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1-2012 | 12. Januar 2012 | Zur gerichtlichen Kontrolle der telekommunikationsrechtlichen Marktregulierung durch die Bundesnetzagentur
Pressemitteilung Nr. 1/2012 vom 12. Januar 2012
Beschluss vom 08. Dezember 20111 BvR 1932/08
Das Telekommunikationsgesetz (TKG) weist der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen die Aufgabe der Regulierung des Wettbewerbs im Bereich der Telekommunikation zu. Bei der sogenannten Marktregulierung hat sie anhand bestimmter gesetzlicher Kriterien die Telekommunikationsmärkte festzulegen, die für eine Regulierung in Betracht kommen (Marktdefinition, § 10 TKG). Ihr obliegt ferner die Prüfung, ob auf dem betreffenden Markt wirksamer Wettbewerb besteht, was dann nicht der Fall ist, wenn ein oder mehrere Unternehmen auf dem Markt über beträchtliche Markmacht verfügen (Marktanalyse, § 11 TKG). Ende 2005 legte die Präsidentenkammer der Bundesnetzagentur fest, dass mehrere Mobilfunknetzbetreiber, darunter auch die Beschwerdeführerin, auf dem Markt für Anrufzustellung in ihr jeweiliges Mobilfunknetz über eine solche beträchtliche Marktmacht verfügen. Auf dieser Grundlage erließ die Bundesnetzagentur 2006 eine Regulierungsverfügung, mit der sie der Beschwerdeführerin unter anderem Zugangsverpflichtungen nach § 21 TKG, insbesondere die Terminierung von Anrufen in ihr Mobilfunknetz, aufgab und anordnete, dass die von der Beschwerdeführerin für die Zugangsleistungen erhobenen Entgelte vorab genehmigt werden müssen. Die damit auch der behördlichen Genehmigung unterworfenen Terminierungsentgelte, die zunächst der Netzbetreiber des Anrufenden zu entrichten hat, haben für die Mobilfunknetzbetreiber erhebliche wirtschaftliche Bedeutung.
Mit ihrer gegen die Regulierungsverfügung erhobenen Klage hatte die Beschwerdeführerin vor dem Bundesverwaltungsgericht keinen Erfolg (vgl. dessen Pressemitteilung Nr. 22/2008 vom 3. April 2008). Das Gericht vertritt die Auffassung, dass die Regulierungsverfügung gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sei, weil der Bundesnetzagentur hinsichtlich der von ihr vorzunehmenden Marktdefinition und Marktanalyse ein Beurteilungsspielraum zustehe. Die Bundesnetzagentur habe zudem bei der Auferlegung der Regulierungsverpflichtungen die Grenzen des ihr insoweit eingeräumten Regulierungsermessens nicht überschritten.
Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihres Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz und sieht sich zudem in ihrer Berufsausübungsfreiheit verletzt. Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen nicht vorliegen. Die Beschwerdeführerin ist nicht in ihren Grundrechten verletzt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt zwar grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Sie schließt aber nicht aus, dass der Gesetzgeber der Verwaltung Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume eröffnet, welche die Rechtskontrolle von Exekutivakten durch die Gerichte einschränken. Ein Gericht verletzt das Gebot wirksamen Rechtsschutzes, wenn es ein behördliches Letztentscheidungsrecht annimmt, das mangels gesetzlicher Grundlage nicht besteht, und deshalb die vollständige Prüfung der Behördenentscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit unterlässt. Auch der Gesetzgeber ist nicht frei in der Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse. Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds.
Bei Anwendung dieser Vorgaben ist die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, dass der Bundesnetzagentur bei der Marktdefinition und der Marktanalyse ein Beurteilungsspielraum zusteht, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverwaltungsgericht verwendet bei seiner Auslegung der §§ 10, 11 TKG anerkannte Auslegungsmethoden. Unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik, des Normzwecks und des unionsrechtlichen Hintergrunds der Bestimmungen ist es vertretbar, diesen Regelungen die Einräumung eines weitreichenden Beurteilungsspielraums der Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde bei der Marktdefinition und der Marktanalyse beizumessen.
Des Weiteren bestehen für die Reduzierung der gerichtlichen Kontrolldichte durch den Gesetzgeber tragfähige Sachgründe. Die in § 10 TKG genannten Kriterien zur Bestimmung der für eine Regulierung in Betracht kommenden Märkte hängen wesentlich von ökonomischen Einschätzungen ab. Ähnliches gilt für die Beantwortung der Frage, ob auf dem untersuchten Markt wirksamer Wettbewerb besteht (§ 11 Abs. 1 TKG). Die erkennbaren Schwierigkeiten einer gerichtlichen Vollkontrolle dieser Tatbestandsmerkmale durfte der Gesetzgeber zum Anlass nehmen, der Bundesnetzagentur einen entsprechenden Beurteilungsspielraum einzuräumen.
Zudem begrenzt das Bundesverwaltungsgericht durch seine Interpretation der gesetzlichen Regelung den grundsätzlich auch für den Bereich der Marktregulierung vorausgesetzten wirksamen Rechtsschutz durch die Gerichte nicht insgesamt, sondern belässt den Fachgerichten genügend Möglichkeiten, aber auch die Pflicht zu einer substantiellen Kontrolle des behördlichen Handelns.
2. Weder die angegriffenen Entscheidungen noch die zugrunde liegende Rechtslage verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG, da der Grundrechtseingriff gerechtfertigt ist. Die Regulierung der Telekommunikationsmärkte nach dem Telekommunikationsgesetz verfolgt mit dem Schutz der Verbraucherinteressen und der Sicherstellung chancengleichen Wettbewerbs gewichtige Gemeinwohlziele. Dem Gesetz liegt die Vorstellung zugrunde, dass im Telekommunikationssektor insgesamt und nicht nur in ehemaligen Monopolbereichen die Gefahr unzureichender Marktverhältnisse besteht, der nicht allein mit den Mitteln des allgemeinen Wettbewerbsrechts begegnet werden kann. Auch trifft die Regulierungsverfügung die Beschwerdeführerin nicht unverhältnismäßig in ihrer Berufsausübungsfreiheit. Ihr Interesse an freier unternehmerischer Betätigung wird durch die Zugangsverpflichtung nicht übermäßig eingeschränkt, zumal auch sie selbst ein Interesse an der umfassenden Erreichbarkeit ihrer eigenen Mobilfunkkunden haben wird. Die finanziellen Folgen der Verfügung insbesondere der Genehmigungspflicht für die Entgelte der Zugangsgewährung erscheinen ebenfalls nicht unangemessen. Der Beschwerdeführerin wird kein finanzielles Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit auferlegt, sondern lediglich eine möglicherweise lukrative Preisgestaltung zulasten der Kunden der anderen Mobilfunknetz- sowie der Festnetzbetreiber unmöglich gemacht.
Mit Beschlüssen vom 21. Dezember 2011 hat die Kammer unter Verweisung auf den Beschluss vom 8. Dezember 2011 gleichgelagerte Verfassungsbeschwerden von drei weiteren Mobilfunkunternehmen nicht zur Entscheidung angenommen (1 BvR 1933/08, 1 BvR 1934/08 und 1 BvR 1935/08).
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1932/08 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der T... GmbH,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dolde, Mayen & Partner,
Rheinauen Carré, Mildred-Scheel-Straße 1, 53175 Bonn -
1.
unmittelbar gegen
a)
das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 2. April 2008 - BVerwG 6 C
16.07 -,
b)
das Urteil des
Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2007 - 1 K 3918/06
-,
c)
den Beschluss der
Bundesnetzagentur vom 29. August 2006 - BK 4c-06-001/R
-,
2.
mittelbar gegen
§ 10 Abs. 2 Satz 2, § 11 TKG
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 8. Dezember 2011 einstimmig
beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft
insbesondere Fragen der gerichtlichen Kontrolldichte bei der
telekommunikationsrechtlichen Marktregulierung nach dem
Zweiten Teil des Telekommunikationsgesetzes
(§§ 9 ff. TKG) durch die Bundesnetzagentur.
I.
2
1. Die Beschwerdeführerin betreibt ein
Mobiltelefonnetz. Die Präsidentenkammer der Bundesnetzagentur
legte Ende 2005 fest (vgl. Amtsblatt der Bundesnetzagentur
2006, S. 2429), dass unter anderem die
Beschwerdeführerin „auf den regulierungsbedürftigen
relevanten bundesweiten Märkten für Anrufzustellung in
einzelnen Mobiltelefonnetzen ... über beträchtliche
Marktmacht im Sinne des § 11 TKG“ verfügt. Auf dieser
Grundlage erließ eine Beschlusskammer der Bundesnetzagentur
am 29. August 2006 eine Regulierungsverfügung (Amtsblatt der
Bundesnetzagentur 2006, S. 2271), mit der sie
insbesondere der Beschwerdeführerin Zugangsverpflichtungen
nach § 21 TKG auferlegte sowie Entgelte der
Beschwerdeführerin für Zugangsleistungen gemäß § 30
Abs. 1 Satz 1 TKG der vorherigen Genehmigung nach
Maßgabe des § 31 TKG unterwarf.
3
2. Die Klage der Beschwerdeführerin gegen
die Regulierungsverfügung hatte teilweise Erfolg; das
Verwaltungsgericht Köln hob mit Urteil vom 8. März 2007
(1 K 3918/06, juris) die Anordnung auf, soweit sie die
Entgeltregulierung betraf.
4
3. Das Bundesverwaltungsgericht wies mit
Urteil vom 2. April 2008 (BVerwG 6 C 16.07, juris -
Parallelfall in BVerwGE 131, 41) die Klage der
Beschwerdeführerin insgesamt ab.
5
Das Bundesverwaltungsgericht ist der
Auffassung, dass die Regulierungsverfügung gerichtlich nur
eingeschränkt überprüfbar sei.
6
Der Bundesnetzagentur stehe „ein
Beurteilungsspielraum in Bezug auf die von ihr zu
verantwortende Marktdefinition und Marktanalyse“ (§§ 10
und 11 TKG) zu. Der Beurteilungsspielraum, den § 10
Abs. 2 Satz 2 TKG seinem Wortlaut nach ausdrücklich
einräume, erstrecke sich unter Berücksichtigung der
Gesetzessystematik und des Normzwecks auf die Marktdefinition
und Marktanalyse insgesamt. Höherrangiges Gemeinschaftsrecht
erlaube dies nicht nur, sondern gebiete ein solches
Normverständnis. Ein Widerspruch zu nationalem
Verfassungsrecht bestehe nicht. Daraus folge, dass das
Gericht die Überprüfung einer von der Bundesnetzagentur gemäß
§§ 10 und 11 TKG vorgenommenen Marktdefinition und
Marktanalyse darauf erstrecken, aber auch begrenzen müsse, ob
die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten
habe, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden
Gesetzesbegriffs ausgegangen sei, den erheblichen Sachverhalt
vollständig und zutreffend ermittelt habe und sich bei der
eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Wertungsmaßstäbe
gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt
habe.
7
Bei der Prüfung, ob die Zugangsverpflichtung
gerechtfertigt sei und in einem angemessenen Verhältnis zu
den Regulierungszielen nach § 2 Abs. 2 TKG stehe,
habe die Bundesnetzagentur einen sieben Punkte umfassenden
Katalog mit weiteren Abwägungsgesichtspunkten zu
berücksichtigen (§ 21 Abs. 1 Satz 2 TKG).
