleerens des Magazins. Dass es sich bei dem zu Zwecken der Demonstration herangezogenen Beamten um einen – hochmotivierten – besonders geschulten Waffenträger und sogar Schießtrainer handelt, stellt die Plausibilität der Pauschale ebenfalls nicht in Frage. Zum einen hat das Verwaltungsgericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Demonstration mit ruhigen Bewegungen durchgeführt worden sei, zum anderen ist auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens nicht zu erkennen, dass die waffentragenden Zollbeamten im Durchschnitt gerade im Auf- und Abrüsten der Einsatzmittel unerfahren oder ungeschult wären. Warum der Umstand, dass der Zollsekretär S. die Verhältnisse am Flughafen Q. nicht kennt, Einfluss auf die Aussagekraft der Demonstration des Auf- und Abrüstens der Einsatzmittel gehabt habe sollte, erschließt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.
18c) Der von der Klägerin gegen die Pauschalierung geltend gemachte Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz liegt nicht vor. Der unter Hinweis auf das auch vom Verwaltungsgericht zitierte Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 26. November 2013 – 2 K 7657/12 –, juris, erfolgte Vortrag der Klägerin, es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen das Auf- und Abrüsten eines Zollbeamten weniger Zeit beanspruchen soll als das eines Polizeibeamten, setzt sich nicht mit dem Hinweis des Verwaltungsgerichts auseinander, in der angeführten Entscheidung des Verwaltungsgerichts habe der angesetzte Zeitaufwand von 15 Minuten die Zeit für das Auf- und Abrüsten nebst Übergabe von Führungs- und Einsatzmitteln umfasst. Damit hat das Verwaltungsgericht auf einen relevanten Unterschied zum vorliegenden Sachverhalt hingewiesen.
19Dass die Beamten an (allen) anderen Hauptzollämtern grundsätzlich eine Zeitgutschrift von 15 Minuten für das Auf- und Abrüsten gutgeschrieben bekommen, hat die Klägerin in der Zulassungsschrift – ungeachtet der weiteren Frage, ob es sich insoweit auch um Zeitgutschriften für rechtswidrig verlangte Zuvielarbeit handelt – behauptet, aber nicht belegt. Dasselbe gilt auch für die weitere Behauptung, am Hauptzollamt Duisburg, wo sie selbst zuvor beschäftigt gewesen sei, würden den Beamten 15 Minuten für das Auf- und Abrüsten eingeräumt. Im Übrigen setzt eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG voraus, dass die Vergleichsfälle – anders als hier – der gleichen Stelle, nämlich dem jeweiligen Hauptzollamt, zuzurechnen sind.
20Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 1987 – 1 C 19.85 –, juris, Rn. 35.
21d) Auch die Rüge der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht einen Ausgleich für den gesamten geltend gemachten Zeitraum abgelehnt, weil der Dienstherr Kenntnis von der rechtswidrigen Weisung gehabt habe und (deshalb) ein „Dulde und liquidiere“ nicht vorliege, bleibt ohne Erfolg. Insoweit fehlt es an der erforderlichen substantiierten Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts, eine solche Kenntnis des Dienstherrn bestehe letztlich im Rahmen der Personalverwaltung immer, dies lasse aber die Pflicht des Beamten nicht entfallen, einen Antrag auf Ausgleich zu stellen bzw. die Zuvielarbeit ausdrücklich zu rügen, um dem Dienstherrn zu ermöglichen, den rechtswidrigen Zustand zu beenden. Das Verwaltungsgericht hat sich hier ausdrücklich die Rechtsprechung des 6. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen zu Eigen gemacht, wonach es nicht primäres Ziel der Rüge ist, dem Dienstherrn Kenntnis von den Überstunden zu verschaffen. Dieser solle vielmehr zu der Prüfung veranlasst werden, ob eine rechtswidrige Zuvielarbeit vermieden oder kompensiert werden könne. Ohne Rüge müsse er nicht davon ausgehen, dass jeder Beamte die Überschreitung der Regeldienstzeit beanstanden werde. Fehle es an der Rüge, laufe die spätere Forderung eines finanziellen Ausgleichs auf ein „Dulde und liquidiere“ hinaus.
22Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. April 2018 – 6 A 1421/16 –, juris, Rn. 64.
23Auch mit dieser Argumentation setzt die Klägerin sich nicht auseinander.
24e) Der weitere Hinweis der Klägerin, es habe sich bei der im erstinstanzlichen Verfahren überreichten Aufstellung um die in dem jeweiligen Monat angefallenen Überstunden und nicht – wie vom Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung unionsrechtlicher Ansprüche angenommen – um den Stand ihres Arbeitszeitkontos gehandelt, geht ins Leere. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung auf ausdrückliche Nachfrage der Kammer erklärt, sie habe mit der Aufstellung ihrer Überstunden lediglich aufzeigen wollen, dass sie ohnehin eine erhebliche Anzahl von Überstunden leiste, einen weiteren Klagegrund habe sie damit nicht geltend machen wollen.
252. Die Zulassung der Berufung kommt auch nicht wegen des sinngemäß noch geltend gemachten Verfahrensfehlers im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO in Betracht. Die Klägerin trägt insoweit vor, das erstinstanzliche Urteil beruhe auf einer unrichtigen Anwendung der prozessualen Regelungen zur Beweisaufnahme. Das Auf- und Abrüsten der entsprechenden Einsatzmittel sei ausweislich des Sitzungsprotokolls als Beweismittel des Augenscheins angeordnet worden. Ungeachtet dessen sei Herr S. befragt und seine Aussage offensichtlich auch verwertet worden, ohne dass er als Zeuge entsprechend belehrt worden sei. Auch für den Fall, dass die bloß informatorische Befragung des Zollsekretärs S. verfahrensrechtlich fehlerhaft gewesen sein sollte, kann die Klägerin sich hierauf nicht (mehr) berufen. Sie hat ihr Rügerecht verloren, weil sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht anwaltlich vertreten war und ihre Prozessbevollmächtigte den Mangel in der anschließenden Verhandlung nicht gerügt hat, vgl. § 173 Satz 1 VwGO i.V.m § 295 Abs. 1 ZPO.
26Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. März 2014 – 5 B 48.13 –, juris, Rn. 15; Lang, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 98 Rn. 114 und 122.
27Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
28Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
29Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach den §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragsteller begehren (sinngemäß) im Wege eines Normenkontrolleilantrages nach § 47 Abs. 6 VwGO,
2
den Vollzug von § 1 Abs. 1 Satz 1 der Landesverordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus des Landes Schleswig-Holstein (Corona-Quarantäneverordnung) in der Fassung vom 8. Oktober 2020 vorläufig außer Vollzug zu setzen,
3
hilfsweise, die in § 2 Abs. 2 der Landesverordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus des Landes Schleswig-Holstein (Corona-Quarantäneverordnung) in der Fassung vom 8. Oktober 2020 enthaltene Verpflichtung zur Vorlage des zweiten Testergebnisses für die Aufhebung der Absonderung nach § 1 Absatz 1 vorläufig außer Vollzug zu setzen.
4
Der zulässige Eilantrag hat in der Sache keinen Erfolg.
5
1. Der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 VwGO ist zulässig. Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht dies bestimmt. Eine entsprechende Bestimmung ist in § 67 Landesjustizgesetz enthalten. Die Antragsteller wenden sich gegen §§ 1, 2 der Landesverordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus des Landes Schleswig-Holstein (Corona-Quarantäneverordnung) in der Fassung vom 8. Oktober 2020, mithin gegen untergesetzliche Normen in Form einer Landesverordnung.
6
Die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO setzt nicht voraus, dass das Normenkontrollverfahren in der Hauptsache bereits anhängig ist (vgl. Ziekow in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 386 m.w.N.).
7
Der Antragsteller zu 2) ist antragsbefugt, weil er als Staatsangehöriger des nach § 1 Abs. 4 der streitgegenständlichen Landesverordnung als Risikogebiet ausgewiesenen Staates Rumänien geltend machen kann, durch die in §§ 1, 2 geregelte Absonderung für Ein- und Rückreisende, die nur bei Vorlage von zwei negativen Befunden aus fachärztlichen Laboren unter den Voraussetzungen von § 2 Abs. 2 Nrn. 1 bis 5 Corona-Quarantäneverordnung entfällt, möglicherweise in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt zu sein.
8
Ob die Antragsbefugnis der Antragstellerin zu 1) sich aus der in Art. 56 AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit herleiten lässt, ist bei der hier gebotenen nur summarischen Prüfung nicht zweifelfrei feststellbar. Insoweit beschränken die streitgegenständlichen Normen nämlich jedenfalls nicht direkt die Dienstleistungsfreiheit, sondern die Einreise nach Schleswig-Holstein. Zugunsten der Antragstellerin zu 1) lässt sich jedoch anführen, dass durch die verordnungsrechtliche Einreisebeschränkung, die für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zu denen der Antragsteller zu 2) gehört, gilt, ihre Dienstleistungsfreiheit (vorübergehend) tangiert sein könnte, so dass von einem Vorliegen der Antragsbefugnis auszugehen ist.
9
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet, weil die Voraussetzungen gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, im Ergebnis nicht vorliegen.
10
a) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; OVG Schleswig, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 MR 4/20 -, juris). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn – wie hier – die in der Hauptsache angegriffene Norm in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthält oder begründet, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
11
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange der Antragsteller, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für die Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.
12
Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; vgl. auch BayVGH, Beschl. v. 30.03.2020 – 20 NE 20.632 –, juris Rn. 31ff.).
13
b) Nach diesen Maßstäben kommt eine vorläufige Außervollzugsetzung von §§ 1, 2 Corona-Quarantäneverordnung nicht in Betracht. Offen kann dabei bleiben, ob sich die Corona-Quarantäneverordnung als voraussichtlich rechtmäßig erweist (dazu unter <1>). Denn zumindest eine Folgenabwägung ergibt, dass sich der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht als dringend geboten erweist. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Haupt- als auch des Hilfsantrages (dazu unter <2>).
14
(1) Angesichts der unterschiedlichen obergerichtlichen Rechtsprechung dazu, unter welchen Voraussetzungen eine Person als Ansteckungsverdächtiger im Sinne des § 2 Nr. 7 IfSG anzusehen ist, lässt sich eine voraussichtliche Rechtmäßigkeit der Corona-Quarantäneverordnung angesichts der Kürze der zur Entscheidungsfindung zur Verfügung stehenden Zeit jedenfalls nicht hinreichend sicher feststellen. Nach der (bisherigen) Rechtsprechung des beschließenden Senats ist es für die Annahme, ob eine Person ansteckungsverdächtig im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG ist, vor dem Hintergrund der weltweiten exponentiellen Ausbreitung der Pandemie ausreichend, dass die betreffende Person - wie vorliegend der Antragsteller zu 2) - aus einem vom Robert-Koch-Institut als internationales Risikogebiet ausgewiesenem Land oder Landesteil stammt (vgl. Beschl. v. 07.04.2020 – 3 MB 13/20 –, juris Rn. 7). Hingegen ist für die Annahme eines Ansteckungsverdachts im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg erforderlich, dass die vom Verordnungsgeber auf der Rechtsgrundlage der §§ 28 bis 31 IfSG zu erlassenden Regelungen auf konkret nachvollziehbare und belastbare tatsächliche Grundlagen gestützt werden können (vgl. u. a. Beschl. v. 11.05.2020 – 13 MN 143/20 -, juris Rn. 26). Auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen verlangt für die Einstufung als Risikogebiet hinreichend tragfähige Tatsachen (offen gelassen für die Einstufung der Russischen Förderation als Risikogebiet, vgl. Beschl. v. 28.08.2020 – 13 B 1232/20.NE –, juris Rn. 74; vgl. zu den unterschiedlichen Ansichten auch Thür. OVG, Beschl. v. 15.06.2020 – 3 EN 375/ 20 -, juris Rn. 73 m. w. N.). Die Einreise aus Staaten der in § 1 Abs. 4 Corona-Quarantäneverordnung aufgeführten (Risiko-)Staaten bietet jedenfalls vor dem Hintergrund einer häufig unklaren Infektionslage und der regelmäßig unmöglichen Nachverfolgung von Infektionsketten Anhaltspunkte für eine generalisierende Annahme eines Ansteckungsverdachts, ohne dass dies hier abschließend beurteilt werden kann (vgl. auch Thür. OVG, Beschl. v. 15.06.2020, a. a. O., Rn. 73 a. E.).
15
(2) Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht hinreichend abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; Beschl. des Senats v. 02.10.2020 – 3 MR 41/20 –, juris Rn. 10; vgl. auch BayVGH, Beschl. v. 30.03.2020 – 20 NE 20.632 –, juris Rn. 31ff.).
16
Nach diesen Maßstäben kommt eine vorläufige Außervollzugsetzung von §§ 1, 2 Corona-Quarantäneverordnung nicht in Betracht.
17
(2.1.) Die Antragstellerin zu 1) beruft sich im Wesentlichen auf ihre wirtschaftlichen Interessen als Unternehmerin und trägt vor, dass sie derzeit aufgrund der unsicheren Einreisesituation keine Verträge mit Neukunden abschließen könne; eine Vertragsanpassung bereits bestehender Verträge gestalte sich angesichts schmaler finanzieller Spielräume als schwierig. Die vermittels ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angebotene Dienstleistung werde unverhältnismäßig erschwert. Die durch die Absonderung entstehenden Kosten für Unterbringung und Verpflegung seien von ihr, der Antragstellerin zu 1), zu übernehmen. Hierdurch seien ihr bereits im Mai 2020 Kosten in Höhe von 100.000,00 Euro für die einwöchige Unterbringung von 100 Personen entstanden.
18
Auch wenn der Antragstellerin zu 1) wirtschaftlich nicht unerhebliche Einbußen durch die pandemiebedingte erschwerte Einreise ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entstehen, vermögen diese das Interesse der Allgemeinheit an der Durchführung eines wirkungsvollen Infektions- und Gesundheitsschutzes nicht zu überwiegen. Dies gilt umso mehr, als die Zahl der Neuinfektionen in Schleswig-Holstein wie auch im übrigen Bundesgebiet in der jüngsten Zeit erheblich zugenommen und mittlerweile (wieder) ein exponentielles Ausmaß erreicht hat. Ab dem kommenden Montag (2. November 2020) gelten nach der Ankündigung der Bundeskanzlerin sowie der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten für alle verschärfte Umgangsregelungen, die einhergehen mit einem deutlichen Zurückfahren bzw. der Schließung ganzer Wirtschaftsbereiche. Daraus folgt, dass auch die Antragstellerin zu 1) gewisse finanzielle Einbußen hinzunehmen hat, so verständlich die angestrebte (durchgehende) Aufrechterhaltung ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit auch sein mag. Die hier geltend gemachten Interessen sind gewichtig, erscheinen aber nach dem hier anzulegenden strengen Maßstab nicht derart schwerwiegend, dass es unzumutbar erschiene, sie einstweilen zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG prinzipiell auch verpflichtet ist (vgl. BVerfG, Ablehnung einer einstweiligen Anordnung durch Beschl. v. 07.04.2020 – 1 BvR 755/20 –, juris Rn. 11).
19
(2.2.) Der Antragsteller zu 2) ist nach § 1 Abs. 1 Corona-Quarantäneverordnung gehalten, sich nach der Einreise ins Bundesgebiet für die Dauer von 14 Tagen in eine Absonderung zu begeben. Durch den weiteren Vollzug der angegriffenen Verordnung kommt es damit zwar zu einem Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützte Freiheit der Person des Antragstellers zu 2). Dabei hätte es der Antragsteller zu 2) jedoch in der Hand, den Zeitraum von 14 Tagen ab Einreise in das Bundesgebiet durch Vorlage zweier negativer Testungen bzw., sofern er sich vor seiner Einreise bereits hat testen lassen, durch eine weitere negative Testung auf das Coronavirus SARS-CoV-2 zu verkürzen (vgl. § 2 Abs. 2 Corona-Quarantäneverordnung). Würde der Vollzug der Verordnung jedoch ausgesetzt, könnte sich der Antragsteller zu 2) ungehindert im Bundesgebiet bewegen. Insoweit wird auf die Ausführungen unter Punkt (1) Bezug genommen, wonach bei Einreisenden aus so genannten Risikostaaten die Beurteilung der tatsächlichen Infektionslage und damit die Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten regelmäßig mit erheblichen Unwägbarkeiten verbunden ist. Nach dem aktuellen Lagebericht des Robert-Koch-Instituts zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Stand: 27.10.2020) ist aktuell eine zunehmende Beschleunigung der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Daher wird dringend appelliert, dass sich die gesamte Bevölkerung für den Infektionsschutz engagiert. Unter anderem werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet. Da ältere Menschen häufiger einen schweren Verlauf durch COVID-19 aufweisen, steigt ebenso die Anzahl an schweren Fällen und Todesfällen. Diese können vermieden werden, wenn mit Hilfe der Infektionsschutzmaßnahmen die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus verhindert wird.
20
Würde der Antragsteller zu 2) unmittelbar nach der Einreise und ohne Verpflichtung zur Vorlage eines zweiten negativen Tests zu seinem, von ihm zu betreuenden, älteren Kunden gelangen, was auch eine Unterkunft dort bedingt, wäre der ältere Mensch – wie ältere Menschen generell - einer für ihn im Falle einer Infektion nicht unerheblichen Gefährdung von Leib und Leben ausgesetzt. Insoweit ist in die Bewertung miteinzubeziehen, dass Rumänien (wie auch Polen) auf der Liste der am Häufigsten genannten wahrscheinlichen Infektionsländer weit oben rangiert (vgl. täglicher Lagebericht des RKI vom 27.10.2020, Tabelle 6: Die 14 neben Deutschland am häufigsten genannten Infektionsländer der übermittelten COVID-19-Fälle, KW 40-43).
21
(2.3.) Bei einer Gesamtschau überwiegen danach die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz vor einer Weiterverbreitung des Coronavirus gegenüber den Interessen der Antragsteller zu 1) und zu 2) an einer unmittelbar nach Einreise des Antragstellers zu 2) aufzunehmenden wirtschaftlichen Betätigung einschließlich der damit einhergehenden Bewegungsfreiheit. In Anbetracht der oben unter Punkt 2.1. dargestellten - direkt aus Art. 2 Abs. 2 GG folgenden - staatlichen Schutzpflichten ist zudem zu gewärtigen, dass die Infektionslage in Schleswig-Holstein zwar derzeit noch hinter dem Bundestrend zurückbleibt. Auch hier ist jedoch bereits ein deutlicher Anstieg der Neuinfektionen festzustellen, sodass die von den Antragstellern angeführten - durchaus gewichtigen - Interessen hinter das staatliche Schutzinteresse zurückzutreten haben.
22
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG i. V. m. Ziffer 1.1.3 des aktuellen Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
23
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 30.10.2020 gegen Ziffer 1 der Verfügung des Ordnungs- und Bürgeramtes der Stadt Karlsruhe vom 27.10.2020 wird wiederhergestellt, soweit das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung für die Teilnehmer der Versammlung angeordnet wird.Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Antragstellerin wendet sich gegen eine versammlungsrechtliche Auflage, mit der den Teilnehmern aufgegeben wird, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen.
2 Die Initiative Querdenken 721 wendet sich nach eigener Darstellung gegen die Einschränkungen der Grundrechte durch die Corona-Verordnungen. Sie führte regelmäßig, zuletzt am 04.10.2020, Kundgebungen auf dem Schlossplatz in Karlsruhe durch. Bisher ordnete die zuständige Behörde für die Teilnehmer der Versammlung nicht das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung an. Am 07.10.2020 meldete die Antragstellerin für die Initiative am 31.10.2020 in der Zeit von 14.00 Uhr bis 17.30 Uhr eine weitere Versammlung zu dem Thema „Querdenken 721 - Fest für Freiheit, Frieden und Liebe“ mit etwa 500 Personen auf dem Schlossplatz an. Mit der Veranstaltung möchte die Initiative sich nach eigenem Bekunden insbesondere gegen die Verpflichtung zum Tragen eine Mund-Nasen-Bedeckung wenden und dies durch deren bewusstes Nichttragen zum Ausdruck bringen.
3 Mit Bescheid vom 27.10.2020 ordnete das Ordnungs- und Bürgeramt der Stadt Karlsruhe an, dass die Versammlungsteilnehmenden sowie die Ordnerinnen und Ordner eine geeignete Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen haben (Ziffer 1), regelte Ausnahmen hiervon für Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr, für Personen, die glaubhaft machen können, dass ihnen das Tragen einer Mund Nasen-Bedeckung aus gesundheitlichen oder sonstigen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist, oder wenn ein anderweitiger, mindestens gleichwertiger Schutz für andere Personen (etwa durch Plexiglasabtrennungen) gegeben ist, sowie für die Rednerinnen und Redner der Versammlung zudem, falls ein Mindestabstand von 1,50 Metern zu anderen Personen eingehalten wird oder andere geeignete Infektionsschutzmaßnahmen umgesetzt werden (Ziffer 2), und ordnete die sofortige Vollziehung der Auflage an (Ziffer 3).
4 Zur Begründung führte die Behörde an: Das Nichtragen einer Mund-Nasen-Bedeckung stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Denn auf dem Schlossplatz gelte bereits aufgrund von § 3 Abs. 1 Nr. 11 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) in der ab 19. Oktober 2020 gültigen Fassung und Ziffer 1 der Allgemeinverfügung des Gesundheitsamtes vom 27.10.2020 über infektionsschützende Maßnahmen bei einer 7-Tages-lnzidenz innerhalb des Stadtkreises Karlsruhe von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner (AV Karlsruhe) eine Maskenpflicht. Auf einer Versammlung ließen sich Menschenansammlungen naturbedingt nicht vermeiden. Bei 500 Versammlungsteilnehmern, die sich über einen längeren Zeitraum an einem Ort aufhalten, sei das Infektionsrisiko hoch. Hinzukomme, dass das Abstandsverhalten auf der Versammlung am 04.10.2020 nach den polizeilichen Feststellungen und dem von einem Bürger vorgelegten Bildmaterial phasenweise kritisch gewesen sei. Die Polizei habe auf die Ordner einwirken müssen; einzelne Teilnehmer hätten in der Folge von der Versammlung ausgeschlossen werden müssen. Die Auflage stelle sich als verhältnismäßig dar. Eine Maske sei geeignet, die Übertragung des Covid19-Virus über den Austausch von Atemluft und Aerosolen zu reduzieren. Mildere Mittel seien nicht ersichtlich; zumal die Auflage Ausnahmen für bestimmte Fallgruppen regele.
5 Hiergegen legte die Antragstellerin am 30.10.2020 Widerspruch ein.
6 Mit dem am 29.10.2020 bei Gericht eingegangenen vorläufigen Rechtsschutzantrag wendet sich die Antragstellerin gegen die Auflage, dass die Teilnehmer der Versammlung eine Mund-Nase-Bedeckung tragen müssen.
7 Zur Begründung macht sie geltend: Die aktuelle Zahl der Covid19-Infizierten in Karlsruhe rechtfertige nicht die Auflage, auf einer Versammlung im Freien eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen; derzeit gebe es keine Intensivpatienten im betroffenen Stadtteil. Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes sei zudem gesundheitsgefährdend. Bei den früheren Versammlungen der Initiative habe es eine solche Auflage nicht gegeben; die Initiative habe sich immer tadellos verhalten. Alternativ wäre eine Erhöhung der Sicherheitsabstände auf 2,00 m möglich gewesen. Ein Flatterband stelle sicher, dass auf der Versammlungsfläche kein öffentlicher Publikumsverkehr stattfinde. Schließlich vereitele die Auflage den gerade gegen die Maskenpflicht gerichteten Kundgabezweck.
8 Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
9 die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 30.10.2020 gegen die Ziffer 1 der Verfügung des Ordnungs- und Bürgeramtes der Stadt Karlsruhe vom 27.10.2020 wiederherzustellen, soweit diese das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung für die Teilnehmer der Versammlung anordnet.
10 Die Antragsgegnerin beantragt,
11 den Antrag abzulehnen.
12 Sie verteidigt die angefochtene Verfügung und ergänzt: Die angefochtene Auflage gehe über die geltenden Regelungen der CoronaVO und der AV Karlsruhe nicht hinaus. Die Bildaufnahme von der Versammlung am 04.10.2020 belegten, dass die Abstände von den Versammlungsteilnehmern nicht eingehalten würden. Die von der Antragsgegnerin zitierte Entscheidung des VG Stuttgart betreffe keinen vergleichbaren Sachverhalt; die hier angemeldete Zahl von 500 Teilnehmer sei fünfmal höher. Die Versammlungsfreiheit werde nicht unverhältnismäßig berührt. Der Protest gegen die Maskenpflicht bleibe möglich; zudem seien die Redner von der Verpflichtung ausgenommen.
13 Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verfahrensakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Behörde (VV) Bezug genommen.
II.
14 Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg. Der Antrag ist zulässig (1.) und begründet (2.).
15 1. Der Antrag ist zulässig.
16 Der Antrag, der bei sachdienlicher Auslegung des Gesamtvorbringens der Antragstellerin (vgl. § 88, § 122 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des von der Antragstellerin im Zweitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wirksam eingelegten Widerspruchs gegen die nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO sofort vollziehbare Ziffer 1 der Verfügung des Ordnungs- und Bürgeramtes der Stadt Karlsruhe vom 27.10.2020 gerichtet ist, ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO statthaft.
17 2. Der Antrag ist auch begründet.
18 2.1 Zwar genügt die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides dem besonderen Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Danach ist in den Fällen der Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Diese Begründung erfordert eine auf den konkreten Fall abgestellte schlüssige und substantiierte und nicht lediglich formelhafte Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses dafür, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehung notwendig ist und dass hinter dieses öffentliche Interesse das Interesse des Betroffenen zurücktreten muss, zunächst von dem von ihm angegriffenen Verwaltungsakt nicht betroffen zu werden (VGH Mannheim, Beschluss vom 29.06.2018 – 5 S 548/18 – juris, Rn. 8). Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung gerecht. Sie legt dar, dass nach Auffassung der Behörde mit der Durchführung einer Versammlung ohne Auflagen ein hohes Infektionspotenzial und damit eine Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Versammlungsteilnehmern und Nichtteilnehmern verbunden ist, die für die Dauer eines Widerspruchs- und Klageverfahrens nicht hingenommen werden könne.
19 2.2 Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Auflage tritt jedoch hinter das Interesse der Antragstellerin zurück, vorläufig von deren Wirkungen verschont zu bleiben. Denn Ziffer 1 der Verfügung vom 27.10.2020 erweist sich, soweit sie angefochten wird, bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und allein gebotenen summarischen Prüfung im Ergebnis als rechtswidrig.
20 Gemäß § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersG) kann die zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Hier liegen zwar die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift vor (2.2.1); die behördliche Entscheidung erweist sich indes als ermessensfehlerhaft, da die angefochtene Auflage sich als unverhältnismäßig darstellt (2.2.2).
21 2.2.1 Die angefochtene Verfügung bejaht im Ergebnis zutreffend eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit.
22 2.2.1.1 Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 - 1 BvR 233, 341/81 - BVerfGE 69, 315). Eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit setzt eine konkrete Sachlage voraus, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt (BVerfG, Beschluss vom 19.12.2007 - 1 BvR 2793/04 -, juris; Beschluss vom 21.04.1998 - 1 BvR 2311/94, NVwZ 1998, 834 ff.).
23 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG sind unter Beachtung der durch Art. 8 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit auszulegen. Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen. Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe, die auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend (BVerfG, Beschluss vom 20.12.2012 – 1 BvR 2794/10 – juris). Art. 8 Abs. 1 GG umfasst das Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung.
24 Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit sind bei Erlass beschränkender Verfügungen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose zu stellen, die grundsätzlich der vollständigen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Eine das Versammlungsrecht beschränkende Verfügung darf nur ergehen, wenn bei verständiger Würdigung sämtlicher erkennbarer Umstände die Durchführung der Versammlung so wie geplant mit Wahrscheinlichkeit eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verursacht (VGH Mannheim, Beschluss vom 16.05.2020 - 1 S 1541/20, juris, Rn. 4).
25 2.2.1.2 Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
26 2.2.1.2.1 Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin wird eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit indes nicht bereits durch einen zu erwartenden Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Nr. 11 CoronaVO und Ziffer 1 AV Karlsruhe begründet.
27 Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 11 CoronaVO muss innerhalb von Fußgängerbereichen im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. c Straßengesetz eine nicht-medizinische Alltagsmaske oder eine vergleichbare Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden, es sei denn, es ist sichergestellt, dass der Mindestabstand nach § 2 Abs. 2 Satz 1 CoronaVO eingehalten werden kann. Ziffer 1 AV Karlsruhe bestimmt, dass auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen, in öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen sowie auf allgemein zugänglichen Spiel- Sport- und Festplätzen innerhalb des Stadtgebiets der Stadt Karlsruhe eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen ist (Maskenpflicht), es sei denn, es ist sichergestellt, dass der Mindestabstand nach § 2 Abs. 2 Satz 1 CoronaVO, zu anderen Personen eingehalten werden kann.
28 Nach der Systematik der Corona-VO, an die auch die AV Karlsruhe anknüpft, finden diese Vorschriften auf Versammlungen keine Anwendung. Denn die Versammlungen nach Art. 8 GG werden in § 11 Corona-VO besonders geregelt. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Corona-VO hat die Versammlungsleitung auf die Einhaltung der Abstandsregel nach § 2 Corona-VO hinzuwirken. Die in § 3 Corona-VO geregelte Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung findet hierbei dagegen keine Erwähnung. Die zuständigen Behörden können diese daher auf der Grundlage des § 11 Abs. 2 Satz 2 Corona-VO – wie auch die insoweit explizit genannten Hygieneanforderungen nach § 4 Corona-VO – nur im Wege einer weiteren Auflage anordnen.
29 2.2.1.2.2 Die Antragsgegnerin hat jedoch zu Recht eine hohe Gefahr für das verfassungsrechtlich geschützte Leben und die Gesundheit einer Vielzahl von Menschen bejaht.
30 Die Ausbreitung des Covid19-Virus ist von der Weltgesundheitsorganisation als Pandemie eingestuft worden. Nach der aktuellen Risikobewertung des Robert Koch-Instituts (RKI) vom 07.10.2020 handelt es sich bei der Corona-Pandemie um eine weltweit auch in Deutschland sehr dynamische und ernstzunehmende Situation (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/ Risikobewertung.html). Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch. Die Zahl der Infizierten nimmt im gesamten Bundesgebiet aktuell stark zu; es kommt bundesweit zu einem beschleunigten Anstieg der Übertragungen in der Bevölkerung. Der tägliche Lagebericht des RKI vom 29.10.2020 (www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartloes Coronavirus/Situationsberichte/Okt 2020/2020-1 Q-22-de.pdf? blob=publicationFile1) weist für Baden-Württemberg eine 7-Tage-Inzidenz von aktuell 95,9 Fällen pro 100,000 Einwohner aus. In der Stadt Karlsruhe liegt die 7-Tage-lnzidenz am 30.10.2020 bei 115,4 Infizierten auf 100.000 Einwohnern (https://corona.karlsruhe.de/content/stats/Fallzahlen_Tabellenform_20201030.pdf).
31 Nach dem Steckbrief des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 16.10.2020 beruht die exponentiell verlaufende Verbreitung des Virus darauf, dass das Virus besonders leicht im Wege der Tröpfcheninfektion und Aerosolen von Mensch zu Mensch übertragbar ist (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html) und gegenwärtig nur durch eine Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann.
32 Danach ist offensichtlich, dass in der gegenwärtigen Lage bei einem ungeregelten Zusammentreffen von sehr vielen Menschen im Rahmen einer Versammlung eine erhebliche Gefährdung der Rechtsgüter von Leib und Leben zu besorgen ist.
33 2.2.2 Die Auflage, wonach alle Teilnehmer der Versammlung der Antragstellerin eine Mund-Nase-Bedeckung tragen müssen, erweist sich jedoch als ermessensfehlerhaft (vgl. § 114 Satz 1 VwGO), da sie unverhältnismäßig in die Versammlungsfreiheit eingreift.
34 2.2.2.1 Zwar ist eine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen- Bedeckung für alle Versammlungsteilnehmer grundsätzlich ein geeignetes Mittel zur Erreichung des legitimen Zwecks des Gesundheitsschutzes. Ein Mittel ist bereits dann geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Es ist nicht erforderlich, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch tatsächlich erreicht wird. Dies ist hier der Fall. Die streitgegenständliche Anordnung beruht im Wesentlichen auf der Grundannahme, dass sich das Coronavirus nach derzeitigen Erkenntnissen bei direkten persönlichen Kontakten im Wege einer Tröpfcheninfektion oder über Aerosole, die längere Zeit in der Umgebungsluft schweben, besonders leicht von Mensch zu Mensch verbreitet. Grundsätzlich ist die Wahrscheinlichkeit einer Exposition gegenüber Tröpfchen und Aerosolen im Umkreis von ein bis zwei Metern um eine infizierte Person, herum erhöht (RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Übertragungswege; www.rki.de/DE/ Content/InfAZ/N/Neuartiges Coronavirus/Steckbrief, Stand: 16.10.2020). Nach den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts ist bei dem derzeitigen Erkenntnisstand davon auszugehen, dass auch privat hergestellte textile Mund-Nase-Bedeckungen eine Filterwirkung auf feine Tröpfchen und Partikel entfalten können, die als Fremdschutz zu einer Reduzierung der Ausscheidung von Atemwegsviren über die Ausatemluft führen kann. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung kann damit einen Beitrag zur weiteren Verlangsamung der Ausbreitung des von Mensch zu Mensch übertragbaren Coronavirus leisten (RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavlrus-Krankhelt-2019 (COVID-19), Übertragungswege; https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792).
35 2.2.2.2 Die Anordnung, dass alle Versammlungsteilnehmer eine Mund-Nasenbedeckung tragen erweist sich jedoch bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und allein gebotenen summarischen Prüfung als nicht erforderlich.
36 Denn mit der konsequenten Einhaltung eines physischen Mindestabstandes von 1,5 m gibt es ein anderes, ebenso geeignetes Mittel, um das Ansteckungsrisiko unter freiem Himmel gleich wirksam reduzieren. Die Antragstellerin hat sogar angeboten, die Abstände zwischen den Versammlungsteilnehmern auf zwei Meter zu erhöhen, um den Mindestabstand jederzeit sicherzustellen.
37 Hiervon geht, gestützt auf die Einschätzung des RKI, auch die Landesregierung Baden-Württemberg aus. § 2 Abs. 2 Corona-VO erachtet im öffentlichen Raum einen Mindestabstand von 1,5 m als ausreichend. Nur für den Fall, dass dessen Einhaltung nicht sichergestellt ist, ordnet § 3 Abs. 1 Nr. 11 Corona-VO innerhalb von Fußgängerbereichen das verpflichtende Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung an. Das RKI empfiehlt das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum bei Menschenansammlungen im Freien, wenn der Mindestabstand von 1,5 m nicht eingehalten wird (RKI, Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2/Krankheit COVID-19, Stand: 27.10,2020; https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html).
38 Die Kammer geht davon aus, dass aufgrund des stationären Charakters der Versammlung, einer Teilnehmerzahl von 500 Personen und der polizeilichen Feststellungen zu der vorangegangenen Versammlung am 04.10.2020 die vorgeschriebenen Abstandsregeln eingehalten werden können.
39 Zunächst hat die Antragsgegnerin nicht geltend gemacht, dass es auf der Fläche des Schlossplatzes bereits aufgrund der Zahl von 500 Versammlungsteilnehmern tatsächlich ausgeschlossen ist, den Mindestabstand von 1,5, m einzuhalten. Die Stellungnahme des Polizeipräsidiums vom 09.10.2020 bejaht die Eignung des Schlossplatzes für eine Teilnehmerzahl von 1.000 Personen (Bl. 15 VV).
40 Die Antragsgegnerin hat auch nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass bei der gebotenen Prognose davon auszugehen ist, dass die Teilnehmer der Versammlung der Abstandspflicht voraussichtlich nicht nachkommen werden. Es fehlt an aussagekräftigen behördlichen Feststellungen, dass bei der Versammlung am 04.10.2020 nicht nur in Einzelfällen gegen die Abstandspflicht verstoßen wurde. Zwar hat die Antragsgegnerin einzelne Bildaufnahmen eines Passanten vorgelegt, auf denen zu sehen ist, dass der Abstand von 1,5 m von den Teilnehmern nicht konsequent eingehalten wurde. Zeitpunkt und Umstände der Bildaufnahmen und damit auch die genaue Zahl und Dauer möglicher Verstöße gegen § 2 Abs. 2 Corona-VO bleiben indes unklar. Die Meldung des Polizeipräsidiums Karlsruhe vom 08.10.2020 stellt dagegen fest, dass die Versammlungen am 04.10.2020, abgesehen von geringfügigen Störungen im Zusammenhang mit Verstößen gegen die Corona-VO durch Teilnehmer der ‚Querdenker‘-Versammlung, störungsfrei verliefen (Bl. 13 VV). In der ergänzenden Stellungnahme vom 09.10.2020 heißt es, dass wiederholt auf die Einhaltung der coronabedingten Auflagen (Tragen von Mund-Nase-Schutz sowie Abstandsverhalten der Teilnehmer) hingewiesen werden musste, die Versammlungsleitung sich jedoch bemüht zeigte, den Anforderungen unverzüglich Folge zu leisten (Bl. 15 VV). Dem polizeilichen Einsatzbericht vom 04.10.2020 ist schließlich zu entnehmen, dass das Abstandsverhalten phasenweise kritisch war, so dass mehrfach auf die Ordnerleitung eingewirkt werden musste, um die Abstände entsprechend einhalten zu können; letztlich habe sich dies jedoch akzeptabel gestaltet (Bl. 28 VV); bei 600 Versammlungsteilnehmern wurde lediglich ein Verstoß gegen die Corona-VO polizeilich festgestellt (Bl. 29 VV).
41 Mit Blick auf den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), von der die Antragstellerin gerade in der Weise Gebrauch machen möchte, dass sie ihre ablehnende Haltung gegenüber der Pflicht, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, durch deren Nichtragen während der Versammlung Ausdruck verleiht, ist die verpflichtende Anordnung eines Mund-Nasen-Schutzes für alle Teilnehmer auf der Grundlage dieser polizeilichen Feststellungen bei summarischer Prüfung nicht gerechtfertigt. Vielmehr lässt sich den polizeilichen Berichten entnehmen, dass den nur vereinzelten Verstößen von Teilnehmern der Versammlung am 04.10.2020 in der Vergangenheit durch das Einwirken auf die Ordner und die Versammlungsleitung im Ergebnis erfolgreich begegnet werden konnte. Die Antragsgegnerin zeigt nicht auf, warum dies nicht auch am 31.10.2020 gelingen sollte.
42 Im Übrigen bleibt es der Antragsgegnerin unbenommen, kurzfristig, in Abhängigkeit vom konkreten Versammlungsgeschehen weitergehende Auflagen zu erlassen, sollte die Abstandspflicht in erheblichem Umfange tatsächlich nicht eingehalten werden.
43 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
44 4. Die Festsetzung des Verfahrenswertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 45.4 und 1.5 Satz 2 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31.05/01.06.2012 und am 18.07.2013 beschlossenen Änderungen. Eine Reduzierung des hälftigen Auffangstreitwertes war nicht geboten, da das Begehren der Antragstellerin in der Sache auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet ist.
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Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 16. April 2019 – 2 O 313/18 – wird zurückgewiesen.2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.3. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.4. Die Revision wird nicht zugelassen.5. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 24.601,99 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Parteien streiten über Ansprüche der Klägerin im Zusammenhang mit dem Kauf eines von dem sog. „Abgasskandal" betroffenen Fahrzeugs.
2 Die Beklagte stellte unter der Bezeichnung „EA 189" einen Dieselmotor mit der Abgasnorm Euro 5 her, in dessen Motorsteuerung eine zuvor in Kooperation mit der R. B. GmbH entwickelte Software zur Abgassteuerung installiert wurde. Diese Software verfügt über zwei unterschiedliche Betriebsmodi, welche die Abgasrückführung steuern. In dem im Hinblick auf den Stickoxidausstoß optimierten „Modus 1", der beim Durchfahren des für die amtliche Bestimmung der Fahrzeugemissionen maßgeblichen Neuen Europäischen Fahrzyklus (nachfolgend: NEFZ) automatisch aktiviert wird, kommt es zu einer höheren Abgasrückführungsrate, wodurch die gesetzlich geforderten Grenzwerte für Stickoxidemissionen eingehalten werden. Bei im normalen Straßenverkehr anzutreffenden Fahrbedingungen ist der partikeloptimierte „Modus 0“ aktiviert, der zu einer geringeren Abgasrückführungsrate und damit zu einem höheren Stickoxidausstoß führt.
3 Der o.g. Dieselmotor wurde auf Veranlassung des Vorstands der Beklagten nicht nur in diversen Fahrzeugtypen der Beklagten, sondern auch in solchen der zum V.-Konzern gehörenden Unternehmen – ua in den hier in Streit stehenden und von der A. AG hergestellten A. A5 2.0 TDI Sportback DPF mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ... – verbaut.
4 Mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 verfügte das Kraftfahrtbundesamt (im Folgenden: KBA) gegenüber der Beklagten „zur Gewährleistung der Vorschriftsmäßigkeit der [...] Typengenehmigung [...] des Typs EA 189 EU5“ die „unzulässigen Abschalteinrichtungen“ zu entfernen und drohte damit, andernfalls „die Typengenehmigung ganz oder teilweise zu widerrufen oder zurückzunehmen“. Zugleich wurde die Beklagte verpflichtet, den technischen Nachweis zu führen, dass nach Entfernen der als unzulässig eingestuften Abschalteinrichtung alle technischen Anforderungen der relevanten Einzelrechtsakte der Richtlinie 2007/46/EG erfüllt werden.
5 Bereits zuvor – nämlich am 15. September 2015 – hat die Beklagte in einer Ad-hoc-Mitteilung nach § 15 WpHG in der bis 1. Juli 2016 geltenden Fassung der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass sie „die Aufklärung von Unregelmäßigkeiten einer verwendeten Software bei Diesel-Motoren mit Hochdruck“ vorantreibe, wobei „Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA 189 mit einem Gesamtvolumen von weltweit rund elf Millionen Fahrzeugen“ auffällig seien.
6 Am 20. September 2015 hat der damalige Vorstandsvorsitzende der V. AG Professor Dr. M. W. erklärt, dass „[d]ie US-Behörden CARB und EPA [...] die Öffentlichkeit in den USA darüber informiert [hätten], dass bei Abgastests an Fahrzeugen mit Dieselmotoren des V. Konzerns Manipulationen festgestellt worden [seien] und damit gegen amerikanische Umweltgesetze verstoßen worden [sei]“.
7 Mit Pressemitteilung vom 2. Oktober 2015 informierte die Beklagte über die Bereitstellung eines Tools auf ihrer Webseite, mittels dessen jeder Fahrzeughalter anhand seiner Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) abfragen konnte, ob sein Fahrzeug von der Problematik betroffen ist oder nicht.
8 Das KBA teilte mit Pressemitteilung vom 16. Oktober 2015 mit, es habe mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 gegenüber der Beklagten den Rückruf von insgesamt 2,4 Millionen V.-Markenfahrzeugen angeordnet und vertrete die Auffassung, dass es sich bei der in diesen Fahrzeugen verwendeten Software um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele, weswegen der Beklagten auferlegt worden sei, die entsprechende Software aus allen Fahrzeugen zu entfernen und geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit zu ergreifen, was durch entsprechende Nachweise zu belegen sei. Zudem ist von einem von der Beklagten am 7. Oktober 2015 vorgelegten Maßnahmenplan die Rede, und es werden nähere Angaben zu den betroffenen Motoren gemacht (EURO 5 Dieselmotoren der Größe 2 Liter, 1,6 Liter und 1,2 Liter Hubraum).
9 Diesen Rückruf griff die Beklagte mit Pressemitteilungen vom 15. und 22. Oktober 2015 auf und teilte mit, dass auch für die Marken A., S. und S. Tools bereitstünden, um die Betroffenheit des eigenen Fahrzeugs mit dem Motor EA 189 zu eruieren. Unter Hinweis darauf, dass die aktuelle Nachfolge-Motorengeneration EA 288 (Einsatz ab 2012) nicht betroffen sei, heißt es weiter, ab Januar 2016 werde mit der Nachbesserung der Fahrzeuge begonnen, wobei die technischen Lösungen zunächst den zuständigen Behörden vorgestellt und danach die Halter dieser Fahrzeuge informiert werden würden. Damit wurde klargestellt, dass sich die Beklagte nicht gegen den Rückruf wehren, sondern an der Beseitigung der Abschalteinrichtungen mitwirken werde.
10 Mit Pressemitteilung vom 25. November 2015 teilte die Beklagte darauf aufbauend mit, dem KBA seien die erarbeiteten technischen Maßnahmen der betroffenen EA 189-Dieselmotoren nunmehr vorgestellt und diese Maßnahmen seien nach intensiver Begutachtung bestätigt worden. Zudem gestand die Beklagte mögliche zivilrechtliche Schadensersatzansprüche ein, indem sie „ausdrücklich bis zum 31. Dezember 2016 auf die Erhebung der Verjährungseinrede im Hinblick auf etwaige Gewährleistungsansprüche / Garantieansprüche wegen der in Fahrzeugen mit Motorentyp EA 189 eingebauten Software, sofern diese Ansprüche nicht bereits verjährt sind“, verzichtete.
11 Am 10. Dezember 2015 folgte sodann folgende Erklärung:
12 "Ausgangspunkt war die strategische Entscheidung einer groß angelegten Dieseloffensive in den USA im Jahr 2005. Zunächst wurde kein Weg gefunden, um die strengeren Stickoxid-Normen beim Motortyp EA 189 in den USA mit zulässigen Mitteln und im vorgegebenen Zeit- und Kostenrahmen zu erfüllen. So kam es zum Einbau der Software, die den Ausstoß von Stickoxiden regulierte, je nachdem ob sich das Fahrzeug auf der Straße oder gerade in einem Prüfzyklus befand.“
13 Damit war die Ankündigung verbunden, die die Geschehnisse begünstigende Konzernstrukturen zu restrukturieren („Organisatorisch ist der Bereich „Integrität & Recht“ zukünftig mit der Berufung von Dr. C. H.-D. mit einem eigenen Ressort im Konzernvorstand vertreten.“).
14 Am 16. Dezember 2015 verzichtete die Beklagte weitergehend als bisher „ausdrücklich bis zum 31.12.2017 auf die Erhebung der Verjährungseinrede im Hinblick auf etwaige Ansprüche, die im Zusammenhang mit der in Fahrzeugen mit Motortyp EA 189 eingebauten Software bestehen“, wobei der Verjährungsverzicht für derartige Ansprüche auch galt, „soweit diese bereits verjährt sind“.
15 Am 4. April 2016 (vgl. Anlage B 6) bestätigte das KBA der Beklagten gegenüber für das streitgegenständliche Modell, dass die in Reaktion auf den Bescheid vom 15. Oktober 2015 von der Beklagten entwickelten technischen Maßnahmen (konkret: ein Softwareupdate) geeignet sind, die Vorschriftsmäßigkeit herzustellen. In dem dieser Freigabebestätigung vorangegangenen Verfahren wurde die verwendete sog. Ausrampstrategie gegenüber dem KBA offengelegt. Das KBA hat die Strategie einschließlich des mit der technischen Maßnahme applizierten Thermofensters geprüft und in den jeweiligen Freigabebestätigungen der technischen Maßnahmen als zulässig bestätigt.
16 Das von dem KBA freigegebene Softwareupdate wurde in dem hier in Streit stehenden Fahrzeug am 22. Juli 2016 (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 13. Juli 2020 = II 413 und Schriftsatz der Klägerin vom 22. Juli 2020 = II 414) aufgespielt.
17 Am 2. Februar 2018 erwarb die Klägerin das o.g. Fahrzeug, einen A. A5 Sportback, 2,0 TDI, von der A. A. R. GmbH zu einem – von der Klägerin überwiegend durch ein Darlehen (Darlehensvertrag vgl. Anlage K 1) finanzierten – Kaufpreis von 22.800 EUR (verbindliche Bestellung vgl. Anlage BB 7). Das Fahrzeug wurde der Klägerin am 2. Februar 2018 übergeben und wies zu diesem Zeitpunkt einen Kilometerstand von 52.500 auf.
18 Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 21. Juni 2018 (Anlage K 10) forderte die Klägerin die Beklagte unter Fristsetzung bis 5. Juli 2018 ua zur Erstattung des vollständigen Kaufpreises Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des erworbenen Fahrzeugs auf.
19 Mit ihrer am 9. Oktober 2018 eingegangenen und der Beklagten am 2. November 2018 zugestellten Klage hat die Klägerin erstinstanzlich folgende Anträge gestellt:
20 1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Euro 24.601,99 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 06.07.2018 Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs mit der Fahrgestellnummer ... zu zahlen.
21 2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 06.07.2018 mit der Rücknahme des in Klageantrag Ziff. 1 bezeichneten Gegenstands in Annahmeverzug befindet.
22 3. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung i. H. v. 961,52 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.07.2018 zu zahlen.
23 Zur Begründung hat die Klägerin ua vorgetragen,
24 die Entwicklung und das Inverkehrbringen der streitgegenständlichen Software stelle eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung dar. Sie – die Klägerin – hätte das Fahrzeug bei Kenntnis von dem Einsatz der Software nicht erworben. lhr sei bei dem Kauf des Fahrzeugs seitens des Verkäuferin versichert worden, dass das Fahrzeug nicht von der „Schummelsoftware“ betroffen sei. Unabhängig davon sei der Schaden durch das vor Abschluss des Kaufvertrages durchgeführte Softwareupdate nicht entfallen. Durch die Beklagte sei bereits vor der Rückrufaktion nicht beabsichtigt gewesen, nach der Durchführung des Softwareupdates die gesetzlich vorgegebenen Emissionswerte einzuhalten. Nach der Durchführung des Updates komme es in vielen Fällen zu weiteren Mängeln in Form einer Erhöhung der Emissionswerte und des Kraftstoffverbrauchs, bezüglich der Motorenleistung als auch zu Verschleißerscheinungen. Ferner sei das Update nicht geeignet, die Einhaltung der europarechtlichen Emissionsgrenzwerte für NOX zu gewährleisten. Im Übrigen sei sie – die Klägerin – nicht darüber aufgeklärt worden, dass das Softwareupdate zu weiteren Schäden führen könne oder dass gar eine weitere illegale Abschalteinrichtung implementiert sei. Die Beklagte habe erneut in unredlicher Weise durch Vortäuschung falscher Tatsachen auf ihre Entschluss- und Willensfreiheit eingewirkt, als sie suggeriert habe, dass es nach dem Update keine illegale Abschaltvorrichtung mehr gebe, die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten würden und das Update keine negativen Auswirkungen besitze. Das KBA habe das Softwareupdate trotz der substantiell weiterhin bestehenden Überschreitungen der gesetzlichen Grenzwerte – und damit contra legem – genehmigt. Als Rechtsfolge müsse die Beklagte ihr neben dem Kaufpreis in Höhe von 22.800 EUR die mitfinanzierten Kreditkosten von 1.801,99 EUR (1.401,60 EUR für eine Garantie und 306,43 EUR für eine „GAP-Versicherung“) ersetzen.
25 Die Beklagte hat erstinstanzlich Klageabweisung beantragt und ua geltend gemacht,
26 sie habe die Klägerin nicht sittenwidrig geschädigt. Eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung durch die Installation der ursprünglich vorhandenen Software zur Abgassteuerung scheide schon deshalb aus, weil diese vor Abschluss des Kaufvertrags deinstalliert worden sei. Das Softwareupdate habe keine negativen Auswirkungen auf Kraftstoffverbrauchswerte, CO2-Emissionswerte, Motorleistung, Drehmoment und Geräuschemissionen. Die verwendete Ausrampstrategie und das mit der technischen Maßnahme applizierte Thermofenster seien gesetzeskonform.
27 Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens und der Anträge wird auf die in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
28 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Der Klägerin stehe kein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB zu. An der Sittenwidrigkeit der behaupteten Schädigungshandlung fehle es, wenn der Erwerber eines mit der zwischen zwei Modi umschaltenden Steuerungssoftware ausgestatteten PKW beim Erwerb des Fahrzeuges – wie hier die Klägerin – von eben diesem Umstand bereits Kenntnis gehabt habe. Jedenfalls sei der Beklagten als Herstellerin kein Schädigungsvorsatz nachweisbar, weil sie davon habe ausgehen können, dass die Klägerin aufgrund der monatelangen Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen bereits von der Problematik des zu erwerbenden Fahrzeugs erfahren habe. Die Klägerin könne ihren Anspruch auch nicht auf §§ 823, 31 BGB iVm § 263 StGB gründen. Zum einen sei bei der Klägerin kein Irrtum erregt worden, zum anderen sei kein Schädigungsvorsatz der Beklagten dargelegt. Darauf, ob sich das Softwareupdate negativ auf die Wiederverkaufsmöglichkeit auswirke oder ob das Update geeignet sei, den Mangel des Fahrzeugs zu beseitigen, oder ob dieses ,,neue" Mängel an dem Fahrzeug verursacht habe, komme es – nachdem die Voraussetzungen nach §§ 826, 31 BGB und/oder §§ 823, 31 BGB iVm § 263 SIGB nicht vorlägen – nicht an.
29 Wegen der weiteren Einzelheiten der Ausführungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
30 Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie zunächst folgende Anträge gestellt hat:
31 1. Die Beklagte wird verurteilt, Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs A. A5 2,0 TDI mit der Fahrgestellnummer ... im Wege des Schadenersatzes an die Klagepartei EUR 24.601,99 zuzüglich Zinsen in Höhe von 4 Prozent seit dem 01.03.2018 bis zum 06.07.2018 und seither Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen.
32 2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 06.07.2018 im Annahmeverzug befindet.
33 3. Die Beklagte wird verurteilt, außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von EUR 961,52 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.07.2018 zu zahlen.
34 Hilfsweise:
35 Das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts Baden-Baden 2 0 313/18 vom 16.04.2019 wird aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen.
36 Zuletzt stellt die Klägerin – unter teilweiser Rücknahme der Berufung und Aufrechterhaltung der übrigen Anträge – statt des o.g. Antrags Ziff. 1 den folgenden (neuen) Antrag Ziff. 1:
37 1. Die Beklagte wird verurteilt, Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs A. A5 2,0 TDI mit der Fahrgestellnummer ... im Wege des Schadenersatzes an die Klagepartei EUR 24.601,99 zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz abzüglich einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 3.856,51 EUR zu zahlen.
38 Zur Begründung ihrer Berufung führt die Klägerin im Wesentlichen aus:
39 Das Landgericht sei unzutreffend davon ausgegangen, dass sie von der ursprünglich vorhandenen Software zur Abgassteuerung Kenntnis gehabt habe. Sie sei nicht über die Betroffenheit des Fahrzeugs in Kenntnis gesetzt worden. Vielmehr habe die Verkäuferin versichert, dass das Fahrzeug nicht von der „Schummelsoftware“ betroffen sei. Im Übrigen komme es nach der Durchführung des Updates in vielen Fällen zu weiteren Mängeln in Form einer Erhöhung der Emissionswerte, des Kraftstoffverbrauchs, der Motorenleistung als auch zu Verschleißerscheinungen. Es lägen Unterlagen vor, aus denen sich eindeutig ergebe, dass bereits vor der Rückrufaktion durch die Beklagte nicht beabsichtigt gewesen sei, nach der Durchführung des Softwareupdates die gesetzlich vorgegebenen Emissionswerte (NOX) einzuhalten. Der Fall liege anders als die dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 2020 in der Sache VI ZR 5/20 zugrundeliegende Konstellation, da der hier in Streit stehende A. A 5 schon nicht unter die ad-hoc-Mitteilung falle, der Rückruf erst nach der ad-hoc-Mitteilung erfolgt sei und die Beklagte weiterhin das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Abrede stelle. Selbst nach dem Update liege der NOX-Ausstoß mit einem Faktor von 2,6 bis 9,0 über den gesetzlichen Grenzwerten. Trotz der weiterhin bestehenden Überschreitungen der gesetzlichen Grenzwerte habe das KBA contra legem dazu die Genehmigung erteilt. Es seien erneut bewusst wahrheitswidrige Aussagen gegenüber den Geschädigten in Bezug auf die Folgen des Updates getätigt worden. So komme es zu starker Rußpartikelbildung, die zu Versottungs- und Partikelfilter- sowie Motorschäden führe. Schließlich täusche die Beklagte weiterhin über das On-Board-Diagnosesystem (OBD), welches bewusst an die Prüfstandserkennung des Fahrzeugs gekoppelt sei. Die Außerkraftsetzung des Erkennungssystems für Fehlfunktionen bei der Abgasreinigung und der Überschreitung der gesetzlichen Grenzwerte im Realbetrieb stelle eine unzulässige Abschalteinrichtung dar.
40 Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Berufung und verteidigt das angegriffene Urteil des Landgerichts unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.
41 Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Berufungsrechtszug wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
42 Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die angefochtene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) noch rechtfertigen die nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 ZPO). Zu Recht hat das Landgericht nämlich die Klage abgewiesen.
43 Der mit dem Klageantrag Ziff. 1 geltend gemachte Anspruch (auf Erstattung des Kaufpreises des Fahrzeugs nebst Zinsen abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs) steht der Klägerin nicht zu. (Vor-)Vertragliche Ansprüche (1.) scheiden ebenso aus wie deliktische. Einen deliktischen Anspruch hat die Klägerin weder deshalb, weil die Motorsteuerung des Fahrzeugs ursprünglich werksseitig mit einer Software ausgestattet war, die den Stickoxidausstoß auf dem Prüflaufstand gegenüber dem Ausstoß im normalen Fahrbetrieb beeinflusste (2.), noch im Hinblick auf Ausgestaltung und Folgen des bereits vor dem Kauf installierten Softwareupdates (3.). Auch die nachgeschobenen Ausführungen der Klägerin zu dem On-Board-Diagnosesystem sind nicht geeignet, einen deliktischen Anspruch zu begründen (4.). Bei dieser Sachlage hat die Klägerin schon mangels Bestehens eines Anspruchs in der Hauptsache keinen Anspruch auf Feststellung des Annahmeverzugs (Antrag Ziff. 2) und auf Erstattung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten (Antrag Ziff. 3).
44 1. Ein Schadenersatzanspruch der Klägerin gemäß §§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB wegen einer (vor-)vertraglichen Pflichtverletzung scheidet aus. Die Beklagte war weder mittelbar noch unmittelbar an den Vertragsverhandlungen zum Abschluss des Kaufvertrags über den Gebrauchtwagen beteiligt. Soweit in Ausnahmefällen eine Haftung eines Dritten (respektive eines Vertreters) in Betracht kommt, wenn dieser ein eigenes wirtschaftliches Interesse an dem Vertragsschluss hat oder durch Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens den Vertragsschluss erheblich beeinflusst hat (vgl. nur Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl., § 311 Rn. 60), liegen diese Voraussetzungen im Streitfall nicht vor. Dass die Klägerin überhaupt auf irgendwelche (Prospekt-)Angaben der Beklagten zum Schadstoffausstoß vertraut hätte, ist noch nicht einmal behauptet. Dass die Beklagte nach § 6 Abs. 1 EG-FGV für das Fahrzeug eine Übereinstimmungsbescheinigung ausgestellt hat, reicht für die Annahme einer Sachwalterhaftung nicht aus. Denn eine solche Erklärung ist Voraussetzung für das Inverkehrbringen jedes neuen Fahrzeuges (vgl. § 27 Abs. 1 EG-FGV) und kein Ausdruck besonderer Gewährsübernahme (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 6. Februar 2020 – 6 U 1219/19 –, juris Rn. 41 mwN).
45 2. Der mit Klageantrag Ziffer 1 geltend gemachte Anspruch steht der Klägerin nicht deshalb zu, weil die Motorsteuerung des Fahrzeugs ursprünglich werksseitig mit einer Software ausgestattet war, die den Stickoxidausstoß auf dem Prüflaufstand gegenüber dem Ausstoß im normalen Fahrbetrieb beeinflusste. Der hierauf gestützte Anspruch folgt weder aus §§ 826, 31 analog BGB (a)) oder aus §§ 831 Abs. 1 Satz 1, 826 BGB (b)) noch aus §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm § 263 StGB (c)) oder aus §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 der Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge (EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung; nachfolgend: EG-FGV) in der Fassung vom 3. Februar 2011 oder Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (nachfolgend: VO (EG) 715/2007) (d)).
46 a) Eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 analog BGB im Hinblick auf die ursprünglich installierte Software zur Abgassteuerung scheidet aus.
47 aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Verhalten sittenwidrig, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 29 mwN; Urteil vom 7. Mai 2019 – VI ZR 512/17 –, juris Rn. 8 mwN; Urteil vom 28. Juni 2016 – VI ZR 536/15 –, juris Rn. 16 mwN). Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 29 mwN; Urteil vom 28. Juni 2016 – VI ZR 536/15 –, juris Rn. 16 mwN). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 29 mwN; Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 –, juris Rn. 15; Urteil vom 7. Mai 2019 – VI ZR 512/17 –, juris Rn. 8).
48 Da für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig in einer Gesamtschau (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 30 mwN; Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 –, juris Rn. 16) dessen Gesamtcharakter zu ermitteln ist, ist ihr das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat. Zu kurz greift es daher, in solchen Fällen entweder nur auf den Zeitpunkt der „Tathandlung" bzw. der „Tat" oder nur auf den des Schadenseintritts abzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 30). Denn im Falle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB wird das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten begründet, weil der haftungsbegründende Tatbestand des § 826 BGB die Zufügung eines Schadens zwingend voraussetzt. Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber nicht mehr als sittenwidrig zu werten sein. Eine solche Verhaltensänderung kann somit bereits der Bewertung seines Gesamtverhaltens als sittenwidrig – gerade in Bezug auf den geltend gemachten, erst später eingetretenen Schaden und gerade im Verhältnis zu dem erst später Geschädigten – entgegenstehen und ist nicht erst im Rahmen der Kausalität abhängig von den Vorstellungen des jeweiligen Geschädigten zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 31).
49 bb) Nach diesen allgemeinen Maßstäben scheidet eine Haftung der Beklagten im Hinblick auf die ursprünglich installierte Software zur Abgassteuerung aus §§ 826, 31 analog BGB mangels sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung aus. Denn unter Berücksichtigung ihres Verhaltens im Herbst 2015 kann ihr (ursprünglich schädigendes) Verhalten zum Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses im Februar 2018 in der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht mehr als sittenwidrig betrachtet werden. Wesentliche Umstände, aufgrund derer das Verhalten der Beklagten gegenüber früheren Käufern als verwerflich zu werten war, sind nämlich durch die getroffenen – unter Ziff. I. dargestellten öffentlichkeitswirksamen – Maßnahmen entfallen.Dass die Beklagte die Abschalteinrichtung nicht selbst als illegal gebrandmarkt hat, sondern im Gegenteil dieser (zutreffenden) Bewertung in der Folgezeit entgegengetreten ist, dass sie eine bewusste Manipulation geleugnet hat und dass sie möglicherweise weitere Schritte zur umfassenden Aufklärung hätte unternehmen können, reicht für die Begründung des gravierenden Vorwurfs der sittenwidrigen Schädigung gegenüber der Klägerin nicht aus. Insbesondere war ein aus moralischer Sicht tadelloses Verhalten der Beklagten oder eine Aufklärung, die tatsächlich jeden potenziellen Käufer erreicht und einen Fahrzeugerwerb in Unkenntnis der Abschalteinrichtung sicher verhindert, zum Ausschluss objektiver Sittenwidrigkeit nicht erforderlich. Käufern, die sich, wie die Klägerin, erst für einen Kauf entschieden haben, nachdem diese ihr Verhalten, wie beschrieben, geändert hatte, wurde – unabhängig von ihren Kenntnissen vom sog. „Dieselskandal" im Allgemeinen und ihren Vorstellungen von der Betroffenheit des Fahrzeugs im Besonderen – nicht sittenwidrig ein Schaden zugefügt (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 38; im Ergebnis ebenso bereits Senat, Urteile vom 9. Januar 2020 – 17 U 107/19, 17 U 116/19 und 17 U 133/19 –, jeweils juris).
50 Der neue Vortrag dazu in dem nicht nachgelassenen Schriftsatz der Klägerin vom 6. Oktober 2020 (II 463 ff.) ist nach § 296a ZPO nicht zu berücksichtigen. Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 156 ZPO ist nicht angezeigt. Davon unabhängig übersieht die Klägerin, dass die ad-hoc-Mitteilung der Beklagten vom 22. September 2015 – soweit es sich bei den darin enthaltenen Aussagen nicht nur um bloße Werturteile handelt („Aufklärung mit Hochdruck“ etc., II 464) – als lediglich ein Anknüpfungspunkt für den Entfall des Sittenwidrigkeitsverdikts unter vielen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 35 ff.) herangezogen wurde, sodass selbst deren Fehlerhaftigkeit im Hinblick auf einzelne darin enthaltene Tatsachenbehauptungen an dem Ergebnis der Gesamtabwägung nichts änderte.
51 cc) Unabhängig davon fehlt es im Hinblick auf die obigen, von der Beklagten ab September 2015 zur Eindämmung und Aufklärung des Skandals vorgenommenen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen am Zurechnungszusammenhang zwischen der ursprünglich sittenwidrigen vorsätzlichen Handlung der Beklagten und einem Schaden der Klägerin, ohne dass es auf ihre Kenntnis von der Betroffenheit des Fahrzeuges vom Abgasskandal im Zeitpunkt des Kaufes ankommt (vgl. dazu ausführlich Senat, Urteil vom 9. Januar 2020 – 17 U 107/19 –, juris Rn. 26 ff.; Urteil vom 9. Januar 2020 – 17 U 133/19 –, juris Rn. 55 ff.).
52 dd) Schließlich scheidet ein auf §§ 826, 31 analog BGB gestützter Anspruch wegen der ursprünglich installierten Software im Streitfall auch deshalb aus, weil der in dem Fahrzeug eingebaute Motor zum Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses im Februar 2018 unstreitig nicht mehr mit dieser Software ausgestattet war. Die diesbezügliche Strategieentscheidung des Vorstands der Beklagten (vgl. dazu Senat, Urteil vom 18. Juli 2019 – 17 U 160/18 –, juris Rn. 84 ff.) kann daher nicht mehr als Anknüpfungspunkt einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung herangezogen werden.
53 b) Eine – in diesen Fällen nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich ebenfalls in Betracht kommende (vgl. nur Senat, Urteil vom 18. Juli 2019 – 17 U 160/18 –, juris Rn. 84 mwN; Urteil vom 19. November 2019 – 17 U 146/19 –, juris Rn. 29 mwN) – Haftung der Beklagten aus §§ 831 Abs. 1 Satz 1, 826 BGB scheidet im Streitfall aus den gleichen Gründen aus. Auf die obigen Ausführungen wird Bezug genommen.
54 c) Eine deliktische Haftung der Beklagten wegen Betruges gemäß §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm § 263 Abs. 1 StGB, ist – obschon § 263 Abs. 1 StGB Schutzgesetz iSd § 823 Abs. 2 BGB ist (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2017 – VI ZR 128/16 –, juris) – nicht gegeben (so bereits Senat, Urteil vom 9. Januar 2020 – 17 U 107/19 –, juris Rn. 43 ff.; Urteil vom 9. Januar 2020 – 17 U 133/19 –, juris Rn. 72 ff.). Es mangelt an der Stoffgleichheit (vgl. nunmehr auch BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 17 ff.).
55 d) Schließlich scheidet ein Anspruch aus §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 aus, da es sich hierbei nicht um Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB handelt (so bereits Senat, Urteil vom 9. Januar 2020 – 17 U 107/19 –, juris Rn. 46 ff.; Urteil vom 9. Januar 2020 – 17 U 133/19 –, juris Rn. 75 ff.; nunmehr auch BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 –, juris Rn. 72 ff.; Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 10 ff.).
56 Das gleiche gilt, soweit die Berufung nunmehr auf Art. 4 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 rekurriert, wonach der Hersteller sicherstellt, dass die Typgenehmigungsverfahren zur Überprüfung der Übereinstimmung der Produktion, der Dauerhaltbarkeit der emissionsmindernden Einrichtungen und der Übereinstimmung in Betrieb befindlicher Fahrzeuge beachtet werden, fehlt es ebenfalls an jeglichen Anhaltspunkten dafür, dass die Verordnung dem Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des einzelnen Fahrzeugerwerbers dienen könnte, sodass auch die in der mündlichen Verhandlung vom 3. September 2020 beantragte (II 451) Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zu unterbleiben hat (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, Rn. 12 ff., 16 juris).
57 3. Der Klägerin, die in Bezug auf ihr Fahrzeug keine negativen Auswirkungen durch das Softwareupdate substantiiert behauptet, stehen gegen die Beklagte keine Ansprüche im Hinblick auf Ausgestaltung und Folgen des vor dem Kauf installierten und zuvor von dem KBA freigegebenen Softwareupdates zu. Auch insoweit ergeben sich die geltend gemachten Ansprüche weder aus §§ 826, 31 analog BGB (a)) oder aus §§ 831 Abs. 1 Satz 1, 826 BGB (b)) noch aus §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm § 263 StGB (c)) oder aus §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 (d)).
58 a) Eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 analog BGB wegen Ausgestaltung und Folgen des von dem KBA freigegebenen Softwareupdates scheidet aus.
59 aa) Dabei kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem von der Klägerin monierten sog. „Thermofenster“ um eine nach Europarecht unzulässige Abschalteinrichtung handelt oder ob dieses – wie die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Beklagte behauptet – aus Gründen des Motorschutzes und zum sicheren Betrieb des Fahrzeugs notwendig und daher nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. a) VO (EG) 715/2007 zulässig ist. Ferner bedarf es keiner Entscheidung, ob die von der Klägerin geäußerte Befürchtung, das Softwareupdate könne negative Auswirkungen auf die Emissionswerte, den Kraftstoffverbrauch und die Motorleistung sowie den Verschleiß haben, berechtigt ist.
60 Denn unabhängig von der rechtlichen Zulässigkeit des sog. „Thermofensters“ und der befürchteten Folgen des Softwareupdates für das Fahrzeug kann das Verhalten der Beklagten in Bezug auf die Ausgestaltung und Folgen des Softwareupdates nicht als sittenwidrige vorsätzliche Schädigung bewertetet werden (so – teilweise mit unterschiedlichen Begründungen – auch OLG Nürnberg, Urteil vom 19. Juli 2019 – 5 U 1670/18 –, juris Rn. 38 f.; OLG München, Urteil vom 20. Januar 2020 – 21 U 5072/19 –, juris Rn. 30 ff.; OLG Frankfurt, Urteil vom 22. Januar 2020 – 17 U 31/19 –, juris Rn. 34; OLG Celle, Urteil vom 29. Januar 2020 – 7 U 575/18 –, juris Rn. 49 ff.; OLG Stuttgart, Urteil vom 5. Februar 2020 – 4 U 154/19 – juris Rn. 54 ff.)
61 Das KBA hat nämlich gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 4. April 2016 für das streitgegenständliche Modell bestätigt, dass die in Reaktion auf den Bescheid vom 15. Oktober 2015 entwickelten technischen Maßnahmen (konkret: ein Softwareupdate) geeignet sind, die Vorschriftsmäßigkeit herzustellen. Aus dem vorliegenden Schreiben des KBA ergibt sich, dass es das Softwareupdate auf das Nichtvorhandensein unzulässiger Abschalteinrichtungen überprüft, die vorhandenen Abschalteinrichtungen als zulässig eingestuft und die Einhaltung der zulässigen Schadstoffemissionen sowie die Dauerhaltbarkeit der emissionsmindernden Einrichtungen und die Einhaltung der ursprünglich angegebenen Verbrauchswerte, CO2-Emissionen, Motorleistung, des maximalen Drehmoments und der Geräuschemissionen bestätigt hat. Die Beklagte hat in diesem Zusammenhang bereits erstinstanzlich vorgetragen, dass sie gegenüber dem KBA im Rahmen des Freigabeprozesses die „Strategie“ des Thermofensters offengelegt hat (was im Übrigen der Verordnung (EG) Nr. 692/2008 vom 18. Juli 2008 entspricht, in deren Art. 3 Nr. 9 vorgeschrieben ist, zur Erlangung der EG-Typgenehmigung Angaben zur Arbeitsweise des Abgasrückführungssystems einschließlich seines Funktionierens bei niedrigen Temperaturen nebst Beschreibung etwaiger Auswirkungen auf die Emissionen zu machen), diese von dem KBA geprüft wurde und das KBA diese als zulässig bestätigt hat. Dieser Vortrag blieb erstinstanzlich unstreitig und wurde von der Klägerin auch mit ihrer Berufungsbegründung nicht bestritten, weshalb er gemäß § 529 Abs. 1 ZPO der hiesigen Entscheidung zu Grunde zu legen ist.
62 Bei diesem der Entscheidung zu Grunde zu legenden Sach- und Streitstand kann das Verhalten der Beklagten im Zusammenhang mit dem Softwareupdate nicht als sittenwidrig bewertet werden. Selbst wenn die Feststellungen des KBA unzutreffend wären – dieses also, wie die Klägerin meint, contra legem gehandelt hätte –, durfte die Beklagte auf deren Richtigkeit vertrauen und das Update in den betroffenen Fahrzeugen installieren (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 22. Januar 2020 – 17 U 31/19 –, juris Rn. 34; OLG München, Beschluss vom 29. September 2020 – 8 U 201/20 –, juris Rn. 28 mwN), ohne dass es darauf ankommt, ob sich der Vorstand der Beklagten zur Einführung des sog. Thermofensters entschieden hat, obwohl er – unterstellt – von dessen Unzulässigkeit ausging. Denn die technische Notwendigkeit zur temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung ist in Fachkreisen zumindest teilweise anerkannt, was sich nicht zuletzt aus dem Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur ergibt (vgl. dort S. 18: „Für das so genannte Ausrampen der AGR-Menge in Abhängigkeit von Umgebungstemperatur/Temperatur im Ansaugsammler/Kühlwassertemperatur haben alle befragten Hersteller als Grund das Risiko einer Belagbildung im AGR-System angeführt. Dieses Risiko ist zweifelsfrei vorhanden und ist mit herstellerunabhängigen Forschungsprojekten bestätigt. Die Belag- oder auch Lackbildung kann zu einem Versagen des AGR-Ventils führen und den AGR-Kühler zusetzen.“). Bei dieser Sachlage scheidet eine sittenwidrige vorsätzliche Handlung der Beklagten im Hinblick auf die Verwendung des sog. „Thermofensters“ aus (ähnlich OLG München, Beschluss vom 29. September 2020 – 8 U 201/20 –, juris Rn. 28 mwN).
63 Dass die Feststellungen des Kraftfahrtbundesamts auf falschen Angaben oder Täuschungshandlungen der Beklagten beruhten, was die Sittenwidrigkeit des Handelns der Beklagten begründen könnte (vgl. hierzu OLG Frankfurt, Beschluss vom 25. September 2019 – 17 U 45/19 –, juris Rn. 10 ff.), hat die Klägerin weder erstinstanzlich noch mit ihrer Berufungsbegründung behauptet. Auch ein kollusives Zusammenwirken von KBA und Beklagter, das den Tatbestand des § 826 BGB erfüllen könnte, behauptet die Klägerin nicht.
64 bb) Soweit die Berufung in diesem Zusammenhang unter Hinweis auf die bereits erstinstanzlich vorgelegten Applikationsrichtlinien (Anlage K 4) der Beklagten erneut auf eine im Realbetrieb des konkreten Fahrzeugs angeblich bis zu 4-fache Überschreitung der gesetzlichen Grenzwerte abstellt, um dadurch das Vorhandensein weiterer, von dem sog. Thermofenster unabhängigen unzulässigen Abschalteinrichtungen zu begründen, dringt sie nicht durch.
65 Denn das streitgegenständliche Fahrzeug unterliegt noch nicht dem strengeren, auch den Ausstoß im realen Fahrbetrieb berücksichtigenden Testregime WLTP (Worldwide harmonized Light vehicles Test Procedure) oder RDE (Real Driving Emissions), sondern dem alten NEFZ-Testzyklus. Erwägungsgrund 15 der VO (EG) 715/2007 führt dazu aus:
66 „Die Kommission sollte prüfen, ob der Neue Europäische Fahrzyklus, der den Emissionsmessungen zugrunde liegt, angepasst werden muss. Die Anpassung oder Ersetzung des Prüfzyklus kann erforderlich sein, um Änderungen der Fahrzeugeigenschaften und des Fahrerverhaltens Rechnung zu tragen. Überprüfungen können erforderlich sein, um zu gewährleisten, dass die bei der Typgenehmigungsprüfung gemessenen Emissionen denen im praktischen Fahrbetrieb entsprechen. Der Einsatz transportabler Emissionsmesseinrichtungen und die Einführung des „not-to-exceed“-Regulierungskonzepts (der Hersteller muss gewährleisten, dass sein Fahrzeug in allen Betriebszuständen die Grenzwerte nicht überschreitet) sollten ebenfalls erwogen werden.“
67 Den von der Klägerin postulierten Gleichlauf zwischen den im NEFZ-Prüfzyklus gemessenen und den auf der Straße erreichten Werten sieht der europäische Gesetzgeber für das streitgegenständliche Fahrzeug gerade (noch) nicht vor, sodass ein Rückschluss von einer Grenzwertüberschreitung im Realbetrieb auf die Existenz (auch noch unzulässiger) Abschalteinrichtungen untunlich ist (ebenso LG Stuttgart, Urteil vom 19. Juni 2020 – 19 O 223/19 –, juris Rn. 49 ff.).
68 b) Eine Haftung der Beklagten aus §§ 831 Abs. 1 Satz 1, 826 BGB im Hinblick auf Ausgestaltung und Folgen des Softwareupdates scheidet aus den gleichen Gründen aus. Auf die obigen Ausführungen wird Bezug genommen.
69 c) Eine deliktische Haftung der Beklagten im Hinblick auf Ausgestaltung und Folgen des Softwareupdates wegen Betruges gemäß §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm § 263 Abs. 1 StGB kommt nicht in Betracht. Da die Klägerin das Fahrzeug als Zweitkäufer erworben hat, besteht keine Stoffgleichheit einer etwaigen Vermögenseinbuße des Klägers mit den denkbaren Vermögensvorteilen, die ein verfassungsmäßiger Vertreter der Beklagten (§ 31 BGB) für sich oder einen Dritten erstrebt haben könnte (vgl. nunmehr BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 24). Auf die obigen Ausführungen wird ergänzend Bezug genommen.
70 d) Schließlich scheidet ein Anspruch gegen die Beklagte wegen Ausgestaltung und Folgen des Softwareupdates aus §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 aus, da es sich hierbei nicht um Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB handelt. Auf die obigen Ausführungen (unter Ziff. II.2.d)) wird Bezug genommen.
71 4. Der seitens der Beklagten bestrittene weitere Vortrag der Klägerin, die Beklagte habe nach Installation des Software-Updates in Bezug auf das On-Board-Diagnosesystem (OBD) erneut getäuscht, zeitigt ebenfalls nicht die geltend gemachten Ansprüche aus §§ 826, 31 analog BGB oder aus §§ 831 Abs. 1 Satz 1, 826 BGB bzw. aus §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm § 263 StGB oder aus §§ 823 Abs. 2, 31 analog BGB iVm §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007.
72 a) Unabhängig davon, ob – wie die Klägerin offenbar meint – das OBD selbst überhaupt eine Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 darstellen kann, obwohl es unstreitig die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems selbst weder aktiviert, verändert, verzögert noch deaktiviert (vgl. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007), ist ein auf die Programmierung des OBD gestützter Anspruch ausgeschlossen, soweit dieses im normalen Straßenverkehr sowie im Rahmen der Abgasuntersuchung und der Inspektion keine Fehlfunktion des Abgassystemes anzeigt. Denn wenn – wie hier – die für die Typengenehmigung zuständige Behörde die vorgelegte Software in Kenntnis der darin enthaltenen Abschalteinrichtungen (insbesondere des Thermofensters) auch und gerade im Hinblick auf das dadurch beeinflusste weitere Emissionsverhalten absegnet, muss das OBD dies dergestalt nachvollziehen können, dass die Warnlampe im Realbetrieb gerade nicht schon dann anspringt, wenn die angebliche Grenzwertüberschreitung allein auf nach Ansicht des KBA zulässiges Verhalten zurückzuführen ist. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob – wie von der Klägerin behauptet und von der Beklagten bestritten – „das OBD beim Gasgeben mit der Schließung des AGR-Ventils abgeschaltet und erst beim Last wegnehmen wieder angeschaltet werde“.
73 b) Der erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 3. September 2020 gehaltene (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung, dort S. 2 = II 450) und seitens der Beklagten mit Schriftsatz vom 30. September 2020 bestrittene (II 460) Vortrag zum Vorliegen einer weiteren, nunmehr von der Gaspedalstellung abhängigen Abschalteinrichtung im Update ist unschlüssig.
74 aa) Eine Klage ist schlüssig, wenn der Tatsachenvortrag – seine Richtigkeit unterstellt – geeignet ist, den Klageantrag sachlich zu rechtfertigen. Dabei ist auch dem Kläger ungünstiges Klagevorbringen zu berücksichtigen. Tatsachenvortrag der beklagten Partei kann der klagenden Partei dann zur Begründetheit verhelfen, wenn die klagende Partei diesen Tatsachenvortrag sich zumindest hilfsweise zu eigen macht (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl., vor § 253 Rn. 23).
75 bb) Gemessen an diesen Maßstäben ist der Vortrag zur Existenz der weiteren Abschalteinrichtung unschlüssig.
76 Der Vortrag enthält im Zusammenhang mit der Beschreibung der – wie oben unter a) gesehen irrelevanten – Funktionsweise des OBD erstmals den weiteren Vorwurf, eine Abgasrückführung finde nur im Schubbetrieb, also dann statt, wenn das AGR-Ventil geöffnet sei, nicht hingegen bei unter Last beim Gasgeben geschlossenen AGR-Ventil. Es wird also neben der Ankopplung des überwachenden OBD an die – wie es die Klägerin nennt – Prüfstandserkennung darüber hinausgehend behauptet, die durch das AGR-Ventil und damit ein Hardware-Bauteil (vgl. Schriftsatz vom 6. Oktober 2020, dort S. 14 f. = II 476 f.) gesteuerte Abgasrückführung sei unabhängig von dem sog. Thermofenster lediglich dann angeschaltet, wenn der Fahrer vom Gaspedal gehe (Schubbetrieb). Die Klägervertreter stützen sich zur Untermauerung dieser Behauptung ausschließlich (vgl. Schriftsatz vom 6. Oktober 2020, dort S 14 = II 476 und Bezugnahme im Protokoll vom 3. September 2020, S. 3 = II 451) auf ein (in dem am gleichen Tag mit den gleichen Prozessvertretern verhandelten Parallelverfahren 17 U 670/19 als Anlage BB 3 vorgelegtes) Dokument zur Erläuterung der Funktionsweise des Onboard-Diagnose-Systems („Selbststudienprogramm 231: Euro-On-Board-Diagnose“), aus dem sich ua (auf S. 43) folgendes ergibt:
77 Diese Anlage gibt für den Klägervortrag indes nichts her, verhält sie sich doch nur dazu, von welchen Parametern die OBD-Diagnose abhängig ist; in diesem Zusammenhang findet sich tatsächlich die Variable „Geber für Gaspedalstellung“ und ist davon die Rede, dass die „Diagnose ... nur im Schubbetrieb durchgeführt“ werde, weil ansonsten die Einspritzung des Kraftstoffs die Messung verunklare. Davon, dass auch die Abgasrückführung nur – wie die Klägerin eingangs behauptet – im Schubbetrieb (also ohne Last) angeschaltet werde, liest man dort nichts. Das ist nicht weiter verwunderlich, werden die Emissionen doch während des NEFZ-Prüfzyklusses auch und gerade unter Last gemessen, sodass ein durch das Gasgeben ausgelöstes komplettes Abschalten der Abgasrückführung auf dem Prüfstand aufgefallen wäre. Dementsprechend wird in dem Schriftsatz vom 6. Oktober 2020 (dort S. 14 = II 476) lediglich einschränkend formuliert, „die Unterzeichner [verstünden] die Erläuterung“ so, dass vorgesehen sei, „das OBD – System unter Last, also beim Gasgeben auszuschalten und sobald der Fuß wieder vom Gaspedal geht, springt die OBD – Kontrolle wieder an“.
III.
78 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 516 Abs. 3 Satz 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
79 Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht. Das Berufungsurteil orientiert sich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
80 Gemäß § 63 Abs. 2 GKG war der Streitwert des Berufungsverfahrens festzusetzen.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1G r ü n d e :
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO wegen des geltend gemachten Verfahrensfehlers der Verletzung rechtlichen Gehörs zuzulassen. Einen Gehörsverstoß hat der Kläger nicht dargelegt.
4Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verschafft zum einen den Verfahrensbeteiligten ein Recht darauf, sich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zweckentsprechend und erschöpfend zu erklären sowie Anträge zu stellen. Er verpflichtet zum anderen das Gericht, das entscheidungserhebliche Vorbringen und die Anträge der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und für seine Überzeugungsbildung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Rechtsfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme oder in Nichtberücksichtigung wesentlichen Vorbringens der Beteiligten haben.
5Vgl. Neumann, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 104 ff. m. w. N.
6Dass das Verwaltungsgericht gegen diese Verpflichtung verstoßen haben könnte, zeigt der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen nicht auf. Ihm wurde nicht - wie er meint - rechtliches Gehör dadurch versagt, dass infolge der Ablehnung seines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe die notwendige Teilnahme seines Anwalts am Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht verhindert worden und ihm damit die Möglichkeit der Stellung sachgerechter Beweisanträge genommen sei.
7Allerdings begründet der verfassungsrechtlich verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) das Recht der Beteiligten, an einer im Verwaltungsrechtsstreit stattfindenden mündlichen Verhandlung teilzunehmen und sich dort zu Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern. Dieses Recht umfasst auch die Befugnis, sich in der mündlichen Verhandlung anwaltlich vertreten zu lassen.
8Vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juli 1992
9- 8 C 58.90 -, NJW 1992, 3185 = juris Rn. 6.
10Ein Verfahrensfehler liegt jedoch nur dann vor, wenn die Versagung der Prozesskostenhilfe zu Unrecht erfolgt ist und der Kläger daher in rechtswidriger Weise um die Möglichkeit anwaltlichen Beistandes in der mündlichen Verhandlung gebracht worden ist. Nur in diesem Falle haftet die rechtswidrige Versagung der Prozesskostenhilfe weiterwirkend als Verfahrensfehler der angefochtenen Sachentscheidung an. Dies gilt auch dann, wenn - wie hier - der Prozesskostenhilfebeschluss mit Rechtsmitteln nicht mehr angreifbar ist (vgl. § 80 AsylG).
11Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. März 1999
12- 6 B 121.98 -, NVwZ-RR 1999, 587 = juris Rn. 3 und 11, und vom 23. Oktober 2006 - 6 B 29.06 -, juris Rn. 5 f.; OVG NRW, Beschluss vom 12. März 2008 ‑ 13 A 2643/07.A -, juris Rn. 22; Bay.VGH, Beschluss vom 20. September 2017 ‑ 15 ZB 17.31105 -, juris Rn. 6.
13Durchgreifendes für eine Rechtsfehlerhaftigkeit des die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 24. September 2019 hat der Kläger jedoch nicht dargetan. Die Antragsbegründung zeigt bereits nicht auf, unter welchem rechtlichen Gesichtspunkt die mit der Klagebegründung geltend gemachte Vergewaltigung sowie die schriftsätzliche Anregung, die den Kläger behandelnde Ärztin für Psychotherapie als Zeugin zu der hierdurch ausgelösten Erkrankung und Behandlungsbedürftigkeit des Klägers zu vernehmen sowie „zudem ein Sachverständigengutachten einzuholen“ vom Verwaltungsgericht zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife als entscheidungserheblich hätte angesehen werden müssen.
14Selbst wenn man mit dem Kläger davon ausginge, dass sich die erstmals im Klageverfahren geschilderte Vergewaltigung wie von ihm beschrieben zugetragen hat, und zu seinen Gunsten annähme, dass er aufgrund der erlittenen Misshandlungen traumatisiert ist, mit der möglichen Folge, über das Erlebte kaum oder nur noch selektiv berichten zu können, führte dies nicht auf eine Rechtswidrigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, den Antrag auf Gewährung Prozesskostenhilfe abzulehnen. Der beschriebene Vorfall knüpft ersichtlich nicht an ein asyl- und flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an, sondern ist nach dem Vorbringen des Klägers eine Vergeltungsaktion für eine Bekanntschaft mit einer jungen Frau gewesen, die nach seinem Vorbringen von Familienangehörigen ausging. Ebenso wenig ist dargelegt, dass das Verwaltungsgericht dem Prozesskostenhilfeantrag hätte stattgeben müssen, weil im Zeitpunkt der Bewilligungsreife eine ausreichende Wahrscheinlichkeit für ein Abschiebungsverbot bestanden hätte. Denn auch bei Vorliegen einer auf das Ereignis im Iran zurückzuführenden psychischen Erkrankung, ist nicht ohne weiteres ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründet. Zu den von den Gerichten zu prüfenden weiteren Voraussetzungen für die Annahme eines solchen,
15vgl. schon BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 ‑ 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33, juris Rn. 15 ff., sowie § 60 Abs. 7 Satz 2 bis 4 AufenthG,
16insbesondere den Behandlungsmöglichkeiten im Iran, sowie dazu, wie sich die Erkrankung unter Berücksichtigung der dort allgemein oder speziell für ihn erreichbaren Behandlungsmöglichkeiten prognostisch entwickeln wird, hat der Kläger zu keiner Zeit vorgetragen. Daher kommt es schon nicht darauf an, ob der von ihm im Klageverfahren vorgelegte fachärztliche Bericht vom 19. September 2019 den Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an die Substantiierung eines Sachverständigenbeweisantrags genügt, der das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung betrifft,
17vgl. BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 -, BVerwGE 129, 251, juris Rn. 15,
18und ob der Kläger tatsächlich Opfer einer Vergewaltigung geworden ist.
19Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb dem Kläger im Prozesskostenhilfeverfahren kein sachgerechter Vortrag möglich gewesen sein soll. Der Kläger war im gesamten Klageverfahren anwaltlich vertreten und daher in der Lage, seine Rechte umfassend wahrzunehmen.
20Ebenso wenig verhilft die Rüge einer nicht ordnungsgemäßen Aufklärung des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht (§ 86 Abs. 1 VwGO), soweit sie mit dem Vorbringen auf Seite 9 der Zulassungsbegründung erhoben sein soll, dem Zulassungsantrag zum Erfolg. Aufklärungsmängel begründen grundsätzlich weder einen Gehörsverstoß noch gehören sie zu den sonstigen Verfahrensmängeln im Sinne der § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 VwGO. Nur in Ausnahmefällen kann in der Unterlassung weiterer Aufklärung des Sachverhalts zugleich eine Versagung des rechtlichen Gehörs liegen. Der Kläger legt aber keine Umstände dar, nach denen dies hier der Fall wäre. Das Verwaltungsgericht musste von seinem Rechtsstandpunkt keinen Anlass zu weiterer Aufklärung sehen. Im Übrigen ist nicht dargelegt, welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der unterbliebenen Aufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern das unterstellte Ergebnis zu einer günstigeren Entscheidung hätte führen können.
21Vgl. hierzu BVerwG, Beschlüsse vom 14. Januar 2016 ‑ 7 B 19.15 -, juris, Rn. 4, vom 21. Mai 2014 - 6 B 24.14 -, Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 63, juris, Rn. 11.
22Soweit mit den durch den Kläger erhobenen Einwänden zudem das Ergebnis der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts in Frage gestellt wird, handelt es sich um Fragen des sachlichen Rechts, die keinen Verfahrensfehler zu begründen vermögen. Ein Verfahrensverstoß unter diesem Aspekt kann allenfalls ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn etwa die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen Denkgesetze verstößt oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet.
23BVerwG, Beschluss vom 25. April 2018 ‑ 1 B 11.18 ‑, juris, Rn. 3 m. w. N.
24Einen solchen Fehler zeigt der Zulassungsantrag nicht auf.
25Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
26Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% vorläufig vollstreckbar.
1T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten über die Rückzahlung von Beträgen, die der Kläger im Rahmen von Online-Glückspielen über den Zahlungsdienst der Beklagten eingesetzt haben will.
3Die Beklagte ist als Kreditinstitut in Luxemburg nach Art. 2 des luxemburgischen Gesetzes vom 05.04.1993 zur Regelung der Finanzbranche lizenziert und registriert. Sie wird EU-weit als Bank geführt.
4Der Kläger eröffnete bei der Beklagten vor mehreren Jahren ein Paypal-Konto für Verbraucher, das zunächst unter der E-Mail-Adresse ####@##.## und später unter der E-Mail-Adresse ####@##.## geführt wurde.
5Zwischen der Beklagten und Betreibern von Online-Glücksspielseiten, u.a. bwin.com, bestehen Kooperationsvereinbarungen („Payment Processing Agreements“), die es dem Glücksspielanbieter erlauben, Zahlungen über die Beklagte zu senden und zu empfangen.
6Über sein Paypal-Konto führte der Kläger zumindest Zahlungen an die Betreiberin der Internetseite bwin.com aus, deren Höhe und Anlass im Einzelnen zwischen den Parteien streitig sind.
7Zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt, nachdem der Kläger von der vermeintlichen Illegalität des Online-Glücksspiels erfahren haben will, machte er von seinem Recht Gebrauch, Lastschriften, die sich noch innerhalb der Widerrufsfrist von acht Wochen befunden haben, zu widerrufen. Dadurch buchte der Kläger Lastschriften im Wert von 13.900,00 EUR zurück.
8Mit anwaltlichem Schreiben vom 08.02.2018 forderte der Kläger die Beklagte unter Fristsetzung auf den 27.02.2018 auf, einen Betrag i.H.v. 36.450,13 € zu erstatten.
9Der Kläger behauptet, er habe in dem Zeitraum vom 08.01.2015 bis zum 17.10.2017 über den Zahlungsdienst der Beklagten Zahlungen i.H.v. 43.133,00 € für Online-Glücksspiele bei bwin.com, stargames.com, casinoclub.com und onlinecasino-eu.co geleistet. Dabei habe es sich um Spieleinsätze für verbotenes Online-Glücksspiel gehandelt. Der Kläger sei irrig von der Legalität ausgegangen. Jedoch sei der Beklagten bewusst bzw. für diese erkennbar gewesen, dass es sich um verbotenes Glücksspiel gehandelt habe.
10Der Kläger ist der Ansicht, dass sich aus § 4 Abs. 4 GlüStV ergebe, dass das Veranstalten und Vermitteln von öffentlichem Glücksspiel im Internet verboten sei. Aus § 4 Abs. 1 GlüStV ergebe sich, dass die Mitwirkung an Zahlungen im Zusammenhang mit unerlaubten Glücksspiel verboten sei. Die Beklagte treffe eine Pflicht, die im bargeldlosen Zahlungsverkehr auszuführenden Transaktionen dahingehend zu prüfen, ob diese im Zusammenhang mit illegalem Online-Glücksspiel stehen.
11Der Kläger ist weiter der Ansicht, dass ihm ein Schadensersatzanspruch in der geltend gemachten Höhe zustehe aus dem Zahlungsdienstleistungsvertrag bzw. aus ungerechtfertigter Bereicherung gemäß § 812 Abs. 1 S. 2 BGB. Sein Schaden ergebe sich aus den angewiesenen Zahlungen für das verbotene Glücksspiel abzüglich erhaltener Auszahlungen in Höhe von 11.595,- EUR.
12Nachdem der Kläger vor der mündlichen Verhandlung zunächst beantragt hat, die Beklagte auf Zahlung von 43.133,00 EUR nebst Zinsen zu verurteilen, beantragt er nunmehr,
13die Beklagte zu verurteilen, an ihn 33.854,00 EUR nebst Zinsen aus 33.854,00 EUR in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit dem 28.02.2018 zu zahlen.
14Die Beklagte beantragt,
15 die Klage abzuweisen.
16Die Beklagte bestreitet Pflichtverletzung, Kausalität und Schaden. Sie ist der Ansicht, dass Online-Glückspiel in Deutschland nicht per se verboten sei. Im Übrigen dürfe sie davon ausgehen, dass sich ihre Vertragspartner rechtstreu verhielten. Selbst wenn die Glücksspielanbieter in Deutschland keine Erlaubnis gehabt haben sollten, dürfte dies mangels Offenkundigkeit nicht der Beklagten angelastet werden. Der Schaden sei nicht schlüssig, weil der Kläger nicht dargelegt habe, welche Gewinne und Verluste er mit den Spieleinsätzen gemacht habe.
17Eine Nichtigkeit des Zahlungsdienstrahmenvertrages oder der Autorisierungen sei nicht gegeben. Eine Mitwirkung an Zahlungen könne erst untersagt werden nach vorheriger Bekanntgabe unerlaubter Glücksspielangebote durch die Glücksspielaufsicht. Zudem stehe einem Anspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung jedenfalls der Einwand es § 817 S. 2 BGB entgegen.
18Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
19E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
20Die zulässige Klage ist nicht begründet.
21Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rückzahlung seiner Spieleinsätze – dies weder aus § 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB (dazu unten 1.) oder aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB (dazu unten 2.) noch aus einem sonstigen Rechtsgrund.
221.
23Das Rechtsverhältnis zwischen PayPal und seinen Nutzern ist als Zahlungsdienste-rahmenvertrag gem. § 675 f Abs. 2 Satz 1 BGB und im Sinne des Kapitels 3 der europäischen Zahlungsdienstrichtlinie PSD II zu qualifizieren, der durch eine erfolgreiche Registrierung zustande kommt (Harman, BKR 2018, 457).
24Die Beklagte hat die ihr aus dem Zahlungsdiensterahmenvertrag obliegenden (Schutz-)Pflichten gemäß § 241 Abs. 2 BGB nicht verletzt. Eine solche Pflichtverletzung folgt weder aus dem Abschluss der Kooperationsvereinbarungen mit den entsprechenden Online-Casinos (dazu unten a)) noch aus der Ausführung der konkreten Zahlungsaufträge des Klägers (dazu unten b)). Auch ist es nicht Aufgabe der Beklagten, den Kläger vor der Teilnahme an ggf. verbotenem Glücksspiel zu bewahren (dazu unten c)).
25a)
26Allein der Umstand, dass die Beklagte mit den Betreibern von Online-Glücksspielseiten eine Vertragsbeziehung einging, verletzt keine vertragliche (Schutz-)Pflicht im Verhältnis zum Kläger. Selbst wenn die Vorschrift des § 134 BGB hier zum Tragen käme, bezöge sie sich allein auf das Verhältnis zwischen dem Kläger und dem Glücksspielanbieter. Dass der Kläger ggf. gegenüber den Glücksspielanbietern mangels Vorliegens einer Erlaubnis zum Veranstalten von Casinospielen nach § 134 BGB nicht verpflichtet ist, seine Einsätze zu bezahlen, wirkt sich nicht auf das Anweisungsverhältnis zwischen der Beklagten und dem Kläger aus (vgl. LG Berlin, Urt. v. 16.04.2018, Az. 37 O 367/18).
27Damit ist es ferner unerheblich, ob es sich bei den hier streitgegenständlichen Anbietern um unerlaubtes Glücksspiel handelt. Dies hat auf die Wirksamkeit des Zahlungsdiensterahmenvertrages zwischen dem Kläger und der Beklagten keine Auswirkungen. Durch die Zustimmung zum Zahlungsvorgang erlangt das Vertragsunternehmen einen abstrakten Zahlungsanspruch aus § 780 BGB gegen das Zahlungsdiensteunternehmen. Einwendungen aus dem zugrundeliegenden Vertragsverhältnis zwischen Nutzer und dem Vertragsunternehmen kann der Nutzer dem Zahlungsdiensteunternehmen im Rahmen des Zahlungsdienstvertrags grundsätzlich nicht entgegenhalten (vgl. für Kreditkartenunternehmen: BGH, XI ZR 420/01). Anderes würde nur gelten, wenn offensichtlich und beweisbar ist, dass dem Vertragsunternehmen eine Forderung aus dem Valutaverhältnis gegen den Nutzer nicht zustehen würde. Dagegen spricht aber schon, dass der Kläger die Zahlungen selbst initiiert hat.
28b)
29Auch dass die Beklagte die Zahlungsaufträge des Klägers ausführte, begründet keine Pflichtverletzung. Damit wirkte die Beklagte nicht im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 GlüStV zu Lasten des Klägers am unerlaubten Glücksspiel mit.
30Der Kläger hat die Zahlungen durch Eingabe seiner Paypal-Kundendaten auf den Internetseiten der jeweiligen Glücksspielanbieter selbst veranlasst und autorisiert, so dass die Beklagte aufgrund des zwischen den Parteien bestehenden Zahlungsdiensterahmenvertrages verpflichtet war, diese auszuführen.
31Zwar stellt die Erweiterung in § 4 Abs. 1 S. 2 GlüStV klar, dass auch die Mitwirkung an Zahlungen in Zusammenhang mit unerlaubtem Glücksspiel verboten ist. Allerdings ist nach den Erläuterungen zum Glücksspielstaatsvertrag die Regelung des § 4 Abs. 1 S. 2 im Zusammenhang mit den Überwachungsbefugnissen der Glücksspielaufsicht in § 9 zu sehen und erweitert die Möglichkeiten der Inanspruchnahme Dritter als verantwortliche Störer, soweit sie zuvor auf die unerlaubte Mitwirkung an verbotenem Glücksspiel hingewiesen wurden (Erläuterungen zum GlüStV, Stand: 7. Dezember 2011, S. 17). Die Regelung in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 dient - so die Motive - der Klarstellung und Konkretisierung von § 4 Abs. 1 Satz 2. Danach können die am Zahlungsverkehr Beteiligten, insbesondere die Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute einschließlich E-Geld-Institute (Nr. 4) im Wege einer dynamischen Rechtsverweisung als verantwortliche Störer herangezogen werden, sofern ihnen zuvor die Mitwirkung an unerlaubten Glücksspielangeboten von der Glücksspielaufsichtsbehörde mitgeteilt wurde. Dies setzt voraus, dass der Veranstalter oder Vermittler des unerlaubten Glücksspielangebotes zuvor vergeblich - insbesondere wegen eines Auslandsbezuges - in Anspruch genommen wurde (Erläuterungen zum GlüStV, Stand: 7. Dezember 2011, S. 32; OLG München Verfügung v. 6.2.2019 – 19 U 793/18). Dass die Beklagte vor Begleichung der entstandenen Forderungen einen derartigen Hinweis durch die Glücksspielaufsicht erhalten hätte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
32c)
33Es ist letztlich nicht Aufgabe der Beklagten, den Kläger vor möglicherweise illegalen Zahlungsvorgängen zu schützen und ihn davon abzuhalten.
34Eine Schutzpflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB besteht nicht einfach so, sondern richtet sich immer nach dem Inhalt und der Art des Schuldverhältnisses. Für die Konkretisierung sind die allgemeinen Kriterien – Einwirkungsmöglichkeiten auf die Rechtsgüter der Gegenseite, Zumutbarkeit der Schutzpflichten sowie Grad des wünschenswerten Vertrauens in der entsprechenden Beziehung – heranzuziehen (NK-BGB/Peter Krebs, 3. Aufl. 2016, BGB § 241 Rn. 52). Soweit es um die Aufklärung des anderen Vertragsteils geht, sind auch der Erfahrungs- und Wissensabstand zwischen den Parteien zu berücksichtigen. Eine dementsprechende Prüfungs- oder Warnpflicht ist nicht gegeben. Die Verantwortlichkeit für sein strafbares Verhalten trägt der Kläger selbst.
35Dies ergibt sich bereits aus Z. 1.1 der Nutzungsbedingungen der Beklagten, wo die Beklagte deutlich gemacht hat, dass sie die Dienstleistungen, die der Kläger mithilfe des von der Beklagten angebotenen Services bezahlt, nicht überprüft und keine Haftung hierfür übernimmt. Die Nutzungsbedingungen sind Vertragsbestandteil geworden, da der Kläger auf diese vor Vertragsschluss hingewiesen wurde und die Möglichkeit hatte, diese im Internet aufzurufen.
36Grundsätzlich darf jeder Vertragspartner – mithin auch die Beklagte – darauf vertrauen, dass der andere Teil sich rechtstreu verhält. Dies gilt umso mehr, als dass gemäß Ziffer 9 lit. b) der Nutzungsbedingungen der Beklagten Verstöße gegen geltendes Recht in Zusammenhang mit der Nutzung der Dienstleistung der Beklagten verboten sind. Für die Beklagte bestand deshalb weder eine vertragliche Pflicht noch ein entsprechender Anlass, die Zahlungsanweisungen des Klägers im Einzelnen auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
37Eine Pflicht der Beklagten, zu prüfen, ob die vom Kläger in Auftrag gegebenen Zahlungen im Zusammenhang mit unerlaubtem Glücksspiel erfolgten, ergibt sich auch nicht aus dem Gesetz. Grundsätzlich ist der Zahlungsdienstleister aus dem Rahmenvertrag zur Ausführung von Zahlungsaufträgen verpflichtet. Zwar darf der Zahlungsdienstleister unter bestimmten Voraussetzungen einen Zahlungsauftrag ablehnen. Jedoch führt die Existenz dieses Ablehnungsrechts nicht zu einem Ablehnungsrecht des Zahlungsdienstleisters (BeckOK BGB/Schmalenbach, 51. Ed. 1.8.2019, BGB § 675o Rn. 11). Etwas anderes gilt nach der Rechtsprechung nur dann, wenn offensichtlich ist, dass das Vertragsunternehmen den Zahlungsdienstleister rechtsmissbräuchlich in Anspruch nimmt. Dies liegt aber nur vor, wenn das Vertragsunternehmen seine formale Rechtsposition ersichtlich treuwidrig ausnutzt, also wenn offensichtlich ist, dass ihm eine Forderung aus dem Valutaverhältnis gegen den Nutzer nicht zusteht. Dies ist unter den hier gegeben Umständen nicht der Fall. Dagegen spricht nämlich bereits der Umstand, dass die Zahlung aufgrund einer Anweisung des Klägers erfolgte.
38Darüber hinaus war die Beklagte nicht dazu verpflichtet, den Zahlungsvorgang des Klägers zu überprüfen oder zu überwachen. Irgendwie geartete Schutzpflichten gegenüber Kunden bestehen demnach erst dann, wenn die Bank ohne nähere Prüfung im Rahmen der normalen Bearbeitung eines Zahlungsverkehrsvorgangs aufgrund einer auf massiven Verdachtsmomenten beruhenden objektiven Evidenz Verdacht schöpfen muss (BGH, XI ZR 56/07). Dies ist hier nach Ansicht der Kammer nicht der Fall. Die Beklagte war nicht verpflichtet die genutzten Glücksspielangebote mit der sog. „WHITE-LIST“ der deutschen Bundesländer abzugleichen, um eine evtl. Illegalität zu erkennen. Ein solcher Prüfaufwand geht über die normale Bearbeitung der Zahlungsvorgänge hinaus und oblag der Beklagten gerade nicht. Die Beklagte konnte von einem rechtstreuen Verhalten des Klägers ausgehen und musste nicht mit einem evtl. Verstoß gegen § 285 StGB rechnen (LG München I, Urteil vom 28.02.2018 – 27 O 11716/17).
39Überdies erscheint eine Überprüfung für die Beklagte auch kaum möglich, da jedenfalls nicht erkennbar sein dürfte, ob jedes einzelne vom Kläger wahrgenommene Spiel tatsächlich unerlaubtes Glücksspiel darstellt.
40d)
41Hinzu kommt, dass nicht ersichtlich ist, inwieweit eine etwaige Schutzpflichtverletzung der Beklagten den geltend gemachten Schaden adäquat kausal verursacht haben könnte. Der vermeintliche Schaden wurde nicht etwa durch eine Handlung der Beklagten verursacht, sondern durch einen eigenen Willensentschluss des Klägers. Ein etwaiger Schaden des Klägers könnte rein denklogisch nur darin liegen, dass der Kläger nach der Teilnahme an dem Spiel den von ihm gesetzten Betrag verloren hat. Allein die Aufladung des Spielekontos bei den Glücksspielanbietern führt nach dem unwidersprochenen Vorbringen der Beklagten noch nicht zum Verlust des entsprechenden Geldbetrages. Der Kläger hat sich der Beklagten als Zahlungsdienstleister bedient, um seine Teilnahme an dem Online-Glücksspiel zu finanzieren. Dies stellt zunächst einmal eine eigenverantwortliche Entscheidung des Klägers dar. Dass der Kläger an diesen Spielen nicht teilgenommen hätte, wenn die Beklagte keine Kooperationsvereinbarungen mit den entsprechenden Betreiber der Online-Casinos abgeschlossen hätte, ist weder dargelegt noch wäre eine solche Schlussfolgerung plausibel. Vielmehr erscheint es doch angesichts der Häufigkeit der Spieleinsätze eher lebensfremd anzunehmen, dass der Kläger sich dann nicht eines anderen Zahlungsmittels bedient hätte. Gegenteiliges ist jedenfalls nicht plausibel vorgetragen.
422.
43Entgegen der Ansicht des Klägers besteht auch kein Anspruch aus Bereicherungsrecht gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 BGB. Der Kläger hat nicht dargelegt und bewiesen, dass die Beklagte etwas ohne Rechtsgrund erlangt hat.
44Das Verhältnis zwischen der Beklagten und dem Kläger ist geregelt durch den Zahlungsdiensterahmenvertrag. Entgegen der Ansicht des Klägers ist dieser Vertrag nicht nichtig gemäß § 134 BGB, da dieser als solcher schon gegen kein gesetzliches Verbot verstößt (OLG München Verfügung v. 6.2.2019 – 19 U 793/18).
45Ein Rechtsgeschäft ist nichtig, wenn es gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. Ein solches Verbotsgesetz liegt nicht vor. Zwar ist gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 GlüStV auch die Mitwirkung an Zahlungen im Zusammenhang mit unerlaubtem Glücksspiel verboten. Die Beklagte hat diese Zahlungen auch getätigt. Es ist allerdings nicht Aufgabe der Beklagten, die Legalität etwaiger Zahlungen zu überprüfen (vgl. für Kreditkartenunternehmen: BGH XI ZR 96/11). Nach § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 GlüStV ist dies vielmehr Aufgabe der Glückspielaufsicht des jeweiligen Bundeslandes. Die Glückspielaufsicht hat dem mitwirkenden Kreditunternehmen unerlaubte Glücksspielangebote bekannt zu geben. Erst dann dürfen seitens der Glücksspielaufsicht Maßnahmen gegenüber dem Kreditunternehmen getätigt werden und die Mitwirkung an unerlaubtem Glücksspiel untersagt werden. Eine derartige Bekanntgabe der Glücksspielaufsicht an die Beklagte hat der Kläger nicht dargelegt. Da die Voraussetzungen der Mitwirkung an Zahlungen am unerlaubtem Glücksspiel nicht vorliegen, verstoßen die Zahlungsausführungen der Beklagten nicht gegen den Glücksspielstaatsvertrag und sind somit nicht nichtig nach § 134 BGB (LG Berlin, Urteil vom 16.04.2019 – 37 O 367/18).
46Auch die Autorisierungen sind aus den vorstehenden Erwägungen nicht nichtig gemäß § 134 BGB i.V.m. § 4 I S. 2, IV GlüStV. Die Nichtigkeit ergibt sich insbesondere nicht aus § 4 Abs. 1 S. 2 GlüStV(s.o.). Durch diese Regelung soll nicht in dem zwischen dem Spieler, hier dem Beklagten, und der Klägerin bestehenden Zahlungsverkehr eingegriffen werden. Nach dem Sinn und Zweck des GlüStV soll das Verbot sicherstellen, dass die zuständige Glücksspielaufsicht im Rahmen ihrer Befugnisse auch gegenüber Dritten vorgehen kann. Wie oben erwähnt, darf die Glücksspielaufsicht aber erst Maßnahmen gegenüber Zahlungsdienstleistern, wie auch der Beklagten, tätigen, wenn diesen die Mitwirkung im unerlaubten Glücksspiel untersagt wurde. Überdies ist der Schutzzweck gem. § 1 des GlüStV, das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken und sicher zu stellen, dass u.a. die mit Glücksspielen verbundene Folge und Begleitkriminalität abgewehrt wird. Dieses Ziel wird geradezu torpediert, wenn davon auszugehen wäre, dass eine Nichtigkeit der Autorisierung von Zahlungsvorgängen vorläge. Dann würde das in der Regel gutgläubige Kreditinstitut auf den Aufwendungen sitzenbleiben und dem Spieler sozusagen ein Freibrief erteilt, weil der verspielte Einsatz sogleich von der Bank erstattet würde und der Spieler keine finanziellen Einbußen oder Risiken eingehen würde. Der Spieler könnte unter diesen Umständen Glücksspiel ohne jegliches finanzielles Risiko ausführen. Es könnte vielmehr ein bösgläubiger Teilnehmer am Glücksspiel, der sich letztendlich nach § 285 StGB strafbar macht, gutgläubige Zahlungsinstitute für rechtswidrige Aktivitäten einspannen (LG Berlin a.a.O.).
47Die Kammer geht somit davon aus, dass die Autorisierungen des Klägers, welche streitgegenständliche Glücksspielumsätze betreffen, wirksam und nicht nichtig sind. Die Beklagte musste gem. §§ 675 f Abs. 2 S. 1, 675 o Abs. 2 BGB den Zahlungsvorgang entsprechend den Anweisungen des Klägers ausführen. Die Beklagte konnte die Ausführungen der Zahlungen auch nicht gem. § 675 o Abs. 2 BGB verweigern. § 675 o Abs. 2 BGB gibt der Klägerin ein Recht, die Ausführung eines autorisierten Zahlungsauftrags abzulehnen. Es resultiert daraus keine Pflicht, den Zahlungsauftrag abzulehnen, noch dazu, wenn wie hier, die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 GlüStV nicht vorliegen, die Beklagte eben nicht von der Glücksspielbehörde in Kenntnis gesetzt wurde.
48Ungeachtet dessen, stünde einem etwaigen Rückforderungsanspruch des Klägers die Regelung des § 817 BGB entgegen, wonach bei beiderseitigem Gesetzesverstoß die Rückforderung ausgeschlossen ist. Unterstellt, der Zahlungsdiensterahmenvertrag wäre wegen Verstoßes gegen § 4 GlüStV nichtig, würde den Kläger dieser Verstoß gleichermaßen treffen. Den Vortrag des Klägers unterstellt, wäre seine Teilnahme an öffentlichem Glücksspiel gemäß § 285 StGB unter Strafe gestellt.
493.
50Weitere Ansprüche, insbesondere solche aus Deliktsrecht gemäß § 823 Abs. 1 oder Abs. 2 i.V.m den Regelungen des Glücksspielstaatsvertrages scheitern aus den vorstehenden Erwägungen ebenfalls. Der Beklagten ist keine schuldhafte Rechtsgutsverletzung zum Nachteil des Klägers vorzuwerfen.
51Die Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 14.10 2019 und vom 17.10.2019 gaben keinen Anlass, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen, ebenso wenig die Ausführungen der Beklagten im Schriftsatz vom 24.10.2019.
52Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei;
außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1Gründe:
2Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
3Das Verwaltungsgericht ist - unabhängig davon, dass der Kläger bisher die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche Formblatt-Erklärung zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nebst geeigneten Nachweisen nicht vorgelegt hat (vgl. § 166 VwGO i. V. m. §§ 114 Abs. 1, 117 Abs. 2 und 4 ZPO) -jedenfalls zu Recht davon ausgegangen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung des Klägers nicht die von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorausgesetzte hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
4Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance indes nur eine entfernte ist.
5Ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa: Beschlüsse vom 31. Januar 2019 - 12 E 1025/17 -, juris Rn. 4, vom 26. Januar 2012 - 12 E 21/12 -, vom 28. September 2010 - 12 E 546/10 - und vom 10. August 2009 - 12 E 858/09 -.
6Letzteres ist hier der Fall. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger keinen Anspruch auf Erlass seiner bestehenden Darlehensschuld hat und ein solcher insbesondere nicht aus § 18 Abs. 12 Satz 1 BAföG in der seit dem 16. Juli 2019 geltenden Fassung folge. Nach dieser Vorschrift ist Darlehensnehmenden, die während des Rückzahlungszeitraums nach Absatz 3 Satz 1 ihren Zahlungs- und Mitwirkungspflichten jeweils rechtzeitig und vollständig nachgekommen sind, die verbleibende Darlehensschuld zu erlassen. Nach § 18 Abs. 3 Satz 1 BAföG sind die Darlehen - vorbehaltlich des Gleichbleibens der Rechtslage - in gleichbleibenden monatlichen Raten von mindestens 130 Euro innerhalb von 20 Jahren zurückzuzahlen. Aus den überzeugenden Gründen im angefochtenen Beschluss, auf die der Senat Bezug nimmt, kann der Verweis in § 18 Abs. 12 Satz 1 BAföG auf den "Rückzahlungszeitraum nach Absatz 3 Satz1" sowohl nach dem Sprachverständnis als auch nach dem eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers zweifelsfrei nur dahingehend ausgelegt werden, dass es auf die Erfüllung der Zahlungs- und Mitwirkungspflichten in dem Zeitraum ankommt, in dem die Verpflichtung zur Rückzahlung in monatlichen Raten besteht, und nicht auf einen mit Ablauf der Förderung oder der Förderungshöchstdauer beginnenden Zeitraum von 20 Jahren. Die Vorschrift betrifft den Erlass der nach Ablauf der nach der Neufassung des BAföG generell maximalen Rückzahlungsdauer von 20 Jahren verbleibenden Restschuld.
7Vgl. BT-Drucks. 19/8749 S. 38 f.
8Die Rückzahlungsdauer richtet sich - wie auch schon nach der bis zum 15. Juli 2019 geltenden Fassung (§ 18 Abs. 3 Satz 3 BAföG a. F.) - nach dem für die Rückzahlung gesetzlich vorgesehenen Fälligkeitszeitpunkt (nunmehr Absätze 4 bis 6) und endet spätestens mit Ablauf von 20 Jahren ab diesem Zeitpunkt; die in § 18a Abs. 5 BAföG a. F. vorgesehene und ebenfalls an das Bestehen von Rückzahlungspflichten anknüpfende Möglichkeit der Hemmung der Frist durch Freistellungszeiten um bis zu 10 Jahre ist entfallen. Vor allem in diesem Zeitraum kommen Verstöße gegen die im Rückzahlungsverfahren (vgl. § 18 Abs. 12 Satz 3 BAföG) bestehenden Zahlungs- und Mitwirkungspflichten in Betracht, die zu einem Ausschluss des Anspruchs auf Restschulderlass führen können; in der Karenzzeit davor muss der Darlehensempfänger nur der Verpflichtung nachkommen, jede Änderung der Wohnanschrift und des Familiennamens mitzuteilen (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 DarlehensV).
9Mit Blick auf die Begrenzung der im Rückzahlungszeitraum fortbestehenden Möglichkeit, bei geringem Einkommen eine vollständige oder teilweise Freistellung nach § 18a BAföG zu beantragen, wird der Kläger durch die Anknüpfung an den Zeitraum, in dem eine Rückzahlungspflicht besteht, auch nicht unzumutbar belastet. Sofern er bis zum Ablauf des hier gemäß § 18 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BAföG im April 2005 beginnenden und im Jahr 2025 endenden Rückzahlungszeitraums seine Zahlungs- und Mitwirkungspflichten erfüllt, was bei fristgerecht beantragten und ihm zustehenden Freistellungen der Fall sein kann, wird ihm die dann bestehende Restschuld zu erlassen sein.
10Die Kostenentscheidung folgt aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO sowie aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
11Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Der Grunderwerbsteuerbescheid vom 19.06.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.02.2018 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Des Urteils wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Tatbestand
1Streitig ist, ob die Voraussetzungen des § 3 Nr. 3 Grunderwerbsteuergesetz (GrEStG) vorliegen.
2Der am 25.05.1998 verstorbene Vater der Klägerin, Herr I. O., war Alleineigentümer eines bebauten Grundstücks in der I-Straße 8 in T-Stadt (eingetragen beim Amtsgericht I-Stadt im Grundbuch von C-Stadt, Gebäude- und Freifläche in Größe von 781 m² – nachfolgend auch Grundstück genannt –). Er wurde von seiner am 26.11.2016 nachverstorbenen Ehefrau, Frau J. O., zu ½ Anteil sowie von seinen beiden Kindern, der Klägerin und ihrer Schwester, Frau N. O., zu je ¼ Anteil beerbt. Frau J. O. wurde zu je ½ von ihren beiden Töchtern, der Klägerin und ihrer Schwester beerbt. Die Klägerin und ihre Schwester waren somit über die Erbengemeinschaft nach ihrem Vater und der (Unter-)Erbengemeinschaft nach ihrer Mutter im wirtschaftlichen Ergebnis zu je ½ an dem Grundstück beteiligt.
3In einer notariellen Vereinbarung vom 08.06.2017 schlossen die Klägerin und ihre Schwester einen Teilerbauseinandersetzungs- und Übertragungsvertrag. Unter § 2 (Aufhebung der Erbengemeinschaft, Bruchteilsgemeinschaft) bewilligten und beantragten sie „zum Zwecke der Teilerbauseinandersetzung die Aufhebung der Erbengemeinschaft nach den verstorbenen Eltern und die Umwandlung des bestehenden Gesamthandseigentums in Bruchteilseigentum zu den der Erbquote entsprechenden Berechtigungsbruchteilen und die Eintragung im Grundbuch“. Die Bruchteilseigentumsverhältnisse stellten sich wie folgt dar: Schwester der Klägerin: ½ - Anteil aus Erbfolge, Klägerin: ½-Anteil aus Erbfolge. Weiter vereinbarten sie unter § 3 (Erbauseinandersetzung und Übertragung) die Übertragung des ½-Anteils aus der Erbfolge an dem Grundstück von der Schwester der Klägerin auf die Klägerin gegen Zahlung einer Gegenleistung i.H.v. 31.500 EUR. Im Ergebnis sollte damit die Klägerin gegen Ausgleichzahlung an ihre Schwester alleinige Eigentümerin des Grundstücks werden. Unter § 6 (Auflassung) erklärten die Vertragsparteien die Auflassung in der Art, dass der ½-Anteil der Schwester der Klägerin aus der Erbfolge an dem Grundstück auf die Klägerin als Eigentümerin übergeht. Zugleich bewilligten und beantragten sie die Eintragung der Eigentumsänderung im Grundbuch. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Urkunde vom 08.06.2017 (UR-Nr. 286/2017 des Notars Dr. X, T-Stadt) Bezug genommen.
4Mit Bescheid vom 19.06.2017 setzte der Beklagte gegenüber der Klägerin Grunderwerbsteuer i.H.v. 2.047 EUR (6,5 % von 31.500 EUR) im Hinblick auf den Erwerb des hälftigen Anteils an dem Grundstück fest.
5Der Klägerin legte Einspruch ein und machte geltend, der Erwerb des Anteils an dem Grundstück sei nach § 3 Nr. 3 GrEStG steuerfrei. Sie, die Klägerin, und ihre Schwester seien Miterben geworden und die Übertragung des zum Nachlass gehörenden Grundstücks sei zur Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft erfolgt. Soweit der Beklagte im Verlauf des Einspruchsverfahrens auf das Urteil des Finanzgerichts (FG) Rheinland-Pfalz vom 16.04.2015 (4 K 1380/13) verwiesen habe, betreffe dieser Fall einen anderen Sachverhalt. In dem dort entschiedenen Fall habe zwischen der Erbauseinandersetzung mit Begründung von Bruchteilseigentum und dem grunderwerbsteuerauslösenden Erwerb von Miteigentumsanteilen ein Zeitraum von mehreren Jahren gelegen. Zudem sei die Bruchteilsgemeinschaft in das Grundbuch eingetragen worden. Im Streitfall liege mit der notariellen Urkunde vom 08.06.2017 dagegen ein einheitliches Vertragswerk vor, welches eindeutig den Grundstückserwerb zur Teilung des Nachlasses zum Gegenstand gehabt habe. Die Begründung des Bruchteilseigentums sei hierfür lediglich ein notwendiger Zwischenschritt. Dabei sei es nie beabsichtigt gewesen, diese Bruchteile ins Grundbuch einzutragen. Bereits mit der Übertragung des Anteils gemäß § 3 der notariellen Urkunde sei die Bruchteilsgemeinschaft an dem Grundstück obsolet geworden.
6Am 02.08.2017 erfolgte sodann die Eintragung der Klägerin als Alleineigentümerin des Grundstücks im Grundbuch. Bis dahin war noch ihr Vater als Eigentümer des Grundstücks eingetragen. Eine Zwischeneintragung der Erbengemeinschaften oder des hälftigen Miteigentums erfolgte nicht.
7Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 15.02.2018 als unbegründet zurück. Gemäß § 3 Nr. 3 S. 1 GrEStG sei nur der Erwerb eines zum Nachlass gehörenden Grundstücks durch Miterben zur Teilung des Nachlasses von der Besteuerung ausgenommen. Der notariell beurkundete Vertrag vom 08.06.2017 regele aber zwei gesondert zu betrachtende Rechtsvorgänge. Mit § 2 des Vertrages sei zunächst eine Teilerbauseinandersetzung durch die Begründung von Bruchteilseigentum an dem Grundstück erfolgt. Auf diesen Vorgang finde § 3 Nr. 3 S. 1 GrEStG Anwendung. Der sodann unter § 3 der notariellen Urkunde vereinbarte Erwerb des Bruchteilseigentums durch die Klägerin unterliege seinerseits gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG der Grunderwerbsteuer. Die Befreiungsvorschrift nach § 3 Nr. 3 S. 1 GrEStG finde hierauf keine Anwendung mehr, da das Bruchteilseigentum an dem Grundstück nicht mehr zum Nachlass gehöre und die Übertragung des Bruchteilseigentums nicht mehr der Teilung des Nachlasses gedient habe. Dies gelte auch dann, wenn die Aufteilung in Bruchteilseigentum von vornherein nur eine Zwischenlösung habe sein sollen und bei beiden Rechtsvorgängen Personenidentität bestehe. Dass beide Rechtsvorgänge – Erbauseinandersetzung durch Begründung von Bruchteilseigentum und Erwerb von Bruchteilseigentum – in einem Vertrag vereinbart worden seien, sei nicht von Bedeutung. Es handele sich um zwei gesondert zu betrachtende Rechtsvorgänge. Auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21.11.1974 (II R 19/68) und das des FG Rheinland-Pfalz vom 16.04.2015 (4 K 1380/13) werde ergänzend hingewiesen.
8Die Klägerin hat Klage erhoben. Sie hält an ihrer bisher vertretenen Auffassung fest. Sie macht geltend, die Erbauseinandersetzung und die Übertragung des Miteigentumsanteils seien in einem einheitlichen Vertragswerk erfolgt. Dabei habe das Grundstück zum Zeitpunkt der Übertragung des Miteigentumsanteils gemäß § 3 des Vertrages noch zum Nachlass gehört, da die Auseinandersetzung einer Erbengemeinschaft erst mit Eintragung der Miteigentümer im Grundbuch vollzogen werde. Dies sei vorliegend im Hinblick auf das Bruchteilseigentum nicht erfolgt. Ferner ergebe sich aus dem notariellen Vertrag eindeutig die Absicht der Vertragsparteien, das Grundstück zur Teilung des Nachlasses auf sie, die Klägerin, zu übertragen.
9Die Begründung des Bruchteilseigentums sei zivilrechtlich notwendige Voraussetzung für die Erbauseinandersetzung gewesen, da die Schwester der Klägerin über ihren Miterbenanteil an dem Grundstück nach § 2033 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht habe verfügen können, sondern nur über einen Miteigentumsanteil.
10Ferner sei § 6 GrEStG zu berücksichtigen. Die Umwandlung von Gesamthandseigentum des Bruchteilseigentums sei bereits nach § 6 GrEStG steuerfrei. § 3 Nr. 3 GrEStG finde dementsprechend bei der Übertragung des Bruchteilseigentums Anwendung.
11Die Klägerin beantragt,
12den Grunderwerbsteuerbescheid vom 19.06.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.02.2018 aufzuheben.
13Der Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Unter Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung führt der Beklagte wiederholend und vertiefend aus, dass die Befreiungsvorschrift des § 3 Nr. 3 S. 1 GrEStG vorliegend keine Anwendung finde, da das Grundstück zum Zeitpunkt des Erwerbes durch die Klägerin nicht mehr zum ungeteilten Nachlass gehört habe. Bereits mit der Begründung einer Gemeinschaft nach Bruchteilen gemäß § 2 des notariellen Vertrages sei das Grundstück aus dem Nachlass ausgeschieden. Mit dem Ausscheiden des Grundstücks sei die Steuerbefreiung des § 3 Nr. 3 GrEStG verbraucht worden. Die Befreiungsvorschrift könne daher nicht nochmals auf die anschließende Übertragung des hälftigen Miteigentumsanteils auf die Klägerin Anwendung finden. Bei dem notariell beurkundeten Vertrag vom 08.06.2017 handele es sich auch nicht um einen einheitlichen Vertrag, sondern um zwei getrennt zu betrachtende Rechtsvorgänge. Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Begründung der Gemeinschaft nach Bruchteilen und der Beendigung der Bruchteilsgemeinschaft durch Übertragung des Miteigentumsanteils sei insoweit unbeachtlich. Für die beiden Vertragsbestandteile sei auch kein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis – etwa in Form einer Bedingung – vereinbart worden.
16Soweit die Klägerin sich zur Begründung ihrer Ansicht im Hinblick auf ein einheitliches Vertragswerk auf das Urteil des Sächsischen Finanzgericht vom 25.06.2003 (6 K 1025/00) beziehe, sei die Übertragung der dortigen Grundsätze auf den Streitfall nicht möglich. Ferner überzeuge das Urteil nicht.
17§ 6 GrEStG sei im Streitfall nicht einschlägig. Der Übergang des Grundstücks vom Gesamthandseigentum der Erbengemeinschaft in Bruchteilseigentum der beiden Schwestern sei bereits aufgrund von § 3 Nr. 3 S. 1 GrEStG vollständig von der Grunderwerbsteuer befreit gewesen. Für die Anwendung von § 6 GrEStG sei daher bei der Begründung des Bruchteilseigentums kein Raum mehr. Für den anschließenden Erwerb des Miteigentumsanteils an dem Grundstück durch die Klägerin greife weder § 3 Nr. 3 S. 1 noch § 6 GrEStG.
18Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
19Die Klage, über die der Senat gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und begründet. Der angefochtene Grunderwerbsteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 FGO). Der Erwerb des Grundstücks zu Alleineigentum der Klägerin war nach § 3 Nr. 3 S. 1 GrEStG steuerfrei.
20Gemäß § 3 Nr. 3 S. 1 GrEStG ist der Erwerb eines zum Nachlass gehörigen Grundstücks durch Miterben zur Teilung des Nachlasses von der Besteuerung ausgenommen. Der Klägerin und ihre Schwester waren Miterben nach ihrem verstorbenen Vater und ihrer verstorbenen Mutter. Das Grundstück gehörte zivilrechtlich bis zur Eintragung der Eigentumsänderung im Grundbuch zum Nachlass. Der Erwerb durch die Klägerin erfolgte zudem zur Teilung des Nachlasses, weil das Grundstück auch grunderwerbsteuerlich noch zum Nachlass gehörte. Dabei ist entgegen der Ansicht der Klägerin nicht von Bedeutung, dass die Bildung von hälftigem Miteigentum an dem Grundstück nach § 6 Abs. 1 GrEStG steuerfrei gewesen wäre. Dieser Umstand zwingt nicht zu der Annahme, dass § 3 Nr. 3 GrEStG auf die danach vorgenommene Übertragung des Miteigentumsanteils Anwendung finden müsste (vgl. BFH Urteil vom 07.02.2001 II R 5/99, BFH/NV 2001, 938). Entscheidend ist vielmehr, dass die unter § 2 und § 3 des Vertrags getroffenen Vereinbarungen als Bestandteile eines Gesamtvertrags anzusehen sind.
21Nach der Rechtsprechung des BFH gehört ein Vermögensgegenstand, wenn mehrere Erben vorhanden sind, nur solange zum Nachlass, als er den Erben in dieser Eigenschaft in gesamthänderischer Verbundenheit zusteht. Wird die gesamthänderische Bindung etwa durch die Umwandlung in Bruchteilseigentum i.S.d. §§ 741 ff., 1008 ff. BGB gelöst, so verliert der Gegenstand seine Eigenschaft als Teil des Nachlasses. Eine Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 3 GrEStG kommt in einem solchen Fall auch dann nicht in Betracht, wenn die Miterben die Bildung von Bruchteilseigentum nur als vorläufige Maßnahme ansahen und von Anfang an die Absicht hatten, durch spätere Vereinbarung die Eigentumsverhältnisse abweichend zu gestalten, wenn also das Bruchteilseigentum nur als Zwischenlösung auf dem Weg zur endgültigen Auseinandersetzung (etwa durch den Erwerb von Alleineigentum) gewollt war (BFH Urteil vom 28.04.1954 II 186/53 U, BStBl. III 1954, 176; BFH Urteil vom 21.11.1974 II R 19/68, BStBl. II 1975, 271; BFH Urteil vom 07.02.2001 II R 5/99, BFH/NV 2001, 938). Vorliegend wurde tatsächlich kein Bruchteilseigentum an dem Grundstück gebildet. Voraussetzung hierfür wäre neben der dinglichen Einigung (Auflassung) eine Eintragung der Klägerin und ihrer Schwester als Miteigentümerinnen im Grundbuch gewesen. An einer solchen Eintragung fehlt es. Vielmehr wurde die Klägerin ohne Zwischenschritt als Alleineigentümerin nach ihrem verstorbenen Vater eingetragen. Festhalten lässt sich dementsprechend, dass das Grundstück sich auch nach Abschluss der notariellen Vereinbarung am 08.06.2017 noch im Gesamthandseigentum der Erbengemeinschaft befand.
22Der Beklagte stellt daher in seiner Einspruchsentscheidung nicht auf den (dinglichen) Vollzug der Erbauseinandersetzung, sondern auf die (schuldrechtliche) Verpflichtung zur Bildung von Bruchteilseigentum ab. Der Beklagte geht insoweit zutreffend davon aus, dass bereits darin, dass sich die Klägerin und ihre Schwester in § 2 der notariellen Urkunde zur Bildung von Bruchteilseigentum verpflichtet haben, grunderwerbsteuerliche Erwerbsvorgänge liegen. Nach Ansicht des Beklagten sind diese Erwerbsvorgänge nach § 3 Nr. 3 GrEStG steuerfrei mit der Folge, dass der Befreiungstatbestand hierdurch verbraucht ist (in diesem Sinne FG Rheinland-Pfalz Urteil vom 16.04.2015 4 K 1380/13, EFG 2015, 1295, wobei hier der Auseinandersetzungsvertrag dinglich umgesetzt wurde). Allerdings setzt ein solcher „Verbrauch“ voraus, dass die an sich grunderwerbsteuerlich zu berücksichtigende Auseinandersetzungsvereinbarung und die darauffolgend vereinbarte Grundstücksübertragung nicht als untrennbare Bestandteile eines Gesamtvertrags zu verstehen sind. Ist dies doch der Fall, so unterfällt der Gesamtvertrag der Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 3 GrEStG. Eine solche Gesamtvereinbarung liegt hier vor. Nach der Rechtsprechung des BFH kann eine Zusammenschau zweier Unterabschnitte eines Vertrags geboten sein; denn der Vertrag kommt – mit seinen verschiedenen Unterabschnitten – zum selben Zeitpunkt (mit der letzten Unterschrift) rechtswirksam zustande. Die Bindungswirkung der Vereinbarungen tritt zeitgleich ein. Wenn zudem ein innerer Zusammenhang zwischen den beiden Erwerbsvorgängen besteht, ist davon auszugehen, dass der eine Teil des Rechtsgeschäfts nicht ohne den anderen vorgenommen worden wäre und daher ein einheitlicher Vertrag vorliegt (BFH Urteil vom 15.12.1972 II R 123/66, BStBl. II 1973, 363: im Nachlass befindliches Grundstück als Gegenleistung für die Übertragung des anderen Erbteils; vgl. auch Sächsisches FG Urteil vom 25.06.2003, 6 K 1625/00, EFG 2003, 1567 mit zustimmender Anmerkung Fumi: Bildung von Miteigentum und anschließende Teilungserklärung nach § 3 WEG als einheitliches Rechtsgeschäft). Die Klägerin und ihre Schwester beabsichtigten, die Erbengemeinschaft (im Hinblick auf das Grundstück) dadurch zu beenden, dass die Klägerin Alleineigentümerin des Grundstücks wird. Als Gegenleistung sollte die Klägerin ihrer Schwester einen Ausgleichsbetrag in Höhe von 31.500 EUR zahlen. Dabei waren sich die Schwestern einig, dass der Verkehrswert des bebauten Grundstücks 63.000 EUR und der des hälftigen Anteils somit 31.500 EUR betrug. Zwar haben die Klägerin und ihre Schwester in § 2 der notariellen Urkunde vom 08.06.2017 zunächst die (Teil-) Aufhebung der Erbengemeinschaft vereinbart, sich über die Bildung von Bruchteilseigentum geeinigt und eine entsprechende Eintragung in das Grundbuch bewilligt und beantragt. Dieser Teil des Vertrags diente allerdings ersichtlich nur der Vorbereitung der Erbauseinandersetzung in der Art, dass die Klägerin gegen Wertausgleich Alleineigentümerin des in Rede stehenden Grundstücks werden sollte. Dies ergibt sich daraus, dass die Bildung von Bruchteilseigentum im weiteren Vertragstext, insbesondere, was die dingliche Umsetzung angeht, nicht weiter verfolgt wird. Die Auflassung in § 6 der Urkunde bezieht sich ausschließlich und unmittelbar darauf, dass sich die Klägerin und ihre Schwester darüber einig waren, dass der hälftige Anteil der Schwester auf die Klägerin als Eigentümerin übergeht. Nur hierauf bezieht sich auch die grundbuchrechtliche Erklärung in § 6 der Urkunde. Die Eintragung von Bruchteilseigentum in das Grundbuch wurde gegenüber dem Grundbuchamt tatsächlich nicht beantragt. Dementsprechend wurden die Klägerin und ihre Schwester nicht – auch nicht zwischenzeitlich – als Miteigentümerinnen im Grundbuch eingetragen, sondern allein die Klägerin als Alleineigentümerin. Darüber hinaus besteht – entgegen der Auffassung des Beklagten – ein innerer Zusammenhang zwischen den in § 2 und § 3 des Vertrags getroffenen Vereinbarungen. Dies folgt aus der Interessenlage der Vertragsparteien: Die Klägerin wollte Alleineigentümerin der Grundstücks werden und war bereit, ihrer Schwester hierfür 31.500 EUR zu zahlen. Die Schwester der Klägerin war an dieser Gegenleistung interessiert und bereit, hierfür ihre Mitberechtigung an dem Grundstück aufzugeben. Demgegenüber waren weder die Klägerin noch ihre Schwester daran interessiert, hälftige Miteigentümerinnen des Grundstücks zu werden. Die – gedankliche – Bildung von Bruchteilseigentum war lediglich vorbereitender Zwischenschritt. Dabei ist unerheblich, dass es – anders als die Klägerin meint – durchaus möglich gewesen wäre, dass ihr die Erbengemeinschaft das Grundstück zu Alleineigentum überträgt. Entscheidend ist, dass die Klägerin und ihre Schwester die notarielle Vereinbarung nicht unterzeichnet hätten, wenn es nur um die Bildung von Miteigentum gegangen wäre, die Klägerin das Grundstück also nicht zeitgleich zu Alleineigentum erworben und die Schwester der Klägerin keinen Anspruch auf Zahlung der Gegenleistung von 31.5000 EUR erlangt hätte.
23Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
24Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
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Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit den zu Grunde liegenden Feststellungen – ausgenommen von der Aufhebung sind die Feststellungen zur Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung – aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Rechtsmittels – an das Amtsgericht Lippstadt zurückverwiesen.
Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird verworfen.
1Gründe
2I.
3Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 320 Euro verurteilt. Das Amtsgericht hat folgende Feststellungen zur Tat getroffen:
4„Am 23.04.2019 um 11:31 Uhr befuhr der Betroffene mit dem PKW der Marke C (amtliches Kennzeichen ##-## ####) innerorts in B die ihm bekannte L ###, B3-Allee, in Fahrtrichtung B2. Mit ihm im Pkw war als Beifahrer der Zeuge P. Beide beabsichtigten, zum Forstamt T2 zu fahren, um dort einen Termin zu einer Jagdvorbereitung wahrzunehmen. Sie fuhren daher in Richtung der Autobahn.
5Die vom Betroffenen befahrene Straße führt hinunter ins Tal, am tiefsten Punkt besteht keine Bebauung, in Höhe des Anstiegs folgt dann wieder Wohnbebauung. Am tiefsten Punkt der Fahrstrecke ist rechts und links der Fahrbahn Ackerfeld. Als der Betroffene diesen Punkt erreicht hatte, wechselte plötzlich – ca. in 15 Metern Entfernung – ein Rehkitz aus Sicht des Betroffenen von rechts nach links über die Straße und verharrte dort am Straßenrand. Der Betroffene, der als Jäger 35 Jahre Erfahrung hinsichtlich des Verhaltens von Wild hat, rechnete mit weiterem wechselnden Wild. Er beschleunigte daraufhin sein Fahrzeug, um eine Kollision mit dem von ihm erwarteten kreuzenden Wild zu vermeiden, wobei ihm bewusst war, dass er die erlaubte Geschwindigkeit von 50 km/h deutlich überschritt. Nachdem der Angeklagte mit seinem Fahrzeug die Stelle passiert hatte, wechselten 1-2 weitere Tiere von rechts nach links über die Straße.
6Der Kreis T3 führte am Tattag durch die geschulte Kreismitarbeiterin T kurz hinter dieser Stelle Geschwindigkeitsmessungen mit dem zu Tatzeitpunkt geeichten Geschwindigkeitsmessgerät Multanova 6F digital durch.
7Der Betroffene fuhr an der Messstelle statt der dort erlaubten 50 km/h mit einer Geschwindigkeit von 82 km/h. Diese vorwerfbare Geschwindigkeit ergibt sich aus der gemessenen Geschwindigkeit von 85 km/h abzüglich der Toleranz von 3 km/h. Er wurde dabei durch das Messgerät bei der Überschreitung der Geschwindigkeit fotografiert.“
8Eine Notstandslage gem. § 16 OWiG, auf welche sich der Betroffene berufen hatte, hat das Amtsgericht verneint.
9Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde und rügt die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere eine rechtsfehlerhafte Ablehnung einer Rechtfertigung nach § 16 OWiG und beantragt, ihn freizusprechen, hilfsweise, das Verfahren einzustellen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
10II.
11Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in dem aus dem Tenor erkennbaren Umfang Erfolg, wobei kein Anlass bestand, sie an eine andere Abteilung desselben Amtsgerichts zurückzuverweisen. Im Übrigen ist sie unbegründet (§§ 79 Abs. 3 und 6 OWiG, 349 Abs. 2 StPO).
121.
13Die angefochtene Entscheidung ist nicht etwa deswegen gegenstandslos, weil der zu Grunde liegende Bußgeldbescheid infolge einer wirksamen Einspruchsrücknahme bestandskräftig geworden wäre.
14Der Betroffene hat zunächst mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13.08.2019, eingegangen am 15.08.2019, mithin innerhalb der am 20.08.2019 endenden Einspruchsfrist Einspruch gegen den zu Grunde liegenden Bußgeldbescheid eingelegt. Mit Verteidigerschriftsatz vom 14.08.2019, eingegangen am 16.08.2019 hat er zwar den Einspruch wegen eines „Büroversehens“ zurückgenommen, gleichzeitig aber um Akteneinsicht gebeten und angekündigt, auf die Angelegenheit unaufgefordert zurückkommen zu wollen. Mit Verteidigerschriftsatz vom 15.08.2019, eingegangen am 19.08.2019 erklärte er, dass der Einspruch aufrecht erhalten bleibe, mit Verteidigerschriftsatz vom 16.08.2019, eingegangen am 19.08.2019, legte er (erneut) Einspruch gegen den zu Grunde liegenden Bußgeldbescheid ein.
15Grundsätzlich ist eine Rechtsmittelrücknahme unwiderruflich und beinhaltet regelmäßig gleichzeitig auch den – ebenfalls unwiderruflichen – Verzicht auf eine erneute Rechtsmitteleinlegung (BGH NStZ-RR 2000, 305; BGH NStZ-RR 2004, 341; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 302 Rdn. 12; Cirener in: Graf, StPO, 3. Aufl., § 302 Rdn. 7). In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist allerdings offen gelassen worden, ob das auch für den Fall gilt, in dem der Angeklagte bzw. Betroffene bei der Rechtsmittelrücknahme zum Ausdruck gebracht hat, er behalte sich die erneute Rechtsmitteleinlegung vor (BGH NJW 1957, 1040). Ein solcher Fall liegt hier vor: Die Ausführungen in der Einspruchsrücknahme, dass man um Akteneinsicht bitte und dann unaufgefordert auf die Sache zurückkomme, lässt keine andere Auslegung zu, als dass die Angelegenheit für den Betroffenen eben noch nicht endgültig erledigt war und er womöglich doch den Bußgeldbescheid angreifen wolle. Für einen solchen Fall sieht der Senat keinen Anlass, von einem unwiderruflichen Verzicht auf eine erneute Rechtsmitteleinlegung auszugehen. Es ist eine Frage der Auslegung der konkreten Rechtsmittelrücknahme, ob damit – wie regelmäßig – auch ein Verzicht auf die erneute Rechtsmitteleinlegung verbunden ist oder nicht (BayObLG MDR 1974, 773, 774; Jesse in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 302 Rdn. 29; Niemöller StV 2010, 597, 601, wobei letztere sogar das genannte Regel-Ausnahmeverhältnis ablehnen; aA: Meyer-Goßner StV 2011, 53). Ob ein Rechtsmittel zurückgenommen wird oder auf dessen Einlegung verzichtet wird, steht zur Disposition des Betroffenen. Angesichts der gesetzlichen Differenzierung zwischen Rechtsmittelverzicht und Rechtsmittelrücknahme (vgl. Niemöller StV 2010, 597, 599) würde in diese Dispositionsbefugnis eingegriffen, wenn man ausnahmslos eine Rechtsmittelrücknahme auch als Verzicht auf dessen erneute Einlegung auslegen wollte. Regelmäßig wird das zwar der Fall sein. Prozessuale Erklärungen bedürfen aber der Auslegung (vgl. Jesse a.a.O.). Wenn ohne weitere Ausführungen ein Rechtsmittel zurückgenommen wird, gibt der Rechtsmittelführer damit zu erkennen, dass die Sache für ihn beendet sein soll. Macht der Rechtsmittelführer aber anderweitige Ausführungen, die –wie hier – ergeben, dass er die Angelegenheit eben noch nicht als beendet betrachtet, so gilt eben die Regel nicht. Die Rechtsmittelrücknahme ist dann nur eine Rücknahme des eingelegten Rechtsmittels und nicht gleichzeitig auch der Verzicht auf zukünftige Rechtsmitteleinlegungen. Für eine solche Differenzierung mag es auch durchaus nachvollziehbare Gründe geben, etwa wenn der Verteidiger zunächst ohne ausdrückliche Beauftragung des Mandanten Rechtsmittel eingelegt hat, dann angewiesen wurde, dieses zurückzunehmen, er aber noch die Erwartung hat, seinen Mandanten umstimmen zu können. Das Argument, dass im Strafprozess schnell Klarheit geschaffen werden müsse, ob ein Urteil Rechtskraft erlangt, und deswegen eine Rechtsmittelrücknahme gleichzeitig auch immer den Verzicht auf dessen erneute Einlegung beinhalte (Meyer-Goßner StV 2011, 53), überzeugt nicht. Die Rechtsmittelfristen geben vor, innerhalb welches Zeitraums nach dem gesetzgeberischen Willen Klarheit über die Rechtskraft bestehen soll. Eine Überbeschleunigung ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung unter Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Angeklagten oder Betroffenen bzgl. eines Rechtsmittelbverzichts ist angesichts dessen unzulässig (vgl. auch: Niemöller StV 2011, 54).
162.
17Das angefochtene Urteil war in dem o.g. Umfang aufzuheben, weil es an einem durchgreifenden Rechtsfehler zu Lasten des Betroffenen leidet. Die getroffenen Feststellungen lassen eine Überprüfung des Senats, ob das Amtsgericht zu Recht die Voraussetzungen eines Notstands nach § 16 OWiG abgelehnt hat, nicht zu. Das Amtsgericht stellt fest, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsüberschreitung vorgenommen hat, um eine Kollision mit dem Rehkitz nachfolgendem weiteren Wild zu vermeiden. Es stellt auch fest, dass nach Passieren der Wildkreuzungsstelle ein bis zwei weitere Tiere die Straße überquerten. Das Amtsgericht trifft aber keine Feststellungen dazu, in welchem zeitlichen und räumlichen Abstand zum Fahrzeug des Betroffenen das Rehkitz und sodann die weiteren Tiere die Straße querten. Dementsprechend ist dem Senat eine Überprüfung der Begründung des Amtsgerichts, dass nach seiner Überzeugung der Betroffene nach der Querung des Rehkitzes eine Kollision mit weiteren Tieren durch eine sofortige Bremsung und entsprechende Lenkbewegungen auch ohne Geschwindigkeitsüberschreitung hätte vermeiden können, nicht möglich.
18Da die Feststellungen zur Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind, konnten sie aufrecht erhalten bleiben.
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Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 22. September 2020 geändert. Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt, die Dienstfähigkeit des Antragstellers auf der Grundlage der Anordnung vom 9. September 2020 untersuchen zu lassen.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge zu tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 22. September 2020 für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller steht als Polizeibeamter im Dienst des Antragsgegners. Am … verrichtete er ab 21.00 Uhr als Dienstgruppenleiter seinen Nachtdienst auf der Polizeiinspektion. Da mehr Polizeikräfte im Dienst waren als erforderlich, verließ der Antragsteller absprachegemäß um 23.00 Uhr die Dienststelle. Er wurde etwa dreieinhalb Stunden später von einer Streifenwagenbesatzung angetroffen, als er mit seinem Privat-Pkw im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit eine Kreisstraße befuhr. Die daraufhin entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,79 Promille; zudem wurden Benzodiazepine im Blut des Antragstellers nachgewiesen. In der Folgezeit unterzog sich der Antragsteller zwei Untersuchungen bei dem polizeiärztlichen Dienst, der zur weiteren Abklärung einer Suchterkrankung eine fachpsychiatrische Untersuchung des Antragstellers für erforderlich hielt. Gegen die daraufhin ergangene, auf § 44 des Landesbeamtengesetzes – LBG – gestützte Untersuchungsanordnung des Antragsgegners vom 9. September 2020 legte der Antragstellers Widerspruch ein und suchte um vorläufigen Rechtsschutz nach.
2
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers, ihn im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – von der fachpsychiatrischen Untersuchung freizustellen, als unzulässig abgelehnt. Eine im Rahmen eines Zurruhesetzungsverfahrens ergangene Untersuchungsanordnung zur Feststellung der Dienstfähigkeit eines Beamten sei gemäß § 44a VwGO nicht isoliert angreifbar.
3
Mit Zwischenverfügung vom 30. September 2020 hat der Senat dem Antragsgegner aufgegeben, den Antragsteller von der für den selben Tage anberaumten Untersuchung vorläufig bis zur Entscheidung über die Beschwerde freizustellen.
II.
4
Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem der Antragsteller verhindern will, der Weisung des Antragsgegners vom 9. September 2020 nachkommen zu müssen, zu Unrecht abgelehnt.
5
1. Anders als die Vorinstanz geht der Senat von der Zulässigkeit des gegen die Untersuchungsanordnung vom 9. September 2020 gerichteten Eilantrags aus.
6
a) Der Antrag ist nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO als Sicherungsanordnung statthaft. Bei der an einen Beamten gerichteten Anordnung, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen, handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der Senat angeschlossen hat, nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um eine „gemischte dienstlich-persönliche Weisung“, die nicht auf Außenwirkung im Sinne von § 35 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes – VwVfG – gerichtet ist (BVerwG, Urteil vom 26. April 2012 – 2 C 17.10 –, juris Rn. 14 f.; Beschluss vom 7. Mai 2013 – 2 B 147.11 –, juris Rn. 14; Urteil vom 30. Mai 2013 – 2 C 68.11 –, juris Rn. 16; Beschluss vom 10. April 2014 – 2 B 80.13 –, juris Rn. 8; OVG RP, Urteil vom 3. Februar 2015 – 2 A 10458/14.OVG –, juris Rn. 26; Beschluss vom 1. Februar 2016 – 2 B 10148/16.OVG –; Beschluss vom 22. April 2016 – 2 B 10231/16.OVG –; Beschluss vom 19. September 2016 – 2 B 10743/16.OVG –; Beschluss vom 3. Mai 2017 – 2 B 10948/17.OVG –; ebenso bereits SächsOVG, Beschluss vom 17. November 2005 – 3 BS 164/05 –, juris Rn. 2; BayVGH, Beschluss vom 9. Februar 2006 – 3 CS 05.2955 –, juris Rn. 21 f.). Ihr Schwerpunkt liegt in der Frage der künftigen Dienstleistung und der Konkretisierung der darauf bezogenen, in § 35 Abs. 1 Satz 2 des Beamtenstatusgesetzes – BeamtStG – i.V.m. § 44 Abs. 1 des Landesbeamtengesetzes – LBG – begründeten Pflicht des Beamten, bei der Klärung seiner Dienstfähigkeit mitzuwirken (OVG RP, Beschluss vom 1. September 2017 – 2 B 11536/17.OVG – n.v.).
7
b) Der Zulässigkeit des gegen die Untersuchungsanordnung des Beklagten vom 9. September 2020 gerichteten Eilantrags nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO steht auch nicht § 44a VwGO entgegen. Der Senat geht vielmehr, auch unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 14. März 2019 – 2 VR 5.18 – vertretenen Auffassung, von der isolierten gerichtlichen Überprüfbarkeit einer Untersuchungsanordnung aus.
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aa) Bereits in der Vergangenheit hat der Senat Zweifel geäußert, ob es sich bei der Untersuchungsanordnung des Dienstherrn (als dienstlich-persönliche Weisung) wegen des mit ihr regelmäßig verbundenen (Grund-)Rechtsbezugs überhaupt um eine Verfahrenshandlung im Sinne von § 44a Satz 1 VwGO handelt (vgl. OVG RP, Urteil vom 3. Februar 2015, a.a.O., juris Rn. 25 f.; kritisch auch VG Wiesbaden, Beschluss vom 30. September 2020 – 3 L 1061/20.WI –, juris Rn. 15; v. Roetteken, ZBR 2019, 361 [366 f.]; Wysk, in: ders. [Hrsg.], VwGO, 3. Aufl. 2020, § 44a Rn. 4a; zum Grundrechtsbezug der Untersuchungsanordnung jüngst auch BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 13. Mai 2020 – 2 BvR 652/20 –, juris Rn. 13; und vom 12. August 2020 – 2 BvR 1427/20 -, juris Rn. 6).
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bb) Die Frage kann indes dahinstehen, weil vorliegend jedenfalls der Ausnahmetatbestand des § 44a Satz 2 Alt. 1 VwGO einschlägig ist (im Ergebnis nunmehr ebenso HessVGH, Beschluss vom 11. August 2020 – 1 B 1846/20 –, juris Rn. 14 ff.; vgl. zuvor – noch offenlassend – HessVGH, Beschlüsse vom 10. März 2020 – 1 B 327/20 –, juris Rn. 19; und vom 7. Juli 2020 – 1 B 1731/20 –, juris Rn. 5). Danach kommt eine isolierte Anfechtbarkeit bei solchen behördlichen Verfahrenshandlungen in Betracht, die vollstreckt werden können. Bei derartigen Verfahrenshandlungen wäre der Ausschluss einer isolierten Anfechtung mit der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes – GG –, Art. 124 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –) nicht in Einklang zu bringen, da bis zur Sachentscheidung bereits der Eintritt eines irreparablen Zustandes droht (BVerwG, Urteil vom 30. Januar 2002 – 9 A 20.01 –, juris Rn. 59; Ziekow, in: Sodan/Ziekow [Hrsg.], VwGO, 5. Aufl. 2018, § 44a Rn. 61; Hoppe, in: Eyermann [Begr.], VwGO, 15. Aufl. 2019, § 44a Rn. 19; vgl. auch bereits BT-Drucks. 7/910, S. 97).
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Der Begriff der vollstreckbaren Verfahrenshandlung ist allerdings nicht auf solche Verfahrenshandlungen beschränkt, die die Behörde selbständig mit Zwangsmitteln (vgl. §§ 6, 9 des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes – VwVG –; §§ 2, 62 des Landesverwaltungsvollstreckungsgesetzes – LVwVG –) durchsetzen kann (Terhechte, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, § 44a VwGO Rn. 19). Mit Blick auf die ratio legis des § 44a VwGO, den Eintritt eines irreparablen Zustandes ohne vorher möglichen Rechtschutz zu vermeiden, ist der § 44a Satz 2 VwGO zugrundeliegende Vollstreckungsbegriff vielmehr weit auszulegen und umfasst nicht nur vollstreckbare Verwaltungsakte (Terhechte, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, § 44a VwGO Rn. 19; v. Roetteken, ZBR 2019, 361 [368]; Wysk, in: ders. [Hrsg.], VwGO, 3. Aufl. 2020, § 44a Rn. 13a). Weder für die Frage des Vorliegens einer Verfahrenshandlung (§ 44a Satz 1 VwGO) noch für die (hieran anknüpfende) Frage ihrer Vollstreckbarkeit im Sinne des § 44a Satz 2 Alt. 1 VwGO kommt es daher auf die Form der behördlichen Handlung bzw. ihre Rechtsnatur an (vgl. auch Ziekow, in: Sodan/Ziekow [Hrsg.], VwGO, 5. Aufl. 2018, § 44a Rn. 61; Stelkens/Schenk, in: Schoch/Schneider/Bier [Hrsg.], VwGO, § 44a Rn. 27 [Januar 2020]).
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Geht der Vollstreckungsbegriff des § 44a Satz 2 VwGO über die Vollstreckungsformen des Verwaltungsvollstreckungsrechts hinaus, so werden von der Bestimmung auch solche Verfahrenshandlungen erfasst, die – wie die in Rede stehende Untersuchungsanordnung – zwar nicht mit Zwangsmitteln vollstreckbar sind, aber mit Disziplinarmaßnahmen geahndet werden können. In solchen Fällen würde der Rechtsschutz gegen die Sachentscheidung zu kurz greifen und könnte eine (möglicherweise eingetretene) Rechtsverletzung nicht mehr beseitigt werden. An diesem bislang von der ganz herrschenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung (vgl. Urteil des Senats vom 3. Februar 2015 – 2 A 10458/14 –, juris Rn. 26; sowie NdsOVG, Urteil vom 23. Februar 2010 – 5 LB 20/09 –, juris Rn. 50; SächsOVG, Beschlüsse vom 17. November 2005 – 3 BS 222/05 –, juris Rn. 2; und vom 22. Juni 2010 – 2 B 182/10 –, juris Rn. 9; SaarlOVG, Beschluss vom 18. September 2012 – 1 B 225/12 –, juris Rn. 9 f.; OVG NRW, Beschlüsse vom 1. Oktober 2012 – 1 B 550/12 –, juris Rn.17; und vom 26. August 2009 – 1 B 787/09 –, juris Rn. 18; BayVGH, Beschlüsse vom 14. Januar 2014 – 6 CE 13.2352 –, juris Rn. 8; vom 6. Oktober 2014 – 3 CE 14.1357 –, juris Rn. 13; und vom 23. Februar 2015 – 3 CE 15.172 –, juris Rn. 14; VGH BW, Urteil vom 22. Juli 2014 – 4 S 1209/13 –, juris Rn. 25; Bonikowski, ZBR 2019, 1 [7]; Stelkens/Schenk, in: Schoch/Schneider/Bier [Hrsg.], VwGO, § 44a Rn. 27 [Januar 2020]; Posser, in: Posser/Wolff [Hrsg.], BeckOK VwGO, § 44a Rn. 29 [Juli 2020]; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke [Hrsg.], VwGO, 26. Aufl. 2020, § 44a Rn. 8; Kuntze, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 44a Rn. 10; Ziekow, in: Sodan/Ziekow [Hrsg.], VwGO, 5. Aufl. 2018, § 44a Rn. 61; vgl. ferner auch BVerwG, Beschluss vom 27. August 1992 – 6 B 33.92 –, juris Rn. 3) vertretenen Verständnis hält der Senat auch mit Blick auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2019 – 2 VR 5.18 – aufgrund folgender Erwägungen fest:
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Kann auf die Befolgung einer Verfahrenshandlung mittels einer Disziplinarmaßnahmen hingewirkt werden, kommt dies den Wirkungen einer „Vollstreckbarkeit“ so nahe, dass eine unterschiedliche Behandlung im Rahmen der isolierten gerichtlichen Überprüfbarkeit nicht gerechtfertigt ist (ebenso VG Frankfurt, Beschluss vom 13. August 2019 – 9 L 2471/19.F –, juris Rn. 21; vgl. auch bereits BVerwG, Urteil vom 28. November 1969 – 7 C 18.69 –, juris Rn. 10).
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Ausgangspunkt dieser Annahme ist die rechtsstaatliche Prämisse der Wirksamkeit und Effektivität des Rechtsschutzes, wonach unter anderem der Zugang zu Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert oder gar vereitelt werden darf (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 12. Januar 1960 – 1 BvL 17/59 –, BVerfGE 10, 264 [268]; vom 7. April 1976 – 2 BvR 847/75 –, BVerfGE 42, 128 [130]; vom 4. Mai 1977 – 2 BvR 616/75 –, BVerfGE 44, 302 [305]; Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck [Hrsg.], GG, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 461 ff.; Krebs, in v. Münch/Kunig [Hrsg.], GG, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 68 ff.). Vor diesem Hintergrund ist anerkannt, dass (isolierter) verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz dann nicht versagt werden darf, wenn dem Betroffenen ein Straf- oder Bußgeldverfahren droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. März 2019 – 2 VR 5.18 –, juris Rn. 28 mit Verweis auf BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. April 2003 – 1 BvR 2129/02 –). Dem Betroffenen ist nicht zuzumuten, eine streitige Frage in ein Straf- oder Bußgeldverfahren hineinzutragen, um sie dort zu thematisieren und erstmals einer gerichtlichen Klärung zuzuführen. Ihm soll mit anderen Worten erspart werden, die Klärung verwaltungsrechtlicher Zweifelsfragen „auf der Anklagebank“ erleben zu müssen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. April 2003 – 1 BvR 2129/02 –, juris Rn. 14; BVerwG, Urteile vom 13. Januar 1969 – 1 C 86.64 –, juris Rn. 19; und vom 12. September 2019 – 3 C 3.18 –, juris Rn. 29; HessVGH, Urteil vom 17. Dezember 1985 – 9 UE 2162/85 –, juris Rn. 58; OVG NRW, Urteile vom 27. Juni 1996 – 13 A 4024/94 –, juris Rn. 14; vom 17. September 2003 – 1 A 1069/01 –, juris Rn. 76; BayVGH, Urteil vom 30. August 2000 – 22 B 00.1833 –, juris Rn. 33; OVG Bln, Urteil vom 24. September 2003 – 1 B 16.03 –, juris Rn. 20; OVG SH, Beschluss vom 27. September 2016 – 4 LA 78/16 –, juris Rn. 9). Gleiches muss für das Disziplinarverfahren gelten, in dessen Rahmen Sanktionen möglich sind, die in ihrer Wirkung einem Bußgeld oder einer Strafe nahekommen oder – soweit statusberührend – sogar übertreffen.
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Stellt man für die Frage der Anwendbarkeit des § 44a Satz 2 VwGO auf die vorstehenden Überlegungen ab, kommt es nicht darauf an, ob der Beamte nach Abschluss des Disziplinarverfahrens auch tatsächlich mit einer Disziplinarmaßnahme belegt wird oder ernsthaft hiermit rechnen muss. Vielmehr bringt der Verweis auf ein drohendes Straf- oder Bußgeldverfahren zum Ausdruck, dass dem Betroffenen bereits die Stellung als Beschuldigter, Betroffener oder Beteiligter in diesem Verfahren nicht abverlangt werden darf. Schon die damit einhergehenden (rechtlichen oder faktischen) Nachteile begründen ein schutzwürdiges Interesse des Beamten an einer isolierten gerichtlichen Überprüfung der Untersuchungsanordnung, zumal ihm keine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die bloße Einleitung eines Disziplinarverfahrens eröffnet ist (so auch BVerwG, Beschluss vom 14. März 2019 – 2 VR 5.18 –, juris Rn. 29). Gerade weil der Beamte die Einleitung eines Disziplinarverfahrens nicht separat überprüfen lassen kann, sondern dieses – einmal eingeleitet – abzuwarten hat, ist kein Grund ersichtlich, ihn bei zwei in Betracht kommenden Verfahrensarten – verwaltungsgerichtlich einerseits und disziplinarrechtlich andererseits – allein auf die für ihn belastendere Verfahrensart zu verweisen. Genau hierzu käme es aber, wenn der Beamte eine Untersuchungsanordnung für rechtswidrig hält und ihr – auch mit Blick auf die bei der Durchführung der Untersuchung regelmäßig in Rede stehenden Grundrechtspositionen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 13. Mai 2020 – 2 BvR 652/20 –, juris Rn. 13) – daher nicht nachzukommen gedenkt.
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Vor diesem Hintergrund ist nicht entscheidend, ob es letztlich auch zu dem Ausspruch einer Disziplinarmaßnahme gegenüber dem Beamten kommt. Dass aber selbst bei Ruhestandsbeamten eine disziplinarische Ahndung von Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit Untersuchungsanordnungen des Dienstherrn nicht von vornherein ausgeschlossen ist, zeigt die durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes vom 3. Juli 2013 (BGBl. I, S. 1978) eingefügte Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 des Bundesbeamtengesetzes – BBG –. Danach gilt es auch bei Ruhestandsbeamtinnen oder Ruhestandsbeamten als Dienstvergehen, wenn diese der Verpflichtung nach § 46 Abs. 7 Satz 1 BBG zur Teilnahme an einer ärztlichen Untersuchung zwecks Prüfung der Dienstfähigkeit schuldhaft nicht nachkommen. Der Gesetzgeber wollte ausdrücklich auch in diesen Fällen eine disziplinarische Verfolgung ermöglichen (vgl. auch BT-Drucks. 17/12356, S. 12). Gleichfalls kann auf Landesebene die Weigerung eines Ruhestandsbeamten, sich (amts-)ärztlich untersuchen zu lassen (vgl. § 29 Abs. 5 Satz 1 BeamtStG), überwiegend disziplinarisch geahndet werden (§ 58 Nr. 2 des Landesbeamtengesetzes Baden-Württemberg; Art. 77 Nr. 2 des Bayerischen Beamtengesetzes; § 71 Nr. 3 des Landesbeamtengesetzes Berlin; § 55 des Landesbeamtengesetzes Brandenburg; § 50 Nr. 2 des Bremischen Beamtengesetzes; § 51 Nr. 2 des Hamburgischen Beamtengesetzes; § 55 Abs. 1 des Hessischen Beamtengesetzes; § 51 Nr. 2 des Landesbeamtengesetzes Mecklenburg-Vorpommern; § 50 Nr. 2 des Niedersächsischen Beamtengesetzes; § 61 Nr. 2 des Landesbeamtengesetzes Rheinland-Pfalz; § 64 Abs. 1 des Saarländischen Beamtengesetzes; § 75 Nr. 3 des Sächsischen Beamtengesetzes; § 55 Nr. 2 des Landesbeamtengesetzes Sachsen-Anhalt; § 50 Nr. 2 des Landesbeamtengesetzes Schleswig-Holstein; § 45 Nr. 2 des Thüringer Beamtengesetzes). Eine ausdrückliche Normierung des vorgenannten Dienstvergehens bei Ruhestandsbeamten ließe sich allerdings nicht erklären, wenn in diesem Fall von vornherein kein Raum für die in § 5 Abs. 2 BDG (bzw. in den Disziplinargesetzen der Länder) aufgeführten Disziplinarmaßnahmen wäre. Bestätigt wird dieser Gedanke durch den Umstand, dass auch die gerichtliche Praxis wiederholt entsprechende disziplinarrechtliche Ahndungen zum Gegenstand hatte (vgl. etwa VG Ansbach, Urteil vom 16. Februar 2016 – AN 13a D 15.00582 –, juris Rn. 104 ff.; VG Düsseldorf, Urteil vom 15. April 2019 – 38 K 280/19.BDG –, juris Rn. 43 ff.; VG Magdeburg, Urteil vom 5. November 2019 – 15 A 13/19 –, juris Rn. 18 ff.; Urteil vom 28. Januar 2020 – 15 A 5/19 –, juris Rn. 23 ff.). Entsprechendes muss für Fälle gelten, in denen dem Ruhestandsbeamten die Nichtbefolgung der Untersuchungsanordnung während des aktiven Beamtenverhältnisses angelastet wird (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b BDG; dazu auch Loebel, RiA 2020, 141 [147]).
16
2. Ein Anordnungsgrund ist vorliegend gegeben. Das Verfahren hat sich insbesondere nicht deshalb erledigt, weil der angesetzte Untersuchungstermin, dem der Antragsteller aufgrund der Zwischenentscheidung des Senats vom 30. September 2020 keine Folge leisten musste, mittlerweile verstrichen ist. Streitbefangen ist vielmehr auch die – grundlegende – Anordnung einer fachpsychiatrischen Untersuchung (vgl. dazu BayVGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2013 – 3 CE 12.1883 –, juris Rn. 29; vom 6. Oktober 2014 – 3 CE 14.1357 –, juris Rn. 14; vom 1. September 2015 – 3 CE 15.1274 –, juris Rn. 29; vom 2. Februar 2016 – 6 CE 15.2396 –, juris Rn. 10). Auf dieser Grundlage können dem Antragsteller vom Antragsgegner weitere Untersuchungstermine vorgegeben werden, ohne dass es der erneuten Aufforderung bedürfte, sich der Untersuchung auch zu unterziehen.
17
3. Dem Antragsteller steht auch ein Anordnungsanspruch zur Seite. Die an ihn gerichtete Aufforderung des Antragsgegners, sich zur Feststellung der Polizeidienstfähigkeit einer Untersuchung bei einem Facharzt für psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie zu unterziehen, genügt nicht den Anforderungen, die an eine solche Weisung zu stellen sind.
18
a) Die Untersuchungsanordnung vom 9. September 2020 erweist sich schon deshalb als rechtswidrig, weil sie auf eine falsche Rechtsgrundlage gestützt ist. Nach der in der Weisung angegebenen Rechtsgrundlage des § 44 (Abs. 1) LBG ist der Beamte verpflichtet, sich ärztlich untersuchen zu lassen, wenn Zweifel an seiner Dienstfähigkeit bestehen. Wie die Überschrift zu dieser Vorschrift klarstellt, ist insofern die Feststellung der dauernden Dienstfähigkeit des Beamten gemäß §§ 26 und 27 BeamtStG gemeint (OVG RP, Beschluss vom 6. November 2013 – 2 B 10922/13.OVG –, juris Rn. 9). Die Vorschrift betrifft damit allein die dauernde Unfähigkeit zur Erfüllung der Dienstpflichten und ermächtigt zu Untersuchungen im Hinblick auf eine erwogene Versetzung in den Ruhestand (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 1980 – 2 A 4.78 –, juris Rn. 23, zu § 42 BBG a.F.; sowie BremOVG, Beschluss vom 3. Dezember 2012 – 2 B 265/11 –, juris Rn. 26, zum dortigen Landesbeamtengesetz). Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegner die Untersuchung des Antragstellers zu diesem Zwecke angeordnet hätte, sind indes nicht ersichtlich. Vielmehr heißt es in der Weisung vom 9. September 2020 (dort Seite 5), mit der Hinzuziehung eines Facharztes solle geklärt werden, ob der Antragsteller aufgrund der regelmäßigen Einnahme von Diazepam voll dienstfähig sei bzw. die besonderen Anforderungen an einen Waffenträger erfülle. Darüber hinaus soll festgestellt werden, ob therapeutische Maßnahmen zu ergreifen seien, um die volle Dienstfähigkeit wiederherzustellen. An anderer Stelle (Seite 2 der Weisung) wird ausgeführt, es bedürfe der Prüfung „insbesondere im Hinblick auf das Führen einer Dienstwaffe oder eines Dienst-Kraftfahrzeuges“. Erwägt der Dienstherr – wie hier – nicht die Versetzung des Beamten in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit, sondern soll durch die (amtsärztliche) Untersuchung die weitere Verwendungsmöglichkeit des Beamten geklärt werden, kommen § 26 BeamtStG, § 44 (ggf. i.V.m. § 112) LBG als Rechtsgrundlage für die Untersuchungsaufforderung nicht in Betracht (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 23. Oktober 1979 – 1 WB 149.78 -, juris Rn. 36, zu § 44 Abs. 3 und 4 des Soldatengesetzes – SG –). Grundlage für die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung bei Zweifeln an der Dienstfähigkeit eines Beamten, die noch nicht im Hinblick auf eine erwogene Versetzung in den Ruhestand angeordnet wird, ist vielmehr die in § 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG verankerte Folgepflicht des Beamten (vgl. zuletzt VG Wiesbaden, Beschluss vom 30. September 2020 – 3 L 1061/20.WI –, juris Rn. 22, zu § 62 BBG). Die Verpflichtung des Beamten, an der für die Durchführung eines ordnungsgemäßen Dienstbetriebes erforderlichen Klärung seines eigenen Gesundheitszustandes mitzuwirken, ergibt sich aus der besonderen, dem Beamtenverhältnis innewohnenden Treuepflicht (BVerwG, Beschluss vom 23. Oktober 1980, a.a.O., juris Rn. 25).
19
Eine Nachbesserung bzw. nachträgliche Auswechselung der in der Weisung vom 9. September 2020 angegebenen Rechtsgrundlage kommt vorliegend nicht in Betracht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat der Dienstherr schon im Zeitpunkt der Weisung sämtliche Gründe anzugeben, die zur Untersuchungsanordnung geführt haben. Genügt die Anordnung einer ärztlichen Begutachtung nicht den an sie zu stellenden Anforderungen, kann dieser Mangel nicht nachträglich im Behörden- oder Gerichtsverfahren „geheilt“ werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 2012 – 2 C 17.10 –, juris Rn. 21). Dies gilt nicht nur mit Blick auf die Darlegung der für die Zweifel an der Dienstfähigkeit maßgeblichen Umstände, sondern auch für die Offenlegung der einschlägigen Rechtsgrundlage. Die Behörde darf weder nach der Überlegung vorgehen, der Betroffene werde schon wissen, „worum es gehe“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 2012, a.a.O., juris Rn. 20), noch darf sie den Beamten darüber im Unklaren lassen, „wozu“ die Untersuchung durchgeführt werden soll. Gerade mit Blick auf die regelmäßig nicht unerheblichen finanziellen Auswirkungen einer Zurruhesetzung wird es für den betroffenen Beamten von Bedeutung sein, ob mit der Untersuchung „nur“ die weitere Verwendungsmöglichkeit geklärt werden soll, oder ob der Dienstherr eine Versetzung in den Ruhestand erwägt. Dem Adressaten der Weisung ist daher nicht zuzumuten, bei einer Diskrepanz zwischen der angegebenen Rechtsgrundlage und der Begründung der Weisung die mutmaßliche Intention des Dienstherrn zu ermitteln.
20
b) Darüber hinaus genügt die Anordnung, sich einer fachpsychiatrischen Untersuchung zu unterziehen, aus zwei Gründen nicht dem hierbei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 23. Oktober 1980 – 2 A 4.78 –, juris Rn. 27; Urteil vom 26. April 2012, a.a.O. Rn. 16 ff.; Beschluss vom 7. Mai 2013 – 2 B 147.11 –, juris Rn. 24) stets zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit:
21
aa) Zum einen muss eine behördliche Anordnung zu einer ärztlichen Untersuchung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schon wegen ihrer erheblichen Folgen allgemein inhaltlichen und formellen Anforderungen genügen:
22
Befolgt ein Beamter eine Anordnung zu einer fachpsychiatrischen Untersuchung, so muss er Eingriffe in sein Recht aus Art. 2 Abs. 2 GG wie auch in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht hinnehmen. Die Erhebungen des Psychiaters zum Lebenslauf des Beamten, wie etwa Kindheit, Ausbildung, besondere Krankheiten, und zum konkreten Verhalten auf dem Dienstposten stehen dem Bereich privater Lebensgestaltung noch näher als die rein medizinischen Feststellungen, die bei der angeordneten Untersuchung zu erheben sind (so BVerwG, Urteil vom 26. April 2012, a.a.O. Rn. 17; Beschluss vom 30. Mai 2013 – 2 C 68.11 –, juris Rn. 22).
23
Weiterhin trägt der Beamte das alleinige Risiko der späteren gerichtlichen Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung. Hat der Beamte die Untersuchung verweigert, weil er die Anordnung als rechtswidrig angesehen hat, geht es bei der Würdigung aller Umstände nach dem Rechtsgedanken des § 444 der Zivilprozessordnung – ZPO – regelmäßig zu seinen Lasten, wenn das Gericht nachträglich die Rechtmäßigkeit der Anordnung feststellt. Unterzieht sich der betroffene Beamte demgegenüber der angeordneten Untersuchung, so kann das Gutachten auch dann verwendet werden, wenn sich die Aufforderung als solche bei einer gerichtlichen Prüfung als nicht berechtigt erweisen sollte. Die Rechtswidrigkeit der Gutachtensanordnung ist nach Erstellung des Gutachtens ohne Bedeutung.
24
Hieraus folgt, dass die Anordnung bereits in formeller Hinsicht aus sich heraus verständlich sein muss. Der betroffene Beamte muss ihr entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das in ihr Verlautbarte die behördlichen Zweifel an seiner Dienstfähigkeit zu rechtfertigen vermag. Insbesondere darf die Behörde nicht nach der Überlegung vorgehen, der Betroffene werde schon wissen, „worum es gehe“. Dem Beamten bekannte Umstände müssen in der Anordnung von der zuständigen Stelle zumindest so umschrieben sein, dass für den Betroffenen ohne Weiteres erkennbar wird, welcher Vorfall oder welches Ereignis zur Begründung der Aufforderung herangezogen wird (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 26. April 2012, a.a.O. Rn. 16 ff.).
25
Inhaltlich muss sich die Anordnung auf solche Umstände beziehen, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, der betroffene Beamte sei dienstunfähig. Der Aufforderung müssen tatsächliche Feststellungen zugrunde gelegt werden, die die Dienstunfähigkeit des Beamten als naheliegend erscheinen lassen. Dabei müssen die Gründe, weshalb sie erlassen wird, so vollständig mitgeteilt werden, dass der Beamte in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob er der Anordnung nachkommen muss oder nicht. Ergänzende Erläuterungen sind nicht zulässig.
26
bb) Diesen Anforderungen wird die Anordnung vom 9. September 2020 nicht gerecht. In der Anordnung wird zunächst auf ein „Zwischenergebnis der polizeiärztlichen Untersuchung“ verwiesen, aus dem sich der Verdacht einer Suchterkrankung des Antragstellers ergebe. Bei diesem Zwischenergebnis kann es sich nur um die Mitteilung der Obermedizinalrätin T. vom … (Bl. 78 der Verwaltungsakte) handeln. In dieser werden indes keine Tatsachen für ihre (zu diesem Zeitpunkt übrigens bereits veranlasste) Vorstellung bei dem Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie H. genannt. Im Gegenteil ist offensichtlich beim Antragsteller von der Polizeiärztin bereits am 16. Juni 2020 eine Blutprobe entnommen worden, deren Ergebnis aber bislang weder ihm vorgelegt noch sonst aktenkundig gemacht wurde. Auch die weiteren Ermittlungen, die der Antragsgegner – ohne Beteiligung oder Benachrichtigung des Antragstellers – bei seinen Vorgesetzten, einem früheren Vorgesetzten und seinen Abwesenheitsvertretern vorgenommen hat, entlasten ihn eher als sie einen Alkoholmissbrauch belegen könnten. Einige der befragten Kollegen haben zwar von „Gerüchten“ gesprochen, wonach beim Antragsteller ein übermäßiger Alkoholkonsum vermutet worden sei (er sei „dem Alkohol nicht abgeneigt“). Allerdings sind offensichtlich selbst eine „intensivierte Dienstaufsicht“ und ein seinerzeit durchgeführter Alkoholtest ohne Nachweis geblieben. Auch sei zu keiner Zeit beim Antragsteller Alkoholgeruch während des Dienstes wahrgenommen worden.
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Kann danach das Ergebnis der bisherigen polizeiärztlichen Untersuchungen nicht als ausreichende Tatsache für die Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung herangezogen werden, so gilt das Gleiche im Hinblick auf die Umstände, die überhaupt für dieses Verfahren ursächlich sind. Dem Antragsteller werden eine Trunkenheitsfahrt und der Konsum eines ärztlich verordneten Beruhigungsmittels vorgeworfen. Die Trunkenheitsfahrt allein rechtfertigt jedoch nicht die angeordnete psychiatrische Untersuchung. Dies wäre unverhältnismäßig. Da weitere nachprüfbare Tatsachen für eine Alkoholsucht weder vorliegen noch vorgetragen werden, ist die Maßnahme nach derzeitigem Sach- und Streitstand vielmehr nicht erforderlich. Als milderes Mittel sind nämlich zunächst unangekündigte Alkohol-Tests zu Beginn und ggf. während des Dienstes durchzuführen. Diese sind geeignet, eine Alkoholbeeinflussung während des Dienstes verlässlich auszuschließen. Da sie für den Antragsteller nicht vorhersehbar sind, kann zugleich die dauerhafte alkoholbedingte Beeinträchtigung seiner aktuellen Dienstfähigkeit weitgehend ausgeschlossen werden. Sollte dabei ein signifikanter Atem- und/oder Blutalkoholspiegel festzustellen sein, so kann die von der Polizeiärztin empfohlene Anordnung ohne Weiteres auf der Grundlage von § 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG ergehen. Ergänzend kann dem Antragsteller auferlegt werden, die Ergebnisse der von ihm bereits selbst in die Wege geleiteten Laboruntersuchungen zum Nachweis des bei einem Alkoholkonsum entstehenden Abbauproduktes Ethylglucuronid (Bl. 84 der Verwaltungsakte) vorzulegen. Diese sind zusammen mit den – offenbar bereits von der Polizeiärztin erhobenen – Laborergebnissen von alkoholspezifischen Leberwerten und Fettsäure-Ethylestern als mildere Mittel gleichfalls geeignet und angemessen, die Frage einer Alkoholsucht beim Antragsteller zu belegen.
28
Der Konsum des Beruhigungsmittels Diazepam kann die Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung für sich genommen gleichfalls nicht rechtfertigen, da das Medikament ärztlich verordnet worden ist. Darüber hinaus nimmt der Antragsteller das Medikament bereits seit dem Jahr 2008 ein. Während dieser Zeit wurde er mehrfach amtsärztlich untersucht. Ein Medikamentenmissbrauch wurde dabei nicht festgestellt. Dass in seinem Blut am Morgen des 19. Mai 2020 Benzodiazepine nachgewiesen werden konnten, reicht gleichfalls nicht aus, da die festgestellte Konzentration in seinem Blut ausweislich des toxikologischen Berichts der Universitätsmedizin Mainz vom 9. Juni 2020 lediglich im therapeutischen Bereich lag (Bl. 27 der Verwaltungsakte).
29
Dass weder die einmalige Trunkenheitsfahrt noch der ärztlich verordnete Gebrauch eines Beruhigungsmittels für die angeordnete Untersuchung ausreichen, ist offenbar auch dem Antragsgegner nicht verborgen geblieben. Deswegen zieht er in der angefochtenen Weisung weitere Umstände heran, die aus seiner Sicht eine fachpsychiatrische Untersuchung rechtfertigen. Nachprüfbare Tatsachen hierfür gibt er auch hierbei nicht an. Vielmehr wird von „Gesamtumständen“ im Rahmen von „Nachermittlungen“ gesprochen, die jedoch nicht weiter konkretisiert werden. Keine konkreten Tatsachen werden auch mit der Behauptung unterlegt, der Antragsteller habe sich im Rahmen der Untersuchung und im Rahmen des Verfahrens immer mehr in Widersprüche verstrickt. Belegt wird das allein damit, dass der Antragsteller im Rahmen des ersten Gesprächs bei der Polizeiärztin keine Angaben zur Vorerkrankungen gemacht habe. Hieraus lässt sich freilich eine „Verstrickung in Widersprüche“ nicht herleiten, zumal der Antragsgegner nicht angibt, um welche „Vorerkrankungen“ es sich handelt. Schließlich bleiben auch die weiteren Schlussfolgerungen des Antragsgegners in der Weisung vom 9. September 2020 im Vagen und bieten keine geeignete Tatsachengrundlage für die angeordnete Untersuchung. Stattdessen finden sich allgemeine Ausführungen zur Abhängigkeit von Diazepam sowie den Anforderungen an den Polizeiberuf.
30
Nach alldem war der Beschwerde stattzugeben und dem Antragsgegner wie aus dem Tenor ersichtlich zu untersagen, den Antragsteller auf der Grundlage der angegriffenen Weisung fachpsychiatrisch untersuchen zu lassen.
31
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
32
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes – GKG –. Eine Reduzierung des Streitwertes, wie in Nr. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (LKRZ 2014, 169) empfohlen, erfolgt nicht, weil mit der Entscheidung in diesem Eilverfahren die Hauptsache vorweggenommen wird (vgl. OVG RP, Beschluss vom 22. April 2016 – 2 B 10213/16.OVG –; Beschluss vom 19. September 2016 – 2 B 10743/16.OVG –; Beschluss vom 1. September 2017 – 2 B 11536/17.OVG –; ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.12.2016 – 10 S 35.16 –, IÖD 2017, 89 [91]; a.A. BayVGH, Beschluss vom 23.11.2016 – 3 C 16.2091 –, NVwZ-RR 2017, 264; HessVGH, Beschluss vom 11. August 2020 – 1 B 1846/20 –). Soweit das Verwaltungsgericht demgegenüber die Halbierung des Auffangstreitwerts vorgenommen hat, wird die Festsetzung des Streitwerts gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG von Amts wegen geändert.
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Tenor
Die Satzung der Antragsgegnerin über den Bebauungsplan Nr. 35 „Heisch“ (Teilbereich 1) vom 19. Mai 2020 wird bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag der Antragstellerin (Az. 1 KN 18/20) außer Vollzug gesetzt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 20.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im Normenkontrollverfahren 1 KN 18/20 gegen den Bebauungsplan Nr. 35 „Heisch“ (Teilbereich 1) der Antragsgegnerin. Im vorliegenden Verfahren begehrt sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung, durch die der Bebauungsplan vorläufig außer Vollzug gesetzt werden soll.
2
Die Antragstellerin, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ist Eigentümerin des Grundstücks …, das im – dem Plangebiet gegenüberliegenden – Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 16 „Erweiterung Gewerbegebiet“ der Antragsgegnerin liegt, der ein Gewerbegebiet festsetzt. Das Grundstück der Antragstellerin ist L-förmig geschnitten und grenzt im südwestlichen Teil des Plangebiets an das in der Planzeichnung dargestellte Regenrückhaltebecken. Die Antragstellerin betreibt auf diesem Grundstück ein Unternehmen, das u. a. Lieferung von Schüttgütern, Abfuhr, sonstige Transportaufgaben, Tiefladertransporte, Winterdienst im Bereich der Straßen- und Autobahnmeistereien und Annahme von Boden und Bauschutt zum Gegenstand hat. Dafür sind an diesem Betriebsstandort 14 Lkw stationiert, die zum Teil vor 6:00 Uhr das Betriebsgelände verlassen, um ihre Einsatzorte zu erreichen. Im Zusammenhang mit dem Winterdienst kommt es zum Einsatz der Lkw rund um die Uhr. Sobald die Lkw zum Betriebsstandort zurückkehren, werden sie dort betankt und gereinigt; dies erfolgt ggf. auch zur Nachtzeit. Die Antragstellerin hat zudem die Absicht, ihre gewerblichen Tätigkeiten an diesem Standort zu erweitern. Hierzu erteilte sie bereits den Auftrag für die Erarbeitung einer Genehmigungsplanung für die Betriebserweiterung. So soll auf dem Betriebsgelände eine Anlage zur zeitweiligen Lagerung und Behandlung von Grünabfällen sowie – in Intervallen – eine mobile Schredderanlage errichtet und betrieben werden.
3
In südwestlicher Richtung schließt sich an das Grundstück der Antragstellerin südlich zur … hin ein weiteres, gewerblich genutztes Grundstück an (Flurstück … der Flur … der Gemarkung …), das sich im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Bebauungsplan Nr. 35 der Antragsgegnerin im Geltungsbereich ihres Bebauungsplans Nr. 16 befand. Zurzeit ist die Antragsgegnerin dabei, den Bebauungsplan Nr. 26 „Wiemelshorn“ aufzustellen, mit welchem das Flurstück … als eingeschränktes Gewerbegebiet festgesetzt werden soll (vgl. Anlage AG 1 zum Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 30. September 2020).
4
Der Bebauungsplan Nr. 35 wurde aufgrund des Beschlusses der Gemeindevertretung der Antragsgegnerin vom 1. Juni 2017 (im Verfahrensvermerk heißt es insoweit irrtümlich: 1. Juni 2018) mit dem Ziel der Wohnbauentwicklung zur Bedarfsdeckung der Baulandnachfrage im Gemeindegebiet aufgestellt (Bl. 3 Beiakte D). Die ortsübliche Bekanntmachung dieses Beschlusses erfolgte durch Abdruck im amtlichen Bekanntmachungsblatt Nr. 8/2018 am 5. April 2018 (Bl. 65 Beiakte D). Die frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 1 BauGB wurde am 14. März 2018 im Rahmen einer Einwohnerversammlung durchgeführt (Bl. 18 ff. Beiakte D). Die Behörden und sonstigen Träger öffentlicher Belange, die von der Planung berührt sein könnten, wurden gemäß § 4 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 1 BauGB mit Schreiben vom 9. Mai 2018 unterrichtet und zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert. Der Entwurf des Bebauungsplans mit Begründung wurde durch die Gemeindevertretung am 4. April 2019 mit Begründung beschlossen und zur Auslegung bestimmt. Der Entwurf des Bebauungsplans, bestehend aus der Planzeichnung (Teil A) und dem Text (Teil B), sowie die Begründung lagen in der Zeit vom 29. April 2019 bis zum 31. Mai 2019 öffentlich aus; dies wurde unter Hinweis darauf, dass Stellungnahmen während der Auslegungsfrist von allen Interessierten schriftlich oder zur Niederschrift abgegeben werden könnten, am 18. April 2019 im amtlichen Bekanntmachungsblatt Nr. 07/2019 bekannt gemacht, wobei (irrtümlich) darauf hingewiesen wurde, dass die Beschlussfassung der Gemeindevertretung am 28. April 2019 erfolgt sei (Bl. 272 Beiakte D). Im amtlichen Bekanntmachungsblatt 08/2019 erfolgte sodann am 2. Mai 2019 eine Berichtigung dahingehend, dass die Beschlussfassung am 4. April 2019 erfolgt sei (Bl. 346 Beiakte D). Die Behörden und sonstigen Träger öffentlicher Belange, die von der Planung berührt sein könnten, wurden gemäß § 4 Abs. 2 BauGB mit Schreiben vom 24. April 2019 unterrichtet und zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert. Die Gemeindevertretung prüfte die Stellungnahmen der Öffentlichkeit und der Behörden sowie sonstigen Träger öffentlicher Belange am 14. November 2019 und beschloss eine Änderung des Entwurfs des Bebauungsplans (Bl. 645 Beiakte C). In der Einleitung zum Umweltbericht (Stand: 4. November 2019, Bl. 1016 Beiakte C) heißt es insoweit: „Nach Durchführung des weiteren Beteiligungsverfahrens fasste die Gemeinde den Beschluss, den Bebauungsplan aufgrund der bestehenden Immissionsproblematik in zwei Teilbereiche zu unterteilen und diese zeitlich versetzt bekannt zu machen. Damit wurde eine erneute Beteiligung erforderlich.“ Der geänderte Entwurf, bestehend aus der Planzeichnung (Teil A) und dem Text (Teil B), sowie die Begründung lagen in der Zeit vom 2. Dezember 2019 bis zum 18. Dezember 2019 öffentlich aus. Dabei wurde bestimmt, dass Stellungnahmen nur zu den geänderten und ergänzten Teilen abgegeben werden könnten. Die erneute Auslegung wurde wiederum mit dem Hinweis, dass Stellungnahmen während der Auslegungsfrist von allen Interessierten schriftlich oder zur Niederschrift abgegeben werden könnten, am 21. November 2019 im amtlichen Bekanntmachungsblatt (Nr. 21/2019) bekannt gemacht (Bl. 973 Beiakte C). Am 19. Mai 2020 beschloss die Gemeindevertretung den Teilbereich 1 des Bebauungsplans, bestehend aus Planzeichnung (Teil A) und Text (Teil B), als Satzung und billigte die Begründung (Bl. 1439 Beiakte B). Die Bekanntmachung erfolgte durch Abdruck im amtlichen Bekanntmachungsblatt (Ausgabe 12/2020) am 2. Juli 2020 (Bl. 1566 Beiakte B).
5
Im Parallelverfahren beschloss die Gemeindevertretung der Antragsgegnerin zudem die 19. Änderung ihres Flächennutzungsplans. Die Bekanntmachung der Genehmigung des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume und Integration des Landes Schleswig-Holstein als höherer Verwaltungsbehörde erfolgte durch Abdruck im amtlichen Bekanntmachungsblatt am 2. Juli 2020 (Ausgabe 12/2020, Bl. 1564 Beiakte B).
6
Der am 3. Juli 2020 in Kraft getretene Bebauungsplan Nr. 35 (Teilbereich 1) der Antragsgegnerin umfasst die Flurstücke 3 und 4 der Flur 9 der Gemarkung Westerrönfeld sowie einen Teil der Jevenstedter Straße (Flurstück 64/3 der Flur 4 der Gemarkung Westerrönfeld). Der Bebauungsplan setzt hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ein allgemeines Wohngebiet fest (WA 1 bis 3). Darin sind Betriebe des Beherbergungsgewerbes, Anlagen für Verwaltungen, Gartenbaubetriebe und Tankstellen nicht zulässig. Sonstige nicht störende Gewerbebetriebe, die der Versorgung des Gebietes dienenden Schank- und Speisewirtschaften, nicht störende Handwerksbetriebe sowie Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke sind ausnahmsweise zulässig. Daneben setzt der Bebauungsplan u. a. Mindestgrundstücksgrößen gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 3 BauGB, die höchstzulässige Zahl der Wohnungen gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB, Maßnahmen zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 20 BauGB und Maßnahmen zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 24 BauGB fest.
7
Die Antragstellerin, die sich im Beteiligungsverfahren mit Schriftsätzen vom 29. Mai 2019 (Bl. 601 ff. Beiakte D) und vom 16. Dezember 2019 (Bl. 1374 ff. Beiakte B) geäußert hatte, hat mit Schreiben vom 16. Juli 2020 einen Normenkontrollantrag(Az. 1 KN 18/20) gestellt und am 31. August 2020 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sie macht im Wesentlichen geltend, eine solche sei zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten. Sie sei als Plannachbarin antragsbefugt, denn sie führe Tatsachen an, die eine Verletzung des Gebots auf gerechte Abwägung möglich erscheinen ließen. Sie habe ihre Belange – insbesondere an der Erhaltung bestehender Entwicklungsmöglichkeiten – mehrfach im Rahmen sowohl des Verfahrens zur Aufstellung des Bebauungsplans, als auch des damit einhergehenden Verfahrens zur 19. Änderung des Flächennutzungsplans gegenüber der Antragsgegnerin geltend gemacht. Die in den entsprechenden Schreiben geäußerten Belange seien von der Antragsgegnerin im Rahmen der Abwägung in verschiedener Hinsicht fehlerhaft behandelt worden.
8
So sei bereits die ordnungsgemäße Ermittlung der Vorbelastung durch den Schallgutachter unterblieben. Vorbelastung sei nämlich nach Nr. 2.4 der TA Lärm die Belastung eines Orts mit Geräuschimmissionen von allen Anlagen, für die diese Technische Anleitung gelte, ohne den Immissionsbeitrag der zu beurteilenden Anlage. Im Übrigen sei festzuhalten, dass der Schallgutachter zu Unrecht die nach seinen Annahmen von ihr an den Immissionsorten 1 und 2 verursachten Immissionsanteile als irrelevant angesehen habe, weil sie knapp mehr als 6 dB(A) unter dem Immissionsrichtwert lägen. Dabei habe der Schallgutachter nämlich verkannt, dass die Irrelevanzregelung aus Nr. 3.2.1 Abs. 2 TA Lärm nicht für die Ermittlung der Vorbelastung, sondern nur für die von der zur Genehmigung gestellten Anlage ausgehende Zusatzbelastung Bedeutung habe. Die Abwägung beruhe daher jedenfalls auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage.
9
Weiter sei festzuhalten, dass eine Abwägung, bei der ihr Interesse am Erhalt bestehender betrieblicher Entwicklungsmöglichkeiten und das Interesse an der Schaffung neuer Wohnbaumöglichkeiten im streitgegenständlichen Bereich einander gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen worden seien, nicht stattgefunden habe. Insoweit sei auf die in gleicher Weise im F-Plan-Änderungsverfahren und im B-Plan-Aufstellungsverfahren erfolgte Beschlussfassung der Antragsgegnerin verwiesen, in der es heiße: „Der Bebauungsplan Nr. 16 ist aus schalltechnischer Sicht kein uneingeschränktes Gewerbegebiet. Die Einschränkungen ergeben sich durch die bereits vorhandene Bebauung der bestehenden Betriebsleiterwohnungen innerhalb des Gewerbegebietes … . Durch den Bebauungsplan Nr. 35 verschlechtert sich die Situation der Betriebe im Bebauungsplan Nr. 16 nicht.“ Dass sich durch die Zulassung und Errichtung von Betriebsleiterwohnungen innerhalb des Gewerbegebiets … besondere Einschränkungen ergäben, sei indes schlicht unzutreffend, wie sich aus dem Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. Februar 2020 (Az. – 1 MN 153/19 –, Rn. 20, juris), aber auch aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 27. Mai 1983 – 4 C 67.78 –, juris) ergebe. Grenzen ergäben sich lediglich aus den für ein Gewerbegebiet geltenden Immissionsrichtwerten. Zudem führe im Ergebnis die Festsetzung in Nr. 10 Abs. 2 dazu, ihr zulässiges Emissionsvolumen wie auch das der übrigen betroffenen Gewerbebetriebe im Gewerbegebiet … einzubetonieren und jede weitere Entwicklungsmöglichkeit, selbst die Möglichkeit eines Zurücks zu einer vorübergehend nicht gegebenen Vollauslastung zu nehmen.
10
Auch sei eine ordnungsgemäße Ermittlung der abwägungserheblichen Belange im Hinblick auf die Luftschadstoffbelastung unterblieben. Dies könne zu einem absoluten Verfahrensfehler führen (Beschluss des OVG Hamburg vom 8. Januar 2020 – 2 Bs 183/19 –, Rn. 44 ff., juris). Es sei festzustellen, dass sich die Feststellungen des Umweltberichts zum Schutzgut Luft auf weniger als eine DIN A4-Seite beschränkten, dass vorhandene Luftschadstoffemissionen im unmittelbar angrenzenden Gewerbegebiet nicht einmal ansatzweise behandelt worden seien und dass es an einer Befassung mit der Frage fehle, ob die beabsichtigte Zulassung von Wohnbebauung auf der anderen Straßenseite der … unter diesem Gesichtspunkt zu Beschränkungen der Entwicklungsmöglichkeiten im Gewerbegebiet … führen könne.
11
Damit leide der Bebauungsplan Nr. 35 bereits in mehrfacher Hinsicht unter Abwägungsfehlern, die offensichtlich seien und bei denen die konkrete Möglichkeit bestehe, dass ohne den Mangel im Planungsvorgang die Planung anders ausgefallen wäre, und die mithin auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen seien.
12
Zudem lägen Fehler im Rahmen der formellen Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 3 Abs. 2 BauGB vor. Denn die Auslegungsbekanntmachung sei durch das „Bekanntmachungsblatt Amt Jevenstedt“ Nr. 07/2019 vom 18. April 2019 erfolgt. In diesem sei mitgeteilt worden, dass die Gemeindevertretung in der Sitzung am 28. April 2019 den zur Auslegung bestimmten Entwurf des Bebauungsplans Nr. 35 gebilligt habe. Jedem Leser und jeder Leserin habe auf den ersten Blick deutlich werden können, dass dies so nicht stimmen könne, da in einem am 18. April 2019 veröffentlichen Bekanntmachungsblatt nicht auf einen zeitlich späteren Beschluss verwiesen werden könne. Es liege nahe, dass zumindest ein Teil der Leserinnen und Leser angenommen habe, dass es sich bei der Veröffentlichung um einen Entwurf gehandelt habe, der für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen gewesen und nur versehentlich in diese Ausgabe des Bekanntmachungsblatts geraten sei, sodass nicht auszuschließen sei, dass hierdurch jedenfalls einzelne Personen davon abgehalten worden seien, Einsicht in die Planunterlagen zu nehmen. Zudem werde um Prüfung gebeten, ob in einer Fassung des Planentwurfs, die Gegenstand der öffentlichen Auslegung gewesen sei, der Geltungsbereich des Bebauungsplans die Teilfläche 2 eingeschlossen habe, wofür die Darstellung des die Teilbereiche 1 und 2 einschließenden Gesamtbereichs als Geltungsbereich in der ausgelegten Begründung (Bl. 986 Beiakte C) spreche sowie der Umstand, dass auch in der ausgelegten Fassung des Schallgutachtens vom 23. Oktober 2019 (vgl. Übersichtslageplan auf Bl. 1166 Beiakte C) von einem Zuschnitt des Geltungsbereichs ausgegangen worden sei, welcher das Teilgebiet 2 einschließe. In diesem Fall liege ein Verstoß gegen § 214 Abs. 2 BauGB vor, denn in der endgültig beschlossenen, ausgefertigten und ortsüblich bekanntgemachten Fassung der Planzeichnung sei der Teilbereich 2 aus dem Geltungsbereich herausgenommen worden, ohne dass es zu einem nochmaligen Beteiligungsverfahren nach § 4a Abs. 3 BauGB gekommen sei.
13
Darüber hinaus weiche die textliche Festsetzung Nr. 10 Abs. 1 Satz 1 („Zum Schutz der Wohnnutzungen vor Gewerbelärm sind in den in der Planzeichnung dargestellten Bereichen für schutzbedürftige Räumen gemäß DIN 4109 bei den lärmzugewandten Fassadenseiten nur festverglaste Fenster zulässig.“) von dem in der Zeit vom 2. Dezember 2019 bis zum 18. Dezember 2019 gemäß § 3 Abs. 2 BauGB öffentlich ausgelegten Exemplar des Entwurfs des Bebauungsplans ab („Zum Schutz der Wohnnutzungen vor Gewerbelärm sind in den in der Planzeichnung dargestellten Bereichen für schutzbedürftige Räumen gemäß DIN 4109 bei den lärmabgewandten Fassadenseiten nur festverglaste Fenster zulässig.“). Von einem offensichtlichen Fehler könne nicht ausgegangen werden, weil auch in der Begründung des Entwurfs des Bebauungsplans die „lärmabgewandten Fassadenseiten“ genannt worden seien und kein Träger öffentlicher Belange diesen Fehler erkannt habe. Möglicherweise habe hier ein Denkfehler zugrunde gelegen. Ein solcher stelle aber keinen Fehler dar, der im Wege redaktioneller Korrektur behoben werden könne.
14
In materieller Hinsicht verstoße die Planung zudem gegen den Trennungsgrundsatz gemäß § 50 Satz 1 BImSchG. Die Antragsgegnerin habe nicht einmal den Versuch unternommen, darzulegen, dass und welche städtebaulichen Gründe von besonderem Gewicht es vorliegend rechtfertigen könnten, eine planerische Vorsorge durch räumliche Trennung zurücktreten zu lassen. Vielmehr machten ihre Ausführungen deutlich, dass sie vollständig verkannt habe, welche Bedeutung der Trennungsgrundsatz als Abwägungsdirektive habe. Denn für die Frage, ob schädliche Umwelteinwirkungen auf die ausschließlich oder überwiegend dem Wohnen dienenden Gebiete so weit wie möglich vermieden würden, sei es ohne jeden Belang, wie die zwischen einem Gewerbegebiet und einem geplanten allgemeinen Wohngebiet verlaufende Straße straßenrechtlich klassifiziert werde und welche straßenrechtliche Funktion ihr damit zukomme. Wenn die Antragsgegnerin gleichwohl hierauf abgestellt habe, so mache dies deutlich, dass ihre planerische Entscheidung zu dem mit dem Trennungsgebot verfolgten Ziel außer Verhältnis stehe und sich daher als abwägungsdisproportional darstelle. Auch liege ein Festsetzungsfehler vor, denn die textliche Festsetzung Nr. 1.2 beschränke die allgemeine Zulässigkeit in den festgesetzten allgemeinen Wohngebieten auf Wohngebäude und der Versorgung des Gebiets dienende Läden. Durch die textliche Festsetzung Nr. 1.1 würden die in § 4 Abs. 3 Nrn. 1, 3, 4 und 5 genannten baulichen Anlagen für nicht zulässig erklärt. Im Ergebnis würden damit die für ein allgemeines Wohngebiet gegenüber einem reinen Wohngebiet wesensprägenden zulässigen Nutzungen sowohl im Bereich der allgemeinen Zulässigkeit als auch der ausnahmsweisen Zulassungsfähigkeit ausgeschlossen, sodass die Zweckbestimmung eines allgemeinen Wohngebiets nicht gewahrt bleibe. Zur weiteren Begründung werde auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. November 2019 (7 D 7/18.NE, Rn. 31, juris) Bezug genommen. Es liege ein Etikettenschwindel vor, weil der Wille der Antragsgegnerin in Wirklichkeit nicht darauf abziele, ein allgemeines Wohngebiet festzusetzen, sondern darauf, die höheren Immissionsrichtwerte in Anspruch nehmen zu können. Schließlich liege eine unzulässige Vorratsplanung vor, denn die Antragsgegnerin habe den „Teilbereich 2“ in den Geltungsbereich des Bebauungsplans einbezogen, ohne eine grundlegende Festsetzung – insbesondere eine solche über Art und Maß der baulichen Nutzung – zu treffen. Dies verstoße gegen § 1 Abs. 3 BauGB.
15
Die Antragstellerin beantragt,
16
gemäß § 47 Abs. 6 VwGO den Bebauungsplan Nr. 35 „Heisch“ der Antragsgegnerin vorläufig außer Vollzug zu setzen.
17
Die Antragsgegnerin beantragt,
18
den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 47 Abs. 6 VwGO abzulehnen.
19
Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei weder zur Abwehr schwerer Nachteile erforderlich, noch aus anderen Gründen dringend geboten.
20
Voranzustellen sei, dass die von der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren beschriebene Betriebskonfiguration zu keinem Zeitpunkt bauaufsichtlich zugelassen worden sei, wie eine Auswertung der erteilten Baugenehmigungen ergebe. Ihr sei mit Baugenehmigung vom 27. November 1991 der Neubau einer Maschinenhalle sowie mit Baugenehmigung vom 20. Juli 1992 der Neubau einer Maschinenhalle mit Anbau genehmigt worden, unter dem 14. Januar 1993 der Einbau einer Arbeitsgrube, unter dem 10. März 1993 der Neubau eines Bürogebäudes mit Betriebsleiterwohnung, am 13. Juli 1993 die Errichtung einer Selbstverbrauchertankanlage, unter dem 13. September 1999 der Einbau eines Wärmelufterzeugers und die Errichtung eines Stahlschornsteins sowie die Errichtung einer Doppelgarage unter dem 23. September 1993. Allen Baugenehmigungen fehle eine aussagekräftige Betriebsbeschreibung, sodass die tatsächliche Nutzung des Grundstücks von den erteilten Genehmigungen nicht gedeckt sei. Es werde die Beiziehung der Bauakten beantragt (Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 30. September 2020, S. 6).
21
Im näheren Umfeld des Grundstücks der Antragstellerin seien zudem mehrere Gebäude vorhanden, die bauaufsichtlich zugelassen seien und in denen Wohngebäude vorhanden seien (im Einzelnen: Auflistung im Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 30. September 2020, S. 7). Innerhalb des Geltungsbereichs des Bebauungsplans Nr. 16 seien daher neben der Betriebsleiterwohnung auf den Grundstücken der Antragstellerin weitere Wohnnutzungen zugelassen worden. Dies sei für die planungsrechtliche Beurteilung bedeutsam.
22
Im Rahmen eines Gesprächs am 27. Mai 2019 seien seitens der Gewerbetreibenden aus dem Gewerbegebiet Am Busbahnhof/Rolandskoppel hauptsächlich verkehrliche Bedenken geäußert worden; es sei befürchtet worden, dass es zu Stoßzeiten zu erheblichen Wartezeiten im Bereich der Einmündung in das Gewerbegebiet von der Lindenallee aus kommen werde. Hierbei habe die Antragstellerin auch geäußert, sie beabsichtige, Grünabfälle anzunehmen. Ihr sei mitgeteilt worden, dass sie dann ein Lärmgutachten einholen müsse. Es sei eingeräumt worden, dass es tagsüber nicht zu Problemen komme, dass aber nachts die Immissionsrichtwerte für Gewerbegebiete nicht eingehalten würden. Die nächtlichen lärmintensiven Arbeiten kollidierten bereits mit den vorhandenen betriebsbezogenen Wohnnutzungen im Gewerbegebiet selbst. Insbesondere das Be- und Entladen von Lkw zur Nachtzeit führe zu einer Überschreitung des Immissionswerts von 50 dB(A) nachts. Das habe sie im Rahmen der Planung indes auch berücksichtigt. So habe sie durch Gutachten vom 25. Juni 2019 und vom 23. Oktober 2019 die aus dem Gewerbegebiet auf das Wohngebiet einwirkenden Immissionen ermitteln und bewerten lassen. Der Gutachter sei jeweils zu der Einschätzung gelangt, dass der Tagesrichtwert von 55 dB(A) unterschritten werde; nachts werde der Wert von 40 dB(A) im überwiegenden Teil eingehalten oder unterschritten. Des Weiteren habe der Sachverständige Schallschutzmaßnahmen vorgeschlagen. Dem habe sie durch die Festsetzung nach § 9 Abs. 11 Nr. 24 BauGB Rechnung getragen. Soweit die Antragstellerin davon ausgehe, dass sich aus der Zulassung und Errichtung von Betriebsleiterwohnungen innerhalb des Gewerbegebiets keine besonderen Einschränkungen für ihren Betrieb ergäben, gehe sie zu Unrecht davon aus, dass sie sich selbst an die Immissionsrichtwerte für die Nachtzeit im Gewerbegebiet halte. Sie unterliege einer Fehlvorstellung, wenn sie meine, sie könne im Gewerbegebiet so laut sein, wie sie wolle.
23
Hinsichtlich ihrer Behauptung, die Luftschadstoffermittlung sei unvollständig erfolgt, bleibe die Antragstellerin einen Nachweis schuldig, was Veranlassung hätte geben sollen, in zusätzliche Untersuchungen einzutreten.
24
Die formelle Öffentlichkeitsbeteiligung sei ordnungsgemäß erfolgt. Der Gegenstand der öffentlichen Auslegung sei präzise benannt worden, ebenso der Auslegungszeitraum. Auch die Fristen seien gewahrt worden. Allein aus der Nennung eines unrichtigen Beschlussdatums, das im Übrigen später korrigiert worden sei, könne nicht gefolgert werden, es habe sich bei der Veröffentlichung um einen Entwurf gehandelt, der für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen gewesen und nur versehentlich in die Ausgabe des Bekanntmachungsblatts vom 18. April 2019 geraten sei. Soweit es im öffentlich ausgelegten Entwurf des Bebauungsplans in der textlichen Festsetzung Nr. 10 Abs. 1 Satz 1 geheißen habe, dass bei den lärmabgewandten Fassadenseiten nur festverglaste Fenster zulässig seien, habe es sich um ein redaktionelles Versehen und nicht um einen Denkfehler gehandelt. Sie habe ersichtlich lediglich die Empfehlung des Schallgutachters umsetzen wollen.
25
Ihr Bebauungsplan Nr. 35 sei auch nicht in materieller Hinsicht fehlerbehaftet. So liege kein Verstoß gegen den Trennungsgrundsatz vor. Die Antragstellerin übersehe, dass die an das Gewerbegebiet angrenzende Tennisplatzanlage nicht im Geltungsbereich des Bebauungsplans liege, sondern überhaupt nicht überplant sei, sodass in diese Richtung eine Trennung erfolge. Zudem werde das Flurstück 61/54, das unmittelbar an das Grundstück der Antragstellerin anschließe, im Geltungsbereich des künftigen Bebauungsplans Nr. 26 als eingeschränktes Gewerbegebiet festgesetzt werden, sodass auch insoweit ein Puffer entstehe. Insbesondere dann, wenn ein auftretender Konflikt durch gezielte Schallschutzmaßnahmen vermieden werden könne, seien auch an sich eher unverträgliche Nutzungen nebeneinander möglich. Sie wolle die Wohnbedürfnisse der Bevölkerung befriedigen und dafür entsprechende Baukapazitäten schaffen. Die Planung diene dem Wohl der Allgemeinheit; die Nachfrage nach Flächen zur wohnbaulichen Entwicklung sei nach wie vor hoch und das Angebot hinke der Nachfrage hinterher. Auch treffe es nicht zu, dass durch die Festsetzung Nr. 1 des Bebauungsplans Nr. 35 die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets nicht mehr gewahrt sei. Sie habe lediglich von den Gliederungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht, welche ihr die BauNVO einräume. Es liege auch keine unzulässige Vorratsplanung vor, denn sie habe bislang allein den Teilbereich 1 des Bebauungsplans als Satzung beschlossen, nicht hingegen den Teilbereich 2, für welchen nach wie vor Planersatzrecht in Gestalt von § 35 BauGB Anwendung finde.
26
Der Bebauungsplan Nr. 35 erweise sich damit nicht als offensichtlich rechtsfehlerhaft, sodass von einem Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht ausgegangen werden könne. Die einstweilige Anordnung sei auch nicht aus anderen Gründen geboten. Schwere Nachteile seien nicht zu befürchten. Allein der Vollzug des Bebauungsplans stelle einen solchen nicht dar. Die Dringlichkeit ergebe sich auch nicht aus der Gefahr, dass in der Zwischenzeit Baugenehmigungen erteilt würden. Bislang seien solche noch nicht erteilt worden, wären aber auch aufgrund von § 68 LBO nicht erforderlich. Es sei zudem nicht ersichtlich, weshalb es der Antragstellerin nicht zuzumuten sei, zur Wahrung ihrer vermeintlichen Rechte gegen einzelne Vorhaben vorzugehen.
27
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
28
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig (dazu: A.) und begründet (dazu: B.).
29
A. Der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zulässig. Insbesondere ist die Antragstellerin antragsbefugt. Erforderlich ist insoweit, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen darlegt und glaubhaft macht, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die angegriffenen Festsetzungen oder ihre Anwendung in einem eigenen Recht verletzt wird. Nicht abwägungserheblich – und damit (auch) nicht antragsbefugend – sind solche Belange, die – objektiv – geringwertig, die – sei es überhaupt, sei es im gegebenen Zusammenhang – nicht schutzwürdig, die für die Gemeinde nicht als abwägungserheblich erkennbar oder die sonst makelbehaftet sind (vgl. Schl.-Holst. OVG, Urteil vom 26. Juli 2017 – 1 KN 17/15 –, Rn. 46 ff., juris; Beschluss vom 10. Februar 2020 – 1 MR 3/19 – S. 3 –, n. v.; BVerwG, Beschluss vom 14. September 2015 – 4 BN 4.15 –, Rn. 10, juris).
30
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Antragstellerin antragsbefugt. Sie macht hinreichend substantiiert die Möglichkeit geltend, dass sie durch den hier angegriffenen Bebauungsplan in ihrem Recht auf gerechte Abwägung aus § 1 Abs. 7 BauGB verletzt sein kann. Wie bereits im Aufstellungsverfahren beruft sie sich auf ihr betriebliches Interesse, vor einer heranrückenden schutzbedürftigen (Wohn-)Bebauung geschützt zu werden, und auf ihr Eigentümerinteresse, ihr Grundstück weiterhin uneingeschränkt so nutzen zu können, wie es dessen Lage innerhalb des festgesetzten Gewerbegebiets (Bebauungsplan Nr. 16 „Erweiterung Gewerbegebiet“) entspricht. Sie hat dabei die von ihr betrieblich verursachten Geräuschimmissionen wie auch ihre betrieblichen Erweiterungsmöglichkeiten als private Belange (Lärm) benannt, in Bezug auf welche eine Konfliktlage zwischen den durch den Bebauungsplan Nr. 35 zugelassenen Nutzungen und ihrem im benachbarten Gewerbegebiet gelegenen Betrieb möglich erscheint, die in die Abwägung einzustellen war. Insoweit lässt sich nicht schon im Rahmen der beschränkten Zulässigkeitsprüfung sicher ausschließen, dass mehr als nur geringfügige Beeinträchtigungen in Rede stünden (vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Januar 2018 – 2 D 102/14.NE –, Rn. 83 f., juris). Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass das Schalltechnische Gutachten Teil 2 vom 23. Oktober 2019 die berechneten Schallimmissionen an den Immissionsorten 1 und 2 im Bebauungsplangebiet als irrelevant beurteilt hat, weil sie jeweils mehr als 6 dB(A) unter dem Immissionsrichtwert für ein allgemeines Wohngebiet lägen (S. 10 des Gutachtens). Denn die Antragstellerin hat die Tragfähigkeit des Schalltechnischen Gutachtens insgesamt substantiiert angegriffen und dabei u. a. Ermittlungsdefizite hinsichtlich der Erfassung der Lärmvorbelastung im Plangebiet geltend gemacht.
31
Auch kann die Antragsgegnerin dem nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Antragstellerin verfüge jedenfalls in Bezug auf die von ihr im Verfahren dargelegte Betriebskonfiguration nicht über die erforderlichen Baugenehmigungen. Diesen Einwand, welchen die Antragsgegnerin von sich aus keinem normativen Prüfungspunkt zugeordnet hat, versteht der Senat als gegen die Schutzbedürftigkeit der vorgebrachten Belange gerichtet. Allein aus dem Umstand, dass es – nach den unbestrittenen Darlegungen der Antragsgegnerin (S. 5 f. des Schriftsatzes der Antragsgegnerin vom 15. September 2020) – an einer Betriebsbeschreibung fehlt, vermag der Senat indes nicht zu schlussfolgern, dass die von der Antragstellerin benannten Belange als nicht schutzwürdig und damit nicht abwägungserheblich anzusehen wären. Aus den Baugenehmigungsunterlagen folgt bei summarischer Prüfung ohne Weiteres, dass die Antragstellerin an dieser Betriebsstätte eine größere Anzahl von „Baugeräten und Anhängern“ vorhält und diese zum Einsatz schickt. Anders lässt sich nicht erklären, weshalb die Antragstellerin die Baugenehmigungen für eine Maschinenhalle, eine weitere „Maschinenhalle für Baugeräte und Anhänger“ sowie ein Reifenlager, ein Ersatzteillager, ein Kleingerätelager, eine Arbeitsgrube in der Maschinenhalle, ein Bürogebäude nebst Betriebsleiterwohnung sowie eine Tankanlage mit 2000 l Dieselkraftstoff und einen Waschplatz mit Abscheideanlage beantragt und genehmigt bekommen hat. Art und Anzahl der vorgehaltenen Anlagen korrespondieren mit der im Verfahren getätigten Betriebsbeschreibung der Antragstellerin. Sie hat auch nicht vorgetragen, dass die Lastkraftwagen Be- und Entladevorgänge an diesem Betriebsstandort vornehmen würden, sondern dass sie hier stationiert seien und für Transporteinsätze vor- und nachbereitet würden, wozu neben dem Betanken auch Reinigungs- und Reparaturaufgaben gehören würden. Dass es neben oder sogar anstelle der erteilten Baugenehmigungen der Erteilung weiterer oder anderer (Betriebs-)Genehmigungen bedurft hätte, macht selbst die Antragsgegnerin nicht geltend. Dass die Baugenehmigungen möglicherweise ohne Vorlage einer Betriebsbeschreibung erteilt worden sind (vgl. § 9 Abs. 2 BauVorlVO), ist in diesem Zusammenhang unerheblich.
32
Da der Senat nach alledem den seitens der Antragsgegnerin vorgetragenen und unbestrittenen Inhalt der erteilten Baugenehmigungen als zutreffend unterstellen kann, bedarf es der von der Antragsgegnerin beantragten Beiziehung der Bauakten betreffend das Betriebsgrundstück der Antragstellerin (Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 30. September 2020, S. 6) nicht.
33
B. Der Antrag ist auch begründet. Gemäß § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht im Rahmen eines Normenkontrollantrags eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
34
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO, jedenfalls bei Bebauungsplänen, zunächst die Erfolgsaussichten des in der Sache anhängigen Normenkontrollantrages, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, Beschluss vom 25. Februar 2015 – 4 VR 5.14 –, Rn. 12, juris m. w. N.). Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug des Bebauungsplans bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn dessen (weiterer) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (BVerwG, Beschluss vom 25. Februar 2015 – 4 VR 5.14 –, Rn. 12, juris; Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 28. August 2020 – 1 MR 4/20 –, Rn. 13, juris).
35
Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung wird das Normenkontrollverfahren 1 KN 18/20 voraussichtlich erfolgreich sein (dazu: I.). Eine einstweilige Anordnung kann vorliegend ergehen, weil der (weitere) Vollzug des Bebauungsplans vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange der Antragstellerin so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für die Antragstellerin günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (dazu: II.).
I.
36
1. Der Senat lässt offen, ob bereits die Bekanntmachung der Satzung über den Bebauungsplan Nr. 35 der Antragsgegnerin im Bekanntmachungsblatt Amt Jevenstedt vom 2. Juli 2020 (Bl. 1566 Beiakte B) fehlerhaft ist und nicht in Einklang mit höherrangigem Recht steht.
37
Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 BauGB ist der Beschluss des Bebauungsplans durch die Gemeinde ortsüblich bekannt zu machen. Die Ortsüblichkeit im Sinne des § 143 Abs. 1 Satz 2 BauGB i. V. m. § 10 Abs. 3 Satz 2 bis 5 BauGB beurteilt sich nach Landes- und Ortsrecht. Das Landesrecht bestimmt nicht, welche Art der Bekanntmachung für die Gemeinden ortsüblich ist. § 68 Satz 1 und Satz 3 LVwG regelt für Satzungen, deren Geltungsbereich sich nicht auf das ganze Land erstreckt, lediglich, dass diese bekanntzumachen sind und eine örtliche Bekanntmachung ausreichend ist. Die Landesverordnung über die örtliche Bekanntmachung und Verkündung (BekanntVO), hier die BekanntVO vom 14. September 2015 (GVOBl. 2015, S. 338), regelt, in welcher Form die örtliche Bekanntmachung vorgenommen werden kann. Die Auswahl der Form obliegt den Gemeinden und wird durch das jeweilige Ortsrecht bestimmt (Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 24. September 2020 – 1 MR 5/20 –, Rn. 51, juris). Dementsprechend sieht die Hauptsatzung der Antragsgegnerin vom 11. September 2003 in § 9 Abs. 1 vor, dass Satzungen der Gemeinde durch Abdruck im amtlichen Bekanntmachungsblatt des Amtes Jevenstedt veröffentlicht werden.
38
Ein Fehler könnte sich daraus ergeben, dass das amtliche Bekanntmachungsblatt des Amtes Jevenstedt nicht den Anforderungen von § 3 Abs. 1 Satz 1 BekanntVO genügt. Danach muss das amtliche Bekanntmachungsblatt durch seine Bezeichnung auf seinen amtlichen Charakter und den Träger der öffentlichen Verwaltung hinweisen, der es herausgibt, jahrgangsweise fortlaufend nummeriert sein und den Ausgabetag, die Erscheinungsweise sowie die Bezugsmöglichkeiten und -bedingungen angeben.
39
Das Bekanntmachungsblatt des Amtes Jevenstedt weist zwar durch seine Bezeichnung auf seinen amtlichen Charakter und den Träger der öffentlichen Verwaltung hin, der es herausgibt. Es ist auch jahrgangsweise fortlaufend nummeriert (hier die Nr. 12/2020) und gibt den Ausgabetag an (hier den 2. Juli 2020). Allerdings gibt es seine Erscheinungsweise nicht an und auch nicht seine Bezugsmöglichkeiten und Bezugsbedingungen. Diese Angaben sind weder auf dem Deckblatt noch im Impressum (Bl. 1574 Beiakte B) enthalten und finden sich auch sonst nicht in dem Bekanntmachungsblatt.
40
Bejahte man insoweit einen Fehler, wären diese Angaben auch nicht deshalb entbehrlich, weil § 13 Abs. 1 Satz 2 der Hauptsatzung des Amtes Jevenstedt vom 3. September 2013 regelt, dass das amtliche Bekanntmachungsblatt die Bezeichnung „Bekanntmachungsblatt des Amtes Jevenstedt“ trägt, bei Bedarf am 1. und 3. Donnerstag im Monat erscheint und bei der Amtsverwaltung in Jevenstedt kostenlos erhältlich ist. Zwar verweist die Hauptsatzung der Antragsgegnerin in § 9 Abs. 1 Satz 2 auf diese Regelung, wenn es dort heißt: „Hinsichtlich der Erscheinungsweise und der Bezugsmöglichkeiten gelten die entsprechenden Bestimmungen der Hauptsatzung des Amtes Jevenstedt.“. Allerdings enthält § 3 Abs. 1 Satz 1 BekanntVO gerade keine Vorgaben, welche die entsprechende Satzung enthalten muss, sondern Mindestvorgaben für den Inhalt des Bekanntmachungsblattes selbst. Der Verordnungsgeber hat diese Mindestangaben ausdrücklich neben den in § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BekanntVO enthaltenen Mindestangaben für die Satzung normiert.
41
2. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin liegt allerdings kein Verstoß gegen § 3 Abs. 2 Satz 2 BauGB vor. Danach sind Ort und Dauer der Auslegung sowie Angaben dazu, welche Arten umweltbezogener Informationen verfügbar sind, mindestens eine Woche vorher ortsüblich bekannt zu machen; dabei ist darauf hinzuweisen, dass Stellungnahmen während der Auslegungsfrist abgegeben werden können und dass nicht fristgerecht abgegebene Stellungnahmen bei der Beschlussfassung über den Bauleitplan unberücksichtigt bleiben können. Diese Voraussetzungen erfüllt die Auslegungsbekanntmachung der Antragsgegnerin im Bekanntmachungsblatt Amt Jevenstedt vom 18. April 2019 (Bl. 272 Beiakte A). Der Umstand, dass in der Bekanntmachung auf einen Beschluss der Gemeindevertretung vom 28. April 2019 Bezug genommen wird, beeinträchtigt nicht die gebotene Anstoßwirkung. Es handelte sich um einen offensichtlichen Schreibfehler, der – unabhängig davon, dass dieser im Bekanntmachungsblatt Amt Jevenstedt vom 2. Mai 2019 berichtigt worden ist – nicht geeignet war, jemanden von der Einsicht in den ausgelegten Plan abzuhalten. Insbesondere wurde nicht der Eindruck vermittelt, es handele sich um einen bloßen Entwurf, der für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen war. Schon grammatikalisch wird klar, dass sich die Bekanntmachung auf einen bereits gefassten Beschluss der Gemeindevertretung bezieht („gebilligte und zur Auslegung bestimmte Entwurf des B-Planes Nr. 35“, Bl. 272 Beiakte D).
42
3. Auch teilt der Senat nicht die Rechtsauffassung der Antragstellerin, wonach es der Durchführung einer weiteren Auslegung gemäß § 4a Abs. 3 Satz 1 BauGB bedurft hätte. Die Antragstellerin begründet dies einerseits damit, dass die textliche Festsetzung Nr. 10 einen offensichtlichen Fehler enthalten habe, dessen Korrektur zur Neuauslegung habe führen müssen und andererseits damit, dass im Rahmen der zweiten Auslegung des Entwurfs des Bebauungsplans Nr. 35 der Geltungsbereich des Bebauungsplans den Teilbereich 2 – anders als in dem später bekannt gemachten Bebauungsplan – noch mit eingeschlossen habe. Beides führt nicht auf einen Verfahrensfehler.
43
§ 4a Abs. 3 Satz 1 BauGB sieht vor, dass der Entwurf des Bauleitplans, wenn er nach dem Verfahren nach § 3 Abs. 2 oder § 4 Abs. 2 BauGB geändert oder ergänzt wird, erneut auszulegen ist und die Stellungnahmen erneut einzuholen sind. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass das Beteiligungsverfahren nicht um seiner selbst willen zu betreiben ist. Hat eine nach öffentlicher Auslegung vorgenommene Ergänzung einer Festsetzung lediglich klarstellende Bedeutung, so besteht kein Anlass zu einer erneuten Öffentlichkeitsbeteiligung oder einer erneuten Beteiligung von Behörden und Trägern öffentlicher Belange, denn inhaltlich ändert sich am Planentwurf nichts. Entsprechendes gilt, wenn der Entwurf nach der Auslegung in Punkten geändert worden ist, zu denen die betroffenen Bürger, Behörden und sonstigen Träger öffentlicher Belange zuvor bereits Gelegenheit zur Stellungnahme hatten, die Änderungen auf einem ausdrücklichen Vorschlag eines Betroffenen beruhen und Dritte hierdurch nicht abwägungsrelevant berührt werden (BVerwG, Beschluss vom 18. April 2016 – 4 BN 9.16 –, Rn. 4, juris). So liegt es hier im Hinblick auf die Änderung des Wortlauts der textlichen Festsetzung Nr. 10 Abs. 1. Es handelt sich um einen offensichtlichen Schreibfehler, der auf den Hinweis der Antragstellerin im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung beseitigt worden ist und die Grundzüge der Planung nicht berührt. Es ist für den Senat nicht ersichtlich, dass hier tatsächlich ein Denkfehler der Antragsgegnerin vorgelegten haben könnte, denn es liegt auf der Hand, dass festverglaste Fenster als Instrumente passiven Schallschutzes im Rahmen der vorliegenden Planung nur auf der Gebäudeseite einen Sinn ergeben, welche der Lärmquelle zugewandt ist.
44
Das Erfordernis einer erneuten Auslegung ergab sich auch nicht aus dem Umstand, dass während der zweiten Auslegung der Teilbereich 2 – anders als in dem später bekannt gemachten Bebauungsplan – noch in der Planzeichnung enthalten gewesen ist. Die Anstoßfunktion wurde auch insoweit nicht verfehlt. Denn bei verständiger Lesart des Entwurfs des Bebauungsplans (Bl. 985 Beiakte C) einschließlich dessen Legende und des Begründungsentwurfs wird deutlich, dass die Antragsgegnerin sich zu der zweiten Auslegung gerade deshalb veranlasst gesehen hatte, weil sie den Teilbereich 2 aus dem übrigen Plangebiet „herauslösen“ wollte. Zwar hätte es zur Verbesserung der Lesbarkeit der einzelnen Festsetzungen durchaus nahegelegen, den Teilbereich 2 weiß und das übrige Plangebiet farbig zu gestalten. Allerdings ist dies nicht zwingend; unter Einbeziehung des ebenfalls ausgelegten Begründungsentwurfs (S. 5, 22, Bl. 990, 1007 Beiakte C) sowie des Umweltberichts (S. 3, Bl. 1016 Beiakte C) lässt sich bei verständiger Lesart hinreichend deutlich erkennen, dass die Antragsgegnerin aufgrund der erst zu einem späteren Zeitpunkt möglichen Verlagerung des emissionsstarken Gewerbetriebs „…“ zunächst nur die Bekanntmachung des Bebauungsplans für das Teilgebiet 1 anstrebte, während der Bebauungsplan für das Teilgebiet 2 zu einem späteren Zeitpunkt erlassen werden sollte. Auch der durch eine rote Umrandung deutlich hervorgehobene Zusatz auf dem Planentwurf, wonach nur Änderungen und Ergänzungen farbig dargestellt sind, bringt zum Ausdruck, dass der Teilbereich 2 deshalb farbig gekennzeichnet ist, weil er aus der Planung herausgenommen wird.