Diese umfassende, durch zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe
gesteuerte Abwägung könne von der Ermessensbetätigung der
Bundesnetzagentur nicht getrennt werden, sondern sei vielmehr
Bestandteil des ihr in Anlehnung an das Planungsermessen
eingeräumten Regulierungsermessens. Das Regulierungsermessen
werde fehlerhaft ausgeübt, wenn eine Abwägung überhaupt nicht
stattgefunden habe, in die Abwägung nicht an Belangen
eingestellt worden sei, was nach Lage der Dinge in sie habe
eingestellt werden müssen, die Bedeutung der betroffenen
Belange verkannt worden sei oder der Ausgleich zwischen ihnen
in einer Weise vorgenommen worden sei, der zur objektiven
Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis stehe.
8
Die Entscheidung, ob eine nachträgliche
Entgeltregulierung zur Erreichung der Regulierungsziele
ausreiche, sei von der Bundesnetzagentur (vgl. § 30
Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TKG) nach Maßgabe des ihr
eingeräumten, vom Gericht auf Abwägungsfehler zu
überprüfenden Regulierungsermessens zu entscheiden.
9
Auf der Grundlage dieser Maßstäbe sei die
Regulierungsverfügung rechtlich nicht zu beanstanden.
II.
10
Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer
Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihrer Rechte aus
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 12
Abs. 1 GG. Sie beanstandet, die vom
Bundesverwaltungsgericht angelegten Maßstäbe der
gerichtlichen Kontrolle, insbesondere bei der Marktdefinition
und Marktanalyse nach §§ 10 und 11 TKG, sowie die
Überprüfung der Regulierungsverfügung im konkreten Fall
genügten nicht der verfassungsrechtlichen Garantie effektiven
Rechtsschutzes.
11
Darüber hinaus habe das
Bundesverwaltungsgericht auch auf unverhältnismäßige Weise in
ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit eingegriffen.
III.
12
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen des § 93a
Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.
13
1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine
grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (vgl.
§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG).
Insbesondere sind die verfassungsrechtliche Zulässigkeit und
Grenzen der Einräumung behördlicher Letztentscheidungsrechte
in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt
(vgl. jüngst BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 31. Mai
2011 - 1 BvR 857/07 -, NVwZ 2011, S. 1062
<1064 f.> m.w.N.). Neue Fragen grundsätzlicher
verfassungsrechtlicher Bedeutung werden in diesem
Zusammenhang nicht aufgeworfen.
14
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde
zur Entscheidung ist auch nicht zur Durchsetzung der
Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt (vgl. § 93a
Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Eine Verletzung der
Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 19
Abs. 4 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 GG,
jeweils in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG, lässt
sich nicht feststellen. Insbesondere verstößt das
Bundesverwaltungsgericht nicht dadurch gegen Art. 19
Abs. 4 Satz 1 GG, dass es bei der Kontrolle der
angegriffenen Regulierungsverfügung von einem gerichtlich nur
eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum der
Bundesnetzagentur bei der Marktdefinition und Marktanalyse
nach §§ 10 und 11 TKG ausgeht.
15
a) Soweit das Bundesverwaltungsgericht
- wie von der Verfassungsbeschwerde in erster Linie
angegriffen - einen Beurteilungsspielraum der
Bundesnetzagentur bei der Marktdefinition und Marktanalyse
annimmt, scheidet eine verfassungsgerichtliche Überprüfung
des bundesverwaltungsgerichtlichen Standpunkts am Maßstab des
Art. 19 Abs. 4 und des Art. 12 Abs. 1 GG
nicht deshalb aus, weil dieser behördliche Spielraum
womöglich durch Unionsrecht zwingend vorgegeben ist.
16
Das Bundesverwaltungsgericht ist allerdings
der Auffassung, dass „höherrangiges Gemeinschaftsrecht“ die
Einräumung eines Beurteilungsspielraums der Bundesnetzagentur
bei der Marktdefinition und -analyse nicht nur erlaubt,
sondern sogar „gebietet“ (BVerwG, a.a.O. Rn. 17 ff.
unter Bezugnahme auf verschiedene Bestimmungen der Richtlinie
2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7.
März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für
elektronische Kommunikationsnetze und -dienste
<Rahmenrichtlinie - RRL>, ABl. EG 2002
Nr. L 108, S. 33, mit späteren
Änderungen).
17
Es kann hier dahinstehen, ob die
Richtlinienbestimmungen so, wie vom Bundesverwaltungsgericht
angenommen, auszulegen sind, weil der von ihm den
einschlägigen Bestimmungen des Telekommunikationsgesetzes
entnommene Beurteilungsspielraum mit Art. 19 Abs. 4
Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 GG in Einklang steht
(zu einer entsprechenden Argumentation vgl. BVerfGE 125, 260
<306 f.>). Deshalb bedarf es auch nicht der
Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim
Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV (vgl. dazu
BVerfGE 125, 260 <308>) zur Klärung der Frage, ob dem
nationalen Gesetzgeber insoweit ein Umsetzungsspielraum
verblieben ist.
18
b) Das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin
nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4
Satz 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3
GG.
19
aa) Das Bundesverfassungsgericht hat in
seinem Beschluss vom 31. Mai 2011 (- 1 BvR
857/07 -, juris) unter Zusammenfassung und
Weiterentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung zu den
verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen wirksamen
Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG,
insbesondere auch im Hinblick auf die Zulässigkeit und die
verfassungsrechtlichen Grenzen behördlicher
Letztentscheidungsrechte, ausgeführt:
20
(1) Das Grundrecht des Art. 19
Abs. 4 Satz 1 GG garantiert jedem den Rechtsweg,
der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen
Rechten verletzt zu sein. Damit wird sowohl der Zugang zu den
Gerichten als auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes
gewährleistet. Der Bürger hat einen Anspruch auf eine
möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von
der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen (vgl.
BVerfGE 40, 272 <275>; 113, 273 <310>). Aus der
Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt grundsätzlich die
Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in
rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig
nachzuprüfen. Das schließt eine Bindung der rechtsprechenden
Gewalt an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen und
Wertungen seitens anderer Gewalten hinsichtlich dessen, was
im Einzelfall rechtens ist, im Grundsatz aus (vgl. BVerfGE
15, 275 <282>; 61, 82 <110 f.>; 84, 34
<49>; 84, 59 <77>; 101, 106 <123>; 103, 142
<156>; BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011, a.a.O. Rn.
68).
21
Die materiell geschützte Rechtsposition ergibt
sich allerdings nicht aus Art. 19 Abs. 4
Satz 1 GG selbst, sondern wird darin vorausgesetzt (vgl.
BVerfGE 61, 82 <110>; 78, 214 <226>; 83, 182
<194 f.>; 84, 34 <49>; stRspr). Neben den
verfassungsmäßigen Rechten bestimmt das einfache Recht,
welche Rechte der Einzelne geltend machen kann. Der
Gesetzgeber befindet unter Beachtung der Grundrechte darüber,
unter welchen Voraussetzungen dem Bürger ein Recht zustehen
und welchen Inhalt es haben soll (vgl. BVerfGE 78, 214
<226>; 83, 182 <195>; 113, 273 <310>; 116,
1 <11 f.>; BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011,
a.a.O. Rn. 69).
22
Beruht die angefochtene Entscheidung auf der
Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, so ist deren
Konkretisierung grundsätzlich Sache der Gerichte, die die
Rechtsanwendung der Verwaltungsbehörden uneingeschränkt
nachzuprüfen haben. Die Regeln über die eingeschränkte
Kontrolle des Verwaltungsermessens gelten nicht ohne weiteres
auch für die Auslegung und Anwendung unbestimmter
Rechtsbegriffe (vgl. BVerfGE 7, 129 <154>; 64, 261
<279>; 84, 34 <49 f.>). Dies schließt nicht
aus, dass bei der Kontrolle der Verwaltung deren
Eigenverantwortung Rechnung getragen und die gerichtliche
Kontrolle - wie etwa im Planungsrecht - als eine
nachvollziehende Kontrolle ausgestaltet wird (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 31. Mai 2011, a.a.O. Rn. 70).
23
(2) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes
schließt nicht aus, dass durch den Gesetzgeber eröffnete
Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume sowie die
Tatbestandswirkung von Exekutivakten die Durchführung der
Rechtskontrolle durch die Gerichte einschränken (vgl. BVerfGE
15, 275 <282>; 61, 82 <111>; 84, 34
<50 ff.>; 88, 40 <56>; 103, 142 <157>;
113, 273 <310>). Gerichtliche Kontrolle endet dort, wo
das materielle Recht in verfassungsrechtlich unbedenklicher
Weise das Entscheidungsverhalten nicht vollständig
determiniert und der Verwaltung einen Einschätzungs- und
Auswahlspielraum belässt (vgl. BVerfGE 88, 40 <61>;
103, 142 <156 f.>; 116, 1 <18>).
24
Ob dies der Fall ist, muss sich ausdrücklich
aus dem Gesetz ergeben oder durch Auslegung hinreichend
deutlich zu ermitteln sein. Demgegenüber kann es weder der
Verwaltung noch den Gerichten überlassen werden, ohne
gesetzliche Grundlage durch die Annahme behördlicher
Letztentscheidungsrechte die Grenzen zwischen Gesetzesbindung
und grundsätzlich umfassender Rechtskontrolle der Verwaltung
zu verschieben. Andernfalls könnten diese „in eigener Sache“
die grundgesetzliche Rollenverteilung zwischen Exekutive und
Judikative verändern. Nimmt ein Gericht ein behördliches
Letztentscheidungsrecht an, das mangels gesetzlicher
Grundlage nicht besteht, und unterlässt es deshalb die
vollständige Prüfung der Behördenentscheidung auf ihre
Gesetzmäßigkeit, steht dies nicht nur in Widerspruch zur
Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3,
Art. 97 Abs. 1 GG), sondern verletzt vor allem auch
das Versprechen wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19
Abs. 4 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.
Mai 2011, a.a.O. Rn. 73 f.).
25
Auch der Gesetzgeber ist nicht frei in der
Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse. Zwar
liegt es grundsätzlich in seiner Hand, den Umfang und Gehalt
der subjektiven Rechte der Bürger zu definieren und so mit
entsprechenden Folgen für den Umfang der gerichtlichen
Kontrolle auch deren Rechtsstellung gegenüber der Verwaltung
differenziert auszugestalten. Allerdings ist er hierbei durch
die Grundrechte sowie durch das Rechtsstaats- und das
Demokratieprinzip und die hieraus folgenden Grundsätze der
Bestimmtheit und Normenklarheit gebunden. Will er im Übrigen
gegenüber von ihm anerkannten subjektiven Rechten die
gerichtliche Kontrolle zurücknehmen, hat er zu
berücksichtigen, dass im gewaltenteilenden Staat
grundgesetzlicher Prägung die letztverbindliche Normauslegung
und auch die Kontrolle der Rechtsanwendung im Einzelfall
grundsätzlich den Gerichten vorbehalten ist. Deren durch
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierte
Effektivität darf auch der Gesetzgeber nicht durch zu
zahlreiche oder weitgreifende Beurteilungsspielräume für
ganze Sachbereiche oder gar Rechtsgebiete aushebeln. Die
Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle
bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz
eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds
(vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011, a.a.O.
Rn. 75).
26
Wie im Beschluss des Ersten Senats vom 31. Mai
2011 kann auch hier offen bleiben, ob gerichtlich nur
eingeschränkt nachprüfbare Entscheidungsspielräume der
Verwaltung ausnahmsweise auch ohne gesetzliche Grundlage von
Verfassungs wegen dann zulässig sind, wenn eine weitergehende
gerichtliche Kontrolle zweifelsfrei an die Funktionsgrenzen
der Rechtsprechung stieße (so offenbar in den Prüfungsfällen
vgl. BVerfGE 84, 34 <50>; 84, 59 <77 f.>).