45
4. Auch liegen die von der Antragstellerin behaupteten Festsetzungsfehler nicht vor. Zwar verhält es sich so, dass entsprechend der textlichen Festsetzung Nr. 1.1 Betriebe des Beherbergungsgewerbes, Anlagen für Verwaltung, Gartenbaubetriebe und Tankstellen nicht zulässig sind und gemäß Nr. 1.2 sonstige nicht störende Gewerbebetriebe, die der Versorgung des Gebiets dienenden Schank- und Speisewirtschaften, nicht störende Handwerksbetriebe sowie Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke ausnahmsweise zulässig sind. Damit ist der Antragstellerin zwar darin zuzustimmen, dass abweichend von § 4 Abs. 2 BauNVO nur noch Wohngebäude und die der Versorgung des Gebiets dienenden Läden allgemein zulässig sind, während die weiteren als allgemein zulässig vorgesehenen Nutzungen nur ausnahmsweise zulässig sind. Hiermit hält sich die Antragsgegnerin indes nach Auffassung des Senats noch in den Grenzen von § 1 Abs. 5 BauNVO. Danach kann im Bebauungsplan festgesetzt werden, dass bestimmte Arten von Nutzungen, die nach den §§ 2 bis 9 sowie 13 und 13a BauNVO allgemein zulässig sind, nicht zulässig sind oder nur ausnahmsweise zugelassen werden können, sofern die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets gewahrt bleibt. So liegt es hier. Zwar weist die Antragstellerin zu Recht darauf hin, dass sich das allgemeine Wohngebiet durch die Zuordnung wohnaffiner Nutzungen von dem reinen Wohngebiet nach § 3 BauNVO unterscheidet, das ausschließlich dem Wohnen dient. Mit dem vollständigen Ausschluss der nach § 4 Abs. 2 BauNVO zulässigen Nutzungen wäre daher die allgemeine Zweckbestimmung eines allgemeinen Wohngebiets nicht mehr gegeben (OVG NRW, Urteil vom 29. November 2019 – 7 D 7/18.NE –, Rn. 31, juris). Die Nutzungen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 und 3 BauNVO sind der Wohnnutzung nämlich zugeordnet, damit im Wohngebiet selbst eine Versorgungsinfrastruktur bereitgestellt werden kann, mit der sich die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigen lassen (BVerwG, Urteil vom 7. September 2017 – 4 C 8.16 –, Rn. 7, juris). Dem trägt die Antragsgegnerin aber Rechnung, indem sie die der Versorgung des Gebiets dienenden Läden als allgemein zulässig festsetzt. Damit normiert sie einen noch ausreichenden Unterschied zum reinen Wohngebiet, in dem Läden, die zur Deckung des täglichen Bedarfs für die Bewohner des Gebiets dienen, nur ausnahmsweise zulässig sind und wahrt damit die Zweckbestimmung des allgemeinen Wohngebiets. Der Ausschluss der ausnahmsweise zulässigen Nutzungen in § 4 Abs. 3 Nr. 1 und 3 bis 5 BauNVO findet seine Rechtsgrundlage in § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauNVO, wonach im Bebauungsplan festgesetzt werden kann, dass alle oder einzelne Ausnahmen, die in den Baugebieten nach den §§ 2 bis 9 BauNVO vorgesehen sind, nicht Bestandteil des Bebauungsplans werden.
46
5. Der Bebauungsplan Nr. 35 erweist sich indes als voraussichtlich in mehrfacher Hinsicht gegen das Abwägungsgebot gemäß § 1 Abs. 7 BauGB verstoßend.
47
Das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 7 BauGB, nach dem bei der Aufstellung der Bauleitpläne die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen sind, stellt inhaltliche Anforderungen an den Abwägungsvorgang und an das Abwägungsergebnis und unterliegt dabei insgesamt allerdings nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Gegen das rechtsstaatlich fundierte Gebot gerechter Abwägung wird verstoßen, wenn eine Abwägung überhaupt nicht stattfindet (Abwägungsausfall), in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss (Abwägungsdefizit), wenn die Bedeutung dieser Belange verkannt wird (Abwägungsfehleinschätzung) oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (Abwägungsdisproportionalität). Innerhalb des so gezogenen Rahmens ist dem Abwägungserfordernis genügt, wenn sich die zur Planung berufene Gemeinde in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung des anderen entscheidet. Das Vorziehen und Zurücksetzen bestimmter Belange innerhalb des vorgegebenen Rahmens ist die elementare planerische Entschließung der Gemeinde über die städtebauliche Entwicklung und Ordnung und kein aufsichtlich oder gerichtlich nachvollziehbarer Vorgang (Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 18. Juni 2019 – 1 MR 1/19 –, Rn. 29, juris; Urteil vom 15. März 2018 – 1 KN 4/15 –, Rn. 67, juris). Gemäß § 214 Abs. 3 BauGB ist für die Abwägung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Satzung – vorliegend am 19. Mai 2020 – maßgebend (Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 28. August 2020 – 1 MR 4/20 –, Rn. 22, juris).
48
Die Antragsgegnerin hat nach summarischer Prüfung im Eilverfahren voraussichtlich sowohl gegen das Gebot verstoßen, gemäß § 2 Abs. 3 BauGB bei der Aufstellung des Bebauungsplans die Belange, die für die Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB von Bedeutung sind (Abwägungsmaterial), zu ermitteln und zu bewerten (dazu: a)) als auch der Abwägungsdirektive des § 50 Satz 1 BImSchG nicht Rechnung getragen (dazu: b)).
49
a) Die seitens der Antragsgegnerin durchgeführten Ermittlungen erweisen sich nach derzeitigem Kenntnisstand im Eilverfahren hinsichtlich der Ermittlung der Vorbelastung durch Immissionen sowie in Bezug auf die betrieblichen Interessen der Antragstellerin als defizitär. Dieser Verfahrensmangel ist für die Rechtswirksamkeit des Bebauungsplans auch beachtlich.
50
aa) Dies gilt zunächst, soweit die Antragsgegnerin die Immissionsvorbelastung im Gebiet des Bebauungsplans Nr. 35 durch die im gegenüberliegenden Gewerbegebiet im Bereich ihres Bebauungsplans Nr. 16 angesiedelten Gewerbebetriebe ermittelt hat. Zwar ist sie damit im Grundsatz der Kritik des LLUR in seinem Schreiben vom 23. Mai 2018 gefolgt, wonach aus immissionsschutzrechtlicher Sicht gegen die geplante Ausweisung eines WA-Gebiets gegenüber dem bestehenden Gewerbegebiet (uneingeschränkt) und dem geplanten erweiterten Gewerbegebiet (B-Plan Nr. 26) erhebliche Bedenken bestünden und daher zunächst eine schalltechnische Begutachtung durchgeführt und zur Prüfung übersandt werden müsse (Bl. 174 Beiakte D). Allerdings erweist sich das Schallgutachten Teil 2 (Schallimmissionen durch Gewerbelärm) vom 23. Oktober 2019 voraussichtlich nicht als taugliche Grundlage für die im Rahmen von § 3 Abs. 2 BauGB gebotene Ermittlung der abwägungserheblichen Belange.
51
Zum einen legt es seine Tatsachengrundlage nicht ausreichend offen. Insoweit ergibt sich zwar aus Ziffer 5 „Grundlagen“, dass der Gutachter einen Übersichtslageplan im Maßstab 1:5000, einen Katasterplan im Maßstab 1:1000, Planungsunterlagen der Ingenieurgesellschaft Gosch-Schreyer-Partner und eine Auskunft der Antragsgegnerin über die Bauleitplanung zugrunde gelegt hat (S. 5 des Gutachtens). Allerdings fehlt es an der Offenlegung der jeweils zugrunde gelegten Betriebsabläufe, welche der Gutachter als Grundlage für die berechnete Schallleistung in Tabelle 1 herangezogen hat. Insoweit verweist das Gutachten lediglich auf eine Befragung der im Gewerbegebiet ansässigen Betriebe, die ergeben habe, dass auf mehreren Betriebsgrundstücken lärmrelevante Tätigkeiten während der Nacht zu erwarten seien (S. 7 des Gutachtens). Dies genügt nicht, um nachzuvollziehen, ob die jeweiligen Betriebsabläufe zutreffend und vollständig zugrunde gelegt worden sind, was die Antragstellerin für ihr Unternehmen bereits im Beteiligungsverfahren bestritten hat (vgl. S. 50 der Abwägungstabelle vom 4. November 2019, S. 712 Beiakte C). Erforderlich wären Angaben zu den einzelnen Betriebsabläufen, insbesondere die Bezeichnung der konkreten Schallquellen. Nur so können die von der Planung Betroffenen, aber auch die Gemeinde – und schließlich der Senat – Vollständigkeit und Richtigkeit der vom Gutachter aufgestellten Prämissen nachprüfen. Unklar ist in diesem Zusammenhang vor allem, weshalb der Gutachter diese Anforderungen allein in Bezug auf das Unternehmen „…“ – insoweit werden Betriebsabläufe und Schallquellen bezeichnet – erfüllt, nicht aber in Bezug auf die weiteren Betriebe.
52
Zum anderen erweist sich das Gutachten, das unter der Prämisse erstellt worden ist, die auf das künftige allgemeine Wohngebiet einwirkende Lärmvorbelastung zu ermitteln (und nicht die Genehmigungsfähigkeit einer Anlage zu beurteilen) als – auch für die Beschlussfassung der Gemeinde – in methodischer Hinsicht nicht nachvollziehbar. Eingangs vermisst der Leser bereits eine detaillierte Beschreibung der zugrunde gelegten Methodik. Eine solche wäre jedenfalls deshalb erforderlich gewesen, weil der Gutachter mit der TA Lärm eine von ihrem Anwendungsbereich zumindest nicht unmittelbar eröffnete Verwaltungsvorschrift anwendet. Der Anwendungsbereich der TA Lärm umfasst Anlagen, die als genehmigungsbedürftige oder nicht genehmigungsbedürftige Anlagen den Anforderungen des Zweiten Teils des BImSchG unterliegen, mit Ausnahme bestimmter in Nr. 1 TA Lärm aufgeführter Anlagen. Der Gutachter erläutert insoweit lediglich, dass er – in Abstimmung mit dem LLUR – so vorgegangen sei, dass er die nächtlichen Schallimmissionen nicht nach der DIN 18005, sondern auf Grundlage der TA Lärm ermittelt habe.
53
Dabei hat er zunächst dargestellt, welche Betriebe im gegenüberliegenden Gewerbegebiet vorhanden sind und welche Schallemissionen sie während der lautesten Nachtstunde verursachen (S. 7 und Tabelle 1 des Gutachtens). Insoweit ist aus Sicht des Senats bereits der letzte Textabschnitt auf Seite 7 des Gutachtens, mit welchem der Inhalt von Tabelle 1 erläutert wird, nicht nachvollziehbar, wenn es dort heißt, die folgende Tabelle zeige die betroffenen Firmen und die errechneten Schallleistungen, die in der Zeit von 5:00 Uhr bis 6:00 Uhr eine Einhaltung der nächtlichen Immissionsrichtwerte vor den nächstgelegenen vorhandenen Wohnhäusern sicherstellen. Denn Tabelle 1 enthält lediglich errechnete Schallleistungen der im Gewerbegebiet vorhandenen neun Firmen, bzgl. der Antragstellerin etwa von 94,2 dB(A). Diese Werte stellen indes lediglich die Schallemissionen dar, treffen aber noch keine Aussage darüber, ob an den Immissionsorten die Immissionsrichtwerte eingehalten werden. Unabhängig davon ist unklar, was der Gutachter mit den „nächstgelegenen vorhandenen Wohnhäusern“ meint, denn das Plangebiet, in dem sich die Immissionsorte finden, war im Zeitpunkt der Gutachtenerstellung noch nicht erschlossen, geschweige denn bebaut.
54
In einem zweiten Schritt hat der Gutachter sodann berechnet, welche Schallimmissionen die jeweiligen Gewerbebetriebe – für sich gesehen – an den Immissionsorten 1 und 2 verursachen (S. 10 des Gutachtens). Dabei hat er diejenigen Schallimmissionen ausgeschieden, die mehr als 6 dB(A) unter dem Immissionsrichtwert von 40 dB(A) für ein allgemeines Wohngebiet liegen, weil sie nach der TA Lärm als nicht relevant anzusehen seien (zu dieser Begründung: S. 6, 10 des Gutachtens). Dabei benennt das Gutachten für dieses Vorgehen keine konkrete Grundlage in der TA Lärm. Sofern man mit der Antragstellerin davon ausgeht, dass sich der Gutachter für dieses Vorgehen der Sache nach wohl auf Ziffer 3.2.1 TA Lärm bezieht – die Antragsgegnerin hat sich gegen die Angriffe der Antragstellerin gegen das Schalltechnische Gutachten im Verfahren nicht verteidigt – ist der Antragstellerin darin zuzustimmen, dass sich ein solches Vorgehen als voraussichtlich zur Ermittlung der von der Planung betroffenen Belange ungeeignet erweisen würde; jedenfalls fehlt es insoweit an einer – auch für die Beschlussfassung der Gemeinde – schlüssigen Herleitung.
55
Nach Nr. 3.2.1 Abs. 1 TA Lärm (Prüfung im Regelfall) ist vorbehaltlich der Regelungen in den Absätzen 2 bis 5 der Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Geräusche (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG) sichergestellt, wenn die Gesamtbelastung am maßgeblichen Immissionsort die Immissionsrichtwerte nach Nummer 6 nicht überschreitet. Die Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen setzt nach Nr. 3.2.1 Abs. 7 TA Lärm in der Regel eine Prognose der Geräuschimmissionen der zu beurteilenden Anlage und – sofern im Einwirkungsbereich der Anlage andere Anlagengeräusche auftreten – die Bestimmung der Vorbelastung sowie der Gesamtbelastung nach Nummer A.1.2 des Anhangs voraus. Die Bestimmung der Vorbelastung kann im Hinblick auf Absatz 2 entfallen, wenn die Geräuschimmissionen der Anlage die Immissionsrichtwerte nach Nummer 6 um mindestens 6 dB(A) unterschreiten. Nach Nr. 3.2.1 Abs. 2 TA Lärm darf die Genehmigung für die zu beurteilende Anlage auch bei einer Überschreitung der Immissionsrichtwerte aufgrund der Vorbelastung aus Gründen des Lärmschutzes nicht versagt werden, wenn der von der Anlage verursachte Immissionsbeitrag im Hinblick auf den Gesetzeszweck als nicht relevant anzusehen ist. Das ist in der Regel der Fall, wenn die von der zu beurteilenden Anlage ausgehende Zusatzbelastung die Immissionsrichtwerte nach Nummer 6 am maßgeblichen Immissionsort um mindestens 6 dB(A) unterschreitet.
56
Diese Regelung bezieht sich unmittelbar nur auf die Neuzulassung einer genehmigungsbedürftigen Anlage nach dem BImSchG und ermöglicht die Zulassung einer solchen trotz Überschreitung der Immissionsrichtwerte aufgrund der Vorbelastung, wenn ihr eigener Immissionsanteil nicht relevant ist. Außerdem entfällt die Bestimmung der Vorbelastung und der Gesamtbelastung (vgl. Nr. 2.4 TA Lärm), wenn die Geräuschimmissionen die Immissionsrichtwerte um mindestens 6 dB(A) unterschreiten. Damit gilt die Irrelevanzregelung originär aber nicht für die Ermittlung der Vorbelastung, auf die sich vorliegend gerade der Gutachtenauftrag bezog, sondern nur für die Zusatzbelastung.
57
Dass diese Regelung darüber hinaus in der Weise angewendet werden kann, dass jede vorhandene Anlage bereits im Rahmen der Vorbelastung außer Betracht gelassen wird, wenn sie mehr als 6 dB(A) unter dem Immissionsrichtwert für ein allgemeines Wohngebiet bleibt, ergibt sich jedenfalls aus dem Gutachten selbst nicht. Der Gutachter erläutert sein methodisches Vorgehen auch insoweit nicht. Es liegt auch nicht auf der Hand, dass diese Vorgehensweise methodengerecht ist. Denn der sog. Irrelevanzklausel liegt die einschränkende Auslegung von § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG zugrunde, wonach von einer Anlage nicht jede von ihr hervorgerufene, insbesondere nicht jede geringfügige Immission als kausaler Beitrag zu einer schädlichen Umwelteinwirkung zugerechnet werden darf; ein nicht relevanter Immissionsbeitrag stellt keine Verletzung der Schutzpflicht des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG dar (Feldhaus/Tegeder, Bundesimmissionsschutzrecht, Kommentar, Band 4, B 3.6 Rn. 23). Hintergrund dieser Regelung ist der Umstand, dass die energetische Addition zweier Schallpegel, die sich um 6 dB(A) unterscheiden, einen Summenschallpegel ergibt, der um 1 dB(A) über dem größeren der beiden Schallpegel liegt. Änderungen des Schalldruckpegels bis zu etwa 1 dB(A) werden vom menschlichen Gehör im Allgemeinen subjektiv nicht wahrgenommen, soweit sich der Geräuschcharakter dabei nicht signifikant ändert. Nr. 3.2.1 Abs. 2 TA Lärm markiert somit eine Irrelevanzschwelle (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 12. August 2019 – 9 N 17.1046 –, Rn. 45, juris). Danach ist es aber keinesfalls zwingend, dass bereits im Rahmen der Vorbelastung nicht nur eine einzelne, sondern eine Vielzahl – vorliegend sieben von neun betrachteten Anlagen – aufgrund der als jeweils um 6 dB(A) unter dem maßgeblichen Wert von 40 dB(A) bleibend errechneten Werte als irrelevant ausgeschieden werden dürfen. Ein solches Vorgehen bedürfte zumindest eingehender gutachterlicher Erläuterung, die vorliegend unterblieben ist. Dies gilt umso mehr, als die Regelung in Nr. 3.2.1 Abs. 2 Satz 2 TA Lärm wohl schon im Rahmen der immissionsschutzrechtlichen Prüfung von Anlagen im Anwendungsbereich der TA Lärm nicht anwendbar sein dürfte, wenn diese Ausnahmevorschrift bezogen auf ein und denselben Immissionsort (innerhalb kurzer Zeit) mehrfach zur Anwendung gelangt, denn dies führt zu einer mehrfachen Erhöhung der dort bereits vorhandenen schädlichen Umwelteinwirkungen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Januar 2018 – 2 D 102/14.NE –, Rn. 96, juris). In der Literatur wird etwa vertreten, dass die Regel der Nr. 3.2.1 Abs. 2 Satz 2 TA Lärm nicht herangezogen werden könne, wenn im Falle des Absatzes 2 mehr als fünf gleichartige Anlagen auf den Immissionsort einwirkten oder damit zu rechnen sei, dass in einer überschaubaren Zukunft mehrere Anlagen, deren Zusatzbelastung bezogen auf denselben Immissionsort 6 dB(A) unterhalb des Richtwertes lägen, zugelassen werden sollten. Vielmehr sei dann eine qualitative Prüfung nach Nr. 3.2.1 Abs. 2 Satz 1 TA Lärm erforderlich (Hansmann in: Landmann/Rohmer, UmweltR, TA Lärm, Stand: Februar 2020, Nr. 3 3. Rn. 16; Feldhaus/Tegeder, Bundesimmissionsschutzrecht, Kommentar, Band 4, B 3.6 Rn. 23). Erst recht aber dürfte die mehrfache Anwendung der Irrelevanzregelung fraglich sein, wenn gutachterlich nicht die Zulassung einer Anlage, sondern die Ermittlung der Vorbelastung selbst zu prüfen ist.
58
Nur ergänzend merkt der Senat an, dass dem Schalltechnischen Gutachten Teil 2 auch nicht mit hinreichender Deutlichkeit die exakte Lage der Immissionsorte zu entnehmen ist. Der Textteil verweist lediglich auf die Beilage Nr. 2, welche die gewählten Immissionsorte als Punkte auf dem Flurstück 4 erkennen lässt, ohne dass aber erkennbar wird, welche Position im Bebauungsplan sie einnehmen und weshalb sie ausgewählt worden sind.
59
Aus Vorstehendem folgt, dass die Antragsgegnerin entgegen § 2 Abs. 3 BauGB die von der Planung berührten Belange, die der Gemeinde bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, in wesentlichen Punkten nicht zutreffend ermittelt hat. Dieser Mangel ist auch offensichtlich, denn die Antragstellerin hat schon im Beteiligungsverfahren anwaltlich unvertreten darauf aufmerksam gemacht, dass der Gutachter keine „Gesamtbetrachtung Gewerbelärm“ vorgenommen habe (Abwägungsvorgang vom 4. November 2019, S. 51, Bl. 713 Beiakte C). Der Mangel ist auch auf das Ergebnis des Verfahrens von Einfluss gewesen im Sinne von § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB. Eine Kausalität ist schon dann zu bejahen, wenn sich anhand der Planunterlagen oder sonst erkennbarer oder naheliegender Umstände die Möglichkeit abzeichnet, dass der Mangel im Abwägungsvorgang von Einfluss auf das Abwägungsergebnis gewesen sein kann, d. h., wenn nach den Umständen des jeweiligen Falles die konkrete Möglichkeit besteht, dass ohne den Mangel die Planung anders ausgefallen wäre (Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 6. Oktober 2020 – 1 MR 7/20 –, S. 16, juris m. w. N.). So liegt es hier, denn die Ermittlung der Lärmschutzbelange, insbesondere der vom Gewerbegebiet ausgehenden Lärmbelastung stellt sich als elementare Grundlage der Planungsentscheidung der Antragsgegnerin, an dieser Stelle ein allgemeines Wohngebiet festzusetzen, dar. Erweist sich aber diese Grundlage als nicht valide, ist es angesichts der im Rahmen der Vorbelastungsermittlung ausgeschiedenen Immissionen nicht ausgeschlossen, dass die Gesamtbelastung an den Immissionsorten sich als höher erweisen wird. Damit wäre aber durchaus eine Rückkehr der Antragsgegnerin zu der von ihr ursprünglich ins Auge gefassten Teilausweisung des Plangebiets als Mischgebiet greifbar.
60
bb) Unabhängig davon hat es die Antragsgegnerin unterlassen, die betrieblichen Interessen der Antragstellerin hinreichend zu ermitteln.
61
Der Schutz privater Eigentümerinteressen nach Art. 14 Abs. 1 GG und damit die von den Festsetzungen des Bebauungsplans gestaltete Nutzbarkeit von Grundstücken gehört in hervorgehobener Weise zu den geschützten abwägungserheblichen Belangen. Zu den von § 1 Abs. 7 BauGB bei der Abwägung zu berücksichtigenden und damit auch gemäß § 2 Abs. 3 BauGB zu ermittelnden privaten Belangen zählt neben dem Eigentumsschutz auch der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb. Der Inhaber eines Betriebs im Sinne eines auf Erwerb ausgerichteten Unternehmens kann sich daher auf sein Interesse am Erhalt der planungsrechtlichen Grundlagen für die Genehmigung von Vorhaben auf dem Betriebsgrundstück berufen. Dieses erfasst sowohl den betrieblichen Bestand als auch die Möglichkeiten, im Rahmen einer normalen Betriebsentwicklung Kapazitäten zu erweitern und Anlagen zu modernisieren, soweit dies zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit erforderlich ist. Abwägungserheblich ist die Entwicklung eines Betriebs allerdings nur, wenn sie entweder bereits konkret ins Auge gefasst ist oder bei realistischer Betrachtung der Entwicklungsmöglichkeiten naheliegt; unklare oder unverbindliche Absichtserklärungen hinsichtlich der Entwicklung eines Betriebs sind nicht erheblich (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22. März 2018 – 5 S 1873/15 –, Rn. 58, juris).
62
Nach derzeitigen Erkenntnisstand liegt es nahe, dass die Antragsgegnerin bereits die bestehenden betrieblichen Nutzungen der Antragstellerin jedenfalls unvollständig ermittelt und in ihre Abwägung eingestellt hat. Dem Schallgutachten Teil 2 lässt sich dies mangels einer Beschreibung der zugrunde gelegten betrieblichen Abläufe, wie bereits ausgeführt, nicht im Einzelnen entnehmen. Für den Senat ist jedenfalls nicht nachvollziehbar, welche Tätigkeiten der Gutachter im Einzelnen eingestellt hat. Auf den Einwand der Antragstellerin im Beteiligungsverfahren, die Angaben im Lärmgutachten zu ihrem Betrieb seien nicht nachvollziehbar (S. 50 der Abwägungstabelle vom 4. November 2019, S. 712 Beiakte C), hat die Antragsgegnerin nur erwidert, das Schallgutachten berücksichtige, welche Lärmeinschränkungen heute schon durch bestehende Betriebe und bestehende Betriebsleiterwohnungen vorhanden seien. Diese Aussage kann allerdings ohnehin nur Geltung für den nächtlichen Betrieb beanspruchen, denn zur Ermittlung der Schallimmissionen am Tag hat der Gutachter einen flächenbezogenen Schallleistungspegel von 60 dB(A)/m² zugrunde gelegt; individuelle Ermittlungen sind offenbar insoweit seitens des Gutachters überhaupt nicht angestellt worden. Weitere Ermittlungen der Antragsgegnerin in Bezug auf die tatsächlichen Betriebsabläufe im Gewerbegebiet (Bebauungsplan Nr. 16), speziell im Hinblick auf die Antragstellerin, aber auch im Hinblick auf die übrigen Gewerbebetriebe, lassen sich dem Abwägungsvorgang sowie dem Verwaltungsvorgang nicht entnehmen. Dies bestätigt auch der Vortrag im Eilverfahren, wonach der Antragsgegnerin offenbar – auch nach Auswertung der Baugenehmigungsakten betreffend das Betriebsgrundstück – keine aussagekräftige Betriebsbeschreibung vorliegt. Fehlt es aber an der Ermittlung der vollständigen tatsächlichen Betriebsabläufe im (genehmigten) Bestand, erscheint es schon bei summarischer Prüfung naheliegend, dass in die Abwägung das Interesse der Antragstellerin, ihren Betrieb im Rahmen des bestehenden und des genehmigten Umfangs nutzen zu können (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. März 2019 – 2 B 1425/18.NE –, Rn. 29, juris) nicht zutreffend eingestellt worden ist.
63
Als bei summarischer Prüfung unvollständig erweist sich der Abwägungsvorgang zudem in Bezug auf die Ermittlung der seitens der Antragstellerin vorgebrachten betrieblichen Erweiterungsmöglichkeiten. Die Antragstellerin hat mit ihren Schreiben vom 29. Mai 2019 und vom 16. Dezember 2019 die Antragsgegnerin darauf aufmerksam gemacht, dass das Schallgutachten ihre zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten nicht berücksichtigt habe. In ihrer Einwendung vom 29. Mai 2019 hat sie ausgeführt, Erweiterungsmöglichkeiten seien nicht diskutiert worden. Für ihr Erweiterungsvorhaben würde eine Ausweisung als allgemeines Wohngebiet dazu führen, dass in circa 100 m Entfernung ein Immissionsrichtwert von 55 dB(A) bzw. 40 dB(A) einzuhalten wäre. Der Irrelevanznachweis (– 6 dB(A)) für die Erteilung einer entsprechenden Genehmigung könne nicht geführt werden (Bl. 602 Beiakte D). Zwischen den Beteiligten ist insoweit auch unstreitig, dass am 27. Mai 2019 ein Gespräch zwischen der Antragsgegnerin und den Gewerbetreibenden aus dem Gewerbegebiet Busbahnhof/Rolandskoppel stattgefunden hat, im Rahmen dessen für die Antragstellerin vorgetragen worden ist, sie plane, an diesem Betriebsstandort Grünabfälle anzunehmen (vgl. Schriftsatz der Antragstellerin vom 7. September 2020, S. 5, Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 30. September 2020, S. 8). Im Eilverfahren hat die Antragstellerin – ohne dass die Antragsgegnerin dem entgegengetreten ist – ausgeführt, sie habe seit längerem die Absicht, das Spektrum ihrer gewerblichen Tätigkeiten zu erweitern, und habe hierzu dem Ingenieurbüro … einen Auftrag für eine Genehmigungsplanung für die Betriebserweiterung erteilt. Das LLUR als Genehmigungsbehörde habe indes zum Ausdruck gebracht, im Falle der Ausweisung eines allgemeinen Wohngebiets keine Genehmigung zur Lagerung und Behandlung von Grünabfällen erteilen zu wollen. Den von der Antragstellerin geäußerten Erweiterungsabsichten ist die Antragsgegnerin nicht weiter nachgegangen, obgleich sich die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen aufgedrängt hätte.
64
Als abwägungsfehlerhaft erweist sich in diesem Zusammenhang zudem die Aussage der Antragsgegnerin in der Abwägungstabelle, der Bebauungsplan Nr. 16 sei aus schalltechnischer Sicht kein uneingeschränktes Gewerbegebiet, wobei die Einschränkungen sich bereits durch die vorhandene Bebauung mit Betriebsleiterwohnungen innerhalb des Gewerbegebiets ergäben, welche hinsichtlich bestehender Schutzansprüche zu berücksichtigen seien. Durch den Bebauungsplan Nr. 35 verschlechtere sich die Situation der Betriebe im Bebauungsplan Nr. 16 nicht (vgl. Abwägungsvorgang vom 4. November 2019, S. 51, 52, 63, 69, 72, 93, Bl. 713, 714, 725, 731, 734, 755 Beiakte C). Die heranrückende Wohnbebauung könne den Konflikt nicht lösen, da eine Begrenzung der Schallimmissionen bereits durch vorhandene Wohnhäuser und Betriebsleiterwohnungen im Gewerbegebiet … erfolge (Abwägungsvorgang vom 22. April 2020, S. 33, Bl. 1423 Beiakte B).
65
Dies trifft in rechtlicher Hinsicht nicht zu. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht Betriebsinhaber- und Betriebsleiterwohnungen ein geringerer Schutz gegen Immissionen (auch fremder) Betriebe zu als sonstigen Wohnungen; diese müssen sich vielmehr mit den Immissionen abfinden, die generell im Gebiet der Hauptnutzung üblich sind (BVerwG, Urteil vom 27. Mai 1983 – 4 C 67.78 –, Rn. 19, juris; Urteil vom 16. März 1984 – 4 C 50.80 –, Rn. 15, juris). Den innerhalb des Bebauungsplangebiets Nr. 16 genehmigten Betriebsleiterwohnungen steht nur der Schutzanspruch eines Gewerbegebiets zu. Das gilt selbst dann, wenn die Wohnnutzung mittlerweile – legal oder illegal – ohne Betriebsbezug stattfindet (Nds. OVG, Urteil vom 12. Mai 2015 – 1 KN 238/13 –, Rn. 34, juris; vgl. auch Beschluss vom 28. Februar 2020 – 1 MN 153/19 –, Rn. 20, juris). Nicht die Betriebe, die sich innerhalb des zulässigen Störgrads halten, sind zu Maßnahmen verpflichtet, die das Wohnen zumutbar erscheinen lassen, sondern die Nutzer der betriebsbezogenen Wohnungen (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauNVO, Stand: Mai 2020, § 8 Rn. 40). Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Festsetzung als Gewerbegebiet nach § 8 BauNVO funktionslos geworden ist, hat der Senat nicht. Funktionslos kann eine bauplanerische Festsetzung sein, wenn und soweit die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließen und diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre (Fort-)Geltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient (BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 1997 – 4 NB 6.97 –, Rn. 10 f., juris). Zur Darlegung dieser Voraussetzungen genügt der von der Antragsgegnerin im Eilverfahren ausgeführte Umstand nicht, dass sich im näheren Umfeld des Grundstücks der Antragstellerin mehrere Gebäude befänden, die bauaufsichtlich zugelassen seien und in denen Wohnungen vorhanden seien (Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 30. September 2020, S. 7).
66
Auch soweit die Antragsgegnerin im Abwägungsvorgang vom 22. April 2020 ausgeführt hat, aufgrund der bereits innerhalb des Gewerbegebiets befindlichen Betriebsleiterwohnungen dürfe die Grenze an den entsprechenden Betriebsleiterwohnhäusern durch alle gewerblichen Nutzungen nachts pro Stunde 50 dB(A) bereits in der Bestandssituation nicht überschritten werden […]; das bestehende Gewerbegebiet habe bereits jetzt den entsprechenden Schutzanspruch zu gewährleisten, sodass durch das geplante Wohngebiet im Rahmen des Bebauungsplans Nr. 35 keine weiteren Nutzungskonflikte geschaffen würden (Abwägungsvorgang vom 22. April 2020, S. 33, Bl. 1423 Beiakte B), verdeutlicht dies noch, dass die Antragsgegnerin fehlerhaft davon ausgeht, dass bereits heute im Bebauungsplangebiet Nr. 16, in welchem die Antragstellerin ansässig ist, nur Lärm verursacht werden dürfe, der im Bebauungsplangebiet Nr. 35 die Immissionsrichtwerte für ein allgemeines Wohngebiet einhält. Nur so lässt sich erklären, dass die Antragsgegnerin meint, es entstehe kein weiterer Nutzungskonflikt und das Gewerbegebiet habe bereits jetzt „den entsprechenden Schutzanspruch zu gewährleisten“.
67
b) Zudem verstößt die gemeindliche Abwägungsentscheidung aller Voraussicht nach gegen § 50 Satz 1 BImSchG.
68
Im Rahmen ihrer Abwägung, insbesondere bei der Neuplanung von Wohngebieten, hat die Gemeinde – worauf die Antragstellerin zutreffend hinweist – auch die Abwägungsdirektive des § 50 Satz 1 BImSchG zu berücksichtigen, wonach bei raumbedeutsamen Planungen die für eine bestimmte Nutzung vorgesehenen Flächen einander so zuzuordnen sind, dass schädliche Umwelteinwirkungen so weit wie möglich vermieden werden (BVerwG, Urteil vom 22. März 2007 – 4 CN 2.06 –, Rn. 14, juris). Dabei erweist sich eine Bauleitplanung regelmäßig als verfehlt, wenn sie – unter Verstoß gegen den Trennungsgrundsatz des § 50 Satz 1 BImSchG – dem Wohnen dienende Gebiete anderen Gebiete so zuordnet, dass schädliche Umwelteinwirkungen auf die Wohngebiete nicht so weit wie möglich vermieden werden. Der Grundsatz der zweckmäßigen Zuordnung von unverträglichen Nutzungen ist ein wesentliches Element geordneter städtebaulicher Entwicklung und damit ein elementares Prinzip städtebaulicher Planung. Anders als bei einer durch ein bereits vorhandenes Nebeneinander konfliktträchtiger Nutzungen geprägten Gemengelage darf die Gemeinde deshalb nicht ohne zwingenden Grund selbst die Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Vorbelastungen dadurch schaffen, dass sie in einen durch ein erhöhtes Immissionspotenzial gekennzeichneten Bereich ein störempfindliches Wohngebiet hineinplant und damit aus einem Wohngebiet in immissionsschutzrechtlicher Hinsicht in Wahrheit ein Dorf- oder Mischgebiet macht (BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 2006 – 4 BN 17.06 –, Rn. 5, juris). Der Trennungsgrundsatz stellt jedoch kein zwingendes Gebot dar, sondern eine Abwägungsdirektive. Er kann im Rahmen der planerischen Abwägung durch andere Belange von hohem Gewicht überwunden werden. Der Rechtsprechung zu § 50 Satz 1 BImSchG ist nicht zu entnehmen, dass eine Zurückstellung immissionsschutzrechtlicher Belange nur dann abwägungsfehlerfrei ist, wenn die Planung durch entgegenstehende Belange mit hohem Gewicht "zwingend" geboten ist. Ob sich eine Abwägungsdirektive wie der Grundsatz der Trennung unverträglicher Raumnutzungen in der Abwägung durchsetzt, entscheidet sich erst in einer Bewertung der konkreten Einzelfallumstände. Vom Trennungsgrundsatz gemäß § 50 Satz 1 BImSchG sind Ausnahmen zulässig, wenn sichergestellt werden kann, dass von der projektierten Nutzung im Plangebiet nur unerhebliche Immissionen ausgehen, und wenn im Einzelfall städtebauliche Gründe von besonderem Gewicht hinzutreten, die es rechtfertigen, eine planerische Vorsorge durch räumliche Trennung zurücktreten zu lassen (BVerwG, Urteil vom 19. April 2012 – 4 CN 3.11 –, Rn. 29, juris).
69
Gemessen daran liegt nach derzeitigem Erkenntnisstand ein Verstoß gegen § 50 Satz 1 BImSchG vor. Die Antragsgegnerin setzt sich zwar mit dieser Vorschrift an mehreren Stellen des Abwägungsvorgangs auseinander. Die beiden von ihr in diesem Zusammenhang aber ausschließlich verwendeten und von ihr offensichtlich als abwägungserheblich empfundenen Aspekte machen indes deutlich, dass sie den Gehalt des Trennungsgrundsatzes verkannt und diesen demzufolge im Ergebnis unzutreffend gewichtet hat.
70
Dies gilt zunächst, soweit die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang wiederum darauf abstellt, dass es sich bei dem Bebauungsplangebiet Nr. 16 „aus schalltechnischer Sicht“ um kein unbeschränktes Gewerbegebiet handele. Diesen – wie bereits ausgeführt – in rechtlicher Hinsicht unzutreffenden Belang stellt sie nicht nur den vor dem Hintergrund von § 50 Satz 1 BImSchG vorgebrachten Belangen der Antragstellerin gegenüber (vgl. Abwägungsvorgang vom 4. November 2019, S. 52, Bl. 714 Beiakte C), sondern auch denen weiterer von der Planung betroffener Privatpersonen (vgl. Abwägungsvorgang vom 4. November 2019, S. 49, 56, 63, 69, 72, 93, Bl. 711, 718, 725, 731, 734, 755 Beiakte C).
71
Nichts anderes gilt hinsichtlich der Argumentation der Antragsgegnerin, die Jevenstedter Straße, die im Rahmen der 19. Änderung des Flächennutzungsplanes als örtlicher Hauptverkehrszug dargestellt werde, da sie im Straßennetz der Antragsgegnerin eine althergebrachte Verbindungsfunktion zur Gemeinde Jevenstedt habe, bewirke für sich bereits eine ausreichende Trennung des Gewerbegebiets Nr. 16 von dem geplanten allgemeinen Wohngebiet. Das ist nicht der Fall. Die Jevenstedter Straße kann angesichts ihrer geringen Breite weder als Argument für eine ausreichende räumliche Trennung durch angemessene Abstände (vgl. Jarass, BImSchG, 13. Aufl. 2020, § 50 Rn. 18) herangezogen werden, noch als sonstige Schutzmaßnahme bei ansonsten fehlenden oder nur beschränkten Separationsmöglichkeiten der divergierenden Nutzungen (vgl. Tophoven in: BeckOK UmweltR, Stand: 1. Juli 2020, § 50 Rn. 19). Vielmehr verursacht sie ihrerseits Immissionen im Plangebiet, welche die Antragsgegnerin im Rahmen ihrer Abwägung zu berücksichtigen hatte (vgl. Schallgutachten Teil 1: Schallimmissionen durch Straßenverkehrslärm vom 27. Juni 2018).
72
Soweit die Antragsgegnerin im Eilverfahren vorgetragen hat, eine räumlich trennende Wirkung ergebe sich auch aus der westlich des Gewerbegebiets gelegenen Tennisanlage sowie der künftigen Überplanung des Flurstücks 61/54 als eingeschränktes Gewerbegebiet, waren diese Erwägungen schon nicht Gegenstand der Abwägungsentscheidung; sie werden in den beiden Abwägungstabellen vom 4. November 2019 und vom 22. April 2020 nicht erwähnt. Die künftige planungsrechtliche Entwicklung des Flurstücks 61/54 konnte im Zeitpunkt der gemeindlichen Beschlussfassung über den vorliegenden Bebauungsplan auch noch keine Berücksichtigung finden, denn der Bebauungsplan Nr. 26 befindet sich nach den Darlegungen im Eilverfahren noch im Aufstellungsverfahren (vgl. Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 30. September 2020, S. 4). Die Tennisanlage dürfte zudem allenfalls geeignet sein, eine Trennung des Gewerbegebiets in die westliche Richtung und damit in Bezug auf die bereits bestehenden Wohngebiete im Bereich Sandkoppel und Hökerkoppel der Antragsgegnerin herzustellen.
73
II. Eine einstweilige Anordnung kann vorliegend ergehen, weil der (weitere) Vollzug des Bebauungsplans Nr. 35 vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange der Antragstellerin so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für die Antragstellerin günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.
74
Nach den gemachten Ausführungen spricht nach dem bisherigen Erkenntnisstand Überwiegendes dafür, dass die Antragsgegnerin die von der Planung betroffenen betrieblichen Belange der Antragstellerin im Zusammenhang mit der heranrückenden Wohnbebauung nicht ausreichend betrachtet und abgewogen hat. Dies kann bei Vollzug des auf dieser Abwägungsentscheidung basierenden Bebauungsplans Nr. 35 zu nachträglichen immissionsschutzrechtlichen Beschränkungen ihrer Betriebsbetätigung (vgl. § 24 BImSchG) führen, wie auch zur Beeinträchtigung bereits verdichteter betrieblicher Erweiterungsmöglichkeiten. Sollte die durch den Bebauungsplan ermöglichte Wohnbebauung bis zum Abschluss des Normenkontrollhauptsacheverfahrens weitgehend verwirklicht sein, würde der Antragstellerin der spätere Erfolg in jenem Verfahren möglicherweise nichts mehr nützen. Die Eigentümer genehmigter Bauvorhaben im Plangebiet könnten sich, sofern die Antragstellerin nicht jede einzelne Baugenehmigung mit Widerspruch und Anfechtungsklage angreifen würde, auf die Legalisierungswirkung der Baugenehmigungen berufen (OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2005 – 10 B 2657/04.NE –, Rn. 15, juris). Hierauf muss sich die Antragstellerin entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin auch nicht verweisen lassen. Wenn eine Baugenehmigung bereits erteilt worden ist, ist (auch einstweiliger) Rechtsschutz dagegen nur noch im Wege des Widerspruchs (und ggf. der Klage) und eines Antrags nach § 80a VwGO i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO zu erlangen. Da der einstweilige Rechtsschutz gemäß § 80a VwGO i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO einem anderen „Prüfprogramm“ folgt als derjenige nach § 47 Abs. 6 VwGO und insbesondere nicht ohne Weiteres auch die Prüfung eventueller Abwägungsmängel des der Baugenehmigung zugrundeliegenden Bebauungsplans mit umfasst, würde die Antragstellerin nach Ergehen einer Baugenehmigung irreversible Einschränkungen ihres (einstweiligen) Rechtsschutzes erleiden. Nichts anderes gilt, soweit es vorliegend aufgrund von § 68 LBO der Erteilung einer Baugenehmigung nicht bedürfte, denn in diesem Fall wäre einstweiliger Rechtsschutz nur nach § 123 Abs. 1 VwGO zu erlangen.
75
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG. Das führt – orientiert an den regelmäßigen Streitwertannahmen des Senats zu Normenkontrollverfahren zum Schutz von Gewerbebetrieben – zu einem Hauptsachestreitwert von 40.000 Euro, der für das vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu 50 % in Ansatz gebracht wird.
76
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Der nicht durch Personaldokumente ausgewiesene Kläger ist nach eigenen Angaben am 4. Februar 1994 geboren, irakischer Staatsangehöriger und kurdischer Volkszugehörigkeit. Er bezeichnet sich selbst als konfessionslos.
3Bis zu seiner Ausreise aus dem Irak lebte der Kläger in der Stadt Zakho bzw. in einem Dorf in der Nähe von Zakho in der Provinz Dohuk in der Autonomen Region Kurdistan. Eigener Darstellung zufolge reiste er am 5. August 2015 aus dem Irak aus und am 15. September 2015 über die Balkanroute in die Bundesrepublik Deutschland ein.
4Am 9. August 2016 stellte der Kläger einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am selben Tag führte er, befragt zu seinem Verfolgungsschicksal und den Gründen für seinen Asylantrag, im Wesentlichen aus: Er habe ein sehr schlechtes Leben im Irak gehabt. Als sein Vater verstorben sei, habe seine Mutter nochmal geheiratet. Er sei immer von allen „weggetreten“ worden. Es habe sehr wenig Arbeit gegeben, er habe aber trotzdem die ganze Zeit gearbeitet. Er habe Häuser und Wohnungen gestrichen. Sein Stiefvater habe ihm beigebracht, wie man arbeite und anstreiche. Im Sommer, wenn es keine Arbeit gegeben habe, habe er in einem Fitnessstudio in Zakho als Helfer gearbeitet. Die Schule habe er nur bis zur sechsten Klasse besucht. Er habe eigentlich weitermachen wollen, aber diese Möglichkeit nicht gehabt. Er hoffe, dass er das in Deutschland nachholen könne. Er sei zum einen aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen und zum anderen, weil er zur Schule gehen und etwas aus seinem Leben machen wolle. Im Irak seien „die“ einfach unmenschlich. Keiner helfe dort den armen Leuten. Das Geld, das er im Irak verdient habe, habe er seiner Mutter gegeben, sie habe es für ihn „an die Seite legen“ wollen. Sein Stiefvater habe nicht gewollt, dass er das Geld bekomme, seine Mutter habe es ihm aber trotzdem gegeben. Er habe das Geld dann für die Flucht verwendet. Er habe Angst, dass sein Stiefvater ihm etwas antun könne, weil er das Geld nun doch genommen habe und nach Deutschland gekommen sei.
5Auf die Frage, ob er selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von begangenem Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Übergriffen wie Folter oder anderen Misshandlungen geworden sei und wann diese Taten begangen worden seien, antwortete der Kläger: Er habe gesehen, wie Menschen im Gefängnis gefoltert und geschlagen worden seien. Er wisse es nicht genau, er glaube, es sei vor drei oder vier Jahren gewesen. Er selbst sei auch in diesem Gefängnis gewesen. Er sei einen Monat dort gewesen, weil sein Stiefvater die Polizei angerufen und gesagt habe, er ‑ der Kläger ‑ würde sie ‑ den Stiefvater und die Mutter ‑ belästigen. Daraufhin sei er verhaftet worden.
6Auf die Frage, warum er angegeben habe, konfessionslos zu sein, antwortete der Kläger: Da er bis jetzt nichts Gutes von den Muslimen erfahren habe, wolle er keiner von denen sein. Sein Vater, seine Mutter und sein Stiefvater seien alle Muslime. Er wolle eine friedliche Religion finden. Er habe immer gesagt, dass er nach Europa wolle. „Die“ hätten aber immer gesagt, dass „die“ ungläubig seien und was er von diesen Ungläubigen wolle. Er habe dann gesagt, wenn „die“ ungläubig seien, dann wolle er auch ein Ungläubiger sein.
7Mit Bescheid vom 7. Februar 2017, zugestellt am 16. Februar 2017, lehnte das Bundesamt die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 2) und auf Gewährung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Weiter forderte es den Kläger zur Ausreise auf und drohte ihm bei Nichtbefolgung der Ausreiseaufforderung die Abschiebung mit dem vorrangigen Zielstaat Irak an (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte das Bundesamt u. a. aus, dass aus dem Vorbringen des Klägers weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch eine etwaige Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Irak ersichtlich seien. Vielmehr habe der Kläger vorgetragen, aufgrund seiner schlechten wirtschaftlichen Lage und zwecks Schulbesuchs aus dem Irak ausgereist zu sein. Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes lägen nicht vor. Dem Kläger drohe weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) noch habe er Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung erlitten oder zu befürchten (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Ein Anspruch nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bestehe nicht, weil in der Autonomen Region Kurdistan kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrsche. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG liege ebenfalls nicht vor, insbesondere auch nicht wegen der humanitären Verhältnisse im Irak.
8Der Kläger hat am 26. Februar 2017 Klage erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Bei seiner Anhörung beim Bundesamt habe er nicht die wahren Gründe für seine Ausreise aus dem Irak vollständig angegeben, weil er der dortigen Übersetzerin misstraut habe. Er habe befürchtet, Einzelheiten seiner Aussage würden in seiner Heimat bekannt werden. Tatsächlich habe sein Stiefvater mit dem kurdischen Geheimdienst in Zakho zusammengearbeitet. Dort sei die Bevölkerung geschlossen für die KDP. Sein Stiefvater habe ihm offenbar einen „Denkzettel“ verpassen wollen und einen Bericht gefertigt, in dem es geheißen habe, dass er ‑ der Kläger ‑ zu Hause politische Diskussionen führen und sich klar als Sympathisant von Goran zu erkennen geben würde. Anhänger dieser Bewegung bzw. Partei seien in Zakho aber nicht akzeptiert. Deshalb sei er inhaftiert worden. Tatsächlich habe er allerdings nichts mit Goran zu tun. Durch den Bericht seines Stiefvaters sei ein völlig falscher Eindruck von seiner politischen Auffassung entstanden, den er nicht mehr richtigstellen könne. Nach seiner Inhaftierung habe sich seine Mutter eingeschaltet und mit seinem Stiefvater gesprochen. Man habe so eine Art „Einstellung“ erreichen können. Er habe unterschreiben müssen, dass er keinen Kontakt mehr mit Goran aufnehme. Im Fall der Zuwiderhandlung müsse er ca. 10.000 US Dollar bezahlen und ihm drohe eine Gefängnisstrafe. Das alles habe sich im Sommer 2015 ereignet. Inhaftiert gewesen sei er in einem Privatgefängnis der KDP. Bei einer Rückkehr in den Irak fürchte er außerdem, wegen seiner Konfessionslosigkeit ausgeschlossen zu sein. Er könne nur als gläubiger Moslem in seiner Heimat existieren, anderenfalls bekomme er keine Aufträge und könne deshalb keine Existenz aufbauen und sichern. Bislang habe er in seiner Heimat verschwiegen, dass er konfessionslos sei, es sei aber bereits vor seiner Ausreise aufgefallen, dass er kaum in die Moschee gehe. Eine inländische Fluchtalternative stehe ihm nicht zur Verfügung. Er spreche den kurdischen Dialekt Kurmanci und werde deshalb überall als Mensch, der aus der Grenzregion zur Türkei stamme, erkannt. Diese Menschen würden im gesamten Nordirak gleichgesetzt mit Anhängern der KDP, vor der er sich aber fürchte. In seiner Heimat werde er also für einen Anhänger der Goran-Bewegung gehalten und im übrigen Nordirak für einen KDP-Befürworter. Beides sei aber nicht der Fall und er könne sich auch nicht als einer von beiden verstellen, um von Nachbarn und potentiellen Kunden akzeptiert zu werden.
9Der Kläger hat beantragt,
10die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 7. Februar 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihn als Asylberechtigten anzuerkennen,
11hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen,
12weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen,
13weiter hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 6 des Bescheides des Bundesamtes vom 7. Februar 2017 zu verpflichten, die Dauer des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf weniger als 30 Monate, bestenfalls auf null zu befristen.
14Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.
15Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. Juni 2017 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klage sei zulässig, aber unbegründet. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die begehrte Verpflichtung des Bundesamts. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Das Gericht sei nach dem Vorbringen des Klägers vor dem Bundesamt und im Klageverfahren davon überzeugt, dass der Kläger unverfolgt aus dem Irak ausgereist sei. Der Vortrag des Klägers zu seinen angeblichen Ausreisegründen sei derart oberflächlich, detailarm und widersprüchlich, dass sich der Schluss aufdränge, dass er in wesentlichen Teilen nicht der Wahrheit entspreche. Zudem habe der Kläger sein Vorbringen im gerichtlichen Verfahren gesteigert. Im Übrigen wäre der Kläger selbst bei Wahrunterstellung seiner Angaben nicht wegen erlittener Verfolgung aus seiner Heimat geflohen; denn er habe selbst erklärt, aus dem Gefängnis wieder freigelassen worden zu sein. Vor dem Hintergrund der Unglaubwürdigkeit des Klägers könne offen bleiben, ob sich sein Vorbringen mit den herrschenden politischen Verhältnissen in seiner Herkunftsregion, der Autonomen Region Kurdistan, in Einklang bringen lasse. Hieran bestünden Zweifel, weil die Goran-Bewegung nach den Erkenntnissen des Gerichts eine maßgebliche, auch im Parlament vertretene politische Kraft in der Region sei, die zwar (inzwischen) in Opposition zu der herrschenden KDP stehe, deren Mitglieder oder Sympathisanten aber nicht wegen ihres (mutmaßlichen) Einsatzes für die Bewegung asylerheblichen Repressalien durch die KDP ausgesetzt seien. Wegen des unglaubhaften Vorbringens des Klägers bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass er bei einer Rückkehr in seine Heimatregion Kurdistan oder in andere Landesteile des Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen erleiden könnte. Aus diesem Grund bestehe auch kein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter. Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes lägen ebenfalls nicht vor. Anhaltspunkte für drohende Gefahren im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 AsylG habe der Kläger nicht geltend gemacht; solche Gefahren seien bei einer Rückkehr in die Autonome Region Kurdistan auch nicht ersichtlich. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG lägen nicht vor. In der Region Kurdistan-Irak sei die Situation nicht von kriegsähnlichen oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen geprägt. Vielmehr herrschten dort vergleichsweise stabile Verhältnisse. Regelrechte Kämpfe oder kriegerische Auseinandersetzungen fänden dort zurzeit nicht statt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen im Fall des Klägers ebenfalls nicht vor. Das gelte insbesondere auch im Hinblick auf die allgemeine schlechte Versorgungslage im Irak. Dabei sei zu berücksichtigen, dass der Kläger auch schon vor seiner Ausreise in der Lage gewesen sei, dort durch Arbeit seine Existenz zu sichern.
16Auf den Antrag des Klägers hat der Senat die Berufung gegen das Urteil durch Beschluss vom 13. Juli 2018 wegen eines Verfahrensmangels zugelassen.
17Zur Begründung seiner Berufung trägt der Kläger vor, er habe in der mündlichen Verhandlung nur gut 15 Minuten Zeit gehabt, über sein Verfolgungsschicksal zu sprechen. Das Protokoll enthalte keine konkreten Fragen oder Nachfragen seitens der Einzelrichterin. Auch mit dem Dolmetscher in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht habe er ‑ der Kläger ‑ Probleme gehabt. Er habe sich nicht getraut, etwas zu sagen. Der Dolmetscher habe gelacht, als er sich gegen den Präsidenten Barzani und die Politik der KDP geäußert habe.
18Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 24. August 2018 hat der Kläger einen „Haftbefehl vom 04.04.2018 mit Übersetzung“ nachreichen und dazu vortragen lassen: Der Haftbefehl sei im Original bei seiner Familie im Irak im April 2018 abgegeben worden. Die Familie habe ihn darüber aber zunächst nicht informiert. Als er vor kurzem mit seinem Bruder telefoniert und ihm erzählt habe, dass sein Asylverfahren jetzt beim Oberverwaltungsgericht anhängig und noch nicht beendet sei, habe sich der Bruder an den Haftbefehl erinnert. Der Bruder habe berichtet, dass der Haftbefehl damals ganz schnell vernichtet worden sei. Er ‑ der Bruder ‑ habe zuvor aber noch ein Foto davon gemacht. Dieses Foto habe der Bruder ihm ‑ dem Kläger ‑ dann geschickt. Die Übersetzung des Textes habe er am 23. August 2018 erhalten. Der Kläger hat weiter mitteilen lassen, dass die Situation in seinem „Heimatdorf Zakho“ unverändert sei. Seine Mutter habe ihm mitgeteilt, dass er nicht zurückkommen solle. Über die KDP werde weiterhin nach seinem Aufenthalt gefragt. Im Falle einer Rückkehr in den Irak könne er sich aber nur in seinem Heimatdorf niederlassen, weil er dort geboren und registriert sei und nur dort Verwandte habe.
19Der Kläger beantragt,
20das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 21. Juni 2017 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts vom 7. Februar 2017 zu verpflichten,
21ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
22hilfsweise ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
23weiter hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
24Die Beklagte beantragt schriftsätzlich unter Bezugnahme auf die Begründung des Bescheides vom 7. Februar 2017 und die Ausführungen im Urteil des Verwaltungsgerichts,
25die Berufung zurückzuweisen.
26Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin erklärt.
27In der mündlichen Verhandlung vom 29. Oktober 2020 ist der Kläger informatorisch angehört worden. Dabei hat er ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen im Wesentlichen vorgetragen: Grund für seine Ausreise aus dem Irak seien die Regierung und der IS gewesen. Er habe die Bewegung von Goran gemocht und einige Male unterstützt. Vor den Wahlen habe er deren Plakate an die Wände geklebt. Am Tag nach der Wahl sei er verhaftet worden. Hier in Europa sei er nicht politisch aktiv, er habe zurzeit keine Beziehung zur Politik. Er wolle hier ein normales Leben führen. Auf die Frage, was er bei einer Rückkehr in den Irak befürchte, gab der Kläger an: Er habe Angst vor der KDP. Vor etwa einem Jahr habe er Kommentare auf Facebook gegen sie gepostet. Den „Haftbefehl“ habe er bekommen, weil er auf Facebook so viel veröffentlicht habe. Wegen der Einzelheiten der Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
28Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes sowie die von der Stadt E. beigezogene Ausländerakte des Klägers Bezug genommen.
29Entscheidungsgründe:
30Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Bundesamts vom 7. Februar 2017 ist rechtmäßig (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat in dem für die Sach- und Rechtslage maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG (I.) noch auf die hilfsweise begehrte Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG (II.). Ebenso wenig besteht ein Anspruch auf die weiter hilfsweise begehrte Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 AufenthG (III.). Auch die Abschiebungsandrohung des Bundesamts und die Bestimmung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot sind nicht zu beanstanden (IV.).
31I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
32Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2a, Abs. 4 AsylG setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
33Die relevanten Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgründe ergeben sich aus § 3a und § 3b AsylG. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. In § 3c AsylG sind die möglichen Verfolgungsakteure benannt, in § 3d AsylG diejenigen Akteure, die Schutz bieten können. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn interner Schutz (§ 3e AsylG) besteht.
34Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren auf Grund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Im Fall der Vorverfolgung greift aber die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (RL 2011/95/EU), wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde beziehungsweise von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
35Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. April 2018 ‑ 1 C 29.17 ‑, BVerwGE 162, 44 = juris Rn. 14 f., und vom 27. April 2010 ‑ 10 C 5.09 ‑, BVerwGE 136, 377 = juris Rn. 20 ff.
36Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit ‑ nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit ‑ des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat.
37Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1985 ‑ 9 C 27.85 ‑, InfAuslR 1986, 79 = juris Rn. 15, und Beschluss vom 21. Juli 1989 ‑ 9 B 239/89 ‑, NVwZ 1990, 171 = juris Rn. 3.
38Den Schutzsuchenden treffen im Asylverfahren Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten (vgl. Art. 4 Abs. 1 RL 2011/95/EU, § 25 AsylG). Insbesondere ist es Sache des Ausländers, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich ‑ als wahr unterstellt ‑ ergibt, dass bei verständiger Würdigung eine Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, die geltend gemachten Schutzansprüche lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u. a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer aber nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden.
39Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2001 ‑ 1 B 24.01 ‑, AuAS 2002, 80 = juris Rn. 5; OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 2018 ‑ 1 A 2/18.A ‑, juris Rn. 65.
40Nach diesen Maßstäben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist nicht anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im dargestellten Sinne droht.
411. Dem Kläger kommt die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU nicht zugute. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens hat das Gericht nicht die Überzeugung gewinnen können, dass der Kläger aufgrund einer erlittenen oder ihm unmittelbar drohenden Verfolgung aus dem Irak ausgereist ist.
42a) Den Angaben des Klägers, die er bei seiner Anhörung beim Bundesamt auf die Aufforderung hin, die Tatsachen vorzutragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen (vgl. Bl. 35 unten und Bl. 36 des Verwaltungsvorgangs der Beklagten), gemacht hat, lassen sich auch bei Wahrunterstellung keine Anhaltspunkte für eine im Irak erlittene oder unmittelbar drohende Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure entnehmen. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung hat der Kläger dort nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er als Grund für seine Ausreise im Wesentlichen wirtschaftliche Gründe und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Europa genannt. Soweit sich der Kläger (auch) auf Probleme mit seinem Stiefvater berufen hat, ist darin ebenfalls keine erlittene Verfolgung zu sehen, weil die von ihm geschilderten Handlungen seines Stiefvaters ‑ ungeachtet weiterer Fragen ‑ nach dem damaligen Vorbringen des Klägers jedenfalls nicht im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG an einen der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG angeknüpft haben. Dass die Handlungen des Stiefvaters einen politischen Hintergrund gehabt haben sollen, hat der Kläger beim Bundesamt (noch) nicht behauptet. Entsprechendes gilt im Übrigen hinsichtlich des vom Kläger im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt ‑ allerdings bereits nicht auf die Frage nach seinem Verfolgungsschicksal und seinen Ausreisegründen ‑ erwähnten Gefängnisaufenthalts (vgl. Bl. 35 des Verwaltungsvorgangs der Beklagten). Auch insoweit hat der Kläger (noch) nicht geltend gemacht, dass die Inhaftierung an einen der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG, insbesondere an eine tatsächliche oder zugeschriebene politische Überzeugung, angeknüpft hätte.
43b) Die vom Kläger ‑ erstmals ‑ im gerichtlichen Verfahren geltend gemachte individuelle politische Vorverfolgung ist zur Überzeugung des Gerichts insgesamt unglaubhaft. Das diesbezügliche Vorbringen des Klägers ist erheblich gesteigert und widersprüchlich. Die zahlreichen Widersprüche und Ungereimtheiten in seinem Sachvortrag hat der Kläger auch nicht auflösen können.
44Der Kläger hat sein Vorbringen betreffend die behauptete politische Vorverfolgung ab der Bundesamtsanhörung bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat, zudem zum Teil in sich widersprüchlich, gesteigert. In der Anhörung beim Bundesamt hat der Kläger eine etwaige politische Verfolgung mit keinem Wort erwähnt und auch nicht irgendwie angedeutet. Weder war von einer aktiven politischen Tätigkeit oder einer bestimmten politischen Einstellung die Rede noch von Repressionen wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung. Nach den Schilderungen des Klägers beim Bundesamt hatten weder die Probleme mit seinem Stiefvater noch der Gefängnisaufenthalt einen politischen Hintergrund. Einen solchen hat der Kläger erstmals im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht behauptet. Dort hat er in der schriftlichen Klagebegründung vom 6. Juni 2017 angegeben, sein Stiefvater, der „mit dem kurdischen Geheimdienst in Zakho zusammengearbeitet“ habe, habe ihn ‑ unzutreffend ‑ in einem Bericht als Sympathisanten der Goran-Bewegung dargestellt. Aus diesem Grund sei er inhaftiert worden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger dann weiter angegeben, er sei tatsächlich ein Sympathisant der Goran-Bewegung gewesen. Dieses Vorbringen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat weiter gesteigert, indem er angeben hat, er habe die Goran-Bewegung einige Male aktiv unterstützt, bei den Wahlen habe er deren Plakate aufgehängt.
45Das Vorbringen des Klägers, er habe der Übersetzerin beim Bundesamt misstraut und befürchtet, dass „Einzelheiten über seine Aussage“ in seiner Heimat bekannt würden, ist nicht geeignet, die Steigerung im Sachvortrag plausibel zu erklären. Es ist in keinster Weise nachvollziehbar, dass der Kläger die Flucht nach Europa auf sich nimmt, um dort Schutz vor politischer Verfolgung zu erlangen, dann aber bei der für die Entscheidung über seinen Asylantrag zuständigen Behörde diese Furcht vor politischer Verfolgung mit keinem Wort, nicht einmal in abstrakter Form, erwähnt. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger in der ihm bei der Asylantragstellung ausgehändigten Belehrung für Erst-antragsteller über Mitwirkungspflichten (vgl. Bl. 4 ff. des Verwaltungsvorgangs der Beklagten) ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass es wichtig sei, sein persönliches Schicksal und die ihm konkret drohenden Gefahren bei einer Rückkehr vollständig und wahrheitsgemäß darzulegen. Auch im Rahmen seiner Anhörung ist dem Kläger die Bedeutung der Anhörung von dem anhörenden Entscheider erläutert und er ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, bei seinen Schilderungen auf keinen Fall etwas Wichtiges und seiner Meinung nach Relevantes wegzulassen (vgl. Bl. 33 des Verwaltungsvorgangs der Beklagten). Dass der Kläger dann gleichwohl seine eigentlichen Asylgründe ‑ in einer nichtöffentlichen Anhörung ‑ nicht benennt, ist mit Misstrauen gegenüber der Übersetzerin nicht plausibel zu erklären. Das gilt umso mehr, als der Kläger im Laufe des Verfahrens dann gegenüber mehreren Stellen (Anwältin, Gerichten) und sogar in öffentlichen Gerichtsverhandlungen dann doch von seiner angeblichen politischen Tätigkeit im Irak berichtet hat. Eine Begründung dafür, warum er erstmals ‑ nach über fünf Jahren seit seiner Einreise nach Deutschland ‑ in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat eine konkrete Tätigkeit für die Goran-Bewegung (Aufhängen von Wahlplakaten) überhaupt erwähnt, die angeblich der Grund für Verfolgungshandlungen gewesen sein soll, fehlt völlig.
46Die Angaben des Klägers zu der behaupteten politischen Vorverfolgung sind zudem in zahlreichen Punkten widersprüchlich und darüber hinaus vage und oberflächlich geblieben. Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger zunächst angegeben, sein Stiefvater habe ihn in einem Bericht fälschlicherweise als Anhänger der Goran-Bewegung dargestellt. Tatsächlich habe er aber nichts mit Goran zu tun. Durch den Bericht sei ein völlig falscher Eindruck von seiner politischen Auffassung entstanden. Er sei kein Anhänger der Goran-Bewegung. In Widerspruch dazu hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht angegeben, er sei ein Sympathisant der Goran-Bewegung gewesen. Entsprechendes hat er auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat behauptet. Auf den diesbezüglichen Vorhalt hat der Kläger diesen Widerspruch nicht auflösen können. Er hat sich vielmehr auf die Angabe beschränkt, sein erster Vortrag im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht sei unzutreffend gewesen, er habe die Goran-Bewegung gemocht. Damit hat der Kläger den Widerspruch nicht überzeugend aufgelöst, sondern vielmehr ein falsches Vorbringen eingeräumt.
47Widersprüche enthält auch das Vorbringen des Klägers zu seiner zuletzt behaupteten Unterstützung der Goran-Bewegung und zu dem angeblich damit im Zusammenhang stehenden Aufenthalt in einem „Privatgefängnis der KDP“. Beim Bundesamt hat der Kläger angegeben, er sei inhaftiert worden, weil sein Stiefvater die Polizei angerufen und gesagt habe, er ‑ der Kläger ‑ würde sie ‑ seine Mutter und seinen Stiefvater ‑ belästigen (vgl. Bl. 35 unten des Verwaltungsvorgangs der Beklagten). Demgegenüber hat er im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht behauptet, er sei inhaftiert worden, weil ihn sein Stiefvater in einem Bericht unzutreffend als Sympathisanten der Goran-Bewegung dargestellt habe. Davon nochmals abweichend hat der Kläger im zweitinstanzlichen Verfahren dann ‑ ohne die Widersprüche zum früheren Vorbringen aufzulösen ‑ behauptet, er sei wegen tatsächlicher Anhängerschaft und aktiver Unterstützung der Goran-Bewegung inhaftiert worden. Widersprüchlich sind auch die Angaben des Klägers zum Ort des Gefängnisses. Während er zunächst einen Ort namens Zawita benannt hat (Schriftsatz vom 6. Juni 2017, S. 2), hat er später behauptet, das Gefängnis sei in Semile gewesen (Schriftsatz vom 20. August 2018, S. 3). In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat er dann angegeben, den Namen des Ortes, in dem das Gefängnis gewesen sei, nicht mehr zu wissen, es sei aber irgendwo in der Nähe von Dohuk bzw. zwischen Dohuk und Semile gewesen. Auf entsprechenden Vorhalt in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger auch diese Widersprüche nicht auflösen können. Er hat sich vielmehr auf die Angabe zurückgezogen, er könne den Ort, wo das Gefängnis gewesen sei, nicht benennen. Widersprüchlich und nicht plausibel sind weiter die Angaben des Klägers zum Zeitpunkt des Gefängnisaufenthalts. Im Klageverfahren hat der Kläger den Zeitpunkt sehr konkret auf Mitte Juni bis Mitte Juli 2015 datiert (Schriftsatz vom 6. Juni 2017, S. 2). Das steht im Widerspruch zu seiner Angabe beim Bundesamt. Dort hat der Kläger angegeben, er wisse es (also den Zeitpunkt des Gefängnisaufenthalts) nicht genau, er glaube, es sei „vor drei oder vier Jahren“ gewesen (vgl. Bl. 35 unten des Verwaltungsvorgangs der Beklagten). Da die Anhörung am 9. August 2016 stattgefunden hat, wäre die Inhaftierung also im Sommer 2012 oder 2013 gewesen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zu dem Zeitpunkt der Inhaftierung befragt hat der Kläger zunächst angegeben, sich nicht erinnern zu können, wann er im Gefängnis gewesen sei, und auf weitere Nachfrage dann eingeräumt, es sei wahrscheinlich kurz vor seiner Ausreise gewesen. Dass sich der Kläger an den Zeitpunkt seiner Inhaftierung nicht mehr erinnern kann, hält das Gericht für unglaubhaft. Bei einem derart einschneidenden Ereignis wäre zu erwarten gewesen, dass er es jedenfalls ungefähr widerspruchsfrei zeitlich einordnen kann.
48Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals gemachten Angaben des Klägers zu seiner angeblichen Unterstützung der Goran-Bewegung vor seiner Ausreise (Aufhängen von Wahlplakaten) hält das Gericht ebenfalls für unglaubhaft. Sie sind im Vergleich zum bisherigen Vorbringen gesteigert, zudem vage und oberflächlich und weisen erneut Widersprüche auf. Eine aktive Tätigkeit für die Goran-Bewegung hat der Kläger im gesamten bisherigen Verfahren nicht behauptet. Schon dieser Umstand spricht deutlich gegen die Wahrheit der diesbezüglichen Angaben des Klägers. Zudem konnte der Kläger auf Nachfragen hierzu in der mündlichen Verhandlung nur oberflächliche Antworten geben, die zum Teil darüber hinaus unzutreffend waren. So hat der Kläger nicht einmal angeben können, welche Wahlen es gewesen sein sollen, in deren Rahmen er die Plakate aufgehängt haben will, und wann diese Wahlen stattgefunden haben. Weiter hat er auf die Frage nach dem Ausgang der damaligen Wahlen zunächst behauptet, sich nicht genau erinnern zu können. Auf weitere Fragen hat der Kläger dann angeben, die Goran-Bewegung habe ein paar Sitze bekommen, sie sei drittstärkste Partei gewesen. Dass der Kläger, wenn er angeblich Sympathisant der Goran-Bewegung gewesen und diese Partei sogar im Wahlkampf aktiv unterstützt haben will, nicht einmal ungefähr den Zeitpunkt und den Ausgang der Wahlen angeben kann, spricht deutlich gegen die Wahrheit seiner diesbezüglichen Angaben. Den Ausgang der Wahl hat der Kläger zudem nicht einmal ansatzweise zutreffend wiedergegeben. Wahlen zum kurdischen Regionalparlament haben vor der Ausreise des Klägers aus dem Irak im August 2015 zuletzt im September 2013 stattgefunden. Die Goran-Bewegung ist damals zweitstärkste Kraft geworden und hat die PUK auf den dritten Platz verdrängt. Es wäre, auch unter Berücksichtigung des Bildungsstands des Klägers, zu erwarten gewesen, dass er diesen großen Erfolg der von ihm angeblich unterstützten Partei zumindest im Ansatz erinnert hätte. Ein weiterer Widerspruch ergibt sich im Übrigen aus der Angabe des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, er sei einen Tag nach den Wahlen inhaftiert worden. Dann wäre die Inhaftierung aber im September 2013 gewesen und nicht wie vom Kläger zuletzt behauptet im Sommer 2015.
49Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auf mehrere Fragen hin letztlich in der Lage war, den Haftraum und den Tagesablauf während seiner Inhaftierung mit einigen Details zu beschreiben, führt nicht dazu, dass von einer Vorverfolgung auszugehen wäre. Das Gericht hält es zwar nach diesen Beschreibungen des Klägers und auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass er eine Inhaftierung bereits bei seiner Anhörung beim Bundesamt erwähnt hat, für möglich, dass er tatsächlich einmal für eine gewisse Zeit inhaftiert bzw. in einer privaten Einrichtung festgehalten worden ist. Aufgrund der dargestellten Steigerungen und zahlreichen erheblichen Widersprüche im Vorbringen des Klägers ist das Gericht aber davon überzeugt, dass ein etwaiger Gefängnisaufenthalt jedenfalls weder in kausalem Zusammenhang mit der Ausreise des Klägers aus dem Irak stand noch aus politischen Gründen erfolgt ist.
50c) Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals (auch) seine Angst vor dem IS als Grund für die Ausreise aus dem Irak angegeben hat, hat er damit allein eine allgemeine Gefahr benannt. Anhaltspunkte für eine erlittene oder ihm vor seiner Ausreise unmittelbar drohende Verfolgungsgefahr durch den IS lassen sich diesem pauschalen ‑ im Übrigen wieder gesteigerten ‑ Vorbringen des Klägers nicht entnehmen.
512. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass staatliche irakische bzw. kurdische Stellen oder Dritte den nach den oben gemachten Ausführungen unverfolgt aus dem Irak ausgereisten Kläger nunmehr im Falle einer Rückkehr verfolgen werden.
52a) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgung durch den Staat bzw. die KDP (vgl. § 3c Nr. 1 und Nr. 2 AsylG). Der Vortrag des Klägers zu seinen politischen Aktivitäten und Äußerungen, die nach seinen eigenen Angaben Grund für eine drohende Verfolgung sein sollen, sind unglaubhaft. Hinsichtlich der Angaben des Klägers zu den Geschehnissen vor seiner Ausreise aus dem Irak wird insoweit auf die Ausführungen oben unter 1. b) verwiesen.
53Das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, er habe in Deutschland Kommentare auf Facebook gegen die KDP gepostet, hält das Gericht ebenfalls für unglaubhaft. Auch dieses Vorbringen ist gesteigert und widersprüchlich, ohne dass der Kläger hierfür eine nachvollziehbare Begründung gegeben hätte. Aus diesem Grund kommt es auch nicht darauf an, ob hinsichtlich des behaupteten Nachfluchtgrundes die Voraussetzungen des § 28 AsylG vorliegen.
54Die Behauptung, in Deutschland gegen die Regierung Barzanis Facebook-Posts veröffentlicht zu haben, woraufhin er bzw. seine Familie im Irak bedroht worden seien, hat der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgebracht. Bei einer solchen Steigerung des Vorbringens in einem sehr späten Stadium des Verfahrens drängt sich die Annahme verfahrensangepassten Vorbringens auf. Das gilt umso mehr, als der Kläger die angeblichen Posts nicht von sich aus, sondern erst dann erwähnt hat, als das Gericht Zweifel an seinem Vorbringen geäußert hat, dass „die KDP“ noch immer, also mehr als fünf Jahre nach seiner Ausreise aus dem Irak, bei seiner Mutter nach ihm frage. Die Behauptung angeblicher politischer Äußerungen auf Facebook in Deutschland steht zudem in unauflösbarem Widerspruch zu früheren, im Verhandlungstermin gemachten Angaben des Klägers. Auf Befragen hatte der Kläger nämlich zuvor ausdrücklich angegeben, in Europa nicht politisch aktiv zu sein und keine Beziehung zur Politik zu haben. Er wolle hier ein normales Leben führen. Auf diesen Widerspruch hingewiesen, konnte der Kläger keine plausible Erklärung geben, außer erneut zu behaupten, er habe „diesen Post gemacht“, aber jetzt poste er nicht mehr. Auch die Angabe des Klägers, er habe die betreffenden Facebook-Posts „vor einem Jahr oder so“ gemacht, und die spätere Angabe, er habe „die Vorladung“ ‑ gemeint ist das mit Schriftsatz vom 24. August 2018 vorgelegte, dort als „Haftbefehl“ bezeichnete Dokument ‑ bekommen, weil er auf Facebook so viel veröffentlicht habe, sind nicht in Übereinstimmung zu bringen. Die Posts auf Facebook hätte der Kläger demnach im Sommer oder Herbst des Jahres 2019 veröffentlicht, der vorgelegte „Haftbefehl“ datiert jedoch bereits auf den 4. April 2018.
55Darüber hinaus sind die Angaben des Klägers zu den angeblichen Posts vage und unkonkret geblieben. Auf die Bitte des Gerichts, einen dieser Posts zu zeigen, hat der Kläger behauptet, die Kommentare seien blockiert worden. Den Inhalt der Posts konnte der Kläger nur damit wiedergeben, dass er zu einem Foto von Barzani geschrieben habe, dass nur dieser seit 24 Jahren an der Macht sei. Auch die angeblich durch diesen Post verursachten Drohungen gegen ihn bzw. gegen seine Familie im Irak hat der Kläger nicht näher beschrieben und nur angegeben, dass „sie“ danach „zu ihnen“, also zu seiner Mutter, nach Hause gekommen seien und gesagt hätte, dass sie gegen seine Familie vorgehen würden, wenn er das noch einmal machte.
56Aus dem vom Kläger mit Schriftsatz vom 24. August 2018 vorgelegten, als „Haftbefehl“ bezeichneten Dokument ergeben sich ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine begründete Furcht vor Verfolgung. Im Gegenteil bestärkt dieses Dokument die Annahme, dass das Vorbringen des Klägers zu der behaupteten politischen Verfolgungsgefahr unglaubhaft ist. Das Gericht wertet bereits den Zeitpunkt der Vorlage des „Haftbefehls“ ‑ etwa einen Monat nach Zulassung der Berufung durch den Senat, obwohl das Dokument angeblich aus April 2018 stammen soll ‑ und die hierzu gegebene Begründung als Indizien für ein unwahres, verfahrensangepasstes Vorbringen. Dass die Familie des Klägers diesen trotz bestehenden Kontakts zunächst nicht über den „Haftbefehl“ und damit insbesondere nicht über eine deshalb drohende Gefahr der Inhaftierung bei einer Rückkehr in den Irak informiert haben soll, erscheint vollkommen lebensfremd. Auch die Behauptung, dass sich der Bruder des Klägers erst auf die Information hin, dass das Asylverfahren des Klägers noch nicht abgeschlossen sei, wieder an den „Haftbefehl“ erinnert habe, ist nicht plausibel. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass nach Wegen gesucht wurde, die Chancen auf einen positiven Ausgang des Asylverfahrens (nach Zulassung der Berufung durch den Senat) zu erhöhen. Das weitere Vorbringen, das Originaldokument sei „damals ganz schnell vernichtet worden“, der Bruder des Klägers habe „aber zuvor noch ein Foto davon“ gemacht, ist ebenfalls nicht plausibel. Gerade mit Blick auf die grundsätzlich bestehende Beweisnot von Asylsuchenden hätte es sich, auch für die Familie des Klägers, unabhängig vom Stand des Asyl(erst)verfahrens aufdrängen müssen, dass die Vorlage eines irakischen Haftbefehls, wonach der Kläger wegen seiner politischen Überzeugung inhaftiert werden solle, ersichtlich dazu beitragen kann, eine Verfolgungsfurcht des Klägers gegenüber deutschen Behörden zu begründen. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, dass ein solches Dokument ohne Information an den Kläger einfach vernichtet wird. Noch weniger nachvollziehbar ist, dass das Dokument vorher noch abfotografiert wird. Hier liegt die Vermutung sehr nahe, dass es ein echtes Dokument ‑ das beispielsweise auch durch die Einholung einer Auskunft überprüft werden könnte - gar nicht gibt.
57Im Übrigen sieht das Gericht auch sonst keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der vorgelegte Ausdruck das Foto eines echten Haftbefehls sein könnte. Vielmehr geht das Gericht nach den ihm vorliegenden Erkenntnissen zu irakischen Haftbefehlen, namentlich in der Autonomen Region Kurdistan,
58vgl. hierzu Auskunft des Auswärtigen Amtes (AA) an das VG Gelsenkirchen vom 4. Oktober 2018 (Gz. 508-516.80/50905),
59davon aus, dass es sich bei dem vom Kläger vorgelegten Schreiben um die Fotokopie bzw. den Ausdruck eines unechten Dokuments handelt. Das ergibt sich bereits aus der äußeren Form des Schreibens. Schon das Schriftbild entspricht nicht demjenigen eines behördlichen Schreibens. Zudem weist das Dokument keinerlei Merkmale auf, die bei einem irakischen Haftbefehl in der Regel zu erwarten wären. Weder enthält es einen Briefkopf mit dem Namen der ausstellenden Behörde noch ein Aktenzeichen oder das Logo des Justizrates. Auch der Inhalt des Schreibens entspricht nicht dem Inhalt eines irakischen Haftbefehls. Das betrifft sowohl Angaben zur gesuchten Person, hier des Klägers, als auch ‑ hier gänzlich fehlende ‑ Angaben zur Art der Straftat und der einschlägigen Normen des (Straf‑)Gesetzes.
60Dass ein Haftbefehl gegen den Kläger, wie in dem Schreiben ausgeführt, (allein) wegen der Zugehörigkeit zur Goran-Bewegung erlassen worden sein soll, hält der Senat mit Blick darauf, dass die Goran-Bewegung im April 2018 nach der KDP zweitstärkste Partei im Kurdischen Parlament gewesen ist, im Übrigen auch nicht für plausibel. Anhaltspunkte für eine staatliche (Gruppen‑)Verfolgung von Mitgliedern oder Anhängern der Goran-Bewegung im Jahr 2018 in der Autonomen Region Kurdistan liegen dem Senat nicht vor.
61Darüber hinaus weist das im Zusammenhang mit dem angeblichen Haftbefehl stehende Vorbringen des Klägers Widersprüche auf. Während der Kläger zunächst behauptet hat, er werde gesucht, weil er Anhänger der Goran-Bewegung sei, hat er in der mündlichen Verhandlung plötzlich angegeben, der Haftbefehl sei ergangen, weil er in Deutschland auf Facebook Kommentare gegen die Regierung Barzanis gepostet habe. Weiter hat er zunächst (vgl. Schriftsatz vom 24. August 2018) behauptet, das Original des Dokuments sei vernichtet worden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger dann aber angegeben, er wisse nicht, was mit dem Original sei. Auf den Hinweis des Gerichts, dass auf dem vorgelegten Dokument etwa die ausstellende Behörde nicht zu erkennen sei, hat der Kläger sodann spontan angegeben, er könne sich das Originaldokument bei Bedarf aus dem Irak schicken lassen.
62Aufgrund der vorstehenden Ausführungen gibt es keinen Anlass, von Amts wegen hinsichtlich des angeblichen Haftbefehls und hinsichtlich des behaupteten früheren Gefängnisaufenthalts weiter zu ermitteln. Die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts findet ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Ein solcher besteht im Asylprozess dann nicht, wenn der Kläger ‑ wie hier nach den vorstehenden Ausführungen ‑ unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflicht seine guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht in schlüssiger Form im oben dargestellten Sinne vorträgt.
63Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 ‑ 9 B 405.89 ‑, NVwZ-RR 1990, 379 = juris Rn. 8 m. w. N.; OVG NRW, Urteil vom 17. August 2015 ‑ 3 A 2496/07.A -, juris Rn. 82.
64b) Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Irak auch keine individuelle Verfolgung durch nichtstaatliche Dritte. Soweit der Kläger im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt noch geltend gemacht hat, er habe Angst vor seinem Stiefvater bzw. davor, dass dieser ihm bei einer Rückkehr in den Irak etwas antun könnte, hat er Derartiges in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat der Kläger auf Fragen zu seiner Familie angegeben, keinen Kontakt mehr zu seinem Stiefvater zu haben. Dieser lebe inzwischen auch nicht mehr mit seiner Mutter zusammen. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass es noch zu Problemen mit dem Stiefvater kommen sollte. Das gilt umso mehr als der Kläger auch die Frage, was er bei einer Rückkehr in den Irak befürchte, (zuletzt) nicht (mehr) mit einer drohenden Gefährdung durch den Stiefvater beantwortet hat, sondern vielmehr (allein) mit seiner Angst vor der KDP. Im Übrigen würden etwaige gegen den Kläger gerichtete Handlungen seitens des Stiefvaters auch nicht im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG an einen der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG anknüpfen. Die vom Kläger behaupteten politischen Hintergründe des Konflikts mit seinem Stiefvater sind, wie oben ausgeführt, unglaubhaft.
65II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.
66Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach Satz 2 der Vorschrift die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Für die Darlegung der stichhaltigen Gründe i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG gelten die gleichen Anforderungen wie im Rahmen des § 3 AsylG. Für die zu treffende Gefahrenprognose gilt ‑ ebenfalls wie im Rahmen des § 3 AsylG ‑ der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit („real risk“).
67Danach sind die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes im Fall des Klägers nicht erfüllt.
681. Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG). Derartiges macht er auch selbst nicht geltend.
692. Dem Kläger droht im Irak auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) durch einen Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine drohende Gefährdung in diesem Sinne, insbesondere auf eine drohende, möglicherweise auch mit Folter verbundene Inhaftierung wegen seiner politischen Überzeugung beruft, wird auf die vorstehenden Ausführungen zu § 3 AsylG verwiesen. Das diesbezügliche Vorbringen des Klägers ist unglaubhaft.
703. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) besteht ebenfalls nicht. Offen bleiben kann, ob in der Provinz Dohuk derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne dieser Vorschrift stattfindet.
71Zum Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 ‑ Rs. C-285/12 (Diakité) ‑, juris Rn. 30 ff.; BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 ‑ 10 C 4.09 ‑, BVerwGE 136, 360 = juris Rn. 23 f.
72Jedenfalls ist der Kläger auch bei Annahme eines solchen Konflikts keiner ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt, weil das Niveau willkürlicher Gewalt in der Provinz Dohuk aktuell nicht derart hoch ist, das von einer individuellen Gefährdung,
73zu den (hohen) Anforderungen für eine solche Annahme vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 ‑ Rs. C-285/12 (Diakité) -, juris Rn. 30 ff.; BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 ‑ 10 C 4.09 ‑, a. a. O., und vom 17. November 2011 ‑ 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 64 = juris Rn. 17 ff. m. w. N. (zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F.)
74des Klägers, bei dem keine gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, auszugehen wäre.
75Vgl. EASO, Country Guidance: Iraq. Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 29 f. und 109; EASO, Herkunftsländerinformationen. Irak. Sicherheitslage (Ergänzung). Iraq Body Count - Zivile Todesfälle 2012, 2017-2018, Februar 2019, S. 20 (mit Angaben auch speziell zu zivilen Todesopfern im Distrikt Zakho).
76III. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG und nach § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf den Irak.
771. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist für den Kläger nicht festzustellen. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ‑ EMRK ‑ ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Das ist hier nicht der Fall.
78Eine Abschiebung verletzt insbesondere nicht das in Art. 3 EMRK normierte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Irak einer solchen Behandlung ausgesetzt sein wird. Das gilt zunächst mit Blick auf die vom Kläger geltend gemachte Gefährdung durch „die KDP“ bzw. drohende Verfolgung und Inhaftierung wegen seiner politischen Überzeugung. Insoweit wird erneut auf die oben stehenden Ausführungen verwiesen, wonach das diesbezügliche Vorbringen des Klägers unglaubhaft ist.
79Ein Verbot der Abschiebung ergibt sich im Fall des Klägers aber auch nicht wegen der derzeitigen humanitären Verhältnisse im Irak. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat können nur in ganz außergewöhnlichen Fällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK begründen.
80Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 ‑ Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich -, NVwZ 2012, 681, 685; BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 23 ff., m. w. N.; vgl. ferner BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 ‑, ZAR 2019, 121 = juris Rn. 6.
81Eine Abschiebung kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn humanitäre Gründe „zwingend“ gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Die im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein Mindestmaß an Schwere aufweisen.
82Vgl. dazu ausführlich OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 ‑ 9 A 4590/18.A ‑, juris Rn. 152 ff. und 161 ff. m. w. N.
83Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere kann erreicht sein, wenn Rückkehrer ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten.
84Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 45.18 ‑, BVerwGE 166, 113 = juris Rn. 12, und Beschluss vom 8. August 2018 ‑ 1 B 25.18 ‑, NVwZ 2019, 61 = juris Rn. 11.
85Davon ist hier nicht auszugehen. Unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage in der Autonomen Region Kurdistan, insbesondere der dortigen Lebensbedingungen,
86vgl. hierzu etwa UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2019; EASO, Country of Origin Information Report. Iraq. Key socio-economic indicators, Februar 2019; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 18 ff.,
87als auch der individuellen Situation des Klägers ist vielmehr zu erwarten, dass der Kläger bei einer Rückkehr dorthin trotz der nach wie vor schwierigen wirtschaftlichen Situation und der teilweise angespannten Versorgungslage in der Lage sein wird, seine existenziellen Bedürfnisse zu sichern. Als junger, lediger, gesunder und voll erwerbsfähiger Mann gehört er nicht zu einer im Falle einer Rückkehr in den Irak aufgrund der dortigen allgemeinen Versorgungslage besonders gefährdeten Personengruppe. Er spricht zudem kurdisch und ist in der Autonomen Region Kurdistan aufgewachsen, so dass er mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist. Bereits vor seiner Ausreise hat der Kläger als Maler und in einem Fitnessstudio gearbeitet, in Deutschland arbeitet er als Lagerhelfer. Diese oder andere Erwerbstätigkeiten wird er auch bei einer Rückkehr in den Irak (wieder) ausüben können. Soweit der Kläger im Klageverfahren pauschal hat vortragen lassen, „nur als gläubiger Moslem könne er in seiner Heimat existieren“, andernfalls bekäme er keine Aufträge und könne deshalb keine Existenz wiederaufbauen, hält das Gericht dieses Vorbringen schon deshalb für unzutreffend, weil der Kläger bereits vor der Ausreise konfessionslos gewesen sein will und gleichwohl seine Existenz durch die genannten Arbeitstätigkeiten, insbesondere auch durch eine Anstellung in einem Fitnessstudio, sichern konnte. Zudem leben jedenfalls seine Mutter und sein jüngerer (erwachsener) Bruder, zu denen er eigenen Angaben zufolge Kontakt hat, nach wie vor in der Autonomen Region Kurdistan. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger, soweit etwa in der Zeit unmittelbar nach der Rückkehr erforderlich, auf familiäre Unterstützung zurückgreifen kann.
882. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht ebenfalls nicht. Eine erhebliche konkret-individuelle Gefahr im Sinne dieser Vorschrift droht dem Kläger nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die vorstehenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG gelten insoweit entsprechend. Für ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG) bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Der Kläger ist bei einer Rückkehr in den Irak auch keiner extremen Gefahrenlage ausgesetzt, die die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 6 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung rechtfertigen würde.
89Vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 13. Juni 2013 ‑ 10 C 13.12 ‑, BVerwGE 147, 8 = juris Rn. 12 f., vom 31. Januar 2013 ‑ 10 C 15.12 ‑, a. a. O., juris Rn. 38, und vom 29. September 2011 ‑ 10 C 23.10 ‑, NVwZ 2012, 244 = juris Rn. 21 f.
90Auch insoweit wird auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG verwiesen. Abgesehen davon besteht vorliegend aber ohnehin keine für die Gewährung von Abschiebungsschutz auf dieser rechtlichen Grundlage erforderliche verfassungswidrige Schutzlücke. Denn der Kläger ist aufgrund der im Land Nordrhein-Westfalen geltenden ausländerrechtlichen Erlasslage, wonach grundsätzlich ‑ ein Ausnahmefall liegt bei dem Kläger derzeit nicht vor ‑ keine zwangsweisen Rückführungen in den Irak stattfinden, vergleichbar wirksam vor einer Abschiebung geschützt.
91Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 ‑ 10 C 13.12 ‑, a. a. O., juris Rn. 15.
92IV. Die unter Ziffer 5 des angegriffenen Bescheides verfügte Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung unter Fristsetzung von 30 Tagen ist rechtmäßig. Sie beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG, dessen Voraussetzungen im Fall des Klägers, der keinen Aufenthaltstitel besitzt, nach den oben unter Ziff. I., II. und III. gemachten Ausführungen vorliegen, und § 38 Abs. 1 AsylG. Auch das auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 6 des Bescheides vom 7. Februar 2017) ist nicht zu beanstanden. In der hier erfolgten behördlichen Befristungsentscheidung, die vor einer Abschiebung des Klägers ergangen ist, liegt auch die konstitutive Anordnung eines befristeten Einreiseverbots,
93vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 21. August 2018 ‑ 1 C 21.17 ‑, BVerwGE 162, 382 = juris Rn. 20 ff., und vom 27. Juli 2017 ‑ 1 C 28.16 ‑, BVerwGE 159, 270 = juris Rn. 42,
94wie sie nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung, die vorliegend gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG anzuwenden ist, nunmehr ‑ in Umsetzung der genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ‑ gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist.
95Vgl. BT-Drs. 19/10047, S. 31 zu Nummer 4.
96Fehler bei der Ermessensentscheidung über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) sind nicht zu erkennen. Das Bundesamt hat sich bei der Befristungsentscheidung an dem Mittelwert der in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannten Frist von bis zu fünf Jahren orientiert. Besondere persönliche, insbesondere familiäre Belange, die eine kürzere Frist rechtfertigen könnten, hat der Kläger nicht dargelegt; sie sind auch sonst nicht ersichtlich.
97Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
98Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
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Tenor
1.Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
2.Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
1G r ü n d e :
21. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
32. Der sinngemäß gestellte Antrag,
4dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung aufzugeben, den Antragssteller von der Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, vorläufig zu befreien und ihn vorläufig innerhalb des Landes zu verteilen,
5hat keinen Erfolg.
6Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm ein Anspruch auf die begehrte Handlung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund), vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 und § 294 ZPO.
7Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
8Seine Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, entfällt zunächst nicht nach § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift sind Ausländer, die den Asylantrag bei einer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zu stellen haben (§ 14 AsylG), verpflichtet, bis zur Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag und im Falle der Ablehnung des Asylantrags bis zur Ausreise oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung oder -anordnung, längstens jedoch bis zu 18 Monate, bei minderjährigen Kindern und ihren Eltern oder anderen Sorgeberechtigten sowie ihren volljährigen, ledigen Geschwistern längstens jedoch bis zu sechs Monate, in der für ihre Aufnahme zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Die 18-monatige Höchstfrist ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht erreicht. Dies folgt schon daraus, dass er – ungeachtet des genauen Zeitpunkts der Asylantragstellung – erst am 4. November 2019 in das Bundesgebiet eingereist ist.
9Auch ein Anspruch auf Beendigung der Aufenthaltsverpflichtung und landesinterne Verteilung gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 AsylG kommt vorliegend nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift sind Ausländer unverzüglich aus der Aufnahmeeinrichtung zu entlassen und innerhalb des Landes zu verteilen, wenn das Bundesamt der zuständigen Landesbehörde mitteilt, dass dem Ausländer Schutz nach den §§ 2, 3 oder 4 AsylG zuerkannt wurde oder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes in der Person des Ausländers oder eines seiner Familienangehörigen im Sinne des § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG vorliegen (Nr. 1) oder das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Bundesamtes angeordnet hat, es sei denn, der Asylantrag wurde als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AsylG abgelehnt (Nr. 2).
10Keine der von der Vorschrift aufgestellten Voraussetzungen ist hier erfüllt. Dem (ledigen) Antragsteller wurde kein internationaler Schutz zuerkannt und das Verwaltungsgericht hat auch nicht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Bundesamtes angeordnet.
11Entgegen der Auffassung des Antragstellers kann § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG vorliegend auch nicht analog angewandt werden.
12Durch eine Analogie wird die durch eine Norm angeordnete Rechtsfolge auf einen Sachverhalt übertragen, der nicht dem Tatbestand der Norm unterfällt. Eine Analogie darf nur vorgenommen werden, um eine echte Regelungslücke auszufüllen. Darunter ist eine Unvollständigkeit des Tatbestandes einer Norm wegen eines versehentlichen, dem Normzweck zuwiderlaufenden Regelungsversäumnisses des Normgebers zu verstehen. Eine solche Lücke darf von den Gerichten im Wege der Analogie geschlossen werden, wenn sich aufgrund der gesamten Umstände feststellen lässt, dass der Normgeber die von ihm angeordnete Rechtsfolge auch auf den nicht erfassten Sachverhalt erstreckt hätte, wenn er ihn bedacht hätte.
13 BVerwG, Beschluss vom 11. September 2008 - 2 B 43.08 -, juris, Rn. 7.
14Gemessen daran scheidet eine analoge Anwendung des § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG auf die Fälle aus, in denen – wie hier – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die „einfache“ Ablehnung eines Asylantrags gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG bereits kraft Gesetzes eintritt.
15Es fehlt insoweit schon an der für die Bildung einer Analogie erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. Dafür, dass es der Gesetzgeber bei der Kodifikation des § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG planwidrig unterlassen hätte, den in der Vorschrift normierten Fortfall der Wohnverpflichtung auf die Fälle zu erstrecken, in denen der abgelehnte Asylbewerber mit aufschiebender Wirkung Klage gegen die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes erhoben hat, bestehen keinerlei Anhaltspunkte.
16Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Regelung bewusst auf die Fälle beschränkt hat, in denen das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO angeordnet hat. Schon in Anbetracht des Umstands, dass die in Rede stehende Konstellation des § 38 Abs. 1 AsylG, in der das Bundesamt den Asylantrag nicht als unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgelehnt hat, auf den Großteil der Bewohner der Aufnahmeeinrichtungen zutreffen dürfte, liegt die Annahme fern, wonach es der Gesetzgeber planwidrig unterlassen haben könnte, diese praktisch bedeutsame Konstellation einer ausdrücklichen Regelung zuzuführen.
17Weiterhin ist zu beachten, dass die in § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG enthaltene Regelung bereits mit dem Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26. Juni 1992 (BGBl. I, 1992, 1126, 1135) in das Asylgesetz (damals: Asylverfahrensgesetz) eingeführt worden ist und keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die Vorschrift jemals dahingehend ausgelegt worden ist, dass von ihr auch die Fälle, in denen die aufschiebende Wirkung der Klage kraft Gesetzes eintritt – wie es § 75 Abs. 1 AsylVfG für die „einfache“ Ablehnung eines Asylantrags bereits damals vorgesehen hat (BGBl. I, 1992, 1126, 1140) – ebenfalls mitumfasst werden. Würde die wortlautgetreue Auslegung der Vorschrift tatsächlich dem gesetzgeberischen Willen zuwiderlaufen, hätte der Gesetzgeber im Zuge der zahlreichen Novellierungen des Asylgesetzes mithin die Möglichkeit gehabt, eine entsprechende Änderung der Vorschrift herbeizuführen.
18Soweit der Antragsteller unter Bezugnahme auf die amtliche Begründung respektive die Gesetzgebungsgeschichte des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I, 2019, 1294) das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke darzulegen versucht, geht sein Vorbringen schon deshalb fehl, als – wie bereits ausgeführt wurde – die in § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG enthaltene Regelung nicht erst mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, sondern bereits im Jahr 1992 mit dem Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens eingeführt worden ist. Ist die in Rede stehende Vorschrift mithin überhaupt nicht Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens gewesen, ist nicht ersichtlich, inwieweit sich aus der Gesetzgebungsgeschichte Rückschlüsse auf den gesetzgeberischen Willen bezüglich der unverändert gebliebenen Vorschrift entnehmen lassen könnten.
19Keine andere Bewertung rechtfertigt zudem das Vorbringen des Antragstellers, eine analoge Anwendung des § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG sei auch deshalb geboten, weil andernfalls der Ausländer, dessen Asylantrag gemäß § 30 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sei und bei dem das Verwaltungsgericht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung seiner Klage angeordnet habe, ob des Fortfalls der Wohnverpflichtung besser gestellt sei als der Ausländer, dessen Asylantrag lediglich als „einfach“ unbegründet abgelehnt worden sei.
20Allein das Vorliegen einer Ungleichbehandlung rechtfertigt für sich genommen noch nicht die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke, da eine Ungleichbehandlung durchaus Ausdruck einer bewussten Differenzierung des Gesetzgebers sein kann. So verhält es sich hier. Denn Ausländer, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, sind nur dann nach § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG von der Wohnungsverpflichtung befreit, wenn das Verwaltungsgericht die aufschiebende ihrer Klage angeordnet hat. Asylbewerber, die nicht erfolgreich ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren betrieben haben, sind dem Antragsteller mithin gegenüber nicht „besser“ gestellt. Vielmehr ist deren Rechtsposition gegenüber denjenigen Ausländern, deren Asylantrag als „einfach“ unbegründet abgelehnt worden ist, sogar verschlechtert. So sehen die § 47 Abs. 1a und 1b AsylG für den Fall der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet die Möglichkeit vor, die Wohnverpflichtung bis zur Ausreise oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung oder -anordnung für eine Dauer von bis zu 24 Monaten, im Falle des Abs. 1a sogar zeitlich unbegrenzt, aufrecht zu erhalten. Dies stellt eine Verschlechterung der Rechtsposition dar, weil Ausländer, deren Asylantrag nicht als offensichtlich unbegründet oder unzulässig abgelehnt worden ist, gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylG lediglich für die Dauer von 18 Monaten verpflichtet sind, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen.
21 Vgl. VG Arnsberg, Beschluss vom 3. September 2020 ‑ 9 L 730/20 ‑, S. 5 f. des Abdrucks.
22Sieht das Gesetz mithin in § 47 Abs. 1a und 1b AsylG für Ausländer, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist, differenzierte Regelungen vor, spricht dies dagegen, dass es der Gesetzgeber in § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG planwidrig unterlassen haben könnte, die dort normierte Rechtsfolge auch auf „einfach“ abgelehnte Asylbewerber zu erstrecken. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Regelung bewusst nur auf den im Gesetz explizit aufgeführten Personenkreis erstrecken wollte.
23 Ebenso: VG Arnsberg, Beschluss vom 3. September 2020 - 9 L 730/20 ‑, S. 5 f. des Abdrucks; eine planwidrige Regelungslücke und in der Folge auch eine Analogie bejahend hingegen: VG Münster, Beschluss vom 6. August 2020 - 6a L 601/20 -, juris, Rn. 9 ff.
24Hierfür spricht auch der Umstand, dass der Gesetzgeber an anderer Stelle durchaus die vom Antragsteller postulierte Gleichbehandlung von Ausländern, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist und bei denen das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat, und Ausländern, deren Asylantrag einfach abgelehnt worden ist, vorgesehen hat. So bestimmt § 61 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AsylG, dass Ausländern die Ausübung einer Beschäftigung zu erlauben ist, wenn der Asylantrag nicht als offensichtlich unbegründet oder als unzulässig abgelehnt wurde, es sei denn das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Bundesamtes angeordnet. Hiermit stellt der Gesetzgeber beide Gruppen von Asylbewerbern im Hinblick auf die Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit gleich. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass der Gesetzgeber im Rahmen des § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG gerade keine Gleichbehandlung der beiden Personengruppen beabsichtigt hat.
25Schließlich lässt sich auch einer Gesamtschau der Bestimmungen der §§ 47 ff. AsylG entnehmen, dass die Wohnverpflichtung in einer Unterkunft nach dem gesetzgeberischen Willen grundsätzlich auch in Ansehung einer kraft Gesetzes eingetretenen aufschiebenden Wirkung fortbestehen soll. So sieht § 47 Abs. 3 AsylG vor, dass der Ausländer für die Dauer der Pflicht, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, verpflichtet ist, für die zuständigen Behörden und Gerichte erreichbar zu sein. Weiterhin bestimmt § 57 Abs. 3 Satz 1 AsylG, dass der Ausländer Termine bei Behörden und Gerichten, bei denen sein persönliches Erscheinen erforderlich ist, ohne Erlaubnis wahrnehmen kann. Würde die Wohnverpflichtung für Ausländer, deren Asylantrag als „einfach“ unbegründet abgelehnt worden ist und deren Klage gegen die ablehnende Asylentscheidung infolgedessen nach Maßgabe des § 75 AsylG aufschiebende Wirkung zukommt, entfallen, liefen die in § 47 Abs. 3 und § 57 Abs. 3 Satz 1 AsylG enthaltenen Regelungen, soweit sie die Pflicht zur Erreichbarkeit für die zuständigen Gerichte respektive die Wahrnehmung von Gerichtsterminen betreffen, für den Großteil der Asylbewerber leer, da diese nicht mehr zum Wohnen in der Aufnahmeeinrichtung verpflichtet wären. Dass diese Konsequenz dem gesetzgeberischen Willen entspricht, vermag nicht angenommen zu werden.
26Darüber hinaus liegt auch keine vergleichbare Interessenlage vor. Die Konstellation, dass der Klage gegen die „einfache“ Ablehnung eines Asylantrags kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zukommt, ist nicht mit dem in § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG geregelten Fall vergleichbar, in denen das Verwaltungsgericht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat. Denn nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf das Verwaltungsgericht die Aussetzung der Abschiebung nur anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Für den von dem Antragsteller in Blick genommenen Fall der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 AsylG bedeutet dies etwa, dass das Verwaltungsgericht zu überprüfen hat, ob gerade die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamtes ernstlichen Rechtmäßigkeitszweifeln unterliegt.
27 Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris, Rn. 92 ff.; Pietzsch in: BeckOK, AuslR, 26. Edition Stand: 1. Juli 2020, AsylG, § 36 Rn. 39.
28Damit stellt sich der Eintritt der aufschiebenden Wirkung in dem vom Gesetzgeber in § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 explizit geregelten Fall als das Ergebnis einer – wenngleich durch den Prüfungsmaßstab der ernstlichen Zweifeln zurückgenommenen – gerichtlichen Überprüfung dar. Im Gegensatz dazu tritt die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die „einfache“ Ablehnung eines Asylantrags kraft Gesetzes ein, ohne dass es insoweit auf die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts ankommen würde. Vor diesem Hintergrund ist die Interessenlage in beiden Konstellationen nicht vergleichbar, sodass die Bildung einer Analogie auch aus diesem Grund ausscheiden muss.
29Die Verpflichtung der Antragsteller, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, entfällt des Weiteren auch nicht gemäß § 49 Abs. 2 AsylG. Nach dieser Vorschrift kann die Verpflichtung, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge sowie aus sonstigen Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, insbesondere zur Gewährleistung der Unterbringung und Verteilung, oder aus anderen zwingenden Gründen beendet werden. Solche Gründe sind hier weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
30Auch aus dem Runderlass des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen vom 16. Juli 2019 - 522-39.18.03 - 17/175 folgt für den Antragsteller kein Anspruch auf landesinterne Verteilung. Dort heißt es unter Ziffer 5 u. a. wie folgt: „Nach ablehnender Asylentscheidung des BAMF prüft die ausländerrechtlich zuständige Zentrale Ausländerbehörde, ob der Asylsuchende noch aus einer Landeseinrichtung in sein Herkunftsland zurückgeführt werden kann oder eine Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise besteht. Bei negativer Bewertung durch die Zentrale Ausländerbehörde ist der Asylsuchende gegebenenfalls vor Ablauf von sechs Monaten durch die Bezirksregierung Arnsberg gemäß § 50 AsylG einer Kommune zuzuweisen. Eine Zuweisung kann dabei in den Fällen der §§ 49 und 50 Abs.1 AsylG bereits vor Ablauf der Wohnverpflichtung von sechs Monaten nach § 47 Abs. 1 AsylG notwendig sein. Dies gilt insbesondere für Personen, die gegen den negativen BAMF-Bescheid Rechtsmittel eingelegt haben und deren Rechtsmittel aufschiebende Wirkung hat.“
31Wie aus der Bezugnahme auf die §§ 49 und 50 AsylG ersichtlich wird, soll Ziffer 5 des in Rede stehenden Erlasses dem Ausländer keinen eigenständigen Anspruch auf Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung und Verteilung innerhalb des Landes gewähren. Ein darauf gerichteter Anspruch kommt vielmehr – schon aus kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten – lediglich dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 49 oder § 50 AsylG vorliegen. Dies ist hier – wie ausgeführt wurde – nicht der Fall.
32Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
33Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin ist Herausgeberin einer in Pirmasens erscheinenden Regionalzeitung. Sie streitet mit dem Antragsgegner über einen presserechtlichen Auskunftsanspruch, der die Verpflichtung zur Bekanntgabe der Corona-Infektionszahlen aufgeschlüsselt nach den einzelnen Ortsgemeinden des Landkreises Südwestpfalz betrifft.
2
Eine entsprechende Anfrage lehnte die Landrätin am 20. Oktober 2020 telefonisch ab und erklärte, auf Empfehlung des Landesdatenschutzbeauftragten würden keine Infektionszahlen auf Ebene der Ortsgemeinde bekanntgegeben. Dies werde auch in anderen Landkreisen so gehandhabt. Auf der Homepage des Antragsgegners werden dementsprechend nur nach Verbandsgemeinde aufgeschlüsselte Infektionsfälle aufgelistet.
3
Am 26. Oktober 2020 hat die Antragstellerin um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
4
Sie macht geltend, dass ein Informationsbedürfnis der Bürger über das Infektionsgeschehen in ihrem Heimatort und regionalen Umfeld vorhanden sei, und zwar nicht nur aus Neugierde, sondern auch deshalb, weil sich jeder dann besser schützen könne, wenn er wisse, ob evtl. ein Infektionsgeschehen im direkten Umfeld vorhanden sei. Die begehrte Auskunft betreffe lediglich die nach Ortsgemeinde aufgeschlüsselten Infektionszahlen, ohne darüberhinausgehende Zusatzinformationen. Mit den erwünschten Auskünften sei eine individuelle Zuordnung von Zahlen zu konkret Betroffenen auch in kleinen Ortsgemeinden nicht möglich. Die Informationen seien so abstrakt, dass auch mittels zusätzlicher Informationen nicht auf eine konkrete Person geschlossen werden könne, denn die Ortsgemeinden seien nicht so kleinteilig geprägt. Sie zählten mindestens 100, teils bis zu 7.000 Einwohner. In einem Ort, in dem jeder jeden kenne, würden Infektionen/Krankheiten aufgrund persönlicher Informationen, nicht aufgrund der Presseberichterstattung bekannt. Es sei ferner zu bedenken, dass nicht nur die Pressefreiheit und etwaige Rechte bzw. ein Schutzbedürfnis infizierter Betroffenen gegenüberständen, sondern auch die Rechte nicht infizierter Personen in der Region zu berücksichtigen seien. Diese hätten ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und Informationserteilung, die sie in die Lage versetzten, auf die regionalen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren und sich entsprechend zu schützen.
5
Die Antragstellerin verweist ferner auf eine Entscheidung des Bayerischen VGH vom 19. August 2020 – 7 CE 20.1822 – und auf das grundgesetzliche geschützte Selbstbestimmungsrecht der Presse. Die von ihr eingeholte – ablehnende – Stellungnahme des Landesdatenschutzbeauftragten vom 27. Oktober 2020 überzeuge nicht.
6
Die Antragstellerin beantragt,
7
1. den Antragsgegner zu verpflichten, ihr auf Anforderung Auskünfte über die im Landkreis Südwestpfalz festgestellte Gesamtzahl der seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie dokumentierten Infektionszahlen, aufgeschlüsselt nach den einzelnen Ortsgemeinden des Landkreises Südwestpfalz, zu erteilen.
8
2. den Antragsgegner zu verpflichten, ihr auf Anforderung Auskünfte über die im Landkreis Südwestpfalz jeweils festgestellten Zahlen aktiver Infektionen mit dem SARS-CoV2-Virus, aufgeschlüsselt nach den einzelnen Ortsgemeinden des Landkreises Südwestpfalz, zu erteilen.
9
Der Antragsgegner beantragt,
10
den Antrag abzulehnen.
11
Er führt aus, der Antragstellerin stehe der begehrte Auskunftsanspruch nicht zu. Sie begehre gerade nicht nur eine Aufschlüsselung der seit Beginn der Pandemie festgestellten und dokumentierten Gesamtzahlt der Infizierten, sondern zusätzlich die Zahlen aktiver Infektionen in den einzelnen Ortsgemeinden. Eine solche Auskunft würde schutzwürdige private Interessen verletzen. Insoweit könne sich die Antragstellerin auch nicht auf die Entscheidung des Bayerischen VGH vom 19. August 2020 stützen, denn darin werde gerade darauf abgestellt, dass nur die Fallzahlen bezogen auf die Gesamtdauer der Pandemie und keine weitere Differenzierung abgefragt worden sei, sodass der Informationsgehalt der begehrten Auskunft so reduziert wäre, dass kein Rückschluss auf derzeit akut mit Covid-19 infizierte Personen möglich sei. Demgegenüber begehre die Antragstellerin die Zahl der aktuell infizierten Personen und deren Verteilung auf die Ortsgemeinden. Da es Ortsgemeinden von zum Teil nur rund 100 Einwohnern gebe, könne eine solche Angabe leicht zur Identifizierbarkeit akut erkrankter Personen führen.
12
Es sei auch nicht ersichtlich, dass eine ordentliche und zielführende Pressearbeit nur unter Veröffentlichung der begehrten Daten möglich wäre. Aus der Antragsbegründung sei ersichtlich, dass es darum gehe, Ortschaften mit aktiven Infektionsgeschehen zu stigmatisieren, wenn der Leser informiert werden solle, welche Ortschaften besser gemieden werden sollten.
II.
13
Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
14
1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn die Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder um drohende Gefahren zu verhindern oder wenn sie aus anderen Gründen erforderlich ist. Dabei darf grundsätzlich nicht die Hauptsache vorweggenommen werden. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nach der in Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG – gewährleisteten Rechtsschutzgarantie jedoch dann, wenn der in der Hauptsache geltend gemachte Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist und wegen des Nichterfüllens dieses Anspruchs schwere, unzumutbare oder nicht anders abwendbare Nachteile drohen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 123 Rn. 13 ff.). Diese Voraussetzungen sind wie alle Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO – i. V. m. § 123 Abs. 3 VwGO). Ob eine Regelungsanordnung nötig erscheint, beurteilt sich nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Wird eine Vorwegnahme der Hauptsache begehrt, ist des Weiteren erforderlich, dass mit einer qualifiziert hohen Wahrscheinlichkeit das Bestehen eines materiellen Anspruchs festgestellt wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Dezember 2018 – 6 S 2448/18 –, VBLBW 2019, 294). Hierfür sind erhöhte Anforderungen an die Darlegung sowohl des geltend gemachten Anordnungsgrundes als auch des Anordnungsanspruchs zu stellen. Je stärker der Anordnungsgrund ist, desto eher kommt eine Vorwegnahme zulasten der Behörde in Betracht (Bayerischer VGH, Beschluss vom 19. August 2020 – 7 CE 20.1822 –, Rn. 12, juris, m.w.N.)
15
2. Nach diesen Grundsätzen kommt der Erlass einer Regelungsanordnung nicht in Betracht, denn ein Anordnungsanspruch besteht nicht.
16
Rechtsgrundlage für den von der Antragstellerin begehrten presserechtlichen Auskunftsanspruch gegen den Antragsgegner ist § 12a Abs. 1 des Landesmediengesetzes – LMG –. Nach dieser Vorschrift sind die Behörden verpflichtet, der Presse die der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben dienenden Auskünfte zu erteilen.
17
Nach der im vorliegenden Verfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Rechtslage lehnt der Antragsgegner die Erteilung der begehrten Auskünfte – Gesamtzahl der seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie dokumentierten Infektionszahlen, aufgeschlüsselt nach den einzelnen Ortsgemeinden bzw. entsprechende Zahlen aktiver Infektionen – zu Recht ab. Die Antragstellerin kann sich zwar grundsätzlich gegenüber dem Antragsgegner als auskunftspflichtiger Behörde auf den presserechtlichen Auskunftsanspruch berufen. Dies gilt aber nicht, soweit – wie hier – ausnahmsweise schutzwürdige Interessen betroffener Bürger entgegenstehen.
18
a) Der in § 12a LMG geregelte Auskunftsanspruch der Presse konkretisiert die grundgesetzlich in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz – GG – verbürgte Pressefreiheit. Erst der prinzipiell ungehinderte Zugang zu Informationen versetzt die Presse in den Stand, die ihr in der freiheitlichen Demokratie zukommende Funktion wirksam wahrzunehmen. Die Aufgabe der Presse ist vornehmlich die Information der Bevölkerung als Grundlage der öffentlichen Meinungsbildung. Grundsätzlich entscheidet die Presse in den Grenzen des Rechts selbst, ob und wie sie über ein bestimmtes Thema berichtet. Das "Ob" und "Wie" der Berichterstattung ist Teil des Selbstbestimmungsrechts der Presse, das auch die Art und Weise ihrer hierauf gerichteten Informationsbeschaffungen grundrechtlich schützt (s. BVerfG, Beschluss vom 08. September 2014 – 1 BvR 23/14 –, Rn. 26 und 29, juris, m.w.N.).
19
Danach kann sich die Antragstellerin für ihr Begehren zunächst ohne Weiteres auf den grundgesetzlich geschützten Auskunftsanspruch der Presse stützen, indem sie darauf hinweist, dass gebietsbezogene Informationen zu den Corona-Fallzahlen aktuell auf ein sehr hohes öffentliches Interesse treffen. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass vielfach diskutierte Eindämmungsstrategien derzeit auch an aktuelle, gebietsbezogene Infektionsfallzahlen anknüpfen. Damit bieten die umstrittenen Daten zweifellos eine Grundlage der öffentlichen Meinungsbildung.
20
Das zuständige Gesundheitsministerium veröffentlicht nur Zahlen auf der Ebene der Landkreise (https://msagd.rlp.de/de/unsere-themen/gesundheit-und-pflege/ gesundheitliche-versorgung/oeffentlicher-gesundheitsdienst-hygiene-und-infektionsschutz/infektionsschutz/informationen-zum-coronavirus-sars-cov-2/). Es muss allerdings der Presse unbenommen bleiben, selbst zu entscheiden, welche Datengrundlage sie für ihre Berichterstattung heranzieht. Eine Bewertung und Gewichtung des Informationsinteresses der Presse kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Presse (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) ist es nicht vereinbar, die Durchsetzung ihres Informationsinteresses von einer staatlichen Inhaltsbewertung des Informationsanliegens abhängig zu machen. Die Presse entscheidet selbst, was sie des öffentlichen Interesses für Wert hält und was nicht. Es ist daher Sache der Presse, selbst zu beurteilen, welche Informationen sie benötigt, um ein bestimmtes Thema zum Zweck einer etwaigen Berichterstattung aufzubereiten (Bayerischer VGH, Beschluss vom 19. August 2020 – 7 CE 20.1822 –, Rn. 13, juris).
21
Insoweit steht es dem Antragsgegner nicht zu, eine Auskunft mit der Begründung zu verweigern, es sei nicht ersichtlich, dass eine ordentliche und zielführende Pressearbeit nur unter Veröffentlichung der begehrten Daten möglich wäre. Dabei ist aber zu sehen, dass der Auskunftsanspruch der Antragstellerin allein mit der Aufgabe der Presse korrespondiert, die Bevölkerung zu informieren als Grundlage der öffentlichen Meinungsbildung. Auf eine Schutz- oder Warnfunktion im Interesse bisher nicht infizierter Personen kann sie sich demgegenüber nicht berufen.
22
b) Der Antragsgegner ist vorliegend auskunftspflichtige Behörde im Sinne des § 12a LMG, denn der geltend gemachte Auskunftsanspruch ist gerichtet auf die Mitteilung von bei der Behörde unstreitig vorhandenen Tatsachen, nämlich der nach den einzelnen Ortsgemeinden aufgeschlüsselten Corona-Fallzahlen im Landkreis. Dass kein Anspruch auf Beschaffung bei der Behörde nicht vorhandener Informationen besteht (s. VG Koblenz, Beschluss vom 24. Juli 2020 – 4 L 602/20.KO –, Rn. 9, juris, m.w.N.), ist hier nicht relevant.
23
c) Der Antragsgegner kann Auskünfte gemäß § 12a Abs. 2 Nr. 3 LMG verweigern, wenn ein überwiegendes öffentliches oder schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde. Ein solches schutzwürdiges Interesse ist anzunehmen, wenn die Beantwortung einer Anfrage Grundrechte Dritter, etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, berührt. Der Schutz des Einzelnen vor unbefugter Weitergabe seiner personenbezogenen Daten ist vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung als einer Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 100, 101 BV) erfasst. Dieses Grundrecht gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte, zu denen auch Gesundheitsdaten wie Infektionen mit COVID-19 gehören, offenbart werden (s. Bayerischer VGH, Beschluss vom 19. August 2020 – 7 CE 20.1822 –, Rn. 14 - 15, juris, m.w.N.).
24
d) Da nur die Bekanntgabe abstrakter Zahlen umstritten ist und die Antragstellerin insbesondere, worauf sie zu Recht hinweist, keinerlei Zusatzinformationen wie etwa Geschlecht, Alter, Beruf etc. der Infizierten begehrt, besteht der geltend Auskunftsanspruch nur dann nicht, wenn allein mit der Preisgabe der Zahl der Infizierten in einer Ortsgemeinde schon das hinreichend konkrete Risiko der Herstellung eines Personenbezugs verbunden ist. Bei der Beantwortung dieser Frage kommt es maßgeblich darauf an, ob eine Angabe einer bestimmbaren Person zugeordnet werden kann, weil der Personenbezug zwar nicht aus dem konkreten Datensatz ersichtlich ist, dieser aber mithilfe ansonsten bekannter Angaben und damit von sogenanntem Zusatzwissen hergestellt werden kann. Ob eine solche Deanonymisierung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, erfordert eine Risikoanalyse im Einzelfall (s. BVerwG, Urteil vom 27. November 2014 – 7 C 20/12 –, BVerwGE 151, 1-14, Rn. 41, m.w.N.).
Danach sieht die Kammer - im Unterschied zu der vom Bayerischen VGH mit Beschluss vom 19. August 2020 beurteilten Fallgestaltung – eine beachtliche Gefahr, dass die Veröffentlichung der Infektionszahlen auf Ortsgemeindeebene zu einer Bestimmbarkeit der betroffenen Personen führen wird. Maßgeblich dafür ist vor allem die äußerst kleinteilige Gemeindestruktur speziell im Landkreis Südwestpfalz. Während in dem betroffenen bayrischen Landkreis auf Gemeinden abgestellt wurde, die „teilweise weniger als 1.000 Einwohner“ haben (Bayerischer VGH, Beschluss vom 19. August 2020 – 7 CE 20.1822 –, Rn. 22, juris), haben die vorliegend betreffenden Ortsgemeinden etwa in den Verbandsgemeinden Thaleischweiler-Wallhalben oder Hauenstein zum Teil weniger als 200 Einwohner, die Ortsgemeinde Hirschthal (Verbandsgemeinde Dahner Felsenland) hat sogar weniger als 100 Einwohner (https://infothek.statistik.rlp.de/MeineHeimat/content.aspx?id=103&l=3&g=0734001021&tp=2 ). Dementsprechend gering sind die Infektionszahlen. Aufgeschlüsselt nach Verbandsgemeinden gibt der Antragsgegner aktuell bekannt, dass gestern etwa in den Verbandsgemeinden Thaleischweiler-Wallhalben 48 bzw. aktiv 7 und Hauenstein 42 bzw. aktiv 12 Fälle registriert wurden, in den Verbandsgemeinden Rodalben gibt es 17 bzw. aktiv 7 und Dahner Felsenland 60 bzw. aktiv 10 Fälle (https://www.lksuedwestpfalz.de/buergerservice/abteilungen/gesundheitswesen/infos-zum-coronavirus/ ). Ausgehend von diesen auf Verbandsgemeindeebene erfassten Fallzahlen ist es naheliegend, dass in diversen Ortsgemeinden – bisher – lediglich Einzelfälle betroffen sind bzw. womöglich derzeit noch kein Fall registriert wurde. Angesichts solch geringer Infektionszahlen ist es nicht nur wahrscheinlich, dass infizierte Personen in den kleinteiligen Gemeinden insbesondere über den Austausch in sozialen Netzwerken bestimmbar sind, sondern dass von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch gemacht wird. Die bisherige Entwicklung seit dem Ausbruch der Pandemie hat nämlich beispielsweise gezeigt, dass im Zuge der zunehmend angespannten politischen Diskussion über den richtigen Umgang auch immer wieder versucht wurde, anknüpfend an Statistiken darüber zu spekulieren, ob sich infizierte bzw. unter Quarantäne stehende Einzelpersonen, einzelne Familien oder auch bestimmte Gruppen – möglicherweise zu Unrecht – nicht an die vorgeschriebenen bzw. empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen hielten. Gerade die sehr geringen (absoluten) Infektionszahlen in den maßgeblichen kleinen pfälzischen Ortsgemeinden, die wiederum von den Einwohnerzahlen her in der Größenordnung der Anwohner einer einzelnen Straße in einem städtischen Wohngebiet liegen, könnten zu einer solchen Vorgehensweise herausfordern. Angesichts der sehr geringen absoluten Zahlen und der Möglichkeit, dass in einzelnen Ortsgemeinde bisher keine oder kaum Infektionen registriert wurden, gilt die vorliegende Risikobewertung nicht nur im Hinblick auf die Veröffentlichung der aktiven Fälle (Antrag zu 2), sondern auch in Bezug auf die begehrte Auskunft zu der Gesamtzahl der seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie dokumentierten Infektionszahlen (Antrag zu1).
25
Damit setzt sich der Schutzanspruch der Betroffenen hier gegenüber dem Informationsrecht der Presse durch. Diese Interessenbewertung wird offenbar in den anderen rheinland-pfälzischen Landkreisen geteilt, denn soweit ersichtlich werden Infektionszahlen zwar überwiegend auf Verbandsgemeindeebene, nicht jedoch aufgeschlüsselt nach Ortsgemeinde veröffentlicht.
26
Die Kostenentscheidung folgt auf § 154 Abs. 1 VwGO.
27
Die Festsetzung des Wertes des Verfahrensgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 Gerichtskostengesetz – GKG –, wobei wegen der Vorwegnahme der Hauptsache hier der volle Auffangstreitwert heranzuziehen ist (vgl. Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit Ziff. 1.5).
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages geleistet hat.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge für seinen Sohn, hilfsweise die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.
2
Er ist türkischer Staatsangehöriger und reiste am 23.10.2001 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Nach erfolglosem Asylverfahren wurde er geduldet. Am 07.03.2003 heiratete er die deutsche Staatsangehörige C. A. (geborene D.) und erhielt daraufhin eine Aufenthaltserlaubnis. Am 10.01.2004 kam der gemeinsame Sohn E. A. zur Welt.
3
Aufgrund einer Anklage vom 09.03.2005 wurde der Kläger am 22.06.2007 festgenommen und befand sich ab dem 23.06.2007 in Untersuchungshaft. Ab dem 20.02.2008 verbüßte er nach Urteil des Landgerichts Kiel vom 20.02.2008 (- 10 KLs (18/07) -) eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge.
4
Mit - infolge eines Vergleichs ergangenem - Bescheid vom 18.09.2008 wurde der Kläger für die Dauer von sechs Monaten aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Im Fall der Wiedereinreise nach Ablauf der Ausweisungsfrist werde bei Fortbestand der familiären Lebensgemeinschaft eine Zustimmung zur Erteilung eines Sichtvermerkes abgegeben. Die Zustimmung wurde mit der Auflage versehen, dass sie im Fall einer Anklageerhebung eines Delikts, welches als Höchststrafrahmen mehr als drei Jahre Freiheitsstrafe vorsieht, erlischt. Nach Entlassung aus der JVA am 05.11.2010 reiste der Kläger am 13.11.2010 aus der Bundesrepublik Deutschland aus.
5
Am 10.07.2011 reiste der Kläger mit einem gültigen Visum zur Familienzusammenführung erneut in das Bundesgebiet ein und erhielt ab dem 29.07.2011 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AufenthG, welche in der Folgezeit regelmäßig verlängert. Zuletzt erfolgte eine Verlängerung am 23.02.2016 mit Gültigkeit bis zum 22.02.2019.
6
Am 19.05.2018 wurde der Kläger sodann festgenommen und befand sich vom 20.05.2018 bis zum 19.12.2018 in Untersuchungshaft. Mit Urteil des Landgerichts Kiel vom 19.12.2018 (- 7 Kls 19/18 -) wurde der Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen verurteilt. Seit dem 09.07.2019 verbüßt der Kläger diese Gesamtfreiheitsstrafe und befindet sich nunmehr im offenen Vollzug.
7
Der Kläger beantragte am 17.01.2019 erneut die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Diesen Antrag beschied die Beklagte vorerst nicht und stellte dem Kläger ab dem gleichen Tage eine bis zum 16.07.2019 gültige Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG aus, welche ebenfalls mehrfach verlängert wurde.
8
Mit Bescheid vom 30.07.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Ziffer 1). Es wurde die Verpflichtung des Klägers zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland festgestellt und mitgeteilt, dass die Abschiebung aus der Haft heraus erfolgt (Ziffer 2). Die Wiedereinreise wurde für den Fall der Abschiebung, beginnend mit der Ausreise, für zwei Jahre untersagt (Ziffer 3). Zur Begründung führte die Beklagte aus, es sei nicht von einer familiären Lebensgemeinschaft auszugehen, da der Kläger aufgrund des Vollzuges seiner Freiheitsstrafe von seiner Familie räumlich getrennt sei. Auch vor dem Hintergrund der Verurteilung 2008 und der Geburt des Kindes im Jahr 2004 habe der Kläger bisher wenig Zeit außerhalb der Haft mit seinem Sohn verbracht. Zudem bestehe aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung ein Ausweisungsinteresse. In Zusammenschau der Verurteilungen aus den Jahren 2008 und 2018 sei davon auszugehen, dass der Kläger auch in Zukunft Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz begehen werde. Erschwerend komme hinzu, dass es sich nicht um „leichte Drogen“ gehandelt habe. Der Kläger weise eine hohe kriminelle Energie auf, die Sozialprognose könne nicht positiv ausfallen.
9
Hiergegen erhob der Kläger am 02.09.2019 Widerspruch, zu dessen Begründung er ausführte, dass seine Bleibeinteressen nicht berücksichtigt worden seien. Er lebe seit über 16 Jahren mit seiner deutschen Ehefrau zusammen und übe das Sorgerecht für seinen minderjährigen, deutschen Sohn aus. Es sei das Wohl des Kindes zu berücksichtigen. Aufgrund seiner Anwesenheit hätten sich die schulischen Leistungen seines Sohnes verbessert. Für die Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft komm es nicht darauf an, ob eine häusliche Gemeinschaft vorliege. Der Umgang könne sich auch außerhalb persönlicher Begegnungen ereignen, z.B. durch Brief- oder Telefonkontakte. Zudem sei aufgrund der Krankheit seiner Ehefrau der gemeinsame Sohn besonders auf ihn angewiesen. Die Weiterführung der Lebens- und Erziehungsgemeinschaft sei nur in Deutschland möglich, da sein Sohn in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert und der türkischen Sprache nicht mächtig sei. Zudem ergebe sich aus den Akten zum Urteil des Landgerichts Kiel vom 19.12.2018, dass er vor seinem Handeln mit dem LKA in Kontakt getreten sei und mit verschiedenen Beamten das weitere Vorgehen abgesprochen habe. Er habe auch gegen andere Bandenmitglieder im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität ausgesagt. Ein spezialpräventives Vorgehen sei mithin nicht zielführend.
10
Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08.10.2019 zurück, da der Kläger die tatsächliche Ausübung der Personensorge für seinen minderjährigen Sohn nicht nachgewiesen habe. Aufgrund der (auch in der Vergangenheit liegenden) langjährigen Haftstrafen sowie des darauffolgenden Auslandsaufenthaltes habe der Kläger über einen erheblichen Zeitraum hinweg keine Haushaltsgemeinschaft mit dem Kind gebildet. Zudem verweist die Beklagte auf ein Ausweisungsinteresse aufgrund der Straffälligkeiten des Klägers. Es bestehe aufgrund des persönlichen Verhaltens des Klägers eine anhaltende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Eine Güterabwägung der Ausweisungs- mit den Bleibeinteressen sei im Rahmen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht erforderlich. Ein atypischer Ausnahmefall, der zum Absehen von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen berechtigen würde, sei nicht gegeben. Die Notwendigkeit eines weiteren Aufenthalts für das minderjährige Kind sei nicht erkennbar. Dies ergebe sich auch daraus, dass die Volljährigkeit des Kindes bevorstehe. Bei Kindern, die kurz vor der Volljährigkeit stehen, könne man annehmen, dass diese die Hintergründe und zeitlichen Dimensionen der Trennung von dem Elternteil verstehen und verarbeiten könnten. Ein regelmäßiger Kontakt sei auch vom Ausland her fernmündlich und elektronisch möglich. Es sei zudem fraglich, ob der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet nach der Haftverbüßung für das Kindeswohl förderlich sei, da der Kläger in der Vergangenheit auch Familienmitglieder in den Betäubungsmittelhandel eingebunden habe.
11
Der Kläger hat am 15.11.2019 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, sein Bleibeinteresse sei aufgrund der familiären Bindungen außerordentlich hoch, sodass außerordentliche Abschiebungsgründe vorliegen müssten, die eine dringende erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit oder die Rechtsordnung begründeten. Dies sei nicht der Fall. Er habe bis zu seiner Festnahme mit seinem Sohn in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt, es liege eine Beistandsgemeinschaft vor. Diese bestehe auch während der Haft fort, regelmäßige Besuche und Telefonate würden stattfinden. Dazu legt er eine Zusammenfassung des Vollzugs- und Eingliederungsplans vom 01.05.2020 vor, nach dem er regelmäßig Besuch von seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn erhalte. Sein Sohn sei sehr auf ihn fixiert. Seit der Inhaftierung und der drohenden Abschiebung habe sich sein Sohn merklich von seinen sozialen Kontakten zurückgezogen und überlege, seine Ausbildung abzubrechen. Dazu reicht der Kläger eine Beratungsbescheinigung des Jugendamtes Kiel vom 11.11.2019 ein. Außerdem habe er angedroht, seinem Leben ein Ende zu bereiten, wenn sein Vater ausgewiesen werde. Seit dem 19.10.2020 erhalte er weitgehende vollzugliche Lockerungen und befinde sich im offenen Vollzug, er verbringe viel Zeit mit seiner Familie. Dazu reicht der Kläger verschiedene Fotos ein, die ihn und die Familie bei verschiedenen Aktivitäten zeigen. Darüber hinaus habe er nunmehr einen Arbeitsplatz bei einer Zeitarbeitsfirma gefunden. Ferner sei seine Ehefrau aufgrund ihres Behindertengrades von 60 auf ihn angewiesen. Hierzu reicht der Kläger eine eidesstattliche Versicherung seiner Ehefrau vom 12.01.2020 ein, in welcher sie die Beziehung des Sohnes zu seinem Vater sowie die Notwendigkeit der Unterstützung aufgrund ihrer Krankheiten bestätigt. Außerdem legt der Kläger diverse ärztliche Atteste und Bescheide im Hinblick auf die Krankheiten seiner Ehefrau und des festgestellten Grades der Behinderung vor.
12
Zudem macht der Kläger geltend, dass er die Betäubungsmittel nicht verkauft habe, um sich zu bereichern, sondern weil er wegen Altschulden von einem ehemaligen Dealer bedroht worden sei. Darüber hinaus bestehe für ihn bei einer Rückkehr in die Türkei Lebensgefahr. Vorsorglich werde auch der Zeitraum des Einreise- und Aufenthaltsverbotes als zu hoch gerügt. Es müsse ihm möglich sein, bereits früher in das Bundesgebiet einzureisen, um seine Familie und auch Freunde zu sehen.
13
Außerdem beantragte der Kläger bei der Beklagten per E-Mail die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
14
Der Kläger beantragt,
15
1. den Bescheid des Beklagten vom 30.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.10.2019, zugestellt am 18.10.2019, aufzuheben,
16
2. die Beklagte zu verpflichten, seine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu verlängern,
17
3. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihm die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.
18
Die Beklagte beantragt,
19
die Klage abzuweisen.
20
Zur Begründung führt die Beklagte aus, es fehle dem Kläger an der Absicht der Herstellung bzw. Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft. Da aufgrund der Inhaftierung des Klägers eine häusliche Gemeinschaft nicht bestehe, bedürfe es zusätzlicher Anhaltspunkte, um eine familiäre Lebensgemeinschaft annehmen zu können. Es handele sich lediglich um eine bloße Begegnungsgemeinschaft, da der Kläger sich seit der Geburt seines Sohnes mehrere Jahre in Haft und weitere sechs Monate im Ausland befunden habe. Außerdem folge aus den Feststellungen des Urteils des Landgerichts Kiel vom 19.12.2018, dass der Kläger vor seiner Festnahme aus der gemeinsamen Familienwohnung zu seiner neuen Lebensgefährtin gezogen sei. Er habe die Familienwohnung als „Bunker“ für Heroin genutzt und seine Ehefrau in die Beschaffung und den Vertrieb von Heroin eingebunden. Im Hinblick auf die wiederholte Betäubungsmittelkriminalität werde bezweifelt, dass die Anwesenheit des Klägers für die Entwicklung der Persönlichkeit des Sohnes förderlich sei. Zudem bestehe nach wie vor ein Ausweisungsinteresse. Im Hinblick auf die Sorge des Klägers um eine Gefährdung seines Lebens in der Türkei habe er sich zu gegebener Zeit an die zuständigen Sicherheitsbehörden in der Türkei zu wenden. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG komme ebenfalls nicht in Betracht, da die Ausreise weder aus tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen unmöglich sei. Auch die familiäre Bindung führe nicht zu einer Annahme der rechtlichen Unmöglichkeit. Darüber hinaus stehe auch hier das Ausweisungsinteresse entgegen.
21
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
Entscheidungsgründe
22
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG (1.), noch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG (2.). Auch die Höhe der Sperrfrist von zwei Jahren ist nicht zu beanstanden (3.).
23
(1.) Zunächst hat der Kläger keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge für seinen Sohn E..
24
Gemäß § 8 Abs. 1 AufenthG finden auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist einem ausländischen Elternteil eines minderjährigen, ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat.
25
Ob diese speziellen Erteilungsvoraussetzungen vorliegend gegeben sind, kann dahinstehen. Jedenfalls sind die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG nicht erfüllt. Neben den speziellen Erteilungsvoraussetzungen der einzelnen Aufenthaltstitel ist es erforderlich, dass auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG erfüllt werden, sofern das Gesetz keine Ausnahme davon vorsieht.
26
Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. Ein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht, wenn die Voraussetzungen der §§ 53 Abs. 1, 54 AufenthG gegeben sind. Ob ein Bleibeinteresse besteht, spielt hingegen keine Rolle, eine Abwägung beider Interessen muss nicht vorgenommen werden (vgl. Zeitler in: HTK-AuslR / § 5 AufenthG / zu Abs. 1 Nr. 2, Stand: 20.09.2019, Rn. 9). Denn im Gegensatz zu § 53 AufenthG ist im Wortlaut des § 5 AufenthG kein Anknüpfungspunkt für eine Abwägung der widerstreitenden Interessen enthalten (vgl. Urteil der Kammer vom 19.11.2019 - 11 A 692/18 - nicht veröffentlicht).
27
Demnach ist hier ein Ausweisungsinteresse gegeben. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. So liegt es hier. Der Kläger ist mit Urteil des Landgerichts Kiel vom 19.12.2018 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Vorsatz war gegeben und das Urteil ist auch rechtskräftig.
28
Des Weiteren ist diese Verurteilung des Klägers auch noch hinreichend aktuell. Knüpft das Ausweisungsinteresse an Straftaten an, müssen diese nach Maßgabe des Bundeszentralregistergesetzes noch verwertbar sein (vgl. Zeitler in: HTK-AuslR / § 5 AufenthG / zu Abs. 1 Nr. 2, Stand: 20.09.2019, Rn. 24). Nach § 51 Abs. 1 BZRG besteht ein Verwertungsverbot, wenn die Eintragung der Verurteilung im Register getilgt worden oder zu tilgen ist. Die Tilgungsfrist beträgt bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten fünfzehn Jahre, vgl. § 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG. Diese Tilgungsfrist beginnt hier am 19.12.2018 mit dem Tag des maßgeblichen Urteils, vgl. §§ 47 Abs. 1, 36 Nr. 1 BZRG. Von der fünfzehnjährigen Tilgungsfrist sind bisher nicht einmal zwei Jahre verstrichen. Außerdem ist das Ausweisungsinteresse nicht verbraucht, denn die Beklagte hat keine Aufenthaltserlaubnis mehr erteilt bzw. verlängert, nachdem sie Kenntnis von dem Urteil erlangt hat.
29
Auch eine Gefahrenprognose fällt zu Lasten des Klägers aus. Da es um die Erlaubnis eines künftigen Aufenthalts geht, ist nicht die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Vergangenheit von Bedeutung, sondern nur eine solche in der Gegenwart und Zukunft. Je gewichtiger ein Ausweisungsinteresse ist, umso weniger strenge Voraussetzungen sind an die Prüfung des weiteren Vorliegens einer zukünftigen Gefährdung zu stellen (vgl. Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 5 AufenthG Rn. 52).
30
Die anhaltende Gefahr ist als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu prüfen (so auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.04.2017 - 11 S 1967/16 -, juris Rn. 26; Bayerischer VGH, Beschluss vom 29.08.2016 - 10 AS 16.1602 -, juris Rn. 22) und nicht erst im Rahmen eines atypischen Sachverhaltes (so VG Potsdam, Urteil vom 31.05.2017 - 8 K 2926/14 -, juris Rn. 28). Dafür spricht zum einen der im Präsens gehaltene Wortlaut des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG („besteht“) (vgl. Zeitler in: HTK-AuslR / § 5 AufenthG / zu Abs. 1 Nr. 2, Stand: 20.09.2019, Rn. 31, m.w.N.). Zum anderen entspricht dieses Verständnis auch Sinn und Zweck der Norm, denn ein in der Vergangenheit liegender Ausweisungstatbestand kann nur dann das staatliche Interesse an einer Versagung des begehrten Aufenthaltstitels rechtfertigen, wenn der das Ausweisungsinteresse begründende Anlass noch fortwirkt. Wenn ohne vernünftige Zweifel feststeht, dass die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die mit dem Ausweisungsinteresse zusammenhängt, nicht mehr besteht, ist das Ausweisungsinteresse als Versagungsgrund nicht mehr erheblich (vgl. Zeitler in: HTK-AuslR / § 5 AufenthG / zu Abs. 1 Nr. 2, Stand: 20.09.2019, Rn. 32, m.w.N.). Darüber hinaus entspricht die fehlende Wahrscheinlichkeit künftiger Rechtsverstöße meist einem typischen Lebenssachverhalt, sodass damit ein Abweichen von der Regelerteilungsvoraussetzung gerade nicht begründet werden könnte (vgl. Zeitler in: HTK-AuslR / § 5 AufenthG / zu Abs. 1 Nr. 2, Stand: 20.09.2019, Rn. 34, m.w.N.).
31
Unter Zugrundelegung dieser Ausführungen liegt ein Ausweisungsinteresse vor, da eine Gefährdungsprognose zum Nachteil des Klägers ausfällt. Der Kläger ist bereits zweimal im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität zu erheblichen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Es handelt sich bei den vom Kläger begangenen Straftaten um solche aus dem Bereich der schweren Betäubungsmittelkriminalität. Außerdem ist der Kläger nicht lediglich als „Kleindealer“ in Erscheinung getreten. Das Vorgehen des Klägers war nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts planvoll und detailliert strukturiert. Es wirkten verschiedene Personen mit, die jeweils für unterschiedliche Aufgaben zuständig waren. Dieses organisierte Vorgehen führt zu der Annahme einer hohen kriminellen Energie beim Kläger. Weiterhin ist in diese Erwägung einzubeziehen, dass der Kläger seine Ehefrau in den Drogenhandel eingebunden hat.
32
Zudem ist anzunehmen, dass der Kläger den Drogenhandel als Einnahmequelle betrachtet, aus der er seine Schulden begleichen kann. Er selbst hat geltend gemacht, erneut mit dem Drogenhandel begonnen zu haben, um seine Geldschulden bei seinen ehemaligen „Großdealern“ zu begleichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger bereits 2008 - also vor der das Ausweisungsinteresse begründenden Verurteilung im Jahr 2018 - schon eine beachtliche Freiheitsstrafe wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz zu verbüßen hatte und sowohl die Verurteilung als auch die Haftstrafe offenbar nur geringe Wirkung auf den Kläger hatten. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger sich von dieser Einstellung abgewandt hat und vergleichbare Probleme in der Zukunft auf anderem Wege lösen wird.
33
Auch wenn er beteuert, dass seine Taten ihm leidtäten, sind keine Anhaltspunkte für eine positive Prognose ersichtlich. Der Umstand, dass er sich an das LKA gewandt hat, vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Im Gegenteil hat er den Drogenhandel den Polizeibeamten gegenüber eingeräumt, mit den vorgebrachten Bedrohungen gerechtfertigt und den Drogenhandel weitergeführt. Von einem Unrechtsbewusstsein ist daher nicht auszugehen.
34
Diese Argumente können auch nicht durch die nennenswerten vollzuglichen Lockerungen und den Antritt einer Erwerbstätigkeit entkräftet werden. Diese Umstände sind erst kürzlich eingetreten, sowohl der Arbeitsvertrag als auch der Ausweis der JVA Kiel tragen das Datum des 19.10.2020. Angesichts der schwerwiegenden Aspekte für eine Wiederholungsgefahr vermögen derart kurzfristig geschaffene Gesichtspunkte die Einschätzung nicht umzukehren.
35
Gemäß § 5 Abs. 1 AufenthG setzt die Erteilung des Aufenthaltstitels die Abwesenheit eines Ausweisungsinteresses jedoch nur „in der Regel“ voraus. Eine Ausnahme von den Regelerteilungsvoraussetzungen besteht, wenn ein atypischer Fall vorliegt, der so weit vom Regelfall abweicht, dass die Versagung des Aufenthaltstitels mit der Systematik oder den grundlegenden Entscheidungen des Gesetzgebers nicht mehr vereinbar ist. Dies gilt insbesondere, wenn die Regelerteilungsvoraussetzung im Einzelfall derart unverhältnismäßig ist, dass es unzumutbar wäre, an ihr festzuhalten. Ob eine solche Ausnahme vorliegt, ist nicht Ermessensfrage, sondern als „negatives Tatbestandsmerkmal“ festzustellen und gerichtlich voll überprüfbar (BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 – 10 C 16/12 –, juris Rn. 16). Hier liegt kein solcher, atypischer Fall vor. Es ist nicht ersichtlich, dass der Fall des Klägers derart weit vom Regelfall abweicht, dass ein ausnahmsweises Absehen von den Regelerteilungsvoraussetzungen geboten wäre. Auch die familiäre Bindung des Klägers in das Bundesgebiet führt nicht zu der Annahme eines atypischen Ausnahmefalls. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Sohn des Klägers kurz vor der Volljährigkeit steht. Die Trennung von seinem Vater wird er begreifen und durch fernmündliche, elektronische Kontakte und Besuche überbrücken können.
36
(2.) Der hilfsweise gestellte Antrag ist ebenfalls unbegründet, da der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG hat. Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Ausreise des Klägers ist weder aus tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen unmöglich.
37
Es liegt insbesondere keine rechtliche Unmöglichkeit aus familiären Gründen vor. Grundsätzlich korrespondiert die Verpflichtung des Staates zum Schutz von Ehe und Familie mit einem Anspruch des Ausländers auf angemessene Berücksichtigung seiner familiären Bindungen im Bundesgebiet (vgl. Zeitler in: HTK-AuslR / § 25 AufenthG / zu Abs. 5 - rechtliche Unmöglichkeit, Stand: 19.03.2019, Rn. 31 m.w.N.). In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Aufenthaltsgesetz mit den §§ 27 ff. AufenthG zur Verwirklichung des Grundrechts aus Art. 6 GG spezielle Regelungen vorhält. Der § 25 Abs. 5 AufenthG kann daher - auch in Verbindung mit Art. 8 EMRK - keinen allgemeinen Auffangtatbestand für diejenigen Fälle darstellen, in denen die in den §§ 27 ff. AufenthG genannten Voraussetzungen nicht erfüllt werden (vgl. Zeitler in: HTK-AuslR / § 25 AufenthG / Abs. 5, Stand: 29.02.2020, Rn. 11).
38
Selbst bei Annahme einer durch § 25 Abs. 5 AufenthG zu schützenden familiären Beziehung zwischen dem Kläger und seinem Sohn, führt diese aufgrund der besonderen Umstände des Falls nicht zur rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise. Es ist zu berücksichtigen, dass der Kläger und sein Sohn in der Vergangenheit bereits wiederholt und teils erhebliche Zeiträume in räumlicher bzw. örtlicher Trennung voneinander lebten, als der Kläger sich in Haft oder im Ausland aufhielt. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Sohn des Klägers kurz vor der Volljährigkeit steht. Zum voraussichtlichen Zeitpunkt der Haftentlassung des Klägers wird sein Sohn die Volljährigkeit bereits erreicht haben. Aus diesen Gründen ist die Beziehung des Klägers zu seinem Sohn nicht geeignet, eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise zu begründen.
39
Ein Ausreisehindernis besteht auch nicht aufgrund einer Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet. Ein rechtliches Ausreisehindernis kann auch in sogenannten Verwurzelungsfällen aus den Menschenrechten auf Schutz des Familienlebens und des Privatlebens nach Art. 8 EMRK hergeleitet werden. Dabei wird auf die Dauer des Aufenthalts in Deutschland und die Integration in die deutschen Lebensverhältnisse abgestellt (vgl. Maaßen/Kluth in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 26. Edition, Stand: 01.07.2020, § 25 AufenthG Rn. 135). Gemessen daran liegt keine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise vor, da für eine entsprechende Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet keine Anhaltspunkte ersichtlich sind. Allein die lange Dauer des Aufenthaltes ist nicht ausreichend und eine Integration in die deutschen Lebensverhältnisse angesichts der erheblichen Straftaten nicht gegeben.
40
(3.) Im Übrigen ist das für den Fall der Abschiebung angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot von zwei Jahren nicht zu beanstanden. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Dabei ist nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Die Frist darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten. Diese Voraussetzungen hat die Beklagte erfüllt. Die Sperrfrist überschreitet diese Länge nicht, sondern bewegt sich im mittleren Bereich des vom Gesetzgeber vorgesehenen Rahmens. Dabei waren die erheblichen Straftaten des Klägers zu berücksichtigen. Auch im Hinblick auf die familiäre Bindung des Klägers im Bundesgebiet begegnet die Frist von zwei Jahren keinen Bedenken, denn es ist sowohl der Ehefrau des Klägers als auch seinem Sohn möglich, diese Zeit durch Besuchsaufenthalte zu überbrücken und den Kontakt auf elektronische bzw. fernmündliche Weise aufrecht zu erhalten.
41
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 VwGO.
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Tenor
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zwei Wochen nach Vornahme einer erneuten Auswahlentscheidung untersagt, die für eine Besetzung mit dem Beigeladenen vorgesehene Planstelle der Beförderungsliste „Beteiligung extern_XXX_T“ nach „A9_vz“ mit dem Beigeladenen zu besetzen und diesen zu befördern.
Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.
Die Kosten tragen die Antragsgegnerin zu 3/4 und der Antragsteller zu 1/4, mit Ausnahme der Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Der Streitwert wird auf 11.262,81 € festgelegt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege der einstweiligen Anordnung gegen seine Nichtberücksichtigung durch die Antragsgegnerin bei der Beförderungsrunde 2019/2020.
2
Der Antragsteller steht als Beamter (Technischer Fernmeldehauptsekretär) im Statusamt A 8 BBesO im Dienste der Antragsgegnerin. Ihm ist dauerhaft die Tätigkeit eines Servicetechnikers bei der V-GmbH im Bereich Technical Operations zugewiesen. Seine Tätigkeit ist laufbahnübergreifend mit der Besoldungsgruppe A 10 BBesO bewertet.
3
Die Antragsgegnerin beurteilte ihn zuletzt für die Zeiträume 01. Juni 2015 bis 31. August 2016 sowie 01. September 2016 bis 31. August 2018. Beide Beurteilungen lauten auf das Gesamturteil „Gut ++“. Die Antragsgegnerin eröffnete dem Antragsteller beide Beurteilungen unter dem 13. Mai 2020, nachdem sie die ursprünglichen dienstlichen Beurteilungen für diese Zeiträume infolge eines Widerspruchs- bzw. Eilrechtsschutzverfahrens aufgehoben hatte.
4
Gegen die neu erstellten dienstlichen Beurteilungen legte der Antragsteller unter dem 28. Mai 2020 jeweils Widerspruch bei der Antragsgegnerin ein. Diese wies beide Widersprüche mit Bescheiden vom 22. Juli 2020 zurück. Am 17. August 2020 hat der Antragsteller dagegen Klage erhoben (Az. 12 A 142/20 und 12 A 143/20).
5
Mit Schreiben vom 12. August 2020 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass er entsprechend seiner letzten dienstlichen Beurteilung für den Zeitraum 01. September 2016 bis 31. August 2018 auf der Beförderungsliste „Beteiligung extern_XXX_T“ nach „A9_vz“ für die Beförderungsrunde 2019/2020 mit dem neuen Ergebnis „Gut ++“ geführt werde.
6
Für die Beförderung hätten (ursprünglich) insgesamt sechs Planstellen auf der gesamten Liste zur Verfügung gestanden. Die Beförderungsliste habe insgesamt 48 Beförderungsbewerber umfasst. Nach rechtskräftigem Abschluss mehrerer Eilverfahren habe die Antragsgegnerin eine neue Auswahlentscheidung getroffen, in die drei Beförderungsbewerber einbezogen worden seien, die durch vorherige Eilverfahren gesperrt gewesen seien. Für diese stehe insgesamt eine Planstelle auf der Beförderungsliste zur Verfügung. Da die Planstelle demnach nicht für alle Konkurrenten ausreiche, könnten nur Beamte befördert werden, die mit mindestens „Sehr gut ++“ beurteilt worden seien. Dies treffe auf den Antragsteller nicht zu.
7
Gegen diese Auswahlentscheidung hat der Antragsteller bei dem erkennenden Gericht unter dem 20. August 2020 um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.
8
Zur Begründung trägt der Antragsteller vor, dass die Auswahlentscheidung fehlerhaft sei. Die ihr zugrundeliegende dienstliche Beurteilung für den Zeitraum 01. September 2016 bis 31. August 2018 sei weder hinsichtlich der vergebenen Einzelnoten noch hinsichtlich des darauf basierenden Gesamturteils nachvollziehbar.
9
Drei Einzelnoten, namentlich in den Bereichen „Allgemeine Befähigung“, „Soziale Kompetenzen“ sowie „Wirtschaftliches Handeln“, seien gegenüber der Stellungnahme der unmittelbaren Führungskraft, Herrn XXX, von „Sehr gut“ auf „Gut“ abgesenkt worden. Diese Abweichung werde nicht von einer nachvollziehbaren Begründung getragen.
10
Die Antragsgegnerin verkenne zudem, dass er seit vielen Jahren eine höherwertige, mit der Besoldungsgruppe A10 bewertete Tätigkeit sehr gut ausübe. Es sei daher davon auszugehen, dass er den geringeren Anforderungen seines Statusamts in mindestens ebenso guter Weise entspreche. Die Absenkung der benannten Einzelnoten werde jedoch nicht mit einer geringer eingestuften Leistung und Befähigung, sondern mit der Festlegung des Gesamtergebnisses begründet. Dieses Vorgehen widerspreche der gesonderten Notenskala für die Gesamtnote. Diese enthalte gegenüber den Einzelnoten die zusätzliche Note „Hervorragend“ sowie die Unterkategorien „Basis“, „+“ und „++“und solle gerade der Sondersituation der Antragsgegnerin Rechnung tragen, die eine Vielzahl der Beamten in höherwertigen Funktionen einsetze. Da dies auch auf ihn zutreffe, sei er für die Gesamtnote „Hervorragend“ in Betracht zu ziehen gewesen.
11
Der Antragsteller beantragt,
12
es der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die Beförderung eines anderen Beamten / einer anderen Beamtin auf die zu vergebende Planstelle der Beförderungsliste „Beteiligung extern_XXXX_T“ nach „A9_vz“ bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Rechtsmittel über die dienstlichen Beurteilungen vom 13. Mai 2020, betreffend den Beurteilungszeitraum vom 01. September 2016 bis 31. August 2018 und 01. Juni 2015 bis 31. August 2016, und bis zum Vorliegen einer ermessensfehlerfreien Beurteilung des Antragstellers vorzunehmen.
13
Die Antragsgegnerin beantragt,
14
den Antrag abzulehnen.
15
Es bestehe weder ein Rechtsanspruch auf Übertragung eines höherwertigen Dienstpostens noch auf eine Beförderung. Der Antragsteller könne lediglich beanspruchen, dass über seine Bewerbung ohne Rechtsfehler entschieden werde. Das Beurteilungsverfahren sei verfahrensfehlerfrei durchgeführt worden, weshalb eine Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs ausscheide.
16
Der Antragsteller sei zu Recht mit der Note „Gut ++“ beurteilt worden. Die Absenkung der in der Stellungnahme des Vorgesetzten mit „Sehr gut“ bewerteten Einzelmerkmale „Allgemeine Befähigung“, „Soziale Kompetenzen“ und „Wirtschaftliches Handeln“ sei nicht zu beanstanden und insbesondere zutreffend begründet worden. Es handele sich dabei um weniger tätigkeitsbezogene Eigenschaften. Zudem sei eine bessere Bewertung des Antragstellers aufgrund der erzielten Ergebnisse der Beamten, die auf derselben Beurteilungsliste zu vergleichen seien, nicht gerechtfertigt. Die Beurteilungsergebnisse „Hervorragend“ und „Sehr gut“ seien demnach an Beamte vergeben worden, die zwar vergleichbare oder (geringfügig) schlechtere Leistungseinschätzungen erhalten hätten, demgegenüber aber (deutlich) höherwertiger eingesetzt worden seien.
17
Sie habe den Antragsteller mit der Gesamtnote „Gut ++“ daher insgesamt maßstabsgerecht beurteilt. Insbesondere habe man der Höherwertigkeit der vom Antragsteller ausgeübten Tätigkeit im Gesamtergebnis auch hinreichend Rechnung getragen. Dieser Umstand habe in der Konsequenz aber ebenfalls bei dem Beigeladenen Berücksichtigung gefunden. Dieser übe eine mit der Besoldungsgruppe A 11 BBesO bewertete Tätigkeit aus, was gegenüber seinem Statusamt eine Höherwertigkeit von drei Besoldungsgruppen bedeute. Demgegenüber könne der Antragsteller lediglich eine Höherwertigkeit von zwei Besoldungsgruppen vorweisen.
18
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
19
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, wegen des Sachverhalts im Übrigen auf die Verwaltungsvorgänge sowie auf die Gerichtsakten der weiteren, hier anhängigen Verfahren des Antragstellers gegen die Antragsgegnerin verwiesen.
II.
20
Der Antrag ist nach §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller begehrt, eine Beförderung des Beigeladenen auf die vakante Planstelle durch die Antragsgegnerin vorläufig zu unterbinden.
21
Dieser Antrag ist zulässig und überwiegend begründet.
22
Gemäß § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Voraussetzung dafür ist, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch sowie einen Anordnungsgrund, mithin die Eilbedürftigkeit seines Rechtsschutzbegehrens, glaubhaft machen kann, § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO.
23
Der Antragsteller hat den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
24
Dieser liegt vor, wenn durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte und dies glaubhaft gemacht wird. Insoweit ist bei Stellenbesetzungsverfahren zu berücksichtigen, dass ein unter Beachtung des Art. 33 Abs. 2 GG ausgewählter Bewerber einen Anspruch auf Verleihung des Amtes durch Ernennung hat. Die Bewerbungsverfahrensansprüche der unterlegenen Bewerber gehen dabei durch die Ernennung unter, wenn dadurch das Auswahlverfahren endgültig abgeschlossen wird. Dies ist regelmäßig der Fall, weil die Ernennung nach dem Grundsatz der Ämterstabilität nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, sodass das Amt unwiderruflich vergeben ist (BVerwG, Urt. v. 04. November 2010 – 2 C 16/09 – BVerwGE 138, 102-122 – Rn. 27, juris). Ausgehend davon, dass die Antragsgegnerin mit ihrer Auswahlentscheidung vom 12. August 2020 mitgeteilt hat, die freie Planstelle mit dem Beigeladenen besetzen zu wollen, kann der Antragsteller nur im Wege einer gerichtlichen Entscheidung sicherstellen, dass sein aus Art. 33 Abs. 2 GG folgender Bewerbungsverfahrensanspruch auf eine rechtsfehlerfreie Auswahlentscheidung für die in Rede stehende Beförderung gewahrt bleibt, indem die Besetzung der vakanten Stelle vorläufig unterbunden wird.
25
Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin steht dem Antragsteller unter Auswertung des Akteninhalts und des gegenseitigen Vorbringens auch der notwendige Anordnungsanspruch insoweit zu, als bis zum rechtskräftigen Abschluss eines erneuten Auswahlverfahrens die Beförderung des Beigeladenen unterbleiben muss.
26
Da in Stellenbesetzungsverfahren effektiver gerichtlicher Rechtsschutz lediglich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gewährt werden kann, ist in Verfahren, die die Konkurrenz von Beamten um Beförderungsstellen oder Beförderungsdienstposten betreffen, regelmäßig ein Anordnungsanspruch bereits dann zu bejahen, wenn nach dem im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erkennbaren Sach- und Streitstand nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass die vom Dienstherrn getroffene Auswahlentscheidung zu Lasten des Antragstellers rechtsfehlerhaft ist, weil sein Bewerbungsverfahrensanspruch gemäß den Vorgaben des in Art. 33 Abs. 2 GG geregelten Prinzips der Bestenauslese keine hinreichende Beachtung gefunden hat. Zugleich müssen die Aussichten des Betroffenen, in einem neuen rechtmäßigen Verfahren ausgewählt zu werden, zumindest "offen" sein. Der unterlegene Beamte kann eine erneute Entscheidung über seine Bewerbung zumindest dann beanspruchen, wenn seine Aussichten, beim zweiten Mal ausgewählt zu werden, offen sind, d.h. wenn seine Auswahl möglich erscheint (BVerfG, Beschl. v. 24. September 2002 – 2 BvR 857/02 – Rn. 13; VGH Mannheim, Beschl. v. 12. August 2015 – 4 S 1405/15 – Rn. 2; beide juris).
27
Beide Voraussetzungen sind hier gegeben.
28
In dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt lässt sich nicht feststellen, dass in dem von der Antragsgegnerin durchgeführten Auswahlverfahren die Rechte des Antragstellers aus Art. 33 Abs. 2 GG hinreichend berücksichtigt wurden. Zwar hat ein Beamter regelmäßig keinen Anspruch auf die Verleihung eines höheren statusrechtlichen Amtes oder die Bestellung auf einen bestimmten Beförderungsdienstposten. Die Entscheidung darüber liegt vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn. Art. 33 Abs. 2 GG gewährt jedem Deutschen jedoch ein grundrechtsgleiches Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Ein Bewerber hat dementsprechend einen Anspruch darauf, dass über seine Bewerbung ermessens- und beurteilungsfehlerfrei entschieden wird. Dabei kann die Entscheidung des Dienstherrn darüber, welcher Beamte der Bestgeeignete ist, als Akt wertender Erkenntnis gerichtlich nur eingeschränkt überprüft werden. Das Gericht ist nur befugt zu prüfen, ob der Dienstherr gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat, den gesetzlichen Rahmen und die anzuwendenden Rechtsbegriffe zutreffend gewürdigt hat, ob er von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen ist, ob er allgemein gültige Wertmaßstäbe beachtet hat und ob er sich schließlich nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen. Der Dienstherr ist verpflichtet, alle entscheidungserheblichen Tatsachen festzustellen, zu gewichten und seiner Entscheidung zu Grunde zu legen. Wesentliche Grundlage für den erforderlichen aktuellen Leistungs-, Befähigungs- und Eignungsvergleich zwischen den in Betracht kommenden Beamten sind neben dem Inhalt der Personalakten insbesondere hinreichend aktuelle Regelbeurteilungen oder – soweit solche fehlen – aktuelle Bedarfsbeurteilungen, die ausreichend aussagekräftig und zwischen den Beteiligten vergleichbar sein müssen (BVerwG, Beschl. v. 20. Juni 2013 – 2 VR 1/13 – Rn. 21, juris). Der gebotene Vergleich der dienstlichen Beurteilungen muss bei gleichen Maßstäben in sich ausgewogen und stimmig sein. Maßgebend ist in erster Linie das abschließende Gesamturteil, das durch eine Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte zu bilden ist (BVerwG, Urt. v. 26. Januar 2012 – 2 A 7/09 – Rn. 17 und Urt. v. 4. November 2010 – 2 C 16/09 – Rn. 46; Beschl. v. 19. Dezember 2014 – 2 VR 1/14 – Rn. 22, und Beschl. v. 22. November 2012 – 2 VR 5/12 – Rn. 25; VGH Mannheim, Beschl. v. 26. April 2016 – 4 S 64/16 – Rn. 9; alle juris).
29
Gemessen an den oben genannten Maßstäben hat das Gericht erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der für die Auswahlentscheidung herangezogenen dienstlichen Beurteilung des Antragstellers vom 13. Mai 2020 für den Zeitraum vom 1. September 2016 bis 31. August 2018, lautend auf das Gesamturteil „Gut ++“. Vielmehr ist nach dem derzeitigen Erkenntnisstand mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass diese Beurteilung deshalb rechtswidrig ist, weil sie die für die Beurteilung maßgeblichen Verfahrensvorschriften nicht beachtet hat.
30
Sowohl die abweichende Bewertung von der Einschätzung der Führungskraft bei den Einzelmerkmalen als auch das Gesamturteil sind nicht hinreichend nachvollziehbar begründet.
31
Nach § 2 Abs. 3 der Anlage 1 zu den Beurteilungsrichtlinien für die bei der D-AG beschäftigten Beamtinnen und Beamten in der Fassung vom 14. Juni 2019, zuletzt aktualisiert am 08. August 2019 (nachfolgend: Beurteilungsrichtlinie) ist die Begründung der Einstufung des jeweiligen (Einzel-) Kriteriums nachvollziehbar zu dokumentieren.
32
Diesen Anforderungen genügt die unter dem 13. Mai 2020 für den Zeitraum 01. September 2016 bis 31. August 2018 eröffnete Beurteilung nicht. Es fehlt insoweit bereits bei den Einzelmerkmalen an einer nachvollziehbaren Begründung, weshalb drei von ihnen im Gegensatz zu den anderen eine Herabstufung erfahren haben. Der unsubstantiierte Vortrag der Antragsgegnerin, dass die Merkmale „Allgemeine Befähigung“, „Soziale Kompetenz“ und „Wirtschaftliches Handeln“ im Vergleich zu den Merkmalen „Arbeitsergebnisse“, „Praktische Arbeitsweise“ und „Fachliche Kompetenz“ weniger tätigkeitsbezogen seien, erschließt sich dem Gericht nicht. Insbesondere lässt die Beurteilungsrichtlinie keine Rückschlüsse auf diese Vorgehensweise zu. Denn es finden sich weder in Ziff. 6 der Beurteilungsrichtlinie Anhaltspunkte dafür, dass die Einzelmerkmale anhand dieses Kriteriums abweichend zu gewichten wären, noch lässt sich § 2 Abs. 4 der Anlage 4 der Beurteilungsrichtlinie, in der die Leistungskriterien näher definiert werden, Entsprechendes entnehmen. Vielmehr werden in Ziff. 6 der Beurteilungsrichtlinien die sechs Einzelmerkmale gleichwertig aufgezählt. Hätte die Antragsgegnerin beabsichtigt, bei allen Beurteilungen drei von ihnen als weniger tätigkeitsbezogen einzustufen, hätte sie dies hier kenntlich machen müssen. Im Übrigen wäre die Abwertung auch nicht hinreichend plausibel, wenn es sich um eine individuelle Gewichtung handeln würde, wogegen jedoch schon die abstrakte Beschreibung des Merkmals sprechen dürfte. Denn sie lässt sich nicht auf Grundlage der Erläuterungen der Einzelnoten nachvollziehen. Die allgemeine Feststellung, dass eine bessere Bewertung der Einzelleistung des Antragstellers in Anbetracht der erzielten Ergebnisse der Beamten, die auf derselben Beurteilungsliste zum Vergleich anstehen, nicht möglich sei, ist zu pauschal, um für den Antragsteller einsichtig und für Außenstehende verständlich zu sein. Es bleibt daher auch fraglich, ob diese Vorgehensweise nur in bestimmten Fällen oder allgemein zur Anwendung kommt.
33
Es ist überdies nicht zu erkennen, dass die Antragsgegnerin die höherwertige Verwendung des Antragstellers bei der Absenkung der genannten drei Einzelmerkmale hinreichend berücksichtigt hat.
34
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Beamter, der über viele Jahre die Aufgaben eines an seinem Statusamt gemessen höher bewerteten Dienstpostens bzw. Arbeitspostens auf diesem hohen Niveau erfüllt (hier: laufbahnübergreifend zwei Besoldungsgruppen), die geringeren Anforderungen seines Statusamtes tendenziell eher noch besser erfüllt (grundlegend: OVG Münster, Beschl. v. 18. Juni 2015 – 1 B 384/15 – Rn. 8, juris). Diese Annahme basiert auf der Einschätzung, dass mit einem höheren Statusamt die Wahrnehmung höherwertiger Aufgaben verbunden ist, die im Allgemeinen gegenüber einem niedrigeren Statusamt gesteigerte Anforderungen beinhalten. Fallen indes Statusamt und Bewertung des tatsächlich innegehabten Dienst- bzw. Arbeitspostens eines Beamten wie vorliegend auseinander, ist zwar nicht schematisch eine Aufwertung vorzunehmen. Der Beurteiler ist jedoch gehalten, sich konkret und hinreichend ausführlich mit der genannten Annahme auseinanderzusetzen. Trifft sie seines Erachtens im jeweiligen Einzelfall nicht zu, bedarf dies in der Beurteilung einer detaillierten – d.h. die Umstände des Einzelfalles in den Blick nehmenden – und nachvollziehbaren Begründung (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 25. Februar 2016 – 5 ME/217 – Rn. 12; OVG Münster, Beschl. v. 30. November 2015 – 1 B 1007/15 – Rn. 10, Beschl. v. 19. November 2015 – 1 B 980/15 – Rn. 22 und Beschl. v. 18. Juni 2015, a.a.O.; VGH München, Beschl. v. 27. Oktober 2015 – 6 CE 15.1849 – Rn. 15; alle juris).
35
Der Antragsteller war während des gesamten Beurteilungszeitraums gegenüber seinem Statusamt höherwertiger beschäftigt. Namentlich wurde er auf einem Arbeitsplatz eingesetzt, den die Antragsgegnerin nach besoldungsrechtlichen Grundsätzen mit der Stufe A 10 BBesO bewertet, was gegenüber seinem Statusamt in der Besoldungsgruppe A 8 BBesO eine Höherwertigkeit von zwei Besoldungsgruppen bedeutet. Seine auf dieser Stelle geleistete Arbeit hat seine unmittelbare Führungskraft in einer Stellungnahme für die dienstliche Beurteilung vom 5. März 2019 (Bl. 10 ff. des Verwaltungsvorgangs) bei sechs Kriterien und fünf Notenstufen sechs Mal mit der besten Note „Sehr gut“ bewertet. Bei dieser Bewertung durch die Führungskraft soll nach § 1 und § 2 Abs. 4 der Anlage 4 zur Beurteilungsrichtlinie das Statusamt ausdrücklich unberücksichtigt bleiben. Die Führungskraft soll vielmehr (im Umkehrschluss) dessen tatsächliche Aufgabenerfüllung auf dem wahrgenommenen Dienst- bzw. Arbeitsposten in den Blick nehmen. Das Statusamt wird hingegen von den Beurteilern berücksichtigt (vgl. Ziff. 6 der Beurteilungsrichtlinie und § 2 Abs. 4 der Anlage 4 zu der Beurteilungsrichtlinie). In der dienstlichen Beurteilung des Antragstellers sind – wie bereits aufgezeigt – mit Ausnahme der Kriterien „Allgemeine Befähigung“, „Soziale Kompetenzen“ und „Wirtschaftliches Handeln“ alle in der Stellungnahme für die Einzelkriterien vergebenen Noten unverändert übernommen worden. Nahezu unverändert wurde ebenfalls auch die textliche Erläuterung der Einzelnoten übernommen.
36
Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, dass sich die Antragsgegnerin bei der Absenkung dieser Einzelmerkmale hinreichend mit der höherwertigen Beschäftigung des Antragstellers auseinandergesetzt hat.
37
Zu einer vergleichbaren Konstellation hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 14. August 2019 – 1 A 612/19 – Rn. 29, juris) folgende Ausführungen gemacht, denen sich die Kammer inhaltlich anschließt:
38
„Bei der Benotung der Einzelkriterien ist zunächst zu beachten, dass die Wahrnehmung höherwertiger Aufgaben grundsätzlich in Bezug auf alle nach dem jeweiligen Beurteilungssystem zu benotenden Einzelkriterien (hier: sechs oder sieben Einzelkriterien) die Schlussfolgerung rechtfertigt, der Beamte erfülle im Grundsatz die geringeren Anforderungen seines Statusamtes in mindestens ebenso guter wenn nicht besserer Weise wie die Anforderungen des innegehabten Postens. Denn die mit der Wahrnehmung eines höherwertigen Postens einhergehenden gesteigerten Anforderungen werden sich in aller Regel nicht nur bei bestimmten Einzelmerkmalen bemerkbar machen, sondern diese in ihrer Gesamtheit betreffen. So leuchtet es etwa nicht ein, weshalb die Bewertung einer bestimmten, im Beurteilungszeitraum dokumentierten Fachkompetenz unabhängig davon sein soll, ob der Beamte diese Kompetenz auf einem Dienst- oder Arbeitsposten gezeigt hat, der der Bewertung nach seinem Statusamt entspricht, oder ob er insoweit solchen Anforderungen ausgesetzt gewesen ist, die wegen der Höherwertigkeit des Postens über die seines Statusamtes hinausgehen. Vor diesem Hintergrund bedarf es zunächst in dem Fall einer nachvollziehbaren Begründung, in dem die Beurteiler zur Berücksichtigung der höherwertigen Tätigkeit nicht alle, sondern nur bestimmte einzelne Einzelkriterien höher bewertet haben als es nach den an den Anforderungen des Dienst- oder Arbeitspostens ausgerichteten Bewertungen der unmittelbaren Führungskraft in der von dieser vorgelegten Stellungnahme geschehen ist. Die Begründung muss insoweit erkennen lassen, warum gerade diese Einzelkriterien (und andere nicht) höher bewertet worden sind. Aber auch dann, wenn die Beurteiler mit Blick auf die höherwertige Beschäftigung sämtliche Einzelmerkmale mit im Vergleich zu den Bewertungen der unmittelbaren Führungskraft besseren Noten versehen haben, ist eine Begründung dafür erforderlich, warum die Höherwertigkeit der wahrgenommenen Aufgaben gerade in der konkret vorgenommenen Weise Berücksichtigung gefunden hat. Es ist also zu begründen, warum gerade welcher Notensprung (eine Note höher, zwei Noten höher etc.) erfolgt ist. Das kann – abhängig von den Umständen des Einzelfalles – gerade bei einem geringfügigen Notensprung um nur eine Notenstufe auch abgrenzende (und nicht als hypothetisch qualifizierbare) Erwägungen zu einer höheren, von dem Beurteilten im Ergebnis zwar nicht erreichten, aber mit in Betracht zu ziehenden Note notwendig machen, um die Benotung nachvollziehbar zu machen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 5. September 2017 – 1 B 498/17 – Rn. 47 ff. m. w. N.; ebenso OVG Bremen, Beschl. v. 12. November 2018 – 2 B 167/18 – Rn. 12; alle juris).“
39
Diesem Maßstab genügt die gegenständliche Beurteilung nicht. Zwar lässt sich sowohl der Begründung des Gesamturteils als auch dem Widerspruchsbescheid entnehmen, dass sich die Antragsgegnerin der höherwertigen Verwendung des Antragsstellers bewusst ist. Es ist jedoch nicht ersichtlich, wie sie die Höherwertigkeit bei den abgesenkten Merkmalen berücksichtigt hat. Hier beschränkt sich die Begründung lediglich formelhaft auf den Leistungsvergleich, was jedoch aus den bereits aufgezeigten Gründen nicht genügt. Darüber hinaus lässt dies auch nicht erkennen, warum gerade diese Einzelmerkmale zum Vergleich herangezogen wurde und wie gerade dieser Notenunterschied zustande gekommen ist.
40
Auch unabhängig von der Bewertung der Einzelmerkmale überzeugt die Beurteilung des Antragstellers im Hinblick auf das Gesamturteil nicht.
41
Nach § 2 Abs. 4 der Anlage 4 zur Beurteilungsrichtlinie muss sich das zu begründende Gesamturteil schlüssig aus der Bewertung der einzelnen Beurteilungskriterien ergeben. Es ist insoweit zwar grundsätzlich unschädlich, dass sich die Antragstellerin zur Bildung des Gesamturteils der dienstlichen Beurteilung unterschiedlicher Notenskalen (einem fünfstufigen Notensystem zur Bewertung der Einzelkriterien und einem sechstufigen Notensystem mit zusätzlichen Ausprägungsgraden zur Bildung des Gesamturteils) bedient. Aus der Verwendung unterschiedlicher Notenskalen können jedoch strengere Anforderungen an die Begründung des Gesamturteils zu folgern sein, um eine Nachvollziehbarkeit und damit einhergehend eine gerichtliche Nachprüfbarkeit der Gewichtung, Abwägung und Würdigung der einzelnen Auswahlkriterien des Dienstherrn im Einzelfall zu ermöglichen.
42
Davon ausgehend ist die Begründung des Gesamturteils hier widersprüchlich. Denn die Antragsgegnerin stellt zwar fest, dass die vom Antragsteller ausgeübte Tätigkeit laufbahnübergreifend höherwertig war. Die bloße Erwähnung führt hingegen nicht zu dem zwingenden Schluss, dass der höherwertige Einsatz des Klägers auch angemessen berücksichtigt worden ist. Aus der Begründung des Gesamtergebnisses ergibt sich lediglich, dass die Beurteilungsergebnisse „Sehr gut“ und „Hervorragend“ Beamte erhalten hätten, die zwar vergleichbare oder (geringfügig) schlechtere Bewertungen ihrer Führungskräfte erhalten haben, demgegenüber aber (deutlich) höherwertiger eingesetzt worden seien. Diese grundsätzlich legitime Differenzierung entbindet die Antragsgegnerin jedoch nicht davon, ihre Notenvergabe in Entsprechung ihrer Beurteilungsrichtlinie nachvollziehbar zu begründen. Es wird insoweit nicht nachvollziehbar gemacht, wie es unter Berücksichtigung der Höherwertigkeit des Einsatzes des Antragstellers gerade zu der Gesamtnote „Gut ++“ gekommen ist. Die verwendeten unkonkreten Begrifflichkeiten ("vergleichbare Bewertung", "geringfügig schlechtere Leistungseinschätzung", "deutlich höherwertig eingesetzt" etc., Bl. 32 f. d.A.) zeigen auch unter Berücksichtigung der jeweils genannten Prozentwerte nicht auf, anhand welches konkreten Maßstabs die Beurteiler dem Antragsteller gerade die ausgeworfene Gesamtnote und nicht beispielsweise die Gesamtnote "Sehr gut" mit dem Ausprägungsgrad "Basis" zuerkannt haben (vgl. auch OVG NRW, Beschl. v. 14 August 2019 – 1 A 612/19 – Rn. 42, juris). Insbesondere findet sich eine entsprechende Vorgehensweise, nach der die Noten „Hervorragend“ und „Sehr gut“ ausschließlich Beamten vorbehalten sind, die mehr als zwei Besoldungsstufen über ihrem Statusamt eingesetzt werden, auch nicht in der Beurteilungsrichtlinie wieder.
43
Entsprechende Mängel sind zwar ebenfalls in der Beurteilung für den Zeitraum 01. Juni 2015 bis 31. August 2016 zu erkennen. Ihre Bewertung kann jedoch hier dahinstehen, da ausweislich der Mitteilung vom 12. August 2020 lediglich die Beurteilung für den Zeitraum 01. September 2016 bis 31. August 2018 der Auswahlentscheidung zugrunde gelegt wurde.
44
Im Ergebnis erscheint es möglich, dass der Antragsteller bei zutreffender dienstlicher Beurteilung, also insbesondere bei einer fehlerfreien Bewertung der Einzelmerkmale sowie ihrer Übersetzung in das Gesamtergebnis, in den Kreis der zu befördernden Beamten fällt, weshalb der notwendige Anordnungsanspruch besteht. Nach derzeitigem Erkenntnisstand bleibt die rechtlich gebotene Platzierung der einzelnen Bewerber anhand eines fehlerfreien Auswahlverfahrens offen. Dieser Anspruch besteht aber nur bis zu dem rechtskräftigen Abschluss eines erneuten Auswahlverfahrens. Im Anschluss erlischt er. Im Hinblick auf den vom Antragsteller beantragten zeitlichen Umfang bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung über die dienstlichen Beurteilungen einschließlich ihrer ermessensfehlerfreien Neuerstellung ist er daher teilweise abzulehnen. Gegenstand dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens kann nur das Auswahlverfahren der Antragsgegnerin sein. Rechtsschutz allein im Hinblick auf die dienstliche Beurteilung kann hingegen in diesem Rahmen nicht gewährt werden. Insoweit ist der Antragsteller auf die Hauptsacheverfahren zu verweisen.
45
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Die Kosten waren verhältnismäßig zu teilen. Da der Antragsteller mit einem überwiegenden Anteil obsiegt und sein Anordnungsanspruch nur in zeitlicher Hinsicht nicht den von ihm beantragten Umfang erreicht, war er nur mit einem Viertel der Kosten zu belasten, während der Antragsgegnerin die übrigen Kosten aufzuerlegen sind. Die Kosten des Beigeladenen sind nicht für erstattungsfähig zu erklären. Er hat keinen eigenen Antrag gestellt und damit auch nicht das Risiko übernommen, gemäß § 154 Abs. 3 S. 1 VwGO selbst an den Kosten beteiligt zu werden. In diesem Fall sind seine Kosten schon aus diesem Grund nicht für erstattungsfähig zu erklären.
46
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 63 Abs. 2 S. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 6 S. 4 in Verbindung mit S. 1 Nr. 1 und § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs. Hiernach ist für den Antrag auf vorläufige Freihaltung der Beförderungsstelle ein Viertel der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge des angestrebten Amtes (Besoldungsgruppe A 9 BBesO) in Ansatz gebracht worden. Daraus ergibt sich auf Grundlage der genannten Vorschriften ein Streitwert in Höhe von 11.262,81 € (Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 9 der Stufe 8: 3754.27 € x 12 : 4 = 11.262,81 €).
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Aufhebung der Obergrenze für die Anfertigung von Kopien im Literaturarchiv der „…“ auf 25 Kopien pro Forschungsvorhaben sowie die Außerkraftsetzung der Gebührenordnung im Hinblick auf die Gebühr für die Herstellung von Kopien.
Der Antragsteller ist freiberuflicher Journalist und arbeitet seit dem Jahreswechsel 2019/2020 an der Vorbereitung eines Symposiums zum 100jährigen Todestag des Schriftstellers Ludwig Ganghofer, das am 24. Juli 2020 im Barocksaal des Gymnasiums Tegernsee stattfinden sollte und wegen der Corona-Pandemie auf Sommer 2021 verschoben wurde.
Die von der Antragsgegnerin in Form einer öffentlichen Einrichtung betriebene „Monacensia“ vereint das Literaturarchiv der Stadt München sowie eine Forschungsbibliothek zur Geschichte und dem kulturellen Leben Münchens.
Mit Schreiben vom 16. September 2020, eingegangen am gleichen Tag, beantragte der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Er beantragte zuletzt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die im Literaturarchiv Monacensia geltende Obergrenze für Kopien von 25 Kopien für seine Forschungsvorhaben aufzuheben und die Entgeltordnung für diese an das ortsübliche Preisgefüge anzupassen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass er im Rahmen der Vorbereitung des Symposiums den gesamten literarischen Nachlass des Schriftstellers Ludwig Ganghofer sichten müsse, welcher im Literaturarchiv Monacensia 62 teils sehr opulente Konvolute umfasse und einen Umfang von zigtausend Seiten aufweise. Er habe bereits nach wenigen Recherchen im Archiv die Maximalgrenze der zugestandenen Kopien erreicht und sei von der Antragsgegnerin auf das Lesen und Exzerpieren des Archivmaterials verwiesen worden. Die Fortsetzung seiner Forschungen durch Exzerpieren sei unzumutbar, da es sich um eine völlig antiquierte Arbeitsmethode handele und den Zeitaufwand einer seriösen wissenschaftlichen Recherche ins Unermessliche steigern würde. Das Lesen und Exzerpieren des Archivmaterials würde viele Monate beanspruchen und hätte eine inakzeptable Arbeitserschwernis zur Folge, die für die Freiheit der Wissenschaft und Forschung (Art. 5 Abs. 3 GG) eine unüberwindliche Barriere darstelle. Die Antragsgegnerin verstoße zudem gegen das Gebot der Gleichbehandlung (Art. 3 GG), da sie Professoren im Einzelfall eine höhere Anzahl von Kopien ermöglichen würde. Des Weiteren werde die Freiheit der Wissenschaft und Forschung durch die Gebührenordnung beeinträchtigt, nach der pro Kopie eine Gebühr von 1,00 € erhoben werde.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schreiben vom 5. Oktober 2020,
die Anträge abzulehnen.
Die Anträge seien bereits unzulässig, da es an der erforderlichen Antragsbefugnis fehle. Es sei nicht ersichtlich, woraus der Antragsteller einen etwaigen Anspruch auf Anfertigung von Kopien in unbegrenzter Anzahl herleite. Zudem fehle das Rechtsschutzbedürfnis, da der Antragsteller die Anträge eigenen Angaben zufolge nicht als individuelles Anliegen stelle, sondern weil die Aufhebung der Obergrenze und der Gebührenordnung eine prinzipielle Bedeutung habe. Der Antrag sei auch unbegründet, da der Antragsteller keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht habe. Ein solcher ergebe sich insbesondere nicht aus § 3 Abs. 1 der Satzung über die Nutzung der Münchner Stadtbibliothek, wonach die Münchner Stadtbibliothek, zu der auch die Monacensia gehöre, von jedermann nach den satzungsgemäßen Bestimmungen genutzt werden könne. Die Benutzung nach den satzungsgemäßen Bestimmungen bestehe darin, dass die in den Räumen vorhandenen Dokumente eingesehen werden dürften; ein Recht, Fotokopien von Archivgut anfertigen zu lassen oder Archivgut zu vervielfältigen, sehe die Satzung nicht vor. Hintergrund der Einschränkung sei insbesondere der Schutz der äußerst empfindlichen Archivmaterialien und die Sicherstellung der Einhaltung urheberrechtlicher Vorschriften. Auch aus Art. 21 GO folge lediglich ein Anspruch auf Zugang zu der öffentlichen Einrichtung der Münchner Stadtbibliothek und kein Recht, eine unbegrenzte Anzahl von Fotokopien der dort vorhandenen Werke anfertigen zu lassen. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG bzw. des Art. 3 GG liege nicht vor. Der Antragsteller habe die Möglichkeit, das Literaturarchiv zu Recherchezwecken aufzusuchen und die vorhandenen Dokumente unbegrenzt einzusehen, sich Notizen (auch digital) zu fertigen und auf dem eigenen Laptop unbegrenzt Dokumente abzuschreiben. Eine Abweichung von der vorgesehenen Obergrenze von 25 Kopien sei in Fällen möglich, in denen ein offizielles Editionsvorhaben vorliege und in Fällen, in denen der Nutzer im Ausland oder so weit entfernt wohnhaft sei, dass ihm nicht zugemutet werden könne, seine Recherchen vor Ort im Literaturarchiv Monacensia vorzunehmen. Ausweislich seiner Wohnanschrift wohne der Antragsteller nicht so weit vom Literaturarchiv Monacensia entfernt, dass es ihm unzumutbar wäre, seine Recherchen vor Ort vorzunehmen. Auch ein offizielles Editionsvorhaben sei nicht ersichtlich. Andere Nutzer unterlägen - abgesehen von den genannten Ausnahmefällen - den gleichen Beschränkungen wie der Antragsteller. Die persönliche Anwesenheit im Literaturarchiv sei auch im Hinblick auf die „Corona-Pandemie“ aufgrund der vorhandenen Hygienekonzepte möglich und zumutbar. Bezüglich der vom Antragsteller begehrten „Außer-Kraft-Setzung“ der geltenden Gebührenordnung sei nicht die statthafte Verfahrensart gewählt worden; zudem fehle es am Rechtsschutzbedürfnis, da der Antragsteller den Antrag nach eigenen Angaben „als Anwalt aller Nutzer in spe“ stelle.
Mit Schreiben vom 14. Oktober 2020 trug der Antragsteller ergänzend vor, dass der Antrag primär als individuelles Ersuchen in dem ihn betreffenden Einzelfall zu verstehen sei. Der Antrag sei eilbedürftig, da er zum einen das Symposium bis Sommer 2021 vorbereiten müsse und darüber hinaus nunmehr auch die Erstellung einer wissenschaftlichen Broschüre in Angriff genommen habe, die einzelne Aspekte zu Ganghofers Leben und Werk in den Fokus rücke. Beabsichtigter Erscheinungstermin sei Ende August 2021. Andere Institutionen, die vergleichbar wertvolles Archivgut aufbewahrten, wie das Staatsarchiv München, das Bayerische Hauptstaatsarchiv und die Bayerische Staatsbibliothek sähen keine Maximalregelung hinsichtlich Kopien und Scans vor. Für Kopien würden vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach 0,50 €/Seite, von der Bayerischen Staatsbibliothek 0,50 €/Seite und von den staatlichen Archiven im Freistaat Bayern 0,60 €/Seite erhoben.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
1. Vorab wird darauf hingewiesen, dass der Verwaltungsrechtsweg nach der Zwei-Stufen-Theorie gemäß § 40 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) eröffnet ist, da die streitgegenständlichen Modalitäten der Benutzung vorliegend öffentlich-rechtlich (Regelung durch Satzung, Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern - GO) ausgestaltet sind.
2. Der Antrag ist zulässig.
2.1 Das Rechtsschutzbedürfnis ist zu bejahen, da der Antragsteller mit Schreiben vom 14. Oktober 2020 klargestellt hat, dass er den Antrag nicht abstrakt für jegliche Forschungsvorhaben aller Nutzer, sondern bezogen auf seine eigenen wissenschaftlichen Recherchen in Vorbereitung des Ganghofer-Symposiums im Sommer 2021 und für seine synchron geplante wissenschaftliche Broschüre stelle.
2.2 Auch die Antragsbefugnis ist gegeben, da es zumindest möglich erscheint, dass der Antragsteller in seiner Wissenschaftsfreiheit beeinträchtigt sein könnte.
3. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern.
Der Antragsteller hat demnach sowohl das von ihm behauptete strittige Recht (den Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (§ 123 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Ein Anordnungsgrund liegt dann vor, wenn es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Bei einer Regelungsanordnung muss glaubhaft gemacht werden, dass die begehrte Regelung in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Der Nachteil muss sich zum einen unmittelbar auf das Rechtsverhältnis beziehen und er muss zum anderen wesentlich sein. Ein wesentlicher Nachteil sind vor allem die Gefahr der Vereitelung von Rechten des Antragstellers sowie ferner sonstige wesentliche rechtliche, wirtschaftliche oder ideelle Nachteile, die der Antragsteller in Kauf nehmen müsste, wenn er das Recht in einem Hauptsacheprozess erstreiten müsste (BayVGH, B.v. 12.8.2015 - 3 CE 15.570 - Rn. 3).
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO hat keinen Erfolg. Zum einen besteht nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage kein Anordnungsanspruch (3.1, 3.2). Zum anderen würde mit der begehrten Anordnung die Hauptsache vorweggenommen werden (3.3).
3.1 Bezüglich des Antrags des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Obergrenze von 25 Kopien je Forschungsvorhaben für sein(e) Forschungsvorhaben außer Kraft zu setzen, wurde kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO).
3.1.1 Ein Anordnungsanspruch ergibt sich nicht aus dem Bayerischen Archivgesetz (BayArchivG).
a) Im Hinblick auf sachbezogenes Archivgut regeln die Gemeinden, Landkreise und Bezirke sowie sonstige kommunale Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts und ihre Vereinigungen die Archivierung der bei ihnen erwachsenen Unterlagen in eigener Zuständigkeit, Art. 13 Abs. 1 BayArchivG. Art. 10 BayArchivG, der die Benutzung der staatlichen Archive regelt, kommt insoweit nicht zum Tragen.
b) Für die Benutzung personenbezogenen Archivgutes in Kommunalarchiven bestimmt die Sonderregelung des Art. 13 Abs. 2 i.V m. Art. 10 Abs. 2 Satz 1 BayArchivG, dass dieses benutzt werden kann, soweit ein berechtigtes Interesse an der Benutzung glaubhaft gemacht wird und nicht Schutzfristen entgegenstehen. Vorliegend ist jedoch nicht die Benutzung streitgegenständlich, die dem Antragsteller von der Antragsgegnerin unstreitig ermöglicht wird, sondern die Anfertigung von Kopien. Die Anfertigung von Kopien, bei der technisch jeweils eine Abschrift hergestellt wird, ist nicht vom Begriff der Benutzung erfasst.
3.1.2 Ein Anordnungsgrund ergibt sich auch nicht aus Art. 21 GO bzw. aus der Satzung über die Nutzung der Münchner Stadtbilbliothek.
a) Das Kommunale Archiv einer Gemeinde ist öffentliche Einrichtung im Sinne des Art. 21 Abs. 1 GO. Einrichtungen der Archivpflege zählen nach Art. 57 Abs. 1 Satz 1 GO zu den öffentlichen Einrichtungen (vgl. BayVGH U.v. 13.2.1985 - 4 N 84 A.545). Die Frage der Zulassung der Benutzung regelt sich daher nach den allgemeinen Grundsätzen zur Zulassung zu öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde, sofern nicht Sonderregelungen existieren.
Die Monacensia wird als öffentliche Einrichtung der Antragsgegnerin geführt. Nach Art. 21 Abs. 1 GO sind alle Gemeindeangehörigen nach den bestehenden allgemeinen Vorschriften berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen; gemeindefremde Personen haben nach Art. 21 Abs. 5 GO einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Zulassung bzw. Benutzung.
Der Anspruch aus Art. 21 GO richtet sich auf Zulassung zu und Benutzung der öffentlichen Einrichtung im Rahmen des Widmungszwecks. Der Zugang zur Monacensia und die Benutzung des Archivs wird dem Antragsteller von der Antragsgegnerin jedoch unstreitig gewährt. Das Recht, Kopien von im Literaturarchiv vorhandenen Werken anzufertigen bzw. anfertigen zu lassen, ist von der Benutzung nicht umfasst. Unter der „Nutzung“ von Archivgut ist die Auskunftserteilung und die Archivguteinsicht im Sinne einer Akteneinsicht zu verstehen; nicht erfasst ist das Recht, Archivgut zu kopieren bzw. kopieren zu lassen (Partsch, Bundesarchivgesetz, 1. Aufl. 2019 § 10 Rn. 62).
b) Ein Anordnungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 3 Abs. 1 der Satzung über die Nutzung der Münchner Stadtbibliothek, die die Modalitäten der Nutzung regelt. Die Monacensia ist ein Teil der Münchner Stadtbibliothek (§ 1 Abs. 5 der Satzung).
Nach § 3 Abs. 1 der Satzung kann die Münchner Stadtbibliothek von jedermann nach den satzungsmäßigen Bestimmungen genutzt werden. Die satzungsmäßigen Bestimmungen sehen keinen Anspruch auf die Anfertigung oder das Anfertigen lassen von Kopien vor. Nach den Benutzungsregeln der Monacensia (abrufbar im Internet: www.muenchner-stadtbibliothek.de/fileadmin/Monacensia-im-Hildebrandhaus/Monacensia_Merkblatt_und_Benutzungsregeln.pdf) besteht pro Forschungsvorhaben eine Kopier- /Scangrenze von insgesamt 25 Kopien/Scans; es werden keine kompletten (größeren) Manuskripte und keine größeren Brieffolgen vollständig kopiert. Zudem wird darauf hingewiesen, dass kein Anspruch auf die Erstellung von Kopien / Scans besteht.
Diese Regelung der Antragsgegnerin findet ihre Rechtfertigung in ihrem Selbstverwaltungsrecht (Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz (GG), Art. 11 Abs. 2 S. 2 Bayerische Verfassung (BV)), das u.a. das Recht umfasst, ein städtisches Archiv als öffentliche Einrichtung nach eigenen Vorstellungen zu betreiben und zu gestalten. Die Beklagte hat die Satzung über die Nutzung der Münchner Stadtbibliothek am 22. August 1998 erlassen und die Münchner Stadtbibliothek auf diese Weise zur öffentlichen Einrichtung gewidmet. Das Recht der Beklagten, ihre öffentliche Einrichtung inhaltlich zu gestalten, umfasst auch das Recht, mit Blick auf den Schutz der Archivmaterialien eine Beschränkung der Anzahl zu erstellender Kopien vorzusehen.
Entgegen der Auffassung des Antragstellers verstößt diese Regelung nicht gegen die Freiheit der Wissenschaft und Forschung gem. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Der Antragsteller trägt vor, dass der Verweis auf das Lesen und Exzerpieren des Archivmaterials unter Berufung auf die Obergrenze in Auftrag zu gebender Kopien auf die Anzahl von 25 eine unüberwindbare Barriere für die Freiheit der Wissenschaft und Forschung darstelle. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Wissenschaftsfreiheit schützt als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betätigung gegen staatliche Eingriffe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zugleich eine Wertentscheidung dahingehend, dass der Staat im Bereich des mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebs dafür zu sorgen hat, dass das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung so weit unangetastet bleibt, wie dies unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist. (BVerwG, B.v. 16.3.2011 - 6 B 47/10). Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich bereits unmittelbar, dass die Wissenschaftsfreiheit dem wissenschaftlich Tätigen nicht das Recht gibt, jede ihm jeweils genehme organisatorische Unterstützung zu seiner Forschungstätigkeit zu verlangen. Er muss sich vielmehr auf andere zur Verfügung stehende Möglichkeiten verweisen lassen, solange diese nur geeignet sind, sein Forschungsvorhaben umzusetzen. Die Antragsgegnerin gewährt dem Antragsteller die Möglichkeit, die im Literaturarchiv vorhandenen Werke unbegrenzt einzusehen, sich Notizen (auch digital) zu machen und dabei den eigenen Laptop zu benutzen. Es wurde nicht substantiiert vorgetragen und es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Forschungsvorhaben des Antragstellers unter Nutzung dieser Möglichkeiten nicht bis Juli bzw. Ende August 2021 realisierbar sind. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die freie wissenschaftliche Betätigung des Antragstellers nicht von der Möglichkeit abhängt, Kopien anfertigen zu lassen.
3.1.3 Ein Anordnungsanspruch ergibt sich schließlich nicht aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 118 BV). Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und des Art. 118 Abs. 1 BV gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 14.3.2018 - 10 C 1/17 - juris Rn. 15 ff.).
Der Antragsteller macht geltend, dass Professoren von der Antragsgegnerin von Fall zu Fall völlig freihändig ein Zigfaches der in den Benutzungsregeln ausgewiesenen Kopien eingeräumt werde, während sich die Antragsgegnerin ihm gegenüber auf die Obergrenze von 25 Kopien berufe.
Nach den Angaben der Antragsgegnerin werde in ständiger Verwaltungspraxis von der vorgesehenen Obergrenze von 25 Kopien abgewichen, wenn ein offizielles Editionsvorhaben vorliege und in Fällen, in denen der Nutzer im Ausland oder so weit entfernt wohnhaft sei, dass ihm nicht zugemutet werden könne, seine Recherchen vor Ort im Literaturarchiv Monacensia vorzunehmen. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass es sich bei einem der beiden Forschungsvorhaben des Antragstellers um ein offizielles Editionsvorhaben handelt. Auch die zweite Fallgruppen ist vorliegend nicht gegeben. Es ist nicht ersichtlich, dass es ihm unzumutbar wäre, zu Recherchezwecken von … … nach München zu fahren. Der Antragsteller hat auch nicht vorgetragen, dass er aufgrund der behaupteten eingeschränkten Nutzungskapazitäten des Literaturarchivs Monacensia während der Corona-Pandemie bisher gehindert gewesen sei, seine Recherchen von Ort durchzuführen. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin dem Ersuchen des Antragstellers, die Obergrenze für Kopien für sein Forschungsvorhaben aufzuheben, nicht entsprochen hat. Es wurde nicht substantiiert vorgetragen, dass ein im Wesentlichen mit dem streitgegenständlichen Fall vergleichbarer Sachverhalt von der Antragsgegnerin abweichend behandelt worden wäre.
3.2 Auch bezüglich des Antrags, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Entgeltordnung bezüglich der vom Antragsteller beauftragten Kopien an das ortsübliche Preisgefüge anzupassen, wurde kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Die für die Herstellung von Xerokopien zu entrichtenden Gebühren (§ 2 Abs. 5 der Satzung über die Gebühren für die Benutzung des Monacensia-Literaturarchivs der Stadtbibliothek der Landeshauptstadt München - Monacensia-Gebührensatzung) sind nicht zu beanstanden. Da es sich bei den „Fotoherstellungskosten“ i.S.d. § 2 Abs. 5 der Monacensia-Gebührensatzung nicht um die Kosten für eine Kopie handelt, sondern um die Kosten für die Dienstleistung zur Herstellung einer Kopie, die von einem im Umgang mit den Archivalien vertrauten Mitarbeiter unter Anwendung besonderer Sorgfalt vorgenommen werden muss, erscheint die Höhe der Gebühr von 0,50 € für eine DIN A4-Kopie bzw. von 1,00 € für eine DIN A3-Kopie angemessen. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die für die Dienstleistung zu entrichtende Gebühr in Höhe von 0,50 € bzw. 1,00 € gegen das Kostendeckungsprinzip des Art. 8 Abs. 2 Kommunalabgabengesetz (KAG) verstoßen würde. Soweit der Antragsteller geltend macht, die Gebühren würden eine pekuniäre Hürde darstellen, durch die die Freiheit der Wissenschaft und Forschung beeinträchtigt werde, wird auf die Ausführungen unter 3.1.2 verwiesen. Nach Auffassung des Gerichts hängt die freie wissenschaftliche Betätigung des Antragstellers nicht von der Möglichkeit ab, Kopien anfertigen zu lassen. Soweit der Antragsteller auf die Gebühren anderer kommunaler und staatlicher Archive verweist, ist dies nicht entscheidungserheblich. Die Bemessung der Gebühren anderer Archive ist vorliegend nicht streitgegenständlich und spielt für die Gebührenkalkulation der Antragsgegnerin auf der Grundlage des Art. 8 Abs. 2 KAG keine Rolle.
3.3 Darüber hinaus fehlt es auch an einem Anordnungsgrund.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine „einstweilige“ Anordnung zur Regelung eines „vorläufigen“ Zustands treffen. Hieraus wird ersichtlich, dass die Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden darf.
Die Antragsteller begehrt mit seinem Antrag gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO eine Vorwegnahme der Hauptsache der noch nicht erhobenen Klage.
Dem Wesen und Zweck einer einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Verwaltungsgericht in einem Eilverfahren nach § 123 VwGO grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Betroffenen nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte.
Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt dann vor, wenn die Entscheidung und die Folgen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auch nach der Hauptsacheentscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden können.
Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache wäre vorliegend gegeben, da der Antragsteller im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit der Aufhebung der Obergrenze für Kopien und der Anpassung der Entgeltordnung bezüglich der von ihm begehrten Kopien an das ortsübliche Preisgefüge sachlich vollumfänglich dasselbe Ziel wie in einem Hauptsacheverfahren verfolgt.
Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG gilt das Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung ausnahmsweise dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d.h. die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (BayVGH, B.v. 7.5.2018 - 10 CE 18.464 - juris Rn. 6,
8; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Auflage 2019, § 123 Rn. 14). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Forschungsvorhaben des Antragstellers ohne die Aufhebung der Obergrenze für Kopien bzw. ohne Außerkraftsetzung der Gebührenordnung für seine Forschungsvorhaben nicht bis Juli (Symposium) bzw. Ende August 2021 (Broschüre) realisierbar wären. Darüber hinaus spricht kein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg einer Hauptsacheklage (vgl. hierzu 3.2).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nummer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Tenor
I. Die Anträge werden abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 15.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller wenden sich gegen die Wiedereinführung des Mindestabstands von 1,5 m in Unterrichtsräumen und die damit verbundene Teilung von Schulklassen mit Unterrichtung in Gruppen im Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht sowie gegen die Reduzierung der Gruppengröße in Kitas im Landkreis F. aufgrund der Überschreitung der sog. 7-Tage-Inzidenzwerte.
Der Antragsteller zu 1 besucht die 2. Klasse einer Grundschule in A. im Landkreis F.. Die Antragstellerin zu 2 besucht einen gemeindlichen Kindergarten in A. Die Antragstellerin zu 3 ist deren Mutter.
Mit Allgemeinverfügung vom 16. Oktober 2020 ordnete das Landratsamt F. unter anderem die Teilung der Klassen und Unterricht im wöchentlichen oder täglichen Wechsel von Präsenzunterricht und Lernen zu Hause (Ausnahme: Mindestabstand von 1,5 m kann vor Ort auch bei voller Klassenstärke eingehalten werden) gemäß Stufe 3 des Drei-Stufen-Plans des „Rahmenhygieneplans Schulen“ vom 2. Oktober 2020 an. Für die Kindertagesstätten im Landkreis F. wurde ein eingeschränkter Betrieb entsprechend der Stufe 3 des Drei-Stufen-Plans des „Rahmen-Hygieneplans Corona für die Kindertagesbetreuung und heilpädagogische Tagesstätten“ (im folgenden: Rahmenhygieneplan Kita) angeordnet.
Ein Verfahren der Antragsteller gegen diese Anordnung der Allgemeinverfügung wurde mit Beschluss vom 23. Oktober eingestellt (M 26b S 20.5188), nachdem die Allgemeinverfügung am 19. Oktober 2020 aufgehoben worden war.
Der mit der Allgemeinverfügung eingeführte Teilbetrieb in Schulen und Kindertagesstätten wurde nicht aufgehoben. Das Landratsamt F. kommuniziert auf seiner Internetseite (https://www.lra-ffb.de/aktuelles/corona-informationen/corona-fuer-schulen-und-kitas-gilt-stufe-3-der-rahmenhygieneplaene), dass das Landratsamt F. im Benehmen mit der Schulaufsicht und dem Jugendamt am 16. Oktober 2020 die Stufe 3 der Rahmenhygienepläne für Schulen und Kitas angeordnet hat, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Aus formalen Gründen sei die damit verbundene, am 16. Oktober 2020 erlassene Allgemeinverfügung aufgehoben worden. Die Stufe 3 der Rahmenhygienepläne für Schulen und Kitas bleibe aber weiter in Kraft.
Eine entsprechende Anordnung des Landratsamts F., Gesundheitsamt, vom 19. Oktober 2020 erging per Mail an alle Schulen und Einrichtungen der Kindertagesbetreuung im Landkreis. Sie ist zeitlich befristet bis 30. Oktober 2020.
Den Eltern wurden durch den Kindergarten der Antragstellerin zu 2 mitgeteilt, dass wegen Inkrafttretens der Stufe 3 nur noch eine Teilbetreuung angeboten werden dürfe, die nun im Einzelnen zu planen sei. Eine entsprechende Information erging durch die Direktorin der Schule des Antragstellers zu 1 an die Eltern der Schulkinder, die bezüglich der einzelnen Klassen je nach Klassenstärke einen Unterricht im Wechsel anordnete.
Der Antragsteller zu 1 kann deshalb nur jeden zweiten Tag die Schule und die Mittagsbetreuung besuchen. Die Antragstellerin zu 2 kann den Kindergarten ebenfalls nicht jeden Werktag besuchen.
Am 19. Oktober 2020 betrug die 7-Tage-Inzidenz im Landkreis F. laut LGL 65,20. Der Schwellenwert von 50 Neuinfektionen pro Woche pro 100.000 Einwohner wurde im Landkreis F. zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Tagen überschritten. Aktuell (Stand 27. Oktober 2020) beträgt die 7-Tage-Inzidenz im Landkreis 94,39. Am 19. Oktober 2020 waren insgesamt 20 Schulen und 7 Einrichtungen der Kindertagesbetreuung von Quarantänemaßnahmen betroffen.
Mit Schriftsatz vom …10.2020 erhob der Bevollmächtigte der Antragsteller Klage und stellte im vorliegenden Verfahren folgende Anträge:
Es wird im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO dem Antragsgegner aufgegeben, den Antragsteller zu 1 an allen Schultagen in der Grundschule A. zu unterrichten,
Es wird im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO dem Antragsgegner aufgegeben, die Antragstellerin zu 2 an allen Kindergartentagen den Besuch des Kindergartens A. zu ermöglichen.
Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Aufrechterhaltung des Teilbetriebs die Antragsteller in ihren Rechten aus Art. 2, Art. 7 und Art. 12 Grundgesetz und Art. 131 Bayerische Verfassung verletze und gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoße.
Der Rahmenhygieneplan Schulen, auf den sich der Beklagte zur Legitimierung des Teilbetriebs berufe, sei eine Rechtsverordnung, die der Umsetzung durch behördliches Handeln im Einzelfall bedürfe. Eine solche Umsetzung sei ursprünglich mit der aufgehobenen Allgemeinverfügung erfolgt, fehle aber jetzt. Auch sei bereits keine Bestimmung der Hygienemaßnahmen durch das Gesundheitsamt erfolgt. Dies gelte auch bezüglich des Teilbetriebs in Kindertagesstätten, da nach dem insoweit maßgeblichen Rahmenhygieneplan Kita eine Reduktion der Gruppengrößen bzw. eine Notbetreuung nach Vorgabe des Gesundheitsamts zu erfolgen habe, welche aber fehle. Eine Anordnung des zuständigen Gesundheitsamtes sei nicht ersichtlich.
Inhaltlich seien die Maßnahmen nicht geeignet, das angestrebte Ziel einer Eindämmung des Coronavirus zu erreichen. In den beiden von den Antragstellern zu 1 und 2 besuchten Einrichtungen gebe es aktuell keine Coronainfektionen. Teilschließungen von Kindergärten und Schulen seien nach jüngeren wissenschaftlichen Studien wirkungslos. Die undifferenzierten und landkreiseinheitlichen Regelungen seien auch nicht erforderlich. Als mildere Mittel kämen die Anordnung der Maskenpflicht, ein ausreichendes Lüften der Räumlichkeiten oder vermehrte Aktivitäten im Freien infrage. Vorrangig seien Quarantänemaßnahmen für Gruppen oder Klassen anzuordnen, in denen Coronavirusinfektionen auftreten.
Die Antragstellerin zu 3 könne durch die Teilschließung ihren Beruf nicht ausüben, da sie zur Kinderbetreuung zu Hause bleiben müsse. Eine Notbetreuung sei nicht eingerichtet. Urlaubstage stünden nicht mehr zur Verfügung.
Der schulpflichtige Antragsteller zu 1 habe ein Recht auf Unterricht und damit auf Unterricht in der Schule. Das Recht auf Ausbildung und Bildung der Antragsteller zu 1 und 2 werde unangemessen beschränkt und dies schon seit dem Frühjahr 2020. Auch in die psychische Gesundheit der Antragsteller werde eingegriffen. Bei der Antragstellerin zu 2 seien die Auswirkungen des Lockdowns deutlich ausgeprägt, was sich in einer starken Anhänglichkeit und Schwierigkeiten, in unbekannten Situationen zurechtzukommen, äußere.
Der Antragsgegner beantragt,
die Anträge abzulehnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Anordnung des Landratsamts F. vom 19. Oktober 2020 an die Schulen und Kindertagesbetreuungseinrichtungen rechtmäßig sei. Sie beruhe auf einer Entscheidung des Gesundheitsamt F. in Abstimmung mit dem Jugendamt und der Schulaufsicht. Rechtsgrundlage für die Anordnung sei § 25 Satz 1 der 7. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (7. BayIfSMV) i.V.m. § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz. Der Verordnungsgeber habe mit den Regelungen zu Maßnahmen bei erhöhten 7-Tage-Inzidenzen keine abschließende Regelung treffen wollen.
Die Entscheidung zur Anordnung der Stufe 3 des Rahmenhygieneplans Schulen bzw. des Rahmenhygieneplans Kita sei nach pflichtgemäßem Ermessen erfolgt und sei verhältnismäßig. Ziel der Rahmenhygienepläne und auch der Anordnung vom 19. Oktober 2020 sei es, zum einen den Schul- und Kitabetrieb so gut wie möglich und so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Zum anderen solle die Gesundheit der Schüler und Kinder sowie der Lehrkräfte und Betreuer geschützt werden. Dabei sei bezüglich der Schulen insbesondere zu beachten, dass die Kinder sich aufgrund der Schulpflicht selbst nur schlecht vor dem Infektionsrisiko schützen könnten und es daher Aufgabe des Staates sei, bei steigendem Infektionsrisiko Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Das Gesundheitsamt habe die Infektionslage umfassend geprüft, insbesondere auch bezüglich der geographischen Ausbreitung des Virus und des konkreten Infektionsgeschehens an den Schulen und Einrichtungen der Kindertagesbetreuung im Landkreis. Seit Wochen seien beinahe täglich Schulen und Einrichtungen der Kindertagesbetreuung von Quarantänemaßnahmen betroffen, wobei auch Folgeansteckungen in den Einrichtungen beobachtet werden konnten. Dass eine pauschale Entscheidung gerade nicht getroffen worden sei, ergebe sich schon daraus, dass in vorausgehenden Anordnungen nicht vom Infektionsgeschehen betroffene Schulen und Kitas von einschränkenden Maßnahmen ausgeschlossen gewesen seien. Diese Maßnahmen hätten nicht den erhofften Erfolg gebracht, da die Zahlen immer weiter gestiegen seien und immer mehr Schulen und Einrichtungen der Kindertagesbetreuung betroffen gewesen seien. Die Maßnahmen seien geeignet und mildere gleich wirksame Mittel seien nicht ersichtlich. Insbesondere könnten Kinder in Kindertagesbetreuung unter 6 Jahren nicht verpflichtet werden, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Auch sei das konsequente Abstandhalten von Kindern untereinander in diesem Alter realitätsfern. Die angeordneten Maßnahmen stünden auch nicht außer Verhältnis zu dem Ziel, eine Weiterverbreitung des Krankheitserregers zu verhindern. Eine Beschulung der Schüler sowie eine Kinderbetreuung im Landkreis müsse weiter bestmöglich gewährleistet werden.
Hierzu nahmen die Antragsteller mit Schriftsatz vom …Oktober 2020 Stellung.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Die Anträge haben keinen Erfolg. Sie sind zwar zulässig, aber unbegründet.
1. Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind zulässig, insbesondere sind sie statthaft, da in der Hauptsache jedenfalls keine Anfechtungsklagen statthaft sind.
Die Antragsteller beantragen in der Hauptsache, dass die Antragsteller zu 1 und 2 nicht aufgrund des Teilbetriebs vom Schulbesuch bzw. Besuch des Kindergartens ausgeschlossen werden. Damit machen sie bei Auslegung der Anträge (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) nach dem erkennbaren Rechtsschutzziel einen Anspruch auf vollen Präsenzunterricht gegen den Antragsteller geltend, der wohl im Wege der allgemeinen Leistungsklage zu verfolgen ist.
Die Antragsteller belastende Verwaltungsakte, die aufgehoben werden könnten, liegen entgegen der Ansicht des Antragsgegners jedenfalls nicht vor. Weder die Anordnung des Landratsamts F. (Gesundheitsamt) vom 19. Oktober 2020 gegenüber den Schulen und Einrichtungen der Kindertagespflege bezüglich des Inkrafttretens der Stufe 3 des 3-Stufen-Plans des jeweiligen Rahmenhygieneplans noch die Äußerungen des Landratsamts F. auf seiner Internetseite (worauf die Antragsteller wohl abstellen) noch die zugrundeliegenden Rahmenhygienepläne für Schulen bzw. Kindertageseinrichtungen selbst, noch schließlich die konkreten Umsetzungsmaßnahmen der Schulleitung vor Ort haben Verwaltungsaktqualität. Eine Einordnung scheitert dabei entweder am Regelungscharakter der Maßnahme oder an der unmittelbaren Außenwirkung der Regelung (dazu ausführlich: VG München, B.v. 27.10.2020 - M 26b 20.5301). Damit scheidet jedenfalls Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO aus, so dass im vorläufigen Rechtsschutz der gestellte Antrag nach § 123 VwGO statthaft ist (§ 123 Abs. 5 VwGO).
2. Die Anträge sind aber unbegründet.
Nach § 123 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragspartei vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Regelungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Sicherungsanordnung). Dabei hat die Antragspartei sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) zu bezeichnen und glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 1 und 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO). Der Antrag kann nur Erfolg haben, wenn und soweit sich sowohl Anordnungsanspruch als auch -grund aufgrund der Bezeichnung und Glaubhaftmachung als überwiegend wahrscheinlich erweisen (BayVGH, B.v. 16.8.2010 - 11 CE 10.262 - juris Rn. 20 m. w. N.). Maßgeblich sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Ein Anordnungsanspruch setzt ein subjektiv-öffentliches Recht voraus, dessen Verletzung ohne den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung drohen würde (BayVGH, B. v. 10.9.2013 - 7 CS 13.1880 - juris Rn. 19), mithin eine rechtswidrige Maßnahme, die den Antragsteller in seinen Rechten verletzt. Einen Anspruch auf ausschließlichen Präsenzunterricht haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, da der Antragsgegner zu Recht Stufe 3 der jeweiligen Rahmenhygienepläne, die die streitgegenständlichen Maßnahmen beinhaltet, angeordnet hat.
2.1 Hinsichtlich des Antragstellers zu 1 gilt im Einzelnen Folgendes:
2.1.1 Die zeitlich bis zum 30. Oktober 2020 befristete Anordnung des Mindestabstands von 1,5 m auch zwischen den Schülerinnen und Schülern in Unterrichtsräumen, ggf. (bei nicht möglicher Einhaltung dieses Mindestabstands aufgrund baulicher Gegebenheiten) verbunden mit einer zeitlich befristeten erneuten Teilung der Klassen und einer Unterrichtung der Gruppen im wöchentlichen oder täglichen Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht an Schulen findet ihre Rechtsgrundlage in § 18 Abs. 1 der Siebten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (7. BayIfSMV) vom 1. Oktober 2020 in der Fassung vom 22. Oktober 2020 i.V.m. dem Rahmenhygieneplan zur Umsetzung des Schutzund Hygienekonzepts für Schulen nach der jeweils geltenden Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (Rahmenhygieneplan Schulen), Stand 2. Oktober 2020, Ziffer 1.4.3.
Hiernach sind Unterricht und sonstige Schulveranstaltungen sowie die Mittagsbetreuung an Schulen zulässig, wenn durch geeignete Maßnahmen sichergestellt ist, dass dem Infektionsschutz Rechnung getragen wird, § 18 Abs. 1 Satz 1 der 7. BayIfSMV. Zu diesem Zweck wurde der von den Staatsministerien für Unterricht und Kultus und für Gesundheit und Pflege ausgearbeitete Rahmenhygieneplan Schulen (im folgenden: Rahmenhygieneplan) als Grundlage für Schutz- und Hygienekonzepte der Schulen erstellt, § 18 Abs. 1 Satz 2 der 7. BayIfSMV.
Gemäß dem Stufenkonzept des Rahmenhygieneplans (dazu Ziffer 1) findet im Schuljahr 2020/2021 grundsätzlich der Regelbetrieb unter Beachtung des Rahmenhygieneplans statt. Dabei richtet sich der Unterrichtsbetrieb in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen nach einem Drei-Stufen-Plan, der sich grundsätzlich an der 7-Tage-Inzidenz des LGL in einem Landkreis orientiert (Ziffer 1.1). Die Entscheidung zur Anordnung von Maßnahmen auf der Grundlage des Stufenkonzepts trifft das örtlich zuständige Gesundheitsamt im Benehmen mit der Schulaufsicht (Ziffer 1.2 b)). Die für die Stufe vorgesehenen Maßnahmen gelten grundsätzlich für alle Schulen des betreffenden Landkreises, soweit das Gesundheitsamt nicht besondere Anordnungen trifft (Ziffer 1.2.c)). Wird in einem Landkreis der Inzidenzwert überschritten, prüft das Gesundheitsamt, ob eine betriebs- bzw. einrichtungsbezogene Eingrenzung der Infektionsfälle möglich ist. Ist dies der Fall, sind in der Regel keine schulischen Maßnahmen für sämtliche Schulen des betroffenen Landkreises der betreffenden Stufe erforderlich. Andernfalls trifft es die erforderlichen Maßnahmen (Ziffer 1.2 d).
Ziffer 1.4.3 des Rahmenhygieneplans sieht für Stufe 3 (7-Tage-Inzidenz ab 50 pro 100.000 Landkreiseinwohner) unter anderem die Wiedereinführung des Mindestabstands von 1,5 m auch zwischen den Schülerinnen und Schülern in Unterrichtsräumen vor (a). Soweit aufgrund der baulichen Gegebenheiten der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann, bedeutet dies eine zeitlich befristete erneute Teilung der Klassen und eine damit verbundene Unterrichtung der Gruppen im wöchentlichen oder täglichen Wechsel von Präsenzund Distanzunterricht (d).
Eines Rückgriffs auf die Rechtsgrundlage des § 27 Satz 1 der 7. BayIfSMV n.F. (entspricht § 25 Satz 1 der 7. BayIfSMV a.F.), die der Antragsgegner in seiner Antragserwiderung neben § 28 Abs. 1 IfSG heranzieht, wonach weitergehende Anordnungen der örtlich für den Vollzug des Infektionsschutzgesetzes zuständigen Behörden unberührt bleiben, bedarf es nicht, da § 18 Abs. 1 der 7. BayIfSMV in Verbindung mit dem Rahmenhygieneplan Schulen die speziellere Rechtsgrundlage für die angeordneten Maßnahmen darstellt. Weiter ist davon auszugehen, dass es auch eines Rückgriffs auf § 28 Abs. 1 IfSG nicht bedarf, da diese formellgesetzliche Eingriffsgrundlage durch § 18 Abs. 1 der 7. BayIfSMV konkretisiert wird.
2.1.2 Zweifel an der Rechtmäßigkeit des § 18 Abs. 1 Satz 1 der 7. BayIfSMV i.V.m den einschlägigen zitierten Vorgaben des Rahmenhygieneplans zu Stufe 3 sind nicht veranlasst. Die Regelungen dürften von der Ermächtigungsgrundlage § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 sowie § 33 Satz 2 Nr. 3 Infektionsschutzgesetz (IfSG) gedeckt sein (betreffend die Vorgängerregelung in § 16 der 6. BayIfSMV siehe BayVGH, B. v. 3.7.2020 - 20 NE 20.1443 - juris Rn. 21 ff.). Der Gesetzgeber hat in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG ausdrücklich angeordnet, dass die zuständige Behörde unter den Voraussetzungen des 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG auch die in § 33 IfSG genannten Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen kann. Dazu gehören nach § 33 Satz 2 Nr. 3 IfSG insbesondere auch Schulen, so dass die in Ziffer 1.4.3 d) des Rahmenhygieneplans angeordnete Teilung der Klassen und die damit verbundene Unterrichtung der Gruppen im wöchentlichen oder täglichen Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht von der formellgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gedeckt sind.
Insbesondere liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 IfSG angesichts der aktuellen Pandemielage weiterhin vor.
§ 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG setzt tatbestandlich voraus, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war.
Diese Voraussetzungen liegen dem Grunde nach angesichts der anhaltenden SARS-CoV-2-Pandemielage unzweifelhaft vor. Das Virus SARS-CoV-2 ist ein Krankheitserreger im Sinne von § 2 Nr. 1 IfSG, der zur Lungenkrankheit COVID-19, einer übertragbaren Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 3 IfSG führen kann. Nach Einschätzung des RKI, dem der Gesetzgeber im Bereich des Infektionsschutzes mit § 4 IfSG besonderes Gewicht eingeräumt hat (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris Rn. 13; BayVerfGH, E.v. 26.3.2020 - Vf. 6-VII-20 - juris Rn. 16), handelt es sich bei der COVID-19-Pandemie weltweit und in Deutschland um eine dynamische und ernst zu nehmende Situation, wobei die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch, für Risikogruppen als sehr hoch einzuschätzen ist. Intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen bleiben nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Die massiven Anstrengungen auf allen Ebenen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Es ist laut RKI von entscheidender Bedeutung, die Zahl der Erkrankten so gering wie möglich zu halten und Ausbrüche zu verhindern. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand 23.9.2020, Stand 26.10.2020).
Weitere tatbestandliche Anforderungen an ein Tätigwerden stellt § 28 Abs. 1 Satz 1 Abs. 1 IfSG nicht. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen vor, ist die Behörde bzw. der Verordnungsgeber zum Handeln verpflichtet (sog. gebundene Entscheidung).
Hinsichtlich Art und Umfang der zu treffenden Schutzmaßnahmen ist der Behörde bzw. dem Verordnungsgeber ein Auswahlermessen eingeräumt. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss. Zudem sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 - 3 C 16.11 - BVerwGE 142, 205 - juris Rn. 24; BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 CS 20.1821 - juris Rn. 27). Diesen Vorgaben genügt § 18 Abs. 1 der 7. BayIfSMV i.V.m. dem Stufenkonzept des Rahmenhygieneplans Schulen, wie sich bezüglich der streitgegenständlichen Maßnahmen der Einführung eines Mindestabstands und der ggf, damit verbundenen Teilung der Klassen mit Unterrichtung der Gruppen im Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht aus dem insoweit maßgeblichen Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juli 2020, Az: 20 NE 20.1443 ergibt. Die in diesem Rahmen zu § 16 BayIfSMV gemachten Ausführungen sind auf die aktuelle Rechtslage übertragbar.
Dabei ist auch nicht zu beanstanden, dass im 3-Stufen-Konzept des Rahmenhygieneplans Schulen auf das Kriterium der 7-Tage-Inzidenz abgestellt wird und insofern unterschiedliche Maßnahmen je nach Wert (unter 35 bzw. bis 50 bzw. über 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner abgestellt wird) angeordnet werden. Der Wert von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner spiegelt die Dynamik des Infektionsgeschehens wider und markiert die Grenze, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland sich zu einer Rückverfolgung von Infektionsketten maximal in der Lage sieht und die Verbreitung des Coronavirus durch weitere Fallfindungen noch verhindert werden kann. Diese Einschätzung, dass ab diesem Wert das Infektionsgeschehen eine Dynamik gewinnt, die ohne einschneidende Maßnahmen außer Kontrolle zu geraten droht, dürfte nicht zu beanstanden sein (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 28.8.2020 - 13 B 1232/20.NE - juris Rn. 51; OVG Lüneburg, B. v. 5.6.2020 - 13 MN 195/20 - juris Rn. 33 f.). Dies entspricht im Übrigen auch den Empfehlungen des RKI (Präventionsmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie, 12.10.2020, S. 10)
Es begegnet dabei im Rahmen der summarischen Prüfung im Eilverfahren keinen rechtsstaatlichen Bedenken, wenn der Antragsgegner die früher in § 16 der 6. BayIfSMV ausdrücklich zur Minimierung des Infektionsrisikos vorgesehenen Maßnahmen der Reduzierung der Klassenstärke oder das Abhalten von alternierendem Unterricht nunmehr nicht mehr bereits in der Rechtsverordnung als Handlungsoptionen normiert. Diese Maßnahmen waren in § 16 Abs. 1 der 6. BayIfSMV ohnehin nur beispielhaft erwähnt und keine zwingende gesetzliche Vorgabe („In Betracht kommt etwa…“). Vielmehr zeigt die alte Fassung der Vorschrift gerade, dass nach dem Willen des Verordnungsgebers grundsätzlich die Reduzierung der Klassenstärke und das Abhalten von alternierendem Unterricht geeignete Mittel zur Minimierung des Infektionsrisikos darstellen. Die Verortung dieser Maßnahmen im Rahmenhygieneplan Schule, der entgegen der Ansicht der Antragsteller keine Rechtsverordnung, sondern eine das Handeln der örtlichen Behörden einheitlichen Maßstäben unterwerfende Verwaltungsvorschrift im Sinne einer Auslegungs- und Ermessensrichtlinie darstellen dürfte, verkürzt insbesondere nicht den Rechtsschutz der Betroffenen, weil die Regelungen des Rahmenhygieneplans Schulen Gegenstand inzidenter Prüfung (und ggf. Verwerfung) im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind.
2.1.4 Die Zuständigkeit des Antragsgegners für die zeitlich befristete Teilung der Klassen ergibt sich aus dem Rahmenhygieneplan Schulen. Für die Anordnung sämtlicher auf das Infektionsschutzgesetz gestützten Maßnahmen (zum Beispiel (Teil-)Schließung einer Schule) sind nach Ziffer 3.1 die Gesundheitsämter oder eine ihnen übergeordnete Behörde zuständig. Für die Umsetzung der Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen in der Schule ist die Schulleitung verantwortlich (Ziffer 3.3). Die Entscheidung zur Anordnung von Maßnahmen auf der Grundlastlage des Stufenkonzepts trifft das örtlich zuständige Gesundheitsamt im Benehmen mit der Schulaufsicht (Ziffer 1.2 b). Damit war das Gesundheitsamt des Landratsamts F. für die Anordnung des Inkrafttretens der Stufe 3 zuständig.