Eine solche Konstellation liegt hier offensichtlich nicht
vor.
27
bb) Bei Anwendung dieser Vorgaben ist die
Annahme eines Marktdefinition und -analyse umfassenden
Beurteilungsspielraums der Bundesnetzagentur durch das
Bundesverwaltungsgericht gemessen am Maßstab der
Rechtsschutzgarantie verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden.
28
(a) Das Bundesverwaltungsgericht ist der
Auffassung, dass der in § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG
der Bundesnetzagentur ausdrücklich für die Bestimmung der
Märkte zugebilligte Beurteilungsspielraum sich „auf die
Marktdefinition und -analyse insgesamt“ erstreckt.
29
Ob die §§ 10,11 TKG einen
Beurteilungsspielraum dieses Umfangs normativ einräumen, ist
zunächst eine Frage der Auslegung des einfachen Rechts, die
den Fachgerichten vorbehalten und vom
Bundesverfassungsgericht nur auf die Verletzung spezifischen
Verfassungsrechts zu überprüfen ist (vgl. BVerfGE 18, 85
<92 f.>; stRspr).
30
Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der
Annahme des Beurteilungsspielraums in Auslegung der
§§ 10, 11 TKG die verfassungsrechtlichen Grenzen
eingehalten, insbesondere weder die Bedeutung des
Art. 19 Abs. 4 GG noch des Art. 12 Abs. 1
GG verkannt und die Bestimmungen auch willkürfrei
interpretiert.
31
(b) Das Bundesverwaltungsgericht
verwendet bei seiner Auslegung der §§ 10, 11 TKG im
Hinblick auf die Reichweite des Beurteilungsspielraums der
Bundesnetzagentur die anerkannten Auslegungsmethoden. Es
verweist ausdrücklich auf die Gesetzessystematik und den
Normzweck und berücksichtigt den unionsrechtlichen
Hintergrund der Bestimmungen (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn.
14 ff.).
32
Nach § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG
werden „diese Märkte“ von der Bundesnetzagentur im Rahmen des
ihr zustehenden Beurteilungsspielraums bestimmt. „Diese
Märkte“ sind nach der Gesetzessystematik die für eine
Regulierung nach Teil 2 in Betracht kommenden Märkte (vgl.
§ 10 Abs. 2 Satz 1 TKG). Dass ein Markt für
eine Regulierung in Betracht kommt, ist, worauf das
Bundesverwaltungsgericht abstellt, tatbestandliche
Voraussetzung einer Marktfestlegung nach § 10
Abs. 1 TKG. Die Festlegung des relevanten Marktes
erfolgt dementsprechend nicht vor Anwendung des sogenannten
Drei-Kriterien-Tests des § 10 Abs. 2 Satz 1
TKG. Angesichts dessen ist es jedenfalls vertretbar
anzunehmen, dass sich der normativ vorgesehene
Beurteilungsspielraum nicht nur auf das Vorliegen der in
§ 10 Abs. 2 Satz 1 TKG genannten Kriterien,
sondern auch - jedenfalls teilweise - auf die Marktfestlegung
nach § 10 Abs. 1 TKG erstreckt (vgl. etwa Schoch,
in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des
Verwaltungsrechts, Band III, § 50 Rn. 292). Ohnehin
hat die Festlegung der sachlich und räumlich relevanten
Märkte ihrerseits im Hinblick auf die Beurteilung der
Regulierungsbedürftigkeit zu erfolgen (vgl. etwa Schütz, in:
Beck'scher TKG-Kommentar, 3. Aufl. 2006, § 10
Rn. 110).
33
Von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist
auch, dass das Bundesverwaltungsgericht aus der
gesetzessystematisch engen Verknüpfung von Marktdefinition
und Marktbewertung nach § 10 Abs. 1 und 2 TKG auf
der einen und Marktanalyse nach § 11 TKG auf der anderen
Seite auf einen einheitlichen Beurteilungsspielraum für all
diese Vorgänge schließt.
34
§ 11 Abs. 1 Satz 1 TKG knüpft
schon in seinem Wortlaut, auf den das
Bundesverwaltungsgericht besonders hinweist, ausdrücklich an
§ 10 TKG an. Gesetzeswortlaut und Gesetzessystematik
lassen sich allerdings keine Gründe dafür entnehmen, weshalb
gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 TKG die Prüfung, ob
auf dem untersuchten Markt wirksamer Wettbewerb besteht, „im
Rahmen der Festlegung der nach § 10 für eine Regulierung
nach diesem Teil in Betracht kommenden Märkte“ erfolgen soll.
Auch der Blick auf die Entstehungsgeschichte erschließt dies
nicht ohne weiteres. Danach geht die Formulierung auf den
Referentenentwurf zum TKG 2004 zurück; dieser sah - anders
als der nachfolgende Gesetzentwurf der Bundesregierung
(BTDrucks 15/2316) - vor, dass bereits die
Marktabgrenzung über die Regulierungsbedürftigkeit
entscheidet (und nicht nur darüber, ob der Markt für eine
Regulierung in Betracht kommt). Trotz Änderung der
Regelungssystematik blieb der Wortlaut der Bestimmung
insoweit unverändert, weshalb aus ihm wohl keine
weitergehenden Rückschlüsse auf die hinter dieser Verknüpfung
stehende gesetzgeberische Zwecksetzung gezogen werden dürfen.
Es besteht im Übrigen (weitgehend) Einigkeit, dass die von
der Bundesnetzagentur geforderte Marktanalyse im Anschluss an
die Marktdefinition zu bewältigen ist (vgl. etwa Schneider,
in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 8
Rn. 21, 24).
35
Gleichwohl lassen sich der
Entstehungsgeschichte Anhaltspunkte für die vom
Bundesverwaltungsgericht angenommene Reichweite des
Beurteilungsspielraums entnehmen. Im Hinblick auf den
Beurteilungsspielraum heißt es in dem erwähnten
Referentenentwurf: „Welche Märkte die RegTP aufgrund des
Fehlens funktionsfähigen Wettbewerbs als
regulierungsbedürftig erachtet, unterliegt ihrem
Beurteilungsspielraum und ist daher gerichtlich nur
eingeschränkt überprüfbar.“ Diese Formulierung findet sich
sodann wörtlich im Gesetzentwurf der Bundesregierung (vgl.
BTDrucks 15/2316, S. 61), obwohl er bereits die
Marktdefinition und die Marktanalyse als eigenständige
Verfahrensschritte vorsieht. Das trägt durchaus den Schluss,
dass die Verfasser des Gesetzentwurfs von einer erheblichen
Reichweite des Beurteilungsspielraums ausgingen. Im weiteren
Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens hat diese Frage
ausweislich der veröffentlichen Materialien (vgl.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
vom 10. März 2004 <BTDrucks 15/2674>, Bericht des
Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit vom 10. März 2004
<BTDrucks 15/2679> und Plenarprotokoll 15/98,
S. 8763 ff.) keine besondere Rolle gespielt.
36
Die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts
kann sich schließlich auch darauf stützen, dass bei
Verabschiedung des Telekommunikationsgesetzes 2004 im
Frühjahr 2004 die „Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse
und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht nach dem gemeinsamen
Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und
-dienste“ bereits seit Längerem vorlagen und diese Leitlinien
in Nr. 22, worauf das Bundesverwaltungsgericht zu Recht
hinweist, davon ausgehen, dass - gemeinschaftsrechtlich
geboten - der nationalen Regulierungsbehörde bei der
Marktdefinition und der Marktanalyse ein „weitreichender
Ermessensspielraum“ - nach deutschem Verwaltungsrecht
ein „weitreichender Beurteilungsspielraum“ - zusteht. Es
ist davon auszugehen, dass der nationale Gesetzgeber das
Telekommunikationsgesetz nicht, jedenfalls nicht ohne
entsprechende Begründung, im Widerspruch zu der in den
Leitlinien geäußerten Auffassungen der Kommission
ausgestalten wollte.
37
(c) Für die Reduzierung der gerichtlichen
Kontrolldichte durch den Gesetzgeber bestehen tragfähige
Sachgründe (zu dieser Voraussetzung vgl. BVerfG, Beschluss
vom 31. Mai 2011, a.a.O. Rn. 75).
38
Die in § 10 Abs. 2 Satz 1 TKG
genannten Kriterien zur Bestimmung der für eine Regulierung
in Betracht kommenden Märkte („beträchtliche und anhaltende
strukturell oder rechtlich bedingte Marktzutrittsschranken“,
„längerfristig nicht zu wirksamem Wettbewerb tendieren“ und
„Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts allein nicht
ausreicht“) enthalten, insbesondere im zweiten und dritten
Kriterium, sowohl wertende als auch prognostische Elemente,
welche die Charakterisierung einer Annahme als „richtig“ oder
„falsch“ nicht bezüglich aller Einzelheiten zulassen (vgl.
etwa Ellinghaus, CR 2009, S. 87 <89>), weil sie
vor allem wesentlich von ökonomischen Einschätzungen
abhängen. Ähnliches gilt für die Beantwortung der Frage, ob
auf dem untersuchten Markt wirksamer Wettbewerb besteht
(§ 11 Abs. 1 TKG), zumal sie in engem Zusammenhang
mit der Frage steht, ob dieser Markt längerfristig nicht zu
wirksamem Wettbewerb tendiert (§ 10 Abs. 2
Satz 1 TKG). Die erkennbaren Schwierigkeiten einer
gerichtlichen Vollkontrolle dieser Tatbestandsmerkmale durfte
der Gesetzgeber zum Anlass nehmen, der Bundesnetzagentur im
Rahmen des ihm insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums
einen entsprechenden Beurteilungsspielraum einzuräumen.
39
(d) Schließlich ist nicht erkennbar, dass
das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Verständnis des der
Bundesnetzagentur eingeräumten Beurteilungsspielraums den
§§ 10, 11 TKG eine Deutung gibt, die den in Art. 19
Abs. 4 GG generell und damit grundsätzlich auch für den
Bereich der Marktregulierung nach dem zweiten Teil des
Telekommunikationsgesetzes vorausgesetzten wirksamen
Rechtsschutz durch die Gerichte aushebelt (zu diesem
verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab vgl. wiederum BVerfG,
Beschluss des Ersten Senats vom 31. Mai 2011, a.a.O. Rn.
75).
40
Das Bundesverwaltungsgericht hat die
Reichweite des Beurteilungsspielraums in §§ 10, 11 TKG
so interpretiert, dass die Fachgerichte die Überprüfung einer
von der Bundesnetzagentur vorgenommenen Marktdefinition und
-analyse darauf zu erstrecken, aber auch zu begrenzen haben,
ob die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen
eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des
anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den
erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt
hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an
allgemeingültige Wertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das
Willkürverbot nicht verletzt hat. Ein solches Verständnis der
gesetzlichen Regelung belässt den Fachgerichten genügend
Möglichkeiten aber in diesem Rahmen auch die Pflicht zu einer
substantiellen Kontrolle des behördlichen Handelns. Ein
generelles Rechtsschutzdefizit, das mit der
Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht
vereinbar wäre, ist vor dem Hintergrund des von vornherein
durch eine Beurteilungsermächtigung gekennzeichneten Inhalts
des subjektiven Rechts danach nicht erkennbar.