2.1.5 Bei den getroffenen Maßnahmen, die durch Ziffer 1.4.3 des Rahmenhygieneplans Schulen vorgegeben sind, handelt es sich um geeignete Maßnahmen im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 1 6. BayIfSMV, die im Übrigen den inhaltlichen Vorgaben des Rahmenhygieneplans Schulen entsprechen und sich als verhältnismäßig erweisen.
a) Die konkrete Entscheidung zur Anordnung von Maßnahmen auf der Grundlage des Stufenkonzepts das Gesundheitsamt des Antragsgegners nach den Vorgaben des Rahmenhygieneplans Schule und in ermessensfehlerfreier Weise getroffen. Es hat insbesondere keinen Automatismus bei Erreichen der Stufe 3 angenommen, sondern hat, wie es Ziffer 1.2 des Rahmen Hygieneplans vorsieht, geprüft, ob eine betriebs-bzw. einrichtungsbezogene Eingrenzung der Infektionsquelle möglich war. Erst nach Verneinung dieser Frage hat es angesichts hoher Inzidenzwerte und des Betroffenseins verschiedener Schulen und Kindertageseinrichtungen Stufe 3 mit den hierfür vorgesehenen Maßnahmen angeordnet. Unter Ermessensgesichtspunkten ist hiergegen nichts einzuwenden.
b) Die Wiedereinführung des Mindestabstands mit zeitlich befristeter Teilung der Klassen und einer damit verbundenen Unterrichtung der Gruppen im wöchentlichen oder täglichen Wechsel von Präsenzund Distanzunterricht ist bei summarischer Prüfung auch im konkreten Fall verhältnismäßig.
aa) Die Maßnahmen verfolgen den legitimen Zweck der Reduzierung des Infektionsrisikos in der Schule. Zum einen soll dadurch der Schulbetrieb so gut wie möglich und so lange wie möglich aufrechterhalten werden. Zum anderen soll die Gesundheit der Schüler und Kinder sowie der Lehrkräfte und Betreuer geschützt werden.
bb) Die streitgegenständlichen Maßnahmen sind hierfür geeignet. Eine Maßnahme ist geeignet, wenn sie den verfolgten Zwecken dienlich ist. Die Maßnahme entspricht den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts, das auch bei Kindern und Jugendlichen die Wahrung eines Abstands von 1,5 Metern empfiehlt (vgl. Robert-Koch-Institut, Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2 / Krankheit COVID-19, Was ist über COVID-19 bei Schwangeren und Kindern beka…, Stand: 28.10.2020, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html?nn=13490888), da von einer vergleichbaren Infektionshäufigkeit und Infektiosität auszugehen ist wie bei Erwachsenen (vgl. Robert-Koch-Institut, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-krankheit-2019 (COVID 2019), Stand: 28.10.2020, 16. Kinder und Jugendliche, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/ Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html). Das RKI weist hier auch darauf hin, dass entsprechende Studien meist während oder im Anschluss an Kontaktbeschränkungen bzw. Lockdown-Situationen durchgeführt wurden, so dass die Übertragbarkeit auf den Alltag begrenzt ist bzw eine abschließende Bewertung nicht möglich ist. Die Maßnahmen enstprechen im Übrigen auch den Empfehlungen des RKI (Präventionsmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie, 12.10.2020, S. 10)
Kann der Mindestabstand aufgrund baulicher Gegebenheiten nicht eingehalten werden, ist eine Teilung der Klassen und ein damit verbundener Unterricht in Gruppen im Wechsel geeignet, das Infektionsrisiko zu minimieren, weil der physische Kontakt und das damit einhergehende Infektionsrisiko der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte im Schulbetrieb reduziert wird. Soweit die Antragsteller geltend machen, dass schulische Maßnahmen nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen wirkungslos seien, sind dem die obigen Ausführungen des RKI entgegenzuhalten. Insbesondere ist zu bedenken, dass viele Studien, die sich mit dem Infektionsgeschehen in Schulen auseinandersetzen, unter den Gegebenheiten des „Lockdowns“ zustande gekommen sind und damit das Infektionsgeschehen unter den Bedingungen eines regelmäßigen Schulbetriebs gerade nicht untersucht haben. Im Übrigen muss den für die Ausarbeitung des Rahmenhygieneplans Schulen verantwortlichen obersten Landesbehörden ein tatsächlicher Einschätzungsspielraum zugebilligt werden, den diese mit Blick auf die Aussagen des RKI nicht offensichtlich überschritten haben (zu § 16 Abs. 1 der 6. BayIfSMV vgl. BayVGH, B.v. 3.7.20202 - 20 NE 20.1443 - juris).
cc) Angesichts der Kontagiosität des Virus, des engen physischen Kontakts zwischen Kindern und Jugendlichen untereinander und des häufigeren symptomlosen bzw. milden Verlaufs stellen sich die Einführung des Mindestabstands ggf. mit Teilung der Klassen und Unterricht im Wechsel in der Schule und zu Hause als die wesentliche Schutzvorkehrung dar, um die Infektionsgefahr einzudämmen; andere, gleich wirksame Maßnahmen sind nicht ersichtlich (bez. des Mindestabstands BayVGH, B. v. 3.7.2020 - 20 NE 20.1443 - juris Rn. 42 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 12.6.2020 - 13 B 779/20.NE - juris Rn. 80 ff.).
Die von den Antragstellern in diesem Zusammenhang als mildere Mittel vorgeschlagenen Maßnahmen wie die Anordnung der Maskenpflicht, ein ausreichendes Lüften der Räumlichkeiten, vermehrte Aktivitäten im Freien sowie Quarantänemaßnahmen für Gruppen oder Klassen, in denen Coronavirusinfektionen auftreten, erscheinen angesichts der aktuellen Infektionslage und deren epidemiologischer Bewertung nicht (mehr) als gleich geeignete effektive Mittel, um in der jetzigen Situation die weitere Ausbreitung des neuartigen Coronavirus zu verlangsamen. Das Infektionsgeschehen ist nach plausibler Darstellung des Antragsgegners nicht auf bestimmte Infektionsherde beschränkt, sondern verteilt sich diffus in der Gesamtbevölkerung und flächig über den gesamten Landkreis. Insbesondere sind auch Schulen und Kindertageseinrichtungen betroffen. Die Inzidenzwerte hatten im Landkreis die Hunderter-Marke zwischenzeitlich überschritten und liegen derzeit bei 107,15 (LGL, Stand 28.10.2020), wobei zunehmend die Gefahr eines exponentiellen Anstiegs der Infektionen besteht, angesichts dessen eine Kontaktnachverfolgung nicht mehr zu gewährleisten ist. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner Maßnahmen ergreift, um Kontakte und Ansteckungen im schulischen Präsenzunterricht auszuschließen. Unter den dargelegten Umständen ist es nicht gleichermaßen effektiv, es in Schulen bei den ohnehin geltenden Maßnahmen der 7. BayIfSMV, insbesondere der Maskenpflicht auch im Unterricht, und den sonstigen Hygienemaßnahmen (Ziffer 4 des Rahmenhygieneplans Schulen) bewenden zu lassen. Die von den Antragstellern vorgeschlagenen Mittel werden allesamt bereits mehr oder weniger lange angewendet, ohne dass sich dadurch eine Trendwende bei den zu verzeichnenden Infektionszahlen ergeben hätte. Deshalb sind zusätzlich zu diesen sicherlich sinnvollen Maßnahmen das Infektionsgeschehen noch effektiver bekämpfende Maßnahmen erforderlich, um „vor die Lage“ zu kommen und nicht dem Infektionsgeschehen „hinterher zu eilen.“
dd) Schließlich erweisen sich die Maßnahmen auch als angemessen.
Die angeordneten Maßnahmen stehen nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs in die Rechte des Antragstellers zu 1. Zweifelhaft ist dabei schon, ob der Antragsteller zu 1 subjektiv-öffentliche Ansprüche auf unbeschränkten Präsenzunterricht nach einfachem Recht aufgrund des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungund Unterrichtswesen (BayEUG) hat. Dies ist angesichts des Befundes, dass die Rechtsnormen des BayEUG objektive Rechtssätze ohne subjektiv-öffentlichen Gehalt beinhalten, wohl zu verneinen (in diesem Sinne kritisch zu einfachgesetzlichen Ansprüchen BayVGH B.v. 3.7.20202 - 20 NE 20.1443 - juris,Rn 27 ff.). Im Übrigen hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (a.a.O.) auch schulrechtliche Bestimmungen der Bayerischen Verfassung auf ihren subjektiv-rechtlichen Gehalt geprüft und ihnen diesen im Allgemeinen abgesprochen. Dies hat auch für den von den Antragstellern angeführten Art. 131 BV zu gelten, der allgemein den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen festlegt, ohne bestimmte subjektive Rechte zu verleihen.
Wenn man zugunsten des Antragstellers davon ausgeht, dass die Maßnahmen sein Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und sein allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) im schulischen Bereich verletzen, sind sie jedenfalls gerechtfertigt.
Zum ersten lassen sich hieraus keine konkreten Pflichten entnehmen, die den Staat zu einem bestimmten Tätigwerden zwingen. Insoweit dürfte Art. 2 Abs. 1 GG in Bezug auf den Antragsteller zu 1 grundsätzlich nur einen Anspruch auf Teilhabe an den vorhandenen öffentlichen Bildungseinrichtungen undangeboten bzw. auf Zugang zu diesen unter zumutbaren Bedingungen und unter dem Vorbehalt des möglichen verleihen. Ein Anspruch auf Leistung im Sinne eines Verschaffungsanspruchs dürfte nur entstehen, wenn der Staat insoweit seine Pflichten evident verletzt, es mithin an dem notwendigen Minimum fehlen lässt (BayVGH, B.v. 3.7.20202 - 20 NE 20.1443 - juris,Rn 29 ff. mit Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
Allein aus diesem Grund scheidet ein Anspruch des Antragstellers zu 1 auf Beschulung im Präsenzunterricht nach dem oben Gesagten aus.
Diese Rechte gelten zum zweiten nicht unbeschränkt, sondern unterliegen einem Gesetzesvorbehalt und treten derzeit im Ergebnis gegenüber dem mit den Maßnahmen bezweckten Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) sowie dem staatlichen Unterrichtsauftrag zurück. Dabei ist insbesondere in Rechnung zu stellen, dass der angeordnete Mindestabstand mit der damit verbundenen Teilung der Klassen mit Unterricht im Wechsel einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, in der gegenwärtigen pandemischen Lage in Bayern erneute coronabedingte flächendeckende vollständige Schließungen von Schulen zu vermeiden. Die mit dem Wechsel von Präsenz- und Heimunterricht einhergehenden Einschränkungen sind insofern in Anbetracht eines grundsätzlich sicherzustellenden Schulbetriebs und der damit einhergehenden Gewährleistung wenigstens eines teilweisen Präsenzunterrichts und von Bildungsgerechtigkeit für alle Schülerinnen und Schüler nicht nur hinnehmbar, sondern dienen einem interessengerechten Ausgleich der betroffenen Rechte der Schüler.
Das Gericht verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass die betroffenen Schüler durch den Wegfall des täglichen persönlichen Kontakts mit den Mitschülern im Einzelfall seelisch leiden können. Unstreitig noch größere psychische negative Auswirkungen auf die Kinder würde aber eine vollständige Schließung von Schulen haben, die, wie ausgeführt, durch die Einführung des Unterrichts im Wechsel gerade vermieden werden soll.
Dagegen hält das Gericht die Befürchtung der Antragsteller für fernliegend, dass gerade durch den zeitlich befristeten Wechselunterricht die Chancen des Antragstellers zu 1, der die 2. Klasse einer Grundschule besucht, später einen Beruf mit speziellen Zugangsvoraussetzungen zu ergreifen, geschmälert werden. Die Berufsfreiheit des Antragstellers zu 1 ist durch die streitgegenständlichen Maßnahmen offenbar nicht berührt.
2.2. Hinsichtlich der Antragstellerin zu 2 wird mutatis mutandis auf die Ausführungen zu 2.1 verwiesen. Darüber hinaus wird folgendes ausgeführt:
Rechtsgrundlage in diesem Fall ist § 19 Abs. 1 Satz 1 der 7. BayIfSMV i.V.m. dem Rahmen-Hygieneplans Corona für die Kindertagesbetreuung und heilpädagogische Tagesstätten des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, gültig ab 1. September 2020. Auch dieser sieht in Ziffer 1.1 ein 3-Stufen-Modell von Zugangs- und Hygienemaßnahmen zur Wahrnehmung von Angeboten der Kindertagesbetreuung vor. Hiernach ist in Stufe 3 eine Reduktion der Gruppengröße und Notbetreuung nach Vorgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes vorgesehen.
Nachdem Stufe 3 im Landkreis F. erreicht ist, hat das Gesundheitsamt auch für den Bereich der Kindertagesstätten eine entsprechende Anordnung erlassen, die auch für diesen Bereich nicht zu beanstanden ist.
Im Kontext der Erforderlichkeit der Maßnahme kommt hier insbesondere zusätzlich zum Tragen, dass die aktive Mitwirkung der Kinder im betroffenen Alter durch Einhaltung von Abständen oder Mund-Nasen-Bedeckung nicht möglich und demzufolge im Rahmenhygieneplan auch nicht vorgesehen ist.
Soweit (auch) die Antragstellerin zu 2 unter Verweis auf die Corona-Kita-Studie, Ausgabe 09/ 2020, September 2020, ausführt, dass insbesondere von Kindergartenkindern kein signifikantes Infektionsrisiko ausgehe und die erfassten Ausbrüche das Personal, nicht aber die Kinder betraf, so ist dem erstens entgegenzuhalten, dass die Studie generell den Datenstand bis zum 21. September 2020 wiedergibt. So wird berichtet, dass bis zur 36. Kalenderwoche (1. Septemberwoche) 56 Covid-19-Ausbrüche von den Gesundheitsämtern gemeldet wurden, die als Infektionsumfeld Kita oder Hort angegeben haben. Die aktuelle Entwicklung, die von einem beschleunigten Infektionsgeschehen gekennzeichnet ist, bildet die Studie nicht ab.
Zweitens ergibt sich aus der Studie zwar, dass bis zur 36. Kalenderwoche 56 Covid-19-Ausbrüche im Kitaoder Hortumfeld gemeldet wurden. Hieraus resultierten 289 Fälle. In nur 36 dieser 56 Ausbrüche waren Kinder Teil des Ausbruchs und in diesen 36 Ausbrüchen waren nur 73 der hieraus resultierenden 199 Fälle Kinder im Alter von 0-5 Jahren. Die Mehrzahl der im Rahmen der Ausbrüche übermittelten Fälle betraf demnach Erwachsene. Aber auch in diesem Zusammenhang ist zu sehen, dass die entsprechenden Daten im Zeitraum von der 8. Kalenderwoche bis zur 36. Kalenderwoche erhoben worden sind und damit den Zeitraum erfassen, in dem bis auf wenige Wochen (5 Wochen vor dem „Lockdown“ zuzüglich Kalenderwoche 36) gar kein bzw. nur ein eingeschränkter Betrieb von Kindergärten und Horten stattfand. Valide Aussagen zum aktuellen Infektionsgeschehen in Kindergärten und Horten im Regelbetrieb sind der Studie demnach nicht zu entnehmen.
2.3 Hinsichtlich der Antragstellerin zu 3 wird ebenfalls auf die Ausführungen zu 2.1 verwiesen. Einen Eingriff durch die streitgegenständlichen Anordnungen in den Schutzbereich der Berufsfreiheit der Antragstellerin zu 3 aus Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz unterstellt, ist dieser Eingriff jedenfalls gerechtfertigt. Ein Anspruch auf Präsenzunterricht bzw. Präsenzbetreuung für ihre Kinder besteht deshalb nicht.
3. Die Anträge sind daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG) i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Nr. 1.1.3 und Nr. 1.5. Satz 2). Aufgrund der faktischen Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens unterbleibt dabei eine Reduzierung des Streitwerts gegenüber dem Hauptsacheverfahren um die Hälfte.
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die in der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 19. Oktober 2020 bzw. 22. Oktober 2020 angeordnete allgemeine Ausgangsbeschränkung Nr. 1 (2), (3), (4), die Betriebsuntersagung Nr. 3 (1), (2), (3), die Besuchsverbote (Nr. 4) und die Maskenpflicht im öffentlichen Raum (Nr. 6).
In der Allgemeinverfügung zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 im Landkreis Berchtesgadener Land aufgrund steigender Fallzahlen vom 19. Oktober 2020 (Amtsblatt Nr. 43a) wurde u.a. Folgendes angeordnet:
1. Allgemeine Ausgangsbeschränkungen
(1) Jeder wird angehalten, die physischen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. Wo immer möglich, ist ein Mindestabstand zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten.
(2) Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.
(3) Triftige Gründe im Sinne des Abs. 2 sind insbesondere:
1. die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,
2. die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen, der Besuch bei Angehörigen therapeutischer Berufe,
3. Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs und Einkauf in Ladengeschäften sowie die Inanspruchnahme sonstiger Dienstleistungen wie z. B. Friseurbesuche,
4. der Besuch bei Lebenspartnern, Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen (außerhalb von Einrichtungen) und die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts im jeweiligen privaten Bereich,
5. die Begleitung von unterstützungsbedürftigen Personen und Minderjährigen,
6. die Begleitung Sterbender und von Personen in akut lebensbedrohlichen Zuständen sowie Beerdigungen im engsten Familienkreis,
7. Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine, mit einer weiteren nicht im selben Hausstand lebenden Person oder mit Angehörigen des eigenen Hausstands und ohne jede sonstige Gruppenbildung und
8. Handlungen zur Versorgung von Tieren.
(4) Die Polizei ist angehalten, die Einhaltung der Ausgangsbeschränkung zu kontrollieren. Im Falle einer Kontrolle sind die triftigen Gründe durch den Betroffenen glaubhaft zu machen.
3. Betriebsuntersagungen
(1) Untersagt ist der Betrieb sämtlicher Einrichtungen, die nicht notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens, sondern der Freizeitgestaltung dienen. Hierzu zählen insbesondere Sauna- und Badeanstalten, Kinos, Tagungs- und Veranstaltungsräume, Clubs, Bars und Diskotheken, Spielhallen, Theater, Vereinsräume, Bordellbetriebe, Museen, Stadtführungen, Sporthallen, Sport- und Spielplätze, Fitnessstudios, Bibliotheken, Wellnesszentren, Thermen, Tanzschulen, Tierparks, Vergnügungsstätten, Wettannahmestellen, Fort- und Weiterbildungsstätten, Volkshochschulen, Musikschulen und Jugendhäuser, Jugendherbergen und Schullandheime. Untersagt werden ferner Reisebusreisen und Märkte. Davon ausgenommen sind Wochenmärkte.
(2) Untersagt sind Gastronomiebetriebe jeder Art. Dies gilt auch für Gaststätten und Gaststättenbereiche im Freien (z. B. Biergärten, Terrassen). Ausgenommen ist die Abgabe und Lieferung von mitnahmefähigen Speisen. Der Betrieb ist ab 20 Uhr einzustellen.
(3) Untersagt ist der Betrieb von Hotels und Beherbergungsbetrieben und die Zurverfügungstellung jeglicher Unterkünfte zu privaten touristischen Zwecken. Hiervon ausgenommen sind Hotels, Beherbergungsbetriebe und Unterkünfte jeglicher Art, die ausschließlich Geschäftsreisende und Gäste für nicht private touristische Zwecke aufnehmen.
4. Besuchsverbote
Untersagt wird der Besuch von
1. Krankenhäusern sowie Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, in denen eine den Krankenhäusern vergleichbare medizinische Versorgung erfolgt (Einrichtungen nach § 23 Abs. 3 Nr. 1 und 3 des Infektionsschutzgesetzes - IfSG); ausgenommen hiervon sind Geburts- und Kinderstationen für engste Angehörige sowie Palliativstationen und Hospize,
2. vollstationären Einrichtungen der Pflege gemäß § 71 Abs. 2 des Elften Buches Sozialgesetzbuch,
3. Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen im Sinne des § 2 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, in denen Leistungen der Eingliederungshilfe über Tag und Nacht erbracht werden,
4. ambulant betreuten Wohngemeinschaften nach Art. 2 Abs. 3 des Pflege- und Wohnqualitätsgesetzes zum Zwecke der außerklinischen Intensivpflege (IntensivpflegeWGs), in denen ambulante Pflegedienste gemäß § 23 Abs. 6a IfSG Dienstleistungen erbringen und
5. Altenheimen und Seniorenresidenzen.
Die Begleitung Sterbender oder von Personen in akut lebensbedrohlichen Zuständen durch den engsten Familienkreis ist abweichend von Satz 1 jederzeit zulässig.
6. Maskenpflicht im öffentlichen Raum
Auf den im Anhang rot gekennzeichneten öffentlichen Plätzen und Straßen gilt von 06:00 Uhr bis 23:00 Uhr die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Ebenfalls gilt an Bahnhöfen und Bushaltestationen diese Verpflichtung.
7. Bußgeld
Verstöße gegen diese Allgemeinverfügung stellen gemäß § 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit einer Geldbuße bis zu 25.000 € geahndet werden kann.
8. Geltungsdauer
Diese Allgemeinverfügung tritt mit Wirkung vom 20.10.2020, 14:00 Uhr in Kraft. Diese Allgemeinverfügung gilt zunächst bis 2.11.2020, 24.00 Uhr. Sie ersetzt die Allgemeinverfügung vom 13.10.2020.
Am 22. Oktober 2020 erließ der Antragsgegner eine weitere Allgemeinverfügung zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 im Landkreis Berchtesgadener Land aufgrund steigender Fallzahlen (Amtsblatt Nr. 43b) in der u.a.
in Nr. 1 (3) 6. nach den Wörtern (sowie Beerdigungen) die Wörter „im engsten Familienkreis“ und
in Nr. 3. (2) der Satz 3 („Der Betrieb ist ab 20 Uhr einzustellen.“) gestrichen wurden und
in Nr. 6 als Satz 3 der Satz „§ 1 Abs. 2 der 7. BayIfSMV bleibt unberührt.“ aufgenommen wurde.
In Nr. 8 wurde verfügt, dass diese Allgemeinverfügung mit Wirkung vom 23.10.2020, 00:00 Uhr in Kraft tritt, zunächst bis 2.11.2020, 24:00 Uhr gilt und die Allgemeinverfügung vom 19.10.2020 ersetzt.
Am 22. Oktober 2020 lag im Landkreis Berchtesgadener Land der 7-Tage-Inzidenzwert bei 292,7 (292,7 Infizierte pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen).
Mit am selben Tag bei Gericht eingegangenem Schreiben vom 24. Oktober 2020 erhob der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten beim Verwaltungsgericht München gegen die Allgemeinverfügung des Landrats vom 19. Oktober 2020 Anfechtungsklage (M 26a K 20.5371).
Zugleich beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die Allgemeinverfügung des Landrats vom 19. Oktober 2020 anzuordnen, soweit dies die Ziffer 1. (2), (3), (4), die Ziffer 3. (1), (2), (3) und die Ziffern 4. und 6. der Verfügung betrifft.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller im streitgegenständlichen Landkreis eine Gaststätte mit Herberge betreibe und auch dort wohnhaft sei. Die Klage sei zulässig, der Antragsteller sei klagebefugt i.S.v. § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), da er nach dem Adressatengedanken als Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes wenigstens in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) betroffen sei. Darüber hinaus könne er geltend machen, dass er in besonderen subjektiven Rechten betroffen sei. Durch die Betriebsuntersagung im Sinne der 3. (1) und 3. (2) sei er in seiner Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG, betroffen, durch die Ziffern 1. (1) sowie 1. (2), (3) sei er in der allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen sowie der Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 GG. Durch das Besuchsverbot in Krankenhäusern sei er sowohl auf aktiver Seite in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit betroffen (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie auf passiver Seite aus seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, da Krankenbesuche der Genesung nachweislich zuträglich sind. Da diese Regelungen auch den Besuch von Verwandten betreffen können, sei er zudem in seinen Rechten aus Art. 6 Abs. 1 GG betroffen. Durch die Pflicht, einen Mund-Nasen-Schutz auch in der Öffentlichkeit zu tragen, sei er zudem in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG betroffen sowie möglicherweise aus seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, da gesundheitliche Schäden durch die Maske ernsthaft zu besorgen seien. Soweit es das Besuchsrecht im Krankhaus, die Maskentragepflicht und das Veranstaltungsgebot betreffe, sei er auch ohne konkret vorliegende Fallgestaltung klagebefugt, da Zuwiderhandlungen gemäß Ziffer 7 eine Ordnungswidrigkeit darstellen würden und es ihm daher nicht zumutbar sei, einen Verstoß gegen diese Verfügung abzuwarten, um dann im Rahmen seiner Verteidigung gegen staatliche Verfolgung die Rechtswidrigkeit der Verfügung geltend zu machen. Wegen der Unbestimmtheit verwendeter Rechtsbegriffe in der Verordnung komme zudem ein Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Bestimmtheitsgebot, Art. 20 Abs. 3 GG, in Betracht. Zudem kämen auch und gerade Verletzungen gegen subjektive Rechte aus einfachem Recht in Betracht, insbesondere wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot, Art. 37 BayVwVfG, sowie die aus dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) und der durch die 7. Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (7. BayIfSMV) vermittelten Rechte in Betracht.
Die Allgemeinverfügung sei rechtswidrig, weil sie eine abstrakt-generelle Regelung zur Gefahrenabwehr treffe, was Rechtsverordnungen und Parlamentsgesetzen vorbehalten sei. Eine konkrete Gefahr liege nicht vor. Dass sich der Antragsgegner auf die Inzidenzzahlen berufe, sei ein deutlicher Indikator dafür, dass es sich vorliegend um die Bekämpfung einer abstrakten Gefahr handele. Für die Maßgeblichkeit der Inzidenzzahlen bestehe im Übrigen auch keinerlei wissenschaftliche Evidenz. Die Allgemeinverfügung sei wegen Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt und den Wesentlichkeitsgrundsatz und aufgrund fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig.
Mit Schreiben vom 26. Oktober 2020 beantragte der Antragsgegner,
den Antrag abzulehnen.
Rechtsgrundlage für die Allgemeinverfügung sei § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG i.V.m. § 27 der 7. BayIfSMV. Die Voraussetzungen des Art. 35 Satz 2 Altern. 1 BayVwVfG lägen vor. Formelle Mängel seien in der aktuellen Fassung der Allgemeinverfügung vom 22. Oktober 2020 nicht ersichtlich. Die Ermessensausübung sei ordnungsgemäß erfolgt. Der Allgemeinverfügung lägen sachgerechte Erwägungen zugrunde, auf Basis derer die betroffenen Grundrechte der Adressaten abgewogen und berücksichtigt worden seien. Der Antragsteller könne keine Rechtsverletzung geltend machen; in der Antragsbegründung finde sich nirgends eine konkrete Beeinträchtigung, die über Pauschalaussagen hinausgehen würden.
Mit Telefax vom 27. Oktober 2020 bat das Gericht den Antragstellerbevollmächtigten, umgehend näher darzulegen, inwiefern dieser eine Gaststätte mit Herberge betreibe, da sich dies zumindest aus der angegebenen Homepage des Gasthofs S. nicht ergibt; vielmehr sei im dortigen Impressum als Inhaber eine Familie S. und als Vertretungsberechtigte Frau H. S. benannt. Zugleich wies das Gericht darauf hin, dass sich die Maskenpflicht auf von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde festgelegten stark frequentierten öffentlichen Plätzen bereits direkt aus § 24 Satz 2 Nr. 1 der 7. BayIfSMV i.d.F. v. 22.10.2020 ergebe, über deren Gültigkeit in Bayern auf Antrag der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, der ebenso für den Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Antrag zuständig sei, entscheide (§ 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 VwGO i.V.m. Art. 5 Satz 1 AGVwGO).
Eine Stellungnahme hierzu erfolgte nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, insbesondere die umfangreiche Antragsschrift und die Antragserwiderung, Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist teilweise bereits unzulässig, im Übrigen unbegründet und hat daher keinen Erfolg.
1. Nachdem die vom Antragsteller - dem Wortlaut des Antrags und der Klage nach -angegriffene Allgemeinverfügung vom 19. Oktober 2020 durch die Allgemeinverfügung vom 22. Oktober 2020 ersetzt wurde, im Wesentlichen aber - abgesehen von der Begründung und den oben, im vorliegenden Verfahren einschlägigen angeführten Änderungen - gleich geblieben ist, ist der Antrag gemäß § 122 Abs. 1, § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass er sich gegen die von ihm angegriffenen Anordnungen in der aktuell geltenden Fassung der Allgemeinverfügung wendet.
2. Der so ausgelegte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage im beantragten Umfang, also soweit dies die Nr. 1. (2), (3), (4), die Nr. 3. (1), (2), (3) und die Nummern 4. und 6. der Allgemeinverfügung betrifft, ist statthaft, da Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung entfalten (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 28 Abs. 1, Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG).
Soweit der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage gegen Nr. 1 (4 Satz 1), Nr. 3. (1), (2), (3) und Nr. 4. der Allgemeinverfügung begehrt, ist der Antrag bereits unzulässig, da dem Antragsteller die auch im Eilverfahren erforderliche Antragsbefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO analog, die der Klagebefugnis im Hauptsacheverfahren entspricht, nicht zusteht. Eilrechtsschutz soll nämlich nur derjenige in Anspruch nehmen können, der ein zulässiges Hauptsacheverfahren einleiten kann.
2.1. Nach Rechtsprechung und herrschender Lehre genügt dabei die Möglichkeit einer behaupteten Rechtsverletzung (sog. Möglichkeitstheorie, vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 42 Rn. 112). Die Darlegung muss grundsätzlich substantiiert sein, wobei keine strengen Anforderungen zu stellen sind (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 42 Rn. 175). Erforderlich sind vor allem Ausführungen in tatsächlicher Hinsicht, warum, wodurch und in welchen Rechten sich der Kläger betroffen fühlt (Eyermann/Happ, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 42 Rn. 113). Die Darlegungslast bezieht sich primär auf die Darlegung der die Rechtsverletzung begründenden Tatsachen.
Soweit der Betroffene Adressat eines Verwaltungsakts ist, der ihm ein Handeln, Unterlassen oder Dulden gebietet, ergibt sich aus dem zumindest durch das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG begründeten umfassenden Schutz seiner Freiheitssphäre grundsätzlich stets die Möglichkeit einer Rechtsverletzung (Eyermann/Happ, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 42 Rn. 91; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 42 Rn. 69).
Vorliegend ist jedoch zu beachten, dass sich die angefochtenen Regelungen in Nr. 3. (1), (2), (3) und Nr. 4. der Allgemeinverfügung zwar formal auch an den Antragsteller richten, da dieser im Landkreis Berchtesgadener Land wohnhaft und er den für diesen Landkreis geltenden Regelungen bei Erfüllung ihres Tatbestandes als Adressat unterworfen ist. Im Falle einer Allgemeinverfügung ist jeder Betroffene jedoch nur im Hinblick auf die ihn materiell betreffende Regelung, nicht schlechthin gegen die Allgemeinverfügung als solche oder die materiell andere Personen betreffenden Regelungen, klagebefugt (Kopp/Schenke, a.a.O., § 42 Rn. 21, 170; VG Würzburg, B. v. 16.9.2020 - W 8 E 20.1298 - juris Rn. 14, VG München, B.v. 29.09.2020 - M 26b S 20.4628 - juris Rn. 14).
In diesem Fall reicht es nicht aus, dass der Antragsteller nur formal Adressat einer Regelung sein könnte, sondern er muss, damit auch hier Popularklagen ausgeschlossen werden, darlegen, inwieweit er in seiner konkreten Situation als Angehöriger der konkret adressierten Gruppe durch die angefochtenen Regelungen materiell betroffen ist. Er muss hinreichend substantiiert Tatsachen vortragen, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die angegriffenen Regelungen oder deren Anwendung in eigenen Rechten verletzt wird (so BayVGH, B.v. 28.9.2020 - 20 NE 20.2142 - juris Rn. 16 für die Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren unter Verweis auf BVerwG, B.v. 17.7.2019 - 3 BN 2.18 - NVwZ-RR 2019, 1027 - juris Rn. 11).
2.2. Gemessen daran hat der Antragsteller nicht dargelegt, dass er von den Regelungen in Nr. 1 (4 Satz 1), Nr. 3. (1), (2), (3) und Nr. 4. der Allgemeinverfügung in seiner konkreten Situation aktuell und mehr als nur potentiell betroffen ist.
Von Nr. 1 (4 Satz 1) der Allgemeinverfügung ist der Antragsteller bereits insoweit nicht betroffen, als dass diese Vorschrift, wonach die Polizei angehalten ist, die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen zu kontrollieren, keine ihm gegenüber getroffene Regelung enthält.
Im Hinblick auf Nr. 3 (1) der Allgemeinverfügung hat der Antragsteller nicht dargelegt, am Besuch welcher der dort genannten Einrichtungen er im Zeitraum der Gültigkeit der Allgemeinverfügung gehindert wäre.
Dass es sich bei dem Antragsteller um einen Betreiber eines Gastronomiebetriebs oder eines Hotels oder Beherbergungsbetriebs handelt, wurde zwar in der Antragsschrift behauptet, auf gerichtliche Nachfrage aber nicht näher belegt. Zumindest aus der angegebenen Homepage des vom Antragsteller benannten Gasthofs ergibt sich dies nicht; vielmehr ist im dortigen Impressum als Inhaber eine Familie S. und als Vertretungsberechtigte Frau H. S. benannt. Insofern ist nicht ersichtlich, dass die streitgegenständlichen Anordnungen in Nr. 3 (2) und (3) der Allgemeinverfügung den Antragsteller in seiner Berufsfreiheit beschränken könnten (Art. 12 Abs. 1 GG). Im Übrigen läge kein vollständiges Berufsverbot, sondern lediglich ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit vor, da die Untersagungen zeitlich befristet sind und die Abgabe und Lieferung mitnahmefähiger Speisen unberührt lässt. Ebenso kann sich der Antragsteller nicht auf eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG mit der Begründung berufen, dass es keine Rechtfertigung für die in Nr. 3 (3) der Allgemeinverfügung vorgenommene Ungleichbehandlung von Touristen und Geschäftsreisende gibt, da der Antragsteller weder dargelegt hat, Betreiber eines Hotels oder Beherbergungsbetriebes zu sein oder Unterkünfte zu privaten touristischen Zwecken zur Verfügung zu stellen oder stellen zu wollen, noch dass er selbst als Tourist von dieser Anordnung betroffen wäre.
In Bezug auf die Besuchsverbote (Nr. 4 der Allgemeinverfügung) hat der Antragsteller ebenfalls nur allgemeine Ausführungen gemacht. Er hat nicht dargelegt, dass er selbst während der Gültigkeit der Allgemeinverfügung in einer der in Nr. 4 genannten Einrichtungen untergebracht wäre oder werden würde, oder dass er dort untergebrachte Personen während des Gültigkeit der Allgemeinverfügung besuchen möchte, was ihm aufgrund der Regelung verwehrt sei.
3. Soweit der Antrag zulässig ist, ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage jedoch unbegründet und war daher abzulehnen.
3.1. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall eines gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob diejenigen Interessen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen (beispielsweise BVerwG B.v. 25.3.1993 - 1 ER 301/92 - NJW 1993, 3213, juris Rn. 3). Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt voraussichtlich erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
3.2. Vor diesem Hintergrund überwiegt vorliegend das Vollzugsinteresse des Antragsgegners, da im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, da die angegriffene Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 22. Oktober 2020 aller Voraussicht nach rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3.2.1. Zur Zulässigkeit der Anfechtungsklage, insbesondere zur Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO wird auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen.
3.2.2. Soweit die Anfechtungsklage die Nr. 1. (2), (3), (4 Satz 2) und die Nr. 6. der Allgemeinverfügung betrifft, hat die Klage in der Sache voraussichtlich keinen Erfolg.
3.2.2.1. Das Gericht geht aufgrund der nur möglichen vorläufigen Prüfung davon aus, dass die angegriffenen Regelungen ihre Grundlage in § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG finden, wobei Schutzmaßnahmen im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG auch in Form der Allgemeinverfügung ergehen können (BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 - juris Rn. 9; B. v. 1.9.2020 - 20 CS 20.1962 - juris Rn. 24).
Die Befugnis zu Anordnungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG wird auch nicht durch die Regelungen der 7. BayIfSMV verdrängt, da diese nicht abschließender Natur sind, wie § 27 der 7. BayIfSMV vom 1. Oktober 2020 in der im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aktuell gültigen Fassung vom 22. Oktober 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 601) zeigt, wonach weitergehende Anordnung zulässig sind.
Der Einwand des Antragstellers, § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG stelle keine hinreichende Rechtsgrundlage (mehr) dar, um weitreichende Grundrechtseingriffe wie in die in der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung verfügten Anordnungen zu rechtfertigen, da die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Bestimmtheit, Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitsgebot nicht gewahrt seien, verfängt jedenfalls im Eilverfahren bei summarischer Prüfung derzeit nicht. Dabei ist zu sehen, dass die Rechtsgrundlage in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein muss, sondern von Verfassung wegen nur hinreichend bestimmt zu sein hat. Daher genügt es, dass sich die gesetzlichen Vorgaben mithilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Entstehungsgeschichte der Norm. Welche Anforderungen an das Maß der erforderlichen Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind, lässt sich aber nicht allgemein festlegen. Zum einen kommt es auf die Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen an. Je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die von einer Rechtsverordnung potentiell Betroffenen sind, desto strengere Anforderungen gelten für das Maß der Bestimmtheit sowie für Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung. Zum anderen hängen die Anforderungen von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab, insbesondere davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachverhalt einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Insoweit ist im Rahmen der Pandemiebekämpfung zu sehen, dass sich nicht von vorneherein bestimmen lässt, welche Schutzmaßnahmen im Einzelfall in Betracht kommen (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE20.632 - juris Rn. 40 ff.). Die stets sich verändernde Pandemielage und die fortschreitende Entwicklung medizinischer und epidemiologischer Erkenntnisse erfordern eine stete Anpassung verschiedener, im vorneherein nicht abschließend bestimmbarer Maßnahmen. Der Gesetzgeber selbst hat dazu sinngemäß ausgeführt, dass eine generelle Ermächtigung geboten sei, um für alle Fälle gewappnet zu sein (vgl. BT Drs. 8/2468 S. 27 f.). Das Gericht geht daher davon aus, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsgrundlage noch gewahrt sind.
3.2.2.2. Formelle Mängel der Allgemeinverfügung - etwa Bekanntmachungsmängel - wurden nicht vorgetragen und sind bei summarischer Prüfung auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere trat die Allgemeinverfügung, die am 22. Oktober 2020 bekannt gegeben wurde, im Einklang mit Art. 41 Abs. 4 Satz 4 BayVwVfG erst am 23. Oktober 2020 in Kraft.
3.2.2.3. Die Allgemeinverfügung ist in dem vorliegend vom Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage umfassten Umfang (allgemeine Ausgangsbeschränkung und Maskenpflicht) voraussichtlich auch materiell rechtmäßig.
(1) Die allgemeinen Voraussetzungen des Art. 35 Satz 2 Alt. 1 BayVwVfG für den Erlass einer personenbezogenen Allgemeinverfügung sind gegeben. Die personenbezogene Allgemeinverfügung richtet sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten Kreis von Adressaten aus Anlass einer bestimmten konkreten Situation. Eine solche konkrete Situation ist - entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten des Antragstellers - in der Corona-Pandemie und in dem extrem hohen Inzidenzwert (292,7 Infizierte pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen am 22.10.2020) im Landkreis Berchtesgadener Land zu sehen, der ein Tätigwerden der Behörde erforderlich macht, um das Infektionsgeschehen effektiv einzudämmen. Bei den Anordnungen in Nr. 1. (2), (3), (4 Satz 2) und 6. der Allgemeinverfügung handelt es sich aufgrund des räumlich und zeitlich begrenzten Geltungsumfangs um die Regelung eines Einzelfalls für einen bestimmbaren Personenkreis und damit um eine konkret-generelle Regelung.
Im Hinblick auf die Anordnung in Nr. 6 der Allgemeinverfügung ist jedoch zu beachten, dass darin seitens des Antragsgegners lediglich die stark frequentierten öffentlichen Plätze i.S. v. § 24 Satz 2 Nr. 1 der 7. BayIfSMV i.d.F. v. 22.10.2020 festgelegt wurde. Die Maskenpflicht an sich ergibt sich direkt aus § 24 Satz 2 Nr. 1 der 7. BayIfSMV.
(2) Tatbestandlich setzt § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG lediglich voraus, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war.
Diese Voraussetzungen liegen dem Grunde nach angesichts der anhaltenden SARS-CoV-2-Pandemielage unzweifelhaft vor. Das Virus SARS-CoV-2 ist ein Krankheitserreger im Sinne von § 2 Nr. 1 IfSG, der zur Lungenkrankheit COVID-19, einer übertragbaren Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 3 IfSG führen kann. Nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts, dem der Gesetzgeber im Bereich des Infektionsschutzes mit§ 4 IfSG besonderes Gewicht eingeräumt hat (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris Rn. 13; BayVerfGH, E.v. 26.3.2020 - Vf. 6-VII-20 - juris Rn. 16), handelt es sich bei der COVID-19-Pandemie weltweit und in Deutschland um eine dynamische und ernst zu nehmende Situation, wobei die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch, für Risikogruppen als sehr hoch einzuschätzen ist. Intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen bleiben nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Die massiven Anstrengungen auf allen Ebenen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Es ist laut Robert Koch-Institut (RKI) von entscheidender Bedeutung, die Zahl der Erkrankten so gering wie möglich zu halten und Ausbrüche zu verhindern. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (https://www.rki.de/DE/ Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand 26.10.2020).
Weitere tatbestandliche Voraussetzungen für ein Tätigwerden der zuständigen Behörde enthält § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht. Die niedrige Eingriffsschwelle der Norm ist auch nicht auf Tatbestandsebene, sondern im Einzelfall ggf. auf der Ermessensebene zu kompensieren, indem an die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme je nach deren Eingriffstiefe erhöhte Anforderungen zu stellen sind (BayVGH, B. v. 1.9.2020 - 20 CS 20.1962 - juris Rn. 24).
(3) Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen - das „Wie“ des Eingreifens - ist der Behörde durch § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG ein Ermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass nur „notwendige Schutzmaßnahmen“ in Betracht kommen, also Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (BVerwG, U.v. 22.3.2012 - 3 C 16/11 - BVerwGE 142, 205 - juris Rn. 24).
(a) Das Gericht hat keinen Zweifel an der Notwendigkeit der im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Anordnungen in Nr. 1. und Nr. 6 der Allgemeinverfügung. Der Antragsgegner nimmt insoweit zu Recht Bezug auf den extremen Anstieg des Inzidenzwerts auf weit über 250 (Stand: 22. Oktober 2020). Damit hatte der Landkreis Berchtesgadener Land den Spitzenplatz in der Liste der höchsten Inzidenzwerte in der Bundesrepublik Deutschland erreicht. Am 26. Oktober 2020 lag der Inzidenzwert laut Robert Koch-Institut immer noch bei 237 und übersteigt damit um ein Vielfaches die Werte von 35, 50 bzw. 100, ab denen die 7. BayIfSMV (n.F.) besondere Regelungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens vorsieht. Stand 28. Oktober 2020 stieg der 7-Tage-Inzidenz-Wert für das Berchtesgadener Land nach Berechnungen des Gesundheitsamts sogar auf 323,8 (https://www.lra-bgl.de/t/das-landratsamt/aktuelles/details/news/der-landkreis-bereitet-sich-auf-das-coronavirus-vor0/).
Soweit vom Antragsteller vorgebracht wurde, dass die Testzahlen insoweit unergiebig seien, weil ein positiver Test nicht zwischen Krankheit und bloßem Vorhandensein viraler Moleküle unterscheide, und er sich damit gegen die Feststellung von COVID-19-Fällen mittels eines PCR-Tests wendet, ist hierzu auszuführen, dass es sich bei einem PCR-Test um einen Test zum direkten Erregernachweis, der zur Diagnostik einer Vielzahl von Infektionskrankheiten eingesetzt wird, handelt (Österreichisches Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Laborbefund: Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR), https://www.gesundheit.gv.at/labor/laborbefund/polymerase-ketten-reaktion). Dieser wird sowohl vom Robert-Koch-Institut (Hinweise zur Testung von Patienten auf Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2, Stand: 24.9.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html) als auch von der Weltgesundheitsorganisation (Laboratory testing for coronavirus disease (COVID-19) in suspected human cases, Interim guidance 19 March 2020, https://www.who.int/publications-detail/laboratory-testing-for-2019-novel-coronavirus-in-suspected-human-cases-20200117) auch bei SARS-CoV-2 als geeigneter Test zum Nachweis einer Infektion angesehen. Die Richtigkeit des Ergebnisses von diagnostischen Tests hängt neben deren Qualitätsmerkmalen und der Qualität von Probennahme, Transport, Durchführung und Befundung auch von der Verbreitung einer Erkrankung/eines Erregers in der Bevölkerung beeinflusst wird (positiver und negativer Vorhersagewert). Je seltener eine Erkrankung ist und je ungezielter getestet wird, umso höher sind die Anforderungen an die Sensitivität (= die Empfindlichkeit) und die Spezifität (die Zielgenauigkeit des Tests, also wie wahrscheinlich es ist, dass nur der gesuchte Erreger sicher erkannt wird) der zur Anwendung kommenden Tests. Ein falsch-positives Testergebnis bedeutet, dass eine Person ein positives Testergebnis bekommt, obwohl keine Infektion mit SARS-CoV-2 vorliegt. Aufgrund des Funktionsprinzips von PCR-Tests und hohen Qualitätsanforderungen liegt die analytische Spezifität bei korrekter Durchführung und Bewertung bei nahezu 100%. Im Rahmen von qualitätssichernden Maßnahmen nehmen diagnostische Labore an Ringversuchen teil. Die bisher erhobenen Ergebnisse spiegeln die sehr gute Testdurchführung in deutschen Laboren wider (siehe www.instand-ev.de). Die Herausgabe eines klinischen Befundes unterliegt einer fachkundigen Validierung und schließt im klinischen Setting Anamnese und Differentialdiagnosen ein. In der Regel werden nicht plausible Befunde in der Praxis durch Testwiederholung oder durch zusätzliche Testverfahren bestätigt bzw. verworfen (siehe auch: www.rki.de/covid-19-diagnostik). Bei korrekter Durchführung der Teste und fachkundiger Beurteilung der Ergebnisse geht das RKI demnach von einer sehr geringen Zahl falsch positiver Befunde aus, die die Einschätzung der Lage nicht verfälscht (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 07.09.2020).
Der Antragsgegner hatte daher begründeten Anlass, einem weiteren Anstieg des Infektionsgeschehens durch weitere, eigene Maßnahmen entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck hat er ein Maßnahmenpaket geschnürt, welches erkennbar darauf gerichtet ist, Kontakte auf das notwendigste Maß zu beschränken und damit die Weiterverbreitung des Virus einzudämmen. Bestandteil dieses Maßnahmenpakets sind auch die streitgegenständlichen Anordnungen.
Im Hinblick auf Nr. 6 der Allgemeinverfügung wurde seitens des Antragsgegners lediglich die stark frequentierten öffentlichen Plätze i.S. v. § 24 Satz 2 Nr. 1 der 7. BayIfSMV i.d.F. v. 22.10.2020 festgelegt. Die Maskenpflicht an sich ergibt sich bereits direkt aus § 24 Satz 2 Nr. 1 der 7. BayIfSMV. Die Ausführungen des Antragstellers zur fehlenden Notwendigkeit der Anordnung der Maskenpflicht gehen insoweit ins Leere. Dass der Antragsgegner nicht stark frequentierte öffentliche Plätze als solche festgelegt hätte, wurde weder vorgetragen noch ist dies sonst ersichtlich.
(b) Zudem genügen die Anordnungen auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
(aa) Der legitime Zweck der Anordnungen liegt in der zeitlichen und räumlichen Verlangsamung der Ausbreitung von SARS-CoV-2, indem infektionsbegünstigende physische Kontakte eingeschränkt werden, um so eine Überlastung des Gesundheitssystems und das Risiko einer erhöhten Sterblichkeit Betroffener zu verhindern. Ebenso soll zudem auch ein sog. Contact Tracing ermöglicht bleiben.
(bb) Die getroffenen Maßnahmen sind auch als geeignete Mittel anzusehen. Dabei reicht es nach allgemeinen ordnungsrechtlichen Grundsätzen aus, dass die einzelne Maßnahme zur Zweckerreichung beiträgt (vgl. BVerwG, U.v. 2.8.2012 - 7 CN 1.11 - juris Rn. 29, BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 S 20.1821 - juris Rn. 27). Es ist demnach gerade nicht erforderlich, dass eine Maßnahme allein den Zweck erreichen kann.
Generell gilt, dass eine Reduzierung von physischen Kontakten ein wesentliches Mittel zur Eindämmung des Infektionsgeschehens ist. Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass nach Einschätzung des Gesundheitsamtes Berchtesgadener Land im dortigen Landkreis die hohe Inzidenzzahl nicht auf ein oder mehrere Einzelereignisse beruht, sondern ein diffuses Infektionsgeschehen vorliegt, was plausibel und nachvollziehbar erscheint und im Einklang mit den Feststellungen des Robert Koch-Instituts (vgl. den täglichen Situationsbericht vom 26. Oktober 2020, Seite 7), wonach es sich in den meisten Kreisen „um ein diffuses Geschehen, mit zahlreichen Häufungen im Zusammenhang mit privaten Feiern im Familien- und Freundeskreis“ handele (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-26-de.pdf? blob=publicationFile).
Dadurch, dass das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt ist, werden naturgemäß die zustande kommenden physischen Kontakte minimiert. Die allgemeine Ausgangsbeschränkung ist Teil eines Maßnahmenpakets, das auf Kontaktreduzierung ausgerichtet und damit geeignet ist, die Infektionsgefahr im Rahmen der Pandemiebekämpfung zu verringern und eine Ausbreitung des Coronavirus zu verzögern.
cc) Die Anordnungen sind auch erforderlich. Gleich geeignete, den Adressatenkreis der Anordnungen weniger belastende Maßnahmen sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Der außerordentlich hohe Inzidenzwert im Landkreis Berchtesgadener Land erfordert eine effektive Strategie, um eine wirksame Eindämmung des Infektionsgeschehens zu erreichen. Die steigenden Infektionszahlen haben gezeigt, dass das bisherige Maßnahmenbündel, wie es sich aus der 7. BayIfSMV ergibt, nicht mehr ausreichend ist. Dies wird auch aus dem im Rahmen der Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 28. Oktober 2020 getroffenen Beschluss ersichtlich, nach dem ab dem 2. November 2020 deutschlandweit zusätzliche Maßnahmen in Kraft treten sollen, wobei als wichtigste Maßnahme das Abstandhalten und die Verringerung von Kontakten genannt ist.
(dd) Schließlich sind die verfügten Regelungen auch angemessen (verhältnismäßig in engerem Sinne).
Durch die getroffenen Regelungen in Nr. 1 (2) i.V.m. (3) und (4 Satz 2) ist der Antragsteller als deren Adressat in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, betroffen, da es ihm untersagt ist, bei Vorliegen nichttriftiger Gründe die eigene Wohnung zu verlassen. In diesem Zusammenhang ist jedoch bereits zu berücksichtigen, dass die triftigen Gründe in Nr. 1 (3) nicht abschließend aufgeführt sind, was sich aus dem Wort „insbesondere“ ergibt. Aufgrund der beispielhaften Aufzählung triftiger Gründe lässt sich mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, dass triftige Gründe - selbst wenn sie von der beispielhaften Aufzählung nicht umfasst sein sollten - jedenfalls dann vorliegen, wenn unaufschiebbare gesundheitliche, private oder berufliche Belange von erheblichem Gewicht eine Ausnahme von Ausgangsverbot rechtfertigen (BayVGH, B.v. 30.03.2020 - 20 NE 20.632 - juris Rn. 62).
Entgegen den Ausführungen des Bevollmächtigten stellen die streitgegenständlichen Anordnungen keine freiheitsentziehenden Maßnahmen i.S.v. Art. 104 GG dar, da mit der Ausgangsbeschränkung keine volle Freiheitseinschränkung wie die Einschließung auf engem Raum verbunden ist. Auch die Freiheit der Person i.S.v. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist nicht verletzt, da der Antragsteller durch die Ausgangsbeschränkungen nicht in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist.
Soweit Rechte des Antragstellers (Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen sind, gelten diese allerdings nicht uneingeschränkt. Vielmehr finden sie ihre Grenzen in einfach gesetzlichem Recht respektive in kollidierendem Verfassungsrecht und treten in der Abwägung gegenüber dem mit der Allgemeinverfügung bezweckten Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) zurück.
Dies ist hier im Hinblick auf den angestrebten Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung sowie des Funktionierens des Gesundheitssystems zu bejahen. In Anbetracht der überragenden Bedeutung des Rechts auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die es vor einer ungebremsten Ausbreitung der COVID-19-Erkrankung zu schützen gilt, um eine Vielzahl von teils schweren Erkrankungen und Todesfällen sowie eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, und angesichts der zeitlich begrenzten Geltungsdauer der Regelungen bis 2. November 2020 überwiegen die mit den ausgesprochenen Anordnungen verfolgten öffentlichen Interessen und der Schutz der Grundrechte Dritter die Interessen des Antragstellers.
c) Selbst, wenn das Gericht von offenen Erfolgsaussichten der Klage ausgehen würde, käme eine Interessenabwägung zu keinem anderen Ergebnis.
Im Rahmen der zu treffenden Güterabwägung ist der Nachteil, den die streitgegenständlichen Anordnungen dem Antragsteller auferlegt, nicht schwerer zu gewichten als das entgegenstehende öffentliche Interesse. Den Rechten des Antragstellers aus Art. 2 Abs. 1 GG stehen der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens gegenüber. Bei einer Abwägung eines zeitlich befristeten Eingriffs in das Grundrecht des Antragstellers mit dem Grundrecht behandlungsbedürftiger, teilweise lebensbedrohlich erkrankender Personen setzt sich der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Da das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung abzielt, erscheint eine Reduzierung des Streitwerts auf der Grundlage von Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht angebracht.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1I.
2Die Antragstellerin betreibt drei zusammenhängende gastronomische Einrichtungen in C. . Sie begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung von § 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 3 und 4 der Zweiten Verordnung (vom 16. Oktober 2020, GV. NRW. S. 978a) zur Änderung der Coronaschutzverordnung (CoronaSchVO) vom 30. September 2020 (GV. NRW. S. 923).
3§ 15a CoronaSchVO hat den folgenden Wortlaut:
4§ 15a
5Regionale Anpassungen an das Infektionsgeschehen
6(1) Die nach dem Landesrecht für Schutzmaßnahmen nach § 28 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes zuständigen Behörden beobachten mit Unterstützung des Landeszentrums Gesundheit fortlaufend das lokale, regionale und landesweite Infektionsgeschehen. Ein wesentlicher Indikator ist dabei die Zahl der Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen bezogen auf 100.000 Einwohner (7-Tages-Inzidenz).
7(2) Liegt die 7-Tages-Inzidenz nach den täglichen Veröffentlichungen des Landeszentrums Gesundheit bezogen auf einen Kreis oder eine kreisfreie Stadt über dem Wert von 35 und ist das Infektionsgeschehen nicht ausschließlich auf bestimmte Einrichtungen o.ä. zurückzuführen und einzugrenzen, stellt der betroffene Kreis oder die kreisfreie Stadt am ersten Werktag, für den der entsprechende Inzidenzwert festgestellt wird, durch Allgemeinverfügung für ihr Gebiet das Erreichen der Gefährdungsstufe 1 fest. Liegt die 7-Tages-Inzidenz nach Satz 1 über dem Wert von 50, stellt der betroffene Kreis oder die kreisfreie Stadt das Erreichen der Gefährdungsstufe 2 fest. Die Feststellungen der Gefährdungsstufen 1 und 2 können erst aufgehoben werden, nachdem die jeweiligen Grenzwerte der 7-Tages-Inzidenz über einen Zeitraum von sieben aufeinanderfolgenden Tagen unterschritten wurden. Kreise können das Gebiet einzelner Gemeinden von der Feststellung ausdrücklich ausnehmen, wenn dort gesichert ein signifikant geringeres Infektionsgeschehen unterhalb der jeweiligen Grenzwerte festzustellen ist und eine Verbreitung des Infektionsgeschehens in diese Gemeinden – gerade bei Umsetzung der verschärften Schutzmaßnahmen im restlichen Kreisgebiet – ausgeschlossen erscheint.
8(3) Mit der Feststellung der Gefährdungsstufe 1 treten in den jeweiligen Kommunen die folgenden Regelungen in Kraft:
91. Veranstaltungen und Versammlungen im Sinne der §§ 4, 6, 7, 8, 9 und 13 sowie Kongresse mit mehr als 1.000 Personen sind unzulässig,
102. abweichend von § 13 Absatz 5 Satz 2 dürfen ab dem 19. Oktober 2020 an Festen höchstens 25 Personen teilnehmen,
113. abweichend von § 2 Absatz 3 Satz 1 Nummer 1, 1a und 3a besteht die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung auch am Sitz- oder Stehplatz in geschlossenen Räumlichkeiten bei Konzerten und Aufführungen und sonstigen Veranstaltungen und Versammlungen nach § 13 Absatz 1 und 2, soweit dies nicht mit der Tätigkeit (zum Beispiel als Moderator, Vortragender) unvereinbar ist, sowie als Zuschauer von Sportveranstaltungen,
124. abweichend von § 2b Absatz 1, § 6 Absatz 2, § 7 Absatz 1, § 8 Absatz 1, § 10 Absatz 6 und § 13 Absatz 1 darf das Erfordernis eines Mindestabstands von 1,5 Metern zwischen Personen, die nicht zu den in § 1 Absatz 2 genannten Gruppen gehören, nicht durch die Sicherstellung der qualifizierten Rückverfolgbarkeit nach § 2a Absatz 2 ersetzt werden,
135. die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung in öffentlichen Außenbereichen, in denen regelmäßig eine Unterschreitung des Mindestabstands zu erwarten ist (z.B. stark frequentierte Fußgängerzonen); die entsprechenden Bereiche sind in der Allgemeinverfügung nach Absatz 2 festzulegen.
14Soweit die betroffenen Kommunen weitergehende Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens (beispielsweise eine Sperrstunde für gastronomische Einrichtungen) für erforderlich halten, stimmen sie diese mit dem Landeszentrum Gesundheit unter Beteiligung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales und mit der zuständigen Bezirksregierung ab und setzen diese um.
15(4) Mit der Feststellung der Gefährdungsstufe 2 treten in den jeweiligen Kommunen die folgenden Regelungen zusätzlich in Kraft:
161. Veranstaltungen und Versammlungen im Sinne der §§ 4, 6, 7, 8, 9 und 13 sowie Kongresse sind ab dem vierten Tag nach der Feststellung der Gefährdungsstufe mit mehr als 100 Personen unzulässig, wenn nicht drei Tage vor der Veranstaltung ein Konzept nach § 2b bei der zuständigen unteren Gesundheitsbehörde vorgelegt wurde; auch mit einem solchen Konzept sind Veranstaltungen mit mehr als 500 Personen im Freien oder mehr als 250 Personen in Innenräumen unzulässig,
172. der Betrieb von gastronomischen Einrichtungen im Sinne von § 14 Absatz 1 und 2 sowie der Verkauf von alkoholischen Getränken sind zwischen 23 Uhr und 6 Uhr unzulässig,
183. abweichend von § 13 Absatz 5 Satz 2 dürfen ab dem 19. Oktober 2020 an Festen höchstens 10 Personen teilnehmen,
194. abweichend von § 1 Absatz 2 Satz 1 Nummer 5 beträgt die zulässige Gruppengröße höchstens fünf Personen.
20Weitergehende Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens sind, soweit erforderlich – insbesondere bei fortschreitendem Infektionsgeschehen, in Abstimmung mit den in Absatz 3 genannten Stellen anzuordnen.
21(5) Die besonderen Beschränkungen nach Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 und Absatz 4 Satz 1 Nummer 1 gelten nicht für Beerdigungen, Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz sowie Veranstaltungen und Versammlungen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Daseinsfür- und -vorsorge (insbesondere politische Veranstaltungen von Parteien einschließlich Aufstellungsversammlungen zu Wahlen und Vorbereitungsversammlungen dazu sowie Blutspendetermine) zu dienen bestimmt.
22(6) Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales kann durch Erlass landeseinheitliche Vorgaben für die nach Absatz 2 und Absatz 3 umzusetzenden zusätzlichen Schutzmaßnahmen festlegen.“
23Die Antragstellerin hat am 20. Oktober 2020 einen Normenkontrollantrag (13 D 216/20.NE) gestellt und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
24Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend: Der derzeit zu verzeichnende Zuwachs an positiven Corona-Tests lasse keinen Rückschluss auf eine veränderte Gefährdungslage zu. Derzeit würden dreimal so viele Tests wie im Frühjahr durchgeführt. Seit Wochen liege der Anteil der hospitalisierungspflichtigen Infizierten konstant bei 6 %, der Anteil der Verstorbenen konstant unter 0,44 %. Es sei nicht sachgerecht, verschärfte Infektionsschutzmaßnahmen allein an steigende Infektionszahlen zu knüpfen, da ein positiver PCR-Test zwar die Infektion bestätige, aber keine Aussage über die Infektiosität des Getesteten treffe. Auch der festgelegte Inzidenzwert von 50 Infizierten pro 100.000 Einwohnern sei nicht sachgerecht, vielmehr müsse auch das Alter der Infizierten berücksichtigt werden. Schließlich müsse vorrangig das Personal der Gesundheitsämter aufgestockt werden. Der mit der Regelung verbundene Eingriff in ihre Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG sei nicht gerechtfertigt. Gastronomische Einrichtungen spielten bei der Verbreitung des Coronavirus nur eine untergeordnete Rolle. Die bereits umgesetzten Hygienekonzepte des Verordnungsgebers seien ausreichend. Nach 23 Uhr stelle sich das Infektionsrisiko nicht anders dar als vor 23 Uhr. Die Sperrstunde habe hingegen zur Folge, dass mit ihrem Beginn der öffentliche Personennahverkehr plötzlich kapazitätserschöpfend in Anspruch genommen und der soziale Kontakt im privaten Bereich oder auf öffentlichen Plätzen fortgesetzt werde. Dass Abstandvorschriften unter Alkoholeinfluss nicht mehr beachtet würden, sei spekulativ. Im Übrigen sei dies von den Gastwirten sicherzustellen, was auch bislang funktioniert habe. Als milderes Mittel könnte der Außer-Haus-Verkauf von Alkohol zur Nachtzeit untersagt werden. Die von den Gastwirten zu erwartenden Umsatzeinbußen stünden in keinem Verhältnis zu dem von der Regelung zu erwartenden Infektionsschutzertrag.
25Die Antragsteller beantragen,
26§ 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 3 und 4 CoronaSchVO in der ab dem 17. Oktober 2020 gültigen Fassung im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig außer Vollzug zu setzen.
27Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen und beantragt,
28den Antrag abzulehnen.
29II.
30Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. Der gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag ist unbegründet. Die von der Antragstellerin begehrte einstweilige Anordnung ist nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten (§ 47 Abs. 6 VwGO).
31Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Norm zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist.
32Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. September 2015 ‑ 4 VR 2.15 -, juris.
33Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht veranlasst. Der Normenkontrollantrag in der Hauptsache bleibt voraussichtlich ohne Erfolg, weil sich die angegriffenen Regelungen in § 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 3 und 4 CoronaSchVO bei einer wegen der Eilbedürftigkeit der Entscheidung nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig erweisen (1.). Auch unter Berücksichtigung etwaig verbleibender Unsicherheiten bei der rechtlichen Bewertung erscheint eine Außervollzugssetzung der streitgegenständlichen Normen nicht dringend geboten (2.).
341. a) Die auf § 32 Satz 1 und 2 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG gestützten Regelungen beruhen voraussichtlich auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage. Soweit zunehmend diskutiert wird, inwieweit die im Verordnungswege ergriffenen flächendeckenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie noch den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts genügen, und insbesondere in Frage gestellt wird, ob allgemeine Eingriffe in die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG in der infektionsschutzrechtlichen Generalklausel derzeit noch eine verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage haben können,
35vgl. zuletzt zu § 32 Satz 1 und 2 i. V .m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG als hinreichende Ermächtigungsgrundlage für Betriebsverbote: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 6. Oktober 2020 - 1 S 2871/20 -, juris, Rn. 30 (offen gelassen); zu Eingriffen in die Berufsfreiheit durch das Verbot von Zuschauern bei Sportveranstaltungen: Bay. VGH, Beschluss vom 16. September 2020 ‑ 20 NE 20.1994 -, juris, Rn. 17,
36sind solche Bedenken bei vorläufiger Bewertung jedenfalls im vorliegenden Fall nicht begründet. Dabei ist unabhängig von den bisher in der Rechtsprechung des erkennenden Senats angestellten Erwägungen,
37siehe insoweit grundlegend Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 37 ff.; vgl. ferner etwa Beschluss vom 23. Juni 2020 ‑ 13 B 695/20.NE ‑, juris, Rn. 43 ff., m. w. N.,
38zu berücksichtigen, dass es sich zum einen bei den in § 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 CoronaSchVO normierten Betriebseinschränkungen um regionale Vorgaben handelt, die nur dann Anwendung finden, wenn der betroffene Kreis oder die betroffene kreisfreie Stadt zuvor das Erreichen der Gefährdungsstufe 2 festgestellt hat, und sie zum anderen im Ausgangspunkt nur die Bedingungen der Berufsausübung regeln. Entsprechendes gilt für die in § 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 und 4 CoronaSchVO geregelten Beschränkungen von (privaten) Festen und Treffen im öffentlichen Raum, die die Berufsfreiheit der Antragstellerin überdies nur mittelbar betreffen.
39b) Die in § 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 3 und 4 CoronaSchVO getroffenen Anordnungen erweisen sich auch im Übrigen als voraussichtlich rechtmäßig und genügen insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
40aa) Das Betriebsverbot von gastronomischen Einrichtungen im Sinne von § 14 Abs. 1 und 2, das Verkaufsverbot von alkoholischen Getränken in der Zeit von 23 Uhr bis 6 Uhr und die Beschränkung der Teilnehmerzahl von Festen außerhalb des privaten Raums (auf 10 Personen) und Treffen im öffentlichen Raum (auf 5 Personen) in Kommunen der Gefährdungsstufe 2 dienen dem legitimen Zweck, die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus zu verlangsamen, um die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens sicherzustellen. In einer Situation, in der eine 7-Tage-Inzidenz von über 50 festgestellt wird (Gefährdungsstufe 2), droht die Weiterverbreitung des Virus wegen fehlender Nachverfolgungsmöglichkeiten außer Kontrolle zu geraten. Die Anknüpfung an den Orientierungswert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner für die Bestimmung der Gefährdungsstufe 2 dürfte dabei sachgerecht sein. Der Wert beschreibt die in den Lockerungsplänen von Bund und Ländern vereinbarte Obergrenze für Corona-Neuinfektionen in den letzten sieben Tagen, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland sich zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage sieht und in der eine weitere Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch möglich erscheint.
41Vgl. Ziffer 3 des Protokolls der Telefonschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 6. Mai 2020, abrufbar unter: www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/telefonschaltkonferenz-der-bundes-kanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-06-mai-2020-1750988.
42Dementsprechend dürfte die Überschreitung dieses Wertes die Gefahr begründen, dass sich das Virus in der Bevölkerung in nicht mehr kontrollierbarer Weise weiterverbreiten wird. Dies gilt insbesondere, weil die Erkrankung unbemerkt erfolgen kann oder nicht stets mit Krankheitssymptomen einhergeht und infolgedessen nicht sichergestellt ist, dass noch konsequent Schutzmaßnahmen zur Verhinderung einer Weiterverbreitung ergriffen werden können.
43Vgl. dazu bereits OVG NRW, Beschluss vom 13. Juli 2020 - 13 B 968/20.NE -, juris, Rn. 77 ff.
44Ob anstelle dieses Inzidenzwertes ein anderer oder ein zusätzlicher Inzidenzwert für ältere Infizierte zu etablieren ist, weil trotz massiv gestiegener Infektionszahlen und einer deutlichen Zunahme der intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Erkrankungen gegenwärtig,
45vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 28. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-28-de.pdf?__blob= publicationFile,
46noch keine Überlastung des Gesundheitssystems zu verzeichnen ist, kann derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit beurteilt werden. Die Entwicklung bedarf weiterer Beobachtung durch den Verordnungsgeber. Diese ist gegenwärtig durch ein rapides Ansteigen der Infektionszahlen gekennzeichnet. Die 7-Tage-Inzidenz liegt mit Stand vom 28. Oktober 2020 für ganz Deutschland bei einem Wert von 93,6 und für Nordrhein-Westfalen nochmals deutlich darüber bei einem Wert von 121,8. Die berichteten R-Werte liegen anders als in früheren Phasen der Epidemie deutlich über 1. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle hat sich bundesweit in den vergangenen zwei Wochen von 618 Patienten am 13. Oktober 2020 auf 1.569 Patienten am 28. Oktober 2020 mehr als verdoppelt. Dies lässt sich auch nicht mehr durch wenige einzelne Ursachen erklären. Vielmehr stellt sich das aktuelle Infektionsgeschehen sehr diffus dar.
47Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 28. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-28-de.pdf?__blob= publicationFile.
48Gleichzeitig steigt mit der Zahl der Neuinfizierungen auch die Zahl der Corona-Patienten in den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern stark an. So wurden mit über 1.400 Patienten in der letzten Woche bereits 50 % mehr Personen mit Covid-19 stationär behandelt als noch eine Woche zuvor.
49Vgl. Süddeutsche Zeitung online vom 23. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/ gesundheit/gesundheit-duesseldorf-zahl-der-corona-patienten-in-nrw-kliniken-steigt-rasant-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-201023-99-51188.
50Zwar ist festzustellen, dass der Anteil der Verstorbenen unter den gemeldeten COVID-19-Fällen seit Ende Juli kontinuierlich unter 1 % liegt und damit im Vergleich zum Infektionsgeschehen im Frühjahr, insbesondere im April, deutlich abgenommen hat. Eine mögliche Veränderung des Virus, die zu einem milderen Verlauf führt, wird jedoch nicht als Ursache hierfür gesehen. Stattdessen gibt es für den niedrigeren Anteil an Verstorbenen verschiedene Gründe: einerseits sind unter den Fällen derzeit vor allem jüngere Menschen, die meist weniger schwer erkranken. Andererseits werden durch die breite Teststrategie auch vermehrt milde Fälle erfasst. Aktuell nehmen jedoch die Erkrankungen unter älteren Menschen wieder zu. Da diese häufiger einen schweren Verlauf durch COVID-19 aufweisen, steigt ebenso die Anzahl an schweren Fällen und Todesfällen.
51Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 28. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-28-de.pdf?__blob= publicationFile.
52Nach aktuellen Studien soll aber auch bei jungen Infizierten jeder fünfte Patient mit Spätfolgen zu kämpfen haben.
53Siehe https://www.mdr.de/brisant/spaetfolgen-corona-junge-menschen-100.html, Stand 8. Oktober 2020, 19.46 Uhr.
54Die anstehenden Wintermonate, in denen zu erwarten ist, dass sich die Bevölkerung vermehrt und längere Zeit in Innenräumen aufhält, lassen vor diesem Hintergrund ohne geeignete Schutzmaßnahmen eine weitere erhebliche Ausbreitung des Infektionsgeschehens erwarten.
55Soweit die Antragstellerin meint, die Erfassung als Infizierter infolge eines positiven PCR-Tests besage nichts über die individuelle Infektiösität, ändert dies nichts daran, dass die Zahl der Infizierten derzeit deutlich ansteigt. Im Übrigen dürfte auch nicht auf der Hand liegen, dass ein signifikanter Anteil der PCR positiv getesteten Personen eine Gefährdung für andere nicht darstelle und keiner isolierenden Maßnahmen bedürfe, denn der genaue Zeitraum, in dem Ansteckungsfähigkeit besteht, lässt sich derzeit noch nicht klar definieren. Nach den Erkenntnissen des Robert Koch-Instituts,
56SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand: 16. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=2FAD 591359B90DD72C983C1A111405EE.internet061,
57gilt jedenfalls als sicher, dass die Ansteckungsfähigkeit in der Zeit um den Symptombeginn am größten ist und dass ein erheblicher Teil von Transmissionen bereits vor dem Auftreten erster klinischer Symptome erfolgt. Zudem ist gesichert, dass bei normalem Immunstatus die Kontagiosität im Laufe der Erkrankung abnimmt und dass schwer erkrankte Patienten mitunter länger infektiöses Virus ausscheiden als mild-moderat erkrankte Patienten. Bei mild-moderater Erkrankung geht die Kontagiosität zehn Tage nach Symptombeginn signifikant zurück und ist nur in Einzelfällen beschrieben. Bei schweren Erkrankungen gibt es Hinweise, dass die Patienten auch noch deutlich später als zehn Tage nach Symptombeginn ansteckend sein können.
58bb) Das im Falle der Feststellung der Gefährdungsstufe 2 geltende Verbot zum Betrieb gastronomischer Einrichtungen im Sinne vom § 14 Abs. 1 und 2 CoronaSchVO, das Verbot des Verkaufs alkoholischer Getränke zwischen 23 Uhr und 6 Uhr und die Beschränkung der Teilnehmerzahl an Festen außerhalb des privaten Raums (auf 10 Personen) und an Treffen im öffentlichen Raum (auf 5 Personen) ist in dieser Situation geeignet, zur Eindämmung bzw. Verlangsamung der Ausbreitung des Infektionsgeschehens beizutragen.
59Dabei ist dem Verordnungsgeber, dem eine Schutzpflicht für Leib und Leben obliegt,
60vgl. BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 - 1 BvR 1025/82 u. a. -, juris, Rn. 69, m. w. N.,
61in dieser sehr dynamischen Lage und wegen der fortbestehenden tatsächlichen Ungewissheiten eine Einschätzungsprärogative im Hinblick auf das gewählte Mittel einzuräumen, soweit und solange sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellen.
62Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Juli 2020 ‑ 13 B 870/20.NE -, juris, Rn. 39 f., m. w. N.
63Dass der Verordnungsgeber die Grenzen seines Einschätzungsspielraums überschritten haben könnte, ist nicht ersichtlich.
64Die streitgegenständlichen Regelungen beruhen im Wesentlichen auf der Grundannahme, dass sich das Coronavirus nach derzeitigen Erkenntnissen bei direkten persönlichen Kontakten über zum Beispiel Sprechen, Husten oder Niesen im Wege einer Tröpfcheninfektion besonders leicht von Mensch zu Mensch verbreitet. Bei der Übertragung spielen nach gegenwärtigem Erkenntnisstand zudem Aerosole, bestehend aus kleinsten Tröpfchenkernen, die längere Zeit in der Umgebungsluft schweben und sich z. B. in Innenräumen anreichern und größere Distanzen überwinden können, eine wesentliche Rolle.
65Vgl. zu den Übertragungswegen Robert Koch-Institut, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Übertragungswege, abrufbar unter: https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/ N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2, Stand: 16. Oktober 2020.
66Daran anknüpfend ist das Betriebsverbot für gastronomische Einrichtungen in der Zeit von 23 Uhr bis 6 Uhr in Kommunen der Gefährdungsstufe 2 in der Herbst- und Winterzeit geeignet, einen Beitrag zur effektiven Eindämmung der Weiterverbreitung des Coronavirus zu leisten, weil es die Kontaktmöglichkeiten in den gastronomischen Einrichtungen während des Zeitraums von 23 Uhr bis 6 Uhr beschränkt. Es verhindert, dass sich wechselnde Gäste oder Gästegruppen zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden.
67Die Sperrstunde reduziert überdies Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu gastronomischen Einrichtungen. Überdies trägt sie durch die Reduzierung der Gästezahlen dazu bei, dass die Gefahr eines Eintrags der Infektion in das weitere berufliche und private Umfeld der (ausbleibenden) Gäste reduziert wird. Gerade im familiären Umfeld lassen sich enge Kontakte, die eine Virusverbreitung begünstigen, nicht immer vermeiden.
68Im Übrigen trifft es zwar zu, dass sich das Infektionsrisiko in gastronomischen Einrichtungen, deren Gästezahl bereits durch die Regelungen der Coronaschutzverordnung beschränkt wird, nach 23 Uhr nicht anders darstellt als zuvor. Das ändert, wie ausgeführt, aber nichts daran, dass die Sperrstunde für die Zeit danach einen Beitrag zur Kontaktreduzierung leistet.
69Dem kann voraussichtlich auch nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden, dass sich die sozialen Kontakte während der Dauer der Sperrstunde auf öffentliche Plätze oder in den privaten Raum verlagerten und eine Weiterverbreitung gerade nicht verhindert werde. Zwar dürfte es zu solchen Effekten kommen. Dass die befürchtete Verlagerung aber zumindest annähernd im gleichen Umfang stattfinden sollte, ist nicht anzunehmen.
70Das nächtliche Alkoholverkaufsverbot in Kommunen der Gefährdungsstufe 2 ist ebenfalls geeignet, das Infektionsrisiko zu reduzieren. Abgesehen davon, dass es einer erhöhten Attraktivität des öffentlichen Raums bei geschlossenen gastronomischen Einrichtungen und damit den vorstehend genannten Verlagerungseffekten entgegenwirken kann, trägt es offensichtlich zu der vom Verordnungsgeber bezweckten Verringerung infektiologisch bedenklicher Kontakte bei, indem es auf die unbestreitbar enthemmende Wirkung von Alkohol abzielt. Die enthemmende Wirkung von Alkohol erscheint ohne Weiteres dazu angetan, die Wirksamkeit der zur Kontaktbeschränkung und zur Einhaltung von Mindestabständen im öffentlichen Raum erlassenen Regelungen (vgl. § 1 Abs. 2 und 3, § 2 Abs. 1 CoronaSchVO) negativ zu beeinflussen. Dass die diesbezüglichen Vorgaben bei alkoholbedingter Enthemmung zwar nicht notwendigerweise vorsätzlich missachtet, aber schlicht vergessen werden können, dürfte nicht zweifelhaft sein. Im Übrigen dürfte auch davon auszugehen sein, dass die Bereitschaft zur Einhaltung hygienerechtlicher Schutzvorschriften in einer auch alkoholbedingt enthemmten Grundstimmung generell sinkt. Nach den Ausführungen des Antragsgegners haben die Erfahrungen der Vergangenheit gezeigt, dass die geltenden Maßgaben der Coronaschutzverordnung vor allem zu fortgeschrittener Stunde und mit fortschreitendem Alkoholkonsum missachtet wurden. An diese Erfahrungen darf der Antragsgegner anknüpfen.
71Die Beschränkung der Teilnehmerzahl an Festen außerhalb des privaten Raums auf 10 Personen und an Treffen im öffentlichen Raum auf 5 Personen (§ 15a Abs. 4 Nr. 3 und 4 CoronaSchVO) ist schließlich geeignet zu verhindern, dass sich eine größere Anzahl von Personen bei einem einzelnen Treffen infiziert und diese Infektion in das weitere private und berufliche Umfeld einträgt. Der derzeit bundesweit zu verzeichnende Anstieg der Neuinfektionen beruht auf Ausbrüchen, welche insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie Gruppenveranstaltungen stehen.
72Vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19) vom 27. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-26-de.pdf?__blob= publicationFile.
73cc) Die streitgegenständlichen Regelungen dürften auch erforderlich sein. Ebenso wie für die Eignung einer Maßnahme kommt dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber auch für ihre Erforderlichkeit ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. Dieser ist nur dann überschritten, wenn aufgrund der dem Gesetz- oder Verordnungsgeber bekannten Tatsachen und der bereits vorhandenen Erfahrungen feststellbar ist, dass weniger grundrechtsbelastende, aber gleich wirksame Regelungsalternativen in Betracht kommen.
74Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. September 2010 - 1 BvR 1789/10 -, juris, Rn. 21; BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 ‑ 8 C 6.15 -, juris, Rn. 49.
75Dem Verordnungsgeber wird voraussichtlich nicht vorgehalten werden können, sich nicht für ein anderes, die Berufsfreiheit der Antragsteller weniger beeinträchtigendes Regelungsmodell entschieden zu haben.
76Das gilt zunächst in Bezug auf die Sperrstundenregelung. Der Einwand der Antragsteller, das Infektionsumfeld "Gastronomie" spiele gegenüber anderen Bereichen und insbesondere dem (rein) privaten Umfeld insgesamt eine nur untergeordnete Rolle,
77in diesem Sinne auch VG Berlin, Beschluss vom 15. Oktober 2020 ‑ 14 L 422/20 ‑, juris, Rn. 21,
78sodass schon aus diesem Grunde kein Bedarf an weitergehenden Schutzmaßnahmen bestehe, überzeugt angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens bei vorläufiger Bewertung nicht. Die in diesem Zusammenhang angeführten statistischen Daten des Robert Koch-Instituts beziehen sich auf bereits länger zurückliegende Zeiträume,
79vgl. etwa Epidemiologisches Bulletin 38/2020 vom 17. September 2020, S. 6 ff., wo ein Datenstand von MItte August 2020 ausgewiesen ist; abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile,
80in denen die Lage noch deutlich weniger dynamisch war, und dürften insoweit zumindest zum Teil zeitlich überholt sein. Hinzu tritt die zwischenzeitlich nochmals erhöhte Diffusität des Infektionsgeschehens. Nach der nachvollziehbaren Darstellung des Antragsgegners sind die nordrhein-westfälischen Gesundheitsämter (und damit in der Folge auch das Robert Koch-Institut) in der überwiegenden Zahl der Fälle oftmals nicht (mehr) in der Lage, zu rekonstruieren, wo der Ursprung einer Infektion im Einzelfall liegt. Entsprechend weist auch das Robert Koch-Institut selbst darauf hin, dass die Angaben zum Infektionsumfeld mit Zurückhaltung zu interpretieren seien.
81Vgl. dazu Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), Stand: 28. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/ N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-28-de.pdf?__blob= publicationFile.
82Es drängen sich auch annähernd vergleichbar effektive Handlungsalternativen zu der Reduzierung von Kontakten jedenfalls nicht in einer Weise auf, dass allein diese in Frage kommen.
83Soweit die Antragsteller darauf verweisen, dass für gastronomische Einrichtungen bereits weitreichende Hygiene- und Infektionsschutzstandards gelten (vgl. § 14 CoronaSchVO i. V. m. Ziffer I der Anlage zur CoronaSchVO), trifft dies zwar zu, ändert aber an den gleichwohl bestehenden Kontakt- und Aufenthaltsmöglichkeiten, die es nach den Vorstellungen des Verordnungsgebers zu reduzieren gilt, nichts. Die bestehenden Vorgaben wirken nicht dem Umstand entgegen, dass ohne die Sperrstunde zu erwarten ist, dass eine Vielzahl von Personen auf begrenztem Raum über einen regelmäßig nicht unerheblichen Zeitraum und - was gerade in den Wintermonaten zu befürchten sein wird - in schlecht gelüfteten Räumlichkeiten weiter aufeinandertrifft. Gerade bei einem längeren Verweilen von mehreren Personen in geschlossenen Räumen besteht indes ein nicht unbeträchtliches Übertragungsrisiko durch die Aufnahme gegebenenfalls virushaltiger Aerosole.
84Vgl. dazu nochmals Robert Koch-Institut, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Übertragungswege, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792body Text2, Stand: 16. Oktober 2020.
85(Individuelle) Möglichkeiten, die gastronomischen Einrichtungen organisatorisch und räumlich so einzurichten, dass Infektionen weiter minimiert werden, berücksichtigen nicht, dass Kontakte dadurch nicht in gleicher Weise effektiv verringert werden.
86Der Verzicht auf die Sperrstunde unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Alkoholverkaufsverbots dürfte kein gleich geeignetes, milderes Mittel darstellen. Unabhängig von der vom Antragsgegner problematisierten Frage, inwieweit sich ein bloßes Ausschankverbot in Gaststätten kontrollieren ließe, gilt dies schon deshalb, weil der Verordnungsgeber mit der Sperrstunde ‑ wie dargelegt ‑ (primär) das eigenständige legitime Ziel verfolgt, soziale Kontakte zeitlich zu limitieren bzw. ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht neu entstehen zu lassen. Dieses Ziel lässt sich voraussichtlich allein mit einem Ausschankverbot nicht ebenso wirksam erreichen, auch wenn davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit zum Alkoholkonsum für einen nicht unerheblichen Teil der Nutzer abendlicher gastronomischer Angebote von wesentlicher Bedeutung ist.
87Ebenso sind auch hinsichtlich des zeitlich beschränkten Verbots des Verkaufs alkoholischer Getränke, das im Zusammenspiel mit der Sperrstunde faktisch allein den Außer-Haus-Verkauf betrifft, gleich geeignete, den Adressatenkreis des Verbots weniger belastende Maßnahmen nicht ersichtlich. Insbesondere stellte eine strengere Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung der Vorgaben der Coronaschutzverordnung durch die Polizei- und Ordnungsbehörden schon mit Blick darauf, was insoweit angesichts der zwangsläufig begrenzten personellen Ressourcen vernünftigerweise erwartbar ist, keine gleichwertige Alternative dar.
88So auch zum Verbot des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke Bay. VGH, Beschluss vom 13. August 2020 ‑ 20 CS 20.1821‑, juris, Rn. 34.
89Zu der Beschränkung der Teilnehmerzahl an Festen außerhalb des privaten Raums und Treffen im öffentlichen Raum ist schließlich keine weniger einschränkende Alternative ersichtlich.
90dd) Vor diesem Hintergrund dürften sich die angegriffenen Regelungen schließlich auch als angemessen erweisen.
91Angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne, ist eine freiheitseinschränkende Regelung, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Hierbei ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, deren Wahrnehmung der Eingriff in Grundrechte dient, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig. Die Interessen des Gemeinwohls müssen umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Zugleich wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
92St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 ‑ 2 BvR 2347/15 ‑, juris, Rn. 265, m. w. N.
93Davon ausgehend sind die fraglichen Regelungen voraussichtlich nicht zu beanstanden, weil die Schwere der damit verbundenen Grundrechtseingriffe im Ergebnis nicht außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Verordnungszweck steht. Sperrstunde und Alkoholverkaufsverbot greifen in ganz erheblicher Weise in die Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG der davon betroffenen Betreiber gastronomischer Einrichtungen ein und gehen insbesondere für diejenigen Betriebe, die typischerweise einen wesentlichen Teil ihres Umsatzes erst später am Abend und in der Nacht erzielen, mit gravierenden wirtschaftlichen Einbußen einher. Dies wirkt umso schwerer, als die gesamte Gastronomie bereits infolge der zu Beginn der Pandemie verordneten flächendeckenden Betriebsschließungen große und teils existenzbedrohende Belastungen verkraften musste, die auch durch die vom Antragsgegner bezeichneten Hilfsmaßnahmen vielfach nur ansatzweise kompensiert werden konnten. Demgegenüber betrifft die Beschränkung der Teilnehmerzahl an privaten Festen und Treffen im öffentlichen Raum die Berufsausübungsfreiheit der Antragstellerin nur insofern, als sie in ihren gastronomischen Einrichtungen derzeit keine größeren Gästegruppen bewirten kann. Im Ergebnis überwiegt jedenfalls das mit § 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 CoronaSchVO zu schützende Interesse daran, die Kontrolle über die Infektionsausbreitung nicht zu verlieren, um so weiterhin eine dann konkret drohende Überforderung des Gesundheitswesens mit unmittelbaren Gefahren für Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) abwehren zu können. Die Entwicklung der vergangenen Tage lässt befürchten, dass das Infektionsgeschehen ohne geeignete Gegenmaßnahmen eine gefährliche Dynamik entfaltet, die ungebremst am Ende jedes noch so leistungsfähige Gesundheitssystem an die Grenzen seiner Belastbarkeit und darüber hinaus führt.
94Hinzu tritt, dass die Regelungen ‑ wie ausgeführt ‑ regional auf Kommunen der Gefährdungsstufe 2 beschränkt sind, also nur in Regionen gelten, in denen die 7-Tages-Inzidenz nach den täglichen Veröffentlichungen des Landeszentrums Gesundheit bezogen auf einen Kreis oder eine kreisfreie Stadt über dem Wert von 50 liegt und das Infektionsgeschehen nicht ausschließlich auf bestimmte Einrichtungen o. ä. zurückzuführen und einzugrenzen ist (vgl. § 15a Abs. 2 Satz 1, 2 CoronaSchVO). Dieser Geltungsbereich kann noch weiter regional beschränkt werden: Kreise können das Gebiet einzelner Gemeinden von der Feststellung (der Gefährdungsstufe) ausdrücklich ausnehmen, wenn dort gesichert ein signifikant geringeres Infektionsgeschehen unterhalb des Grenzwerts festzustellen ist und eine Verbreitung des Infektionsgeschehens in diese Gemeinden - gerade bei Umsetzung der verschärften Schutzmaßnahmen im restlichen Kreisgebiet - ausgeschlossen erscheint (vgl. § 15a Abs. 2 Satz 4 CoronaSchVO). Schließlich sind die Regelungen nicht nur durch die Geltungsdauer der Coronaschutzverordnung, sondern auch durch die Feststellung der Gefährdungsstufe 2 durch die jeweilige Kommune beschränkt (vgl. § 15a Abs. 2 Satz 3 CoronaSchVO).
952. Soweit im Hinblick auf die vorliegend nur summarisch mögliche Prüfung Unsicherheiten bei der rechtlichen Beurteilung der in § 15a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 CoronaSchVO getroffenen Regelungen verbleiben und man deshalb von (allenfalls) offenen Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrags in der Hauptsache ausgehen wollte, gebietet auch eine ergänzend vorzunehmende folgenorientierte Interessenabwägung nicht dringend den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung. Angesichts der derzeit rapide ansteigenden Zahl von Neuinfektionen fallen im Anschluss an die vorstehenden Erwägungen zur Angemessenheit die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm schwerer ins Gewicht als die (insbesondere wirtschaftlichen) Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs.
96Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die angegriffene Regelung mit Ablauf des 31. Oktober 2020 außer Kraft tritt, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.
97Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 16.9.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
1Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2Die allein geltend gemachte Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) ist, wie der Senat bereits mehrfach in anderen von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit gleicher Begründung betriebenen Zulassungsverfahren ausgeführt hat,
3vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 7.11.2019 – 4 A 4117/19.A –, juris, Rn. 2 ff., und vom 8.6.2015 – 4 A 361/15.A –, juris, Rn. 2 ff.,
4nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt. Die Klägerin behauptet lediglich, das angegriffene Urteil weiche von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.12.1960 ‒ 1 C 235.58 ‒ (Buchholz 402.22 Art. 1 GK Nr. 8) ab. Sie benennt jedoch nicht ‒ wie erforderlich ‒ einen inhaltlich bestimmten, die angegriffene Entscheidung tragenden abstrakten Rechts- oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz, mit dem die Vorinstanz einem in der übergeordneten Rechtsprechung in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellten ebensolchen Rechts- oder Tatsachensatz widersprochen hat. Die Gegenüberstellung der voneinander abweichenden Rechtssätze ist zur ordnungsgemäßen Erhebung der Divergenzrüge unverzichtbar.
5Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Klägerin nicht. Sie entnimmt der angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bereits zu Unrecht die allgemeine Aussage, die Tatsache der Flucht müsse bei der Beurteilung der Verfolgungsfurcht eines schutzsuchenden Ausländers besonders berücksichtigt und bewertet werden, und zwar speziell die Einzelumstände und Beweggründe derselben. Das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich betont (vgl. a. a. O., S. 17), eine allgemeine Regel lasse sich für die Berücksichtigung der Flucht bei der Beurteilung der Verfolgungsgefahr nicht aufstellen, auch wenn es ausgeführt hat, aus der Tatsache der Flucht könne sich ein starkes Indiz dafür ergeben, dass ein Ausländer in politischem Gegensatz zu dem Regime seines Heimatlandes stehe. Die in diesem Zusammenhang verwendete Formulierung, den Gründen der Flucht werde daher in jedem Falle nachzugehen sein, sollte angesichts der entsprechenden Klarstellung erkennbar nicht als allgemeine Regel zur Sachverhalts- und Beweiswürdigung verstanden werden.
6Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
7Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 3. September 2020 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
1
Die Klägerin wendet sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ein erstinstanzliches Klageverfahren, in dem die Einstellung der Gewährung des sog. Barbetrags bei stationärer Unterbringung ab März 2019 streitbefangen ist.
2
Die 1933 geborene, pflegebedürftige (zunächst Pflegegrad 3, ab Mai 2019 Pflegegrad 4) und schwerbehinderte (GdB 100, Merkzeichen G, RF) Klägerin bezog Mitte 2018 ein Einzelzimmer in der Pflegeeinrichtung „D.“ in E., für das ein monatliches Heimentgelt von 2.562,27 € zzgl. eines Komfortzimmerzuschlags von zunächst 600,00 €, später 300,00 € zu entrichten ist. Vor dem Einzug in die Einrichtung wohnte sie gemeinsam mit ihrem 1936 geborenen Ehemann in einer 71 qm großen Dreizimmerwohnung, für die ihr Ehemann (weiterhin) monatlich eine Grundmiete von 350,69 € zzgl. 66,60 € Betriebskosten sowie einen Abschlag für Wasser/Abwasser von 24,00 € zu zahlen hat; für eine Garage fällt zusätzlich ein Mietzins von 35,00 € an. Neben den an die Einrichtung gezahlten Pflegeleistungen (von monatlich 1.262,00 € bzw. ab Mai 2019 1.775,00 €) bezieht die Klägerin eine Altersrente der DRV Braunschweig-Hannover in monatlicher Höhe von 310,37 € ab Juli 2018 bzw. 324,28 € ab Mai 2019 (jeweils netto). Ihr Ehemann ist Bezieher einer Altersrente der DRV Braunschweig-Hannover mit einem monatlichen Zahlbetrag von 1.491,05 € ab Juli 2018 bzw. 1.536,47 € ab Juli 2019 sowie einer Rente der Bremer Straßenbahn AG von 442,49 € je Monat. Nachdem der Beklagte einen Vermögensstand der Eheleute im Juli 2018 von etwa 15.500,00 € (Giro- und Sparkonten) ermittelt hatte (Bl. 83 d. VA), teilte er der vertretungsbefugten Tochter der Klägerin (Generalvollmacht vom 24.3.2018) mit, dass das den Freibetrag von 10.000,00 € überschießende Vermögen (5.805,51 €) noch bis Oktober 2018 zur Deckung der Heimkosten ausreiche (Schreiben vom 13.9.2018).
3
Ab dem 1.11.2018 bewilligte er der Klägerin unter Anrechnung der Pflegeleistungen (1262,00 €) und eines Kostenbeitrags der Eheleute (811,64 €) Hilfe zur Pflege in monatlicher Höhe von 442,47 € sowie einen Barbetrag von 112,32 € je Monat (Bescheid des Beklagten vom 4.10.2018). Auf Grundlage der mit dem Einrichtungsträger geschlossenen Vereinbarungen (§ 75 SGB XII) berücksichtigte er hierbei Kosten für eine vollstationäre Pflege bei Pflegegrad 3 in Höhe von 2.403,79 € je Monat. Der auf die Übernahme der zusätzlichen Kosten für das Einzelzimmer der Klägerin u.a. wegen gesundheitlicher Gründe (Demenzerkrankung; vgl. Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin F., E., vom 20.12.2018) gerichtete Antrag hatte keinen Erfolg (Bescheid des Beklagten vom 10.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.4.2019).
4
Nachdem der Klägerin bereits im Januar 2019 Blindengeld nach dem Niedersächsischen Gesetz über das Landesblindengeld für Zivilblinde (Nds. BlindGeldG) für die Zeit ab Dezember 2018 in monatlicher Höhe von 187,50 € (wegen des stationären Aufenthalts der halbierte Betrag, vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nds. BlindGeldG) bewilligt worden war (Bescheid des Beklagten vom 22.1.2019), machte der Beklagte für die Zeit bis Februar 2019 (intern) einen Kostenerstattungsanspruch geltend und bewilligte der Klägerin ab 1.3.2019 Hilfe zur Pflege in monatlicher Höhe von 444,53 €, in dem er den Pflegeleistungen (1.262,00 €) und dem Kostenbeitrag der Eheleute (811,64 €) höhere Einrichtungskosten von 2.518,17 € gegenüberstellte (Bescheid des Beklagten vom 29.1.2019). Ein Barbetrag wurde wegen des Bezugs des Blindengeldes und des Ausschlusses nach § 72 Abs. 4 SGB XII nicht gewährt. Der hiergegen erhobene Widerspruch hatte in der Sache keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 23.4.2019).
5
Gegen die Einstellung des Barbetrages ab März 2019 richtet sich die am 16.5.2019 beim Sozialgericht (SG) Hannover erhobene Klage, für die die Klägerin PKH begehrt. Noch vor Klageerhebung hob der Beklagte die Bewilligung von Hilfe zur Pflege für die Zeit ab 1.12.2018 durch die Festsetzung eines Kostenbeitrages der Eheleute von 1051,76 € (zuvor 811,64 €) teilweise auf (Bescheid des Beklagten vom 25.4.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.6.2019), weil der Klägerin rückwirkend für die Zeit von Dezember 2018 bis November 2019 Wohngeld in monatlicher Höhe von 239,00 € bewilligt worden war (Bescheid der Gemeinde Weyhe vom 12.3.2019). Diese Entscheidung ist Gegenstand einer weiteren Klage beim SG (- S 84 SO 265/19 -). In der Folgezeit bewilligte der Beklagte der Klägerin auf gesonderten Antrag das Landesblindengeld aufstockende Blindenhilfe nach § 72 SGB XII für die Zeit ab 25.7.2019 in monatlicher Höhe von 182,46 € (Bescheid vom 7.8.2019) und setzte den von den Eheleuten zu entrichtenden Kostenbeitrag nach Vorlage aktueller Rentenbescheide für die Zeit ab Juli 2019 auf 857,37 € fest (Bescheid vom 12.9.2019). Die bewilligte Hilfe zur Pflege belief sich damit auf 89,22 € monatlich (vgl. den an den Einrichtungsträger gerichteten Kostenübernahmebescheid des Beklagten vom 12.9.2019). Wegen der Einstufung der Klägerin in den Pflegegrad 4 erkannte der Beklagte ab Mai 2019 Einrichtungskosten von nunmehr 3.031,35 € an und bewilligte ihr unter Berücksichtigung der Pflegeleistungen von 1775,00 €, eines Kostenbeitrages von 812,76 € sowie des Wohngeldes von 239,00 € Hilfe zur Pflege ab 1.5.2019 in monatlicher Höhe von 204,59 € (Bescheid des Beklagten vom 1.10.2019). Weitere Bewilligungsentscheidungen sind dem Senat nach Aktenlage nicht bekannt.
6
Das SG hat den Antrag auf PKH für das vorliegende Verfahren mit der Begründung abgelehnt, die Einstellung des Barbetrages ab März 2019 sei auf Grundlage des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu Recht erfolgt, weil durch die Bewilligung des Landesblindengeldes (Bescheid des Beklagten vom 22.1.2019) eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen eingetreten sei, die eine (Teil-)Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 4.10.2018 für die Zukunft (ab März 2019) rechtfertige (Beschluss des SG vom 3.9.2020). Durch den Bezug des Landesblindengeldes entfalle nämlich gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 und 1 SGB XII die Gewährung des Barbetrages nach § 27b Abs. 2 SGB XII, weil es sich bei dem Landesblindengeld um eine - gegenüber der Blindenhilfe nach § 72 SGB XII - gleichartige Leistung i.S. des § 72 Abs. 4 Satz 3 SGB XII handele.
7
Gegen die erstinstanzliche Ablehnung von PKH richtet sich die Beschwerde der Klägerin vom 30.9.2020. Sie macht geltend, dass die Einstellung des Barbetrages ab März 2019 wegen der Gewährung von Landesblindengeld in Höhe von (nur) 187,50 € je Monat, anstatt 375,00 € je Monat, rechtswidrig sei. Diese Leistungen hätten eine andere Zielrichtung als der Barbetrag für allgemeine Aufwendungen (z.B. Friseur, Fußpflege, Kosmetikartikel und Hygieneprodukte aller Art), weil sie dem Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen dienten z.B. für spezielle Kopfhörer zum Hören von Hörbüchern und Radio, ein Vorlesegerät, eine spezielle Uhr für Sehbehinderte, blindheitsbedingte Medikamente, eine Armbanduhr mit Zeitansage, Reisen und Besuche mit dem Behindertentaxi, Kosten für Begleitpersonen etc.
8
Der Beklagte hat von einer Stellungnahme abgesehen.
9
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.
II.
10
Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere wegen der ab März 2019 zukunftsoffenen (Teil-)Aufhebung des mit Bescheid des Beklagten vom 4.10.2018 (zunächst) bewilligten Barbetrages in monatlicher Höhe von 112,32 € auch statthafte (§ 172 Abs. 1 und 3 Nr. 2 lit. b SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) Beschwerde ist unbegründet. Das SG hat den Antrag auf Gewährung von PKH zu Recht abgelehnt.
11
Gegenstand der (isolierten) Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist der Bescheid des Beklagten vom 29.1.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.4.2019 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte der Klägerin zum einen Hilfe zur Pflege für die Zeit ab März 2019 in monatlicher Höhe von 444,53 € bewilligt und zum anderen die Aufhebung des mit Bescheid vom 4.10.2018 bewilligten Barbetrags nach § 27b Abs. 2 SGB XII (hier bis 2019 i.d.F. vom 24.3.2011, BGBl. I 453 bzw. ab 1.1.2020 i.d.F. vom 23.12.2016, BGBl. I 3234) verfügt hat. Nach dem eindeutigen Klageantrag der anwaltlich vertretenen Klägerin (vgl. Klageschrift vom 15.5.2019: „…aufzuheben, als darin die Zahlung des Barbetrages (Taschengeld) eingestellt wird.“) richtet sich die Klage allein gegen die zuletzt genannte Aufhebungsentscheidung. Diese Beschränkung der Klage ist zulässig, weil der Barbetrag bei vollstationärer Unterbringung nach § 27b Abs. 2 SGB XII ein abtrennbarer Streitgegenstand ist (vgl. BSG, Urteil vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 10/06 R - juris Rn. 12 zu der bis 31.12.2010 geltenden Vorgängervorschrift § 35 Abs. 2 SGB XII i.d.F. vom 2.12.2006, BGBl. I 2670). Die Bewilligung von Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB XII für die Zeit ab Dezember 2018 durch Bescheid des Beklagten vom 25.4.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.6.2019 und weitere (nach § 96 SGG einzubeziehende) Bescheide (u.a. vom 12.9. und 1.10.2019) ist Gegenstand des ebenfalls beim SG anhängigen Klageverfahrens (- S 84 SO 265/19 -), also auch die Frage, ob der Klägerin aufgrund der neueren Rechtsprechung des BSG zur Ermittlung der Einkommensgrenze nach § 85 SGB XII (vgl. BSG, Urteil vom 30.4.2020 - B 8 SO 1/19 R - juris) oder wegen vom Beklagten bei der Prüfung der Zumutbarkeit der Aufbringung der Mittel in einem angemessenen Umfang (vgl. §§ 87 Abs. 1, 88 Abs. 1 Satz 2, 92 Abs. 2 SGB XII) noch nicht berücksichtigter Einzelfallumstände ggf. höhere Leistungen zustehen.
12
Nach den zutreffenden Ausführungen des SG, auf die der Senat Bezug nimmt (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG), ist der Bescheid - soweit hier angefochten - rechtmäßig, weil der Beklagte nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X befugt gewesen ist, den Bewilligungsbescheid vom 4.10.2018 wegen einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtlage für die Zukunft teilweise aufzuheben. Die Entscheidung ergeht als gebundene ohne Ausübung von Ermessen (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Nach § 72 Abs. 4 Satz 3 SGB XII ist die Gewährung eines Barbetrages nach § 27b Abs. 2 SGB XII für blinde Menschen, die nicht Blindenhilfe (nach § 72 SGB XII), sondern gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten, ausgeschlossen. Das SG hat zu Recht darauf abgestellt, dass Leistungen nach den Blinden- und Pflegegeldgesetzen der Länder gleichartige Leistungen in diesem Sinne sind (neben der vom SG zitierten Fundstelle vgl. auch Blüggel in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 72 Rn. 31). Der Ausschluss gilt nach § 72 Abs. 4 Satz 1 SGB XII (auch) bei einem Bezug von Blindenhilfe (nach § 72 SGB XII), im Falle der Klägerin aus diesem Grund also für die Zeit ab dem 25.7.2019 (Bescheid des Beklagten vom 7.8.2019). Die Auslegung nach dem Wortlaut der Norm, aber auch nach ihrem Sinn und Zweck, sowohl häusliche Pflegeleistungen nach dem SGB XII (außerhalb von stationären Einrichtungen) als auch den Barbetrag bei stationärer Unterbringung neben dem Bezug von Blindenhilfe oder gleichartiger Leistungen aus Gründen des Nachrangs auszuschließen, ist eindeutig (vgl. auch die Ausführungen des SG).
13
Durchgreifende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift, dass durch die Nichtgewährung des Barbetrages nach § 27b Abs. 2 SGB XII das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) verletzt sein könnte, bestehen nicht. Der Beschwerde ist zwar zuzustimmen, dass die Blindenhilfe und auch das Landesblindengeld dem Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen dient (vgl. BVerwG, Urteil vom 6.9.1979 - 5 C 8/78 - juris zum Landesblindengeld in NRW). Der Zweck der im Vergleich mit dem Barbetrag nach § 27b Abs. 2 SGB XII (zur Vereinbarkeit der Höhe des Barbetrags mit dem GG vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.1.2019 - L 7 SO 2279/16 - juris Rn. 52 ff.; Revision beim BSG anhängig - B 8 SO 16/19 R -; vgl. im Übrigen auch Behrend in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 27b Rn. 24 f.) deutlich höheren Leistungen des Landesblindengesetzes und der (ggf. aufstockend gewährten) Blindenhilfe nach § 72 SGB XII (hier seit Ende Juli 2019 in monatlicher Gesamthöhe von ca. 370,00 €) spricht aber nicht zwingend gegen eine zumutbare Verwendung der Mittel (auch) zur Sicherung des Lebensunterhalts in stationären Einrichtungen; die blindheitsbedingten und die nicht auf die Blindheit zurückzuführenden Bedarfe des täglichen Lebens sind nämlich nicht klar abgrenzbar. Durch das Blindengeld wird Blinden die Befriedigung laufender und immaterieller Bedürfnisse ermöglicht und die Gelegenheit eröffnet, sich trotz Blindheit mit der eigenen Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen. Dabei bleibt es dem Blinden überlassen, welchen blindheitsbedingten Bedarf er mit dem Blindengeld befriedigen will. Art und Umfang des Bedarfs hängen auch von seinen persönlichen Wünschen ab. Ob der Blinde das Blindengeld tatsächlich bestimmungsgemäß verwendet, ist dabei nicht zu prüfen (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 20/06 R - juris Rn. 18).
14
Der besonderen Zweckrichtung des Blindengeldes wird u.a. durch die Privilegierung als anrechnungsfreie zweckbestimmte Einnahme nach § 83 Abs. 1 SGB XII und - soweit angespart - als Vermögen nach § 90 Abs. 3 SGB XII (BSG, a.a.O., Rn. 15 ff.) Rechnung getragen. Hinzu kommt, dass bei der Einkommensberücksichtigung nach §§ 85 ff. SGB XII - wie bereits angedeutet - besonderen Einzelfallumständen im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung in besonderer Weise Rechnung getragen werden kann. Dies gilt unter Umständen auch für die Klägerin wegen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Pflegebedürftigkeit nach einem Pflegegrad 4, Demenzerkrankung, Blindheit) und ihren Ehemann. Im Übrigen stehen die Blindenhilfe bzw. das Landesblindengeld gleichrangig neben Leistungen der Eingliederungshilfe, die zusätzlich erbracht werden können (seit 1.1.2020 ausdrücklich § 72 Abs. 6 SGB XII i.d.F. vom 23.12.2016, BGBl. I 3191).
15
Da wegen des Ausschlusses des Barbetrages nach § 27b Abs. 2 SGB XII allein lebensunterhaltssichernde Leistungen betroffen sind, vermögen andere Grundrechte neben dem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG, wie zum Beispiel Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG, keine weiteren Maßstäbe zu setzen (vgl. BVerfG v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris Rn. 145, 133; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.1.2019 - L 7 SO 2279/16 - juris Rn. 52 ff.; a.A. noch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.9.2009 - OVG 6 N 36.08 - zur Vereinbarkeit des § 72 Abs. 4 SGB XII mit dem Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; zum Verhältnis der Grundrechte aus Art. Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 3 GG vgl. auch Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 3 AsylbLG Rn. 68 f.). Soweit ersichtlich, wird die Verfassungsmäßigkeit der Nachrangregelung des § 72 Abs. 4 SGB XII in Rechtsprechung und Literatur auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen.
16
Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.
17
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 12.6.2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das keine Gerichtskosten erhoben werden.
Gründe:
1Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers zuzulassen, § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO.
3Die Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Gerichte sind aber nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Gründen ausdrücklich zu befassen. Nur wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen ergibt, dass das Gericht aus seiner Sicht erhebliche, zum Kern des Beteiligtenvorbringens gehörende Gesichtspunkte nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen hat, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
4Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.1.2017 ‒ 8 B 16.16 ‒, Buchholz 451.622 EAEG Nr. 3 = juris, Rn. 4; OVG NRW, Beschluss vom 17.12.2019 – 4 A 4236/19 –, juris, Rn. 2, m. w. N.
5Derartige besondere Umstände sind vorliegend weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Vielmehr hat sich das Verwaltungsgericht insbesondere mit dem Vortrag des Klägers zu einer Verfolgung durch Mitglieder der sogenannten „Sippa Shaba“ auseinandergesetzt. Diesen hat es sowohl im Tatbestand des Urteils (Urteilsabdruck, Seite 2, zweiter Absatz) in seinen wesentlichen Zügen beschrieben als auch in den Entscheidungsgründen (Urteilsabdruck, Seite 6, zweiter bis vierter Absatz) im Zusammenhang mit den Fragen, ob eine Verfolgung in Anknüpfung an ein asylrechtlich relevantes Merkmal vorliege (§ 3b AsylG), ob es sich um eine staatliche oder staatlich zurechenbare Verfolgung handele (§ 3c AsylG), sowie ob dem Kläger interner Schutz offen stehe (§ 3e AsylG), ausführlich gewürdigt. Dass es diesen Vortrag anders als der Kläger bewertet hat, führt nicht auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.
6Insoweit erschöpfen sich die Einwände des Klägers, das Verwaltungsgericht habe den Vortrag des Klägers zum Zweck der verlangten Zahlung von 100.000 Dollar an die Organisation „Sippa Shaba“ missverstanden und somit einen anderen als den vorgetragenen Sachverhalt seiner Beurteilung zu Grunde gelegt, in Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, die dem sachlichen Recht zuzurechnen ist und von vornherein nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG rechtfertigt.
7Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21.9.2020 ‒ 4 A 798/20.A –, juris, Rn. 15 f., m. w. N.
8Die vom Kläger zudem geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung stellen keinen Zulassungsgrund im Sinne des § 78 Abs. 3 AsylG dar.
9Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.7.2020 – 4 A 866/19.A –, juris, Rn. 10 f., m. w. N.
10Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
11Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 16.9.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
1Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2Die allein geltend gemachte Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) ist, wie der Senat bereits mehrfach in anderen von dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit gleicher Begründung betriebenen Zulassungsverfahren ausgeführt hat,
3vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 7.11.2019 - 4 A 4117/19 - juris, Rn. 2 ff., und vom 8.6.2015 – 4 A 361/15.A –, juris, Rn. 2 ff.,
4nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt. Der Kläger behauptet lediglich, das angegriffene Urteil weiche von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.12.1960 ‒ I C 235.58 ‒ (Buchholz 402.22 Art. 1 GK Nr. 8) ab. Er benennt jedoch nicht ‒ wie erforderlich ‒ einen inhaltlich bestimmten, die angegriffene Entscheidung tragenden abstrakten Rechts- oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz, mit dem die Vorinstanz einem in der übergeordneten Rechtsprechung in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellten ebensolchen Rechts- oder Tatsachensatz widersprochen hat. Die Gegenüberstellung der voneinander abweichenden Rechtssätze ist zur ordnungsgemäßen Erhebung der Divergenzrüge unverzichtbar.
5Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen des Klägers nicht. Er entnimmt der angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bereits zu Unrecht die allgemeine Aussage, die Tatsache der Flucht müsse bei der Beurteilung der Verfolgungsfurcht eines schutzsuchenden Ausländers besonders berücksichtigt und bewertet werden, und zwar speziell die Einzelumstände und Beweggründe derselben. Das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich betont (vgl. a. a. O., S. 17), eine allgemeine Regel lasse sich für die Berücksichtigung der Flucht bei der Beurteilung der Verfolgungsgefahr nicht aufstellen, auch wenn es ausgeführt hat, aus der Tatsache der Flucht könne sich ein starkes Indiz dafür ergeben, dass ein Ausländer in politischem Gegensatz zu dem Regime seines Heimatlandes stehe. Die in diesem Zusammenhang verwendete Formulierung, den Gründen der Flucht werde daher in jedem Falle nachzugehen sein, sollte angesichts der entsprechenden Klarstellung erkennbar nicht als allgemeine Regel zur Sachverhalts- und Beweiswürdigung verstanden werden.
6Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
7Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 18.9.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1G r ü n d e :
2Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
4Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- bzw. Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
5Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19.2.2018 – 4 A 547/16.A –, juris, Rn. 16 ff., m. w. N.
6Diesen Anforderungen genügt die Antragsbegründung nicht. Die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,
7ob in vergleichbaren Fällen in Bezug auf die Rückkehr von abgelehnten Asylbewerbern aus Pakistan eine Abschiebung rechtmäßig ergehen kann, im Hinblick auf den Verstoß gegen Art. 3 und 8 EMRK i. V. m. § 60 Abs. 5 bzw. eigenständig aus einer Gefährdung für Leib und Leben gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen Fehlens des Existenzminimums,
8rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung. Der Kläger legt bereits nicht schlüssig dar, inwieweit sich eine derart unklar formulierte Fragestellung, die die als klärungsbedürftig angesehenen Fallgestaltungen nicht benennt, überhaupt einer grundsätzlichen Klärung zugänglich sein und sich zudem in einem Berufungsverfahren entscheidungserheblich stellen könnte.
9Schon die den Darlegungen des Klägers zugrunde liegende Annahme trifft nicht zu, das Verwaltungsgericht habe entschieden, dass eine Abschiebung des Klägers trotz seiner Schwierigkeiten, sich in Pakistan eine neue Lebensgrundlage aufzubauen und somit seinen Lebensunterhalt dort bestreiten zu können, zulässig sei. Auch deutet nichts darauf hin, dass die vom Kläger bezeichneten Erkenntnisse zu besonderen Rückkehrgefahren für Paschtunen in auch nur im Wesentlichen vergleichbarer Weise für Panjabis gelten könnten, zu denen der Kläger gehört. Das Verwaltungsgericht hat auf die Möglichkeit internen Schutzes im Sinne von § 3e AsylG und darauf, sich andernorts in Pakistan eine neue Lebensgrundlage aufbauen zu können, unter I. 2. seiner Entscheidungsgründe (vgl. Urteilsabdruck, Seite 9, letzter Absatz, bis Seite 12, zweiter Absatz) nur hilfsweise bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags verwiesen. Es hat unter I. 1. seiner Entscheidungsgründe (vgl. Urteilsabdruck, Seite 7, zweiter Absatz, bis Seite 9, vorletzter Absatz) schon deshalb einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verneint, weil es den Vortrag des Klägers zum Fluchtgeschehen als unglaubhaft angesehen hat. Daran anknüpfend seien auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme ersichtlich, der Kläger könnte einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG haben (Urteilsabdruck, Seite 12, dritter und vierter Absatz). Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hat das Verwaltungsgericht unter Verweis auf seine vorangegangenen Ausführungen verneint (vgl. Urteilsabdruck, Seite 12, letzter Absatz und Seite 13, erster Absatz). Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat es mit der Begründung verneint, es fehle an einer relevanten Erkrankung des Klägers. Seine Angaben zu einer Erkrankung seien nicht ansatzweise hinreichend konkretisiert, um auf eine Krankheit zu schließen, die ihrem Schweregrad nach ein Abschiebungsverbot ergeben könnte (vgl. Urteilsabdruck, Seite 13, zweiter bis vierter Absatz). Eine extreme Gefahrenlage, die eine Abschiebung als verfassungswidrig erscheinen lasse, sei nicht ersichtlich (vgl. Urteilsabdruck, Seite 14, erster und zweiter Absatz). Auch insoweit hat das Verwaltungsgericht den Kläger nicht darauf verwiesen, vor am Herkunftsort drohenden Gefahren in einen anderen Landesteil auszuweichen.
10Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
11Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller zu 1) trägt 16 %, der Antragsteller zu 2) trägt 19 % und die Antragstellerin zu 3) trägt 65 % der Kosten des Verfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird auf 45.925,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellenden wenden sich gegen den Planfeststellungsbeschluss vom 24. Februar 2020 zur „Errichtung einer Hochwasserschutzanlage an der G.- Au zum Schutz vor (Binnen-)Hochwasser bei Starkregenereignissen in der Gemeinde …“. Sie sind Eigentümer von Grundstücken in der Ortslage A..
2
Teile der Ortslage der zum Kreisgebiet des Antragsgegners gehörenden Gemeinde A. liegen im natürlichen Überflutungsgebiet der G.- Au. Innerhalb der Ortslage nimmt die Au aus verschiedenen Verbandsgewässern und einem Regenwasserkanal zusätzliches Wasser auf. Sie verläuft in nordwestliche Richtung und ist über ca. 430 m verrohrt (Dorfleitung DN 1100). Die Verrohrung beginnt im Bereich der Unterquerung der N.-Straße (B xyz). Bei Starkregenereignissen ist die Verrohrung überlastet, sodass Wasser aus den Schächten tritt und über die Straßen in tiefer gelegene Bereiche fließt. Nach dem letzten Hochwasserereignis im September 2011 legte der als Vorhabenträger beigeladene Wasser- und Bodenverband im Dezember 2015 einen Plan vor für die Herstellung einer Polderfläche auf landwirtschaftlichen Flächen (Wiesen) – südlich der Ortslage und hier östlich der Straße S. – durch Errichtung eines ca. 1.000 m langen Damms zur Bildung einer Hochwasserschutzanlage mit Abflusssteuerung sowie der teilweisen Verlegung der G.- Au. Das von der Au herangeführte Wasser soll bei Erreichen eines kritischen Wasserstandes vor Eintritt in die Dorfleitung DN 1100 abgefangen und im Polder aufgestaut werden, um es dann kontrolliert in diese Dorfleitung abzuführen. Die vorhandenen Entwässerungen werden durch den Damm unterbrochen und auf der Außenseite des Dammes am geplanten Binnenentwässerungsgraben angeschlossen. Die Position des Steuerungswerkes bedingt eine Verlegung der Au innerhalb des Polders. Der Altarm dient weiterhin der Vorflut für die Verbandsleitung 45 sowie der geordneten Abführung überschüssigen Oberflächenwassers über eine Entlastungsschwelle.
3
Der Plan wurde mehrfach ausgelegt, zuletzt im September 2018 (…). Mit den Einwendungen wurde vielfach geltend gemacht, dass eine Verlegung der G.- Au als östliche Umgehung vorzugswürdig sei und hierfür ein Entwurfsplan vorgelegt. Die Einwendungen wurden mehrfach erörtert, zuletzt am 13. November 2018. Im Anschluss forderte der Antragsgegner den Beigeladenen auf, hinsichtlich der Auswirkungen des Vorhabens Gutachten einzuholen.
4
Nach der Feststellung, dass die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung nicht erforderlich sei, wurden die erhobenen Einwendungen durch den Planfeststellungsbeschluss vom 24. Februar 2020 zurückgewiesen und die sofortige Vollziehung des Beschlusses angeordnet (PFB S. 97). Die Zustellung an die Einwenderinnen und Einwender erfolgte am 26./27. Februar 2020. Zusätzlich wurde der Beschluss nebst Anlagen und Anhang nach vorheriger örtlicher Bekanntmachung in der Zeit vom 9. bis zum 23. März 2020 in der Amtsverwaltung ausgelegt.
5
Am 26. März 2020 haben die Antragstellenden gegen den Planfeststellungsbeschluss Klage erhoben und Akteneinsicht beantragt (Az. …). Weiterer Vortrag sowie ein gesonderter Antrag wegen der angeordneten sofortigen Vollziehung des Beschlusses wurde angekündigt. Über die Klage ist noch nicht entschieden.
6
Mit ihrem am 27. März 2020 gestellten Eilantrag machen die Antragstellenden geltend, dass angesichts der seit dem letzten Hochwasserereignis verstrichenen Zeit und der Verfahrensdauer ein Eilbedarf nicht gegeben sei. Der Antragsgegner stütze seine Entscheidung auf Unterlagen, die ihnen nicht bekannt seien, da sie erst nach der letzten Anhörung gefertigt worden seien. Zudem sei der Planfeststellungsbeschluss nicht ordnungsgemäß ausgelegt worden. Materiell-rechtlich verstoße der Planfeststellungsbeschluss gegen das nach der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie zu beachtende Verbesserungsgebot und enthalte darüber hinaus ein schweres Abwägungsdefizit. Zudem fehle es an einer zureichenden Entschädigungsgrundentscheidung und zugunsten der Antragstellerin zu 3) an einer Schutzauflage.
7
Die Antragstellenden beantragen,
8
die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.
9
Der Antragsgegner beantragt,
10
den Antrag abzulehnen.
11
Er meint, dass die Klage, deren aufschiebende Wirkung begehrt werde, schon deshalb keinen Erfolg haben könne, weil ihr zulässiges Vorbringen nach Ablauf der Klagebegründungsfrist des § 6 UmwRG auf den Inhalt der Klageschrift vom 26. März 2020 beschränkt sei. Im Übrigen verteidigt er den angegriffenen Planfeststellungsbeschluss einschließlich der Anordnung des Sofortvollzuges.
12
Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.
II.
13
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bleibt ohne Erfolg.
14
A. Er ist in Bezug auf den Antragsteller zu 2) und die Antragstellerin zu 3) zulässig, im Übrigen aber unzulässig.
15
I. Das Oberverwaltungsgericht ist als Gericht der Hauptsache im Sinne des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zuständig für die Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Planfeststellungsbeschluss vom 24. Februar 2020 gerichteten Klage der Antragstellenden. Dies ergibt sich aus § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 VwGO, der Planfeststellungsverfahren für Maßnahmen des öffentlichen Küsten- oder Hochwasserschutzes erstinstanzlich den Oberverwaltungsgerichten zuweist (eingefügt durch Art. 4 Nr. 2 des Gesetzes v. 30.06.2017, BGBl I S. 2193 mit Wirkung vom 06.07.2017 - Hochwasserschutzgesetz II -). Der Begriff „Maßnahmen des öffentlichen Hochwasserschutzes“ erfasst nicht nur bauliche Maßnahmen, sondern jede gewässerverändernde Maßnahme mit Auswirkungen des Ablaufs der Hochwasserwelle. Zu den Maßnahmen gehören u.a. Deich- und Dammbauten sowie gesteuerte Flutpolder (BT-Drs. 18/10879 S. 34).
16
II. Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist statthaft. Der gegen den Planfeststellungsbeschluss vom 24. Februar 2020 gerichteten Klage kommt nach der gesetzlichen Grundkonzeption aufschiebende Wirkung zu, § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Sie ist wirksam und rechtzeitig (§ 74 VwGO) erhoben worden. Ob bzw. inwieweit die Klagebegründungsfrist aus § 6 UmwRG eingehalten wurde, ist demgegenüber keine Frage der Zulässigkeit (BVerwG, Urt. v. 27.11.2018 - 9 A 8.17 -, BVerwGE 163, 380 ff., juris Rn. 15 m.w.N.).
17
III. Eine Antragsbefugnis ist gegeben für den Antragsteller zu 2) und die Antragstellerin zu 3), nicht aber für den Antragsteller zu 1).
18
Die Antragsbefugnis folgt der Klagebefugnis (OVG Schleswig, Beschl. des Senats v. 12.08.2009 - 4 MR 5/09 - n.v., S. 4 des Beschlussabdrucks). Sie ist analog § 42 Abs. 2 VwGO gegeben, wenn die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts zumindest als möglich erscheint. Wird jemand als Dritter durch das Vorhaben nur mittelbar betroffen, kann sich eine Rechtsverletzung aus der Betroffenheit in einem eigenen abwägungserheblichen Belang ergeben oder aus einer einfachgesetzlichen Vorschrift, die dem Schutz eines vom Gewässerausbau betroffenen Dritten zu dienen bestimmt ist (Spieth in: BeckOK Umweltrecht, 55. Ed. Juli 2020, § 68 WHG Rn. 29 m.w.N.). In die Abwägung einzustellen sind alle schutzwürdigen Interessen, die von der Planung betroffen sind; diese beschränken sich nicht auf verfassungsrechtlich geschützte Rechte (Czychowski/Reinhardt, WHG, 12. Aufl. 2019, § 70 Rn. 38 m.w.N.). Einzelpersonen können jedoch nur die fehlerhafte Abwägung ihrer eigenen geschützten Belange rügen, aber keine in jeder, auch objektiver Hinsicht fehlerfreie Abwägung und Planung verlangen (BVerwG, Vorlagebeschl. v. 25.04.2018 - 9 A 16.16 -, juris Rn. 54).
19
Eine drittschützende Vorschrift kann vorliegen, wenn darin ein Dritter genannt wird oder der Gedanke der Rücksichtnahme auf die Belange anderer zum Ausdruck kommt (Czychowski/Reinhardt, WHG, 12. Aufl. 2019, § 6 Rn. 36 m.w.N.). Ein für die wasserrechtliche Planfeststellung relevantes drittschützendes Rücksichtnahmegebot wird in § 68 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 1 WHG sowie in § 70 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 3 bis 6 und § 13 Abs. 1 WHG gesehen (vgl. OVG Magdeburg, Beschl. v. 12.05.2020 - 2 R 24/20 - juris Rn. 21 f. m.w.N.). Es verlangt jedoch, dass Dritte in einer qualifizierten und individualisierten Weise betroffen sind. Dafür muss die Situation eines Dritten im Verhältnis zur Allgemeinheit durch eine irgendwie geartete Besonderheit gekennzeichnet sein (BVerwG, Urt. v. 12.04.2018 - 3 A 16.15 -, BVerwGE 161, 356 ff., juris Rn. 19, 21 m.w.N; Spieth in: BeckOK Umweltrecht, 55. Ed. Juli 2020, § 68 WHG Rn. 29 m.w.N.; Czychowski/Reinhardt, WHG, 12. Aufl. 2019, § 70 Rn. 13, § 14 Rn. 38, § 13 Rn. 42 f., beide m.w.N.).
20
1. Der Antragsteller zu 2) wird von der angegriffenen Maßnahme sowohl unmittelbar als auch mittelbar betroffen. Er ist Eigentümer des nördlich der B xyz liegenden Gutes A., bestehend aus Herrenhaus und Gutspark sowie dazugehöriger landwirtschaftlicher Flächen. Unmittelbar in seinem Eigentumsrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG betroffen ist er von dem Plan, soweit eine Teilfläche seines Flurstücks abc dauerhaft durch den Damm selbst in Anspruch genommen werden soll (PFB S. 7, Anhang 1). Ob bzw. inwieweit dem aus der festgestellten Zulässigkeit der Enteignung folgenden Anspruch auf vollständige Überprüfung des Planfeststellungsbeschlusses Grenzen gesetzt sind, ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners eine Frage der Begründetheit (vgl. OVG Schleswig, Urt. des Senats v. 27.02.2020 - 4 KS 2/16 - juris Rn. 42). Darüber hinaus bewirkt das Vorhaben eine mittelbare Betroffenheit des Antragstellers zu 2) u.a. deshalb, weil der ca. 250 m vom Dammbau entfernt liegende Gutspark, der zusammen mit dem Herrenhaus als Kulturdenkmal gilt und in die Verbandsleitung 45 entwässert, bei einem Aufstau des Polders ebenfalls von einem Aufstau in gleicher Höhe betroffen wäre. Die maximalen Wasserstände und das Einstauvolumen würden sich im Vergleich zum Ist-Zustand zwar verringern, die jeweilige Einstaudauer aber länger werden (PFB S. 55). Aufgrund dieser Auswirkungen auf den Gutspark ist eine Betroffenheit in einem abwägungserheblichen Belang – anders als im Fall des vom Antragsgegner zitierten Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 05.03.2019 - 7 B 3.18 - juris Rn. 10) – gegeben, da eine erhebliche Beeinträchtigung der Denkmaleigenschaft und der dem Denkmaleigentümer auferlegten Erhaltungspflicht jedenfalls möglich ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.01.2016 - 4 BN 11.15 - juris Rn. 9 f.).
21
2. Eine ausreichende mittelbare Betroffenheit besteht auch für die Antragstellerin zu 3), deren Gärtnereibetrieb, bestehend aus den Flurstücken …, …, … und …, Flur … Gemarkung A., unmittelbar an den geplanten Damm und den dahinterliegenden Polder angrenzt. Sie macht geltend, dass sich die Produktionsbedingungen ihres Gärtnereibetriebs durch gesteigerte Kaltlufteinflüsse verschlechtern könnten. Auch hier ist eine erhebliche Beeinträchtigung möglich und deshalb zu berücksichtigen.
22
3. Der Antragsteller zu 1), dessen Flurstücke … und …, Flur … Gemarkung A., nördlich des Vorhabens und erst auf der Höhe der Verrohrung liegen, kann ebenfalls nur als mittelbar Betroffener angesehen werden. Für ihn ist jedoch weder dargelegt noch ersichtlich, woraus sich eine Betroffenheit in einem eigenen abwägungserheblichen Belang bzw. in qualifizierter und individualisierter Weise ergeben sollte. Eine Berufung auf die Verletzung des Verbesserungsgebotes aus § 27 WHG kommt nicht in Betracht.
23
Ob sich einzelne Drittbetroffene auf Verstöße gegen die Bewirtschaftungsziele des § 27 WHG berufen können, ist im Detail noch nicht abschließend geklärt, kann für das vorliegende Verfahren aber mit einem ausreichenden Grad an Gewissheit verneint werden. § 27 WHG, der die europarechtlichen Umwelt- und Bewirtschaftungsziele, namentlich das wasserrechtliche Verschlechterungsverbot und das Verbesserungsgebot aus Art. 4 Abs. 1a) Ziff. i bis iii der Richtlinie 2000/60/EG - Wasserrahmenrichtlinie - WRRL - (ABl. L 327 S. 1 in der Fassung der Richtlinie 2013/39/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. August 2013, ABl. L 226 S. 1) in nationales Recht transformiert, bietet insoweit keine hinreichend klaren Anhaltspunkte für einen diesbezüglichen Willen des Gesetzgebers (BVerwG, Urt. v. 28.11.2017 - 7 A 1.17 -, juris Rn. 42; dem folgend OVG Münster, Urt. v. 11.09.2018 - 20 D 79/17.AK -, juris Rn. 174; so schon VGH Kassel, Urt. v. 01.09.2011 - 7 A 1736/10 -, juris Rn. 92 f. m.w.N.). An dieser Auffassung hat das Bundesverwaltungsgericht auch in seinem Vorlagebeschluss vom 25. April 2018 festgehalten, in welchem es (unter 4.) um die Frage ging, ob Art. 4 WRRL so auszulegen ist, dass alle Mitglieder der von einem Vorhaben betroffenen Öffentlichkeit befugt sind, Verstöße gegen das wasserrechtliche Verschlechterungsverbot und das Verbesserungsgebot gerichtlich geltend zu machen. Die Vorlage bezog sich auf das Ziel des Art. 4 Abs. 1b) WRRL, einen „guten Zustand“ des Grundwassers zu erreichen. Nach nationalem Recht, so das Bundesverwaltungsgericht, seien einzelne (nicht in ihrem Grundeigentum betroffene) Kläger grundsätzlich nicht befugt, den Verstoß gegen dieses Ziel geltend zu machen, da die Bewirtschaftungsziele für Gewässer generell und ausschließlich dem öffentlichen Interesse dienten und keine subjektiven Rechte verleihen würden (Vorlagebeschl. v. 25.04.2018 - 9 A 16.16 -, DVBl 2018, 1418 ff., juris Rn. 57). Der Europäische Gerichtshof hat die ihm vorgelegte Frage teilweise bejaht. Er hält all diejenigen Mitglieder der Öffentlichkeit von der Verletzung der Pflichten aus Art. 4 Abs. 1b) WRRL für unmittelbar betroffen, die das fragliche Grundwasser rechtmäßig nutzen, auch wenn sie von der geplanten Maßnahme nicht in ihrem Grundeigentum betroffen sind (Urt. v. 22.05.2020 - C-535/18 - NVwZ 2020, 1177 ff. und in juris, Rn. 120-134). Vor dem Hintergrund des vom Gerichtshof angeführten spezifischen Zwecks der WRRL, das Grundwasser auch als Ressource für die menschliche Nutzung zu schützen, dürfte eine erhebliche Stärkung der Individualklagerechte damit allerdings nicht verbunden sein (vgl. Dingemann, Urteilsanm. in NVwZ 2020, 1184, 1186). Dies zeigt sich auch vorliegend. Für den Antragsteller zu 1) ergibt sich aus dem Urteilsspruch schon deshalb keine Verbesserung seiner Klage- und Antragsbefugnis, weil es hier um die Bewirtschaftung eines Oberflächengewässers i.S.d. Art. 4 Abs. 1a) WRRL geht. Diesem kommt keine dem Grundwasser vergleichbare Bedeutung für die menschliche Nutzung zu, die es geböte, von der dargestellten Rechtsprechung zum nationalen Recht abzurücken, solange die Verstöße von einzelnen Personen und nicht von anerkannten Umweltvereinigungen (dazu §§ 1 und 2 UmwRG) gerügt werden.
24
B. Soweit der Antrag zulässig ist, bleibt er allerdings unbegründet.
25
I. Die gebotene Interessenabwägung geht vorliegend zulasten des Antragstellers zu 2) und der Antragstellerin zu 3) aus.
26
1. Die Entscheidung über den Antrag nach §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO ergeht auf der Grundlage einer Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Aufschubinteressen der Beteiligten. Wird – wie hier – von einem Dritten die einem anderen erteilte und diesen begünstigende Genehmigung angegriffen, steht als besonderes Vollzugsinteresse in einem solchen Dreiecksverhältnis nicht das besondere öffentliche Interesse der Verwaltung am Vollzug des Verwaltungsakts im Vordergrund. Vielmehr ist – wie sich schon dem Wortlaut von § 80 Abs. 2 Nr. 4 Alt. 2 VwGO entnehmen lässt – auf das „überwiegende Interesse eines Beteiligten“ abzustellen. Vorrangiger Maßstab für die Interessenabwägung bei dreiseitigen Rechtsverhältnissen ist deshalb der voraussichtliche Erfolg des Hauptsacheverfahrens (BVerfG, Beschl. v. 01.10.2008 - 1 BvR 2466/08 -, NVwZ 2009, 240 ff., juris Rn. 21; so schon OVG Schleswig, Beschl. des Senats v. 09.02.1995 - 4 M 87/94 -, juris Rn. 32, v. 22.02.1995 - 4 M 115/94 -, juris Rn. 2, v. 07.08.2000 - 4 M 58/00 - NordÖR 2000, 380 ff., juris Rn. 2 und v. 21.10.2005 - 4 MB101/05 - NordÖR 2005, 533 ff., juris Rn. 2; dem folgend der 1. Senat: Beschl. v. 28.04.2010 - 1 MR 6/10 -, juris Rn. 3 und v. 14.03.2011 - 1 MR 19/10 -, juris Rn. 49 f.; OVG Magdeburg, Beschl. v. 18.05.2015 - 2 M 33/15 -, juris Rn. 19 m.w.N.). Bestehen allerdings im Einzelfall neben den Interessen des Adressaten und des Dritten auch öffentliche Interessen und weisen diese in dieselbe Richtung wie die eines der Beteiligten, können sie dessen Position verstärken (Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, VwGO § 80a Rn. 25 m.w.N., Rn. 28). Dabei kann das Gericht dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend seine vorläufige Entscheidung im Regelfall nur auf der Grundlage einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage als wesentliches Element der Interessensabwägung treffen. Kann wegen der besonderen Dringlichkeit oder der Komplexität der Rechtsfragen keine Abschätzung über die Erfolgsaussichten im Sinne einer Evidenzkontrolle getroffen werden, sind allein die einander gegenüberstehenden Interessen unter Berücksichtigung der mit der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einerseits und deren Ablehnung andererseits verbundenen Folgen zu gewichten (BVerwG, Beschl. v. 19.12.2014 - 7 VR 5.14 -, juris Rn. 9).
27
Das geltend gemachte Aufschubinteresse steht dem Vollzugsinteresse des Beigeladenen gegenüber. Letzteres wird durch das zugleich bestehende öffentliche Interesse an der Verwirklichung des geplanten Vorhabens verstärkt. Der Gesetzgeber geht bei planfestgestellten Vorhaben des Hochwasserschutzes davon aus, dass das Vorhaben dem Wohl der Allgemeinheit dient (vgl. § 71 Abs. 2 WHG; BT-Drs. 18/10879 S. 26). Zudem handelt es sich bei dem Vorhabenträger, dem beigeladenen Wasser- und Bodenverband, um eine nicht nur dem Nutzen seiner Mitglieder, sondern auch dem öffentlichen Interesse dienende öffentlich-rechtliche Körperschaft, § 1 Abs. 2 Satz 1 WVG. Das konkrete Vorhaben führt er im Rahmen der sogenannten Eigenvorsorge-Verpflichtung aus § 5 Abs. 2 WHG bzw. § 57 Abs. 1 LWG (dazu Kollmann/Mohr in PdK, LWG SH, Stand Febr. 2020, § 57 Anm. 1) für die Hochwasserbetroffenen und zugleich im Interesse der gesamten Gemeinde aus.
28
Das so definierte Vollzugsinteresse des Beigeladenen überwiegt das Aufschubinteresse des Antragstellers zu 2) und der Antragstellerin zu 3). Ihre gegen den Planfeststellungsbeschluss erhobene Anfechtungsklage hat nach summarischer Prüfung keine Aussicht auf Erfolg. Sie erscheint zwar zulässig, unter Würdigung der vorgebrachten Tatsachen aber unbegründet. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand verstößt der Planfeststellungsbeschluss gegen keine Rechtsvorschriften, deren Verletzung zu einer Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses oder der Notwendigkeit eines ergänzenden Verfahrens führen würde.
29
2. Der Prüfungsumfang für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage ergibt sich aus § 6 UmwRG, der den klagenden Beteiligten eine Frist von zehn Wochen setzt, innerhalb derer sie die zur Begründung ihrer Klage dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben müssen. Diese Frist gilt auch hier, da sich die Anfechtungsklage gegen eine Entscheidung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a) UmwRG wendet. Bei dem angegriffenen Planfeststellungsbeschluss nach §§ 67, 68 Abs. 1 WHG handelt es sich um eine Zulassungsentscheidung nach § 2 Abs. 6 Nr. 1 UVPG für ein Vorhaben, für das nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Anlage 1, Ziffer 13.13 (Bau eines Deiches oder Dammes, der den Hochwasserabfluss beeinflusst) und § 7 Abs. 1 UVPG eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen kann. Unbeschadet der sich aus § 86 Abs. 1 VwGO ergebenden Aufklärungspflicht erfolgt die gerichtliche Überprüfung nur im Rahmen der klägerseitig rechtzeitig angegebenen Tatsachen.
30
Maßgeblich für die gerichtliche Überprüfung des Planfeststellungsbeschlusses ist außerdem die Sach- und Rechtslage bei Erlass desselben (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.02.2017 - 7 A 2.15 u.a. -, juris Rn. 21 m. w. N.; Senat, Urt. v. 27.02.2020 - 4 KS 2/16 -, juris Rn. 40 m.w.N.; Schenk in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG AbwAG, 53. EL Aug. 2019, § 68 WHG Rn. 20, 25).
31
3. Rechtsgrundlage des Planfeststellungsbeschlusses vom 24. Februar 2020 sind die §§ 67, 68 WHG i. V. m. § 83 des Landeswassergesetzes (in der Fassung des Art. 1 des Gesetzes zum Neuerlass des Wassergesetzes und zur Änderung anderer wasserrechtlicher Vorschriften v. 13.11.2019, GVOBl. S. 425, gültig ab dem 01.01.2020 - LWG -). Bei dem streitgegenständlichen Vorhaben handelt es sich gemäß §§ 67 Abs. 2 Satz 3, 68 Abs. 1 WHG, § 83 Abs. 1 Nr. 2 LWG um einen planfeststellungsbedürftigen Gewässerausbau.
32
4. Die Rüge formeller Fehler bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses bleibt ohne Erfolg. Die in § 70 Abs. 1 Halbs. 2 WHG vorgeschriebene Anwendung der §§ 72-78 VwVfG tritt gemäß landesrechtlicher Regelung in § 84 Abs. 1 LWG zurück; es gelten die §§ 139-145 LVwG unter Beachtung von Einzelvorschriften des Landeswassergesetzes. Die Zuständigkeit des Antragsgegners als untere Wasserbehörde folgt aus § 101 Abs. 1 Nr. 3 LWG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Landesverordnung über die Zuständigkeit der Wasser- und Küstenschutzbehörden v. 04.12.2019, GVOBl. S. 638, gültig ab dem 01.01.2020 - WaKüVO -).
33
Verfahrensfehler bei der Entscheidungsfindung und Veröffentlichung des festgestellten Plans, die zum Erfolg der Anfechtungsklage führen würden, ergeben sich nicht.
34
a. Dies gilt zunächst für den Vortrag, der Antragsgegner habe seine Entscheidung auf Unterlagen gestützt (PFB S. 8 Nr. 7.-9.), die den Antragstellenden zuvor nicht bekannt gewesen seien, da sie erst nach der letzten Anhörung gefertigt worden seien. Diese Behauptung trifft für den „Landschaftspflegerischen Begleitplan inkl. artenschutzrechtlicher Bewertung, aufgestellt vom Planungsbüro GFN, …, Stand 14.03.2016, Kapitel 1 bis 4 und 7 bis 9“ (PFB S. 8 Nr. 7) schon nicht zu, da dieser sowohl im September 2016 als auch im Mai 2017 in vollständiger Form mit auslag (s. …) und die letzte Erörterung deutlich danach, nämlich am 13. November 2018 erfolgte.
35
In Bezug auf die beiden anderen erwähnten Unterlagen – „Wasserstände im Bereich der Einmündung der Verbandsrohrleitung Nr. 45 (Entwässerung Englischer Garten), Ingenieurgemeinschaft R. + W. / BWS, August 2019“ (PFB S. 8 Nr. 8; BA H Bl. 2313 ff. = BA I Bl. 2759) und die „Vegetationsökologische Beurteilung für den Standort „Gutspark Schloss A.“ der Unteren Naturschutzbehörde vom 03. September 2019“ (PFB S. 8 Nr. 9; …) – wird im Übrigen nicht dargelegt, gegen welche Verfahrensvorschrift insoweit verstoßen worden sein soll. Dass eine erneute Auslegung dieser Unterlagen erforderlich gewesen wäre (§ 140 Abs. 3 LVwG), wird nicht geltend gemacht. Dies wäre mit Blick auf die mit der Planauslegung verfolgte Anstoßfunktion (dazu etwa Neumann/Külpmann in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 73 Rn. 47) auch nicht zu verlangen. Seine mögliche Betroffenheit als Eigentümer und denkmalschutzrechtlich für den Gutspark Verantwortlicher hatte der Antragsteller zu 2) schon ohne Kenntnis der Unterlagen erkannt und geltend gemacht. Eine Änderung des Gesamtkonzepts der Planung oder ein grundlegend anderes Beurteilungsergebnis (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 28.04.2016 - 9 A 9.15 -, BVerwGE 155, 91 ff., juris 33 m.w.N.) ergab sich aus den nachträglich eingeholten Auskünften / Beurteilungen nicht. Sie dienten lediglich der vertieften Prüfung der vom Antragsteller zu 2) erhobenen Einwendungen. Entsprechend wurden sie nachrichtlich und zwecks Vervollständigung der Datengrundlage im Planfeststellungsbeschluss aufgeführt, um die Rechtmäßigkeit der Planung umfassend darzutun. Auch ein Verstoß gegen die Mitteilungs- und Anhörungspflicht nach § 140 Abs. 8 LVwG scheidet aus. Der ausgelegte Plan sollte nicht geändert werden, so dass auch eine erstmalige oder stärkere Belastung der Belange des Antragstellers zu 2) nicht im Raum stand.
36
Im Übrigen führt ein Verfahrensfehler nur dann zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses oder zu einem ergänzenden Verfahren, wenn die konkrete Möglichkeit erkennbar ist, dass der Planfeststellungsbeschluss bei einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Beteiligung anders ausgefallen wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.06.2004 - 9 A 11.03 -, BVerwGE 121, 72 ff., juris Rn. 48). Dem Vortrag des Antragstellers zu 2) sind jedoch keine konkreten Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, welche ergänzenden Tatsachen oder Rechtsausführungen er in Kenntnis der bezeichneten Unterlagen hätte vorbringen wollen und dass deshalb ein anderes Ergebnis des Planfeststellungsbeschlusses zu erwarten gewesen wäre.
37
b. Verfahrensmängel in Bezug auf die Zustellung und Auslegung des Planfeststellungsbeschlusses sind nicht festzustellen. Soweit die Antragstellenden darauf hinweisen, dass sich die individuellen Zustellungen mit der Übersendung des Beschlusstextes begnügt hätten, ist dies nicht zu beanstanden. Nach § 141 Abs. 4 Satz 1 LVwG ist denjenigen, über deren Einwendungen entschieden worden ist, lediglich der Planfeststellungsbeschluss zuzustellen. Dieser besteht aus dem Tenor der Entscheidung einschließlich der Anordnung von Schutzmaßnahmen und Ausgleichszahlungen gemäß Abs. 2 Satz 2 und 3, der Begründung und der Rechtsmittelbelehrung. Nicht zuzustellen sind der festgestellte Plan und weitere von der Feststellung erfasste Unterlagen (vgl. Neumann/Külpmann in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 74 Rn. 206). Auf etwaige Mängel im Rahmen der nach § 141 Abs. 4 Satz 2 LVwG vorgesehenen Auslegung einer Ausfertigung des Beschlusses nebst Ausfertigung des festgestellten Planes können sich die Antragstellenden darüber hinaus nicht berufen. Wie sich aus § 141 Abs. 4 Satz 4 LVwG ergibt, dient die Auslegung allein dem Zweck, auch gegenüber Betroffenen und Vereinigungen, die keine Einwendungen erhoben und keine Stellungnahmen abgegeben haben, eine Wirksamkeit und Bestandskraft herbeizuführen. Entsprechend gilt § 141 Abs. 4 Satz 2 LVwG auch nur für die übrigen Betroffenen. Selbst ein etwaiger Zustellungsmangel gegenüber denjenigen, über deren Einwendungen entschieden worden ist, wäre damit nicht heilbar (vgl. Neumann/Külpmann in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 74 Rn. 210-213 m.w.N.). Ob „die nachträglich gefertigten Unterlagen“ dem „möglicherweise“ beigefügt waren und ob die Antragstellenden aufgrund der Auswirkungen der Corona-Krise nicht in der Lage waren, sich hiervon zu überzeugen bzw. diese zur Kenntnis zu nehmen, ist daher ebenso unerheblich wie die offen gebliebene Frage, welcher konkrete Verfahrensverstoß für den einen oder anderen Fall geltend gemacht werden soll.
38
5. Die materielle Rechtmäßigkeit wird durch die vorgebrachte Begründung nicht in Frage gestellt.
39
a. Die anzustellende Interessenabwägung fällt nicht schon deshalb zu Lasten der Antragstellenden aus, weil diese es innerhalb der Begründungsfrist des § 6 Satz 1 UmwRG versäumt hätten, den Prozessstoff zu fixieren. Die Vorschrift ist nach ihrem eindeutigen Wortlaut zwar nur auf Hauptsacheverfahren anzuwenden, wirkt sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes jedoch mittelbar aus auf die zu treffende Interessenabwägung, wenn sich diese – wie hier (s. B. I. 1.) – an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert und eine dortige Präklusion nach § 6 UmwRG zu berücksichtigen wäre (vgl. BayVGH, Beschl. v. 18.10.2019 - 8 AS 19.40016 -, juris Rn. 49; Fellenberg/Schiller in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 90. EL Febr. 2020, § 6 UmwRG Rn. 26; Marquardt, NVwZ 2019, 1162, 1164).
40
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners wurde ein relevanter Prozessstoff innerhalb der Klagebegründungsfrist des § 6 Satz 1 UmwRG festgelegt. Dies ergibt sich aus § 6 Satz 3 UmwRG i.V.m. § 87b Abs. 3 Satz 3 VwGO. Die Möglichkeit, den maßgeblichen Sachverhalt auch ohne Mitwirkung der Beteiligten zu ermitteln, ist u.a. dann mit geringem Aufwand möglich, wenn parallel zur Klage ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt und dieser inhaltlich begründet wird (Marquardt, NVwZ 2019, 1162, 1166; OVG Lüneburg, Urt. v. 15.11.2018 - 1 KN 29/17 -, juris Rn. 31). So liegt es hier. Der aus Sicht der Klägerseite maßgebliche Prozessstoff lässt sich ohne weiteres ermitteln, indem man den Inhalt des innerhalb der Klagebegründungsfrist am 27. März 2020 eingegangenen und hier zur Entscheidung stehenden Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinzuzieht. Es kann ohne weiteres angenommen werden, dass der Planfeststellungsbeschluss zumindest mit den insoweit bezeichneten tatsächlichen Gesichtspunkten auch im Hauptsacheverfahren angegriffen werden soll, auch wenn die Klageschrift hierauf keinen Bezug nimmt.
41
b. Die rechtzeitig vorgebrachten Einwände legen eine Rechtswidrigkeit des Planfeststellungsbeschlusses allerdings nicht dar. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Antragsteller zu 2) wegen der enteignungsrechtlichen Vorwirkung einen Anspruch auf umfassende gerichtliche Überprüfung im Hinblick auf die objektive Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses hat (sog. Vollüberprüfungsanspruch). Die enteignungsrechtliche Vorwirkung tritt vorliegend gemäß § 71 Abs. 2 WHG schon kraft Gesetzes ein (Schenk in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG AbwAG, 53. EL Aug. 2019, WHG § 71 Rn. 17 m.w.N.). Bei dem Vorhaben handelt es sich, wie bereits unter A. I. ausgeführt, um eine Maßnahme des Hochwasserschutzes. Der Vollüberprüfungsanspruch reicht allerdings nur so weit, wie die im Rahmen der Anfechtungsklage geltend gemachten Rechtsfehler für die Inanspruchnahme des Eigentums erheblich, insbesondere kausal sind. Daran würde es etwa dann fehlen, wenn ein als verletzt geltend gemachter öffentlicher Belang nur von örtlicher Bedeutung ist und auch die fehlerfreie Beachtung dieses Belangs nicht zu einer Veränderung der Planung im Bereich des klägerischen Grundstücks führen würde (BVerwG, Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075.04 - juris Rn. 511, Urt. v. 28.04.2016 - 9 A 14.15 -, juris Rn. 15 f., Vorlagebeschl. v. 25.04.2018 - 9 A 16.16 -, juris Rn. 55).
42
aa. Eine Planrechtfertigung ist gegeben. Die Planung von Deich- und Dammbauten i.S.d. § 67 Abs. 2 Satz 3 WHG ist gerechtfertigt, wenn für das beabsichtigte Vorhaben nach Maßgabe der vom WHG verfolgten Ziele einschließlich sonstiger gesetzlicher Entscheidungen ein Bedürfnis besteht. Das ist nicht erst bei der Unausweichlichkeit des Vorhabens der Fall, sondern bereits dann, wenn es vernünftigerweise geboten ist (vgl. OVG Magdeburg, Beschl. v. 12.05.2020 - 2 R 24/20 - juris Rn. 32; VGH München, Beschl. v. 18.01.2005 - 8 Cs 04.1724 -, juris Rn. 38). Gemessen daran fehlt es vorliegend nicht an der Planrechtfertigung. Die Errichtung von Hochwasserschutzanlagen und Dämmen zum Schutz vor Hochwasser ist ein vom Wasserhaushaltsgesetz verfolgtes Ziel (vgl. §§ 67 ff. WHG), was insbesondere seit Inkrafttreten des Hochwasserschutzgesetzes II (v. 30.06.2017, BGBl I S. 2193) zum Ausdruck kommt. Das streitgegenständliche Vorhaben entspricht diesem gesetzlichen Planungsziel und ist vernünftigerweise geboten. Die geplante Hochwasserschutzmaßnahme soll die Ortslage A. zukünftig effektiv vor weiteren Hochwasserereignissen schützen. Dass dies nach dem letzten Hochwasserereignis von September 2011 vernünftigerweise geboten ist, wird im Planfeststellungsbeschluss (S. 27 ff.) überzeugend dargelegt und nicht in Frage gestellt.
43
bb. Verstöße gegen zwingendes Recht ergeben sich nicht.
44
(1) Insbesondere beeinträchtigt die planfestgestellte Hochwasserschutzmaßnahme nicht das Wohl der Allgemeinheit i.S.d. § 68 Abs. 3 Nr. 1 WHG. Denn das Vorhaben führt zu einer Minderung der Hochwassergefahr und zerstört keine natürlichen Rückhalteflächen. Eine mit dem Ausbau verbundene lokale Erhöhung der Stau-, Grund- und Druckwassergefahren stellt im Übrigen keine Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit dar, solange der Gewässerausbau insgesamt zu einer Verringerung der Hochwassergefahr führt. Derartige Folgeprobleme einer Hochwasserschutzmaßnahme sind im Planfeststellungsverfahren insbesondere durch die Anordnung von Schutzmaßnahmen zu bewältigen (BVerwG, Urt. v. 22.10.2015 - 7 C 15.13 -, juris Rn. 41). Soweit die Antragstellenden sich mit ihrem Vortrag gegen die Variantenauswahl wenden, ist dies keine Frage der Allgemeinwohlbeeinträchtigung, sondern ein Problem, das im Rahmen der Abwägung zu behandeln ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 18.01.2005 - 8 Cs 04.1724 -, juris Rn. 39).
45
(2) Das als verletzt gerügte Verbesserungsgebot aus § 27 WHG, Art. 4 Abs. 1a) Ziff. ii und iii WRRL stellt demgegenüber einen zwingenden materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstab für die Zulassung von Vorhaben dar und ist einer planerischen Abwägung nicht zugänglich (BVerwG, Urt. v. 10.11.2016 - 9 A 18.15 -, BVerwGE 156, 215 ff., juris Rn. 96; Hinweisbeschl. v. 25.04.2018 - 9 A 16.16 -, juris Rn. 46; Schenk in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG AbwAG, 53. EL Aug. 2019, WHG § 68 Rn. 26). Dies ist durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 1. Juli 2015 - C-461/13 - geklärt. Aus dem verbindlichen Charakter folgt, dass die Zulassungsbehörde eine gewässerkörperbezogene Prüfung durchführen muss und die Genehmigung eines konkreten Vorhabens zu versagen ist, wenn es eine Verschlechterung des Zustands eines Oberflächengewässers verursachen kann oder wenn es die Erhaltung bzw. Erreichung eines guten Zustands eines Oberflächengewässers zu dem nach der Richtlinie maßgeblichen Zeitpunkt gefährdet. Für die Gefährdung ist auf den allgemeinen ordnungsrechtlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab abzustellen (BVerwG, Urt. v. 02.11.2017 - 7 C 25.15 -, juris Rn. 58, Vorlagebeschl. v. 25.04.2018 - 9 A 16.16 -, juris Rn. 31, 36, Urt. v. 27.11.2018 - 9 A 8.17 -, BVerwGE 163, 380 ff., juris Rn. 22). Eine solche Gefährdung lässt sich bei summarischer Prüfung und auf der Grundlage des Klage- bzw. Antragsvorbringens nicht feststellen.
46
Eine gewässerkörperbezogene Prüfung der Bewirtschaftungsziele aus § 27 Abs. 2 WHG wurde durchgeführt (PFB unter 3.2.6, S. 39 ff.). Sie bezieht sich allerdings vorrangig auf den allein im Bewirtschaftungsplan aufgenommenen und hier als „erheblich verändert“ eingestuften Oberflächenwasserkörper „ff_11 S.- Au“ und geht davon aus, dass etwaige vorhabenbedingte Belastungen der G.- Au als „nicht berichtspflichtiges Nebengewässer“ nur insoweit zu berücksichtigen sind, wie sie sich auf die S.- Au auswirken können. Die Prüfung endet mit der Feststellung, dass das Vorhaben dem Erreichen eines guten ökologischen Potenzials und eines guten chemischen Zustands nicht entgegensteht, da es auf die Zielerreichung ohne relevanten Einfluss sei. Die Einstufung der G.- Au als nicht berichtspflichtiges Nebengewässer und deren Nichtaufnahme in den Bewirtschaftungsplan (Stand 22. Dezember 2015, 2. Bewirtschaftungszeitraum 2016-2021, herausgegeben vom Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein, siehe https://www.schleswig-holstein.de/....) wiederum wird von dem Antrag nicht in Frage gestellt. Sie erscheint nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auch nicht sachwidrig (zu diesem Maßstab: BVerwG, Urt. v. 10.11.2016 - 9 A 18.15 -, BVerwGE 156, 215 ff., juris Rn. 106).
47
Ebenso wenig steht die weitere Vorgehensweise in Frage, die vorhabenbedingten Belastungen der G.- Au nur insoweit zu berücksichtigen, wie sie sich auf die S.- Au auswirken können. Zutreffend weist der Antragsgegner darauf hin, dass dieses Vorgehen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keinen rechtlichen Bedenken begegnet. Dies gilt unabhängig davon, ob die Bewirtschaftungsziele für alle Oberflächengewässer oder nur für solche ab einer bestimmten Größe des Einzugsgebietes gelten (BVerwG, a.a.O. Rn. 100 ff., Urt. v. 27.11.2018 - 9 A 8.17 -, BVerwGE 163, 380 ff., juris Rn. 43 f.).
48
Vorhabenbedingte und im vorliegenden Zusammenhang relevante Belastungen der G.- Au, namentlich eine Gefährdung der in § 27 Abs. 2 Nr. 2 WHG vorgegebenen Ziele werden von den Antragstellenden nicht benannt. Gerügt wird lediglich die Perpetuierung eines „ungenügenden ökologischen Zustand(s) der 1100’er Dorfleitung“ durch Investition in den Polder. Allein die Perpetuierung eines bestehenden Zustands der G.- Au führt aber weder zu einer Verschlechterung noch zu einer Gefährdung des Ziels, den Zustand der S.- Au zu verbessern. Ob die von den Antragstellenden präferierte Lösung – ein offenes Umleitungsgewässer (Umgehungsgerinne) östlich der Ortslage – „besser“ wäre als die planfestgestellte Lösung, ist keine Frage des Verbesserungsgebotes im vorstehend erläuterten Sinn, sondern tatsächlich nur eine Frage der Variantenauswahl und damit der Abwägung.
49
cc. Eine unzureichende „Entschädigungsgrundentscheidung“ in Bezug auf möglicherweise vorzunehmende Enteignungen besteht nicht. Den insoweit maßgeblichen Anforderungen des Art. 14 Abs. 3 GG, wonach eine dem Allgemeinwohl dienende Enteignung nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen darf, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, ist Genüge getan. Maßgeblich ist insoweit nicht (mehr) § 71 Abs. 1 Satz 1 WHG, sondern der mit dem Hochwasserschutzgesetz II (v. 30.06.2017, BGBl I S. 2193) zum 5. Januar 2018 eingeführte § 71 Abs. 2 WHG. Mit dieser Regelung wird kraft Gesetzes bestimmt, dass eine Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist, soweit sie zur Durchführung eines festgestellten oder genehmigten Plans notwendig ist, der dem Küsten- oder Hochwasserschutz dient. Der Enteignungszweck des § 71 Abs. 2 Satz 1 WHG knüpft an die Regelung des § 67 Abs. 2 Satz 3 WHG an. Zu den Maßnahmen des Hochwasserschutzes gehören, wie bereits ausgeführt, auch Deich- und Dammbauten sowie gesteuerte Flutpolder. Dieser Zweck rechtfertigt eine Enteignung, wenn der Hochwasserschutz als Maßnahme des Gewässerausbaus planfeststellungsbedürftig ist (Czychowski/Reinhardt, WHG, 12. Aufl. 2019, § 71 Rn. 14 f.). § 71 Abs. 2 Satz 2 WHG stellt klar, dass es in diesem Fall bei der Feststellung des Plans abweichend von Absatz 1 Satz 1 keiner Bestimmung über die Zulässigkeit der Enteignung bedarf (Schenk in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG AbwAG, 53. EL Aug. 2019, § 71 WHG Rn. 17). Soweit der vorliegende Planfeststellungsbeschluss die Enteignung gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 WHG ausdrücklich für zulässig erklärt, wäre also selbst dies nicht notwendig gewesen. Im Übrigen wurde auch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 71 Abs. 2 WHG bejaht (s. PFB S. 51).
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Weitergehende Anforderungen sind an den Planfeststellungsbeschluss nicht zu stellen. Die verfassungsrechtlich gebotene Entschädigungsklausel (Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG) kommt mit dem Verweis in § 71 Abs. 4 WHG auf das im Übrigen geltende Enteignungsgesetz des Landes ausreichend zum Ausdruck (Schenk in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG AbwAG, 53. EL Aug. 2019, § 71 WHG Rn. 18; Spieth in: BeckOK Umweltrecht, 55. Ed. Juli 2020, § 71 Rn. 6). Dabei enthält Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG eine Entschädigungsverpflichtung dem Grunde nach, die der Gesetzgeber nach Art und Ausmaß unter Beachtung der Richtlinien des Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG konkretisieren muss. Inhalt und Umfang des einklagbaren Entschädigungsanspruchs werden durch das die Entschädigung regelnde Gesetz bestimmt. Ob die Entschädigung in Geld oder anderen Werten (z.B. Rechte, Ersatzland) bestehen soll und welche Bewertungsgrundlagen sowie welche Maßstäbe entscheidend sein sollen, hat nicht die Verwaltung, sondern der Gesetzgeber zu entscheiden (Burghart in: Leibholz/Rinck, GG, 79. Lfg. Okt. 2019, Art. 14 Rn. 1161, 1186 ff.). Entsprechend bildet das Wasserhaushaltsgesetz gemeinsam mit dem hier einschlägigen Landesgesetz über die Enteignung von Grundeigentum (als solches bekanntgemacht gemäß Zweiten Gesetzes über die Sammlung des schleswig-holsteinischen Landesrechts v. 05.04.1971 [GVOBl. S. 182], zuletzt geändert durch Art. 18 LVO v. 16.01.2019 [GVOBl. S. 30] - LEnteignG -) die von der Verfassung geforderte Rechtsgrundlage und die Ermächtigung zum Zugriff auf das Eigentum der Betroffenen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.1977 - 1 BvR 514/68 -, BVerfGE 45, 297 ff., juris Rn. 87; Kollmann/Mohr in: PdK, LWG SH, Stand Febr. 2020, § 85 Anm. 3).
51
Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nach summarischer Prüfung nicht. Das von den Antragstellenden benannte Preußische Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum ist vom Landesgesetzgeber nach Inkrafttreten des Grundgesetzes in seinen Willen aufgenommen und bestätigt worden (zum Bestätigungswillen bei vorkonstitutionellen Gesetzen vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.06.1985 - 1 BvL 14/84 -, juris Rn. 15). Es wurde durch das Zweite Gesetz über den Abschluss der Sammlung des schleswig-holsteinischen Landesrechts (v. 13.12.1973 [GVOBl. S. 414]) als Landesenteignungsgesetz übernommen und später mehrfach im Zusammenhang geändert. § 2 LEnteignG überlässt die Bestimmung über die Zulässigkeit der Enteignung zwar noch einem Beschluss der Landesregierung, doch ist dies ohne praktische Bedeutung, da die entsprechende Bestimmung heute auf der Grundlage fachgesetzlicher Regelungen erfolgt. Im Übrigen werden die wesentlichen Kriterien des Grundgesetzes zum Schutz des Eigentums erfüllt. Die zum Teil knappen Formulierungen sind einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich. So lässt sich für alle Fälle der Administrativenteignung sicherstellen, dass die Enteignung nur als letzte Möglichkeit zulässig ist, nachdem alle anderen Versuche einer einvernehmlichen Regelung, um ein Grundstück zur Erfüllung einer zum öffentlichen Wohl erforderlichen Aufgabe zu erwerben oder zu belasten, zu keinem Erfolg geführt haben (vgl. Bald/Bliese in: PdK, LEnteignG SH, Stand Febr. 2017, Vorbemerkung). Unschädlich ist deshalb auch, dass das (vormals) vorkonstitutionelle Gesetz noch von dem enteignungsrechtlichen Planfeststellungsverfahren als Regelverfahren ausgeht, weil zum Zeitpunkt des Inkrafttretens noch keine Planfeststellungsverfahren aufgrund von Fachgesetzen existierten.
52
Werden die Eigentumseingriffe fehlerfrei erkannt und abgewogen, erschöpft sich die rechtliche Regelung des Planfeststellungsbeschlusses bei Enteignungsbetroffenen tatsächlich darin, die benötigten Flächen zu bezeichnen und den Rechtsentzug zuzulassen bzw. dessen Voraussetzungen festzustellen. Im Übrigen kann auf das Enteignungsverfahren verwiesen werden, dem der Rechtsentzug selbst und die Entscheidung über die damit verbundenen Entschädigungsfragen vorbehalten sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.07.2004 - 9 A 21.03 -, juris Rn. 21; OVG Schleswig, Urt. des Senats vom 27.02.2020 - 4 KS 2/16 -, juris Rn. 77 zu § 19 Abs. 5 FStrG). Danach bleibt auch die Ermittlung der Nutzungsart und der Beeinträchtigung der einzelnen Flächen dem Enteignungsverfahren vorbehalten.
53
Hiervon ausgehend verfängt der Verweis auf den Aufsatz von Grages (RdL 2016, 58 ff.) nicht. Dieser stellt zutreffend heraus, dass ein für notwendig erachteter Eingriff in das Eigentumsrecht durch Enteignung schon im Planfeststellungsverfahren zu beachten und sorgsam abzuwägen ist. Ihm ist aber nicht zu entnehmen, dass der Planfeststellungsbeschluss insoweit eine „Entschädigungsgrundentscheidung“ enthalten muss. Die zitierte Vorschrift des § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfG, die unter den genannten Voraussetzungen „bereits einen planungsrechtlichen Entschädigungsanspruch“ begründet, bezieht sich nicht auf enteignungsbetroffenes Eigentum, sondern auf nur mittelbar betroffene Rechtspositionen.
54
Inwieweit sich aus dem zitierten Urteil des EGMR (v. 19.01.2017 - 32377/12 -, juris) bzw. den vorausgehenden bundesgerichtlichen Entscheidungen Abweichendes ergeben soll, erhellt sich nicht. In dem tatbestandlich erwähnten Klageverfahren vor dem BVerwG war es offenbar nicht zu einem Urteil gekommen, das Verfahren wurde vielmehr eingestellt (EGMR a.a.O. Rn. 11), ohne dass nähere Umstände bekannt wären. Der im nachfolgenden Entschädigungsverfahren angerufene BGH hat keine „Entschädigungsgrundentscheidung“ in das Planfeststellungsverfahren verwiesen, sondern nur einen (für eine Bergbauberechtigung eventuell bestehenden) Anspruch auf Vornahme einer Enteignung (BGH, Urt. v. 14.04.2011 - III ZR 30/10 -, BGHZ 189, 231 ff. juris Rn. 31).
55
c. Entscheidungserhebliche Abwägungsmängel sind nach summarischer Prüfung weder überzeugend dargelegt noch ersichtlich.
56
Ein auf § 68 Abs. 3 WHG gestützter Planfeststellungsbeschluss setzt eine planerische Abwägung voraus, in deren Rahmen die von der Planung berührten öffentlichen und privaten Interessen gegeneinander und untereinander gerecht mit dem Ziel abzuwägen sind, eine inhaltlich in sich abgewogene Planung zu erreichen. Das Abwägungsgebot verlangt, dass eine Abwägung überhaupt stattfindet, dass in die Abwägung an Belangen eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss, und dass weder die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange verkannt noch der Ausgleich zwischen ihnen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (OVG Magdeburg, Beschl. v. 12.05.2020 - 2 R 24/20 - juris Rn. 40 m.w.N.). Diese Anforderungen beziehen sich sowohl auf den Abwägungsvorgang als auch auf das im Plan zum Ausdruck kommende Abwägungsergebnis (OVG Schleswig, Urt. des Senats v. 24.06.2008 - 4 LB 15/06 -, juris Rn. 82). Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die zur Planung ermächtigte Stelle in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet (stRspr des BVerwG, vgl. Urt. v. 14.03.2018 - 4 A 5.17 - juris Rn. 73 m.w.N.). Die damit einhergehende Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung einer getroffenen Entscheidung ist der planerischen Gestaltungsfreiheit der Fachplanungsbehörde geschuldet. Das Gericht ist nicht befugt, die Planfeststellungsbehörde auf bestimmte Planungsergebnisse festzulegen (OVG Schleswig, Urt. des Senats v. 27.02.2020 - 4 KS 2/16 -, juris Rn. 68 m.w.N.).
57
aa. Der Sache nach – wenn auch im Zusammenhang mit dem zwingend zu beachtenden Verbesserungsgebot (s.o. B. I. 5., b., bb. (2.)) – wird die Auswahl der Polderlösung statt des von den Antragstellenden bevorzugten östlichen Umgehungsgewässers gerügt. Die so verstandene Rüge greift allerdings nicht durch. Die Variantenauswahl ist für die Inanspruchnahme bzw. Betroffenheit der Flächen des Antragstellers zu 2) und der Antragstellerin zu 3) zwar kausal, gerichtlicherseits aber nicht zu beanstanden; dies gilt sowohl für den Abwägungsvorgang als auch für das Abwägungsergebnis.
58
Die Auswahl unter verschiedenen Planungsvarianten ist ungeachtet rechtlich zwingender Vorgaben eine fachplanerische Abwägungsentscheidung und unterliegt ebenfalls nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Bei der Auswahl zwischen verschiedenen Varianten ist die Grenze der planerischen Gestaltungsfreiheit erst überschritten, wenn eine andere als die gewählte Lösung sich unter Berücksichtigung aller abwägungserheblichen Belange eindeutig als die bessere, weil öffentliche und private Belange insgesamt schonendere darstellen würde, wenn sich mit anderen Worten diese andere Lösung der Behörde hätte aufdrängen müssen, oder wenn der Planungsbehörde infolge einer fehlerhaften Ermittlung, Bewertung oder Gewichtung einzelner Belange ein rechtserheblicher Fehler unterlaufen ist (stRspr des BVerwG, vgl. Urt. v. 14.03.2018 - 4 A 5.17 -, BVerwGE 161, 263 ff., juris Rn. 82, Urt. v. 26.06.2019 - 4 A 5.18 - juris Rn. 61).
59
Der Antragsgegner hat die von den Antragstellenden bevorzugte Variante eines Umleitungsgewässers östlich der Ortslage (Variante 3 optimiert) nicht als weniger geeignet frühzeitig ausgeschieden, sondern sie als einzig ernsthaft in Betracht kommende Alternative zur Polderlösung (Variante 1 optimiert) berücksichtigt. Beide Varianten könnten alle vier angenommenen Lastfälle bewältigen, böten ein hohes Potenzial an Sicherung der Ortslage gegen Überflutungen und enthielten Maßnahmen zum Schutz für den S. sowie für den N.. Diese beiden Varianten wurden anhand von fünf verschiedenen Kriterien einer vergleichenden Prüfung unterzogen, aufgrund derer sich der Antragsgegner für die Polderlösung entschied. Bei drei Kriterien schnitten die Varianten etwa gleich gut ab (Eignung zur Erreichung der Planungsziele, Betroffenheit von Eigentum / gewerblicher Betriebe und der Gärtnerei). Ausschlaggebend war danach die optimale Ausnutzung möglicher Retentionsräume und das umweltfachlich bessere Abschneiden der Variante 1, die sich zudem auch als deutlich wirtschaftlicher darstellte als die Variante 3 (PFB unter 4.4.4 S. 61 ff., 73). Hiervon ausgehend hätte sich die Variante 3 keinesfalls als Lösung aufdrängen müssen. Dass der Antragsgegner bei der Abwägung einzelner Belange fehlerhaft ermittelt, bewertet oder gewichtet hätte, ist ebenfalls nicht dargelegt. Die Kriterienauswahl als solche wird nicht angegriffen.
60
Nach Ablauf der Klagebegründungsfrist des § 6 Satz 1 UmwRG wurde weiter geltend gemacht, dass das streitige Vorhaben – die Variante 1 – „in den tatsächlichen Mangel hinein“ geplant worden sei und der festgestellte Plan seine Funktion nicht erfüllen könne, weil die Schöpfleistung des nördlich gelegenen Schöpfwerkes Gr. zu klein sei. In welchem tatsächlichen Zusammenhang dieser Vortrag erfolgt, wird nicht erläutert. Nimmt man ungeachtet einer denkbaren Präklusion nach § 6 UmwRG an, dass sich die Antragstellenden damit auf die Variantenauswahl beziehen und ein Argument gegen eine Gleichwertigkeit der Variante 1 gegenüber der Variante 3 vorbringen wollen, so verhilft auch dies dem Vortrag nicht zu Erfolg. Insoweit hätte es einer näheren Auseinandersetzung mit dem im Planfeststellungsbeschluss dargestellten Werdegang bei Auswahl und Optimierung der Varianten bedurft. Eine Ertüchtigung des Schöpfwerkes als eigenständiger Lösungsansatz wurde frühzeitig ausgeschieden. Die sodann angestellte Überlegung, die Ertüchtigung als ergänzende Maßnahme hinzuzuziehen, um auch für den Fall zweier gleichzeitig auftretender Hochwasserereignisse, nämlich eines Hochwassers aus dem Binnenland und lang anhaltender, hoher Ostseewasserstände gerüstet zu sein, konnte nach Optimierung der Variante 1 jedoch ebenfalls ausgeschieden werden, da die Polderlösung nach den letzten Berechnungen auch den Lastfall 4 (erhöhter Ostseewasserstand) ausreichend bewältigt (PFB S. 57 ff.). Warum der festgestellte Plan seine Funktion dennoch nicht erfüllen können soll, wird im Antrag nicht erläutert.
61
Im Übrigen äußert sich der Antrag zur Variantenauswahl nur indirekt, indem er ausführt, dass die festgestellten Nachteile der Variante 3 – höhere Kosten, Belastung teilweise anderer Eigentümer – wegen der Geltung des wasserrechtlichen Verbesserungsgebotes (§ 27 WHG, Art. 4 WRRL) hinzunehmen seien. Denn eine Verbesserung des ökologischen Zustands sei in der Örtlichkeit nur durch ein Umgehungsgerinne östlich der Ortslage zu erreichen. Nur der offene Gewässerverlauf, nicht aber eine Rohrleitung wie die 1100’er Dorfleitung lasse das Gewässer in eine vielfältige Wechselwirkung mit der Umgebung treten. Dabei wird zutreffend ausgeführt, dass das Verbesserungsgebot einen zwingenden materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstab für die Zulassung von Vorhaben darstellt und einer planerischen Abwägung nicht zugänglich ist. Dies hat der Antragsgegner berücksichtigt.
62
Die vorgetragene Auffassung, dass aus einer „Pflicht zur aktiven Verbesserung“ zugleich eine „Pflicht zur Wahl der den Gewässerzustand verbessernden Maßnahmenalternative“ folge, vermag aus den vorgenannten Gründen nicht zu überzeugen, kann aber auch dahinstehen. Denn es ist nicht erkennbar, dass durch die Variante 3 eine Verbesserung des hier maßgeblichen Oberflächenkörpers „ff_11 S.- Au“ zu erwarten wäre. Danach ist es nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner die Erreichung der Bewirtschaftungsziele im Rahmen der Abwägung zwischen verschiedenen Varianten außer Betracht gelassen und insbesondere unter Berücksichtigung der Betroffenheit umweltfachlicher Schutzgüter (PFB S. 68) zu dem Schluss gekommen ist, dass die planfestgestellte Lösung deutlich weniger eingriffsintensiv und damit „besser“ ist als ein offenes Umleitungsgewässer östlich der Ortslage.
63
bb. Die vom Antragsteller zu 2) geltend gemachten schutzwürdigen Interessen in Bezug auf seinen unter Denkmalschutz stehenden Gutspark sind fehlerfrei erkannt und bewertet worden. Ob der aus Art. 14 Abs. 3 GG abgeleitete Vollüberprüfungsanspruch die diesbezügliche Rüge umfasst, kann dahinstehen, da der Antragsteller zu 2) insoweit als zugleich mittelbar Betroffener die Berücksichtigung eines abwägungserheblichen Belanges geltend macht.
64
Nach summarischer Prüfung fehlt es allerdings schon an einem beachtlichen privaten Belang. Auch der angeführte Schutz des Denkmals gebietet keine andere als die getroffene Entscheidung. Nachvollziehbar ist der Antragsgegner unter Beachtung der denkmalrechtlichen Vorgaben zu dem Schluss gekommen, dass der Gutspark als Denkmalbereich durch das planfestgestellte Vorhaben nicht wesentlich beeinträchtigt wird (PFB unter 4.3, S. 54 ff.).
65
Die denkmalrechtlichen Vorgaben waren nach der in § 84 Abs. 1 Satz 1 LWG i.V.m. § 142 Abs. 1 LVwG vorgesehenen Konzentrationswirkung vom Antragsgegner eigenverantwortlich und anstelle der Denkmalschutzbehörde zu prüfen. Genehmigungen oder Zustimmungen anderer Fachbehörden werden durch den festgestellten Plan ersetzt. Dabei hat die Planfeststellungsbehörde dasjenige materielle Recht anzuwenden, das für die nicht mehr erforderlichen Entscheidungen gilt. Strikte Gebote oder Verbote, die sich aus diesem Recht ergeben, kommen auch in der Planfeststellung zur Geltung und lassen sich nicht zu bloßen Abwägungsposten abschmelzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.03.2006 - 4 A 1075.04 -, BVerwGE 125, 116 ff., juris Rn. 448 zu § 9 Abs. 1 LuftVG; Kämper in: BeckOK VwVfG, 48. Ed. 01.07.2020, § 75 Rn. 5). Die Behörden, deren Aufgabenbereich durch das Vorhaben berührt wird, werden stattdessen im Anhörungsverfahren beteiligt (§ 140 Abs. 2, 3a, 6 LVwG). Ihre Stellungnahmen binden die Planfeststellungsbehörde jedoch nicht. Diese hat die den Fachbehörden zukommende Sachkompetenz zwar zu berücksichtigen, bleibt aber zur eigenverantwortlichen Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts verpflichtet (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.05.1988 - 4 C 11.85 und 12.85 -, juris Rn. 21; Kämper in: BeckOK VwVfG, 48. Ed. 01.07.2020, § 73 Rn. 17, 23 m.w.N.).
66
Ein Verstoß gegen das „einfachgesetzliche Entscheidungsprogramm“ ist entgegen der Auffassung des Antragstellers zu 2) nicht erkennbar. Maßgeblich zu klären ist nach § 12 Abs. 2 DSchG, ob das Vorhaben einer denkmalrechtlichen Genehmigung bedurft hätte, weil es geeignet ist, den Gutspark als Denkmalbereich „wesentlich zu beeinträchtigen“. Dass der Antragsgegner bereits das Vorliegen einer solchen wesentlichen Beeinträchtigung verneinte und es deshalb einer Abwägung entsprechend § 13 Abs. 2 DSchG nicht mehr bedurfte, begegnet keinen Bedenken. Insbesondere wurden sowohl die im Planfeststellungsbeschluss bestätigten Folgen einer längeren Einstaudauer für den Denkmalwert und für die Erhaltungsverantwortung des Antragstellers zu 2) als auch die durch Stellungnahmen eingebrachte Sachkompetenz des an sich zuständigen Landesamtes für Denkmalpflege (§ 3 Abs. 2 Nr. 2, § 12 Abs. 2 DSchG) ausreichend berücksichtigt.
67
Das Landesamt stellte auf das denkmalpflegerische Ziel der Erhaltung des historischen Parks mit teilweise uraltem Baumbestand ab und empfahl die Einholung eines Gutachtens zu der Frage, ob der Baumbestand gefährdet sei. Empfohlen wurde eine sachverständige Person oder Stelle für Wasserbau und gartendenkmalpflegerische Fragen (Stgn. v. 20.10.2016, BA C Bl. 677, v. 29.06.2017, BA E Bl. 1245 ff., BA F Bl. 1658 und v. 26.10.2018, BA G Bl. 2067). Die Anhörungsbehörde schloss sich dieser Empfehlung an (Protokoll des Erörterungstermins vom 08.11.2017, BA F Bl. 1602), woraufhin die Planfeststellungsbehörde entsprechende Maßnahmen veranlasste. Das LLUR als Untere Forstbehörde führte eine Bestandserfassung im Gutspark durch (lehnte die Erstellung eines weitergehenden Gutachtens aber ab, Schreiben v. 18.10.2018, …). Der Beigeladene erhielt eine Gutachtenanforderung, wonach anhand prognostizierter Veränderungen der Wasserstände hinsichtlich Zeit und Dauer ermittelt werden sollte, ob diese Veränderungen geeignet seien, den Bewuchs in der historischen Parkanlage durch Staunässe zu schädigen (…). Nach Erhalt der hydraulischen Berechnungen durch das Ingenieurbüro R. + W. / BWS vom 22./27. August 2019 (…) holte die Planfeststellungsbehörde eine „Vegetationsökologische Beurteilung“ des hauseigenen Fachdienstes Naturschutz und Strategische Umweltplanung vom 3. September 2019 ein, welches zu dem Ergebnis kam, dass die Bedenken zum Erhalt des Altbaumbestandes aus vegetationsökologischer Sicht unbegründet seien (…). Hierauf ist die angegriffene Entscheidung maßgeblich gestützt.
68
Die vom Antragsteller zu 2) erhobenen Bedenken gegen dieses Vorgehen vermögen nicht zu überzeugen. Soweit er meint, die Vegetationsökologische Beurteilung sei „schon vom Ansatz her ungeeignet“, etwaige Beeinträchtigungen des Denkmalwertes angemessen abzuhandeln, übersieht er, dass das Landesamt für Denkmalpflege die Frage einer Beeinträchtigung der historischen Parkanlage gerade von der Beurteilung abhängig gemacht hat, ob der Baumbestand der Parkanlage gefährdet sei, wenn er tagelang im Stauwasserbereich stehe, zumal gerade Parkbäume eine sehr niedrige Toleranz hätten. Da das Landesamt selbst keine seinen Anforderungen entsprechende Person oder Stelle für ein derartiges Gutachten zu vermitteln vermochte, wurde die Begutachtung – wie dargestellt – in mehrere Schritte aufgeteilt. Auch wenn es am Ende um die Frage geht, ob die Vernässung des Gutsparkes dessen denkmalpflegerischen Wert (wesentlich) beeinträchtigt, ist dies doch eine von der Planfeststellungsbehörde zu beantwortende Rechtsfrage, die ihrerseits von den fachlich prognostizierten Veränderungen der Wasserstände und der fachlichen Einschätzung zur Toleranz der verschiedenen Baumarten und deren Standorte im Gutspark abhängt. Laut LLUR hätten die näheren Informationen zu den Standortanforderungen einzelner Baumarten auch in der Literatur recherchiert werden können. Warum die fachliche Einschätzung unter diesen Umständen nicht durch einen im Fachdienst Naturschutz tätigen Dipl.-Ing. (FH) für Landschaftsnutzung und Naturschutz abgegeben werden kann (gestützt auf eine eigene Ortsbegehung, ein Höhenschichtmodell, die Biotopkartierung und die Standortansprüche der vorhandenen Vegetation mit anschließender Konfliktanalyse), erläutert der Antragsteller zu 2) nicht. Auch mit den Inhalten der Vegetationsökologischen Beurteilung setzt er sich nicht substantiiert auseinander, sondern stört sich mehr an der Tatsache, dass die Beurteilung aus dem Hause des Antragsgegners kommt. Dies allein vermag die fachliche Qualität der Vegetationsökologischen Beurteilung jedoch nicht in Frage zu stellen.
69
Eine wesentliche Beeinträchtigung des hier in Rede stehenden Denkmalbereichs lässt sich nach alledem nicht feststellen. Dies ergibt sich schon aus der Lage der vom LLUR und vom Gutachter beschriebenen Areale im Gutspark, der in zwei abzugrenzende Bereiche unterteilt ist:
70
(1) Das Herrenhaus im Nordwesten ist von einer Graben- und Wallanlage umgeben, die ebenso wie der südlich angrenzende Englische Garten auf höherem Geländeniveau (ca. 3-4 mNN) liegt. Der Englische Garten weist laut LLUR eine parkartige Gestaltung mit Wegeführung, Rasenflächen, baulichen Anlagen und altem Baumbestand auf, der laubbaumdominiert ist (Rot-Buche, Stiel-Eiche, Berg-Ahorn, Gingko); auch finden sich hier einige Tannen. Auch Baumarten mit geringerer Überflutungstoleranz (Rot-Buche, Fichte) ertrügen aber kurzzeitige Überschwemmungen schadlos. Die Vegetationsökologische Beurteilung kommt zu dem Schluss, dass hier schon wegen der Höhenlage mit einer Betroffenheit von zukünftig möglichen Überflutungen nicht zu rechnen sei. Zudem weise der mittelalterliche Schlossgraben mit 2,65 mNN eine höhere Mindesteinstauhöhe auf als die zukünftigen maximalen Wasserstände von 1,62 mNN (bei HQ5) bzw. 1,81 mNN (bei HQSept.2011), ohne dass von Beeinträchtigungen berichtet worden wäre, die für die Zukunft befürchtet werden.
71
(2) Im südwestlichen und östlichen Teil erfolgte 1986 eine Biotopkartierung, die zu 80% den Biotoptyp „Bruchwald“ und zu 20% den Biotoptyp „Wald, mesophil“ umfasst. Der Erlenbruchwald ist von Erhebungen ähnlicher Höhenschichten wie der Gutspark umgeben, liegt selbst aber im Bereich mit den geringsten Geländehöhen und könnte daher am stärksten von Überflutungen betroffen sein. Laut Definition des LLUR steht ein solcher Bruchwald auf feuchten und nassen Böden mit mindestens 10 cm mächtigem organischen Oberboden. Hier besteht er aus Schwarzerlen sowie einer bruchwaldtypischen Bodenvegetation mit Sumpf-Seggen und Schwert-Lilien. Dieser Bereich stellt laut LLUR bereits eine Akklimatisierung an die herrschenden Standortverhältnisse dar. Die vorhandenen Baumarten seien an die nassen Bodenverhältnisse angepasst und reagierten tolerant auch auf länger andauernde Überschwemmungen. Als sog. Nässezeiger soll gerade die Schwarzerle sehr gut an nasse Standorte und wiederkehrende Überflutungen angepasst sein. Laut Biotopkartierung ist der Erlenbruchwald mit Pappeln und Fichten durchsetzt und von alten Eichen, Buchen und Eschen sowie einzelnen exotischen Nadelbäumen umgeben. Das LLUR berichtet von sich vereinzelt findenden Eschen, Stiel-Eichen, Moorbirken, Pappeln und Ulmen, die ebenfalls eine gewisse Toleranz gegenüber Überflutungen aufwiesen. Das bestätige auch die hohe Vitalität der Bäume trotz der in der jüngeren Vergangenheit aufgetretenen und länger andauernden Überschwemmungen. In den umgebenden höheren Bereichen fänden sich Rot-Buchen, Stiel-Eichen, Fichten, Ulmen, Berg-Ahorn und Stechpalme. Der Baumbestand sei vital. Von den genannten Baumarten könnten insbesondere Rot-Buche, Berg-Ahorn und Fichte empfindlich auf längere Überstauungen und Staunässe im Boden reagieren.
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Auf dieser Grundlage weist die Vegetationsökologische Beurteilung unter Hinzuziehung weiterer Quellen darauf hin, dass Stiel-Eichen und Eschen typische Vertreter der Hartholzaue seien und 2-3 m hoch überstaut werden könnten. Sie verkrafteten eine Überstauung mit Wasser bis zu 100 Tage/Jahr (S. 6). Berg-Ahorn, Buche und Fichte könnten kurzzeitige Überschwemmungen relativ unproblematisch ertragen, kritisch werde es speziell bei Rot-Buchen und Berg-Ahorn nach ca. 8 bzw. 20 Tagen (S. 7). Die Überflutungstoleranz von Fichten betrage mehr als 8 Tage (S. 9). Demgegenüber sei bei Realisierung des Polders mit Hochwasserspitzen von 3 Tagen (bei HQ5) bzw. 8,5 Tagen (bei HQSept.2011 - an 1,5 Tagen mit dem Maximalwasserstand von 1,81 mNN und im Übrigen von 1,50 mNN -) zu rechnen. Im Übrigen hatte der Antragsteller zu 2) während des Ortstermins selbst darauf hingewiesen, dass die Rot-Buchen nur auf den Anhöhen stünden und nicht überflutungsgefährdet seien (S. 7). Nach seiner Ansicht verblieben eine Fichte (verortet bei 2,17 m), einzelne Rhododendrenbüsche (2,11 / 2,41 m), zwei Tulpenbäume (2,41 m) und zwei Deutzien (2,14 m), die in tieferen Lagen stünden und gegenüber einer Überflutung empfindlicher seien. Diesbezüglich wird darauf hingewiesen, dass sowohl die Deutzien als auch die Tulpenbäume das Hochwasser von 2011 unbeschadet überstanden hätten und insbesondere das hohe Alter der Tulpenbäume eine gewisse Überflutungstoleranz begründen könne. Rhododendron sei gegenüber stehender Nässe zwar empfindlich und könne absterben, doch sei die Standortauswahl der Anpflanzung ungeeignet und eine Einordnung eines repräsentativen Vorkommens anhand der Einzelgehölze nicht repräsentativ.
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(3) Im Übergang zum östlichem Teil des Parks findet sich eine Allee aus Kopflinden. Gen Osten schließt sich laut LLUR eine kleine Wiese an, welche von dichtem Baumbestand umgeben sei. Dieses Areal von ca. 3,2 ha Größe lasse in weiten Teilen keine parktypische Gestaltung mehr erkennen. Zwar seien vereinzelt nichtheimische Gehölze wie Sumpf-Zypresse, Sitka-Fichte und Rhododendron vorhanden, vorherrschend seien jedoch einheimische Waldbaumarten. Eine Wegeführung sei nicht erkennbar. Ähnlich führt die Vegetationsökologische Beurteilung hierzu aus, dass sich die Vegetationsstruktur an dieser Stelle von einem Parkcharakter zu einem Naturwaldcharakter ändere, wo eine gärtnerische Ordnung nicht mehr zu erkennen sei und von einer signifikanten gartenbaulichen Bedeutsamkeit nicht gesprochen werden könne, dafür aber eine höhere naturschutzfachliche Wertigkeit gegeben sei. Insgesamt habe der Ortstermin vom 28. Juni 2019 ergeben, dass sämtliche verorteten Standorte über 2 m lägen und schon deshalb von den ermittelten Hochwasserspitzen von 1,62 mNN bzw. 1,81 mNN selbst bei einem längeren Einstau nicht betroffen würden, so dass die Bedenken zum Erhalt des Altbaumbestandes aus vegetationsökologischer Sicht unbegründet seien (S. 11, 12). Auch nach Einschätzung des LLUR weist der vorhandene Baumbestand bis auf einige Rhododendrensträucher in der östlichen Parkhälfte und eine umgefallene Linde am Rand der Wiese keine erwähnenswerten Absterbeerscheinungen auf.
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(4) Eine erhebliche Beeinträchtigung des Denkmalwertes lässt sich bei diesem Befund nicht feststellen. Zutreffend weist der Antragsgegner darauf hin, dass die festgestellten Beeinträchtigungen zu geringfügig wären, als das eine rechtsbeeinträchtigende Auswirkung auf das Denkmal eintreten könnte, zumal diese Beeinträchtigungen nicht im Englischen Garten, sondern östlich davon in einem Bereich mit Naturwaldcharakter zu erwarten wären. Weder das Landesamt für Denkmalpflege noch der Antragsteller zu 2) gehen auf diese für den Denkmalwert relevante Differenzierung ein. Ein gegenüber dem Gutachter angekündigtes eigenes Gutachten, welches in Zusammenarbeit mit dem Landesamt erstellt werden sollte, liegt dem Gericht nicht vor.
75
cc. Die Inanspruchnahme von Teilflächen des im Eigentum des Antragstellers zu 2) stehenden Flurstücks abc, welches derzeit landwirtschaftlich genutzt wird, ist sowohl durch die notwendigen Bauarbeiten zwecks Errichtung des geplanten Damms als auch durch das Dammbauwerk selbst in seinem Verlauf nachvollziehbar begründet und gerechtfertigt. Die daraus resultierenden eigentumsbezogenen Belange wurden erkannt und beanstandungsfrei abgewogen. Es wird dargelegt, dass das Vorhaben dem Wohl der Allgemeinheit dient und eine weitergehende Reduzierung des Flächenbedarfs oder ein Verzicht auf die Fläche nicht möglich sei, ohne die mit dem Polderbau verfolgten Ziele zu verfehlen (PFB S. 52 f.). Diesbezügliche Abwägungsmängel macht der Antragsteller zu 2) nicht geltend. Seine Bereitschaft, die erforderlichen Flächen für die „Polder-Lösung“ zur Verfügung zu stellen, scheitert offenbar allein daran, dass er eine andere Planungsvariante bevorzugt. Wie in der Antragsschrift bestätigt, ist er laut Erklärung vom 26. Juli 2017 bereit, das erforderliche Land für die Umgehungsvariante zur Verfügung zu stellen (…).
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d. Ist ein geplantes Vorhaben nur durch Festsetzungen zu verwirklichen, die z.B. Nachbarrechte beeinträchtigen oder Nachteile tatsächlicher Art i.S.d. (§ 70 Abs. 1 Hs. 1 i.V.m.) § 14 WHG verursachen, so ist das Abwägungsgebot verletzt, wenn der Plan festgestellt wird, ohne dass gleichzeitig die entsprechenden Schutzvorkehrungen bzw. die ersatzweise Entschädigung angeordnet wird. Der Planfeststellungsbeschluss kann dann aufzuheben oder zu ergänzen sein (Kollmann/Mohr in PdK, LWG SH, Stand Febr. 2020, Vorb. §§ 83, 84 Anm. 3.2).
77
Soweit im Hauptsacheverfahren über die Anfechtung des Planfeststellungsbeschlusses hinaus die Verpflichtung des Beklagten auf Erlass von Nebenbestimmungen begehrt wird, vermögen die Anträge und die dazu gemachten Ausführungen von vornherein nicht zu der hier beantragten Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu führen. Das Vorbringen hierzu führt, selbst wenn es in der Sache begründet wäre, in der Hauptsache nicht zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses oder auch nur zur Feststellung seiner Rechtswidrigkeit.
78
aa. Zum einen geht es um die Verpflichtung des Beklagten, den Planfeststellungsbeschluss „mit einer Nebenbestimmung zu versehen, nach der die Kläger zu 1.-3. einen Anspruch gegen den Vorhabenträger haben, für die Inanspruchnahme ihres jeweiligen Eigentums, im Falle des Klägers zu 2., seines landwirtschaftlichen Betriebes, und im Falle der Klägerin zu 3. ihres gartenbaulichen Betriebes durch Nutzung, Inbesitznahme, Enteignung oder sonstige erhebliche Belastung in Land oder in Geld entschädigt zu werden“. Dass es im Falle einer notwendig werdenden Enteignung einer solchen Entschädigungsgrundentscheidung nicht bedarf, wurde bereits ausgeführt (s.o. B., I., 5., b., cc.).
79
Ob die Rüge einer unzureichenden und deshalb nachträglich aufzunehmenden Entschädigungsgrundentscheidung bezogen auf mittelbare Einwirkungen des Vorhabens auf das Eigentumsrecht oder auf sonstige nachteilige Wirkungen zu einem erheblichen Abwägungsfehler i.S.d. § 84 Abs. 1 Satz 1 LWG i.V.m. § 142 Abs. 1a) Satz 2 LVwG führt, kann dahinstehen. Derartige Beeinträchtigungen bestimmen unabhängig von ihrer Intensität lediglich Inhalt und Schranken des Eigentums i.S.v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG und führen nicht zum vollständigen oder teilweisen Entzug des Eigentums i.S.d. Art. 14 Abs. 3 GG (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.05.2005 - 4 VR 2000.05 -, juris Rn. 8, Urt. v. 07.07.2004 - 9 A 21.03 -, juris Rn. 21; OVG Magdeburg, Beschl. v. 12.05.2020 - 2 R 24/20 - juris Rn. 34). Maßgeblich sind insoweit die §§ 96 ff. WHG zu beachten, die sich speziell auf die im WHG normierten Entschädigungsfälle beziehen (Czychowski/Reinhardt, WHG, 12. Aufl. 2019, § 96 Rn. 3 ff.). Ergäbe sich aus den hier einschlägigen Regelungen des § 70 Abs. 1 Hs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 3 und 4 WHG wegen absehbarer Beeinträchtigungen ein Entschädigungsanspruch, wäre dieser dem Grunde nach im Planfeststellungsbeschluss festzustellen und die Bemessungsgrundlagen wären für die Höhe anzugeben (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.07.2012 - 7 A 11.11 -, juris Rn. 70 m.w.N.). Fehlt es daran, würde dies nach der Fehlerfolgenregelung des § 84 Abs. 1 LWG i.V.m. § 142 Abs. 1a) Satz 2 LVwG in der Hauptsache allerdings nicht zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses, sondern nur auf eine im Wege der Verpflichtungsklage zu verfolgende Planergänzung führen.
80
Die Vorschrift des § 142 Abs. 1a) Satz 2 LVwG dient ebenso wie die bundesrechtliche Vorschrift des § 75 Abs. 1a) Satz 2 VwVfG der Verfahrensökonomie und dem damit verbundenen Grundsatz der Planerhaltung, wonach stets nur die am wenigsten in das planfestgestellte Vorhaben eingreifende Rechtsfolge zu rechtfertigen ist, die aber dennoch eine ausreichende Fehlerbehebung sicherstellt. Betrifft der Fehler nicht die Ausgewogenheit der Gesamtplanung, ist seine isolierte Behebung durchsetzbar und kann mit der Umsetzung des Planfeststellungsbeschlusses bereits zuvor ohne Verletzung der Rechte Dritter begonnen werden, reicht es aus, der Planfeststellungsbehörde Gelegenheit zu geben, den Plan um eine Schutzauflage zu ergänzen. In diesem Fall käme im Hauptsacheverfahren auch eine Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses – als Minus zum Anfechtungsbegehren – nicht in Betracht (stRspr des BVerwG, vgl. Urt. v. 09.06.2004 - 9 A 11.03 -, BVerwGE 121, 72 ff. juris Rn. 110-112 zu § 17 Abs. 6c FStrG a.F. m.w.N.). Für ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, welches an die Erfolgsaussichten einer Anfechtungsklage anknüpft, hat dies zur Konsequenz, dass ein etwaiger Anspruch auf Planergänzung eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht zum Erfolg zu verhelfen vermag, solange die Sicherung des Planergänzungsanspruchs es nicht erfordert, die Ausführung des Vorhabens bis zur Planergänzung zu unterbinden. Dies wiederum könnte nur angenommen werden, wenn der Fortgang der Planausführung die Durchsetzung ergänzender Schutzvorkehrungen vereiteln würde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.05.2005 - 4 VR 2000/05 -, juris Rn. 35 zur Lärmvorsorge). Dabei ist auch die Frage nach einer möglichen Entschädigung der Thematik der Planergänzungsansprüche zuzuordnen (OVG Magdeburg, Beschl. v. 12.05.2020 - 2 R 24/20 - juris Rn. 51 f.; vgl. auch VGH München, Beschl. v. 21.03.2012 - 8 CS 11.2989 -, juris Rn. 7).
81
Vorliegend ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die begehrte Planergänzung in Form einer die „Inanspruchnahme“ von Eigentum ausgleichenden Nebenbestimmung die Grundzüge der Planung berührt. Eine Planaufhebung und damit vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO kämen allenfalls dann in Betracht, wenn die von den Antragstellenden beklagten Defizite so gravierend wären, dass sie die Ausgewogenheit der Planung insgesamt in Frage stellen würden (BVerwG, Beschl. v. 19.05.2005 - 4 VR 2000/05 -, juris Rn. 36). Dafür ist jedoch nichts vorgetragen. Gerügt wird eine unzureichende Entschädigungsregelung letztlich um ihrer selbst willen, ohne dass ein Bezug zu materiell-rechtlich relevanten Beeinträchtigungen und deren Relevanz für die Gesamtplanung hergestellt würde. Insoweit besteht die Gefahr einer Verkürzung des Rechtsschutzes nicht; durch den vorläufigen Vollzug des Planfeststellungsbeschlusses können vollendete Tatsachen nicht geschaffen werden, weil der Beschluss auch nachträglich um (weitere) Schutzauflagen ergänzt werden kann.
82
bb. Gleiches gilt für die hilfsweise geltend gemachte Verpflichtung des Beklagten, den Planfeststellungsbeschluss „mit einer Nebenbestimmung zu versehen, nach der der Vorhabenträger verpflichtet ist, den Bewuchs entlang der Süd- und Ostgrenze der Grundstücke der Klägerin zu 3. zum Schutze des Betriebsgeländes vor Kaltlufteinflüssen dauerhaft zu erhalten“.
83
Die Rüge einer fehlenden Schutzanordnung zugunsten des Gärtnereibetriebs der Antragstellerin zu 3) wird damit begründet, dass sich aufgrund der Lage des Betriebsgrundstücks unmittelbar am geplanten Damm und dem dahinterliegenden Polder die Produktionsbedingungen der Gärtnerei durch gesteigerte Kaltlufteinflüsse verschlechtern würden, falls der im Grenzbereich befindliche Bewuchs entfernt würde. Mittels einer Schutzauflage sei deshalb sicherzustellen, dass der Bewuchs durch den Beigeladenen dauerhaft erhalten werde. Ob mit einer solchen Verschlechterung tatsächlich zu rechnen ist und sich daraus ein Anspruch auf der Grundlage des § 70 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 3 und 4 WHG ergibt, bleibt ebenfalls der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
84
II. Schließlich ist auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses nicht zu beanstanden. Sie erfolgte durch den Antragsgegner ausweislich der Begründung nicht auf Antrag und im Interesse des Beigeladenen, wie es § 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO ermöglicht, sondern offenbar von Amts und vorrangig im öffentlichen Interesse gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO. Zwar erwähnt § 80a Abs. 1 VwGO, dass die Behörde auf Antrag handelt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie bei entsprechendem öffentlichem Interesse nicht auch von Amts wegen tätig werden darf. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 80a VwGO bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung die Handlungsmöglichkeiten der Behörde einschränken wollte gegenüber ihren Befugnissen bei Verwaltungsakten im zweiseitigen Rechtsverhältnis, wo sie auch von Amts wegen tätig werden kann (Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 80a Rn. 9).
85
1. Die Anordnung genügt noch den verfahrensrechtlichen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Begründung ist einzelfallbezogen und nicht formelhaft. Sie geht über die Begründung des Beschlusses selbst hinaus, indem sie, wenn auch in knapper Form, auf die besondere Dringlichkeit eines wirksamen Hochwasserschutzes in der Ortslage A. verweist, indem sie annimmt, dass ein Hochwasserereignis wie im Jahre 2011 jederzeit wieder auftreten könne. Zum Schutze der Ortschaft und ihrer Bevölkerung müsse deshalb mit der Umsetzung der Maßnahme so zeitnah wie möglich begonnen werden. Da § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO allein verfahrensrechtliche Anforderungen stellt, kommt es an dieser Stelle nicht darauf an, ob die Begründung den Sofortvollzug in der Sache zu tragen vermag. Insoweit führt das Gericht eine eigene Interessenabwägung durch (vgl. OVG Schleswig, Beschl. des Senats v. 23.01.2017 - 4 MB 2/17 -, juris Rn. 5 m.w.N.). Aus einer als unzutreffend erachteten Begründung ergäbe sich im Übrigen auch nicht, dass sie nur formelhaft erfolgte und den Einzelfall nicht ausreichend würdigt (OVG Schleswig, Beschl. des Senats v. 05.06.2019 - 4 MB 42/19 -, juris Rn. 6).
86
2. Auch aus Sicht des Senates überwiegt das Vollzugsinteresse des Beigeladenen, das nach den obigen Feststellungen gleichzeitig im öffentlichen Interesse liegt, gegenüber dem Aufschubinteresse des Antragstellers zu 2) und der Antragstellerin zu 3), deren Klage nach Vorstehendem keine hinreichende Erfolgschance beigemessen werden kann.
87
Den besonderen Rang, den der Hochwasserschutz insbesondere auch im Rahmen der Bauleitplanung einnimmt, wird vom Bundesverwaltungsgericht hervorgehoben: „Der Hochwasserschutz ist eine Gemeinwohlaufgabe von hohem Rang. Sie rechtfertigt einschränkende Regelungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG.“ (Urt. v. 22.07.2004 - 7 CN 1.04 -, BVerwGE 121, 283 ff., juris Rn. 22). Eine zunehmende Bedeutung und Dringlichkeit wird dem Hochwasserschutz wegen des voranschreitenden Klimawandels beigemessen. Der Gesetzgeber etwa hat auf die Hochwasserkatastrophen der letzten Jahre reagiert und mit dem bereits mehrfach zitierten Hochwasserschutzgesetz II Regelungen geschaffen, die u.a. die Verfahren für die Planung und den Bau von Hochwasserschutzanlagen so weit wie möglich und sinnvoll erleichtern und beschleunigen sollen (vgl. BT-Drs. 18/10879 S. 16). Eine solche zunehmende Bedeutung und Dringlichkeit ist auch hier gegeben. Dass das letzte Hochwasser in A. mittlerweile neun Jahre zurückliegt und das vorliegende Verwaltungsverfahren fünf Jahre gedauert hat, ändert daran nichts. Denn wann und mit welcher Mächtigkeit das nächste Hochwasser eintritt, ist nicht vorhersehbar. Die Dauer des Verfahrens gibt auch keinen Anlass zu der Annahme, dass der Beigeladene oder der Antragsgegner die Dringlichkeit der Maßnahme nicht erkannt hätten oder sogar verneinten; die Dauer ist vielmehr der Komplexität der Materie geschuldet (vgl. VGH München, Beschl. v. 18.10.2019 - 8 AS 19.40016 -, juris Rn. 42).
88
Unwidersprochen weist der Antragsgegner im Übrigen darauf hin, dass es um den Schutz von mehr als 100 Wohn- und Gewerbegrundstücken geht. Zudem wäre auch die örtliche Infrastruktur öffentlicher Einrichtungen durch ein neuerliches Hochwasser gefährdet. Berechtigte Interessen des Antragstellers zu 2) und der Antragstellerin zu 3), die durch den sofortigen Baubeginn nennenswert beeinträchtigt werden könnten, sind unter Berücksichtigung der fehlenden Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage nicht ersichtlich. Insbesondere steht eine Minderung des Denkmalwertes des Gutes nicht zu befürchten. Die Umsetzung des präferierten Konzeptes eines Umgehungsgerinnes würde, selbst wenn es als gleichwertige Option in Frage gekommen wäre, nochmals Jahre dauern und zahlreiche Grundstücke über viele Jahre weiter gefährden. Eine damit einhergehende Verzögerung der genehmigten Maßnahme wäre dem Beigeladenen nicht zuzumuten und würde dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen. Anhaltspunkte dafür, dass etwaige Hindernisse für die Realisierung des Vorhabens bestehen, werden nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich.
89
C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 159 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 und 2 ZPO, § 162 Abs. 3 VwGO.
90
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 39, 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Streitwertkatalog Ziffer 34.
91
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 6. Kammer - vom 10. September 2020 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Beschwerde der Antragstellerin mit dem Antrag,
2
die Antragsgegnerin - unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Hannover - im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Antragstellerin von der Verpflichtung zur Teilnahme am Präsenzunterricht zu befreien und sie am Homeschooling teilnehmen zu lassen,
3
hat keinen Erfolg.
4
Der für den Erlass der einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund, der von dem Antragsteller bzw. der Antragstellerin im Verfahren der einstweiligen Anordnung glaubhaft zu machen ist (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), liegt zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht (mehr) vor. Nachdem die Antragsgegnerin unter dem 26. Oktober 2020 schriftlich zugesichert hat, der Antragstellerin aufgrund des im Landkreis E. erreichten Inzidenzwerts von 35 und mehr Neuinfektionen/100.000 Einwohnern mit dem COVID-19 Virus eine Befreiung vom Präsenzunterricht auf der Grundlage der Nr. 4b der neuen Vorgaben des F. zur Befreiung vom Präsenzunterricht im Härtefall zu erteilen, ist weder ersichtlich noch glaubhaft gemacht, dass die im einstweiligen Anordnungsverfahren begehrte Regelung notwendig ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Da die Antragsteller eine prozessbeendende Erklärung - auch nach rechtlichem Hinweis - nicht abgegeben haben, ist die Entscheidung über die Beschwerde geboten.
5
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
6
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 38.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, S. 11). Unter Berücksichtigung der mit dem Antrag verbundenen teilweisen Vorwegnahme der Hauptsache erachtet der Senat danach den Ansatz des vollen Auffangwertes von 5.000 Euro für angemessen.
7
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Berichterstatterin der 2. Kammer - vom 7. September 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
1
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger als Kostenschuldner gegen die Berücksichtigung von Anwaltskosten des Beigeladenen im Rahmen der Kostenfestsetzung. Er meint, deren Geltendmachung sei missbräuchlich, da er bereits im Vorfeld der Mandatierung in einem Gespräch mit dem Beigeladenen eine Klagerücknahme angekündigt habe. Der Beigeladene bestreitet einen derartigen Gesprächsinhalt. Das Verwaltungsgericht hat im Erinnerungsverfahren die dem Beigeladenen zu erstattenden Kosten unter Berücksichtigung der Anwaltskosten festgesetzt und zur Begründung ausgeführt, der vom Kläger behauptete Ablauf des Gesprächs sei nicht überwiegend wahrscheinlich; eine vom Kläger vorgelegte eidesstattliche Versicherung seiner beim Gespräch anwesenden Ehefrau habe gegenüber seinem eigenen Sachvortrag keinen zusätzlichen Beweiswert, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass seine Ehefrau, die ihm naturgemäß nahestehe, ein eigenes Interesse am Ausgang des Verfahrens habe und sich auch bei der Abgabe ihrer eidesstattlichen Versicherung von derartigen Überlegungen habe leiten lassen. Da der Kläger für einen Rechtsmissbrauch die materielle Beweislast trage, gehe dessen Unerweislichkeit zu seinen Lasten.
2
Die dagegen gerichtete Beschwerde hat Erfolg. Der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung hindert das Verwaltungsgericht daran, die Angaben der Ehefrau des Klägers ohne persönliche Einvernahme allein unter Berufung auf deren fehlende Glaubwürdigkeit als ohne zusätzlichen Beweiswert unberücksichtigt zu lassen; ihr Näheverhältnis zum Kläger und ein dadurch ggf. begründetes Eigeninteresse am Verfahrensausgang genügen hierfür nicht (vgl. BGH, Urt. v. 3.11.1987 - VI ZR 95/87 -, NJW 1988, 566 = juris Rn. 5). Hängt die Entscheidung, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen ab, so berechtigt auch der grundsätzlich auf Verfahrenseffizienz gerichtete Charakter des Kostenfestsetzungsverfahrens nicht dazu, nach Aktenlage zu entscheiden. § 294 Abs. 2 ZPO, nach dem in Fällen, in denen das Gesetz eine Glaubhaftmachung vorschreibt, die Beweisaufnahme auf präsente Beweismittel beschränkt ist, gilt im Kostenfestsetzungsverfahren nicht (BGH, Beschl. v. 4.4.2007 - III ZB 79/06 -, NJW 2007, 2493 = juris Rn. 9).
3
Der Senat macht von seiner Befugnis nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO Gebrauch, die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen, um die erforderliche weitere Sachaufklärung vorzunehmen. Eine abschließende Entscheidung durch den Senat würde den Beteiligten eine Tatsacheninstanz nehmen. Für die vom Kläger angeregte Verweisung an eine andere Kammer des Verwaltungsgerichts sieht der Senat allerdings keinen Anlass.
4
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Die vom Streifhelfer für die Beklagte geführte Berufung gegen das am 20. April 2020 verkündete Teilurteil der Einzelrichterin der 12. Zivilkammer des Landgerichts Hannover wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das angefochtene Urteil teilweise geändert und die Beklagte weiter verurteilt, den Kläger bei der Errichtung des notariellen Nachlassverzeichnisses hinzuzuziehen.
Dieses und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 10.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Parteien streiten um die Erfüllung der Auskunftspflicht durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses zur Berechnung eines im Wege der Stufenklage geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs.
2
Der Kläger ist der Sohn des am 13. Juni 2016 in H. verstorbenen F. M. (Erblasser). Die Beklagte ist die Ehefrau des Erblassers und dessen Alleinerbin. Nachdem die Beklagte auf Aufforderung des Klägers am 26. September 2016 Auskunft über den Nachlass erteilt hatte, forderte der Kläger sie mit Schreiben vom 8. Mai 2017 zur Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses auf (Anlage K6 Anlagenband Kläger). Nach erneuter Anmahnung durch den Kläger meldete sich der Streithelfer mit Schreiben vom 21. Juli 2017 und teilte mit, dass die Ausarbeitung des Nachlassverzeichnisses für den Zeitraum nach Beendigung der Sommerurlaubsperiode eingeplant sei. Am 17. Oktober 2017 ließ der Streithelfer dem den Kläger seinerzeit außergerichtlich vertretenden Prozessbevollmächtigten mitteilen, dass am 23. Oktober 2017 das notarielle Nachlassverzeichnis aufgenommen werde. Der Klägervertreter bat um Mitteilung von drei Terminen zur Aufnahme des Nachlassverzeichnisses, woraufhin ihm der Streithelfer mit Schreiben vom 26. Oktober 2017 einen Entwurf des notariellen Nachlassverzeichnisses übersandte und drei Terminvorschläge für den 8., 11. und 12. Dezember 2017 machte (vgl. Anlage K11. Anlagenband Kläger). Anschließend gab es weitere Korrespondenz zwischen Klägervertreter und Streithelfer betreffend die erforderlichen Tätigkeiten eines Notars bei Errichtung des Nachlassverzeichnisses. Unter dem 15. Januar 2018 übersandte der Streithelfer eine als „Aufnahme eines notariellen Nachlassverzeichnisses“ überschriebene notarielle Urkunde (URNr. 27/2018, vgl. Anlage K 14, Anlagenband Kläger).
3
Der Kläger hat mit der Stufenklage Auskunft über den Bestand des Nachlasses des Erblassers durch Vorlage eines notariellen Verzeichnisses, welches auf einer eigenen Ermittlungstätigkeit des Notars beruht, verlangt, daneben Vollständigkeitsversicherung und Zahlung von noch zu beziffernden Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüchen. Er hat gemeint, das notarielle Nachlassverzeichnis vom 15. Januar 2018 stelle keine Erfüllung seines Auskunftsanspruchs durch Vorlage eines notariellen Verzeichnisses dar. Der Streifhelfer habe sich überwiegend nur auf die Angaben der Erbin verlassen, jedoch keine eigene Ermittlungstätigkeit ausgeführt.
4
Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt. Sie hat die Ansicht vertreten, der Streithelfer habe keine weiteren Ermittlungen zum Zwecke der Erstellung des Nachlassverzeichnisses vornehmen müssen; das Verzeichnis sei vollständig. Der Notar habe die Ergebnisse seiner Ermittlungen in ausreichender Weise festgehalten.
5
Das Landgericht hat die Beklagte auf der Auskunftsstufe durch Teilurteil antragsgemäß verurteilt. Der Kläger habe einen Anspruch auf Auskunftserteilung über den Nachlass des Erblassers durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses aus § 2314 Abs. 1. S. 1 und 3 Variante 3 BGB. Der Anspruch sei nicht durch Vorlage des Verzeichnisses vom 15. Januar 2018 des Streithelfers erfüllt, denn das vorgelegte Nachlassverzeichnis entspreche nicht den Anforderungen. Das Verzeichnis sei offensichtlich unvollständig. Es fehlten Angaben zum Güterstand des Erblassers. Die Angaben im Verzeichnis hinsichtlich der Ölgemälde, des Eheringes, der Uhr des Erblassers, der Manschettenknöpfe und Krawattennadeln seien unzureichend, weil wertbildende Faktoren fehlten. Sofern eine genauere Beschreibung nicht möglich sei, müsse wenigstens ein Foto der Gegenstände dem Nachlassverzeichnis beigefügt und darauf Bezug genommen werden. Weiterhin seien die Angaben zu den unentgeltlichen Verfügungen des Erblassers unzureichend. Die Angaben in dem Nachlassverzeichnis bezögen sich auf Zeiträume, nämlich den Zehnjahreszeitraum vor dem Tod des Erblassers. Es seien aber die einzelnen Daten anzugeben wegen der Abschmelzungsregelung in § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB. Überdies fehlten hinsichtlich der Wertpapierdepots Angaben zu der depotführenden Bank sowie Angaben zum Inhalt des Depots. Die Unvollständigkeit führe im vorliegenden Fall dazu, dass der Kläger einen Anspruch auf Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses insgesamt und nicht bloß einen Anspruch auf Ergänzung der bereits erteilten Auskunft habe. Eine Ergänzung komme in Betracht, wenn der Verpflichtete aus Unwissenheit einen bestimmten Gegenstand nicht aufgenommen oder einen Teil des Nachlassvermögens bewusst ausgelassen habe und es sich erkennbar um eine unvollständige Auskunft handele. Dieser Fall liege nicht vor, vielmehr sei das Zusammenspiel der genannten aufgeführten unzureichenden Angaben in der Summe als Nichterfüllung des Auskunftsanspruchs anzusehen.
6
Dagegen wendet der Streithelfer sich mit der für die Beklagte geführten Berufung. Er meint weiterhin, die Beklagte habe den Auskunftsanspruchs durch Vorlage des von ihm gefertigten notariellen Nachlassverzeichnisses erfüllt.
7
Er beantragt,
8
das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage in der Auskunftsstufe abzuweisen.
9
Der Kläger beantragt,
10
1. die Berufung des Streithelfers zurückzuweisen und
11
2. im Wege der Anschlussberufung klagerweiternd die Beklagte über den Schlussantrag der ersten Instanz hinaus zu verurteilen, den Kläger zur Aufnahme des notariellen Nachlassverzeichnisses hinzuzuziehen.
12
Der Streithelfer beantragt,
13
die Anschlussberufung zurückzuweisen.
14
Er meint, der mit der Anschlussberufung verfolgte erstmals erhobene Antrag sei als Klageänderung nach § 533 ZPO nicht zulässig.
15
Wegen der weiteren Feststellungen nimmt der Senat auf das angefochtene Urteil sowie auf das Sitzungsprotokoll und die eingereichten Schriftsätze und Anlagen Bezug.
II.
16
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Die Anschlussberufung ist zulässig und begründet.
17
1. Die Berufung ist zulässig. Die Berufungssumme von mehr als 600 € gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist erreicht, denn der Streithelfer meint, dass er für die Erstellung eines vollständigen notariellen Verzeichnisses von der Beklagten nochmals Gebühren verlangen kann, weil es sich um ein neues Verfahren nach GNotKG handele. Die Kosten für das bisherige Nachlassverzeichnis sind im Verzeichnis vom 15. Januar 2018 (Seiten 9/10) mit „ca. 5.000 €“ angegeben, ausgehend von einem „Wert bis 1.106.966,73 €“. Die Beklagte droht daher mit Kosten in Höhe von nochmals rd. 5.000 € belastet zu werden. Auch die Kosten für eine bloße Ergänzungsurkunde würden nach einem Wert bis 300.000 € - legt man nur die Summe der Depotguthaben und Schenkungen zugrunde – etwa 1.000 € (nach Nr. 21100 Kostenverzeichnis GNotKG) betragen.
18
Die Frage, ob der Streithelfer gegenüber der Beklagten kostenlos nacherfüllen müsste, ist nicht im vorliegenden Berufungsverfahren zu klären. Für die Zulässigkeit der Berufung ist ausreichend, dass die Beklagte die von ihr verlangte Leistung (Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses) erst nach Zahlung eines weiteren, die Berufungssumme von 600 € übersteigenden Vorschusses an den Notar wird erbringen können.
19
2. In der Sache ist die Berufung unbegründet.
20
Die Entscheidung des Landgerichts, die Beklagte zur Auskunftserteilung durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses zu verurteilen, ist nicht zu beanstanden.
21
Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Beklagte ihre Verpflichtung aus § 2314 Abs. 1 Satz 1, 3 BGB bislang nicht erfüllt hat. Anders als in dem Fall, über den der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 20. Mai 2020 - IV ZR 193/19 (zit. nach juris) entschieden und ausgeführt hat, dass bei einer offensichtlichen Unvollständigkeit eines Nachlassverzeichnisses in einem Punkt eine Ergänzung bzw. Berichtigung des notariellen Nachlassverzeichnisses verlangt werden kann, ist dem Landgericht zuzustimmen, dass im Streitfall das bisher vorgelegte Nachlassverzeichnis nicht den Mindestanforderungen genügt und deshalb schon keine Erfüllung darstellen kann.
22
a) § 2314 BGB soll es dem Pflichtteilsberechtigten ermöglichen, sich die notwendigen Kenntnisse zur Bemessung seines Pflichtteilsanspruchs zu verschaffen. Hierbei soll ein notarielles Nachlassverzeichnis eine größere Gewähr für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Auskunft als das private Verzeichnis des Erben bieten. Dementsprechend muss der Notar den Bestand des Nachlasses selbst und eigenständig ermitteln und durch Bestätigung des Bestandsverzeichnisses als von ihm aufgenommen zum Ausdruck bringen, dass er den Inhalt verantwortet (vgl. BGH, Urteil vom 20. Mai 2020 – IV ZR 193/19 –, zitiert nach juris, dort Rn. 8). Der Notar ist in der Ausgestaltung des Verfahrens zwar weitgehend frei. Er muss zunächst von den Angaben des Auskunftspflichtigen ausgehen. Allerdings darf er sich hierauf nicht beschränken und insbesondere nicht lediglich eine Plausibilitätsprüfung durchführen. Vielmehr muss er den Nachlassbestand selbst ermitteln und feststellen. Dabei hat er diejenigen Nachforschungen anzustellen, die ein objektiver Dritter in der Lage des Gläubigers für erforderlich halten würde (BGH a. a. O.). Der Streithelfer irrt mithin, wenn er meint, dass es allein in seinem Ermessen steht, ob ein Vermerk im Verzeichnis erfolgt oder nicht, und dass es die (Erfüllung der) Verpflichtung zur Errichtung eines notariellen Verzeichnisses nicht berühre, „dass ggfs. darüberhinausgehende Auskünfte zu erteilen sind“. Der Erbe ist insoweit dem Notar gegenüber zur Mitwirkung verpflichtet, welche der Notar einfordern darf und muss (BGH a. a. O. Rn. 9).
23
b) Gemessen an den vorgenannten Anforderungen hat die Beklagte bislang nicht Auskunft über den Nachlass durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses erteilt. Darauf ist im Einzelnen bereits im Schreiben des Vorsitzenden vom 15. September 2020 hingewiesen worden.
24
Trotz des Einleitungssatzes im notariellen Nachlassverzeichnisses vom 15. Januar 2018 (dritter Absatz Seite 2)
25
„Aufgrund der Angaben der Erschienenen, der übergebenen Schriftstücke, insbesondere Mitteilungen der nachfolgend genannten Banken zu den Kontoständen zum Todeszeitpunkt (13. Juni 2016), handschriftliche Aufzeichnungen über Aufwendungen, Sachverständigengutachten und Grundbuchauszüge) sowie meiner, des Notars, Wahrnehmungen vor Ort, verzeichne ich, der Notar, den Bestand des Nachlasses wie folgt:“
26
ergeben die weiteren Ausführungen im Nachlassverzeichnis, dass der Streifhelfer hinsichtlich einiger Angaben teilweise selbst keine Ermittlungstätigkeiten vorgenommen hat, sondern sich im Gegenteil ausdrücklich von einer eigenen Ermittlungstätigkeit distanziert. Einige Angaben sind zudem unzureichend. Im Einzelnen:
27
aa) Die Angaben zu Kunstgegenständen (III. des Nachlassverzeichnisses) sowie zum Schmuck (IV. des Nachlassverzeichnisses) sind nicht nachvollziehbar. Auch wenn der Notar angibt, bei der Wohnungsbesichtigung diese Gegenstände in Augenschein genommen zu haben, ermöglicht die Beschreibung jeweils keine Einordnung des Wertes, und auch die Schätzung der addierten Einzelwerte auf „maximal 500,00 €“ ist nicht nachvollziehbar; eine Wertschätzung durch den Notar ist nicht erforderlich. Zum Ehering ist der Goldgehalt nicht mitgeteilt, ebenso derjenige der Manschettenknöpfe. Warum die Beklagte die an ihren Sohn übergebene Uhr des Erblassers nicht von ihrem Sohn zurückgefordert hat, damit der Notar sie in Augenschein nehmen und beschreiben kann, bleibt offen. Dass der Notar sie insoweit zur Mitwirkung aufgefordert hat, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.
28
bb) Der Kläger weist zudem zutreffend darauf hin, dass die Angabe des Notars, dass sich aus den Unterlagen keine weiteren Anknüpfungspunkte für eine Nachsuche oder eine Nachfrage hinsichtlich etwaig vorhandener Bankguthaben ergeben hätten, nicht stimmt. Jedenfalls die Sparkasse N., bei der der Erblasser ein Darlehenskonto führte, hätte dazu vom Notar angeschrieben werden müssen. Es drängt sich hier auch aus Sicht eines objektiven Dritten die Möglichkeit auf, dass der Erblasser bei dieser Bank weitere Konten unterhalten hat.
29
cc) Offensichtlich wird die mangelnde eigene Ermittlungstätigkeit des Notars hinsichtlich der Angaben zum Wertpapierdepot, da weder die ausgebende Bank noch die Art des Depots mitgeteilt oder ersatzweise entsprechende Belege hierfür vorgelegt worden sind und der Notar bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch keine nachträgliche Klarstellung hierzu vorgenommen hat.
30
dd) Der Hinweis „Versicherungsunterlagen wurden mir von dem Erben nicht übergeben. Nach Aussage der Erben bestanden keine Ansprüche gegenüber dem Finanzamt auf Steuerrückerstattungen. Weitere Auskünfte hierzu habe ich nicht eingeholt“. erweckt den Eindruck, dass es sich um einen Textbaustein handelt, was an der unterschiedlichen Verwendung der Worte „dem Erben“, dann „der Erben“, obwohl es sich im Streitfall nur um eine Erbin handelt, zu erkennen ist. Dass Versicherungsunterlagen „nicht übergeben“ wurden, bedeutet strenggenommen nicht, dass keine Versicherungen unterhalten worden sind. Ob der Notar nach dem Bestehen von Versicherungen gefragt hat, bleibt offen. Außerdem hätte der Notar sich von der Erbin die Steuernummer geben lassen oder sonst selbst beim Finanzamt des Wohnortes des Erblassers hinsichtlich etwaiger Steuerrückerstattungen anfragen können.
31
ee) Ebenfalls unzureichend sind die Angaben hinsichtlich der unentgeltlichen Verfügungen des Erblassers unter Lebenden (S. 8 des notariellen Nachlassverzeichnisses), wie das Landgericht bereits festgestellt hat. Die Angabe des „Zeitraum(s) 1. Juni 2006 bis 1. Juni 2016“, Gegenstand 44.700,00 €“, “Gesamtbetrag nach Addition diverser Einzelposten“ (entsprechend auch hinsichtlich weiterer unentgeltlicher Verfügungen an zwei weitere Personen) im streitgegenständlichen Nachlassverzeichnis ermöglichen dem Kläger nicht die Berechnung des Pflichtteilsanspruchs, weil dieser die Abschmelzungsbeträge gemäß § 2325 Abs. 3 BGB erst richtig ermitteln kann, wenn ihm die konkreten Daten der Zuwendungen bekannt sind. Der Senat kann auch hier nicht feststellen, dass der Streithelfer seiner objektiv erforderlichen Ermittlungstätigkeit genügt hat. Eine weitergehende Aufklärung des Sachverhalts in der mündlichen Verhandlung ist nicht erfolgt, weil der Streithelfer nicht persönlich anwesend war.
32
ff) Schließlich ist unverständlich, dass der Streithelfer dem Inhalt des Bankschließfachs nicht näher nachgegangen ist, sondern sich auch hier auf die Angaben der Erbin verlassen hat, dass in dem Bankschließfach „seit jeher nur Akten und persönliche Dokumente verwahrt worden seien“ (vgl. XI. Sonstiges, S. 7 des notariellen Nachlassverzeichnisses). Ohne Sichtung der Unterlagen wird eine Einschätzung, ob sich darin Hinweise auf weitere Vermögenswerte ergeben, nicht möglich sein.
33
c) Die Entscheidung des Landgerichts, die Beklagte zur Erteilung der Auskunft durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses und nicht nur zu dessen Ergänzung zu verurteilen, begegnet ebenfalls keinen Bedenken. Wegen der nicht nur geringfügigen Unvollständigkeiten und teilweise offensichtlich unterbliebenen eigenen Ermittlungstätigkeit des Streithelfers stellt das vorgelegte notarielle Nachlassverzeichnis vom 15. Januar 2018 keine Erfüllung, auch keine Teilerfüllung, dar. Zu einer teilweisen Erfüllung ist die Beklagte nicht berechtigt (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – XII ZB 385/13, zit. nach juris; Anmerkung Kuhn zu BGH, Urt. v. 20.Mai 2020 – IV 193/19 in ZEV 2020, 625, zit. nach beck-online). Die Entscheidung des BGH (Urt. v. 20.Mai 2020 – IV 193/19) steht dem nicht entgegen. Im Unterschied zu dem vom BGH entschiedenen Fall, der eine Vollstreckungsgegenklage des zur Auskunftserteilung verurteilten Erben betraf, liegt vorliegend nicht nur eine offensichtliche Unvollständigkeit eines Nachlassverzeichnisses in einem Punkt vor, hinsichtlich dessen die Unvollständigkeit auf einer verweigerten Mitwirkung der Erbin beruht, den Notar zur Einholung einer Auskunft bei einer Bank im Österreich zu ermächtigen. Vielmehr hat der Streithelfer in dem vorgelegten Nachlassverzeichnis vom 15. Januar 2018 nicht deutlich gemacht, warum zu den unvollständigen Positionen genauere Angaben nicht möglich sind. Auch die Beklagte hat hierzu erstinstanzlich nicht näher vorgetragen, sondern sich nur darauf zurückgezogen, dass sie die geschuldete Auskunft vollständig erfüllt habe. Am Berufungsverfahren hat die Beklagte sich nicht beteiligt.
34
3. Die Anschlussberufung hat Erfolg.
35
a) Die Anschlussberufung, mit der der Kläger keinen eigenen Angriff gegen das Teilurteil vorbringt, sondern nur eine Erweiterung seines erstinstanzlichen Klagantrags um die Hinzuziehung bei Errichtung des Nachlassverzeichnisses begehrt, ist zulässig (vgl. BGH VI ZR 152/10 = NJW 2011, 3298, zitiert nach juris dort Rn. 9).
36
b) Der Anspruch auf Hinzuziehung bei der Aufnahme des Verzeichnisses folgt aus § 2314 Abs. 1 S. 2 BGB und beruht auf demselben Sachverhalt, den das Landgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, nämlich dem Recht des Klägers als Pflichtteilsberechtigtem, Auskunft über die Höhe des Nachlasses von der Beklagten als Erbin zu erhalten. Eine Klagänderung im Sinne von § 533 ZPO liegt entgegen der Auffassung des Streithelfers nicht vor, weil der Kläger seinen Anspruch auf Erteilung der Auskunft durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses nur um die Hinzuziehung erweitert und den Klaggrund nicht vollständig ausgewechselt hat (vgl. § 264 Nr. 2 ZPO). Auf die Einwilligung des Gegners oder die Sachdienlichkeit im Berufungsverfahren kommt es mithin nicht an.
37
In materiell - rechtlicher Hinsicht stellt der Streithelfer das Hinzuziehungsrecht des Klägers nicht in Frage. Über den näheren Inhalt dieses Rechts muss der Senat sich an dieser Stelle nicht verhalten.
III.
38
Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 97 Abs. 1, 101 Abs. 1, Halbs. 2, § 708 Nr. 10, § 713 ZPO.
39
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht vorliegen. Es handelt sich hier um eine auf den besonderen Umständen des Einzelfalls beruhende Entscheidung.
40
Der Streitwert verteilt sich je zur Hälfte auf Berufung und Anschlussberufung.
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"jurisdiction": "Germany",
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Der vom Antragsteller sinngemäß gestellte Normenkontrolleilantrag,
2
§ 17 Abs. 1 bis Abs. 3 und Abs. 8 der (7.) Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 - Niedersächsische Corona-Verordnung - vom 7. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 346), zuletzt geändert mit Wirkung vom 23. Oktober 2020 durch Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 363), vorläufig außer Vollzug zu setzen,
3
bleibt ohne Erfolg.