41
Im Ergebnis versteht das
Bundesverwaltungsgericht vielmehr die subjektive
Rechtsstellung der auf dem Telekommunikationsmarkt tätigen
Unternehmen bezüglich ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten als
durch einen - gesetzlich näher präzisierten -
Regulierungsvorbehalt inhaltlich beschränkt; es stellt in
diesem Sinne auch ausdrücklich auf Grenzen der
materiellrechtlichen Bindung der Exekutive ab (vgl. BVerwG,
a.a.O. Rn. 20). Hinsichtlich der streitgegenständlichen
Regulierungsentscheidungen haben danach die
Telekommunikationsunternehmen, wie hier die
Beschwerdeführerin, materiell nur Anspruch auf eine
Regulierungsentscheidung, die sich in dem vom
Bundesverwaltungsgericht dem Gesetz entnommenen
Überprüfungsrahmen hält.
42
cc) Eine Verletzung von Art. 19
Abs. 4 GG ist auch nicht erkennbar in der konkreten
Kontrolle des angegriffenen Beschlusses der Bundesnetzagentur
durch das Bundesverwaltungsgericht (ungeachtet der Beachtung
des Beurteilungsspielraums auf der Tatbestandsseite und eines
planungsähnlichen Ermessens auf der Rechtsfolgenseite der
Regulierung). Das Urteil belegt im Gegenteil, dass trotz
dieser Einschränkungen der gerichtlichen Überprüfungsbefugnis
in deren Handhabung durch das Bundesverwaltungsgericht ein
ausreichendes Maß substantieller gerichtlicher Kontrolle
verbleibt, die sowohl Art. 19 Abs. 4 GG als auch
Art. 12 Abs. 1 GG (dazu sogleich unter c) genügt,
der die Ausgestaltung der subjektiven Rechtsposition der
Marktteilnehmer anleitet.
43
Das Bundesverwaltungsgericht überprüft die von
der Bundesnetzagentur unter weitestgehender Berücksichtigung
der Empfehlung der Europäischen Kommission vorgenommene
Marktdefinition und -analyse konsequent anhand der von ihm
umschriebenen Kontrollparameter für den behördlichen
Beurteilungsspielraum (a.a.O. Rn. 22-37), ohne dass die
Subsumtion Anlass zu durchgreifenden verfassungsrechtlichen
Einwänden gäbe. Dabei übernehmen weder Bundesnetzagentur noch
das Bundesverwaltungsgericht die Märkteempfehlung der
Kommission ungeprüft. Das Bundesverwaltungsgericht misst ihr
auch keine originäre Rechtsverbindlichkeit bei (a.a.O.
Rn. 24), sondern behandelt sie unter Berufung auf
Art. 15 Abs. 1, 3 RRL und § 10 Abs. 2
Satz 3 TKG als gesetzliche Vermutung (a.a.O.
Rn. 25), deren Berechtigung im konkreten Fall es auch
inhaltlich nachgeht (a.a.O. Rn. 27 ff.). Das steht
im rechtlichen Ansatz wie in der Durchführung mit
Art. 19 Abs. 4 GG in Einklang; eine höhere
gerichtliche Kontrolldichte ist angesichts der normativen
Einräumung eines Beurteilungsspielraums von Verfassungs wegen
insoweit nicht geboten.
44
c) Weder die angegriffenen Entscheidungen noch
die zugrunde liegende Rechtslage verletzen die
Beschwerdeführerin in Art. 12 Abs. 1 GG.
45
aa) Das Freiheitsrecht des Art. 12
Abs. 1 GG schützt das berufsbezogene Verhalten einzelner
Personen oder Unternehmen am Markt (vgl. BVerfGE 115, 205
<229> m.w.N.). Erfolgt die unternehmerische
Berufstätigkeit nach den Grundsätzen des Wettbewerbs, wird
die Reichweite des Freiheitsschutzes auch durch die
rechtlichen Regeln mitbestimmt, die den Wettbewerb
ermöglichen und begrenzen. Art. 12 Abs. 1 GG
sichert in diesem Rahmen die Teilhabe am Wettbewerb nach
Maßgabe seiner Funktionsbedingungen (vgl. BVerfGE 105, 252
<265>). Dabei schließt die Garantie der freien
Berufsausübung auch die Freiheit ein, das Entgelt für
berufliche Leistungen mit dem Interessenten auszuhandeln
(vgl. BVerfGE 121, 317 <345>).
46
bb) Die Auferlegung der
Regulierungsverpflichtungen durch die Bundesnetzagentur und
die Bestätigung ihrer Rechtmäßigkeit durch die Gerichte
greifen damit in die Berufsausübungsfreiheit der
Beschwerdeführerin ein. Der Eingriff ist auch von erheblichem
Gewicht. Denn der Beschwerdeführerin wird insbesondere ein
Kontrahierungszwang auferlegt und die Freiheit genommen,
Entgelte für Zugangsleistungen nach ihren Vorstellungen zu
fordern.
47
Dieser Eingriff ist jedoch gerechtfertigt. Die
Regulierung der Telekommunikationsmärkte nach dem 2. Teil des
Telekommunikationsgesetzes verfolgt insbesondere mit dem
Schutz der Verbraucherinteressen und der Sicherstellung
chancengleichen Wettbewerbs (vgl. §§ 1, 2 Abs. 2
TKG) gewichtige Gemeinwohlziele und erweist sich im Falle der
hier angegriffenen Regulierungsverfügung als
verhältnismäßig.
48
Es ist - nicht zuletzt mit Blick auf die
Entstehungsgeschichte der einschlägigen Bestimmungen des
Telekommunikationsgesetzes (vgl. BTDrucks 15/2316,
S. 1, 68) - nicht zweifelhaft, dass der Gesetzgeber das
Regulierungsinstrumentarium auch auf die Mobilfunkmärkte
erstrecken wollte, obwohl ein staatliches Monopol im
Mobilfunkbereich nicht bestanden hatte. Dies ist von
Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Dem Gesetz liegt die
Vorstellung zugrunde, dass im Telekommunikationssektor
insgesamt und nicht nur in ehemaligen Monopolbereichen die
Gefahr unzureichender Marktverhältnisse besteht, der nicht
allein mit den Mitteln des allgemeinen Wettbewerbsrechts
begegnet werden kann. Angesichts des dem Gesetzgeber
zukommenden weiten Einschätzungsspielraums bei der Frage, ob
bestimmte Marktbereiche generell einem Regulierungsregime
unterworfen werden sollen, besteht kein Anlass zu Zweifeln an
der Verfassungsmäßigkeit des nicht auf ehemals monopolistisch
strukturierte Märkte beschränkten Anwendungsbereichs des
Teils 2 des Telekommunikationsgesetzes, zumal konkrete
Regulierungsmaßnahmen vorab die spezifische Marktdefinition
und Marktanalyse nach den §§ 10, 11 TKG durch die
Bundesnetzagentur voraussetzen und ihrerseits jeweils an
strenge Tatbestandsvoraussetzungen gebunden sind.
49
Es ist nicht erkennbar, dass die angegriffene
Regulierungsverfügung selbst die Beschwerdeführerin
unverhältnismäßig in ihrer Berufsausübungsfreiheit trifft.
Ihr Interesse an freier unternehmerischer Betätigung wird
durch die Zusammenschaltungs-, Terminierungs- und
Kollokationsverpflichtungen nicht übermäßig eingeschränkt,
zumal auch sie selbst ein Interesse an der umfassenden
Erreichbarkeit ihrer eigenen Mobilfunkkunden haben wird. Die
finanziellen Folgen der Verfügung - insbesondere der
Genehmigungspflicht für die Entgelte der Zugangsgewährung und
Kollokation - erscheinen nicht unangemessen. Namentlich
wird der Beschwerdeführerin angesichts des Maßstabs der
Kosten der effizienten Leistungserbringung nach § 31
Abs. 1 TKG kein finanzielles Sonderopfer zugunsten der
Allgemeinheit auferlegt. Ihr wird lediglich ein
möglicherweise lukratives Geschäft zulasten der Kunden der
anderen Mobilfunknetz- sowie der Festnetzbetreiber unmöglich
gemacht.
50
Von einer weiteren Begründung wird nach
§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
51
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Eichberger
Masing | bundesverfassungsgericht |
56-2009 | 4. Juni 2009 | Verfassungsbeschwerde gegen Ablehnung eines Antrags auf Rehabilitierung erfolgreich
Pressemitteilung Nr. 56/2009 vom 4. Juni 2009
Beschluss vom 13. Mai 20092 BvR 718/08
Der 1955 geborene Beschwerdeführer befand sich von 1961 bis 1967 in Heimerziehung und anschließend zwangsweise bis Januar 1972 in verschiedenen Einrichtungen in der ehemaligen DDR. Der Beschwerdeführer beantragte in einem gesonderten Verfahren seine Rehabilitierung wegen der Unterbringung in zwei Jugendwerkhöfen, die ihm mit Beschluss des Kammergerichts Berlin vom 15. Dezember 2004 nur im Hinblick auf eine Heimunterbringung gewährt wurde. Im Dezember 2006 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht Magdeburg seine Rehabilitierung in Bezug auf die übrige Unterbringung in Kinderheimen der DDR; der Antrag wurde vom Landgericht Magdeburg zurückgewiesen. Begründet wurde die Zurückweisung u.a. mit der örtlichen Unzuständigkeit, aber auch damit, dass eine Freiheitsentziehung nach § 2 StrRehaG bei Kinderheimen und sonstigen Einrichtungen der Jugendhilfe der DDR ohne Strafcharakter in der Regel nicht vorgelegen habe. Im Übrigen sei nicht ersichtlich, dass die Einweisung in ein Kinderheim unter Zugrundelegung des Standes der pädagogischen Wissenschaften im Jahr 1961 mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sei. Es fänden sich keine Hinweise für politische Verfolgung. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht Naumburg zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde die Verletzung seiner Menschenwürde nach Art. 1 GG sowie seines Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 GG und des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 GG im Hinblick auf die ihm widerfahrene Behandlung in den verschiedenen Heimen.
Die 2. Kammer des Zweiten Senats hat den Beschluss aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Naumburg zurückverwiesen, weil die Entscheidung den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot verletzt. Die durch das Oberlandesgericht vorgenommene enge Auslegung, nur Maßnahmen, die durch eine strafrechtlich relevante Tat veranlasst worden seien, können nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz rehabilitiert werden, hält verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht stand. Diese Auslegung des § 2 StrRehaG ist sinnwidrig und führt im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung in § 1 Abs. 1 StrRehaG auch über den Wortlaut des Gesetzes hinaus zu einer unzulässigen Beschränkung der Rehabilitierung von Freiheitsentziehungen auf Fälle, denen eine von der DDR-Justiz als strafrechtlich relevant eingeordnete Tat zugrunde gelegen hat. Mit dieser Auslegung wird die gesetzgeberische Absicht zunichte gemacht, Freiheitsentziehungen auch außerhalb eines Strafverfahrens und über Einweisungen in psychiatrische Anstalten hinaus, rehabilitierungsfähig zu machen. Der Anwendungsbereich des Gesetzes wird dadurch in nicht vertretbarer, d em gesetzgeberischen Willen entgegenstehender, Weise verengt. Es handelt sich um eine krasse Missdeutung des Inhalts der Norm, die auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 718/08 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn W …
gegen
den Beschluss des
Oberlandesgerichts Naumburg
vom 10. März 2008 - 1 Ws Reh 131/08 –
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Broß,
Di Fabio
und Landau
am 13. Mai 2009 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg
vom 10. März 2008 - 1 Ws Reh 131/08 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1
des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die
Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer seine
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen
die Ablehnung eines Antrags auf Rehabilitierung wegen der
Unterbringung in Kinderheimen und anderen Einrichtungen der
Jugendhilfe der DDR.