4
Er ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.) und daher abzulehnen. Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
5
1. Der Antrag ist zulässig.
6
a) Er ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. § 17 Abs. 1 bis Abs. 3, Abs. 8 der (7.) Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 - Niedersächsische Corona-Verordnung - vom 7. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 346), zuletzt geändert mit Wirkung vom 23. Oktober 2020 durch Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 363), ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.). Diese Norm lautet:
7
§ 17 Ein- und Rückreisende
(1) 1Personen, die auf dem Land-, See- oder Luftweg aus dem Ausland nach Niedersachsen einreisen und sich zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb von 14 Tagen vor ihrer Einreise in einem Risikogebiet nach Absatz 4 aufgehalten haben, sind verpflichtet, sich unverzüglich nach der Einreise auf direktem Weg in die eigene Wohnung, an den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts oder in eine andere geeignete Unterkunft zu begeben und sich für einen Zeitraum von 14 Tagen nach ihrer Einreise ständig dort abzusondern. 2Satz 1 gilt auch für Personen, die zunächst in ein anderes Land der Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. 3Den nach Satz 1, auch in Verbindung mit Satz 2, verpflichteten Personen ist es in diesem Zeitraum nicht gestattet, Besuch von Personen zu empfangen, die nicht ihrem eigenen Hausstand angehören.
(2) 1Die von Absatz 1 erfassten Personen sind verpflichtet, unverzüglich die für sie zuständige Behörde zu kontaktieren und auf das Vorliegen der Verpflichtungen nach Absatz 1 Satz 1, auch in Verbindung mit Satz 2, hinzuweisen. 2Die von Absatz 1 erfassten Personen sind ferner verpflichtet, beim Auftreten von Krankheitssymptomen, die auf eine Erkrankung mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 im Sinne der dafür jeweils aktuellen Kriterien des Robert Koch-Instituts hinweisen, die zuständige Behörde hierüber unverzüglich zu informieren.
(3) Für die Zeit der Absonderung unterliegen die von Absatz 1 erfassten Personen der Beobachtung durch die zuständige Behörde.
…
(8) 1Von Absatz 1 nicht erfasst sind Personen, die über ein ärztliches Zeugnis in deutscher oder englischer Sprache verfügen, das bestätigt, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 vorhanden sind, und dieses der zuständigen Behörde auf Verlangen unverzüglich vorlegen. 2Das ärztliche Zeugnis nach Satz 1 muss sich auf eine molekularbiologische Testung auf das Vorliegen einer Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 stützen, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem sonstigen durch das Robert Koch-Institut bekannt gegebenen Staat durchgeführt und höchstens 48 Stunden vor der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vorgenommen worden ist. 3Das ärztliche Zeugnis nach Satz 1 ist für mindestens 14 Tage nach der Einreise aufzubewahren.
8
b) Der Antragsteller, ein deutscher Staatsangehöriger, der in C. auf der zu den Balearen gehörenden Insel Mallorca/Spanien und damit in einem ausländischen Risikogebiet lebt und in D. (Landkreis E.) einen Wohnsitz unterhält, den er nach eigenen Angaben regelmäßig aufsucht und geplantermaßen wieder am 4. November 2020 aufsuchen will, ist durch die angegriffene Quarantäneregelung (Absonderungspflicht) aus § 17 Abs. 1 Nds. Corona-Verordnung möglicherweise in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (Fortbewegungsfreiheit), 2 Abs. 1 (allgemeine Handlungsfreiheit) sowie 3 Abs. 1 GG (allgemeines Gleichbehandlungsgebot) verletzt und diesbezüglich antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO. In dem von ihm auch als verletzt gerügten Grundrecht auf Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1 GG) betrifft ihn die Regelung hingegen (von vornherein oder jedenfalls nach den Grundsätzen der Grundrechtskonkurrenz) nicht. Freizügigkeit bedeutet das Recht, unbehindert durch die deutsche Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen und auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen (vgl. BVerfG, Urt. v. 17.3.2004 - 1 BvR 1266/00 -, BVerfGE 110, 177, 190 f. - juris Rn. 33 m.w.N.); die geschützte Aufenthaltnahme umfasst dabei nur solche Verhaltensweisen, die eine Bedeutung für die räumlich gebundene Gestaltung des alltäglichen Lebenskreises haben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.3.2008 - 1 BvR 1548/02 -, juris Rn. 25; Senatsbeschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20 -, juris Rn. 69). Die Regelung des § 17 Abs. 1 Nds. Corona-Verordnung verbietet dem Antragsteller nicht etwa - wie er aber meint - die Einreise in das Bundesgebiet oder das Aufsuchen eines von ihm gewählten inländischen Ortes. Dies gilt schon deshalb, weil der Antragsteller die Belegenheit der nach § 17 Abs. 1 Nds. Corona-Verordnung aufzusuchenden „anderen geeigneten Unterkunft“, soweit er nach Niedersachsen einreisen will (andernfalls erfasst ihn diese Regelung ohnehin nicht), dort frei wählen kann. Vielmehr untersagt sie ihm im Schwerpunkt, nach Aufsuchen des in Niedersachsen gelegenen inländischen Ortes diesen wieder zu verlassen (Fortbewegungsverbot). Anders als der Antragsteller es darstellt, hindert die Regelung den Antragsteller zuvor weder faktisch noch rechtlich an einer Einreise nach Niedersachsen oder an einer Reise zu seinem Wohnsitz nach Bückeburg, statuiert mithin gerade kein Einreiseverbot. Durch die von der Absonderungspflicht abgeleiteten Verpflichtungen (Anzeigepflicht aus § 17 Abs. 2 und Beobachtung nach § 17 Abs. 3 Nds. Corona-Verordnung) ist der Antragsteller möglicherweise in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, die vor ungesetzlichem Zwang schützt, verletzt und daher auch insoweit antragsbefugt.
9
c) Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
10
2. Der Normenkontrolleilantrag ist jedoch unbegründet.
11
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. „Doppelhypothese“ die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
12
Unter Anwendung dieser Grundsätze bleibt der Antrag auf einstweilige Außervollzugsetzung des § 17 Abs. 1 bis Abs. 3 und Abs. 8 Nds. Corona-Verordnung in der Sache ohne Erfolg. In der Hauptsache bestehen keine hinreichenden Erfolgsaussichten (a)), und es droht im Übrigen ohne eine vorläufige Außervollzugsetzung der Norm auch kein gewichtiger Nachteil (b)).
13
a) Ein noch vom Antragsteller zu stellender Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG bliebe aller Voraussicht nach ohne Erfolg.
14
§ 17 Abs. 1 und 8 sowie Abs. 2 und 3 Nds. Corona-Verordnung kann nach Tatbestand und Rechtsfolge auf §§ 30 Abs. 1 Satz 2, 28 Abs. 1 Satz 1, 32 Satz 1 IfSG bzw. §§ 29 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1, 32 Satz 1 IfSG gestützt werden.
15
aa) Der Senat hat eine ähnliche Vorgängerregelung, die für Ein- und Rückreise aus bestimmten ausländischen Risikogebieten eine Absonderungspflicht (Quarantäne) sowie weitere daraus abgeleitete Pflichten vorsah, aus § 5 Abs. 1 der (5.) Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus vom 8. Mai 2020 (Nds. GVBl. S. 97) in der ab dem 25. Mai 2020 geltenden Fassung der Änderungsverordnung vom 22. Mai 2020 (Nds. GVBl. S. 134) bereits in seinem Beschluss vom 5. Juni 2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 10 ff., für rechtmäßig erachtet. An dieser Bewertung und den dortigen Ausführungen hält er auch für die streitgegenständliche Verordnungsbestimmung unverändert fest.
16
bb) Soweit der Antragsteller des vorliegenden Verfahrens mit seiner Argumentation im Übrigen ersichtlich versucht, die Ausführungen des Senats im stattgebenden Beschluss vom 15. Oktober 20120 - 13 MN 371/20 -, Nds. GVBl. S. 366 und juris Rn. 26 ff., der sich auf das Beherbergungsverbot für nach Niedersachsen aus inländischen Risikogebieten einreisende Personen aus § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungsverordnung vom 9. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 357) bezogen hat, auf die Regelung des § 17 Abs. 1 Nds. Corona-Verordnung für Ein- und Rückreisende aus ausländischen Risikogebieten zu übertragen, führt dies nicht zum Erfolg und zeitigt kein anderes Ergebnis.
17
(1) Die Rüge des Antragstellers, die Kriterien und Modalitäten der Einstufung als Risikogebiet im Sinne des § 17 Abs. 1 Nds. Corona-Verordnung seien nicht hinreichend bestimmt oder im Übrigen materiell rechtswidrig, richtet sich inhaltlich gegen die Zuständigkeits- und Verfahrensregelung aus § 17 Abs. 4 Nds. Corona-Verordnung und betrifft daher keinen der hier explizit streitgegenständlich gemachten Absätze des § 17 dieser Verordnung (dies sind nur die Absätze 1, 2, 3 und 8, vgl. die Antragsschrift v. 23.10.2020, Bl. 3 der GA, sowie den Schriftsatz v. 28.10.2020, Bl. 44 der GA). Soweit der Antragsteller in diesem Zusammenhang auch postuliert, eine ausländische Region dürfe nicht schon bei Erreichen einer 7-Tages-Inzidenz von kumulativ mindestens 50 Fällen je 100.000 Einwohner, sondern erst unter Einbeziehung weiterer Aspekte zum Risikogebiet erklärt werden, bedarf dieser Einwand aus demselben Grunde im vorliegenden Verfahren keiner Stellungnahme durch den Senat.
18
(2) Dass entgegen der Ansicht des Antragstellers ein nennenswerter Eintrag an Neuinfektionen durch Ein- und Rückreisende aus ausländischen Risikogebieten erfolgt und die Regelung deshalb einen erheblichen Beitrag gegen eine Weiterverbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 zu leisten geeignet ist und bleibt, lehrt die Erfahrung aus den Sommer(ferien)monaten des Jahres 2020 und wird auch durch die vom Antragsgegner mit der Antragserwiderung vom 28. Oktober 2020 (Bl. 49 ff. der GA) eingereichten statistischen Erkenntnisse des Niedersächsischen Landesgesundheitsamts (NLGA) zu Expositionsorten laborbestätigter COVID-19-Fälle belegt. Dass dieser Anteil danach in jüngerer Zeit gesunken ist, lässt abweichend von der Auffassung des Antragstellers nicht auch auf ein gesunkenes Risiko der Aktivitäten dieses Lebensbereichs schließen, sondern ist lediglich auf den Umstand zurückzuführen, dass derzeit zahlenmäßig weniger derartige Ein- und Rückreisen aus dem Ausland stattfinden. Die Argumentation des Antragstellers, das Infektionspotential sei bei Reisetätigkeit aus ausländischen Risikogebieten demjenigen bei inländischer Reisetätigkeit gleichzuerachten, für die der Senat in seinem Beschluss vom 15. Oktober 2020 (a.a.O., Rn. 58) allerdings keinen nennenswerten Anteil an den Neuinfektionszahlen in Niedersachsen angenommen hat, übersieht die in dieser Entscheidung - mit Blick auf die Unklarheiten der Reisewege, die Kumulation einer Vielzahl Reisender mit anderen unbekannten Reisenden und der Unmöglichkeit oder Erschwertheit der Kontaktnachverfolgung im Ausland - gerade vorgenommene sachlich differenzierte - abweichende - Bewertung einer Einreise oder Rückkehr aus ausländischen Risikogebieten, die auf Seite 8 der Antragsschrift vom 23. Oktober 2020 (Bl. 9 der GA) sogar wörtlich wiedergegeben wird, so dass auch für eine vom Antragsteller behauptete vor Art. 3 Abs. 1 GG ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der beiden Reisetätigkeiten kein Raum ist.
19
(3) Die vom Antragsteller als milder erachteten allgemeinen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen (Abstandsgebot, Hygieneregeln, Mund-Nasen-Bedeckung, Lüften, Flächendesinfektion, Nutzung der Corona-Warn-App) geben dem Senat keinen Anlass, die Erforderlichkeit der angegriffenen Regelung in Zweifel zu ziehen. Sie sind in Bezug auf das spezifische Risiko von Vireneinträgen durch Einreise und Rückkehr aus ausländischen Risikogebieten, dem durch § 17 Abs. 1 bis 3, Abs. 8 Nds. Corona-Verordnung entgegengewirkt werden soll, entweder nicht gleichermaßen wirksam oder belasten Dritte oder die Allgemeinheit in stärkerer Weise.
20
(4) Auch die Angemessenheit der Regelung des § 17 Abs. 1 Nds. Corona-Verordnung wird vom Antragsteller gegenüber der vom Senat in seinem Beschluss vom 5. Juni 2020 (a.a.O., Rn. 35 m.w.N.) grundsätzlich vorgenommenen Abwägung zwischen der vorübergehenden Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) mit dem öffentlichen Gesundheitsschutz (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht überzeugend in Zweifel gezogen. Die Eingriffsintensität wird im Übrigen maßgeblich durch die „Freitestungsmöglichkeit“ aus der ebenfalls streitgegenständlichen Norm des § 17 Abs. 8 Nds. Corona-Verordnung und durch die Befreiungsregelung aus § 17 Abs. 9 Nds. Corona-Verordnung gemindert. Soweit der Antragsteller behauptet, die Anforderungen des § 17 Abs. 8 Nds. Corona-Verordnung könnten in zeitlicher, personeller und sprachlicher Hinsicht realistischerweise nicht erfüllt werden, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Anders als der Antragsteller es darstellt, sind Ein- oder Rückreisende angesichts des § 17 Abs. 8 Satz 2 Nds. Corona-Verordnung nicht gehalten, den von dieser Norm für ein Entfallen der Absonderung (§ 17 Abs. 1) sowie der Anzeigepflicht und Beobachtung (§ 17 Abs. 2, Abs. 3) geforderten Negativtest noch im ausländischen Staat vor Antritt ihrer Reise ins Bundesgebiet vornehmen zu lassen. Vielmehr können sie einen solchen Test auch spätestens bei Einreise, etwa im Testzentrum am Flughafen, absolvieren (vgl. § 36 Abs. 7 Satz 2 IfSG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 der Verordnung (des Bundes) zur Testpflicht von Einreisenden aus Risikogebieten vom 6. August 2020 (BAnz AT 07.08.2020 V1)). Erbringt dieser ein negatives Ergebnis und zeigt der Ein- oder Rückreisende auch keine Symptome, die auf eine Erkrankung an COVID-19 hinweisen (vgl. § 17 Abs. 10 Nds. Corona-Verordnung), so wird er nach § 17 Abs. 8 Nds. Corona-Verordnung von der Absonderungs- und Anzeigepflicht sowie von der Beobachtung frei. Etwaig entstehende Kosten eines solchen Tests tragen zu müssen, erscheint als „erweiterte Rahmenbedingung“ einer Auslandsreise entgegen der Ansicht des Antragstellers zumutbar.
21
b) Selbst wenn man aber unterstellte, die angegriffene Regelung aus § 17 Abs. 1 bis 3, Abs. 8 Nds. Corona-Verordnung wäre rechtswidrig und in einem noch einzuleitenden Normenkontrollverfahren in der Hauptsache gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO für unwirksam zu erklären, so fehlte es im vorliegenden Fall an einem gewichtigen Nachteil, aufgrund dessen es im Sinne des § 47 Abs. 6 VwGO „dringend geboten“ (unaufschiebbar) wäre, die vom Antragsteller angegriffene Norm vorläufig außer Vollzug zu setzen. Mit anderen Worten mangelt es im Hinblick auf die begehrte einstweilige Anordnung insoweit jedenfalls an einem Eilbedürfnis (an einem „besonderen Außervollzugsetzungsinteresse“).
22
Mit Blick auf § 17 Abs. 8 Nds. Corona-Verordnung besteht grundsätzlich eine einfache Möglichkeit, durch Testung vor der oder bei Einreise den mit der Quarantäne- und Anzeigepflicht sowie gesundheitsamtlicher Beobachtung verbundenen Einschränkungen zu entgehen. Die Obliegenheit zur Einholung einer derartigen Bescheinigung und die vorhergehende Testung nach jedem 48-stündigen oder längeren Aufenthalt in einem ausländischen Risikogebiet stellen keine schweren Nachteile dar. Der vorläufigen Außervollzugsetzung des § 17 Abs. 1 bis 3 der Verordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO bedarf es demnach ohnehin nicht (vgl. bereits Senatsbeschl. v. 16.7.2020 - 13 MN 267/20 -, juris Rn. 1, zur nahezu identischen Vorläuferregelung der Quarantänepflicht bei Ein- und Rückreisen nach Niedersachsen in § 27 der (6.) Niedersächsischen Verordnung zur Neuordnung der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 10. Juli 2020 (Nds. GVBl. S. 226)).
23
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
24
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
25
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000, -- € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Anordnung des Antragsgegners vom 20. Oktober 2020 zulässig, jedoch nicht begründet.
2
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht in dem vorliegenden Fall des nach § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges die aufschiebende Wirkung des Widerspruches ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse der Antragstellerin einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes ohne weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, weil an einer sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich nach der genannten Überprüfung der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, so führt dies in Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig dazu, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist.
3
Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Überprüfung weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung eines Antrags und des erfolgreichen Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegenüberzustellen sind. Bei dieser Interessenabwägung ist jeweils die Richtigkeit des Vorbringens desjenigen als wahr zu unterstellen, dessen Position gerade betrachtet wird, soweit das jeweilige Vorbringen ausreichend substantiiert und die Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennbar ist (OVG Schleswig, Beschluss vom 13. September 1991 – 4 M 125/91 –, Rn. 14, juris; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 11. September 2017 – 1 B 128/17 –, Rn. 28 - 29, juris).
4
Der Bescheid vom 20. Oktober 2020 ist offensichtlich rechtmäßig.
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Die streitgegenständliche Verfügung findet ihre Rechtsgrundlage in der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1, 2, § 30 Abs. 1 IfSG in der Fassung des Art. 5 des Gesetzes 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385). Nach dieser Vorschrift trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29-31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten (Satz 1). Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen (Satz 2). Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden (Satz 3). Die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt (Satz 4).
6
Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat die zuständige Behörde anzuordnen, dass Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischem Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind, unverzüglich in einem Krankenhaus oder einer für diese Krankheiten geeigneten Einrichtung abgesondert werden. Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden.
7
Aus § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ergibt sich, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider einer Quarantänemaßnahme nach dieser Vorschrift unterzogen werden dürfen. Diese Adressatenkreise sind in § 2 Nr. 4 bis Nr. 7 IfSG legaldefiniert. Danach ist ein „Krankheitsverdächtiger“ eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen; ein „Ausscheider“ ist eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein. „Ansteckungsverdächtiger“ ist schließlich eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein.
8
Die Aufnahme von Krankheitserregern im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anzunehmen, wenn der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte. Die Vermutung, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss naheliegen. Eine bloß entfernte Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Demzufolge ist die Annahme eines Ansteckungsverdachts nicht schon gerechtfertigt, wenn die Aufnahme von Krankheitserregern nicht auszuschließen ist. Andererseits ist auch nicht zu verlangen, dass sich die Annahme geradezu aufdrängt. Erforderlich und ausreichend ist, dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. Für die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckungsgefahr gilt dabei allerdings kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Es ist der allgemeine polizeirechtliche Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, wobei insbesondere auch das Ansteckungsrisiko einer Krankheit und die Schwere des Krankheitsverlaufes in den Blick zu nehmen sind. Ob gemessen daran ein Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG zu bejahen ist, beurteilt sich unter Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen Krankheit und der verfügbaren epidemiologischen Erkenntnisse und Wertungen sowie anhand der Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition der betreffenden Person und über deren Empfänglichkeit für die Krankheit (BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 – 3 C 16/11 –, BVerwGE 142, 205-219, Rn. 28 ff.).
9
Mit Blick auf COVID-19 gilt, dass Hauptübertragungsweg für den Erreger SARS-CoV-2 die respiratorische Aufnahme virushaltiger Flüssigkeitspartikel (Aerosole und Tröpfchen) ist. Während insbesondere größere respiratorische Tröpfchen schnell zu Boden sinken, können Aerosole, die unter anderem beim Atmen, Sprechen oder Singen ausgestoßen werden, auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen. Ob und wie schnell die Tröpfchen und Aerosole absinken oder in der Luft schweben bleiben, ist neben der Größe der Partikel von einer Vielzahl weiterer Faktoren, unter anderem der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit, abhängig. Bei längerem Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen kann sich die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als 1,5 m erhöhen, insbesondere dann, wenn eine infektiöse Person besonders viele kleine Partikel (Aerosole) ausstößt und exponierte Personen besonders tief einatmen. Durch die Anreicherung und Verteilung der Aerosole im Raum ist das Einhalten des Mindestabstandes zur Infektionsprävention ggf. nicht mehr ausreichend (vgl. Robert Koch-Institut, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand: 16.10.2020).
10
Auf dieser Grundlage spricht Vieles dafür, dass die Antragstellerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Krankheitserreger infolge eines Kontaktes mit einer infizierten Person i.S.d. § 2 Nr. 7 IfSG aufgenommen hat und die Anordnung der häuslichen Absonderung („Quarantäne“) auf 12 Tage nach dem letzten Kontakt zum Indexfall, hier bis zum 1. November 2020, rechtens ist. Es liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass das Testergebnis der Kontaktperson fehlerhaft sein könnte. Insbesondere fehlende äußere Symptome sind kein Anhaltspunkt dafür, dass keine Infektion stattgefunden hat.
11
Die Antragstellerin ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand als Kontaktperson der Kategorie I im Verständnis der aktuellen Empfehlungen des Robert Koch-Instituts zur Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei Infektionen durch SARS-CoV-2 vom 19. Oktober 2020 anzusehen.
12
Kontaktpersonen werden in folgenden zwei Situationen in die Kategorie I eingruppiert: Enger Kontakt (<1,5m, Nahfeld) oder Kontakt unabhängig vom Abstand (hohe Konzentration infektiöser Aerosole im Raum). Die Antragstellerin hat Kontakt zu einer nach dem Testergebnis infizierten Person mit einem geringeren Abstand als 1,5 m über einen längeren Zeitraum (mit einer Wahrscheinlichkeit von 15 Minuten) gehabt.
13
Ist eine Kontaktperson der Kategorie I festgestellt, empfiehlt das RKI, das bei der Vorbeugung übertragbarer Krankheiten und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen eine besondere Sachkunde aufweist (§ 4 IfSG), in seiner Handreichung mit Stand vom 16.10.2020, die Anordnung einer häuslichen Quarantäne für 14 Tage.
14
Die Erkrankung weist eine Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen auf, während derer potentielle Infektiosität besteht, so dass ungeachtet früherer Negativtests auch noch am letzten Tag dieses Zeitraums ein Auftreten von Krankheitszeichen, ein (erstmaliger) positiver Nachweis des Corona-Virus und eine Ansteckung anderer Personen möglich sind (vgl. Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei Infektionen durch SARS-CoV-2, a.a.O., Punkte 1.1, 2.1; Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand: 16.10.2020, Punkt 5. (95. Perzentil der Inkubationszeit liegt bei 10 bis 14 Tagen) und Punkt 10., im Internet abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html). Eine negative Testung während der Inkubationszeit kann das Gesundheitsmonitoring nicht aufheben und die Quarantänezeit nicht ersetzen oder verkürzen (so auch RKI, Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei Infektionen durch SARS-CoV-2, a.a.O., Punkt 2.1.B.), so dass es eine sog. „Freitestung“ in diesem Zusammenhang nicht gibt. Denn ein negatives Testergebnis trägt nicht mit hinreichender Sicherheit die Annahme, die in Quarantäne genommene Person sei nicht mehr ansteckungsverdächtig (vgl. VG Saarlouis, Beschl. v. 23. September - 6 L 1001/20 -, juris Rn. 20; OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. Oktober 2020 – 13 ME 386/20 –, Rn. 9, juris). Die Anordnung zur Absonderung der Antragstellerin stellt sich demnach als notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG im Hinblick auf eine ansteckungsverdächtige Person nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG dar.
15
Hinsichtlich der Anordnung einer Absonderung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist dem Antragsgegner Ermessen eingeräumt. Dieses Ermessen hat der Antragsgegner, soweit es der Überprüfung des Gerichts unterliegt (§ 114 Satz 1 VwGO), ordnungsgemäß ausgeübt. Vom Gericht überprüfbare Ermessenfehler sind nicht ersichtlich. Der Antragsgegner hat sowohl das ihm zustehende Ermessen als auch die mit der häuslichen Absonderung für die Antragstellerin bestehenden Einschränkungen erkannt. Er hat von dem Ermessen auch in einer dem Zweck der Ermächtigung – Infektionsschutz – entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht überschritten und insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingehalten. Es ist nicht ersichtlich, dass die von der Antragstellerin nunmehr geltend gemachten psychischen und körperlichen Erkrankungen auf die der Antragsgegner in seiner Gegenerklärung eingegangen ist – Anlass für anderweitige Ermessenserwägungen gegeben hätten. Die Antragstellerin hat ein Attest vom 5. Oktober 2020 vorgelegt, nach der bei ihr eine generelle Einschränkung des Leistungsvermögens für den Arbeitsmarkt aufgrund der bekannten psychischen und körperlichen Erkrankungen vorliegt. In ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 26. Oktober 2020 teilt die Antragstellerin mit, dass sie sich durch die Einsperrung und Isolierung zunehmend psychisch und physisch unter Druck, unruhig und unwohl fühle. Da sie aufgrund ihrer Knie, ihrer Essstörung, auch einen Bewegungsdrang, Depressionen, Panikattacken habe, müsse sie immer in Bewegung an der Luft für mindestens 1,5 bis 2 Stunden bleiben. Die noch bis Sonntag geltende Anordnung führt dazu, dass die Antragstellerin bei einem Bewegungsdrang lediglich Bewegung in der eigenen Wohnung mit nicht sehr großen Platzangebot finden kann. Es ist jedoch grundsätzlich möglich, auch bei einem geringen Platzangebot Bewegungsübungen durchzuführen. Wenn der Antragsgegner darauf verweist, dass ein Spaziergang an der frischen Luft auch die Möglichkeit beinhalte, andere Personen zu treffen und mit diesen zu kommunizieren und zum anderen das Risiko bestehe, dass die vorerkrankte Antragstellerin während eines Spaziergangs Hilfe benötige und insoweit auf eine zusätzliche Gefährdung verweist, so ist dies nachvollziehbar, zumal innerhalb der Wohnung eine andere Gefährdungslage besteht und etwa benötigte Rettungskräfte über die Quarantäne und deren Grund informiert werden können, da diese Kräfte ja vorher gerufen werden müssen.
16
Die streitige Maßnahme stellt sich auch nicht deswegen als rechtswidrig dar, weil sie nicht richterlich angeordnet bzw. die behördlicherseits verfügte Entscheidung nicht unverzüglich einer richterlichen Entscheidung zugeführt worden wäre (vgl. Art. 104 Abs. 2 GG). Die Anordnung der häuslichen Absonderung zielt darauf, die Antragstellerin in räumlicher Sicht auf ihre Wohnung zu beschränken und die „Quarantäne“ umfasst einen nicht nur unerheblichen Zeitraum. Nach der gesetzgeberischen Konzeption ist die häusliche Absonderung nach §§ 28 Abs. 1, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG jedoch lediglich als freiheitsbeschränkende Maßnahme ausgestaltet (OVG Lüneburg, Beschluss vom 5. Juni 2020 – 13 MN 195/20 –, juris Rn. 38; OVG Münster, Beschluss vom 13. Juli 2020 – 13 B 968/20.NE – Rn. 41 m.w.N.; VG Berlin, Beschluss vom 10. Juni 2020 10.6.2020 – 14 L 150/20 – juris Rn. 46; Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 23. September 2020 – 6 L 1001/20 –, Rn. 24 - 30, juris). Denn die Maßnahme ergeht zwar in Gestalt eines imperativen Verwaltungsaktes, setzt nach der gesetzgeberischen Konzeption aber die „Freiwilligkeit des Betroffenen und damit seine Einsicht in das Notwendige“ (BT-Drs. 14/2530 S. 75) voraus. Die gegen die Antragstellerin verfügte Absonderung ist nicht im Wege des Verwaltungsvollzuges vollstreckbar. Erst wenn sich der Betroffene weigert, der Absonderung nachzukommen, ist die Anordnung nach Maßgabe des § 30 Abs. 2 IfSG, der insbesondere die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 104 Abs. 2 GG berücksichtigt, durchsetzbar.
17
Selbst wenn man vorliegend den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache als offen ansehen wollte, führt eine allgemeine Interessenabwägung zu einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung und der Sicherung des Gesundheitssystems gegenüber dem kurzfristigen Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin auf Freiheit ihrer Person gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Würde der Vollzug der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung vom 20. Oktober 2020 ausgesetzt, erwiese diese sich aber als rechtmäßig, so könnten aufgrund der bekanntermaßen vorkommenden schweren Verläufe bis hin zu Todesfällen bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 erhebliche und möglicherweise irreversible Gesundheitsschäden eintreten. Erweist sich die Verfügung in der Hauptsache hingegen als rechtswidrig, ist die Freiheit der Antragstellerin zwar jetzt noch kurzfristig eingeschränkt und sie kann – wie sie geltend macht – nicht die nach der angekündigten neuen Landesverordnung ab Inkrafttreten dann untersagten Kulturveranstaltungen noch schnell am Wochenende besuchen und in Gaststätten speisen; der durch die Anordnung des Antragsgegners bezweckte Schutz der menschlichen Gesundheit ist im konkreten Fall jedoch als höherrangig einzustufen.
18
Die Anordnung zur Beobachtung findet ihre rechtliche Grundlage in § 29 IfSG.
19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 iVm § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt.
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Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller begehrt, aufgrund der SARS-CoV-2-Epidemie vorläufig nicht zum Präsenzunterricht herangezogen zu werden.
2
Der XX Jahre alte Antragsteller steht als beamteter Lehrer im Dienst des Landes Schleswig-Holstein. Er ist am XXX Gymnasium in A-Stadt tätig, wo er die Fächer Sport und Englisch unterrichtet. Der Antragsteller, der seit der Schulschließung Mitte März bis zu den Sommerferien nicht im Präsenzunterricht eingesetzt war, ist seit dem 07.08.2020 krankgeschrieben. Er leidet an Diabetes mellitus Typ 2, einem Schlaf-Apnoe-Syndrom, Hypertonus, einem postthrombotischen Syndrom, einer Nephropathie Stadium 2 und Adipositas Grad 3. In einem Attest vom 28.07.2020 bestätigte die ihn behandelnde Ärztin, dass der Antragsteller zur Risikogruppe für schwere Verläufe einer möglichen SARS-CoV-2-Infektion gehört. Unter dem 30.07.2020 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner unter Vorlage des Attestes seine Befreiung von der Pflicht zur Erteilung von Präsenzunterricht. In ihren Stellungnahmen vom 04. und 05.08.2020 führte die Betriebsärztin aus, dass der Antragsteller unter Berücksichtigung des Schulstandortes, des Schultyps, der daraus resultierenden Gefährdungsbeurteilung, des aktuellen Infektionsgeschehens und des schulischen Infektionsrisikos im Rahmen der arbeitsvertraglich bzw. dienstrechtlich festgelegten Aufgaben an seiner Schule einsetzbar sei. Ein umfänglicher Einsatz als Sportlehrer sei allerdings aus fürsorgerischen Gründen nur notfalls als Zweitbesetzung zu verantworten.
3
Mit Email vom 14.08.2020 teilte der Schulleiter des XXX Gymnasiums dem Antragsteller mit, dass Optimierungen am Hygieneplan der Schule und weitere Abstimmungen mit der zuständigen Arbeitsmedizinerin und dem Dienstrechtsreferat des Antragsgegners erfolgt seien. In einem persönlichen Gespräch mit dem Antragsteller, für das der Schulleiter drei Termine zur Auswahl stellte, sollten die bereits getätigten Maßnahmen zum Schutz des Antragstellers und der angedachte Unterrichtseinsatz gemeinsam erörtert werden. Nachdem der Antragsteller ein persönliches Gespräch abgelehnt und um schriftliche Beantwortung seiner Fragen gebeten hatte, lehnte der Schulleiter mit Email vom 20.08.2020 den Antrag des Antragstellers unter Hinweis auf das Hygienekonzept der Schule und die angeschafften Trennwände ab. Es sei angedacht, den Antragsteller nur noch in Doppelsteckungen einzusetzen. Unter dem 28.08.2020 übersandte der Schulleiter dem Antragsteller einen Stundenplan, aus dem sein - mit Zustimmung des Personalrates - geplanter Unterrichtseinsatz hervorging.
4
Zur Begründung seines dagegen unter dem 01.09.2020 eingelegten Widerspruchs führte der Antragsteller im Wesentlichen aus: Der Präsenzunterricht sei für ihn auch unter Berücksichtigung der getroffenen Schutzmaßnahmen unzumutbar. Es habe keine individuelle, personenbedingte Risikobewertung stattgefunden. Der Vorschlag der Betriebsärztin sei nicht umgesetzt worden. Nach dem ihm übersandten Stundenplan werde er 14 Stunden im Sportunterricht eingesetzt, obwohl er dort besonders gefährdet sei. Aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten könne in der Turnhalle und den Umkleidekabinen, die in dem Hygienekonzept nicht erwähnt würden, keine ausreichende Lüftung, wie in der Handreichung für Schulen „Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen im Rahmen des Schulbetriebs des Schulbetriebs unter dem Aspekt des Schutzes vor Ansteckung durch das SARS-CoV-2“ vom 23. Juni 2020 gefordert, sichergestellt werden. Somit könne die Turnhalle nicht genutzt werden. Es seien nicht, wie in der Handreichung vorgesehen, alternative Unterrichtsinhalte gewählt worden. Im Hallenbelegungsplan sei dagegen vorgesehen, dass gleichzeitig mehrere Gruppen, teilweise sogar aus unterschiedlichen Kohorten, unterrichtet würden. In den Umkleidekabinen sei zu wenig Platz, in den Fluren liefen Schüler aus unterschiedlichen Kohorten in kürzester Entfernung aneinander vorbei. Die Abstandsregel von 1,5 m zwischen Personen, die nicht zur selben Kohorte gehörten, werde nicht beachtet. Für drei Stunden Englischunterricht sei ihm ein Klassenraum von ca. 20 m² zugeteilt worden, in dem 24 Schüler und zwei Lehrkräfte gleichzeitig anwesend seien. Eine Quer- bzw. Stoßlüftung sei dort nicht möglich. Das Hygienekonzept sei seit dem 05.08.2020 nicht angepasst worden. Die in der Handreichung vorgesehene Händehygiene werde an der Schule nicht umgesetzt. Die Trennung der Kohorten werde im Hygienekonzept nicht berücksichtigt. Die Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen in Gemeinschaftsräumen und auf dem Schulhof sei im Konzept nicht vorgesehen. Durch die vorgesehenen Doppelsteckungen werde er weiteren Kontaktpersonen, die in unterschiedlichen Kohorten unterrichteten, ausgesetzt. Laufwege seien nicht, wie in der Handreichung vorgesehen, klar gekennzeichnet. Um Körperkontakte zu vermeiden, seien keine Bodenmarkierungen angebracht, sondern nur Stühle aufgestellt worden. Wartende Schülerinnen und Schüler stünden vor dem Sekretariat, vor dem Oberstufenbüro und darüber hinaus in dem Flur, den alle benutzen müssten, um vom Altbau in den Neubau zu gelangen, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
5
Am 08.09.2020 hat der Antragsteller um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend im Wesentlichen vor:
6
Die Betriebsärztin habe nicht seine individuelle Risikosituation anhand seiner attestierten Vorerkrankungen bewertet. Sie verwende bei ihren Einschätzungen immer den gleichen Wortlaut und berücksichtige nicht das aktuelle Infektionsgeschehen. Seine Schule habe ein Hygienekonzept auf der Grundlage der vom Antragsgegner aufgestellten Handreichung für Schulen vom 24.04.2020 erstellt, das bis heute nicht überarbeitet, insbesondere nicht der Handreichung vom 24.08.2020 angepasst worden sei. So sehe das Hygienekonzept im Gegensatz zur neuen Handreichung lediglich ein einmaliges Desinfizieren der Hände vor. Es fehlten die in Ziffer 3 b. des Konzeptes genannte Anlage, betr. die Hinweisschilder, die in der Handreichung vorgesehene räumliche und zeitliche Entzerrung des Unterrichtsbeginns und -endes und der Pausen sowie Ausführungen zur Lebensmittelhygiene und Rahmenhygiene im Bereich Gruppengröße und bei der Nutzung von Räumen und im Außenbereich. Hinsichtlich der Mund-Nase-Bedeckung entspreche das Hygienekonzept nicht den aktuellen Vorgaben der Landesregierung, sei also nicht entsprechend angepasst worden. Danach gelte seit dem 24.08.2020 in allen Schulen eine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung. Dies werde an der Schule nicht umgesetzt. Im Hygienekonzept seien keine Regelungen zum Umgang mit Personen mit einem erhöhten Risiko getroffen worden. Es sei nicht geregelt, wie der Unterricht stattfinden solle, wenn nicht gewährleistet sei, dass die zweite Lehrkraft im Klassenraum sei. Für eine Teilung von Lerngruppen stünden nicht genug Räume zur Verfügung. Jedenfalls würden die im Hygieneplan und in der Handreichung vom 24.08.2020 vorgesehenen Maßnahmen u.a. hinsichtlich des Mund-Nasen-Schutzes und der Kohortentrennung nicht entsprechend umgesetzt bzw. kontrolliert. Das ergebe sich aus einem Eintrag des Mittelstufenkoordinators vom 28.09.2020 im schulinternen Fridolin. Entgegen der Behauptung des Antragsgegners sei das Lüften in allen Räumen der Schule erst ab dem 20.10.2020 möglich. Untersuchungen an Schulen belegten neben der Erhöhung der Feuchtigkeit in der Innenraumluft und dem damit einhergehenden Gehalt an Aerosolen einen sehr starken Anstieg der Kohlendioxid-Konzentration mit Unterrichtsbeginn. Innerhalb von 15 bis 20 Minuten werde der Leitwert von 1000 ppm erreicht oder bereits überschritten. Sog. CO2-Ampeln würden an der Schule nicht genutzt. In verschiedenen Klassen werde kaum oder selten gelüftet.
7
Die von der Staatskanzlei herausgegebenen Hinweise vom 28.05.2020 zur „Vorgehensweise für die Rückkehr von Personen, die zu einer Risikogruppe zählen“ seien hinsichtlich seines Einsatzes im Sportunterricht nicht eingehalten worden. Die in der Turnhalle vorhandene Belüftungsanlage sei sehr alt und werde nicht mit Frischluft angereichert. Eine ausreichende Lüftung zumindest der Sporthalle und der Umkleideräume, wie in dem vom Antragsgegner herausgegebenen Infoblatt „Richtig lüften in der Schule“ vorgesehen, sei nicht möglich. Gerade im Sportunterricht würden jedoch sehr viele Aerosole produziert. Dies stelle für ihn ein besonderes Gefährdungspotential dar. Im Herbst könne der Sportunterricht auch nicht mehr im Freien stattfinden.
8
Ein persönliches Gespräch mit dem Schulleiter habe nicht stattgefunden, da er seit dem 07.08.2020 arbeitsunfähig erkrankt sei. Es sei auch nicht notwendig gewesen.
9
Ihm werde keine FFP 2 Maske zur Verfügung gestellt. Die den Lehrkräften zur Verfügung gestellten Mund-Nasen-Bedeckungen schützten diese ebenso wenig wie die sog. Face-Shields, die seit dem 26.10.2020 auch nicht mehr zulässig seien. Arbeiten im Freien werde nicht ermöglicht. Von Konferenzen am Ort sei er nicht befreit. Es sei zweifelhaft, ob der Antragsgegner und seine Schule auf etwaig steigende Fallzahlen, wie sie auch in A-Stadt zu verzeichnen seien, reagieren würden. Gegenwärtig sei von einem erhöhten Infektionsrisiko insbesondere auch an seiner Schule auszugehen. Dort seien in den 6. Klassen, in denen er unterrichten solle, die ersten Corona-Infektionen aufgetreten.
10
Der Antragsteller beantragt,
11
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu untersagen, ihn zum Präsenzunterricht heranzuziehen, bis von Seiten des Antragsgegners ein hinreichender Hygieneplan und ein hinreichendes Arbeitsschutzkonzept vorgelegt und die entsprechenden Maßnahmen zur bestmöglichen Vermeidung möglicher Gesundheitsgefährdungen im Rahmen des Schuldienstes getroffen wurden,
12
hilfsweise, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, ihn zum Präsenzunterricht heranzuziehen, bis
13
a. eine den Anforderungen des § 5 ArbSchG in Verb. mit § 3 ArbStättV genügende Gefährdungsbeurteilung speziell bezogen auf die örtlichen, räumlichen, personellen und sachlichen Umstände der streitgegenständlichen Schule erstellt, dokumentiert und ihm zur Verfügung gestellt wurde,
14
b. den Anforderungen des § 3, § 4 und § 9 ArbSchG in Verb. mit § 3a und § 4 ArbStättV genügende Schutzmaßnahmen konzipiert, an der streitgegenständlichen Schule implementiert wurden und eine schriftliche Dokumentation hierüber erstellt wurde,
15
c. eine den Anforderungen des § 12 in Verb. mit § 9 ArbSchG in Verb. mit § 6 ArbStättV genügende Unterweisung nicht lediglich ihm gegenüber, sondern allen Beschäftigten der streitgegenständlichen Schule und eine Mitteilung über die Schutzmaßnahmen gegenüber den Erziehungsberechtigten der Schüler der streitgegenständlichen Schule erfolgt ist.
16
Der Antragsgegner beantragt,
17
den Antrag abzulehnen.
18
Er erwidert im Wesentlichen:
19
Der Hauptantrag dürfte unzulässig sein, da ein entsprechender Tenor nicht umsetzbar wäre. Jedenfalls sei der Antrag unbegründet. Es seien hinreichende Vorkehrungen getroffen worden, die geeignet seien, das Risiko einer Ansteckung an der Schule auf ein vertretbares und zumutbares Maß zu begrenzen und eine Gefährdung der Lehrkräfte zu minimieren. Das Gesprächsangebot des Schulleiters habe der Antragsteller nicht wahrgenommen. Der Schulleiter sei nach wie vor bereit, nach der Genesung des Antragstellers weitere Schutzmaßnahmen mit ihm direkt zu erörtern, wie er dies auch mit anderen Lehrkräften der Schule, die der Risikogruppe angehörten, getan habe. Die Bereitschaft der Schule zur besonderen Rücksichtnahme werde durch die individuelle Stundenplangestaltung und die vorgesehene Doppelsteckung, bei der Abstand zur weiteren Lehrkraft zu halten sei, deutlich. Das Attest vom 28.07.2020 sei der Betriebsärztin vorgelegt worden. Der Antragsteller stelle die Rückmeldung der Betriebsärztin zum Einsatz im Sportunterricht verkürzt dar. In ihrer am 05.10.2020 übersandten Stellungnahme setze sich die Betriebsärztin erneut mit der individuellen Situation des Antragstellers auseinander.
20
Laut Stellungnahme des Schulleiters handele es sich bei der Handhygiene um eine bereits praktizierte und inzwischen eingespielte Routine. Dies sei jetzt im Hygienekonzept konkretisiert worden. Es erschließe sich nicht, auf welche Kenntnisse der seit dem 07.08.2020 durchgehend erkrankte Antragsteller seinen Vortrag, die Handhygiene werde weder ausgeführt noch kontrolliert, stützt. Es wäre auch am Antragsteller, die Hygienevorschriften selbst einzuhalten und von anderen deren Einhaltung zu fordern. Die Hinweisschilder der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung seien im gesamten Gebäude gut sichtbar ausgehängt. Die Schulgemeinschaft befolge die Hinweise. Die Schülerinnen und Schüler beträten die Schule unter Wahrung der Hygieneregeln und -abstände durch einen der vier Eingänge. Das Zusammentreffen der Kohorten in allgemein genutzten Bereichen der Schule werde reduziert. Auf dem Schulhof seien den Schülerinnen und Schülern feste Pausenbereiche zugewiesen. Könnten Hygieneregeln und -abstände nicht beachtet werden, sei eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Dies gelte auch für Gemeinschaftsräume. Die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung für Schülerinnen und Schüler ab der Jahrgangsstufe 5 ergebe sich unmittelbar aus der entsprechenden Landesverordnung. Sie gelte vom 19. bis 31.10.2020 auch im Unterricht. In allen Klassen- und Fachräumen könne gelüftet werden. Auch ein Querlüften sei möglich. An den Fenstern im Neubau vorgenommene Änderungen ermöglichten eine noch bessere Lüftung. In der Turnhalle gebe es sowohl auf dem Weg zu den Umkleidekabinen, in den Umkleidekabinen und in der Sporthalle, die in dem Hygienekonzept erwähnt werde, Lüftungsmöglichkeiten. Das Hygienekonzept werde nach dem Stand neuer Erkenntnisse überprüft und angepasst. Die Laufwege seien klar gekennzeichnet. Überall seien Hinweisschilder angebracht. Im Schulalltag gelinge es, Körperkontakte zu vermeiden.
21
Die Doppelsteckungen im Fach Sport, der nach Möglichkeit im Freien stattfinde, sollten die betriebsärztlichen Bedenken bis zur endgültigen Klärung durch den Amtsarzt berücksichtigen. Der Antragsteller solle im Unterricht nur das leisten müssen, was sein Gesundheitszustand zulasse. Die andere Sportlehrkraft leiste z.B. erste Hilfe und Hilfestellungen. Die Doppelsteckung im Fach Englisch solle eine Teilung der Lerngruppe ermöglichen. Unterricht könne dann auch in zwei Räumen erfolgen. Den Lehrkräften seien zwei Mund-Nasen-Bedeckungen zur Verfügung gestellt worden. Demnächst werde die Schule sog. Face-Shields erhalten. Außerdem seien Plexiglasscheiben für die Lehrerpulte angeschafft worden.
22
In A-Stadt sei das Infektionsgeschehen auf einem sehr niedrigen Stand. Bei Verdachts- oder Infektionsfällen in Schulen würden unmittelbar Maßnahmen zum Schutz aller Betroffenen ergriffen. Dass das präventive Konzept und die Intervention im Fall von Infektions- und Verdachtsfällen greifen würden, zeigten die aktuellen Vorkommnisse an der Schule des Antragstellers. Zu den Ansteckungen sei es im Übrigen nicht innerhalb der Schule gekommen. Ein allumfassender Gesundheitsschutz könne während einer pandemischen Lage nicht sichergestellt werden.
23
Mit Schriftsatz vom 23.10.2020 hat der Antragsgegner in Absprache mit dem Leiter des XXX Gymnasiums zugesagt, den Antragsteller im aktuellen Schulhalbjahr nur im Fach Englisch einzusetzen. Der Antragsteller werde in der Unterrichtsplanung nur als Zweitbesetzung vorgesehen. Der Antragsteller hat erklärt, an seinem Antrag festhalten zu wollen.
II.
24
Der Hauptantrag des Antragstellers, der durch seinen Hilfsantrag weiter präzisiert wurde, ist als noch zulässig anzusehen (vgl. Beschluss der Kammer vom 18.08.2020 - 12 B 53/20 - juris Rn. 11 f.). Er lässt im Hinblick darauf, dass eine Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur ausnahmsweise in Betracht kommt, erkennen, dass es dem Antragsteller lediglich um eine vorläufige Regelung geht. Aus dem Antrag wird auch hinreichend deutlich, worum es dem Antragsteller in der Sache geht, d.h. welches Rechtsschutzziel er verfolgt. Es ist nicht erforderlich, dass der Antragsteller angibt, welche Maßnahmen das Gericht im Einzelnen treffen soll. Hierüber entscheidet das Gericht im Rahmen des Antragsbegehrens (§ 88 VwGO) nach freiem Ermessen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 938 Abs. 1 ZPO).
25
Der Antrag bleibt allerdings in der Sache ohne Erfolg. Er ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht kann eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 VwGO). Dazu hat der Antragsteller Tatsachen glaubhaft zu machen, aus denen sich ergibt, dass ihm ein Anspruch, ein Recht oder ein sonstiges schützenswertes Interesse zusteht (sog. Anordnungsanspruch) und ferner, dass dieser Anordnungsanspruch in Folge einer Gefährdung durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss, somit eine Eilbedürftigkeit besteht (sog. Anordnungsgrund, § 123 Abs. 3 VwGO in Verb. mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
26
Zwar hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Für die Kammer bestehen keinerlei Zweifel an der Eilbedürftigkeit einer Entscheidung, da das Schuljahr 2020/2021 bereits am 10. August 2020 begonnen hat, und damit der Antragsteller verpflichtet ist, im Rahmen seiner Dienstpflichten Präsenzunterricht durchzuführen.
27
Es fehlt jedoch an einem Anordnungsanspruch. Ein solcher setzt voraus, dass dem Antragsteller trotz der vom Antragsgegner und vom XXX Gymnasium in A-Stadt ergriffenen Maßnahmen die Durchführung von Präsenzunterricht unter Abwägung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn mit seiner beamtenrechtlichen Einsatzpflicht unzumutbar ist.
28
Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn wird verfassungsrechtlich durch Art. 33 Abs. 5 GG garantiert. Sie hat einfachgesetzliche Konkretisierungen in § 45 BeamtStG erfahren. Danach hat der Dienstherr im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses für das Wohl der Beamtinnen und Beamten und ihrer Familien zu sorgen und die Beamtinnen und Beamten bei ihrer amtlichen Tätigkeit und in ihrer Stellung zu schützen. Von der Fürsorgepflicht ist auch die Pflicht des Dienstherrn umfasst, für die Ausübung des Amtes angemessene Arbeitsbedingungen zu schaffen (BVerwG, Urteil vom 24.01.2013 - 5 C 12/12 - juris Rn. 24 mit weit. Nachw.). Der Beamte hat kraft der Fürsorgepflicht des Dienstherrn einen Anspruch gegen diesen auf Schutz nicht nur vor sicheren, sondern schon vor ernstlich möglichen Beeinträchtigungen seiner Gesundheit durch Einwirkungen am Arbeitsplatz (BVerwG, Urteil vom 13.09.1984 - 2 C 33/82 - juris Rn. 18).
29
Darüber hinaus sind die Vorschriften des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) unmittelbar auch auf Beamte anwendbar, § 2 Abs. 2 Nr. 4 ArbSchG (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 22.11.2017 - 2 LA 117/15 - juris Rn. 11). Dieses wird wiederum durch die Regelungen der Arbeitsstättenverordnung noch näher konkretisiert. Danach ist der Dienstherr verpflichtet, die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst geringgehalten wird, § 4 Nr. 1 ArbSchG. Nach § 4 Nr. 6 ArbSchG sind dabei auch spezielle Gefahren für besonders schutzbedürftige Beschäftigtengruppen zu berücksichtigen. Hieraus folgt im Einzelnen auch ein ggf. gerichtlich durchsetzbarer Anspruch des Beamten auf Einhaltung der gesetzlichen Arbeitsschutzvorschriften. Die Auswahl zwischen mehreren möglichen Mitteln zur Abhilfe liegt allerdings im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn (BVerwG, Urteil vom 13.09.1984, a.a.O., Rn. 19).
30
Der danach dem Antragsteller zustehende Anspruch auf Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften gewährt ihm jedoch nicht das Recht, seinen Dienst am Alten Gymnasium in Form von Präsenzunterricht zu verweigern. Ob diesbezüglich ein Verweigerungsrecht entsprechend § 273 BGB besteht, richtet sich nach den Umständen im jeweiligen Einzelfall. Das Interesse des Arbeitgebers, die Arbeitsleistung zu erhalten, ist abzuwägen mit dem individuellen Interesse des Arbeitnehmers an der Einhaltung der beanspruchten arbeitsrechtlichen Schutzpflichten. Entsprechendes gilt im öffentlichen Dienstrecht, wo die vom Antragsteller beanspruchte, durch arbeitsschutzrechtliche Regelungen konkretisierte Fürsorgepflicht des Dienstherrn in einem vergleichbaren Verhältnis zu seiner beamtenrechtlichen Einsatzpflicht (§ 34 Satz 1 BeamtStG) steht. Ein Recht zur Verweigerung der Arbeits- oder Dienstleistung besteht nur, wenn diese bei Nichteinhaltung der Schutzvorschriften unzumutbar ist (HessVGH, Beschluss vom 14.05.2020 - 1 B 1308/20 - juris Rn. 10 mit weit. Nachw.). Maßgeblich für die Beurteilung des Einzelfalls sind dabei insbesondere die vom Dienstherrn im Hinblick auf die Coronapandemie für den jeweiligen Dienstort aufgestellten Schutzkonzepte. Bieten diese neben dem Schutz der Allgemeinheit ausreichende Maßnahmen zum Individualschutz, um die Wahrscheinlichkeit einer Infektion des Beamten unter Berücksichtigung seiner Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe möglichst zu vermeiden, muss ein darüberhinausgehendes Dienstverweigerungsrecht ausgeschlossen sein.
31
Diesen - strengen - Maßstab für die Annahme eines Dienstverweigerungsrechts seitens eines Beamten zugrunde gelegt, ist ein Anspruch des Antragstellers auf Verweigerung des Präsenzunterrichts nicht glaubhaft gemacht. Die nach dem Vorstehenden gebotene Bewertung der Zumutbarkeit zur Heranziehung zum Dienst geht zu Lasten des Antragstellers aus. Denn die hier vom Antragsgegner und der Schule getroffenen Maßnahmen werden dem sich aus der Fürsorgepflicht und den arbeitsrechtlichen Schutzpflichten ergebenden Maßstab gerecht. Der Antragsteller ist nach § 34 Satz 1 BeamtStG verpflichtet, seine Kernaufgabe der Unterrichtserteilung zu erfüllen. Die Unterrichtserteilung erfolgt grundsätzlich gegenüber den Schülerinnen und Schülern in persönlicher Präsenz. Im Ergebnis führt die besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe nicht dazu, dass ihm die Erfüllung dieser Pflicht als Kern seiner beamtenrechtlichen Einsatzpflicht gegenwärtig nicht zugemutet werden kann.
32
Zwar gehört der Antragsteller grundsätzlich aufgrund seiner Erkrankungen zur Gruppe der besonders schutzbedürftigen Beschäftigten. Er ist unter Zugrundelegung der Information des Robert Koch-Instituts (SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 - COVID-19 - Stand: 16.10.2020) zunächst Teil einer der Personengruppen, bei denen im Fall einer Infektion mit SARS-CoV-2 häufiger schwere Krankheitsverläufe beobachtet werden. Die vom Antragsgegner und der Schulleitung ergriffenen konkreten und im gerichtlichen Verfahren umfassend dargelegten Maßnahmen erscheinen gegenwärtig ausreichend, um das Risiko einer Erkrankung des Antragstellers an SARS-CoV-2 auch in Anbetracht der bei ihm erhöhten Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs auf ein zumutbares Maß zu reduzieren. Zu dieser Einschätzung ist die Betriebsärztin, eine Fachärztin für Arbeitsmedizin, in Kenntnis der schulischen Gegebenheiten auf der Basis der einschlägigen rechtlichen Regelungen (ArbSchG, Biostoffverordnung und Infektionsschutzgesetz) sowie unter Berücksichtigung des vom Antragsteller vorgelegten ärztlichen Attests vom 28.07.2020 und des derzeitigen regionalen Infektionsgeschehens gelangt. Den von der Betriebsärztin geäußerten Bedenken hinsichtlich eines Einsatzes des Antragstellers im Sportunterricht hat der Antragsgegner in Absprache mit dem Schulleiter mit der Zusage Rechnung getragen, den Antragsteller im aktuellen Schulhalbjahr nur im Fach Englisch einzusetzen.
33
Das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren hat eine „Empfehlung zur Lufthygiene in Unterrichtsräumen in Schulen und vergleichbaren Bildungseinrichtungen während der SARS-CoV-2-Pandemie“ herausgegeben. In der Handreichung des Beklagten zum Infektionsschutz („Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen im Rahmen des Schulbetriebs unter dem Aspekt des Schutzes vor Ansteckung durch das SARS-CoV-2 (24. August 2020)") werden in Ziffer 5. die Grundregeln zur Lufthygiene angeführt, und den Schulen wurde ein Merkblatt „Richtig lüften in der Schule" zur Verfügung gestellt. Die Empfehlung des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig-Holstein zur Lufthygiene in Unterrichtsräumen in Schulen und vergleichbaren Bildungseinrichtungen während der SARS-CoV-2-Pandemie vom 12. Oktober 2020 enthält ausführliche Anweisungen zum Lüften während des Schulbetriebs. Zudem regelt die Landesverordnung über besondere Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 an Schulen (Schulen-Coronaverordnung) vom 06.10.2020 in § 2 die Mund-Nasen-Bedeckungspflicht auf dem Gelände von Schulen, die mittlerweile über den 31.10.2020 hinaus verlängert wurde.
34
Die Schule des Antragstellers hat auf dieser Grundlage sowie unter Berücksichtigung der Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts ein umfangreiches Hygienekonzept (aktuelle Fassung vom 20.09.2020) entwickelt, das unter anderem Regelungen zur Kohortenbildung, Handhygiene, zur Einhaltung des Abstandsgebots und zur Lüftung enthält. Der Antragsteller trägt selbst vor, dass seit dem 20.10.2020 alle Räume der Schule durch- bzw. quergelüftet werden können. Ob dies auch in der Sporthalle der Fall ist, kann dahinstehen, da der Antragsteller vorerst von der Verpflichtung zur Erteilung von Sportunterricht befreit ist. In seiner Stellungnahme vom 15.09.2020 hat der Leiter des XXXX Gymnasiums die einzelnen Hygienemaßnahmen im Hinblick auf die vom Antragsteller erhobenen Einwände erläutert. Danach hat es sich nicht bewährt, den Kohorten bestimmte Eingänge zuzuweisen. Vielmehr betreten die Schülerinnen und Schüler die Schule selbstverantwortlich unter Wahrung der Hygiene- und Abstandsregeln durch einen der vier Eingänge. Auf dem Schulhof sind den Schülerinnen und Schülern feste Pausenbereiche zugewiesen und farblich markiert. Laufwege sind durch Hinweisschilder (z.B. Rechtsverkehr und Einbahnstraßenregelungen) gekennzeichnet. Rotweiße Flatterbänder hätten an Stühlen befestigt werden müssen. Dies ist aus Gründen des Brandschutzes nicht zulässig. In den Klassenräumen sind auf den Lehrerpulten Plexiglastrennscheiben aufgestellt worden, um die Lehrkräfte vor einer Ansteckung durch die Schülerinnen und Schüler zu schützen. Soweit der Antragsteller die unzureichende Umsetzung des Hygienekonzeptes an der Schule beanstandet, muss er sich entgegenhalten lassen, dass es auch seine Aufgabe als an der Schule unterrichtende Lehrkraft ist, für eine Durchsetzung der aufgestellten Regeln, etwa die ausreichende Lüftung der Klassenräume, die Einhaltung von Abständen und die Maskenpflicht im Unterricht sowie bei Dienstveranstaltungen zu sorgen und ggf. auch Verbesserungsvorschläge zu machen.
35
Die Kammer hat auch keinen Anlass daran zu zweifeln, dass sowohl der Antragsgegner als auch die Schule des Antragstellers entsprechend auf das jeweilige aktuelle Infektionsgeschehen und etwaige steigende Fallzahlen reagieren werden. Der öffentliche Gesundheitsdienst hat gemäß § 34 Absatz 9 Infektionsschutzgesetz (IfSG) die notwendigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, soweit der Fall eintritt, dass die Gefahr einer Weiterverbreitung des Virus besteht. Beim Antragsgegner ist eine sog. Covid 19 Taskforce eingerichtet. Durch die 24-stündige Erreichbarkeit der mit der Hygiene beauftragten Betriebsärztin ist gewährleistet, dass umgehend auf eine mögliche Positiv-Testung von Schülern oder Lehrkräften reagiert werden kann. Die vorgesehenen Abläufe werden im „Corona-Reaktions-Plan Schule SH“ verdeutlicht. Zwar sind mittlerweile auch in Schleswig-Holstein wieder steigende Infektionszahlen zu beobachten (vgl. https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/coronavirus/Coronavirus-in-SH-65-neue-Infektionen-bestaetigt,corona4736.html). Allerdings erfolgen die meisten Ansteckungen nicht in der Schule, sondern im privaten Bereich (s. https://www.ndr.de/nachrichten/info/Corona-Faelle-Anteil-der-unter-35-Jaehrigen-stark-gestiegen,corona4170.html).
36
Aus dem Anspruch auf Fürsorge und aus den arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften ergibt sich kein Anspruch des Antragstellers darauf, an der Schule eine NulIrisiko-Situation anzutreffen. Ein allumfassender Gesundheitsschutz während einer pandemischen Lage kann nicht sichergestellt werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Schulen Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne des Infektionsschutzgesetzes sind, vgl. § 33 Nr. 3 IfSG. Mithin besteht in einer Gemeinschaftseinrichtung bereits eine allgemeine Infektionsgefährdung in Bezug auf sämtliche Infektionserkrankungen, denen sich eine Lehrkraft aufgrund ihrer Dienstleistungspflicht grundsätzlich auszusetzen hat. Seiner Pflicht als Dienstherr, mögliche Gesundheitsgefahren für die Lehrkräfte auf ein zumutbares Maß zu verringern, ist der Antragsgegner hinreichend nachgekommen.
37
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1 VwGO.
38
Die Streitwertentscheidung folgt aus §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG).
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"jurisdiction": "Germany",
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"language": "de"
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 14. Kammer, Einzelrichter - vom 26. September 2018 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gründe
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil vom 26. September 2018 ist unbegründet. Zulassungsgründe im Sinne von § 78 Abs. 3 AsylG liegen nicht vor; jedenfalls hat der Kläger die Voraussetzungen hierfür nicht ausreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
2
1. Ein Verfahrensmangel i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO ist nicht hinreichend dargelegt. Der Kläger meint, dass das Urteil zwar mit Gründen versehen sei, die Entscheidung aber nicht nachvollziehbar sei, weil es an einer dezidierten Begründung mangele. Unter Verweis auf den angefochtenen Bescheid werde das vom Kläger vorgelegte Schreiben des Gesundheitsministers von einem Professor Dr. „G:“ als irrelevant abgetan, obwohl klar sei, dass eine Personenidentität zum Vater des Klägers („G:A.“) vorliege. Eine Verbindung zu verneinen, sei an den Haaren herbeigezogen und das Urteil offensichtlich rechtswidrig. Das Vorgehen des Einzelrichters gegenüber Asylsuchenden aus Afghanistan sei absolut willkürlich und nicht hinzunehmen.
3
Eine Verletzung des Begründungserfordernisses aus § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO ergibt sich daraus nicht. Diesem kann gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auch durch Verweisungen und Bezugnahmen entsprochen werden, etwa indem das Verwaltungsgericht ausdrücklich feststellt, dass es der Begründung des angefochtenen Verwaltungsakts folgt und insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absieht (vgl. nur Beschl. des Senats v. 29.01.2020 - 4 LA 39/18 -, n.v.; OVG Münster, Beschl. v. 08.05.2019 - 9 A 1619/19.A -, juris Rn. 5 ff. m.w.N.). Dass die Begründung des Verwaltungsgerichts zusammen mit den in Bezug genommenen Erwägungen keine formell ausreichende Begründung darstellt, weil den Beteiligten keine Kenntnis darüber vermittelt wird, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht, ist der Antragsbegründung nicht zu entnehmen. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass das Vorbringen des Klägers im gerichtlichen Verfahren in wesentlicher Hinsicht ergänzt worden und das Gericht hierauf nicht gesondert eingegangen wäre.
4
Soweit der Kläger meint, das Urteil sei offensichtlich rechtswidrig, ist dies keine Frage der ausreichenden Begründung. Die damit aufgeworfenen (ernstlichen) Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind im Asylgesetz nicht als Zulassungsgrund vorgesehen.
5
2. Darüber hinaus meint der Kläger, dass das Gericht in verfahrensfehlerhafter Weise „die nach § 108 VwGO gebotene Überzeugungsgewissheit nicht ausreichend ermittelt“ habe. Eine Aufklärung und eine Amtsermittlung sei nicht betrieben worden; das Gericht habe lediglich Einzelfragen gestellt, die weder zur Aufklärung des Sachverhalts noch für die Bewertung der Glaubwürdigkeit geeignet gewesen seien. Statt in Bezug auf die Tätigkeit des Vaters als Chefarzt weitere Aufklärung zu betreiben, sei den hierzu in übersetzter Form vorgelegten Dokumenten keine Beachtung geschenkt worden, da das Gericht dem diesbezüglichen Vortrag des Klägers keinen Glauben geschenkt habe. Damit sei das Urteil sowohl hinsichtlich der Würdigung des gesamten Sachverhaltes zu den Vorkommnissen in Afghanistan als auch hinsichtlich der Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des Klägers schlichtweg falsch.
6
Auch dieses Vorbringen kann im Ergebnis nicht zur Zulassung der Berufung führen. Dass das Urteil im Ergebnis „schlichtweg falsch“ ist, mag zutreffen, stellt aber – wie ausgeführt – im Asylrecht keinen Zulassungsgrund dar. Ob im Übrigen ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO oder gegen den Untersuchungsgrundsatz aus § 86 Abs. 1 VwGO geltend gemacht werden soll, kann dahinstehen. Soweit der Kläger die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Sachverhaltswürdigung beanstandet, ist diese Kritik grundsätzlich dem sachlichen Recht zuzuordnen und rechtfertigt von vornherein nicht die Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensmangels gemäß § 78 Abs. 3 AsylG i.V.m. 138 VwGO. Sinn dieser Zulassungsmöglichkeit ist die Kontrolle des Verfahrensganges, nicht aber der Rechtsfindung, zu der wiederum auch die Würdigung des dem Gericht vorliegenden Tatsachenmaterials zählt (OVG Lüneburg, Beschl. v. 25.08.2014 - 8 LA 60/14 -, juris Rn. 8 m.w.N.). In einem Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann zwar ausnahmsweise ein Verfahrensfehler i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 oder § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen, etwa dann, wenn die tatrichterliche Sachverhalts- oder Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 12.03.2014 - 5 B 48.13 - juris Rn. 22, Beschl. v. 29.06.2005 - 1 B 185/04 -, juris Rn. 3). Ein solcher Verstoß ist allerdings kein in § 138 VwGO aufgeführter Verfahrensmangel und kann daher - selbst wenn er vorliegt - nicht zur Berufungszulassung speziell nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG führen (VGH Mannheim, Beschl. v. 28.07.2020 - A 2 S 873/19 -, juris Rn. 19; OVG Münster, Beschl. v. 23.04.2020 - 1 A 2023/19.A -, juris Rn. 21; OVG Lüneburg a.a.O., jeweils m.w.N.; Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 78 Rn. 76). Gleiches gilt für etwaige Aufklärungsmängel (OVG Münster a.a.O. Rn. 30; OVG Bautzen, Beschl. v. 19.07.2016 - 3 A 32/15.A -, juris Rn. 11; GK AsylG, Stand Dez. 2015, § 78 Rn. 68; Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 78 Rn. 68).
7
3. Aus den zu 1. und 2. vorgetragenen Rügen ergäbe sich nichts anderes, wenn man zugunsten des Klägers annähme, das damit zugleich eine prinzipiell berücksichtigungsfähige Verletzung des rechtlichen Gehörs i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO geltend gemacht werden soll. Dass das Gericht das Vorbringen des Klägers nicht zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung erwogen hätte, wird nicht dargelegt. Im Übrigen verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht nicht, vorgebrachte Tatsachen auch so zu würdigen wie der Kläger (Funke-Kaiser in: GK-AsylG, Stand März 2019, § 78 Rn. 261). Dass nach Auffassung des Gerichts eine Verbindung des Klägers zu der im Schreiben des Gesundheitsministers genannten Person wegen des anderslautenden Namens des Vaters nicht einmal ansatzweise zu erkennen sei, diese Würdigung aufgrund der erkennbaren Ähnlichkeit und der in Afghanistan anders gehandhabten Verwendung von Vor- und Nachnamen aber nicht nachvollziehbar, möglicherweise willkürlich sein könnte, ist daher keine Frage des rechtlichen Gehörs, sondern der Sachverhaltswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), die, wie ausgeführt, im Asylrecht selbst bei Willkür nicht rügefähig wäre. Sie würde auch nicht automatisch zu einer rügefähigen Verletzung des rechtlichen Gehörs führen (vgl. OVG Bautzen, Beschl. v. 19.07.2016 - 3 A 32/15.A -, juris Rn. 9; OVG Lüneburg, Beschl. v. 25.08.2014 - 8 LA 60/14 -, juris Rn. 9; Funke-Kaiser in: GK-AsylG, Stand März 2019, § 78 Rn. 262 m.w.N.). Eine gleichzeitige Verletzung rechtlichen Gehörs könnte nur gegeben sein, wenn das Verwaltungsgericht seiner Sachverhalts- oder Beweiswürdigung einen akten- bzw. protokollwidrigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat und dementsprechend über entscheidungserhebliches Parteivorbringen hinweggegangen wäre (VGH Mannheim, Beschl. v. 28.07.2020 - A 2 S 873/19 -, juris Rn. 19 m.w.N.; Funke-Kaiser in: GK-AsylG, § 78 Rn. 74, 263). Das Vorliegen eines solchen Hinweggehens klägerischen Vorbringens ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Soweit der VGH München die Auffassung vertritt, dass ein den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzender Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gegeben sein kann, wenn die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Gerichts objektiv willkürlich ist oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet, wird dies nicht näher begründet (vgl. nur Beschl. v. 20.02.2020 - 15 ZB 20.30194 -, juris Rn. 10, v. 22.07.2019 - 8 ZB 19.31614 -, juris Rn. 23 und v. 04.02.2019 - 21 ZB 18.30314 - juris Rn. 8) und vermag daher auch nicht zu überzeugen. Es wäre Sache des Gesetzgebers, im Asylrecht für derartige Konstellationen eine Möglichkeit zur Zulassung der Berufung zu schaffen.
8
4. Schließlich ergibt sich auch aus § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG und dem diesbezüglichen Vortrag kein Grund zur Zulassung der Berufung. Soweit der Kläger meint, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gegeben seien, weil er zum Kreis der vulnerablen Personen gehöre und kein leistungsfähiger und erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtung sei, rügt er wiederum nur die Richtigkeit der einzelfallbezogenen Entscheidung, bezeichnet aber nicht, wie es für eine Zulassung wegen Divergenz erforderlich wäre, eine Abweichung von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts und einen darin enthaltenen entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatz, von dem das Verwaltungsgericht abgewichen sein soll (vgl. dazu Beschl. des Senats v. 10.07.2018 - 4 LA 41/18 -, juris Rn. 6). Davon abgesehen greift die Divergenzrüge auch deshalb nicht durch, weil sich der Kläger ausschließlich auf eine Entscheidung des VGH Mannheim vom 11. April 2018 bezieht, der VGH Mannheim aber kein divergenzfähiges Gericht i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ist. Hierunter fallen nur Oberverwaltungsgerichte, die dem Gericht, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, übergeordnet sind (vgl. schon Beschl. des Senats v. 10.01.2020 - 4 LA 149/19 - n.v.).
9
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
10
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
11
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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"language": "de"
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 20,50 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Diesen Anforderungen genügt die Antragsbegründung, auf deren Prüfung der Senat im Zulassungsverfahren beschränkt ist, nicht.
4Die Berufung ist nicht wegen der sinngemäß allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
5Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Beschluss vom 26. März 2007 - 1 BvR 2228/02 -, NVwZ-RR 2008, 1, juris Rn. 25.
6Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.
7Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen den Kostenfestsetzungsbescheid des Beklagten vom 16. März 2018 abgewiesen und ausgeführt: Der Bescheid, in dem der Beklagte Kosten in Höhe von insgesamt 20,50 Euro festgesetzt hat, sei rechtmäßig. Insbesondere begegne die der Kostenfestsetzung zugrunde liegende Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG keinen Bedenken. Der Kläger sei vom Beklagten nach dem Erreichen von vier Punkten mit Schreiben vom 2. März 2017 ermahnt und auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar hingewiesen worden. Der Beklagte sei bei Erreichen von fünf Punkten nicht verpflichtet gewesen, den Kläger vor der Verwarnung erneut zu ermahnen. Einer erneuten Ermahnung bedürfe es nur, wenn der Fahrerlaubnisinhaber die gesetzliche Schwelle von vier Punkten nach der Ermahnung wieder unterschreite und sodann erneut überschreite. Bei einer Erhöhung innerhalb einer Maßnahmenstufe sei – so u. a. die Rechtsprechung des 16. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen – eine erneute Ermahnung dagegen nicht erforderlich.
8Die hiergegen im Zulassungsverfahren erhobenen Rügen vermögen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht in Frage zu stellen. Der Kläger wendet unter Berufung auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. April 2008 – 10 B 10206/08 – ein, dass die in § 4 (Abs. 5 Satz 1) Nr. 2 StVG bestimmten Maßnahmen erneut zu ergreifen seien, „wenn sich die vorausgesetzten Punktestände zum wiederholten Mal durch das Hinzutreten weitere[r] Punkte ergeben“. Dies sei bei dem Anstieg von vier auf fünf Punkte der Fall. Der Kläger legt damit ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO entsprechend dar. Mit der vom Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf Rechtsprechung, Gesetzesbegründung und Kommentarliteratur vertretenen Rechtsauffassung setzt er sich nicht auseinander. Aus der von ihm in Bezug genommenen Entscheidung ergibt sich nichts anderes: Sie verhält sich unmittelbar nur zu der – hier nicht relevanten – Frage, ob von einem „Ergeben“ des Punktestandes auch dann auszugehen ist, wenn sich dieser durch Reduzierung der Punkte „von oben“, etwa durch einen Abbau von Punkten durch Tilgung, ergibt. Im Übrigen dürfte ihr implizit zu entnehmen sein, dass eine erneute Ermahnung (nur) dann erforderlich ist, wenn sich die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG a. F. vorausgesetzten Punktestände zum wiederholten Mal ergeben, wenn also der „Punktebereich“ bzw. die nächste „Stufe“ erneut erreicht wird (juris Rn. 4, 7, 9, 26).
9Auch mit seinem weiteren Einwand zur Berücksichtigung des Verstoßes vom 11. Dezember 2016 mit 2 Punkten legt der Kläger keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung dar. Der Kläger macht insoweit geltend, dass der Verstoß nach dem bis zum 30. April 2014 geltenden Bußgeldkatalog mit 3 Punkten geahndet worden wäre, was im Rahmen der Umrechnung am 1. Mai 2014 nur einen Punkt ergeben hätte. Dies begründe eine „benachteiligende Ungleichbehandlung“ des Klägers gegenüber einem Täter, der den gleichen Verstoß vor dem 30. April 2014 begangen hätte. Eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem legt der Kläger hiermit nicht dar. Die unterschiedliche Punktevergabe Ungleichbehandlung beruht auf einer Änderung der Rechtslage, im Wesentlichen gleiche Sachverhalte sind deshalb nicht gegeben. Es ist dem Normgeber selbstverständlich unbenommen, durch Änderung des Bußgeldkatalogs höhere Sanktionen anzuordnen als zuvor.
10Soweit der Kläger pauschal auf die bisherigen Ausführungen im erstinstanzlichen Verfahren Bezug nimmt, genügt dies nicht dem Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO.
11Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
12Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
§ 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 346), zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 363), wird vorläufig außer Vollzug gesetzt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung einer infektionsschutzrechtlichen Verordnung, die Gastronomiebetrieben eine Sperrzeit von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr auferlegt und den Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke untersagt.
2
Die Antragstellerin betreibt in C. eine Shisha-Bar mit Alkoholausschank, die in der Woche bis 1.00 Uhr und an Wochenenden bis 5.00 Uhr geöffnet ist.
3
Am 7. Oktober 2020 erließ das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, handelnd durch die Ministerin, die Niedersächsische Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) und verkündete diese im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 8. Oktober 2020, S. 346. Diese Verordnung enthält in der zuletzt durch Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020, verkündet im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 22. Oktober 2020, S. 363, geänderten Fassung unter anderem folgende Regelungen:
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§ 6 Regelungen für private Zusammenkünfte und Feiern
…
(3) 1Abweichend von den Absätzen 1 und 2 sind für private Zusammenkünfte und Feiern im Sinne der Absätze 1 und 2 unter Einhaltung des Abstandsgebots nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 vorbehaltlich des Absatzes 4 nicht mehr als jeweils 15 Personen zulässig, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der die Zusammenkunft oder Feier stattfindet, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt. 2Das für Gesundheit zuständige Ministerium gibt auf der Internetseite https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ bekannt, in welchen Landkreisen und kreisfreien Städte die nach Satz 1 geregelte Zahl der Neuinfizierten erreicht ist. 3Ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe nach Satz 2 ist Satz 1 anzuwenden.
(5) 1Private Zusammenkünfte und Feiern, die an öffentlich zugänglichen Örtlichkeiten, auch in außerhalb der eigenen Wohnung zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten und in gastronomischen Betrieben, stattfinden, sind mit jeweils nicht mehr als 100 Personen zulässig, wenn das Abstandsgebot nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 eingehalten wird. 2Während der privaten Zusammenkünfte und Feiern im Sinne des Satzes 1, an denen mehr als 50 Personen teilnehmen, dürfen ab 18.00 Uhr reine Spirituosen und ab 22.00 Uhr Alkohol insgesamt, einschließlich alkoholischer Mischgetränke, weder angeboten noch konsumiert werden.
(6) 1Abweichend von Absatz 5 sind für Zusammenkünfte und Feiern im Sinne des Absatzes 5 unter Einhaltung des Abstandsgebots nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 vorbehaltlich des Absatzes 7 nicht mehr als jeweils 25 Personen zulässig, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der die Zusammenkunft oder Feier stattfindet, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt. 2Absatz 3 Sätze 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden.
(7) 1Abweichend von Absatz 5 dürfen an Zusammenkünften und Feiern im Sinne des Absatzes 5 unter Einhaltung des Abstandsgebots nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 Angehörige im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 sowie Personen aus nicht mehr als zwei Haushalten, höchstens aber insgesamt nicht mehr als zehn Angehörige und Personen teilnehmen, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der die Zusammenkunft oder Feier stattfindet, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt. 2Absatz 3 Sätze 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden.
(8) Private Zusammenkünfte und Feiern, die keine der in den Absätzen 1 bis 7 genannten Anforderungen erfüllen, sind verboten.
§ 10Betriebsverbote sowie Betriebs- und Dienstleistungsbeschränkungen
…
(2) 1Für einen Gastronomiebetrieb im Sinne des § 1 Abs. 3 NGastG beginnt eine Sperrzeit um 23.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der der Gastronomiebetrieb liegt, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt; § 6 Abs. 3 Sätze 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. 2Die zuständige örtliche Behörde kann in begründeten Ausnahmefällen von Satz 1 abweichende Regelungen treffen, es sei denn, dass die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt; in diesem Fall ist es den Betreiberinnen und Betreibern von Gastronomiebetrieben im Sinne des § 1 Abs. 3 NGastG unabhängig von der Sperrfrist zudem untersagt, alkoholische Getränke im Außer-Haus-Verkauf abzugeben.
…
§ 20Inkrafttreten, Außerkrafttreten
(1) Diese Verordnung tritt am 9. Oktober 2020 in Kraft und mit Ablauf des 15. November 2020 außer Kraft.
…
5
Am 23. Oktober 2020 hat die Antragstellerin bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht einen Normenkontrollantrag (13 KN 392/20) und einen darauf bezogenen Normenkontrolleilantrag gestellt. Sie hält die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung für rechtswidrig. Die Regelungen seien schon nicht hinreichend bestimmt, da unklar bleibe, auf welchen Tag das Ende der Sperrzeit um 6.00 Uhr bezogen sei und aufgrund welcher Erkenntnisse die Inzidenzwerte vom Verordnungsgeber angenommen worden und wie diese konkret zu bestimmen seien. Auch die Rechtsgrundlagen der Verordnung in §§ 32 und 28 des Infektionsschutzgesetzes seien unwirksam. Jedenfalls gestatteten sie allenfalls notwendige Schutzmaßnahmen. Die Sperrzeit und das Außer-Haus-Verkaufsverbot seien nicht notwendig und auch nicht verhältnismäßig. Gaststätten hätten nach den Feststellungen des Robert Koch-Instituts überhaupt keinen wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen. Gleiches gelte für den Alkoholkonsum. Ein erhebliches Infektionsrisiko zeigten vielmehr private Feiern im Familien- und Freundeskreis, der Umgang in Gemeinschaftseinrichtungen und -unterkünften, Kindertagesstätten und Schulen, religiöse Veranstaltungen und berufliche Settings. Auch wenn nicht alle Infektionsquellen im Rahmen der Kontaktnachverfolgung ermittelt werden konnten, sei es unzulässig, diese den Gaststätten und dem Alkoholkonsum zuzuschreiben. Selbst der Verordnungsgeber sehe Gastronomiebetriebe offensichtlich nicht als "potenzielle Orte für Infektionsgeschehen" an, dürften diese doch öffnen und müssten nur über ein geeignetes Hygienekonzept verfügen. Eine andere Sichtweise für einen begrenzten Zeitraum von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr sei nicht begründet. Sie sei auch nicht wegen einer "Enthemmung aufgrund des Konsums alkoholischer Getränke" geboten. Auch der Vorwurf mangelnder Kontrollierbarkeit der Einhaltung des Hygienekonzepts sei kein sachlicher Grund, da es keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine grundlegende Missachtung der Schutz- und Hygienevorschriften in Gaststätten gebe. Die zeitweise Schließung der Gastronomiebetriebe würde die Zusammenkünfte von Personen und deren Alkoholkonsum nur in private Bereiche verdrängen, die kaum zu kontrollieren seien und nach den Feststellungen des Robert Koch-Instituts ein deutlich höheres Infektionsrisiko bedeuteten. Die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke griffen auch unverhältnismäßig in ihre grundgesetzlich geschützte Berufsausübungsfreiheit ein. Der weitere Vollzug der Verordnung sei für sie mit erheblichen, ihre wirtschaftliche Existenz gefährdenden Umsatzeinbußen verbunden.
6
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
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§ 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, vorläufig außer Vollzug zu setzen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
10
Er verteidigt die angefochtenen Verordnungsregelungen und erachtet diese als hinreichend bestimmt. Diese seien zur Zielerreichung geeignet, da sie jedenfalls für die Zeit ihrer Geltung die Kontaktmöglichkeiten zwischen zahlreichen Personen in und auf dem Weg von und zu gastronomischen Betrieben reduzierten und hiermit verbundene Infektionsrisiken ausschlössen. Eine Abdrängung in private Bereiche stelle die Eignung nicht infrage. Es sei bereits fraglich, ob eine solche in nennenswertem Umfang stattfinde. Jedenfalls würde die Zahl möglicher Kontaktpersonen und die in Gastronomiebetrieben mit laut geführten Gesprächen verbundene besondere hohe Infektionsgefahr reduziert. Auch könne nicht unterstellt werden, dass im privaten Bereich von vorneherein geltende Infektionsschutzregeln nicht beachtet würden. Die Regelungen seien auch erforderlich. Es stehe mittlerweile fest, dass die Virusübertragung in erster Linie im direkten sozialen Kontakt erfolge, wie er auch in gastronomischen Betrieben stattfinde. Die Einhaltung der Regelungen eines Hygienekonzepts werde durch die enthemmende Wirkung von Alkohol gefährdet. Es stehe auch nicht fest, dass das Infektionsgeschehen in Gastronomiebetrieben nicht signifikant zur Virusverbreitung beitrage. Zwar habe das Robert Koch-Institut Erkenntnisse zum Infektionsumfeld gewonnen. Deren Aussagekraft leide aber darunter, dass nur etwa ein Viertel der Fälle einem Ausbruch zugeordnet werden konnte. Für drei Viertel der Fälle gebe es hingegen keine Erkenntnisse. Deshalb könne aus der festgestellten geringen Zahl von Infektionsfällen in Gastronomiebetrieben nicht verlässlich auf eine nur geringe Bedeutung für die Virusverbreitung geschlossen werden. Mildere, punktgenauere Maßnahmen seien nicht in gleicher Weise effektiv. Ein bloßes Alkoholausschankverbot ab einem bestimmten Tageszeitpunkt könne durch eine "Bevorratung mit alkoholischen Getränken für den Rest des Abends" leicht umgangen werden. Die bloße Beachtung und Durchsetzung der bestehenden Hygienekonzepte sei angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens nicht mehr ausreichend. Die Regelung sei auch angemessen. Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit sei durch vernünftige Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt, die die wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin überwögen.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
II.
12
Der Senat legt die von der Antragstellerin gestellten Anträge anhand ihres ohne Weiteres erkennbaren tatsächlich Begehrens gemäß § 88 VwGO (vgl. zur Anwendung im Normenkontrollverfahren: BVerwG, Urt. v. 21.1.2004 - BVerwG 8 CN 1.02 -, BVerwGE 120, 82, 86 - juris Rn. 34; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 47 Rn. 36) einheitlich dahin aus, dass sie im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO die vorläufige Außervollzugsetzung des § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, erstrebt.
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Dieser zulässige (1.) Antrag ist begründet (2.) und führt zur vorläufigen Außervollzugsetzung des § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung mit allgemeinverbindlicher Wirkung (3.).
14
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
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1. Der Antrag ist zulässig.
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Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.).
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Die Antragstellerin ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da sie geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung sind an die Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben adressiert und lassen es möglich erscheinen, dass die Antragstellerin in ihrem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 19 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. - juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 - 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 - juris Rn. 79 m.w.N.).
18
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
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2. Der Antrag ist auch begründet.
20
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
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Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung des § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, Erfolg. Der in der Hauptsache von der Antragstellerin zulässigerweise gestellte Normenkontrollantrag 13 KN 392/20 ist voraussichtlich begründet (a.). Zudem überwiegen gewichtige Belange der Antragstellerin die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe (b.).
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a. Der in der Hauptsache von der Antragstellerin gestellte Normenkontrollantrag 13 KN 392/20 hat voraussichtlich Erfolg. Nach der derzeit nur gebotenen summarischen Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, rechtswidrig ist und wegen der damit einhergehenden Verletzung der Antragstellerin ihrem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO für unwirksam zu erklären sein wird.
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(1) Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Sperrzeit in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist ausweislich der Präambeln dieser Verordnung vom 7. Oktober 2020 und der Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020 nicht § 10 des Niedersächsischen Gaststättengesetzes - NGastG -.
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Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist vielmehr § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung. Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: OVG B-Stadt, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4. 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.).
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(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020 und der Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020 bestehen derzeit nicht.
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Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnungen zuständig.
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Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV sind die Verordnungen von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 7. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 346) und vom 22. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 363) verkündet worden.
28
§ 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020 und Art. 2 der Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020 bestimmen, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
29
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 - juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürften die Verordnungen genügen.
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(3) Die in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, getroffenen Regelungen sind in ihrer hier allein zu beurteilenden konkreten Ausgestaltung aber voraussichtlich materiell rechtswidrig.
31
(a) Diese Rechtswidrigkeit ergibt sich entgegen der Auffassung der Antragstellerin aber nicht schon aus einer mangelnden hinreichenden Bestimmtheit der Verordnungsregelungen (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Beschl. v. 13.7.2018 - 1 BvR 1474/12 -, BVerfGE 149, 160, 203 - juris Rn. 120; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 13 MN 120/20 -, juris Rn. 18 m.w.N.).
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(aa) § 10 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ordnet für jeden Gastronomiebetrieb im Sinne des § 1 Abs. 3 NGastG eine Sperrzeit an, die um 23.00 Uhr beginnt und um 6.00 Uhr endet, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der der Gastronomiebetrieb liegt, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt.
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Das Ende der derart angeordneten Sperrzeit bezieht sich offensichtlich auf den jeweils folgenden Tag; die Sperrzeit beginnt also um 23.00 Uhr eines jeden Tages und endet um 6.00 Uhr des jeweils darauffolgenden Tages.
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Die Feststellung, ob in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der der Gastronomiebetrieb liegt, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt, erfolgt gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung entsprechend deren § 6 Abs. 3 Sätze 2 und 3. Danach gibt das für Gesundheit zuständige Ministerium auf der Internetseite https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ bekannt, in welchen Landkreisen und kreisfreien Städte die in § 10 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung geregelte Zahl der Neuinfizierten erreicht ist. Ab dem Zeitpunkt dieser Bekanntgabe, der auf der Internetseite vermerkt ist (Beispiel: "Datenstand 27.10.2020 09:00"), gilt die Anordnung der Sperrzeit.
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(bb) § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung untersagt es den Betreiberinnen und Betreibern von Gastronomiebetrieben im Sinne des § 1 Abs. 3 NGastG unabhängig von der Sperrfrist nach § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung, alkoholische Getränke im Außer-Haus-Verkauf abzugeben, wenn die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt.
36
"Außer-Haus-Verkauf" alkoholischer Getränke ist die Abgabe alkoholischer Getränke, die auch im Gastronomiebetrieb angeboten werden, zum alsbaldigen Verzehr oder Verbrauch außer Haus im Sinne des § 8 NGastG.
37
Anders als die Sperrzeit ist der Außer-Haus-Verkauf einem Gastronomiebetrieb für den gesamten Zeitraum untersagt, in dem in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der der Gastronomiebetrieb liegt, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt. Auch wenn die Niedersächsische Corona-Verordnung in § 10 Abs. 2 Satz 2 nicht ausdrücklich die Regeln über die Bekanntgabe von lokalen Inzidenzen in § 6 Abs. 3 Sätze 2 und 3 für entsprechend anwendbar erklärt, folgt diese entsprechende Anwendung noch hinreichend klar aus der Bezugnahme des § 10 Abs. 2 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung auf deren "Satz 1".
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(b) Die so zu verstehenden Regelungen in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, genügen aber den sich aus § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG ergebenden materiellen Anforderungen nicht.
39
Dabei steht für den Senat fest, dass beim derzeitigen Stand der Corona-Pandemie die Voraussetzungen für ein staatliches Einschreiten zweifellos erfüllt sind (aa). Es bestehen aber durchgreifende Zweifel daran, dass die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in ihrer konkreten Ausgestaltung notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG sind (bb).
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(aa) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns gegeben.
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Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
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Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
43
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 43.700.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.160.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 28.10.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 480.000 Menschen infiziert und mehr als 10.270 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 32.900 Menschen infiziert und mehr als 730 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 29.10.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist die Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
44
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend - bei mild-moderaten Erkrankungen - jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome - ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
45
Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
46
Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie ist aktuell in weiten Teilen Deutschlands gering, kann aber örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
47
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 - juris Rn. 23).
48
Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Bekämpfung übertragbarer Krankheiten" stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 - BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. - juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
49
(bb) Nach summarischer Prüfung erweisen sich die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in ihrer konkreten Ausgestaltung aber nicht als notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
50
§ 28 Abs. 1 IfSG liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.). Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" ist folglich umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 37; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). "Schutzmaßnahmen" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können daher auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung gegenüber den Betreiberinnen und Betreibern von Gastronomiebetrieben getroffen worden sind (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 5.5.2020 - OVG 11 S 38/20 -, juris Rn. 26).
51
Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ("insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten") nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG "ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 - 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 - juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 - 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 - juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 - juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
52
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
53
Diese objektive Notwendigkeit ist bei summarischer Prüfung für die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung nicht gegeben.
54
(α) Dabei stellt der Senat nicht in Abrede, dass die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke grundsätzlich geeignete Mittel sein können, einen Beitrag zur effektiven Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 zu leisten, weil sie die Kontaktmöglichkeiten in den Gastronomiebetrieben während des Zeitraums von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr beschränken und verhindern, dass sich wechselnde Gäste oder Gästegruppen zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu gastronomischen Einrichtungen und die erhöhte Attraktivität des öffentlichen Raums bei geschlossenen gastronomischen Einrichtungen reduziert (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 54 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.6.2020 - 20 NE 20.1127 -, juris Rn. 40).
55
(β) Die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke in ihrer konkreten Ausgestaltung in der Niedersächsischen Corona-Verordnung sind auch unter Berücksichtigung des Einschätzungsspielraums des Verordnungsgebers zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 aber nicht erforderlich (so auch VG Berlin, Beschl. v. 15.10.2020 - 14 L 422/20 -, juris Rn. 20 ff.; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 57 ff. (zu den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen)).
56
(αα) Eine Erforderlichkeit ergibt sich zum einen nicht mit Blick auf die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vorgenommene Anknüpfung der Sperrzeit daran, dass die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt, und die in § 10 Abs. 2 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vorgenommene Anknüpfung des Außer-Haus-Verkaufs-Verbots alkoholischer Getränke daran, dass die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt, mithin nicht aus der Anknüpfung an ein gebietsbezogenes Infektionsgeschehen.
57
Die Inzidenz von 50 oder mehr Fällen Neuinfizierter je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern kumulativ in den letzten sieben Tagen nach § 10 Abs. 2 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung soll die Grenze markieren, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Dies allein rechtfertigt es aber nicht ohne Weiteres, für alle Personen in einem solchen Gebiet eine einheitliche Gefahrenlage anzunehmen und diesen gegenüber unterschiedslos generalisierende infektionsschutzrechtliche Maßnahmen zu treffen. Vielmehr können vorhandene oder zumutbar zu ermittelnde tatsächliche Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen in dem betroffenen Gebiet zu einer differenzierten Betrachtung und zu unterschiedlichen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zwingen, etwa bei zu lokalisierenden und klar eingrenzbaren Infektionsvorkommen (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2020 - 13 MN 371/20 -, juris Rn. 59; Bayerischer VGH, Beschl. v. 28.7.2020 - 20 NE 20.1609 -, juris Rn. 45; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.7.2020 - 13 B 940/20.NE -, juris Rn. 54 ff.). Von diesem Ansatz geht auch das von der Niedersächsischen Landesregierung erstellte "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) aus, wenn es ein nicht nur an den Infiziertenzahlen orientiertes Einschreiten vorsieht, sondern eine Einbeziehung weiterer Aspekte (bspw. Inzidenz-Dauer, Alter der Infizierten, Hospitalisierung, externe Effekte, Krankenhauskapazitäten) fordert. Die in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffenen Regelungen setzen diesen zutreffenden und auch gebotenen Ansatz indes in keiner Weise um; sie knüpfen schlicht an eine Inzidenz Neuinfizierter an.
58
Hinzu kommt für die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung als Anknüpfungspunkt gewählte Inzidenz von 35 oder mehr Fällen Neuinfizierter je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern kumulativ in den letzten sieben Tagen, dass der Antragsgegner nicht nachvollziehbar dargestellt hat, auf welchen tatsächlichen infektionsschutzrechtlich relevanten Erkenntnissen diese beruht und in welcher Art und Weise diese eine erhöhte Infektionsgefahr zu dokumentieren vermag.
59
Unerheblich für die Beurteilung der Erforderlichkeit der abstrakten, landesweit geltenden Regelungen der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist, ob die verordneten Maßnahmen aufgrund eines konkreten gebietsbezogenen Infektionsgeschehens, etwa in dem Gebiet, in dem gerade die Antragstellerin ihren Gastronomiebetrieb betreibt, oder aber auch in einem deutlich darüber hinausgehenden Gebiet unter Berücksichtigung der aufgezeigten Umstände für erforderlich erachtet werden könnten.
60
(ββ) Eine Erforderlichkeit ergibt sich zum anderen auch nicht alternativ daraus, dass in Gastronomiebetrieben, die nach § 4 der Niedersächsischen Corona-Verordnung nur auf der Grundlage eines Hygienekonzepts mit Infektionsschutzmaßnahmen betrieben werden dürfen, gerade in der Zeit zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr sowie im Zusammenhang mit dem Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke, ein für die Verbreitung von COVID-19 relevantes tätigkeitsbezogenes Infektionsgeschehen festzustellen wäre.
61
Für den Senat steht nach seiner bisherigen Rechtsprechung außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24.8.2020 - 13 MN 297/20 -, juris Rn. 30 ff. (Kinos); v. 14.8.2020 - 13 MN 283/20 -, juris Rn. 52 ff. (Feiern mit mehr als 50 Personen); v. 29.6.2020 - 13 MN 244/20 -, juris Rn. 35 (Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen) und v. 14.5.2020 - 13 MN 156/20 -, juris Rn. 31 (Fitnessstudios)). Dies gilt naturgemäß - und wie zahlreichen Medienberichten über konkrete Ausbruchsgeschehen zu entnehmen war - auch für den Aufenthalt zahlreicher Personen in einem Gastronomiebetrieb zum Zwecke des Konsums von Speisen und Getränken. Diese allgemeine Fallgestaltung ist aber nicht Gegenstand der streitgegenständlichen Verordnungsregeln, sondern ausschließlich der Aufenthalt im Gastronomiebetrieb zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr sowie der ganztägige Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke. Nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür, dass in Gastronomietrieben in der Zeit zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr sowie im Zusammenhang mit dem Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke ein signifikantes Infektionsrisiko gegenüber dem sonstigen gastronomischen Betrieb besteht, hat der Antragsgegner nicht nachvollziehbar aufzuzeigen vermocht.
62
Belastbare Erkenntnisse gerade hierzu sind auch dem Bericht des RKI zum "Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland" nicht zu entnehmen. Das RKI konnte in einer "Quellensuche" (Datenstand: 11. August 2020) von insgesamt 202.225 übermittelten Fällen nur 55.141 Fälle bestimmten Ausbruchsgeschehen zuordnen und feststellen, in welchen von 30 unterschiedlichen, verschiedenste Lebensbereiche erfassenden Infektionsumfeldern sich diese ereignet haben (vgl. RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile). Von diesen 55.141 Fällen sind bis zur 29. Meldewoche zwar lediglich 293 Fälle dem Infektionsumfeld der "Speisestätten" (beinhaltet "Speisestätten, unspezifisch", "Restaurant, Gaststätte", "Kantine" und "Imbiss") zuzuordnen, d.h. 0,53%. Diese Zahlen finden als solche eine gewisse Bestätigung im Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 27. Oktober 2020 (dort S. 12 f.; veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-27-de.pdf?__blob=publicationFile), wonach dem Infektionsumfeld der "Speisestätten" auch bis zur 43. Kalenderwoche keine signifikante Anzahl von COVID-19-Fällen zuzuordnen ist. Hieraus kann aber nicht verlässlich geschlossen werden, dass in Gastronomiebetrieben kein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Hiergegen spricht schon die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gerade nicht festgestellt werden konnte. Dies lässt zwar nicht den Schluss zu, dass - etwa wegen einer mangelhaften Erfüllung der Pflicht zur Kundenkontaktdatenerhebung (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der Niedersächsischen Corona-Verordnung) - diese sehr hohe Zahl von Fällen dem gastronomischen Bereich überwiegend oder gar ganz zuzurechnen wäre. Es mindert aber den Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder ganz erheblich.
63
(γγ) Die angeordnete Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist darüber hinaus auch deshalb nicht zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich, weil infektionsschutzrechtlich gleich effektive, die Antragstellerin aber geringer belastende, sogenannte "mildere Mittel" zur Verfügung stehen (vgl. hierzu Hessischer VGH, Beschl. v. 23.10.2020 - 6 B 2551/20 -, juris Rn. 30 f.). Hier sind insbesondere zeitliche Beschränkungen, wie bei der Sperrzeit, oder reine Konsumverbote, wie sie als regelungsteil in § 6 Abs. 5 bis 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bereits vorgesehen sind, in den Blick zu nehmen.
64
(γ) Die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke sind in ihrer konkreten Ausgestaltung in der Niedersächsischen Corona-Verordnung zur Erreichung des legitimen Ziels der Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19 auch nicht angemessen.
65
Die streitgegenständlichen Regelungen in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bewirken schon deshalb einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der betroffenen Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben, weil sie nicht erforderlich sind (siehe im Einzelnen oben (β)).
66
Die Untersagung des - gegenüber der Sperrzeit zeitlich unbegrenzten - Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bewirkt zudem eine Ungleichbehandlung gegenüber nicht gastronomischen Betrieben, denen ein Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke nicht untersagt worden ist, ohne dass hierfür derzeit eine sachliche Rechtfertigung erkennbar ist.
67
b. Gewichtige Belange der Antragstellerin überwiegen auch die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe.
68
Dabei erlangen die erörterten Erfolgsaussichten des in der Hauptsache gestellten oder zu stellenden Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Normenkontrolleilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag in der Hauptsache noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn die angegriffene Norm erhebliche Grundrechtseingriffe bewirkt, sodass sich das Normenkontrolleilverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweist (vgl. Senatsbeschl. v. 11.5.2020 - 13 MN 143/20 -, juris Rn. 36; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 31).
69
Schon danach wiegt das Interesse der Antragstellerin an einer einstweiligen Außervollzugsetzung der sie betreffenden Regelungen der Verordnung schwer. Dieses Gewicht wird verstärkt durch die ersichtlich gravierenden wirtschaftlichen Auswirkungen der verordneten Regelungen für die betroffenen Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben.
70
Den so beschriebenen und gewichteten Aussetzungsinteressen stehen keine derart schwerwiegenden öffentlichen Interessen gegenüber, dass eine Außervollzugsetzung der voraussichtlich rechtswidrigen Regelungen im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes unterbleiben müsste. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke in ihrer konkreten Ausgestaltung in der Niedersächsischen Corona-Verordnung ein wesentlicher Baustein in der Strategie der Pandemiebekämpfung des Antragsgegners ist. Dem Antragsgegner bleibt es zudem unbenommen, zur Bekämpfung signifikanter Infektionsgeschehen erforderliche Beschränkungen zu verordnen, wenn hierfür eine objektive Notwendigkeit besteht.
71
3. Die vorläufige Außervollzugsetzung wirkt nicht nur zugunsten der Antragstellerin in diesem Verfahren; sie ist allgemeinverbindlich (vgl. Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 36; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 611). Der Antragsgegner hat die hierauf bezogene Entscheidungsformel in entsprechender Anwendung des § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO unverzüglich im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt zu veröffentlichen.
72
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
73
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019
74
- 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
75
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt ...-... bewilligt. Raten sind nicht zu zahlen.Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 20. August 2020 - 14 K 2329/20 - geändert. Der Antrag wird abgelehnt.Die Antragstellerin trägt die Kosten Verfahrens in beiden Rechtszügen.Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Beteiligten streiten über die Haltung des Hundes .... Sie sind sich darüber einig, dass dieser dem Rassestandard eines Pit Bull Terriers entspricht. Am 09.04.2020 meldete sich die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin und gab im Folgenden an, dass sie den Hund, der sechs Jahre alt sei, von ihrem Ex-Partner übernommen habe, als dieser in Haft gewesen sei, und bat um Übersendung der Unterlagen zur Anmeldung zur Verhaltensprüfung. Herr ..., der Ex-Partner der Antragstellerin meldete sich am 24.04.2020 bei der Antragsgegnerin und teilte mit, dass der Hund seiner sei. Am 27.04.2020 morgens meldete sich der Bruder der Antragstellerin telefonisch bei der Antragsgegnerin und teilte mit, dass seine Schwester festgenommen worden sei und der Hund sich noch in der Wohnung befinde.
2 Mit Verfügung vom 27.04.2020 untersagte die Antragsgegnerin der Antragstellerin die Haltung des Hundes (Ziff. 1), verfügte dessen Beschlagnahme zum Zwecke der Einziehung (Ziff. 2) und ordnete die sofortige Vollziehung von Haltungsuntersagung und Beschlagnahme an. Zur Begründung führte sie aus, Rechtsgrundlage für die Haltungsuntersagung sei §§ 3, 1 Abs. 1 PolG. Der Hund sei ein Kampfhund gemäß § 1 Abs. 2 PolVOgH. Eine Verhaltensprüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH sei bislang nicht abgelegt. Die erforderliche Erlaubnis zum Halten eines Kampfhundes nach § 3 PolVOgH fehle. Die Beschlagnahme stütze sich auf § 33 Abs. 1 Nr. 1 PolG. Es bestünden Bedenken gegen die Zuverlässigkeit und Sachkunde der Antragstellerin als Hundehalterin. Die Beschlagnahme wurde am 27.04.2020 vollzogen und der Hund ins Tierheim ...-... gebracht.
3 Unter dem Datum vom 30.04.2020 füllte die Antragstellerin das Formblatt „Anzeige über das Halten eines Kampfhundes“ aus und erklärte sich darin bereit, den Hund einer Verhaltensprüfung zu unterziehen und eine Sachkundeprüfung nach § 3 Abs. 2 PolVOgH abzulegen. Zudem füllte sie den Erhebungsbogen für die Verhaltensprüfung aus. Die beiden Formulare gingen am 05.05.2020 bei der Antragsgegnerin ein.
4 Gegen die Verfügung vom 27.04.2020 legte die Antragstellerin Widerspruch ein und machte u.a. geltend, sie sei nicht unzuverlässig; der Haftbefehl sei außer Vollzug gesetzt worden. Zudem beantragte sie einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht. Das Verwaltungsgericht gab dem Antrag mit Beschluss vom 20.08.2020 teilweise statt. Es stellte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen Ziff. 1 und 2 der Verfügung vom 27.04.2020 unter der Auflage wieder her, dass die Antragstellerin den Hund bis zum 30.09.2020 bei der Antragsgegnerin für eine Verhaltensprüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH anmeldet und zu einer solchen Prüfung bis zum 31.10.2020 vorführt. Die am 27.04.2020 erfolgte Vollziehung der Beschlagnahme sei rückgängig zu machen, indem der Hund an die Antragstellerin herausgegeben werde. Im Übrigen werde der Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Haltungsuntersagung voraussichtlich rechtswidrig sei. Der Antragstellerin sei Gelegenheit zu geben, die Vermutung des § 1 Abs. 2 PolVOgH durch eine Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH zu widerlegen. Allerdings sei das berechtigte Haltungsinteresse der Antragstellerin nach § 3 Abs. 2 PolVOgH auf die Vorbereitung einer Verhaltensprüfung beschränkt. Es bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Unzuverlässigkeit oder fehlende Sachkunde der Antragstellerin im Hinblick auf eine zeitlich beschränkte Haltung des Hundes bis zu dessen Absolvierung einer Verhaltensprüfung. Der Antragstellerin könne nicht entgegengehalten werden, dass sie ein Verpflichtungsbegehren auf Erteilung einer Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 PolVOgH hätte geltend machen müssen, dass sie weder die theoretische noch die praktische Prüfung zum Nachweis der erforderlichen Sachkunde zum Halten eines Kampfhundes erbracht und das Bestehen einer besonderen Haftpflichtversicherung für den Hund nicht nachgewiesen habe. Für den Fall, dass der Hund die Prüfung bestehe, gelte er nicht als Kampfhund, so dass die Antragstellerin ab diesem Zeitpunkt keiner entsprechenden Erlaubnis mehr bedürfe und die erforderlichen Voraussetzungen zum Halten eines Kampfhunds auch nicht nachweisen müsste. Die Beschlagnahmeverfügung sei voraussichtlich ebenfalls rechtswidrig. Die eine Beschlagnahme rechtfertigenden Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 PolVOgH lägen, wie sich aus den Ausführungen zur Haltungsuntersagung ergebe, voraussichtlich nicht vor.
5 Unmittelbar im Anschluss an die Zustellung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts wurde der Hund an die Antragstellerin herausgegeben.
6 Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat die Antragsgegnerin Beschwerde eingelegt, mit der sie die vollständige Ablehnung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz begehrt. Solange die erforderliche Erlaubnis nach § 3 PolVOgH nicht erteilt sei und auch nicht im Rahmen eines Verpflichtungsbegehrens mit Erfolg geltend gemacht werde, bleibe es zwingend bei § 3 Abs. 1 PolVOgH, wonach das Halten eines Kampfhundes der Erlaubnis der Ortspolizeibehörde bedürfe. Da eine solche Erlaubnis nicht erteilt worden sei, führe die Herausgabe zu einem bereits formell rechtswidrigen Zustand. Wie der Verwaltungsgerichtshof entschieden habe (Beschl. v. 04.08.2020 - 1 S 1263/20 -), knüpfe die Ermächtigungsgrundlage in § 3 Abs. 3 PolVOgH nur daran an, dass keine Erlaubnis erteilt sei, ohne danach zu unterscheiden, aus welchen Gründen eine Erlaubnis nicht erteilt werde. § 3 PolVOgH sei ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt. Ohne Erlaubniserteilung dürfe daher eine Kampfhundehaltung nicht stattfinden. Die Behauptung der Antragstellerin, es gebe eine Verwaltungspraxis, auf entsprechende Zulassungsanträge hin entweder vorläufige Erlaubnisse oder jedenfalls Duldungen zu erteilen, bis die Halter ihre Hunde einer Verhaltensprüfung hätten stellen können, sei unzutreffend. Zudem sei die Haltung hier auch materiell illegal. Die Möglichkeit, eine Verhaltensprüfung vorzubereiten, rechtfertige die Haltung nicht. Die Vorbereitung auf die Verhaltensprüfung sei auch mit einem im Tierheim untergebrachten Tier möglich. Im Juli 2020 habe ein Hund mit reinem Training im Tierheim ... die Verhaltensprüfung bestanden. Auch aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (Beschl. v. 21.03.2018 - 1 S 2522/17 -) folge nicht, dass in jedem Fall die Haltung eines Kampfhundes zur Wesenstestvorbereitung und -durchführung erforderlich sei. Aus den genannten Gründen sei daher auch die Beschlagnahmeverfügung rechtmäßig.
7 Die Antragstellerin ist der Beschwerde entgegengetreten. Mit dem Antrag auf Zulassung eines Hundes zur Verhaltensprüfung sei jedenfalls konkludent ein Antrag auf Erteilung einer vorläufigen Erlaubnis zur Haltung eines Kampfhundes gestellt. Dies korrespondiere auch mit einer gut 20 Jahre fortdauernden Verwaltungspraxis in Baden-Württemberg, auf entsprechende Zulassungsanträge hin entweder vorläufige Erlaubnisse oder jedenfalls Duldungen zu erteilen, bis die Halter ihre Hunde einer Verhaltensprüfung hätten stellen können. Alles andere wäre auch lebensfremd, da Tierheime nicht rund um die Uhr geöffnet hätten und eine Vorbereitung im Tierheim nicht zumutbar sei, weil Hunde ihre gewohnte Umgebung, Ruhe und Zuneigung benötigten. Die Prüfungsvorbereitung setze eine mehrwöchige Hundehaltung zu Hause voraus, wie der Verwaltungsgerichtshof längst klargestellt habe (Beschl. v. 21.03.2018 - 1 S 2522/17 -). Die Antragstellerin habe sich zur Prüfung lange angemeldet und werde den Aufforderungen der Antragsgegnerin im Schreiben vom 24.09.2020, ein neues Führungszeugnis zu beantragen und eine Haftpflichtversicherungspolice vorzulegen, umgehend nachkommen. Im Übrigen sehe die PolVOgH keine Nachweispflicht für die Sachkunde vor, sondern setze voraus, dass keine Bedenken gegen Zuverlässigkeit und Sachkunde bestünden.
8 Auf Aufforderung des Senats teilte die Antragstellerin ergänzend mit, ihr Lebensgefährte sei Anfang 2019 inhaftiert worden. Dieser habe sie im Glauben gelassen, die Hündin sei ordnungsgemäß angemeldet. Dass dem nicht so gewesen sei, habe sie erfahren, als dieser aus der Haft entlassen worden sei und nachhaltig die Hündin zurückgefordert habe, obwohl er sie ihr zuvor geschenkt habe. Der Ärger habe einige Wochen nach der Haftentlassung des Ex-Partners im November 2019 begonnen. Nachdem es am Abend des 11.12.2019 zu einem heftigen Streit mit dem ehemaligen Lebensgefährten gekommen sei, sei die Antragstellerin am 12.12.2019 zur Antragsgegnerin gegangen und habe erfahren, dass der Hund gar nicht angemeldet gewesen sei. Sie habe den Hund dann sofort zur Steuer auf sich angemeldet, wie sich aus dem vorgelegten Formular „Anmeldung einer Hundehaltung“ vom 12.12.2019 ergebe.
II.
9 1. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Antragstellerin beruht auf § 166 VwGO, § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO.
10 2. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die fristgerecht dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), geben dem Senat Anlass, den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 20.08.2020 zu ändern und den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen.
11 a) Die ausgesprochene Haltungsuntersagung ist voraussichtlich rechtmäßig. Sie stützt sich auf § 3 Abs. 3 PolVOgH. Nach dieser Vorschrift hat die Ortspolizeibehörde die zur Abwendung der Gefahren für Leben, Gesundheit, Eigentum oder Besitz erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn eine Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 PolVOgH für das Halten eines Kampfhundes nicht erteilt wird. Die Ermächtigungsgrundlage in § 3 Abs. 3 PolVOgH knüpft - wie der Senat mehrfach entschieden hat - nur daran an, dass keine Erlaubnis erteilt wird, ohne danach zu unterscheiden, aus welchen Gründen eine Erlaubnis nicht erteilt wird. Die Erlaubnis ist für Kampfhunde, die älter als sechs Monate sind, nach § 3 Abs. 1 PolVOgH stets erforderlich. Wenn die notwendige Erlaubnis nicht beantragt wird und im jeweiligen Einzelfall auch nicht erteilt werden kann, sind die Voraussetzungen für ein behördliches Handeln nach § 3 Abs. 3 PolVOgH gegeben. Andernfalls könnten sich die Halter eines Kampfhundes den polizeilichen Maßnahmen allein durch das Unterlassen eines Erlaubnisantrags entziehen (Senat, Beschl. v. 24.10.2017 - 1 S 1364/17 -, Beschl. v. 04.08.2020 - 1 S 1263/20 -).
12 Die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob eine Haltungsuntersagung bei einem Kampfhund nach § 1 Abs. 2 PolVOgH, der älter als sechs Monate ist, bei Fehlen der nach § 3 Abs. 1 PolVOgH erforderlichen Erlaubnis stets ausgesprochen werden kann oder ob dem Halter eines solchen Kampfhundes vorübergehend gestattet sein muss, einen Kampfhund ohne eine solche Erlaubnis zur Vorbereitung auf eine Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH zu halten, hat der Verordnungsgeber nicht ausdrücklich geregelt (aa). Sie ist in der Rechtsprechung des Senats noch nicht abschließend geklärt (bb). Die Frage ist anhand der gesetzlichen Systematik der PolVOgH unter Heranziehung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beantworten (cc). Danach ergibt sich hier, dass die Haltungsuntersagung rechtmäßig ausgesprochen wurde (dd).
13 aa) Die PolVOgH trifft insoweit keine ausdrückliche Regelung. Zum einen geht der Verordnungsgeber für Kampfhunde, die älter als sechs Monate sind, in § 3 Abs. 1 PolVOgH von einer ausnahmslosen Erlaubnispflicht aus. Diese Erlaubnispflicht knüpft ersichtlich an die Einschätzung des Verordnungsgebers an, dass Kampfhunde aufgrund rassespezifischer Merkmale, durch Zucht oder im Einzelfall wegen ihrer Haltung oder Ausbildung von einer gesteigerten Aggressivität und Gefährlichkeit gegenüber Menschen oder Tieren gekennzeichnet sind (§ 1 Abs. 1 PolVOgH). Zum anderen eröffnet § 1 Abs. 4 PolVOgH die Möglichkeit, die an rassespezifische Merkmale nach § 1 Abs. 2 PolVOgH anknüpfende Vermutung der Eigenschaft als Kampfhund durch eine Prüfung zu widerlegen.
14 Während bei der Begründung der Haltereigenschaft für einen Kampfhund nach § 1 Abs. 2 PolVOgH, der jünger als sechs Monate ist, der Halter die Möglichkeit hat, den Hund rechtmäßig ohne Erlaubnis bis zum Alter von sechs Monaten zu halten und bis dahin die Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH zu absolvieren, verhält sich die Verordnung nicht dazu, auf welche Art und Weise bei der Begründung der Haltereigenschaft für einen Kampfhund nach § 1 Abs. 2 PolVOgH, der älter als sechs Monate ist und für den eine Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 PolVOgH fehlt, die Vorbereitung auf eine Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH soll erfolgen können.