I.
2
1. Der 1955 geborene Beschwerdeführer wurde im
Jahr 1961 nach der Scheidung seiner Eltern in das Kinderheim
„E. W.“ nach M. verbracht. In der Folgezeit war er bis 1966
weiterhin in dem Kinderheim „W. T.“ in B. bei B., einem
weiteren Kinderheim in A. bei M. und schließlich im
Kinderheim O. B. untergebracht. Im Jahr 1966 wurde er aus der
Heimerziehung entlassen, 1967 jedoch zwangsweise in das
Kombinat der Sonderheime der DDR verbracht. Bis 1970 war der
Beschwerdeführer im Kombinat der Sonderheime zunächst in W.
in B. und anschließend in B. bei B. untergebracht, bevor er
am 8. Juli 1970 in den Jugendwerkhof H. und von dort
vorübergehend zwischen dem 17. September 1971 und dem 31.
Januar 1972 in den Geschlossenen Jugendwerkhof T. verbracht
wurde. In einem Bericht des Jugendwerkhofs H. vom 21.
September 1971 werden als Grund für die Einweisung in das
Kombinat der Sonderheime 1967/68 sich verfestigende
Fehlverhaltensweisen wie Rohheitsdelikte gegenüber Kindern,
Wutausbrüche und Sachbeschädigungen genannt.
3
2. In einem gesonderten Verfahren beantragte
der Beschwerdeführer seine Rehabilitierung wegen der
Unterbringung in den Jugendwerkhöfen H. und T., die ihm mit
Beschluss des Kammergerichts Berlin vom 15. Dezember 2004 in
Bezug auf den Geschlossenen Jugendwerkhof T. gewährt, im
Übrigen jedoch vom Brandenburgischen Oberlandesgericht
verwehrt wurde.
4
3. Am 6. Dezember 2006 beantragte der
Beschwerdeführer beim Landgericht Magdeburg seine
Rehabilitierung in Bezug auf die übrige Unterbringung in
Kinderheimen der DDR. Durch die ständige Verlegung von einem
Heim ins andere sei es bei ihm zu einer Zerstörung von
Privatsphäre und völliger Kontaktlosigkeit gekommen, die
seelische und körperliche Schäden hinterlassen hätten. Bei
der Entlassung aus der Heimerziehung im Jahr 1966 im Alter
von elf Jahren sei der Beschwerdeführer mit normalen Kindern
nicht mehr vergleichbar gewesen. Das Kombinat der
Sonderheime, in das er 1967 verbracht worden sei, stelle eine
absolute Sondereinrichtung unter den Heimen der DDR dar. Die
Unterbringung komme gezielter Freiheitsentziehung gleich, da
unter anderem Türen und Fenster vergittert gewesen seien und
es vielfältige Misshandlungen wie Arrest, Essensentzug,
stundenlanges Stehen, auch barfuß und nur mit Unterwäsche
bekleidet, Schlafentzug und körperliche Übergriffe gegeben
habe. Auch sei er gezwungen worden, Tabletten
einzunehmen.
5
4. Mit Beschluss vom 21. Dezember 2007 wies
das Landgericht Magdeburg den Antrag des Beschwerdeführers
zurück. Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts sei
zweifelhaft, da es auf den Sitz der Behörde ankomme, die die
Anordnung zur Aufnahme in ein Kinderheim oder eine
Einrichtung der Jugendhilfe getroffen habe. Danach ergebe
sich die Zuständigkeit des Landgerichts Magdeburg
wahrscheinlich nur für die Kinderheime „E. W.“ in M. und „W.
T.“ in B. bei B. Im Übrigen sei der Antrag des Betroffenen
aber auch unbegründet. Nachforschungen beim Landkreis J. L.
(B.), beim Landesverwaltungsamt - Landesjugendamt - des
Landes Sachsen-Anhalt, bei der Stiftung Evangelische
Jugendhilfe St. J. B. und bei der Landeshauptstadt Magdeburg
hätten keinerlei Akten hinsichtlich des Beschwerdeführers
zutage gefördert. Auch unter Zugrundelegung des Vorbringens
des Beschwerdeführers komme eine Rehabilitierung nicht in
Betracht; denn eine Freiheitsentziehung nach § 2
StrRehaG habe bei Kinderheimen und sonstigen Einrichtungen
der Jugendhilfe der DDR ohne Strafcharakter in der Regel
nicht vorgelegen. Etwas anderes gelte lediglich für den
Jugendwerkhof T. Im Übrigen sei nicht ersichtlich, dass die
Einweisung in ein Kinderheim unter Zugrundelegung des Standes
der pädagogischen Wissenschaften im Jahr 1961 mit
wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen
rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sei. Es fänden
sich keine Hinweise für politische Verfolgung.
6
5. In seiner dagegen gerichteten Beschwerde
vom 22. Januar 2008 trug der Beschwerdeführer über den
Rehabilitierungsantrag hinaus vor, dass er während der Ehe
seiner Eltern massiven Gewaltexzessen des häufig betrunkenen
Vaters ausgesetzt gewesen sei. Nach der Scheidung sei er ein
Jahr zu früh eingeschult worden und damit überfordert
gewesen. Durch die Einweisung in das Kinderheim sei er
zusätzlich traumatisiert worden. Eine individuelle
Persönlichkeitsbildung sei nicht möglich gewesen. Im Heim
habe es seitens des Erziehungspersonals und auch unter den
Kindern häufig Gewalt gegeben; Gewalt unter den Kindern sei
von den Erziehern nicht geahndet, sondern das Opfer der
Gewalt oft noch bestraft worden. Als er mit sieben Jahren
Bettnässer geworden sei, sei dies mit Essensentzug und
Strafarbeiten sowie Diskriminierung vor den anderen Kindern
bestraft worden; Päckchen von zu Hause seien nicht
weitergegeben worden. Schließlich sei behauptet worden, der
Beschwerdeführer sei an einer latenten Epilepsie
erkrankt.
7
Nach einer plötzlichen Entlassung aus dem Heim
im Jahr 1966 habe der Beschwerdeführer erhebliche Probleme
gehabt, sich an ein selbstbestimmtes Leben zu gewöhnen. In
der Schule seien Störungen, für die er nicht verantwortlich
gewesen sei, ihm vorgeworfen worden. Es habe eine
Hetzkampagne gegen ihn gegeben, die dazu geführt habe, dass
die Lehrerschaft sich geweigert habe, ihn weiter zu
unterrichten. Damit sei die Einweisung in das Kombinat der
Sonderheime eingeleitet worden. Das Heim sei von der
Außenwelt abgeschnitten gewesen; Türen und Fenster der
Einrichtung seien gesichert gewesen. Es habe Gruppenzwang
geherrscht, gemeinsame Anstaltskleidung, Verbot des
Postverkehrs, Verbot, Rundfunk und Fernsehen zu nutzen,
finanzielle Unselbständigkeit. In der Aufnahmestation und
auch später seien dem Beschwerdeführer ohne Grund und unter
Anwendung körperlicher Gewalt Medikamente verabreicht worden,
die zum Teil zu Unwohlsein, Erbrechen, Übelkeit, Kopfschmerz
und motorischer Unruhe geführt hätten. Während der Nachtruhe
mit anderen zu sprechen sei damit bestraft worden, dass man
zum Teil zwei bis drei Stunden in den Toilettenraum
eingeschlossen worden sei oder sportliche Übungen auf dem
Appellplatz ohne angemessene Kleidung habe machen müssen. Es
habe auch körperliche Übergriffe von Erziehern gegeben.
Weiterhin habe es Übergriffe der Kinder untereinander
gegeben. Das Klima in der Einrichtung sei wie ein Pulverfass
gewesen. Kinder seien zum Teil wie Tiere in den Duschraum
getrieben und unter kalte Duschen gestellt worden, bis sie
sich wieder beruhigt hatten. In einem Urlaub bei seinen
Eltern nach dem Schuljahr 1969 sei von einem Neurologen
diagnostiziert worden, dass keine Epilepsie bestehe.
8
Die Verhaltensauffälligkeiten, die zu der
Einweisung in den Jugendwerkhof T. geführt hätten, seien erst
durch die Heimerziehung entstanden und könnten nicht als
Begründung für die Einweisung im Jahr 1961 dienen. Die
Unterbringung in den geschlossenen Heimen sei einer
Freiheitsentziehung gleichzusetzen. Dies gelte insbesondere
für das Leben im Kombinat der Sonderheime.
9
Der Beschwerdeschrift waren 16 Anlagen
beigelegt, darunter Schreiben der Heimleitungen und Briefe
des Beschwerdeführers aus seiner Zeit in den Heimen.
10
6. Mit Beschluss vom 10. März 2008 verwarf das
Oberlandesgericht Naumburg die Beschwerde als unbegründet.
Die Unterbringung in Jugendwerkhöfen der ehemaligen DDR sei
zwar von der Rechtsprechung als Freiheitsentziehung im Sinne
des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes gewertet
worden. Ob das für die Unterbringung in Kinderheimen
entsprechend gelte, sei zweifelhaft, könne aber dahinstehen.
Jedenfalls komme eine Rehabilitierung nur in Betracht, wenn
auch die übrigen Voraussetzungen nach § 1 StrRehaG
gegeben seien, also die Einweisung mit wesentlichen
Grundsätzen einer rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sei,
was insbesondere dann der Fall sei, wenn die Entscheidung
politischer Verfolgung gedient habe oder die angeordneten
Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu einer zugrunde
liegenden Tat stünden. Für eine politische Verfolgung lägen
hier keine Anhaltspunkte vor. Ebenso sei nicht ersichtlich,
dass eine „Tat“ des Beschwerdeführers die Anordnung der
Unterbringung in einem Kinderheim zur Folge gehabt hätte.
Hintergrund der Unterbringung seien vielmehr die ungünstigen
Familienverhältnisse und daraus resultierende
Erziehungsaspekte gewesen. Die Richtigkeit der Maßnahmen als
solche zu überprüfen sei nicht Aufgabe des strafrechtlichen
Rehabilitierungsverfahrens.
II.
11
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner
Verfassungsbeschwerde die Verletzung seiner Menschenwürde
nach Art. 1 GG sowie seines Persönlichkeitsrechts nach
Art. 2 GG und des Gleichheitsgrundsatzes nach
Art. 3 GG im Hinblick auf die ihm widerfahrene
Behandlung in den verschiedenen Heimen.
12
Die Feststellung des Oberlandesgerichts, nicht
eine Tat des Beschwerdeführers habe zu der Unterbringung
geführt, sondern die ungünstigen familiären Verhältnisse,
könne die Ablehnung des Antrags nicht begründen. Die
Unterbringung sei zu einem sachfremden Zweck erfolgt; dies
liege nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz schon
vor, wenn der Zweck einer Maßnahme nur dazu diene, dem
Betroffenen ein sozialistisches Menschenbild
aufzuzwingen.
13
Weiterhin rügt der Beschwerdeführer sinngemäß
eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG: Das Landgericht habe keine
klare Entscheidung über seine örtliche Zuständigkeit
getroffen. Schließlich rügt er sinngemäß auch eine Verletzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103
Abs. 1 GG, indem er vorträgt, die Gerichte seien auf
sein Vorbringen zu den Zuständen in dem Kombinat der
Sonderheime nicht eingegangen.
III.
14
Die Kammer nimmt die zulässige
Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur
Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte
angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe
b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1
BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende
Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 3 Abs. 1 GG hat
das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Ebenso ist
die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
15
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts
Naumburg vom 10. März 2008 verletzt den Beschwerdeführer in
seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner
Ausprägung als Willkürverbot.
16
a) Dabei ist zu berücksichtigen, dass das
Bundesverfassungsgericht Entscheidungen der Fachgerichte nur
in einem eingeschränkten Umfang überprüft. Ihm obliegt keine
Kontrolle dahin, ob die Fachgerichte das einfache Recht im
Sinne einer größtmöglichen Gerechtigkeit richtig anwenden. Es
greift vielmehr nur bei einer Verletzung von spezifischem
Verfassungsrecht durch die Gerichte ein. Spezifisches
Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn
eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv
fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung
von Grundrechten liegen (vgl. BVerfGE 18, 85
<92 f.>).
17
Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts ist Art. 3 Abs. 1 GG in seiner
Ausprägung als Willkürverbot dann verletzt, wenn die
Rechtsanwendung oder das Verfahren unter keinem denkbaren
Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der
Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und
damit willkürlichen Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 83, 82
<84>; 86, 59 <63>; 87, 273 <278 f.>;
96, 189 <203>). Dabei enthält die Feststellung von
Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist im
objektiven Sinne zu verstehen als eine Maßnahme, welche im
Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will,
tatsächlich und eindeutig unangemessen ist (vgl. BVerfGE 83,
82 <84>; 86, 59 <63>), oder als die krasse
Missdeutung des Inhalts einer Norm, durch die ein
gesetzgeberisches Anliegen grundlegend verfehlt wird (vgl.
BVerfGE 86, 59 <64>; 87, 273 <279>; 96, 189
<203>).
18
b) Die angegriffene Entscheidung ist danach
mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.
19
aa) Nach § 1 Abs. 1 StrRehaG ist neben
dem Vorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung oder einer
sonstigen eine Freiheitsentziehung anordnenden Entscheidung
im Sinne des § 2 StrRehaG Voraussetzung für die
Rehabilitierung, dass die Maßnahme mit wesentlichen
Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung
unvereinbar ist. § 1 Abs. 1 StrRehaG enthält zur
Konkretisierung dieses Tatbestandsmerkmals in den Nrn. 1 und
2 zwei - nicht abschließende - Beispiele, was an der
Verwendung des Wortes „insbesondere“ deutlich wird: Die
Maßnahme kann insbesondere deshalb mit wesentlichen
Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung
unvereinbar gewesen sein, weil die Entscheidung politischer
Verfolgung gedient hat (Nr. 1) oder weil die angeordneten
Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu der zugrunde
liegenden Tat stehen (Nr. 2).
20
Das Oberlandesgericht stellt diese
gesetzlichen Voraussetzungen in seiner Entscheidung dar und
prüft anschließend das Vorliegen der Voraussetzungen des
§ 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StrRehaG. Für eine politische
Verfolgung lägen keine Anhaltspunkte vor. Bezüglich § 1
Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG geht das Oberlandesgericht davon aus,
dass es zu einer weiteren Prüfung nicht verpflichtet sei, da
Anlass für die Unterbringung des Beschwerdeführers in den
Heimen nicht eine bestimmte Tat, sondern die ungünstigen
familiären Verhältnisse des Beschwerdeführers und daraus
resultierende Erziehungsaspekte gewesen seien. Die
Richtigkeit darauf beruhender Maßnahmen, die weder Strafe
seien noch als solche verstanden werden könnten, als solche
zu überprüfen sei jedoch nicht Aufgabe des strafrechtlichen
Rehabilitierungsverfahrens. Auch eine Prüfung des
gesetzlichen Oberbegriffs - Unvereinbarkeit der Maßnahme mit
wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen
rechtsstaatlichen Ordnung - unterbleibt.
21
Dieses Verständnis des § 1 Abs. 1 Nr. 2
StrRehaG erscheint schon in einfach-rechtlicher Hinsicht
zweifelhaft: Das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz
bezieht sich in erster Linie auf die Rehabilitierung wegen
strafrechtlicher Verurteilungen, die jeweils an eine
bestimmte Tat anknüpfen. Nach § 2 StrRehaG in seiner
ursprünglichen Fassung war daneben eine Rehabilitierung nur
für Einweisungen in psychiatrische Anstalten vorgesehen, die
aus Gründen politischer Verfolgung oder zu sonstigen
sachfremden Zwecken erfolgten. Infolge einer Änderung des
§ 2 StrRehaG durch Gesetz vom 23. Juni 1994, BGBl I S.
1311, erfasst das Gesetz nunmehr aber auch außerhalb eines
Strafverfahrens ergangene Entscheidungen, mit denen eine
Freiheitsentziehung angeordnet wurde. In der
Gesetzesbegründung heißt es dazu ausdrücklich, § 2 werde
auf alle rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehungen
ausgedehnt, die außerhalb von Strafverfahren erfolgten (vgl.
BRDrucks 92/93, S. 149). Im Hinblick darauf kann der Begriff
der „Tat“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG nicht
nur als eine bestimmte möglicherweise strafrechtlich
relevante Verhaltensweise, sondern muss allgemein als der
Anlass für die die Freiheitsentziehung anordnende
Entscheidung verstanden werden. Anderenfalls verlöre die
Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Gesetzes auf
Freiheitsentziehungen, die außerhalb eines Strafverfahrens
angeordnet wurden, nach § 2 StrRehaG ihren Sinn. In
diesem Sinne muss es auch Aufgabe des strafrechtlichen
Rehabilitierungsverfahrens sein, das Vorliegen eines
Missverhältnisses zwischen dem Anlass für die die
Freiheitsentziehung anordnende Entscheidung und den
angeordneten Rechtsfolgen zu prüfen.
22
Im Übrigen hätte das Oberlandesgericht selbst
bei Zugrundelegung seiner Auslegung nach der oben dargelegten
Systematik des Gesetzes prüfen müssen, ob die - nach seiner
Auffassung eventuell vorliegende - Freiheitsentziehung in
sonstiger Weise mit wesentlichen Grundsätzen einer
freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar war.
Eine solche Prüfung unterblieb jedoch.
23
bb) Diese Anwendung des strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetzes durch das Oberlandesgericht hält den
dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht
stand.
24
Die Annahme des Oberlandesgerichts, nach dem
strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz seien nur Maßnahmen
rehabilitierungsfähig, die durch eine strafrechtlich
relevante Tat veranlasst worden seien, führt - im Hinblick
auf § 2 StrRehaG sinnwidrig und im Hinblick auf das
Tatbestandsmerkmal der Unvereinbarkeit mit wesentlichen
Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung in
§ 1 Abs. 1 StrRehaG auch über den Wortlaut des Gesetzes
hinaus - zu einer Beschränkung der Rehabilitierung von
Freiheitsentziehungen auf Fälle, denen eine von der
DDR-Justiz als strafrechtlich relevant eingeordnete Tat
zugrunde gelegen hat. Mit dieser Auslegung wird die
gesetzgeberische Intention, durch die Erweiterung des
§ 2 StrRehaG auch außerhalb eines Strafverfahrens
angeordnete Freiheitsentziehungen, auch über Einweisungen in
psychiatrische Anstalten hinaus, rehabilitierungsfähig zu
machen, zunichte gemacht. Der Anwendungsbereich des Gesetzes
wird dadurch in nicht vertretbarer, weil dem
gesetzgeberischen Willen entgegenstehender Weise verengt. Es
handelt sich um eine krasse Missdeutung des Inhalts der Norm,
die auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen
beruht.
25
2. Ob die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich
der weiteren Rügen begründet ist, kann hier dahinstehen, da
bereits die festgestellte Grundrechtsverletzung die Aufhebung
der angefochtenen Entscheidung erfordert.
26
3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird
gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2
BVerfGG aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht
zurückverwiesen. Die Zurückverweisung gibt dem
Oberlandesgericht auch Gelegenheit, bei seiner erneuten
Entscheidung den ausführlichen Vortrag des Beschwerdeführers
hinsichtlich der Umstände der Unterbringung in den
verschiedenen Heimen und deren Auswirkungen auf die
Einordnung der Unterbringung als Freiheitsentziehung und auf
die Frage der Unvereinbarkeit der Maßnahme mit wesentlichen
Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung,
insbesondere auf das Vorliegen eines groben Missverhältnisses
der angeordneten Rechtsfolgen im Verhältnis zu der zugrunde
liegenden Tat im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG, zu
berücksichtigen.
27
4. Die Entscheidung über die Erstattung der
notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf
§ 34a Abs. 2 BVerfGG.
Broß
Di Fabio
Landau | bundesverfassungsgericht |
71-2009 | 26. Juni 2009 | Äußerung "Durchgeknallter Staatsanwalt" stellt nicht zwingend eine Beleidigung dar
Pressemitteilung Nr. 71/2009 vom 26. Juni 2009
Beschluss vom 12. Mai 20091 BvR 2272/04
Der Beschwerdeführer ist Journalist, Verleger, Publizist und Mitherausgeber einer großen deutschen Zeitung. Im Juni 2003 strahlte der Fernsehsender "n-tv" die Sendung "Talk in Berlin" aus, an der sich der Beschwerdeführer als Diskussionsteilnehmer beteiligte. Die Sendung befasste sich mit dem seinerzeit in den Medien viel beachteten Ermittlungsverfahren gegen den damaligen Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden, Rechtsanwalt und Moderator Dr. F., der in den Verdacht des unerlaubten Umgangs mit Betäubungsmitteln geraten war. Im Rahmen der Sendung äußerte der Beschwerdeführer u.a.:
"Und ich bin ganz sicher, dass dieser staatsanwaltliche, man muss wirklich sagen: Skandal eines ganz offenkundig, ich sag`s ganz offen, durchgeknallten Staatsanwaltes, der hier in Berlin einen außerordentlich schlechten Ruf hat, der vor einem Jahr vom Dienst suspendiert worden ist, der zum ersten Mal überhaupt wieder tätig wird. Dieser Skandal wird zweifellos dazu führen, dass sich die hiesige Justizbehörde und die ihr zugeordnete Staatsanwaltschaft fragen muss, ob man auf diese Art und Weise gegen Privatpersonen vorgehen kann."
Das Amtsgericht Tiergarten verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 300,00 €. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die Bezeichnung als "durchgeknallt" umgangssprachlich in dem Sinne von "verrückt" oder "durchgedreht" verstanden werde. Hierin liege aber eine Schmähkritik, die allein auf die Diffamierung des Betroffenen ziele und deshalb generell unzulässig sei. Die Revision gegen das Urteil verwarf das Kammergericht auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ohne weitere Begründung.
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Entscheidungen aufgehoben, weil sie das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzen. Die Gerichte haben die Bezeichnung als "durchgeknallt" zu Unrecht als generell unzulässige Schmähkritik angesehen und deshalb die hier gebotene Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Geschädigten und der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers nicht vorgenommen. Weil der Begriff der Schmähkritik eine besonders gravierende Ehrverletzung bezeichnet, bei der noch nicht einmal mehr eine Abwägung mit der Meinungsfreiheit stattfindet, sondern die Meinungsfreiheit absolut verdrängt wird, ist dieser Begriff eng zu definieren. Selbst eine für sich genommen herabsetzende Äußerung wird zu einer Schmähkritik erst dann, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern - jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik - die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Auch wenn der Bezeichnung als "durchgeknallt" als solcher ehrverletzender Gehalt zukommt, muss bei Beurteilung einer schmähenden Wirkung der Zusammenhang berücksichtigt werden, in dem die Äußerung fällt.