15 bb) Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ergibt sich aus der Rechtsprechung des Senats nicht, dass dem Halter eines Kampfhundes nach § 1 Abs. 2 PolVOgH, der älter als sechs Monate ist, stets die Hundehaltung zur Vorbereitung auf eine Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH möglich sein muss und eine an das Fehlen einer Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 PolVOgH anknüpfende Haltungsuntersagung in solchen Fällen stets rechtswidrig ist. Im Beschluss vom 11.02.2011 - 1 S 27/11 - hat der Senat ausgeführt, dass die Aussagekraft des dort durchgeführten Wesentests dadurch infrage gestellt war, dass der Hund zuvor für einen Zeitraum von etwa sechs Monaten rechtswidrig beschlagnahmt und in einem Tierheim untergebracht war, dass es daher plausibel erschien, dass das gezeigte aggressive Verhalten auf den Haltungsbedingungen während des Tierheimaufenthalts beruhen kann und dass insbesondere aufgrund eines mittlerweile absolvierten zweitägigen Intensivtrainings in einer Hundeschule im konkreten Fall die begründete Erwartung bestand, dass bei einem erneuten Wesenstest die Vermutung der Kampfhundeeigenschaft widerlegt werden könnte. Vergleichbar hat der Senat im Beschluss vom 02.04.2012 - 1 S 330/12 - für den dortigen Hund gewichtige Anhaltspunkte für eine positive Verhaltensänderung des Hundes gesehen und daher angenommen, dass dem Halter Gelegenheit zu geben ist, die Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH durchzuführen. Im Verfahren 1 S 2522/17 hat der Senat im Beschluss vom 02.03.2018 ausgeführt, dass dem Halter die Möglichkeit einzuräumen war, eine erneute Verhaltensprüfung mit dem Hund durchzuführen. Der Fall war jedoch dadurch geprägt, dass im Entscheidungszeitpunkt der Hund nach einer Beschlagnahme wegen Erreichens der Sechsmonatsfrist des § 33 Abs. 4 Satz 2 PolG bereits an den Halter wieder herausgegeben worden war. Das Verfahren 1 S 958/18 wurde von den Beteiligten durch Vergleich beendet. Die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 09.08.2018, mit dem den Beteiligten ein Vergleich vorgeschlagen wurde, dienten der Begründung des Vergleichsvorschlags des Senats.
16 cc) Die streitige Frage ist aufgrund der gesetzlichen Systematik der PolVOgH unter Berücksichtigung des aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beantworten.
17 Das Halten eines Kampfhundes, der älter als sechs Monate ist, ohne die erforderliche Erlaubnis verstößt gegen § 3 Abs. 1 PolVOgH. Darin liegt ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit, da zu deren Schutzgütern u.a. die gesamte Rechtsordnung gehört. Beim Verstoß gegen die Erlaubnispflicht hat die Behörde daher nach § 3 Abs. 3 PolVOgH die zur Abwendung der Gefahren für Leben, Gesundheit, Eigentum oder Besitz erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
18 Bei diesen Maßnahmen nach § 3 Abs. 3 PolVOgH hat die Behörde - nach allgemeinen Grundsätzen - das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten. Aus diesem folgt u.a., dass die eingreifende staatliche Maßnahme bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit wahrt (st. Rspr., vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 12.02.1986 - 1 BvR 1170/83 - BVerfGE 72, 26 <30>). Eine Haltungsuntersagung - und daran anknüpfend eine Beschlagnahme des Hundes - ist in der Regel verhältnismäßig, wenn es bereits zu einem oder mehreren Vorfällen gekommen ist, in denen sich die Gefährlichkeit des Hundes gezeigt hat. Denn in solchen Fällen bedarf es - es sei denn es liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine positive Verhaltensänderung vor (vgl. Senat, Beschl. v. 02.04.2012, a.a.O.; Beschl. v. 11.05.2015 - 1 S 364/15 -; Beschl. v. 18.10.2016 - 1 S 1586/16 -) - einer Verhaltensprüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH nicht, da die konkrete Gefährlichkeit des Hundes erwiesen ist, und gebührt dem durch die Regelungen in §§ 1, 3 PolVOgH bezweckten Schutz von Menschen und anderen Tieren Vorrang. Hingegen ist eine Haltungsuntersagung - und ebenso eine Beschlagnahme des Hundes - in der Regel unverhältnismäßig, wenn - kumulativ - ein Vorfall, bei dem der Hund seine Gefährlichkeit gezeigt hat, nicht vorliegt, keine Bedenken gegen die Zuverlässigkeit oder Sachkunde des Halters bestehen, dieser unverzüglich nach Begründung der Haltereigenschaft für den Hund eine Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 PolVOgH beantragt und den Hund zur Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH anmeldet sowie diese Prüfung binnen einer angemessenen Frist von in der Regel drei Monaten durchführt. Sind alle diese Voraussetzungen erfüllt, hat der Halter eines Kampfhundes, der älter als sechs Monate ist, alles Zumutbare getan, um eine Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH durchzuführen und seine Halterpflichten zu erfüllen. Dann darf das Gebrauchmachen von der vom Verordnungsgeber eröffneten Möglichkeit einer Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH nicht unzumutbar erschwert werden (ähnlich, wenngleich bei anderer Gesetzeslage: NdsOVG, Beschl. v. 31.08.2020 - 11 ME 136/20 - juris und OVG LSA, Beschl. v. 13.03.2017 - 3 M 246/16 - juris).
19 Sollten bisherige Entscheidungen des Senats anders zu verstehen gewesen sein, hält der Senat hieran ausdrücklich nicht fest.
20 dd) Nach diesem Maßstab ist die von Antragsgegnerin ausgesprochene Haltungsuntersagung voraussichtlich rechtmäßig. Die Antragstellerin hat nach ihrem eigenen Vorbringen im Jahre 2019 den Hund von ihrem Ex-Partner übernommen und ist somit Halterin des Hundes geworden. Zu diesem Zeitpunkt oblag es, da der Hund der Rasse der Pit Bull Terrier angehört und damit gemäß § 1 Abs. 2 PolVOgH ein Kampfhund ist, der Antragstellerin, unverzüglich eine Erlaubnis nach § 3 Abs. 1 PolVOgH zu beantragen, den Hund zum Wesenstest nach § 1 Abs. 4 PolVOgH anzumelden und binnen einer angemessenen Frist von in der Regel drei Monaten diesen Wesenstest mit dem Hund zu absolvieren. Dies hat sie unterlassen. Die Haltungsuntersagung ist daher verhältnismäßig.
21 Etwas anders ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen der Antragstellerin, sie sei bei Übernahme des Hundes davon ausgegangen, dass - entsprechend den Angaben ihres Ex-Partners - alles in Ordnung sei. Wer einen Kampfhund nach § 1 Abs. 2 PolVOgH übernimmt und dessen Halter wird, hat sich ab diesem Zeitpunkt selbständig um die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen zu kümmern. Im Übrigen wäre die Haltungsuntersagung auch bei Anlegung eines großzügigeren Maßstabs verhältnismäßig, da der Antragstellerin spätestens bei der Anmeldung des Hundes am 12.12.2019 klar sein musste, dass nicht „alles in Ordnung“ ist, und sie gleichwohl mit der Anmeldung des Hundes zur Verhaltensprüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH bis zum 05.05.2020 zuwartete.
22 b) Daher dürfte auch die Beschlagnahme nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 PolG rechtmäßig sein. An der - nach dem unter a) Ausgeführten auch im Hinblick auf die Vorbereitung des Hundes auf die Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH erforderlichen - Erlaubnis für Kampfhunde nach § 3 Abs. 1 PolVOgH fehlt es. Darin liegt eine Störung der öffentlichen Sicherheit nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 PolG. Folglich konnte die Antragsgegnerin den Hund beschlagnahmen. Ermessensfehler liegen nicht vor, insbesondere ist die Beschlagnahme nach dem zuvor Ausgeführten verhältnismäßig.
23 Aufgrund der vorliegenden Entscheidung des Senats kann die Antragsgegnerin, da eine vollziehbare Beschlagnahme mit der Verfügung vom 27.04.2020 vorliegt, den Hund der Antragstellerin wieder wegnehmen und die Beschlagnahmeverfügung somit wieder in Vollzug setzen, ohne dass es insoweit einer erneuten Beschlagnahmeverfügung oder eines anderweitigen Verwaltungsakts bedürfte. Dies gilt nur dann nicht, wenn im Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Entscheidung der Hund eine Prüfung nach § 1 Abs. 4 PolVOgH erfolgreich absolviert hat, da er dann kein Kampfhund i.S.v. § 1 Abs. 2 PolVOgH wäre und eine Störung der öffentlichen Sicherheit nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 PolG mangels Verstoßes gegen § 3 PolVOgH nicht vorläge.
24 Auch § 33 Abs. 4 Satz 2 PolG steht einem erneuten Vollzug der Beschlagnaheverfügung nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift darf vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Regelung die Beschlagnahme nicht länger als sechs Monate aufrechterhalten werden. Diese gesetzlich bestimmte Höchstdauer der Beschlagnahme von sechs Monaten ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Das Gesetz setzt damit der Dauer der Beschlagnahme eine absolute Grenze. Die Frist beginnt mit dem Vollzug der Beschlagnahme, also mit dem Zeitpunkt, zu dem die Behörde die beschlagnahmte Sache in amtliche Verwahrung nimmt. Denn mit dem Vollzug der Beschlagnahme realisiert sich für den Betroffenen - gerade im Hinblick auf Nutzungsmöglichkeit und Verwahrkosten - die belastende Wirkung einer Beschlagnahmeanordnung (Senat, Beschl. v. 11.03.2014 - 1 S 2422/13 - VBlBW 2014, 377). Wird der Vollzug der Beschlagnahme - wie hier - aufgrund der Rückgabe des Hundes an den Halter im Anschluss an einen erfolgreichen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz des Halters vor dem Ablauf von sechs Monaten unterbrochen, kann die Beschlagnahme nach einer Ablehnung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz in der Beschwerdeinstanz wieder vollzogen werden. Denn auch insoweit kommt es auf die tatsächliche Wegnahme des Hundes und deren Dauer an, da sich in ihr die Belastung für den Halter verwirklicht. Da die amtliche Verwahrung in einem solchen Fall den Zeitraum von sechs Monaten noch nicht erreicht hat, ist eine erneute Wegnahme und amtliche Verwahrung für den restlichen Zeitraum, also so lange möglich, bis insgesamt sechs Monate des Vollzugs der Beschlagnahme erreicht sind. Die absolute Grenze von sechs Monaten nach § 33 Abs. 4 Satz 2 PolG ist dann gewahrt.
25 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG.
26 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziff. 1 und Ziff. 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 0. P. 2018 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zu zuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1Tatbestand:
2Der Kläger ist nach seinen Angaben und denjenigen seiner gesetzlichen Vertreter am 0. 0. 2004 geboren, irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit jezidischen Glaubens und stammt nach seinen Angaben ursprünglich aus der Stadt T. im Gouvernement O1. . Nach den Angaben reiste er im P. 2017 aus seinem Heimatland aus und kam auf dem Landweg über die Balkanroute, u. a. wohl mit einem längeren Aufenthalt in Griechenland, in das Bundesgebiet, wo er im April 2018 einreiste. Die Flucht bis in das Bundesgebiet erfolgte nach den Angaben ohne jegliche Angehörigen mit einer anderen jezidischen Familie.
3Ältere Geschwister des Klägers waren schon deutlich vor ihm, ebenfalls ohne die Eltern, jedoch mit anderen erwachsenen Verwandten, aus dem Irak ausgereist und in das Bundesgebiet gelangt, welche sämtlich Anfang September 2016 förmliche Asylanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) stellten (wohl ein Bruder Z. N. I. L. , * 0. E. 1996, Az. 00000000-438; Schwester N1. N. I. L. , * 00. B. 1999, und Bruder N2. N. I. L. , * 0. N3. 2001, beide Az. 0000000-0-438). Diese Geschwister erhielten vom Bundesamt Mitte Januar 2017 wegen ihrer Zugehörigkeit zum jezidischen Glauben und der Herkunft aus der Region T. die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
4Die Eltern des Klägers, zugleich seine gesetzlichen Vertreter, hatten soweit ersichtlich nachfolgend Visa zur Familienzusammenführung mit ihren als Flüchtlinge anerkannten Kindern erwirkt, waren Ende September 2017 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet eingereist und hatten mit ihren Kindern Wohnsitz genommen. Sie hatten Aufenthaltserlaubnisse von der zuständigen Ausländerbehörde erhalten und keine Asylanträge gestellt.
5Für den zuletzt eingereisten Kläger, für den ein Visum zum Familiennachzug abgelehnt worden war, stellten seine Eltern nach seiner Einreise mit dem Formular des Bundesamtes für solche Fälle einen schriftlichen Asylantrag, welcher am 00. April 2018 beim Bundesamt einging.
6In der Anhörung beim Bundesamt am 00. Juli 2018 in Mönchengladbach trugen die Eltern des Klägers für ihn im Wesentlichen vor: Er stamme ursprünglich aus dem Viertel B1. in der Stadt T. . Dort seien sie bis zum 0. B. 2014 geblieben. Sie selbst als Eltern hätten den Irak am 00. T1. 2017 verlassen, der Kläger im P. 2017. Der Vater des Klägers sei in der Heimat als Verkäufer im Bereich Autohandel und zudem in der Landwirtschaft tätig und auf dieser Grundlage sehr reich gewesen. Sie hätten T. wegen des Angriffs des IS auf die Gebiete um T. verlassen aus Angst, dass sie getötet würden. Bis zur Flucht seien sie dann im Flüchtlingslager in A. gemeinsam gewesen. Nachdem sie selbst schon mit ihrem Visum am 00. T1. 2017 den Irak verlassen hätten, hätte der Kläger, für den das Visum abgelehnt worden sei, noch mit einem Bekannten bis zu seiner eigenen Ausreise weiter im Camp gelebt. Der Kläger sei dann nach der Reise über die Balkanroute auf dem Landweg am 0. B2. 2018 in Deutschland angekommen und sie hätten ihn in Düsseldorf am Bahnhof abgeholt.
7Mit Bescheid vom 0. P. 2018 lehnte das Bundesamt seine Anträge auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie auf subsidiären Schutz ab. Zugleich stellte es fest, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, da der Antragsteller als 13-jähriges Kind seinen Lebensunterhalt offensichtlich nicht alleine sicherstellen könne, insbesondere da familiäre Verbindungen oder Netzwerke weder in der Heimatregion noch in den Gebieten der kurdischen Autonomieregion im Nordirak vorhanden seien und eine Rückkehr in die Flüchtlingslager nicht in Betracht käme.
8Der Kläger hat gegen den ablehnenden Teil dieses Bescheides am 00. P. 2018 diese Klage erhoben, mit der er sein Flüchtlingsbegehren als Aufstockungsklage weiterverfolgt. Er beruft sich zur Begründung im Wesentlichen darauf, dass für Jesiden weiterhin Gefahren im Herkunftsgebiet durch den IS, verbleibende Schläferzellen und ähnliches drohen würden; eine Rückkehr in die Region oder auch in Flüchtlingslager in den kurdischen Autonomiegebieten sei nicht zumutbar. Jedenfalls sei Familienschutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an seinen minderjährigen Bruder N2. , geb. 0. N3. 2001 (Az. 0000000-0-438) durch das Bundesamt mit Bescheid vom 00. K. 2017 gemäß § 26 Abs. 3 S. 1, S. 2 Asylgesetz zuzuerkennen.
9Der Kläger beantragt,
10die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 0. P. 2018 zu verpflichten,
11ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen,
12hilfsweise, ihm subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen,
15und beruft sich zur Begründung auf die Gründe des angefochtenen Bescheides. Die Ableitung des Schutzes vom minderjährigen Bruder N2. sei nicht möglich, weil die Antragstellung nicht binnen 14 Tagen nach der Einreise und damit nicht unverzüglich erfolgt sei. Bei Einreise am 0. B2. 2018 sei der am 00. B2. 2018 gestellte Asylantrag jenseits dieser Frist.
16Der Kläger hat hierzu mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 00. B2. 2020 erwidert, dass er mit seinem Vater und seinem Onkel bereits am 0. oder 00. B2. 2018 bei der Außenstelle des Bundesamtes in N4. mündlich einen Asylantrag gestellt habe, der dort aber anscheinend nicht im System gespeichert worden sei. Die ihnen zugesagte Post von dort hätten sie nicht erhalten und bei späterer Nachfrage durch erneute persönliche Vorsprache bei der Außenstelle habe man ihnen das Formular für den schriftlichen Antrag ausgehändigt, den sie dann abgesandt hätten. Es sei auf die erste Vorsprache am 0. oder 00. B2. 2018 abzustellen, was unverzüglich sei.
17Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch zu den Umständen der Asylantragstellung nach der Einreise angehört worden. Sein Vater N5. I1. B3. L1. ist als Zeuge zu den Umständen der Stellung des Asylantrages für den Kläger vernommen worden. Zu den Einzelheiten der informatorischen Anhörung des Klägers sowie zum Ergebnis der Zeugenvernehmung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens sowie der Vorgänge des Bundesamtes (auch zu seinen Geschwistern Z. , N1. und N2. , Az. siehe oben) und der den Kläger betreffenden Akte der Ausländerbehörde der Stadt E1. Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe:
20Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
21Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 0. P. 2018 ist im angegriffenen Umfang in den Ziff. 1 und Ziff. 3 rechtswidrig, soweit dort die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes abgelehnt worden ist, und verletzt den Kläger deshalb zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, § 77 Abs. 1 AsylG). Er hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
22Die Ablehnung der Asylanerkennung einerseits (Ziff. 2) und die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG (Ziff. 4) in diesem Bescheid sind überhaupt nicht angefochten und mithin hier nicht Streitgegenstand.
23Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt nicht aus eigener Verfolgung des Klägers gemäß § 3 AsylG (I.), sondern aus abgeleitetem Recht im Wege des Familienschutzes gemäß § 26 Abs. 3, Abs. 5 AsylG mit Blick auf die Flüchtlingseigenschaft des Bruders des Klägers N2. N. I. L. (II.).
24I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen eigener Verfolgung nach §§ 3 ff. AsylG.
25Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
26Als Verfolgung in diesem Sinne gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist (vgl. § 3a Abs. 1 AsylG). § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlung beispielhaft die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt; weitere Verfolgungshandlungen ergeben sich aus Nrn. 2 bis 5. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Eine nähere Umschreibung der Verfolgungsgründe enthält § 3b AsylG. Demnach ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).
27Eine Verfolgung kann ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (vgl. § 3c AsylG).
28Wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt, wird ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt (sog. interner Schutz).
29Die Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist begründet, wenn dem Antragsteller bei verständiger Würdigung der Gesamtumstände des Falles politische Verfolgung tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -; OVG NRW, Beschluss vom 5. K. 2016 ‑ 11 A 324/14.A -, beide zitiert nach juris.
31Damit gilt der gleiche Prognosemaßstab wie bei Art. 16a GG. Anders als im nationalen Asylrecht ist er allerdings auch bei Vorverfolgung heranzuziehen. Anknüpfend an Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU) wird der Vorverfolgte durch eine Beweiserleichterung privilegiert, dergestalt, dass für diesen die tatsächliche Vermutung streitet, dass er bei Rückkehr ebenfalls Verfolgung erleidet. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -; Urteil vom 27. B2. 2010 – 10 C 5/09 –; OVG NRW, Urteil vom 17. B. 2010 – 8 A 4063/06.A –, alle juris.
33Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung Verfolgung droht bzw. bereits stattgefunden hat. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen.
34Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. P. 1989 – 9 B 405/89 –; Beschluss vom 19. P. 2001 ‑ 1 B 24/01 -, beide juris.
35Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit und nicht nur der Wahrscheinlichkeit des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Gericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann.
36Vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239/89 –, juris.
37Diese Anforderungen zugrunde gelegt, ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft weder aus individuellen Verfolgungsgründen zuzuerkennen, noch kommt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund einer Gruppenverfolgung in Betracht.
381. Ein individuelles Verfolgungsschicksal kann das Gericht aufgrund des Vorbringens des Klägers nicht feststellen. Seine Eltern als gesetzliche Vertreter haben insofern in der Anhörung beim Bundesamt wenig substantiiert die Flucht vor dem heranrückenden IS am 0. B. 2014 geschildert. Sie wollen aber nur durch einen Anruf vor dem Vorrücken gewarnt worden sein und dann ihr Heimatdorf verlassen haben. An der Tatsache der Flucht als solcher hat das Gericht letztlich keine Zweifel.
392. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Hinblick auf eine Gruppenverfolgung der Religionsgemeinschaft der Jesiden (mehr) zu.
40Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann sich politische Verfolgung auch gegen Gruppen von Menschen richten, die durch gemeinsame Merkmale wie etwa Rasse, Religion oder politische Überzeugung verbunden sind. Die Annahme einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt voraus, dass Gruppenmitglieder Rechtsgutsbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden.
41Vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 – 1 BvR 147/80 -; Beschluss vom 23. K. 1991– 2 BvR 902/85 u.a. -; BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 -; Urteil vom 21. B2. 2009– 10 C 11/08 -, alle veröffentlicht in juris.
42Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - außerdem eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin wegen eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist auf Grund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann.
43Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 -; Urteil vom 21. B2. 2009 – 10 C 11/08 -, jeweils juris m.w.N.
44Diese ursprünglich für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 -; Urteil vom 21. B2. 2009 – 10 C 11/08 -, jeweils juris.
46Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht das erkennende Gericht davon aus, dass Angehörige der jesidischen Glaubensgemeinschaft aus der Region T2. (kurdisch: T3. ), Provinz O1. , im Sommer 2014 einer Gruppenverfolgung durch den IS ausgesetzt waren bzw. aus begründeter Furcht vor einer drohenden Gruppenverfolgung ihre Heimatregion verlassen mussten.
47Vgl. dazu im Einzelnen: erkennendes Gericht, Urteil vom 25. P. 2017 – 20 K 1742/17.A -, juris.
48Zu dieser Personengruppe gehört auch der Kläger, der der jesidischen Glaubensgemeinschaft angehört und nach den vorliegenden Informationen einschließlich seiner Angaben aus der Stadt T2. selbst stammen soll.
49Die durch die Gruppenverfolgung (oder individuelle Verfolgung, wenn man solche annehmen wollte) als Jesiden begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU), dass er auch im Falle seiner Rückkehr mit einer Verfolgung rechnen müsste, ist im gegebenen Falle widerlegt, da sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert haben. Von einer den Jesiden drohenden Gruppenverfolgung durch den IS kann im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aufgrund dieser geänderten Machtverhältnisse nicht mehr ausgegangen werden,
50vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 30. Juli 2019 – 9 LB 133/19 –, juris; a.A: VG E1. , Urteil vom 25. P. 2019 – 13 K 14360/17.A -, Urteil vom 6. O. 2019 - 16 K 1235/18.A -.
51Gegenwärtig spricht auch nichts für eine erneute Verfolgung der jesidischen Bevölkerung durch den IS in der Provinz O1. .
52Ebenso OVG Lüneburg, Urteil vom 30. Juli 2019 – 9 LB 133/19 –, juris; VG Köln, Urteil vom 16. T1. 2019 – 18 K 1311/19.A –, juris; VG Münster, Urteil vom 26. B2. 2018 – 6a K 4203/16.A –, juris, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung.
53Im O. 2015 gelang es den kurdischen Peschmerga, jesidischen Kämpfern, Einheiten der PKK und weiteren Kampftruppen, in einer Großoffensive mit Hilfe von Luftangriffen der internationalen Koalition unter Führung der USA die Stadt T2. und das T2. -Gebirge zurückzuerobern.
54Wikipedia.de: Sindschar; Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 2017 (Hrsg.): Oehring, Christen und Jesiden im Irak: Aktuelle Lage und Perspektiven, Seite 49; Zeit vom 13. O. 2015: Kurden erobern Sindschar von IS zurück.
55In der Folgezeit wurde der IS immer weiter zurückgedrängt. Nachdem im P. 2016 die Kampagne zur Rückeroberung von N6. begonnen hatte, wurde N6. im Juli 2017 befreit; Anfang P. 2017 wurde die Stadt I2. befreit; zuletzt wurde nur noch ein Gebiet an der Grenze zu Syrien vom IS kontrolliert. Inzwischen ist der IS vollständig aus dem Irak zurückgedrängt.
56Vgl. Wikipedia.de: Schlacht um N6. ; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2. N3. 2020 (Stand: N3. 2020), S. 16 ff.; Tagesschau.de vom 10. Juli 2017: Irak meldet Rückeroberung Mosuls; Tagesschau.de vom 5. P. 2017: I2. vom IS befreit; Tagesschau.de vom 17. O. 2017: Armee befreit letzte IS-Hochburg.
57Auf der Grundlage dieser eindeutigen und allgemein zugänglichen Informationen ist festzustellen, dass der IS zu einer Fortführung seiner systematischen Gruppenverfolgung in den Siedlungsgebieten der Jesiden in O1. im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr in der Lage ist. Seit dem militärischen Sieg über den IS wandelt sich die Organisation zwar zunehmend zu einer aus dem Untergrund operierenden Terrorgruppe, die sich auf Selbstmordanschläge und Guerilla-Taktik konzentriert.
58Vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 30. Juli 2019 – 9 LB 133/19 –, juris; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, vom 2. N3. 2020 (Stand: N3. 2020), S. 16 ff.
59Die Erkenntnisse über die gegenwärtige Stärke des IS rechtfertigen aber nicht die Annahme, dass er derzeit oder in absehbarer Zukunft in der Lage sein wird, erneut ein Gebiet im Irak zu besetzen. Es fehlt also an einer erforderlichen Gebietshoheit, um die Minderheit der Jesiden aus religiösen Gründen weiterhin systematisch zu verfolgen.
60So bereits erkennendes Gericht, Urteil vom 9. P. 2019 – 20 K 18629/ 17.A –.
61Infolgedessen sind mittlerweile tausende jesidische Familien in ihre angestammten Wohnorte zurückgekehrt,
62vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 30. Juli 2019 – 9 LB 133/19 –, juris m.w.N.
63Der Einzelfall des Klägers gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Bewertung.
64In Bezug auf die in der Vergangenheit liegende Gruppenverfolgung durch den IS ist hier ebenfalls – und gesondert entscheidungstragend – der Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung im B. 2014 und Flucht nicht gegeben, weil erst etwa drei Jahre später im P. 2017 die Ausreise des Klägers erfolgte, nachdem er sich bis zu diesem Zeitpunkt in einem Flüchtlingslager im Gouvernement E2. aufgehalten hatte, überwiegend gemeinsam mit seinen Eltern.
65Für eine zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung drohende Gruppenverfolgung der Jesiden in der Provinz O1. durch die sunnitisch geprägte kurdische Bevölkerung oder durch den irakischen Zentralstaat spricht nach der derzeitigen Erkenntnislage der Kammer ebenfalls nichts.
66So auch OVG Lüneburg, Urteil vom 30. Juli 2019 – 9 LB 133/19 –, juris.
67II. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als abgeleitetes Recht gemäß § 26 Abs. 3 S. 1, S. 2, Abs. 5 Asylgesetz im Hinblick auf seinen Bruder N2. . Mit diesem Bruder setzt sich das Bundesamt im angegriffenen Bescheid zu § 26 AsylG nicht auseinander; dort wird Familienschutz in Bezug auf die Eltern abgelehnt, weil diese überhaupt keinen Antrag gestellt haben, sowie in Bezug auf die Schwester des Antragstellers wegen deren schon zum Zeitpunkt des Antrages des Klägers bestehender Volljährigkeit.
68Gemäß § 26 Abs. 5 Asylgesetz sind auf Familienangehörige von international Schutzberechtigten – also auch in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft – die Vorschriften über den abgeleiteten Schutz in Abs. 1 bis Abs. 4 der Vorschrift entsprechend anzuwenden. Nach dem hier einschlägigen Abs. 3 S. 2 kann ein zum Zeitpunkt seiner Antragstellung minderjähriges lediges Geschwisterteil von einem minderjährigen ledigen Asylberechtigten (hier entsprechend: als Flüchtling Anerkannten) die Flüchtlingseigenschaft unter den Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG ableiten. Danach ist – entsprechend gelesen – erforderlich, dass 1. die Anerkennung des minderjährigen ledigen Geschwisterteil als Flüchtling (des sog. Stammberechtigten) unanfechtbar ist, 2. die Familie schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Stammberechtigte politisch verfolgt wird, 3. das den abgeleiteten Schutz erstrebende Geschwisterteil vor der Anerkennung des Stammberechtigten eingereist ist oder den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat, 4. und die Anerkennung des Stammberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
69Diese Voraussetzungen liegen sämtlich vor.
70Der Bruder des Klägers N2. N. I. L. ist mit Bescheid des Bundesamtes vom 00. K. 2017 (Az. 0000000-0-438) unanfechtbar und damit rechtskräftig als Flüchtling anerkannt. Der Kläger ist minderjährig und ledig und erstrebt abgeleiteten Schutz von seinem Bruder als ledigem Geschwisterteil des Klägers. Da der maßgebliche Zeitpunkt für den Anspruch des Klägers gemäß § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG der „Zeitpunkt seiner Antragstellung“ ist, ist neben der auch zum Entscheidungszeitpunkt jetzt (§ 77 Abs. 1 AsylG) fortbestehenden Minderjährigkeit des Klägers selbst für die Minderjährigkeit des Bruders und somit für dessen Lebensalter auf den Zeitpunkt des Asylantrages des Klägers abzustellen, da ansonsten der nachfolgende Zeitablauf und das vom Asylbewerber nicht zu beeinflussende Verfahren sowie dessen Dauer zulasten des Minderjährigenschutzes ginge. Da der Bruder N2. am 0. N3. 2001 geboren ist, war er zum Zeitpunkt des Antrages des Klägers am 00. B2. 2018 (und auch zum Zeitpunkt des angegriffenen Bescheides am 0. P. 2018) minderjährig, da er das 18. Lebensjahr erst am 0. N3. 2019 vollendete. Die Familiengemeinschaft zwischen dem Kläger und seinem Bruder N2. bestand nach den vorliegenden Informationen bis zur Ausreise des Bruders schon im Irak; aktuell im Bundesgebiet wohnen sie nach den Angaben des Klägers in der informatorischen Anhörung bis heute zusammen; dass dies im Antragszeitpunkt anders gewesen wäre, ist nicht ersichtlich.
71Die Entscheidung zu Gunsten des Bruders des Klägers ist auch nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen. Maßgeblich ist insoweit, ob der Leiter des Bundesamtes ein Widerrufsverfahren gegen den Stammberechtigten eingeleitet und ihn hierzu angehört hat. Ist dies, nicht der Fall, sind die Verwaltungsgerichte im Familienasylverfahren nach § 26 AsylG weder verpflichtet noch berechtigt, Gründe für den Widerruf der Anerkennung des Stammberechtigten nach § 73 Abs. 1 AsylG zu prüfen,
72vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 9. Mai 2006 – 1 C 8/05 –, NVwZ 2006, Seite 1180 f.; Günther in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, § 26 AsylG, Rn. 13.
73Das Gericht hat keine Kenntnis von einem solchen Widerrufsverfahren und auch das hier intensiv mit der Sache befasste Bundesamt hat hierzu nichts vorgetragen, was andernfalls nahegelegen hätte. Es ist daher im Verfahren des Klägers nicht zu prüfen, ob die Gründe, die das Bundesamt seinerzeit veranlasst haben, dem Bruder des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, heute noch tragen.
74Der Kläger, der nach seinem Bruder N2. als Stammberechtigtem in das Bundesgebiet eingereist ist, hat seinen Asylantrag auch unverzüglich im Sinne von § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 AsylG gestellt.
75Unverzüglich bedeutet entsprechend der Legaldefinition in § 121 BGB ohne schuldhaftes Zögern. Der Antrag muss danach zwar nicht sofort, aber - unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände des Ausländers oder bei Minderjährigkeit seiner Eltern - alsbald gestellt werden. Dabei ist einerseits dem Ausländer oder seinen Eltern eine angemessene Überlegungsfrist zuzubilligen, andererseits aber auch das von § 26 Abs. 1 Nr. 3 AsylG als Ordnungsvorschrift verfolgte öffentliche Interesse, möglichst rasch Rechtsklarheit zu schaffen, zur Geltung zu bringen. Im Hinblick auf die im gesamten Asylverfahrensrecht verkürzten Fristen (vgl. § 74 Abs. 1 AsylG, damals noch § 78 Abs. 4 AsylVfG a.F.) hält das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in seiner vor über 20 Jahren begründeten Rechtsprechung eine Frist von zwei Wochen in der Regel für angemessen und ausreichend. Ein späterer Antrag ist folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte.
76Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1997 – 9 C 35/96 –, juris Rn. 10 (im dortigen Fall nicht unverzüglich bei einem Asylantrag für ein im Bundesgebiet geborenes Kind mehr als elf Monate nach der Geburt).
77Dies soll insbesondere dem lebensnahen Bedürfnis entsprechen, es dem Einreisenden Asylbewerber zunächst zu ermöglichen, Kontakt zu den stammberechtigten Angehörigen in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen, zunächst die Familieneinheit wieder herbeizuführen und gegebenenfalls von dort auch Unterstützung im Umgang mit den Behörden zu erlangen.
78Vgl. Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 26 Rn. 12.
79Diese Regelfrist von zwei Wochen wird von der Instanzrechtsprechung der Verwaltungsgerichte überwiegend angewendet, jedoch stets auf die besonderen Umstände des Einzelfalls abgestellt und teilweise auch ein gegenüber dem Bundesamt geäußertes Asylgesuch, welches noch nicht zu einer förmlichen Antragstellung im Sinne von § 14 AsylG ausreichte bzw. führte, als fristwahrend angenommen.
80Vgl. z. B. Urteil des erkennenden Gerichts vom 7. T1. 2018 – 20 K 9930/17.A –, soweit ersichtlich n.v.; VG Berlin, Urteil vom 4. Juli 2019 – 19 K 233.17 A –, juris Rn. 50 (Asylgesuch reicht); VG E1. , Urteil vom 13. N3. 2019 – 17 K 7515/18.A –, juris Rn. 124 ff. (2 Jahre nicht unverzüglich); VG Augsburg, Urteil vom 15. P. 2018 – Au 4 K 18.30820 –, juris Rn. 16 (über ein Jahr nicht unverzüglich); VG Aachen, Urteil vom 31. Juli 2017 – 9 K 2135/16.A –, juris Rn. 17 ff. (Asylgesuch reicht).
81Veröffentlichte Entscheidungen, die einen unverzüglichen Asylantrag verneinen, wenn dieser lediglich einen oder drei Werktage nach Ablauf von 14 Tagen gestellt wird, sind nicht ersichtlich.
82Jedenfalls sind die Umstände des Einzelfalls eingehend zu würdigen und eventuell ersichtliche Bemühungen der Betroffenen um Kontaktaufnahme mit den Stellen des Bundesamtes oder eventuell anderer Behörden, insbesondere der Ausländerbehörden, in die Betrachtung für die Feststellung eines vom Regelfall abweichenden Ablaufs einzubeziehen. Es verbietet sich dabei, den vom Bundesverwaltungsgericht als Anhalt für die Auslegung und rechtspraktische Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs „unverzüglich“ benannten Zeitraum von „regelmäßig zwei Wochen“ wie eine gesetzliche Frist von zwei Wochen oder 14 Tagen anzuwenden, wie es das Bundesamt in diesem Verfahren in seinem am 00. G. 2020 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vermeint, und bei jeder Überschreitung eine schuldhafte Verzögerung zu sehen, wenn keine besonderen Umstände vorliegen. Dies wendet die Aussage des Bundesverwaltungsgerichts zur regelmäßigen Frist von zwei Wochen zu streng an.
83Im Fall des Klägers ist nach diesen Maßstäben von einer unverzüglichen Antragstellung auszugehen.
84Dies gilt unabhängig von seinem Vorbringen und seinen Angaben in der informatorischen Anhörung sowie den Angaben seines Vaters als Zeugen zu einem vorgebrachten Asylgesuch (oder des Versuchs eines solchen) bei der Außenstelle des Bundesamtes in N4. , welche nach deren Angaben nach der benannten Einreise am 0. B2. 2018 am 0. oder 00. B2. 2018 stattgefunden haben soll. Diesem Vorbringen des Klägers sowie den Angaben des Vaters als Zeugen kann der Einzelrichter keinen nachvollziehbaren substantiierten Geschehensablauf entnehmen, aus dem sich mit ausreichender Bestimmtheit Umstände entnehmen ließen, die zur Überzeugung des Gerichts zu einem sinngemäß geäußerten Asylgesuch im Sinne von § 13 AsylG oder zu einem richtigerweise aufzunehmenden bzw. festzustellenden förmlichen Asylantrag gemäß § 14 AsylG führen würden. Die Aussagen sind zu vage, zu wenig substantiiert und auch in weiten Teilen widersprüchlich. Dies ist in Bezug auf die Erinnerung des Klägers selbst, der in jenem Zeitraum erst 13 Jahre alt und auch nach seiner Angabe überhaupt nicht bei allen relevanten Geschehnissen anwesend war, weder verwunderlich noch vorwerfbar. Auch die Aussagen seines Vaters als gesetzlicher Vertreter und Zeuge der damaligen Geschehnisse führen für den Einzelrichter nicht zu einem für das Bundesamt erkennbar geäußerten Asylgesuch, das dieses in mit dem Asylgesetz nicht vereinbarer Weise nicht zum Anlass der Dokumentation eines solchen bzw. der Aufnahme eines förmlichen Asylantrages veranlasst hätte. Auf dieses Vorbringen kommt es für die Entscheidung indes nach den folgenden Ausführungen nicht an. Auch weitere Amtsermittlung konnte insofern unterbleiben.
85Legt man als Zeitpunkt der Einreise des Klägers den im Ausländerzentralregister vermerkten Zeitpunkt am 00. B2. 2018 zugrunde (Beiakte 7, Bl. 42), wäre der letzte Tag einer 2-Wochen-Frist der 00. B2. 2018 (ein Dienstag) und der am nächsten Tag am 00. B2. 2018 (Mittwoch) eingegangene Asylantrag auch ohne besondere Umstände noch innerhalb von „regelmäßig zwei Wochen“ und damit unverzüglich. Auf eine Einreise am 00. B2. 2018 weist auch die Übersicht über Meldeverhältnisse des Klägers in der Ausländerakte („BIS-Personendetails“, Beiakte 7, Bl. 40) hin, wo für die Zeit bis zum 00. B2. 2018 „Irak“ aufgeführt ist und ab dem 00. B2. 2018 eine Meldeanschrift in E1. (nach dem damaligen Stand des Melderegisters wohl die Adresse seiner Eltern vor der am 00. B2. 2018 vorgenommenen Anmeldung der Wohnung F. -C. -T4. . 0 in E1. ).
86Angesichts dieser Umstände unterliegen die spezifisch den 0. B2. 2018 (einen Freitag) als Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet benennenden Angaben des Klägers und seiner gesetzlichen Vertreter zwar gewissen Zweifeln. Behördliche Aufzeichnungen oder sonstige Hinweise oder objektive Belege hierzu – abgesehen von dem oben Genannten – liegen dem Gericht nicht vor. In der Anhörung beim Bundesamt haben die gesetzlichen Vertreter des Klägers den 0. B2. 2018 als Tag seiner Einreise genannt. Vor Gericht haben der Kläger und sein Vater als Zeuge diesen Zeitpunkt erneut bestätigt, ohne sich jedoch an den Wochentag erinnern zu können. Da kein Grund für unwahre Angaben zu diesem Umstand erkennbar ist, spricht dies für dessen Richtigkeit. Dann wäre der Eingang des schriftlichen Asylantrages am 00. B2. 2018 als Zeitpunkt der Antragstellung (den auch das Bundesamt als Antragsdatum zugrunde legt, Beiakte 8 Bl. 7, vgl. § 14 Abs. 2 AsylG) in Bezug auf ein rechnerisches Ende einer 2-Wochen-Frist am Freitag, 00. B2. 2018, nach dem sich anschließenden Wochenende um drei Werktage später. Der Einzelrichter hält diesen Zeitpunkt der Antragstellung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls für unverzüglich.Als Abweichung vom Regelfall liegen vor: Der Kläger war als 13-jähriger Minderjähriger ohne jegliche Angehörige sondern nur in der Obhut bzw. Begleitung einer anderen jezidischen Familie im P. 2017 aus dem Irak ausgereist und hatte die weite Strecke bis in das Bundesgebiet über die Balkanroute bis Anfang bzw. Mitte B2. 2018 über einen Zeitraum von 5 bis 6 Monaten zurückgelegt. Nach diesen fraglos für einen derart jungen minderjährigen Iraker herausfordernden Erlebnissen erreichte er die Familienzusammenführung mit seinen Eltern (und wohl auch Geschwistern) in E1. in einer gemeinsamen Wohnung. Schon dies spricht aus Sicht des Einzelrichters für eine gewisse Verlängerung des Zeitraums der unverzüglichen Antragstellung wegen der Belastung des 13-jährigen Klägers. Für das auch innere Ankommen bei der Familie, ein Herunterkommen nach den Abenteuern der Reise und körperlich-mentale Erholung von deren Strapazen ist zusätzliche Zeit zuzugestehen. Zugleich standen seine Eltern als gesetzliche Vertreter nicht als mit Asylverfahren und deren Einzelheiten vertraute Berater bzw. Unterstützer zur Seite. Denn sie hatten bisher in den erst gut sechs Monaten seit ihrer eigenen Einreise Ende T1. 2017 keine eigenen Asylanträge gestellt und dementsprechend keine Asylverfahren geführt, weil sie sich mit Visa zur Familienzusammenführung nach Deutschland begeben hatten und zum Zeitpunkt der Einreise des Klägers über entsprechende Aufenthaltserlaubnisse verfügten. Sie hatten auch nicht für die älteren Geschwister des Klägers Asylanträge gestellt und die entsprechenden Verfahren geführt, weil deren Verfahren mit entsprechenden Schutzzuerkennungen vor der eigenen Einreise der Eltern lagen, und diese erst ermöglicht hatten. Insbesondere die Art und Weise der Aussage seines Vaters als Zeuge vor Gericht verdeutlicht dessen mangelnde Kenntnisse über das Asylverfahren im Einzelnen, die einzelnen Behörden und deren Struktur sowie Aufgaben und andere erhebliche Umstände. Es lässt auch einen vergleichsweise geringen Bildungsgrad erkennen. Weiter waren die Eltern und Geschwister des Klägers anscheinend gerade in eine neue Wohnung unter der Anschrift F. -C. -T4. . 0 in E1. eingezogen, den sie mit der erforderlichen Anzeige bei der Meldebehörde der Stadt E1. anscheinend erst am 00. B2. 2018 zu einem formellen Abschluss brachten.Auch diese Umstände streiten für einen längeren dem Kläger zuzugestehenden Zeitraum bis zur Stellung seines Asylantrages. Dieser erfolgte mit Eingang beim Bundesamt am 00. B2. 2018 mithin unverzüglich, wobei durch die beigefügten Unterlagen ersichtlich ist, dass er am Montag, 00. B2. 2018, oder am 00. B2. 2018 zur Post gegeben wurde. Denn dem Antrag ist die Meldebestätigung der Eltern des Klägers vom 00. B2. 2018 zur neuen Adresse F. -C. -T4. . 0 in E1. beigefügt, neben Kopien der Aufenthaltstitel der Eltern, welche diese neue Anschrift mit einem gesiegelten Aufkleber aufweisen. Dies ist nur möglich, wenn die Eltern die neue Wohnung am Montag, 00. B2. 2018 angemeldet haben, und sich umgehend zur Ausländerbehörde begaben, um dort die Adressänderung auch auf den Aufenthaltstiteln behördlich vornehmen zu lassen. Damit diese Unterlagen mit dem schriftlichen Asylantrag des Klägers am 00. B2. 2018 beim Bundesamt auf dem Postweg eingehen konnten, mussten diese am selben Tag oder jedenfalls am Dienstag, 00. B2. 2018 zur Post gegeben werden. Dieses Handeln der gesetzlichen Vertreter des Klägers, welches dem damals 13-jährigen Kläger zuzurechnen ist – einen bzw. zwei Werktage nach dem rechnerischen Ablauf der 2-Wochen-Frist –, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der zuvor dargestellten Maßstäbe ohne schuldhaftes Zögern und führt zu dem danach unverzüglichen Antrag am 00. B2. 2018.
87Vgl. ähnlich zu einem mehr als 3 Wochen nach der Einreise beim Bundesamt eingegangenen schriftlichen Asylantrag, welcher als unverzüglich angesehen wurde: VG Schwerin, Urteil vom 14. K. 2019 – 3 A 2151/18 SN –, juris Rn. 37.
88III. Ist die Ablehnung der Zuerkennung von Flüchtlingsschutz wegen eines festgestellten Anspruchs auf die Flüchtlingseigenschaft und einer entsprechenden Verpflichtung der Beklagten aufzuheben, ist auch die Ablehnung der Zuerkennung des subsidiären Schutzes entweder von Rechts wegen erledigt oder als rechtswidrig aufzuheben. Deshalb ist auch Ziff. 3 des Bescheides – zumindest klarstellend – aufgehoben. Über den Hilfsantrag ist nach Stattgabe zum Hauptantrag nicht mehr zu entscheiden.
89Zugleich bleibt zugunsten des Klägers die Feststellung eines Abschiebungsverbots durch das Bundesamt bestehen, weshalb er nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu rechnen hat – ungeachtet dessen, dass nach der ausländerrechtlichen Erlasslage im Land Nordrhein-Westfalen derzeit regelmäßig nicht in den Irak abgeschoben wird.
90IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
91Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 709 Satz 2, § 711 ZPO. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz.
92Rechtsmittelbelehrung:
93Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung beantragt werden. Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster.
94Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
951. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
962. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
973. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
98Der Antrag ist schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
99Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
100In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
101Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –).
102Die Antragsschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte bzw. die Beigeladene vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.
1T a t b e s t a n d
2Die Klägerin begehrt die Aufhebung eines Kostenbescheids, mit der die Beklagte ihr die Kosten für einen auf einen Fehlalarm zurückzuführenden Feuerwehreinsatz auferlegt hat.
3Die Klägerin ist Inhaberin eines Sicherheitsdiensts mit Sitz in M. . Der während des gerichtlichen Verfahrens verstorbene Ehemann der Beigeladenen, Herr I. L. , betrieb unter der Adresse T.---straße 00, 00000 B. eine Rechtsanwalts- und Notariatskanzlei. In den Kanzleiräumlichkeiten war eine Brandmeldeanlage installiert, die zu dem von der Klägerin betriebenen Sicherheitsdienst aufgeschaltet war.
4Am 0.00.0000 gegen kurz vor 14 Uhr löste die in den Kanzleiräumlichkeiten installierte Brandmeldeanlage einen Feueralarm aus, der an den Sicherheitsdienst der Klägerin weitergeleitet wurde. Herr L. befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht in den Büroräumlichkeiten. Nach Eingang des Brandalarms versuchte der Geschäftsführer der Klägerin, Herrn L. telefonisch auf dessen Mobiltelefon zu erreichen. Nachdem er Herrn L. nicht erreichen konnte, alarmierte er die Feuerwehr. Nach etwa zehn Minuten rief der Geschäftsführer Herrn L. erneut an und erreichte ihn nunmehr. Herr L. begab sich daraufhin direkt zu seinen Büroräumlichkeiten und traf dort etwa zwei Minuten später ein. Die Feuerwehr war zu diesem Zeitpunkt bereits eingetroffen. Vor Ort stellte sich heraus, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt hatte und in Wirklichkeit keine Gefahr vorlag. Der Grund für die Auslösung des Fehlalarms ließ sich nicht feststellen. Insbesondere ließ sich nicht klären, ob Parkettschleifarbeiten, die am 0.00.0000 – ebenso wie an den vorhergehenden Tagen – in den Kanzleiräumlichkeiten durchgeführt wurden, für die Auslösung des Fehlalarms ursächlich waren.
5Mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 teilte die Beklagte der Beigeladenen als Eigentümerin der Büroräumlichkeiten mit, dass sie beabsichtige, ihr die Kosten des Feuerwehreinsatzes in Höhe von 416,50 Euro gemäß § 52 Abs. 2 Nr. 7 BHKG aufzuerlegen, da der Einsatz Folge einer nicht bestimmungsgemäßen Auslösung der Brandmeldeanlage gewesen sei.
6Mit Schreiben vom 12. Dezember 2017 führte Herr L. für die Beigeladene aus, dass der Beigeladenen die Kosten für den Feuerwehreinsatz nicht auferlegt werden könnten. Die Auslösung des Fehlalarms sei der Beigeladenen nicht zuzuschreiben. Die Ursache des Fehlalarms habe sich nicht herausfinden lassen. Da der Sicherheitsdienst ihn – Herrn L. – mit unterdrückter Nummer angerufen habe, habe er sich nicht umgehend zurückmelden können.
7Mit Schreiben vom 8. Januar 2018 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie beabsichtige, ihr die Kosten des Feuerwehreinsatzes gemäß § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG aufzuerlegen, da die Mitarbeiter der Klägerin die Brandmeldung ohne die für den Einsatz der Feuerwehr erforderliche Prüfung weitergeleitet hätten.
8Mit Schreiben vom 12. Januar 2018 wies die Klägerin darauf hin, dass sie im Rahmen ihres Interventionsauftrags gegenüber Herrn L. verpflichtet gewesen sei, im Falle einer Feuermeldung die Feuerwehr zu informieren. Die Verständigung der Feuerwehr sei gemäß der in Absprache mit dem Kunden festgelegten Maßnahmen erfolgt.
9Mit Schreiben vom 18. Januar 2018 führte Herr L. aus, die Klägerin sei im Rahmen ihrer Beauftragung – entgegen ihrer eigenen Darstellung – nicht verpflichtet gewesen, die Feuerwehr zu informieren. Aus der Auftragsbestätigung vom 31. Oktober 2011 ergebe sich, dass die Aufschaltung auf die NOT-SERVICE Leitstelle zunächst mit drei Meldelinien für „Einbruch“, „Störung“ und „scharf/unscharf“ erfolgt sei. Das Vertragsverhältnis sei dann mit Wirkung zum 31. Oktober 2017 gekündigt und mit Wirkung zum 1. November 2017 mit vier Meldelinien neu begründet worden. Die Meldelinie „Brand“ sei erst zu diesem Zeitpunkt – und damit nach dem Fehlalarm am 0.00.0000 – hinzugekommen.
10Mit dem angefochtenen Kostenbescheid vom 2. Februar 2018 setzte die Beklagte die Kosten des Feuerwehreinsatzes in Höhe von 416,50 Euro gegenüber der Klägerin fest. Zur Begründung verwies sie auf die Vorschrift des § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 8 der Satzung über die Erhebung von Kostenersatz und Entgelten in der Gemeinde B. bei Einsätzen der Feuerwehr vom 10. August 2017 (im Folgenden: Feuerwehrsatzung - FS). Ergänzend führte sie aus, dass die Alarmierung der Feuerwehr offenbar nicht im Rahmen der Beauftragung durch Herrn L. erfolgt sei, da die Meldelinie „Brand“ nach den Ausführungen von Herrn L. erst ab dem 1. November 2017 in den Vertrag aufgenommen worden sei.
11Die Klägerin hat am 28. Februar 2018 Klage erhoben.
12Zur Begründung wiederholt sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und trägt ergänzend im Wesentlichen vor: § 2 Abs. 2 Nr. 8 der Satzung über die Erhebung von Kostenersatz und Entgelten in der Gemeinde B. bei Einsätzen der Feuerwehr vom 10. August 2017 sei rechtswidrig. Einem Sicherheitsdienst sei es nicht zuzumuten, bei einer Brandmeldung zunächst vor Ort zu überprüfen, ob tatsächlich ein Brand vorliege oder ob es sich um einen Fehlalarm handele. Im Brandfall sei immer und ausnahmslos höchste Eile geboten und die Alarmierung der örtlichen Feuerwehr zwingend erforderlich. Zudem habe der Geschäftsführer nicht nur auf der Handynummer des Beigeladenen, sondern auch unter der Festnetznummer der Kanzlei, unter der er ebenfalls niemanden erreicht habe, angerufen. Da sich in der unmittelbaren Umgebung der Kanzlei Wohnräumlichkeiten befunden hätten, sei ein umgehendes Handeln erforderlich gewesen. Darüber hinaus ergebe sich aus dem von der Klägerin und Herrn L. einvernehmlich am 1. April 2011 aufgestellten Meldeplan, dass im Alarmfall „Feuer“ die Feuerwehr und die Polizei zu informieren seien. Die Darstellung von Herrn L. , der zufolge die Meldelinie „Brand“ erst mit Wirkung zum 1. November 2017 hinzugekommen sei, sei unzutreffend. Darüber hinaus hätte die Beklagte im Rahmen der Interessenabwägung und des Störerauswahlermessens berücksichtigen müssen, dass im Falle einer Brandmeldung eine Haftung des Sicherheitsdiensts nur dann in Betracht kommen könne, wenn eine Haftung des Eigentümers aus tatsächlichen Gründen nicht möglich oder die Brandmeldung des Sicherheitsdiensts mutwillig bzw. zumindest grob fahrlässig gewesen sei. Anderenfalls müsse der Sicherheitsdienst jegliche Dienstleistung hinsichtlich einer Alarmmeldung ablehnen, da er entweder jede Alarmmeldung zeitaufwendig prüfen müsste oder für jede Fehlmeldung haften würde.
13Die Klägerin beantragt,
14den Kostenbescheid der Beklagten vom 2. Februar 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr die gezahlten Kosten in Höhe von 416,50 Euro zu erstatten,
15die Beklagte zu verurteilen, ihr die für die außergerichtliche Interessenvertretung angefallenen Kosten in Höhe von 83,54 Euro zu erstatten.
16Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
17die Klage abzuweisen.
18Zur Begründung wiederholt sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und trägt ergänzend vor: § 2 Abs. 2 Nr. 8 der Feuerwehrsatzung sei rechtmäßig. Die Klägerin hätte sich vor der Alarmierung der Feuerwehr vergewissern müssen, ob überhaupt ein Brandfall gegeben sei. Die technischen Möglichkeiten hierfür seien grundsätzlich auch gegeben. Für die Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids sei es zudem auch unerheblich, welche Pflichten die Klägerin nach dem Meldeplan gegenüber Herrn L. gehabt habe.
19Durch Beschluss vom 6. März 2018 hat das Gericht Herrn L. gemäß § 65 Abs. 1 VwGO zu dem Rechtsstreit beigeladen. Nachdem Herr L. am 1. Mai 2020 verstorben ist, hat das Gericht die Ehefrau von Herrn L. als dessen Alleinerbin durch Beschluss vom 29. September 2020 vorsorglich gemäß § 65 Abs. 1 VwGO erneut beigeladen.
20Die Beigeladene beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
21die Klage abzuweisen.
22Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den Vortrag ihres Ehemanns. Dieser hat im Wesentlichen vorgetragen: Die Klägerin habe am 0.00.0000 keinen Auftrag gehabt, die Feuerwehr zu informieren. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte sich die Klägerin zuvor vergewissern müssen, ob überhaupt ein Brand vorliege. Die Klägerin habe die Brandmeldung demgegenüber ungeprüft weitergeleitet. Zudem sei sie für einen Rückruf nicht erreichbar gewesen. Darüber hinaus hätte die Klägerin nicht nur unter der Mobilfunknummer, sondern auch unter weiteren Nummern, die auf der Auftragsbestätigung vom 2. November 2017 genannt seien, anrufen müssen. Die Klägerin hätte zudem auch in der Kanzlei anrufen können.
23Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs ergänzend Bezug genommen.
24E n t s c h e i d u n g s g r ü n de
25A. Das Gericht konnte in der Sache mündlich verhandeln und entscheiden, obwohl für die Beklagte und die Beigeladene im Termin zur mündlichen Verhandlung niemand erschienen ist, da bei der ordnungsgemäßen Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
26B. Die Klage hat keinen Erfolg.
27I. Soweit die Klägerin beantragt, den Kostenbescheid der Beklagten vom 2. Februar 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr die gezahlten Kosten in Höhe von 416,50 Euro zu erstatten, ist die zulässige Klage unbegründet.
281. Der auf die Aufhebung des Kostenbescheids vom 2. Februar 2018 gerichtete Antrag ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 2. Februar 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
29Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des Kostenbescheids ist § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8, Abs. 4 Satz 1 HS 1 BHKG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 8 FS. Gemäß § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG können die Gemeinden von einem Sicherheitsdienst Ersatz der ihnen durch Einsätze entstandenen Kosten verlangen, wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts eine Brandmeldung ohne eine für den Einsatz der Feuerwehr erforderliche Prüfung weitergeleitet hat. § 52 Abs. 4 Satz 1 HS 1 BKHG sieht vor, dass der Kostenersatz durch Satzung zu regeln ist. § 2 Abs. 2 Nr. 8 FS überträgt die Regelung des § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG in die Feuerwehrsatzung und regelt, dass von einem Sicherheitsdienst Ersatz der für einen Feuerwehreinsatz entstandenen Kosten verlangt wird, wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts eine Brandmeldung ohne eine für den Einsatz der Feuerwehr erforderliche Prüfung weitergeleitet hat.
30§ 2 Abs. 2 Nr. 8 der Feuerwehrsatzung ist rechtmäßig. Diese Vorschrift beruht auf den Regelungen des § 52 BHKG und ist inhaltlich nicht zu beanstanden.
31Vgl. in diesem Zusammenhang auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11. September 2000 - 12 A 10497/00 -, juris, Rn. 14 sowie VG Düsseldorf, Urteil vom 25. September 2020 - 26 K 7645/19 -, juris, Rn. 21 ff.
32Dass die Vorschrift des § 52 BHKG ihrerseits verfassungswidrig ist, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
33Die Voraussetzungen von § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8, Abs. 4 Satz 1 HS 1 BHKG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 8 FS liegen vor:
34Der Geschäftsführer der Klägerin hat am 0.00.0000 die von der in den Kanzleiräumen installierten Brandmeldeanlage abgegebene Brandmeldung – bei der es sich, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, um einen Fehlalarm gehandelt hat – an die Feuerwehr weitergeleitet, ohne zuvor eine für den Einsatz der Feuerwehr erforderliche Prüfung i.S.v. § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG vorzunehmen.
35Die Vornahme einer für den Einsatz der Feuerwehr erforderlichen Prüfung i.S.v. § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG erfordert, dass der Sicherheitsdienst diejenigen Maßnahmen einleitet, die im Einzelfall zur zuverlässigen Klärung der Frage, ob tatsächlich ein Brandfall vorliegt, bei verständiger Würdigung erforderlich sind (sog. Alarmvorprüfung bzw. Alarmverifikation). Für eine derartige Alarmvorprüfung bzw. Alarmverifikation durch einen Sicherheitsdienst bestehen grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten. So kann die Vorprüfung durch den Sicherheitsdienst etwa erfolgen, indem Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts die Gefährdungssituation unverzüglich per Funkstreife vor Ort überprüfen oder mittels sonstiger technischer Hilfsmittel (z.B. Kameratechnik) die tatsächliche Gefährdungslage aus der Distanz untersuchen. Auch eine telefonische Alarmverifikation durch einen Anruf bei einer hinterlegten Telefonnummer mag im Einzelfall ein geeignetes Mittel zur Untersuchung der Gefährdungslage darstellen. Eine eindeutige Verifikation mittels Telefonanruf ist jedoch allenfalls dann möglich, wenn der gewünschte Gesprächsteilnehmer erreicht wird und sachkundige Angaben zur gegenwärtigen Gefährdungssituation vor Ort abgeben kann.
36Für ein derartiges Verständnis der Norm des § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG spricht, dass Sicherheitsdienste grundsätzlich über die technische Ausstattung verfügen, die für eine schnelle und zuverlässige Alarmverifikation im beschriebenen Sinne erforderlich sind. Zur Vermeidung objektiv überflüssiger Feuerwehreinsätze infolge von Fehlalarmen obliegt es nach der gesetzgeberischen Konzeption dem Sicherheitsdienst, diese technischen Möglichkeiten der Verifikation vor der Alarmierung der Feuerwehr – unter Berücksichtigung der im Falle eines echten Brandfalls bestehenden Eilbedürftigkeit – effektiv zum Einsatz zu bringen. Das von der Klägerin zugrunde gelegte Verständnis der Vorschrift des § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG, wonach es zu einem Ausschluss der Kostentragungspflicht des Sicherheitsdiensts bereits ausreichen soll, wenn dessen Mitarbeiter erfolglos versucht haben, den Auftraggeber unter einer hinterlegten Telefonnummer zu erreichen, würde die Prüfungspflichten des Sicherheitsdiensts weitestgehend reduzieren und letztlich dazu führen, dass für die Anwendung der Vorschrift kaum ein Anwendungsbereich verbliebe. Dies kann nicht der Intention des Gesetzgebers, der sowohl im Gesetzestext („für den Einsatz der Feuerwehr erforderliche Prüfung“) als auch in der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 12/1993, Seite 66: „erforderliche Vorprüfung“) auf die Obliegenheit des Sicherheitsdiensts zur Vornahme einer Prüfung hinweist, entsprechen.
37Der Einwand der Klägerin, im Falle der Auslösung einer Brandmeldeanlage sei stets ein sofortiges und umgehendes Handeln erforderlich, um durch Feuer verursachte Schäden zu vermeiden, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar ist offenkundig, dass in einem (tatsächlichen) Brandfall grundsätzlich schnelles Handeln zur Schadensabwehr erforderlich ist. Der Gesetzgeber hat die konkret und ausschließlich auf die Auslösung von Brandmeldeanlagen bezogene Vorschrift des § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG jedoch in bewusster Kenntnis dieser Tatsache erlassen, um auf diese Weise einen Ausgleich zwischen dem einerseits bestehenden Erfordernis des schnellen Handelns im tatsächlichen Gefahrenfall und dem andererseits bestehenden Interesse an der Reduzierung objektiv überflüssiger Feuerwehreinsätze infolge von Fehlalarmen zu schaffen. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die von dem Sicherheitsdienst geforderte Vorprüfung regelmäßig beispielsweise unter Einsatz moderner Technik (z.B. Kameratechnik) bzw. durch sorgfältige Vorbereitung des Vorgehens im Alarmfall (z.B. Angabe mehrerer Telefonnummern unter Sicherstellung der Erreichbarkeit) grundsätzlich sehr schnell vorgenommen werden kann. Unabhängig davon steht es dem Nutzungsberechtigten der Brandmeldeanlage und dem von ihm beauftragten Sicherheitsdienst selbstverständlich frei, zivilrechtlich unter interner Regelung der Kostentragungspflicht zu vereinbaren, dass der Sicherheitsdienst im Fall eines Alarmeingangs ohne weitere Vorprüfung unmittelbar die Feuerwehr informieren soll.
38Gemessen an diesen Maßstäben hat der Geschäftsführer der Klägerin am 0.00.0000 vor der Alarmierung der Feuerwehr keine ausreichende Vorprüfung i.S.v. § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG vorgenommen. Der erfolglose Anruf auf der Mobilfunknummer von Herrn L. ist zu einer verlässlichen Alarmverifikation ungeeignet. Sofern der Geschäftsführer der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung (erstmalig) und entgegen der schiftsätzlich erfolgten Darstellung von Herrn L. (vgl. insofern Seite 2 des Schriftsatzes von Herrn L. vom 20. September 2018) darauf hingewiesen hat, dass er darüber hinaus auch erfolglos versucht habe, in den Kanzleiräumlichkeiten von Herrn L. anzurufen, so führt dies zu keinem anderen Ergebnis, da auch hierdurch keine verlässliche Alarmverifikation erfolgt ist. Eine solche wäre aber – erst recht vor dem Hintergrund, dass der Geschäftsführer der Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass ihm die Alarmmitteilung insbesondere aufgrund der Uhrzeit, zu der sie eingegangen sei, merkwürdig vorgekommen sei – erforderlich gewesen. Dass eine Alarmvorprüfung aus der Distanz (etwa mittels Kameratechnik) im vorliegenden Fall mangels vorheriger Installation bzw. Vereinbarung mit dem Auftraggeber nicht möglich gewesen ist, führt nicht zu einer Änderung der Kostenverteilung.
39Für die Beantwortung der öffentlich-rechtlichen Frage, ob eine Kostentragungspflicht der Klägerin gegenüber der Beklagten nach § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 HS 1 BHKG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 8 FS besteht, ist unerheblich, ob die Klägerin aufgrund des mit Herrn L. zivilrechtlich geschlossenen Vertrags berechtigt oder sogar verpflichtet war, im Falle einer Brandmeldung ohne weitere Vorprüfungen direkt die Feuerwehr zu alarmieren. Derartige zivilrechtliche Vereinbarungen haben keinen Einfluss auf die Frage, ob nach den Vorschriften des öffentlichen Rechts eine Erstattungspflicht gegenüber der Gemeinde nach § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 HS 1 BHKG besteht. Aus den gleichen Gründen ist auch unerheblich, ob die Meldelinie „Brand“ am 0.00.0000 zum vertraglich zwischen der Klägerin und Herrn L. vereinbarten Leistungsspektrum gehörte.
40Der Kostentragungspflicht durch die Klägerin steht auch nicht entgegen, dass der Grund für die Auslösung der Brandmeldeanlage nicht mehr zu ermitteln ist. § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BHKG, der die Kostentragungspflicht des Sicherheitsdiensts an ein eigenständiges Verschulden des Sicherheitsdiensts knüpft (vgl. LT-Drs. 12/1993, Seite 66), sieht eine Differenzierung nach dem Grund für die Auslösung des Fehlalarms nicht vor.
41Dass die geltend gemachten Gebühren der Höhe nach zu beanstanden sein könnten, ist von den Beteiligten weder vorgetragen noch ersichtlich.
42Rechtsfehler auf der Rechtsfolgenseite sind nicht ersichtlich. Umstände, aufgrund derer eine Heranziehung der Klägerin zur Kostentragung ausnahmsweise unverhältnismäßig wäre, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Ein Störerauswahlermessen steht der Beklagten entgegen der Ansicht der Klägerin nicht zu. Da die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Inanspruchnahme des Sicherheitsdiensts nach § 52 Abs. 2 Nr. 8 BHKG vorliegen, kommt eine alternative Inanspruchnahme des Eigentümers, Besitzers bzw. Nutzungsberechtigten der Brandmeldeanlage bereits aufgrund der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 52 Abs. 2 Nr. 7 BHKG („außer in den Fällen nach Nummer 8“) nicht in Betracht.
432. Der auf die Rückzahlung der gezahlten Kosten in Höhe von 416,50 Euro gerichtete Antrag ist ebenfalls unbegründet, da der Bescheid vom 2. Februar 2018 aus den vorstehenden Gründen rechtmäßig ist und ein Erstattungsanspruch daher nicht besteht.
44II. Soweit die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr die für die außergerichtliche Interessenvertretung angefallenen Kosten in Höhe von 83,54 Euro zu erstatten, ist die Klage unzulässig. Die Erhebung der Klage ist insofern unstatthaft, da diese Frage (im Falle eines Obsiegens der Klägerin) im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens gemäß §§ 162 Abs. 1, 164 VwGO zu klären ist.
45C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene (schriftsätzlich) einen Sachantrag gestellt und sich damit gemäß § 154 Abs. 3 VwGO einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als erstattungsfähig anzusehen. Da die Beigeladene zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, genügt insofern die schriftsätzliche Anbringung des Antrags.
46Vgl. zur Frage, inwiefern die schriftsätzliche Anbringung eines Sachantrags eines Beigeladenen bei dessen Fernbleiben im Rahmen der mündlichen Verhandlung im Rahmen der Kostenentscheidung zu berücksichtigen ist z.B. Wysk, in: Wysk, VwGO, 3. Auflage 2020, § 154 VwGO, Rn. 13.
47Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
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Tenor
Der Antrag der Antragstellerin,
den Beschluss des Gerichts vom 15.07.2020 über die Außervollzugsetzung des Bebauungsplans Nr. 100 „E.“ aufzuheben,
wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens; außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird auf 75.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Abänderungsantrag der Antragstellerin - Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens - hat keinen Erfolg.
2
Richtig ist der Ansatz der Antragstellerin, dass Entscheidungen nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht unabänderlich sind. Dies folgt zwar entgegen ihrer Auffassung nicht aus § 148 VwGO. Der Senat wendet aber mit der h.M. (BVerwG, Beschl. v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 -, BRS 83 Nr. 190 = juris Rn. 9; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz in Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 622 f.; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand d. Bearb.: Februar 2016, § 47 Rn. 186; Kerkmann/Huber, in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl. 2018, § 47 Rn. 195) die Grundsätze des § 80 Abs. 7 VwGO zur Abänderung einer im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes getroffenen Entscheidung entsprechend auf Beschlüsse nach § 47 Abs. 6 VwGO an. Danach besteht ein Anspruch auf erneute Entscheidung über einen (Normenkontroll-)Eilantrag nur, wenn ein Beteiligter dies unter Berufung auf veränderte oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände beantragt. Solche Umstände enthält das Vorbringen der Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 17. August 2020 nicht; vielmehr versucht die Antragstellerin, die tragenden Entscheidungsgründe des Senatsbeschlusses vom 15. Juli 2020 mit Vortrag in Frage zu stellen, der ihr auch schon vor Erlass dieser Entscheidung, als Reaktion auf das den Erwägungen des Gerichts im Wesentlichen entsprechende Vorbringen des Antragsgegners, möglich gewesen wäre.
3
Unberührt davon bleibt die Möglichkeit des Senats, auf der Grundlage des neuen Vortrags der Antragstellerin analog § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO von Amts wegen und ohne Bindung an Beschwerdefristen seine Entscheidung erneut auf den Prüfstand zu stellen. Sein diesbezügliches Ermessen übt der Senat allerdings dahingehend aus, dass er die Abänderung einer einmal getroffenen Normenkontrolleilentscheidung nur ausnahmsweise in Betracht zieht, etwa wenn der neue - nicht unverschuldet verspätete - Sachvortrag diese Entscheidung entweder als evident unrichtig erscheinen lässt oder schlechthin unerträgliche Nachteile der bislang unterlegenen Partei aufzeigt. Daran fehlt es vorliegend; vielmehr stellt das neue Vorbringen der Antragstellerin die Gründe des Beschlusses vom 15. Juli 2020 nicht durchgreifend in Frage.
4
Der Senat hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass der angegriffene Bebauungsplan sich im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als unwirksam erweisen werde, da er unter einem nach § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB beachtlichen Abwägungsfehler beruhe. Der Rat der Antragstellerin sei davon ausgegangen, dass die planbedingte Verkehrsbelastung auf der Straße „E.“ maximal 1000 Kfz/Tag betragen werde. Die dem zugrundeliegende Prognose sei allerdings fehlerhaft, da ihr eine mit 138 Einheiten nicht hinreichend konservative Annahme zur Anzahl der im Plangebiet entstehenden Wohneinheiten zugrunde liege. Dass der Rat der Antragstellerin bei einer höheren Verkehrsbelastung der Straße „E.“ den Plan so nicht beschlossen hätte, sei nicht auszuschließen.
5
Ohne Erfolg hält die Antragstellerin dem entgegen, die Annahme, Zweifamilienhäuser würden in den Wohngebieten WA 2-5 nicht oder jedenfalls nur in vernachlässigenswertem Umfang entstehen, lasse sich auf entsprechende Erfahrungswerte in vergleichbaren vorhandenen Baugebieten stützen. Diese Kritik berücksichtigt nicht, dass die gegenwärtige bzw. zum Abwägungszeitpunkt bestehende Nachfrage nach Wohnraum und damit der Druck, Baugrundstücke optimal auszunutzen, gegenüber den frühen 2010er Jahren oder gar früheren Jahrzehnten gestiegen ist, so dass die Ausnutzung vorhandener Baugebiete mit der zu erwartenden Ausnutzung neuer Gebiete nicht ohne weiteres vergleichbar ist. Die Antragstellerin betont selbst den erheblichen Siedlungsdruck, der sie zu ihrer Planung bewogen habe. Im Übrigen lässt das Vorbringen der Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 17. August 2020 nicht erkennen, ob die Maßfestsetzungen für die als Vergleichsgrundlage herangezogenen Baugebiete eine ähnlich großzügige Ausnutzung der Baugrundstücke ermöglichen wie der angegriffene Bebauungsplan. Der Schriftsatz setzt sich auch nicht mit der Erwägung des Senats auseinander, die Antragstellerin habe in der Abwägung der Einwendungen des Antragsgegners selbst ausgeführt, sie strebe die Entwicklung eines klassischen Ein- und Zweifamilienhausgebietes an und sei auf die Anregung des Landkreises Ammerland, die Begrenzung der Wohnungszahl baugrundstücksbezogen festzusetzen, nicht eingegangen.
6
Ebenfalls ohne Erfolg versucht die Antragstellerin - zwar nicht in ihrem Schriftsatz, wohl aber in der von ihr eingereichten Stellungnahme des Ingenieurbüros F. vom August 2020 - ihre eigene Annahme zu relativieren, pro Wohneinheit fielen täglich 10 Kfz-Bewegungen an. Abgesehen davon, dass das Ingenieurbüro selbst angibt, diesem Wert lägen nach Angaben des Bauamtes der Antragstellerin Erfahrungswerte zugrunde, ist der Senat aus Rechtsgründen gehindert, diesen Wert nach unten zu korrigieren. Verkehrsprognosen sind nur eingeschränkt behördlich überprüfbar. Liegen ihnen sachverständige Berechnungen zugrunde, so sind diese darauf zu kontrollieren, ob sie nach einer geeigneten Methode durchgeführt wurden, ob der zugrunde gelegte Sachverhalt zutreffend ermittelt wurde und ob das Ergebnis einleuchtend begründet ist (BVerwG, Urt. v. 13.10.2011 - 4 A 4001.10 -, BVerwGE 141, 1 = juris Rn. 59). Bei einfacheren, auf Erfahrungswerten statt Berechnungen beruhenden Prognosen genügt es, dass die Prognose vertretbar erscheint. So verhält es sich bei der Annahme von 10 Kfz-Bewegungen je Tag und Wohneinheit; dass die Prognose niedrigerer Werte, wie sie das Ingenieurbüro F. in seiner Stellungnahme vom August 2020 detailliert vornimmt, ebenso vertretbar gewesen wäre oder gar nähergelegen hätte, ändert daran nichts. Für die Behauptung der Gutachter, der Wert von 10 Bewegungen/WE/Tag beinhalte einen Sicherheitszuschlag, der gerade auch eine zu niedrig angesetzte Anzahl von Wohneinheiten habe kompensieren sollen, spricht in den ursprünglichen Gutachten nichts. Der Rat der Antragstellerin ist nicht gehindert, in einer neuen Abwägungsentscheidung eine neue Prognose anzustellen und darin einen niedrigeren Wert zu prognostizieren; der Senat kann ihm dies jedoch nicht abnehmen, um seinerseits unvertretbar niedrig prognostizierte Eingangswerte an anderer Stelle des Gutachtens (Anzahl der Wohneinheiten) zu kompensieren.
7
Der Einwand der Antragstellerin, selbst bei einer Anzahl von 1820 Kfz-Bewegungen liege der Kfz-Verkehr auf der Straße E. noch deutlich im Rahmen desjenigen Verkehrs, den die RASt 06 für Wohnstraßen oder gar Sammelstraßen zugrunde lege, dürfte als Angriff auf die Erwägung des Senats zu verstehen sein, der Fehler bei der Verkehrsprognose sei nach § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB beachtlich, da er möglicherweise das Abwägungsergebnis beeinflusst habe. Als solcher geht er jedoch fehl. Der Senat hat die Abwägungsrelevanz der Verkehrsbelastung der Straße E. nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Leistungsfähigkeit nach der RASt 06, sondern unter Lärmschutzgesichtspunkten bejaht; hierzu verhält sich der Schriftsatz der Antragstellerin nicht. Wenn das Ingenieurbüro F. in seiner Stellungnahme ausführt, das Anliegen der Antragstellerin, den Zusatzverkehr auf der Straße E. auf 1000 Kfz/Tag zu begrenzen, sei politisch motiviert gewesen, legt sie letztlich selbst dar, dass eine Überschreitung dieses Wertes die Entscheidung des Rates hätte beeinflussen können. Mehr fordert § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB nicht.
8
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 u. 3, 162 Abs. 3 VwGO.
9
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Maßstab ist das Interesse der Antragstellerin an einer vorgezogenen Ausnutzung des Plans. Das Interesse einer Gemeinde am Bestand eines Bebauungsplans beziffert der Senat in Nr. 15 seiner Streitwertannahmen (NdsVBl. 2002, 192 = NordÖR 2002, 197) mit 5.000 bis 150.000 €. Mit Blick auf die Größe des hier geplanten Baugebiets ist ein Hauptsachestreitwert von 150.000,- € angemessen, der hier mit Blick auf den vorläufigen Charakter des Verfahrens zu halbieren war.
10
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
1. Auf den Antrag des Rechtsanwaltes S. vom 20.10.2020 wird ein Telefonat zwischen den Eltern des Beschuldigten, … und dem Beschuldigten unter den Auflagen genehmigt, dass keine verfahrensbezogenen Gespräche geführt werden und dass das Telefonat im Beisein eines Dolmetschers und im Beisein von Polizeibeamten geführt wird.
2. Im übrigen wird der Antrag des Rechtsanwaltes S. vom 20.10.2020 zurückgewiesen.
Gründe
Dem Antrag des Rechtsanwaltes S. vom 20.10.2020, Telefonate zwischen den Eltern des Beschuldigten und dem Beschuldigten zu gestalten, war im Hinblick auf ein Telefonat stattzugeben.
Der Antrag, Telefonate zwischen den Schwestern des Beschuldigten und dem Beschuldigten zu gestatten, war zurückzuweisen.
Grundsätzlich widerspricht das Begehren eines Untersuchungsgefangenen, Telefonete mit Personen außerhalb der Justizvollzugsanstalt zu führen oder von solchen empfangen zu dürfen, sowohl dem Zweck der Untersuchungshaft als auch der Anstaltsordnung.
Telefonate können daher nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen genehmigt werden. Bei berechtigtem Interesse können Telefonate Insbesondere mit Familienangehörigen im Einzelfall erlaubt werden. Bei Telefonaten mit nahen Familienangehörigen Ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG ein großzügiger Maßstab angezeigt (vgl. BeckOK StPO/Krauß, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 119 Rn. 20).
Vorliegend war ein Telefonat zwischen dem Beschuldigten und seinen Eltern zu genehmigen. Das von der Staatsanwaltschaft Kempten eingeräumte Besuchsrecht kann auf Grund der derzeitigen Lage im Hinblick auf die Corona-Pandemle nicht oder nur sehr erschwert ausgeübt werden. So ist die Tschechische Republik derzeit vom Robert-Koch-Institut als Risikogebiet eingestuft, so dass sich diverse Reisebeschränkungen ergeben.
Des Weiteren Ist derzeit nicht vorhersehbar, ob und wie sich die Besuchsregelungen in der JVA angesichts der epidemiologischen Entwicklung in naher Zukunft ändern.
Auch im Hinblick auf das Alter der Eltern des Beschuldigten war aus diesen Gründen ein Telefonat zu genehmigen.
Ein Telefonat mit den Schwestern des Beschuldigten war vorliegend jedoch nicht zu genehmigen.
Auch wenn die Einschränkungen des Besuchsrechts auch die Schwestern des Beschuldigten trifft, so ist nach Ansicht des Gerichts dem Interesse des Beschuldigten auf Kontakt mit seiner Familie durch das Telefonat mit den Eltern genügend Rechnung getragen.
Eine Ausweitung von Telefonaten auf weitere Familienangehörige widerspricht dem Zweck der Untersuchungshaft als auch der Anstaltsordnung. Dies vor allem im Hinblick auf das erhebliche Gewicht der Tat und der erheblichen Verdunkelungsgefahr.
Hinsichtlich der Schwestern des Beschuldigten ist der Beschuldigte auf die Möglichkeit des Briefverkehrs zu verweisen, welcher ebenfalls eine Kontaktaufnahme ermöglicht.
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Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts München I, Az. 14 HK O 18790/18, vom 16.09.2019 in Ziffer 2 des Tenors dahingehend abgeändert, dass festgestellt wird, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche Schäden zu ersetzen, die der Klägerin aufgrund ihrer außerordentlichen Kündigung des Mietvertrages vom 29.06./25.07.2012 über Flächen und Räume im Anwesen P.straße 143-147 in …M. entstanden sind oder noch entstehen werden.
2. Die Berufung der Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts München I, Az. 14 HK O 18790/18, vom 16.09.2019 wird zurückgewiesen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
4. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
5. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Gründe
A.
Die Parteien streiten um die Beendigung eines Gewerberaummietverhältnisses.
Mit Mietvertrag vom 25.07.2012 (Anl. K 1 und B 5, im Folgenden als MV bezeichnet) mietete die Klägerin noch vor Fertigstellung des Anwesens von der Rechtsvorgängerin der Beklagten im Anwesen P.straße 143-147 in … M., dem M.-Center, im 1. Untergeschoss eine in der Planzeichnung laut Anl. 1 zum Mietvertrag markierte Ladenfläche von 730 m² sowie im 2. Untergeschoss eine ebenfalls in der Planzeichnung laut Anl. 1 zum Mietvertrag markierte Lagerfläche von 112 m².
Das Mietverhältnis begann am 03.08.2014 nach Fertigstellung des Gebäudekomplexes. Es war auf 12 Jahre befristet (Ziff. 3.2 MV).
Der Zugang zu der Ladenfläche der Klägerin im 1. UG erfolgte über eine vor dem Ladenlokal befindliche Gemeinschaftsfläche, über die auch der Zugang zu den weiteren im 1. UG befindlichen Ladenlokalen (u.a. zwei Lebensmittelgeschäften der Firmen A. S. und E.) vermittelt wurde. Diese Gemeinschaftsfläche war über zwei Rolltreppen in einem „Treppenauge“ mit einer Gemeinschaftsfläche im Erdgeschoss des Anwesens, die Zugang zu den Ladenlokalen im Erdgeschoss gewährte, verbunden. Vom Erdgeschoss konnten die Kunden über eine in der Gemeinschaftsfläche platzierte statische Treppe zu der im 1. OG liegenden weiteren Gemeinschaftsfläche und zu den durch diese erschlossenen Ladenlokalen gelangen. Im Erdgeschoss und im 1. OG befanden sich anfänglich kleinere Einzelhandelsgeschäfte und gastronomische Betriebe.
Der ebenerdige Zugang zur Gemeinschaftsfläche im EG erfolgte über einen Eingang in der H. Straße auf Höhe der MVG-Bushaltestelle sowie einen weiteren Eingang Ecke H.Straße/P.straße.
Alle Geschosse sind darüber hinaus durch Treppenhäuser miteinander verbunden.
Vom 1. und 2. OG, in denen sich auch die Parkdecks für die Besucher des Anwesens befinden, führen drei Personenaufzüge (auch) in das 1. UG.
Die Gemeinschaftsfläche im 1. UG ist des Weiteren über einen dort gelegenen unterirdischen Zugang vom Sperrengeschoss der U-Bahnhaltestelle O. -Einkaufszentrum aus zu erreichen.
Zur weiteren Beschreibung der Örtlichkeiten wird auf die Planzeichnungen laut Anl. 6 zum Mietvertrag Bezug genommen.
Mit Email vom 27.07.2018 laut Anl. K 9 informierte die Beklagte die Klägerin, dass voraussichtlich ab Mitte 2019 das Sportbekleidungsfachunternehmen D. das gesamte Erdgeschoss sowie das gesamte 1. OG mieten werde. Der dafür erforderliche Umbau werde Mitte September 2018 beginnen. Während der Umbaumaßnahmen könnten die Kunden der Klägerin die Treppenhäuser des Anwesens nutzen.
Obwohl sich die Klägerin mit Schreiben vom 31.07.2018 (Anl. K 11) den angekündigten Umbaumaßnahmen widersetzt hatte, begann die Beklagte am 17.09.2018 mit den Abbruchmaßnahmen im Innern des Anwesens. Einer Aufforderung der Beklagtenvertreter vom 22.10.2018 an die Klägerin, die Mietfläche für die Umbaumaßnahmen zugänglich zu machen (Anl. K 15), kam die Klägerin nicht nach. Mit Schreiben des Klägervertreters vom 23.10.2018 (Anl. K 16) wurde die Beklagte wegen der Umbauarbeiten von der Klägerin abgemahnt und aufgefordert, die Umbauarbeiten sofort einzustellen und bis spätestens 27.10.2018 in die Abstimmung zur Durchführung der Bauarbeiten einzutreten. Eine daraufhin erfolgende Besprechung der Parteien am 06.11.2018 über eine mögliche Anpassung des Mietvertrages führte zu keinem Ergebnis.
Mit Schreiben des Klägervertreters vom 06.12.2018 (Anl. K 2) kündigte die Klägerin das Mietverhältnis außerordentlich fristlos wegen „der andauernden Entziehung des vertragsgemäßen Gebrauchs der Mietsache (§ 543 Abs. 2 Ziff. 1 BGB) und wegen der andauernden Verletzung des Mietvertrags durch die über Monate andauernden, den Geschäftsbetrieb (der Klägerin) wesentlich beeinträchtigenden nicht abgestimmten Baumaßnahmen“.
Während des Umbaus konnte das Ladenlokal der Klägerin auch von der P.straße über ein Treppenhaus, das bis dahin nur als Fluchttreppenhaus genutzt wurde, erreicht werden.
Seit der Beendigung des Umbaus können die Geschäftsräume der Klägerin im 1. UG von der H. Straße sowie der Ecke H. Straße/P.straße aus nur noch über Rolltreppen erreicht werden, die sich in den Geschäftsräumen der Firma D. befinden (vgl. die als Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 16.09.2019 genommenen Lichtbilder, Bl. zu 90 d.A.). Die Firma D. öffnet ihre Ladenflächen morgens um 09:00 Uhr, während die Läden im 1. UG bereits um 8:00 Uhr öffnen. In der Zeit von 8:00 Uhr bis 9:00 Uhr können die Rolltreppen in den Geschäftsräumen der Firma D., die vom Erdgeschoss in das 1. UG führen, durch einen mit verschiebbaren Glaswänden mittels eines von den noch geschlossenen Geschäftsräumen der Firma D. abgetrennten Gangs von einem Eingang in der H. Straße aus erreicht werden.
Die während des Umbaus geöffnete Zugangsmöglichkeit von der P.straße in das 1. UG über ein Treppenhaus blieb auch nach Beendigung des Umbaus erhalten. Seit der außerordentlichen Kündigung betreibt die Klägerin den Markt in Absprache mit der Beklagten unter Zahlung der hälftigen Miete weiter.
Die Klägerin behauptete, die Sperrung der Zugänge zu ihrem Ladenlokal im 1. UG und die anhaltenden Baumaßnahmen hätten zu einem Rückgang des Umsatzes und der Kundenzahlen von über 12% im Oktober 2018 und von bis zu 20% im November 2018 geführt. Ohne Sonderverkaufsaktionen der Klägerin an einzelnen Tagen im September und Oktober 2018 hätte der Umsatzrückgang bei weit über 20% gelegen. Dieser Umsatzrückgang sei auch im folgenden Zeitraum festzustellen gewesen.
Der Klägerin sei durch den Umbau der Gebrauch der Gemeinschaftsflächen, die zum Mietgegenstand gehörten und die mit Zustimmung des Vermieters deshalb auch für Warenpräsentationen und Verkaufsaktivitäten hätten genutzt werden dürfen, entzogen worden. Die zwei Drittel der Kunden der Klägerin, die bislang den ebenerdigen Zugang zur Gemeinschaftsfläche im Erdgeschoss von der H.Straße und von den Parkdecks aus genutzt hätten, könnten nunmehr die Geschäftsräume der Klägerin nur noch über die Ladenfläche der Firma D. erreichen. Die bisherige Zuwegung, die über das in Anl. 6 zum Mietvertrag dargestellte Zugangskonzept auch vertraglich vereinbart sei, habe die Beklagte der Klägerin durch den Umbau auf Dauer entzogen. Durch den Einzug des Großmieters D. habe sich darüber hinaus der bisherige Branchenmix nachteilig verändert. Aus einer Ladenpassage sei ein großflächiges Sportgeschäft mit angeschlossenem Einzelhandel im Untergeschoss geworden.
Auf Grund dieser nachteiligen Folgen des Umbaus für die Klägerin wäre die Beklagte gemäß Ziff. 11.1 Abs. 2 MV zur Einholung einer Zustimmung der Klägerin zum Umbau verpflichtet gewesen.
Die Klägerin beantragte daher:
1. Es wird festgestellt, dass das Mietverhältnis der Parteien über Laden- und Lagerflächen im „M.-Center“ M., P.str. 143-147 in … M., durch die außerordentliche Kündigung der Klägerin vom 06.12.2018, zugestellt am 10.12.2018, sein Ende gefunden hat.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin/Berufungsklägerin sämtliche Schäden zu ersetzen, welche der Klägerin aufgrund deren außerordentlicher Kündigung des Mietvertrages vom 29.06./25.07.2012 über Flächen und Räume im Anwesen P.straße 143-147 in … M. entstanden sind und noch entstehen werden.
Hilfsweise beantragte die Klägerin:
1. Der Mietzins wird angepasst für den Fall, dass die Kündigungserklärung, aus welchem Rechtsgrund auch immer, nicht durchgeht, ab Dezember 2018 auf 50% der Kaltmiete = 10.950 Euro pro Monat netto angepasst wird [sic] und ein Sonderkündigungsrecht besteht zum 31.12.2020 zugunsten der Klägerin.
2. Hilfshilfsweise wird beantragt, dass der Mietvertrag nur angepasst wird im Hinblick auf den Mietzins, wie unter dem soeben genannten Antrag genannt.
Die Beklagte beantragte,
Klageabweisung.
Die Beklagte erwiderte, dass ein wichtiger Grund, der eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen könnte, nicht vorläge. Die Gemeinschaftsflächen gehörten nicht zum Mietgegenstand. Ebenso wenig sei eine vertragliche Vereinbarung getroffen, dass eine bestimmte Zugangssituation hergestellt oder über die gesamte Mietdauer aufrechterhalten werden müsse. Die Klägerin wolle sich nur deshalb vorzeitig aus dem Mietverhältnis lösen, weil der streitgegenständliche Markt für die Klägerin zwischenzeitlich wirtschaftlich unattraktiv geworden sei. Die von der Klägerin behaupteten Umsatzrückgänge seien durch die mittlerweile veränderte Wettbewerbslage verursacht. Zum einen mache sich die Klägerin mit einem zwischenzeitlich deutlich vergrößerten Markt im benachbarten O.-Einkaufszentrum selbst Konkurrenz. Zum anderen habe in der Nähe mit der Firma M. ein Konkurrent der Klägerin einen Markt eröffnet.
Mit Endurteil vom 16.09.2019, Az. 14 HK O 18790/18, das dem Klägervertreter am 29.10.2019 und dem Beklagtenvertreter am 31.10.2019 zugestellt wurde, stellte das Landgericht München I fest, dass das streitgegenständliche Mietverhältnis durch die der Beklagten am 10.12.2018 zugestellte außerordentlich Kündigung geendet habe. Im Übrigen wies es die Klage ab.
Auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des Endurteils des Landgerichts München I vom 16.09.2019 wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO Bezug genommen.
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 14.11.2019, eingegangen beim Landgericht per Fax am selben Tag, die Berichtigung des Tatbestands des landgerichtlichen Urteils vom 16.09.2019. Das Landgericht lehnte den Berichtigungsantrag mit Beschluss vom 15.01.2019 (Bl. 130/132 d.A.) ab.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin unter Wiederholung und Erweiterung ihres bisherigen Vortrags ihr erstinstanzliches Klageziel vollumfänglich weiter.
Die Klägerin beantragt daher:
Das Urteil des Landgerichts München I vom 16.09.2019, Az. 14 HK O 18790/18 wird zu den Ziffern 2. und 3. der Entscheidung wie folgt abgeändert:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte/Berufungsbeklagte verpflichtet ist, der Klägerin/Berufungsklägerin sämtliche Schäden zu ersetzen, welche der Klägerin/Berufungsklägerin aufgrund deren außerordentlicher Kündigung des Mietvertrages vom 29.06./25.07.2012 über Flächen und Räume im Anwesen P.straße 143-145 in … M. entstanden sind und noch entstehen werden.
Die Beklagte beantragt
die Zurückweisung der klägerischen Berufung.
Mit ihrer Berufung möchte die Beklagte die vollständige Klageabweisung erreichen.
Die Beklagte beantragt daher:
I. Das Urteil des Landgerichts München I vom 16.09.2019, Az. 14 HK O 18790/18 wird in Ziffer 1. aufgehoben.
II. Die Klage wird vollumfänglich abgewiesen.
Die Klägerin beantragt
die Zurückweisung der Berufung der Beklagten.
Der Senat hat am 28.10.2020 mündlich verhandelt. In der mündlichen Verhandlung trug die Klagepartei vor, dass der der Klägerin aufgrund der Kündigung entstandene Schaden noch nicht abschließend beziffert werden könne. Es gehe dabei vor allem um das noch nicht vollständig abgeschriebene Ladeninventar und die von der Klägerin vorgenommenen, ebenfalls noch nicht vollständig abgeschriebenen Investitionen in das angemietete Ladenlokal (bspw. Bodenbeläge, Beleuchtung). Je länger der Rechtsstreit noch andauere und der streitgegenständliche Markt von der Klägerin noch betrieben werde, desto geringer werde der der Klägerin entstehende Schaden. Momentan liege der Schaden in einer Größenordnung von ca. 100.000 €.
Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2020, die zwischen den Prozessbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze und den übrigen Akteninhalt wird Bezug genommen.
B.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet, diejenige der Klägerin begründet.
I.
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Denn das Landgericht hat zu Recht festgestellt, dass das streitgegenständliche Mietverhältnis der Parteien durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Klägerin vom 06.12.2018 beendet wurde, da die Beklagte nach § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB durch die Änderung der Zugangssituation der Klägerin den Gebrauch der Mietsache entzogen hat.
1. Zwar ist der Berufung zuzugeben, dass nach Ziff. 1.1 MV Mietgegenstand ausschließlich die Ladenfläche im 1. UG und die Lagerfläche im 2. UG sind, da diese Flächen und nur diese Flächen in Ziffer 1.1 S. 2 MV ausdrücklich als „Mietgegenstand“ bezeichnet sind und im Vertrag systematisch getrennt von den Gemeinschaftsflächen, die Gegenstand von Ziff. 1.2 sind, behandelt werden.
Jedoch kann auch die Beeinträchtigung des Zugangs zu gemieteten Gewerbeflächen einen Sachmangel iSd. § 536 BGB und damit eine Gebrauchsentziehung iSv. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB darstellen, wenn die Beeinträchtigung nicht unerheblich ist (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 29.11.2007 - 10 U 86/07, Rdnr. 27; KG, Urteil vom 15.05.2014 - 8 U 12/13, Rdnrn 5 und 7; Mehle in BeckOGK, Stand 01.07.2020, Rdnr. 104 zu § 543 BGB, Blank in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 14. Auflage, München 2019, Rdnr. 24 zu § 543 BGB; zu § 537 BGB a.F. vgl. BGH, Urteil vom 16.02.2000 - XII ZR 279/97, Rdnr. 28 und Urteil vom 01.07.1981 - VIII ZR 192/80, Rdnr. 11, in dem ein „bequemer“ Zutritt zu den Geschäftsräumen als für die Gebrauchstauglichkeit als unmittelbar bestimmend bezeichnet wird). Eine derartige nicht unerhebliche Beeinträchtigung des Zugangs zu dem von der Klägerin gemieteten Ladenlokal im 1. UG des Centers liegt nach Ansicht des Senats im streitgegenständlichen Fall vor.
a. Aus der in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 16.09.2019 von der Klägerin vorgelegten, von der Beklagten erstellten Frequenzzählung (Bl. zu 90 d.A.), deren Zählergebnis die Beklagte auch in der Berufung nicht bestritten hat, lässt sich entnehmen, auf welchen Zugangswegen das streitgegenständliche Center in der ersten Jahreshälfte 2018, das heißt vor den Umbaumaßnahmen, betreten wurde. Demnach erfolgten bspw. im Februar 2018 ca. 1/6 der Zugänge zum Center über die Parkdecks, mehr als die Hälfte über die ebenerdigen Eingänge von der H. Straße bzw. Ecke H. Straße/P.straße, während der Rest der Eintretenden über den Zugang von der U-Bahnhaltestelle im 1. UG in den Gebäudekomplex gelangte. Für mehr als die Hälfte der das Center Betretenden ist das Ladengeschäft der Klägerin damit nur noch über die in der Ladenfläche der Firma D. befindlichen Rolltreppen zu erreichen, wobei - wie sich aus den vom Landgericht zu Protokoll genommenen Lichtbildern (Bl. zu 90 d.A.) ergibt - an den Rolltreppenabgängen keinerlei Hinweise auf die im 1. UG befindlichen Geschäfte angebracht sind. Die kleinformatigen Logos der Einzelhandelsgeschäfte im 1. UG, die laut den Lichtbildern Anl. B 15 (S. 1 - 3) oberhalb der Eingänge in der H. Straße und der Ecke H. Straße/P.straße an der Straßenfront des Gebäudes angebracht sind, ersetzen keine Wegweisung im Erdgeschoss innerhalb des Gebäudes, die die ebenerdig das Anwesen Betretenden durch die Verkaufsfläche der Firma D. zu den Abgängen ins 1. UG leiten würden. Denn aus den Logos lässt sich für einen Kunden nur erschließen, dass es in dem Center - wo auch immer und wie auch immer erreichbar - eine Filiale der Beklagten gibt, nicht aber, dass der Zugang von der H. Straße und der Ecke H. Straße/P.straße durch die Verkaufsräume der Firma D. führt. Die weiteren in Anl. B 15 wiedergegebenen Wegweisungen befinden sich im öffentlichen Straßenraum, in den Treppenhäusern oder im Untergeschoss des Centers und sind damit für Kunden, die über die Eingänge H. Straße und Ecke H. Straße/P.straße in das Center kommen, ohne Relevanz.
Zudem ist - wie sich aus einem Vergleich der Situation nach dem Umbau auf der Grundlage der zu Protokoll genommenen Lichtbildern laut Bl. zu 90 d.A. einerseits und vor dem Umbau auf der Grundlage der Lichtbilder laut dem Anlagenkonvolut K 5 ergibt - der Durchblick durch das Treppenauge vom 1. OG und dem EG in das 1. UG und damit auch auf das Ladengeschäft der Klägerin nach dem Umbau in wesentlich geringerem Umfang möglich als vorher. Im EG befindet sich nunmehr eine teilweise von der Brüstung abgesetzte geschosshohe Glasverkleidung, die - wie zuvor - ein Herantreten an und ein Nach-unten-Blicken unmittelbar von der Brüstung aus nicht mehr zulässt. Das vor dem Umbau große Treppenauge im 1. OG ist nunmehr deutlich verkleinert und umfasst nur noch den für die Aufnahme der Rolltreppe erforderlichen Platz (vgl. insoweit auch die Planzeichnungen laut Anl. B 11).
Nach alledem wird durch den Umbau für mehr als die Hälfte der das Center Betretenden der Zugang zum Ladenlokal der Klägerin im 1. UG deutlich erschwert. Denn das Ladenlokal der Klägerin ist zwar - wie vor dem Umbau - weiterhin von den ebenerdigen Eingängen in der H. Straße und der Ecke H. Straße/P.straße über zwei Rolltreppen erreichbar. Jedoch wird die Erreichbarkeit über diese Zugänge in erheblicher Weise dadurch eingeschränkt, dass für ortsunkundige Besucher nicht mehr ohne weiteres ersichtlich ist, dass die Verkaufsfläche der Firma D. eine Zugangsmöglichkeit zu den Geschäften im 1. UG bietet, was sich auch beim Betreten der D.-Verkaufsflächen von der H. Straße und der Ecke H. Straße/P.straße aus nicht erschließt.
b. Den Zugang über die Eingänge in der H. Straße und der Ecke H. Straße/P.straße weiter erschwerend kommt hinzu, dass die Firma D. ihre Verkaufsflächen täglich erst um 9:00 Uhr öffnet, während die Geschäfte im 1. UG schon um 8:00 Uhr öffnen. Diese weitere Zugangserschwerung während sechs Stunden pro Woche wird auch nicht dadurch kompensiert, dass in dieser Zeit - wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 28.10.2020 erstmals von der Beklagten vorgetragen, aber von der Klägerin ausdrücklich zugestanden und deshalb nach § 531 Abs. 2 ZPO zu berücksichtigen - die Rolltreppen in den Geschäftsräumen der Firma D., die vom Erdgeschoss in das 1. UG führen, durch einen mit verschiebbaren Glaswänden von den noch geschlossenen Geschäftsräumen der Firma D. abgetrennten Gang von einem Eingang in der H. Straße aus erreicht werden können. Denn zum einen betrifft dies nur einen der beiden ebenerdigen Zugänge von der H. Straße, sodass der andere Zugang verschlossen bleibt und dadurch die ebenerdigen Zugangsmöglichkeiten von der H. Straße aus um die Hälfte reduziert werden. Zum anderen ist - wie oben unter a dargestellt - für den nicht ortskundigen Kunden aufgrund ungenügender Hinweise auf die Zugangsmöglichkeit durch die Geschäftsräume der Firma D. zum Markt der Klägerin im 1. UG schon bei geöffneter D.-Geschäftsfläche der Zugang in das 1. UG erheblich erschwert. Dieser Mangel wird durch den geöffneten mit Glaswänden begrenzten Gang, der keinen Rückschluss erlaubt, wo er hinführt, noch verschärft.
c. Die ersatzweise Zugangsmöglichkeit über das Treppenhaus vom Eingang P.straße 145 aus gleicht die oben unter a und b dargestellten Zugangserschwernisse nicht aus, zumal es sich dabei ausweislich des Lichtbildes Anl. K 7 b um einen unscheinbaren Gebäudeeingang handelt, der nur einen kleinformatigen Hinweis auf eine Zugangsmöglichkeit zu den Läden im Untergeschoss sowie ebenso kleinformatige Logos der dort befindlichen Geschäfte aufweist und aufgrund der Treppen für Einkäufer auch unbequem ist.
d. aa. Wenn die Beklagte nunmehr erstmals in der Berufung die Relevanz (nicht aber das Ergebnis) der Frequenzzählung in Frage stellt (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 07.09.2020, S. 10, Bl. 173 d.A.), da von der Zählung neben Kunden auch Mieter, Mitarbeiter und Lieferanten erfasst seien und bei der Zählung überdies nicht berücksichtigt werde, wohin die Eintretenden innerhalb des Gebäudes gingen, so trifft dies auf alle in der Frequenzzählung berücksichtigten Zugänge gleichermaßen zu. Auch die über den Zugang im 1. UG von der U-Bahnhaltestelle oder die Parkdecks das Gebäude Betretenden dürften nicht ausschließlich Kunden, sondern auch Mieter und Mitarbeiter sein, und auch nicht alle das gleiche Ziel innerhalb des Centers haben. Im streitgegenständlichen Fall entscheidend ist jedoch nur die (ungefähre) Verteilung der Eintritte auf die verschiedenen Zugänge, um die Auswirkungen auf das Ladenlokal der Klägerin zu beurteilen.
Im Übrigen ist der erstmals im Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 07.09.2020 (S. 10, Bl. 173 d.A.) erbrachte - wie der Beklagtenvertreter selbst ausführt - streitige Vortrag gemäß § 531 Abs. 2 ZPO verspätet. Es ist nicht ersichtlich, warum dieser nicht schon in erster Instanz erfolgte, als die Klägerin die Frequenzzählung am 16.09.2018 in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht vorlegte. Die insoweit von der Beklagten angebotenen Beweise (Zeugen, Augenschein und Sachverständigengutachten) waren daher nicht zu erheben.
bb. Der von der Beklagten im Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 07.09.2020 (S. 9 und 10, Bl. 172 und 173 d.A.) angebotene Beweis zur Erkennbarkeit der drei Zuwege im Erdgeschoss durch Vernehmung von Zeugen, richterlichen Augenschein und Sachverständigengutachten war nicht zu erholen, da der Beweisantritt erstmals in der Berufung erfolgte und damit nach § 531 Abs. 2 ZPO verspätet ist. Im Übrigen sagen die von der Beklagten in Bezug genommenen Planzeichnungen laut Anl. B 11 nichts über die Erkennbarkeit der Zuwege im Erdgeschoss aus.
e. Nachdem - wie oben unter a ausgeführt - mehr als die Hälfte der Zutritte zum Center über die ebenerdigen Zugänge in der H. Straße und Ecke H. Straße/P.straße erfolgen, ist diese Zugangsbeschränkung auch erheblich, sodass ein wichtiger Grund für die außerordentliche fristlose Kündigung des Mietvertrages durch die Klägerin vorlag. Bei der Zugangsbeschränkung handelt es sich entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht lediglich um eine mittelbare Beeinträchtigung. Denn es geht gerade nicht um „fehlgeschlagene Erwartungen“ der Klägerin hinsichtlich der Kundenfrequenz oder aufgrund einer ungenügenden infrastrukturellen Erschließung des Centers (wie in den Fällen des BGH - XII ZR 66/03, Rdnrn 18-20, VIII ZR 192/80, Rdnr. 12 und XII ZR 279/97, Rdnr. 29), sondern um bauliche Veränderungen von Seiten der Beklagten, die selbst und unmittelbar zu einer Verschlechterung der Zugangsmöglichkeiten zu den Geschäftsräumen der Klägerin führten.
Ob - wie von der Beklagten bestritten - die Klägerin durch die veränderte bauliche Situation im Erdgeschoss und dem 1. OG Umsatzeinbußen erlitten hat, ist in Anbetracht der unabhängig davon bestehenden Zugangserschwerung, die für sich genommen bereits erheblich ist, ohne Bedeutung. Nachgewiesene Umsatzeinbußen würden möglicherweise nur ein weiteres Indiz für eine erhebliche Gebrauchentziehung iSd. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB darstellen.
f. Das in Ziff 11.1 MV vereinbarte Recht der Beklagten als Vermieterin, Ausbesserungen und bauliche Veränderungen, die zur Erhaltung oder Unterhaltung des Anwesens notwendig sind, vorzunehmen, ändert an der Entziehung des vertragsgemäßen Gebrauchs durch den Umbau nichts.
g. aa. Ob - wie die Beklagte unter Berufung auf die von ihr im Vorfeld der Umbaumaßnahmen erholte „Kundenfrequenzprognose“ der BBE Handelsberatung laut Anl. B 10 behauptet - durch die Vermietung des Erdgeschosses und des 1. OG an die Firma D. die Gesamtkundenfrequenz des streitgegenständlichen Centers um rund 508.000 Besucher, das heißt rund 27%, jährlich gesteigert werden kann (Schriftsatz des Klägervertreters vom 19.03.2019, S. 6 unten, Bl. 28 d.A.), kann dahinstehen. Denn für die Frage der Entziehung des Gebrauchs und deren Erheblichkeit kommt es nicht auf die Besucherzahlen des Centers insgesamt, sondern auf die Auswirkungen auf die von der Klägerin gemieteten Flächen und damit auf die Frequenz des Ladenlokals der Klägerin an. Im Übrigen würde auch bei einer gesteigerten Zahl von Besuchern des Centers nach den obigen Ausführungen unter a unverändert mehr als der Hälfte dieser Besucher, nämlich denjenigen, die das Center über die ebenerdigen Zugänge in der H. Straße und Ecke H. Straße/P.straße betreten, der Zugang zu dem Ladenlokal der Klägerin erschwert, da nicht ersichtlich ist, warum sich bei einer Steigerung der Besucherzahl die Verteilung der Besucher auf die einzelnen Zutrittsmöglichkeiten ändern sollte.
bb. Auch die von der Beklagten unter Berufung auf die von ihr beauftragte Untersuchung laut Anl. B 10 behauptete Steigerung der Kundenfrequenz in den Geschäften im 1. UG um 22 - 28% (Schriftsatz des Klägervertreters vom 19.03.2019, S. 6 unten, Bl. 28 d.A.) ändert nichts an der erheblichen Zugangsbeschränkung. Denn die prognostizierte Kundenfrequenzsteigerung setzt laut der Kundenfrequenzprognose Anl. B 10 (dort S. 10, vorletzter Absatz) eine „gute Wegweisung“ voraus. Nur dann würden nämlich nach der Untersuchung 22 - 28% der D.-Besucher den Weg zu den Anbietern im 1. UG finden. Aus diesem Grund wurde in der Untersuchung auch empfohlen, „weitere Maßnahmen der Kundenlenkung zu implementieren (Fußstapfen, Auffällige Ausschilderung)“ (S. 11 der Kundenfrequenzprognose laut Anl. B 10). An einer derartigen Kundenlenkung bzw. Ausschilderung fehlt es jedoch - wie oben unter a dargelegt.
Damit fehlt es auch an der Voraussetzung für die von der Beklagten behauptete Verbesserung der Umsatzerwartungen der Klägerin.
h. Auf die von den Parteien ventilierten Fragen, ob der Klägerin durch den Umbau die Nutzungsmöglichkeit der Gemeinschaftsflächen entzogen wurde, und ob die von der Klägerin behaupteten Umsatzrückgänge sowie der Einzug eines Großmieters aufgrund der veränderten Zusammensetzung des Mieterkreises einen hinreichenden Kündigungsgrund darstellen, kommt es nach der Bejahung einer Gebrauchsentziehung iSd. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB aufgrund der Erschwerung des Zugangs zu der von der Klägerin gemieteten Ladenfläche nicht mehr an.
2. Die gemäß § 543 Abs. 3 BGB erforderliche Abmahnung ist durch das Schreiben des Klägervertreters vom 23.10.2018 (Anl. K 16) erfolgt.
3. Auf die Frage, ob die Zugangsbeschränkung die Fortsetzung des Mietverhältnisses unzumutbar iSv. § 543 Abs. 1 S. 2 BGB machte, kommt es nicht an. Denn bei Vorliegen eines der Tatbestände des § 543 Abs. 2 BGB ist eine Kündigung aus wichtigem Grund möglich, ohne dass die in § 543 Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen, wie etwa die Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung, zusätzlich vorliegen müssen (vgl. KG, Urteil vom 15.05.2014 - 8 U 12/13, Rdnr. 20).
Nach alledem wurde das streitgegenständliche Mietverhältnis durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Klägerin vom 06.12.2018 (Anl. K 12) beendet.
Die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 28.10.2020 beantragte Frist zur Stellungnahme auf den Schriftsatz des Klägervertreters vom 22.10.2020 (Bl. 175/180 d.A.), insbesondere zu den Frequenzzählungen 2017 und 2018 laut Anl. BE 1 und 2 und den Ausführungen hierzu, war nicht zu gewähren. Auf die Frequenzzählungen laut Anl. BE 1 und 2 kommt es entscheidungserheblich nicht an, da der Senat seiner Entscheidung ausschließlich die bereits in erster Instanz von der Klägerin vorgelegten und von der Beklagten nicht bestrittenen Ergebnisse der Frequenzzählungen laut Bl. zu 90 d.A. zu Grunde legt (vgl. oben Abschnitt 1 a). Weiteren neuen Sachvortrag der Klagepartei, auf den die Beklagte erwidern können müsste, enthält der Schriftsatz des Klägervertreters vom 22.10.2020 nicht.
4. Die von der Beklagten erhobene Verfahrensrüge, ihr rechtliches Gehör sei durch die unberechtigte Zurückweisung ihres Tatbestandsberichtigungsantrags vom 14.11.2019 (Bl. 103/105 d.A.) durch den Beschluss des Landgerichts vom 15.01.2020 (Bl. 130/132 d.A.) verletzt worden, hat keinen Erfolg, da das Landgericht den Tatbestandsberichtigungsantrag der Beklagten zu Recht zurückgewiesen hat.
a. Die Bezeichnung des streitgegenständlichen Centers als „Einkaufszentrum“ im Einleitungssatz des Tatbestands stellt keine Unrichtigkeit, Auslassung, Dunkelheit oder einen Widerspruch iSd. § 320 Abs. 1 ZPO dar. Denn nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist laut Wikipedia unter einem Einkaufszentrum eine „als Einheit geplante, errichtete und verwaltete Agglomeration von Einzelhandels- und Dienstleistungsbetrieben“ zu verstehen. Dies entspricht der von der Beklagten im Tatbestandsberichtigungsantrag in Bezug genommenen „gemischt genutzten Gewerbeimmobilie“. Entgegen der zweckgeleiteten Ansicht der Beklagten bietet ein „Einkaufszentrum“ damit - anders als das streitgegenständliche Center - nicht ausschließlich Einkaufsmöglichkeiten und ist der vom Landgericht verwendete Terminus „Einkaufszentrum“ zur Beschreibung des M.-Centers korrekt. Die allgemeinsprachliche Wortbedeutung entspricht im Übrigen auch der juristischen (vgl. schon die Definition des Begriffs des Einkaufszentrums iSd. § 11 BauNVO in BVerwG, Urteil vom 27.04.1990 - 4 C 16/87, Rdnr. 21).
b. Im Hinblick auf die Beschreibung der Zugangsmöglichkeiten in Absatz 6 des Tatbestands (LGU S. 3) liegt hinsichtlich der Zahl der Aufzüge und des Treppenhauses keine Auslassung oder Dunkelheit iSd. § 320 Abs. 1 ZPO vor. Denn da im letzten Absatz des Tatbestands des landgerichtlichen Urteils (LGU S. 4) „bezüglich weiterer Einzelheiten“ auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen wird und es nicht um die Wiedergabe von den Schriftsätzen abweichenden mündlichen Vortrags geht, mussten nicht alle Zugangsmöglichkeiten vom Landgericht in den Tatbestand aufgenommen werden.
Im Übrigen hat der Senat in seiner Entscheidung alle Zugangsmöglichkeiten, das heißt auch die drei Aufzüge und die Treppenhäuser, berücksichtigt.
II.
Die Berufung der Klägerin ist begründet, da die beantragte Feststellung der Schadensersatzpflichtigkeit der Beklagten auszusprechen war. Die Klage ist insoweit zulässig und begründet.
1. Die Annahme eines Feststellungsinteresses der Klägerin iSd. § 256 Abs. 1 ZPO zum Zwecke der Hemmung der Verjährung und damit die Zulässigkeit der Feststellungsklage setzt voraus, dass, sofern kein absolutes Rechtsgut, sondern - wie hier - nur eine relative vertragliche Verpflichtung verletzt ist, die Klägerin eine Vermögensgefährdung, das heißt die Wahrscheinlichkeit eines auf die Verletzungshandlung zurückzuführenden Schadens substanziiert dartut (vgl. Greger in Zöller, 33. Auflage, Köln 2020, Rdnr. 9 zu § 256 ZPO m.w.N. aus der Rechtsprechung). Dies hat die Klägerin getan, da sie zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2020 vorgetragen hat, dass ihr durch die außerordentliche Kündigung ein noch nicht bezifferbarer Schaden entstanden sei. Es gehe dabei vor allem um das noch nicht vollständig abgeschriebene Ladeninventar und die von der Klägerin vorgenommenen, ebenfalls noch nicht vollständig abgeschriebenen Investitionen in das angemietete Ladenlokal (bspw. Bodenbeläge, Beleuchtung). Je länger der Rechtsstreit noch andauere und der streitgegenständliche Markt von der Klägerin noch betrieben werde, desto geringer werde der der Klägerin entstehende Schaden. Momentan liege der Schaden in einer Größenordnung von ca. 100.000 €. Ob diese, jedenfalls schlüssigen Angaben zutreffen, ist für das Feststellungsinteresse iSd. § 256 ZPO unerheblich.
2. Entgegen der Ansicht des Landgerichts hat die Beklagte die Gebrauchsentziehung, die - wie oben unter I 1 dargelegt - aus den von der Beklagten vorgenommenen Umbaumaßnahmen folgt und die eine Verletzung der Pflichten der Beklagten aus dem zwischen den Parteien bestehenden Mietvertrag darstellt, auch zu vertreten. Denn gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB wird das Vertretenmüssen des Schuldners und damit der Beklagten vermutet. Den ihr damit obliegenden Entlastungsbeweis hat die Beklagte jedoch nicht geführt. Die hinter der Umbaumaßnahme stehende Absicht der Beklagten, die Leerstände im streitgegenständlichen Center zu beseitigen und dadurch die Frequenz im streitgegenständlichen Center zu erhöhen, ist zwar legitim. Die dabei angewandte Vorgehensweise der - wie oben unter I 1 ausgeführt - Beschneidung der Zugangsmöglichkeit zum Ladenlokal dagegen nicht. Die Verfolgung eines legitimen Zwecks führt nicht per se dazu, dass alle Methoden, diesen Zweck zu erreichen, auch zulässig sind, selbst wenn die Beklagte davon ausgegangen sein sollte, dass sich infolge der Umbaumaßnahmen die Frequenz auch bei der Klägerin erhöht. Auch unter Zugrundelegung des Vorbringens der Beklagten in der Berufungserwiderung (Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 31.01.2020, S. 18, Bl. 148 d.A.) hat sich die Beklagte damit nicht entlastet.
III.
1. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits, da sie zur Gänze unterlag (§ 91 Abs. 1 ZPO).
2. Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
3. Die Revision war nicht zuzulassen, da Revisionsgründe nicht vorliegen.
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