Der Kontext der Äußerung im Zusammenhang mit der Kritik an der Informationspolitik der zuständigen Staatsanwaltschaft spricht hier gegen die Annahme, dass der Beschwerdeführer dem Betroffenen pauschal die geistige Gesundheit habe absprechen und ihn damit ungeachtet seines Sachanliegens habe diffamieren wollen. Vielmehr liegt es aus Sicht des unvoreingenommenen Publikums nahe, dass er auch durch diese Begriffswahl Kritik an dem Umgang des Generalstaatsanwaltes mit den Persönlichkeitsrechten eines Beschuldigten üben wollte. Die Herauslösung des Begriffes "durchgeknallt" aus diesem Kontext verstellt den Blick darauf, dass die umstrittene Äußerung im Zusammenhang mit einer Sachauseinandersetzung um die Ausübung staatlicher Strafverfolgungsbefugnisse fiel. In diesem Kontext kann der verwendeten Begriffswahl aber nicht jeglicher Sachbezug abgesprochen werden, da sie - wenn auch in polemischer und in herabsetzender Form - durchaus die Sachaussage transportieren kann, dass ein als verantwortlich angesehener Staatsanwalt im Zuge der Strafverfolgungstätigkeit die gebotene Zurückhaltung und Rücksichtnahme auf das Persönlichkeitsrecht eines Beschuldigten in unsachgemäßer und übertriebener Weise habe vermissen lassen.
Die Bezeichnung als "durchgeknallt" weist auch nicht einen derart schwerwiegenden diffamierenden Gehalt auf, dass der Ausdruck in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erschiene und daher unabhängig von seinem konkreten Kontext stets als persönlich diffamierende Schmähung aufgefasst werden müsste, wie dies bei der Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter - etwa aus der Fäkalsprache - der Fall sein kann.
Teil der von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfassten Freiheit, seine Meinung in selbstbestimmter Form zum Ausdruck zu bringen, ist auch, dass der Äußernde von ihm als verantwortlich angesehene Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für die zu kritisierende Art der Machtausübung angreifen kann, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente seiner Äußerung aus diesem Kontext herausgelöst betrachtet werden und als solche die Grundlage für eine einschneidende gerichtliche Sanktion bilden. Die Personalisierung eines Sachanliegens in anklagender Form ist in solch unterschiedlicher Form und Intensität möglich, dass es nicht gerechtfertigt wäre, die Meinungsfreiheit in diesen Fällen wie bei Schmähungen stets und ungeachtet der weiteren Umstände zurücktreten zu lassen. Vielmehr ist es erforderlich, in die gebotene Abwägung einzustellen, ob der Betreffende als private Person oder sein öffentliches Wirken mit seinen weitreichenden gesellschaftlichen Folgen Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität des Betroffenen von der Äußerung ausgehen.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2272/04 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Dr. N…
- Bevollmächtigte:
1. Rechtsanwalt Johann Schwenn,
in Sozietät Schwenn & Krüger
Große Elbstraße 14, 22767 Hamburg,
Rechtsanwalt Nicolas Becker,
Meinekestraße 3, 10719 Berlin -
gegen
a)
den Beschluss des
Kammergerichts vom 3. September 2004 - (4) 1 Ss 226/04
(86/04) -,
b)
das Urteil des Amtsgerichts
Tiergarten vom 28. Januar 2004 - 263a Cs 1097/03 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Eichberger,
Masing
am 12. Mai 2009 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 28.
Januar 2004 - 263a Cs 1097/03 - und der Beschluss des
Kammergerichts vom 3. September 2004 - (4) 1 Ss 226/04
(86/04) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht
aus Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen
werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht
zurückverwiesen.
Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen
Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen
eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung.
2
1. Der Beschwerdeführer ist Journalist,
Verleger und Publizist und Mitherausgeber der
Wochenzeitschrift „Die Zeit“.
3
Am 22. Juni 2003 strahlte der Fernsehsender
„n-tv“ die von B. moderierte Sendung „Talk in Berlin“ aus, an
der sich der Beschwerdeführer als Diskussionsteilnehmer neben
dem Journalisten J. und dem Bischof Prof. Dr. H.
beteiligte.
4
Die Sendung mit dem Thema „F. - die
Öffentlichkeit und die Moral“ befasste sich mit dem
seinerzeit in den Medien viel beachteten Ermittlungsverfahren
gegen den damaligen Vizepräsidenten des Zentralrats der
Juden, Rechtsanwalt und Moderator Dr. F., der in den Verdacht
des unerlaubten Umgangs mit Betäubungsmitteln geraten war.
Nachdem mehrere Zeuginnen, die im Zuge eines gegen andere
Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahrens vernommen worden
waren, Dr. F. belastet hatten, durchsuchte die
Staatsanwaltschaft Berlin am 11. Juni 2003 die in F.
belegenen Kanzleiräume und Wohnung des Beschuldigten. Noch am
selben Tag bestätigte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft
gegenüber einem Journalisten der Zeitung „Die Welt“ auf
Nachfrage, dass ein Ermittlungsverfahren gegen Dr. F. geführt
werde. Außerdem gab er den zu Grunde liegenden Vorwurf und
die vorläufigen Ergebnisse der Durchsuchungen bekannt, wonach
szenetypische Verpackungen mit Anhaftungen aufgefunden worden
seien, die vorbehaltlich der Ergebnisse einer
Laboruntersuchung aus Kokain bestehen könnten. Der
Staatsanwaltschaft brachte diese frühe Information der
Öffentlichkeit teilweise harsche Kritik in den Medien
ein.
5
In der Fernsehsendung äußerte der
Beschwerdeführer hierzu:
6
N.:
„[…] Der wirkliche
Skandal ist eine führungslose Staatsanwaltschaft in
Deutschland, die bei diesen Ermittlungen ganz offenkundig
‚Die Welt’, ‚Bild’ und ‚Focus’ vorinformiert hat,
privilegiert hat, wenn Sie so wollen, über einen Verdacht,
den zu beweisen sie sich gerade erst bemüht. Dieses ist dann
nicht das normale Vorgehen von Staatsanwälten in
zivilisierten und in Rechtsstaaten, in zivilisierten Ländern
und in Rechtsstaaten. Das ist der erste Punkt. Der andere
Punkt ist: Aus diesen Äußerungen jetzt entnehme ich ja
offenkundig immer schon feststehende Sachverhalte, d.h. Herr
F. hat seine eigene Position desavouiert durch sein
moralisches, sittliches Verhalten. Nichts ist bewiesen. Der
Mann hat das Recht eines offenkundig vom Staatsanwalt
Verfolgten, so möchte ich das einmal bezeichnen, zu schweigen
und seinen eigenen Anwalt reden zu lassen. Und ich bin ganz
sicher, dass dieser staatsanwaltliche, man muss wirklich
sagen: Skandal eines ganz offenkundig, ich sag`s ganz offen,
durchgeknallten Staatsanwaltes, der hier in B. einen
außerordentlich schlechten Ruf hat, der vor einem Jahr vom
Dienst suspendiert worden ist, der zum ersten Mal überhaupt
wieder tätig wird. Dieser Skandal wird zweifellos dazu
führen, dass sich die hiesige Justizbehörde und die ihr
zugeordnete Staatsanwaltschaft fragen muss, ob man auf diese
Art und Weise gegen Privatpersonen vorgehen kann.“
7
J.:
„Herr N., Sie brechen
den Stab über eine Staatsanwaltschaft in einer Art und Weise.
Der Oberstaatsanwalt, der Generalstaatsanwalt, den Sie
meinen, führt die Ermittlungen gar nicht. Das ist ein ganz
anderer. Was Sie hier tun, ist eine Verdächtigungskampagne,
der Sie angehören, in der Sie, bei der Sie eine öffentliche
Rolle spielen, die sich gegen die Staatsanwaltschaft richtet.
Der Fakt ist der, dass bei der Ermittlung gegen
Menschenhändler und Schleuser von Prostituierten aus
Osteuropa nach Deutschland, bei diesen Ermittlungen ist vom
Bundesgrenzschutz in Telefongesprächen der Schleuser abgehört
worden. Dabei ist eine Telefonnummer und ist ein Name
aufgefallen, der zurückverfolgt worden ist. Der jetzt
Beschuldigte F. wäre gar nicht ins Fadenkreuz der
Staatsanwaltschaft geraten, wenn bei der Befragung von drei
Prostituierten nicht die Beschuldigung erhoben worden wäre
und möglicherweise noch, sie wissen es von drei,
möglicherweise von noch mehr, dass er ihnen Kokain angeboten
hat. Dann ist es nicht mehr die Frage des persönlichen
Konsums, sondern auch die Frage des Besitzes, was strafbar
ist, und dann muss eine Staatsanwaltschaft handeln. Und
sozusagen als sei hier ein, so schlank wie Sie das sagen, den
Vorwurf zu erheben, eine Staatsanwaltschaft vernichte einen
Menschen aus politischen Gründen, das finde ich sehr
gewagt.“
8
N.:
„Aus politischen Gründen, das habe ich nicht gesagt.“
9
J.:
„Aber Sie insinuieren es. Ein durchgeknallter
Staatsanwalt“
10
N.:
„Ja, natürlich ist er durchgeknallt, weil er ganz offenkundig
in der Lage ist, ein Ermittlungsverfahren zu beginnen und
gleichzeitig die Presse zu informieren. Dieses ist
ungewöhnlich.“
11
J.:
„Aber Herr N., der Richter hat den Durchsuchungsbefehl
erlassen. Das ist nicht der Generalstaatsanwalt gewesen.“
12
N.:
„Aber wer hat denn die Presse informiert? Der Richter gewiss
nicht.“
13
2. Mit angegriffenem Urteil vom 28. Januar
2004 - 263a Cs 1097/03 - verurteilte das Amtsgericht
Tiergarten den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer
Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 300,00 €.
14
Das Wort „durchgeknallt“ bedeute
umgangssprachlich „verrückt“ oder „durchgedreht“ und werde
gemeinhin so verstanden. Vom Standpunkt eines verständigen
Dritten aus sei diese Bezeichnung als herabwürdigend und
ehrverletzend anzusehen. Dessen sei sich der
Beschwerdeführer, der es als Journalist gewohnt sei, mit
Worten umzugehen, auch bewusst gewesen.
15
In diesem Wortsinne stelle der Begriff
„durchgeknallt“ eine Ehrverletzung dar, die auch durch das
Grundrecht der freien Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1
Satz 1 GG nicht gerechtfertigt werden könne. Dem
Beschwerdeführer habe es freigestanden, die Arbeit der
Staatsanwaltschaft oder den Generalstaatsanwalt selbst zu
kritisieren. Hier liege jedoch ein Fall unzulässiger
Schmähkritik vor, die durch eine Diffamierung der Person
gekennzeichnet sei, bei der die Auseinandersetzung in der
Sache in den Hintergrund trete.
16
Auch der Umstand, dass der Geschädigte sich
selbst in der Vergangenheit öffentlich als „groben Klotz“
oder „Kapitän eines Panzerkreuzers“ bezeichnet habe, führe
nicht dazu, dass er durch die Bezeichnung als „durchgeknallt“
nicht habe beleidigt werden können. Auch wenn der Geschädigte
durch seine früheren Äußerungen Kritik auf sich gezogen habe,
berechtige dies nicht zu ehrverletzenden Äußerungen über
seine Person.
17
3. Die hiergegen gerichtete Revision verwarf
das Kammergericht auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft
mit angegriffenem Beschluss vom 3. September 2004 - (4) 1 Ss
226/04 (86/04) - ohne weitere Begründung.
18
Ihren Antrag vom 28. Juni 2004 auf Verwerfung
der Revision als offensichtlich unbegründet stützte die
Generalstaatsanwaltschaft insbesondere darauf, dass das
Amtsgericht die beanstandete Äußerung zutreffend als
Schmähung angesehen und deshalb dem Ehrenschutz den Vorrang
gegenüber dem Recht zur freien Meinungsäußerung aus
Art. 5 Abs. 1 GG eingeräumt habe. Merkmal der Schmähung
sei die das sachliche Anliegen in den Hintergrund drängende
persönliche Kränkung. Diese Grenze sei auch im Meinungskampf
überschritten, wenn der Äußernde nicht auf einen vorangehend
vom Betroffenen gesetzten Anlass im „hin und her“
gegenseitiger Kritik und Meinungsäußerungen reagiere, sondern
seine Äußerung außerhalb eigener Betroffenheit darauf
abziele, den Betroffenen über die Auseinandersetzung in der
Sache hinaus persönlich zu diffamieren. Zu berücksichtigen
sei zwar auch, in welchem Umfang der Betroffene seinerseits
am durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Meinungskampf
teilgenommen habe, so dass sein eigener Anspruch auf
Ehrenschutz insoweit eingeschränkt sei, als er entsprechende
Gegenäußerungen hinnehmen müsse. Ein solcher „Gegenschlag“
setze aber einen Sachbezug voraus und müsse eine adäquate
Reaktion auf einen vorangehend vom Betroffenen gesetzten
Anlass sein. Dem Beschwerdeführer sei es unbenommen gewesen,
die diskussions- und kritikträchtige Verfahrensweise der
Staatsanwaltschaft zu kritisieren und den Geschädigten
ungeachtet dessen tatsächlichen eigenen Beitrags hierzu
zumindest als Gesamtverantwortlichen in diese Kritik
einzubeziehen. Die gebrauchte Wortwahl bewege sich aber nicht
mehr im Rahmen einer wenn auch harten, aber sachlichen
Auseinandersetzung, sondern setze den Behördenleiter
persönlich und unabhängig vom Inhalt der geführten Diskussion
in ein schlechtes Licht und ziele daher allein auf dessen
Diffamierung.
19
4. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die
Entscheidungen des Amtsgerichts sowie des Kammergerichts und
rügt eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 5 Abs.
1 Satz 1 GG.
20
a) Bereits die Deutung des Begriffs
„durchgeknallt“ durch das Amtsgericht werde den
verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Der Begriff
werde ausweislich des Dudens umgangssprachlich für
„überspannt, exaltiert“ verwendet. Jedenfalls aber habe es
das Amtsgericht unterlassen, einen naheliegenden weiteren
Sinngehalt des inkriminierten Begriffs in Betracht zu ziehen
und diesen mit nachvollziehbaren Gründen auszuschließen. Es
handele sich um eine in der Umgangssprache durchaus übliche
Metapher aus dem Bereich der Elektrizität für eine
durchgebrannte Sicherung. Aus dem Kontext der Äußerung, der
bei der Ermittlung ihres Sinngehalts hätte berücksichtigt
werden müssen, ergebe sich, dass der Beschwerdeführer durch
Verwendung eben dieser Metapher habe zum Ausdruck bringen
wollen, dass die dem ersten Beamten der Staatsanwaltschaft
obliegende Sicherung der Persönlichkeitsrechte von
Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren versagt habe. Der
Beschwerdeführer habe den Generalstaatsanwalt erkennbar
deshalb als „durchgeknallt“ bezeichnet, weil dieser als
Behördenleiter für einen Skandal verantwortlich sei, der
darin liege, dass verschiedene Zeitungen über das anhängige
Ermittlungsverfahren gegen Dr. F. vorinformiert gewesen
seien. Die Äußerung habe nicht der psychischen Verfassung des
Generalstaatsanwalts, sondern vielmehr dem vermeintlichen
Versagen des Generalstaatsanwalts bei der Wahrnehmung seiner
Funktionen zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte des
Beschuldigten Dr. F. gegolten.
21
Selbst wenn man die Deutung des Amtsgerichts
zu Grunde lege, sei die Einordnung der Äußerung als
Schmähkritik mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar.
Soweit das Amtsgericht ohne nähere Begründung davon ausgehe,
dass die Diffamierung der Person des Generalstaatsanwalts im
Vordergrund gestanden habe, lasse dies den Kontext
unberücksichtigt, in dem der Begriff verwandt worden sei. Der
Beschwerdeführer habe den Begriff im Zuge der Kritik an einem
rücksichtslosen Umgang der Staatsanwaltschaft mit den
Persönlichkeitsrechten eines Beschuldigten und damit in der
Diskussion um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende
Frage verwendet. Selbst wenn man in der Bezeichnung als
„durchgeknallt“ eine überzogene und ausfällige Kritik sehen
wollte, rechtfertige dies noch nicht die Annahme einer
Schmähung. Die darin zum Ausdruck kommende Kritik an der Art
des Umgangs mit einem Beschuldigten habe der
Auseinandersetzung in der Sache gedient und nicht etwa allein
der Diffamierung der Person des Generalstaatsanwalts Dr. K.
Dieser sei auch namentlich gar nicht benannt worden, vielmehr
habe die Kritik der Staatsanwaltschaft Berlin und deren
Behördenleiter gegolten. Im Übrigen streite bei einer die
Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage eine Vermutung
für die freie Rede, die insbesondere dann greife, wenn der
Äußernde sich - wie es das Amtsgericht selbst im Rahmen der
Strafzumessungserwägungen annimmt - allenfalls bei der
Wortwahl im Ton vergriffen habe.
22
Die fälschliche Annahme der Schmähkritik habe
das Amtsgericht auch dazu bewogen, von der erforderlichen
Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem
Persönlichkeitsrecht abzusehen. Hier überwiege jedoch
angesichts der vom Beschwerdeführer geäußerten Kritik an
staatlicher Machtausübung sein grundrechtlich geschütztes
Interesse auf freie Meinungsäußerung. Im Rahmen der Abwägung
müsse auch Berücksichtigung finden, dass die Meinungsäußerung
einer Behörde galt und dieser kein Persönlichkeitsrecht
zukomme. Außerdem habe der Betroffene durch seine
polarisierenden Äußerungen zu seinem Amtsverständnis
überspitzte und polemische Kritik an seiner Person selbst
herausgefordert.
23
b) Die Entscheidung des Kammergerichts, mit
der die Revision des Beschwerdeführers ohne Begründung
verworfen worden ist, mache sich die Grundrechtsverletzung
des Amtsgerichts zu Eigen. Ferner teile das Kammergericht
offenbar die Rechtsauffassungen der Generalstaatsanwaltschaft
Berlin. Diese setze sich aber in der Begründung ihres Antrags
auf Verwerfung der Revision in offenen Widerspruch zur
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn sie
betone, dass die von der Revision angeführte Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts in der strafrechtlichen
Literatur teilweise scharfe Kritik erfahren habe.
24
5. Die Senatsverwaltung für Justiz des Landes
Berlin und der Präsident des Bundesgerichtshofs hatten
Gelegenheit zur Stellungnahme.
25
6. Die Akten des Ausgangsverfahrens vor dem
Amtsgericht Tiergarten
- 263a Cs 1097/03 - lagen dem Bundesverfassungsgericht
vor.
II.
26
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß
§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung
angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des
Beschwerdeführers angezeigt ist. Sie ist zulässig und
offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
27
1. Die inkriminierte Äußerung des
Beschwerdeführers fällt in den Schutzbereich des Art. 5
Abs. 1 Satz 1 GG. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gibt
jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei
zu äußern und zu verbreiten. Meinungen sind durch die
subjektive Einstellung des sich Äußernden gekennzeichnet. Sie
enthalten sein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder auch
Personen (vgl. BVerfGE 33, 1 <14>; 93, 266
<289>). Für sie ist das Element der Stellungnahme und
des Dafürhaltens kennzeichnend (vgl. BVerfGE 7, 198
<210>; 61, 1 <8>; 85, 1 <14>; 90, 241
<247>). Die inkriminierte Äußerung stellt, ungeachtet
ihres möglichen ehrverletzenden Gehalts, ein solches
Werturteil dar. Dass eine Aussage polemisch oder verletzend
formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich
des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl.
BVerfGE 54, 129 <138 f.>; 61, 1 <7 f.>;
93, 266 <289>; BVerfGK 8, 89 <96>).
28
2. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gilt
allerdings nicht vorbehaltlos. Nach Art. 5 Abs. 2 GG
findet es seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen
Gesetze. Dazu gehört auch § 185 StGB, auf den sich die
angegriffenen Entscheidungen stützen. Die Auslegung der
Strafgesetze und ihre Anwendung auf den Einzelfall sind Sache
der Strafgerichte und grundsätzlich einer Nachprüfung durch
das Bundesverfassungsgericht entzogen. Handelt es sich aber
um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei
das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen
wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene
gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; 82,
43 <50>; 272 <280>; 93, 266 <292>; 94, 1
<8>; stRspr). Dies erfordert regelmäßig eine Gewichtung
der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der
einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen
(vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 85, 1 <16>; 93, 266
<293>). Das Ergebnis dieser Abwägung ist
verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, sondern hängt von den
Umständen des Einzelfalls ab. Doch ist in der Rechtsprechung
eine Reihe von Gesichtspunkten entwickelt worden, die
Kriterien für die konkrete Abwägung vorgegeben. Wegen der
fundamentalen Bedeutung der Meinungsfreiheit für die
demokratische Ordnung spricht eine Vermutung für die freie
Rede, wenn es um Beiträge zum geistigen Meinungskampf in
einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geht
(vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 93, 266 <294>). Wird
von dem Grundrecht nicht zum Zwecke privater
Auseinandersetzung Gebrauch gemacht, sondern will der
Äußernde in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung
beitragen, dann sind Auswirkungen seiner Äußerungen auf den
Rechtskreis Dritter zwar unvermeidliche Folge, nicht aber
eigentliches Ziel der Äußerung. Der Schutz des betroffenen
Rechtsguts tritt umso mehr zurück, je weniger es sich um eine
unmittelbar gegen dieses Rechtsgut gerichtete Äußerung im
privaten Bereich in Verfolgung eigennütziger Ziele handelt,
sondern um einen Beitrag zu einer die Öffentlichkeit
wesentlich berührenden Frage (vgl. BVerfGE 61, 1 <11>).
In der öffentlichen Auseinandersetzung, insbesondere im
politischen Meinungskampf, muss daher auch Kritik hingenommen
werden, die in überspitzter und polemischer Form geäußert
wird, weil andernfalls die Gefahr einer Lähmung oder
Verengung des Meinungsbildungsprozesses drohte (vgl. BVerfGE
54, 129 <137 f.>; 60, 234 <241>; 66, 116
<139>; 82, 272 <281 f.>). Bei herabsetzenden
Äußerungen allerdings, die sich als Formalbeleidigung oder
Schmähung erweisen, tritt die Meinungsfreiheit regelmäßig
hinter den Ehrenschutz zurück (vgl. BVerfGE 82, 43
<51>; 85, 1 <16>; 90, 241 <248>; 93, 266
<294>; 99, 185 <196>; BVerfGK 8, 89 <102>).
Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts hat
das Bundesverfassungsgericht den in der Fachgerichtsbarkeit
entwickelten Begriff der Schmähkritik aber eng definiert.
Danach macht auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik
eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung.
Eine Äußerung nimmt diesen Charakter erst dann an, wenn nicht
mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern - jenseits
auch polemischer und überspitzter Kritik - die Diffamierung
der Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfGE 82, 272
<283 f.>; 85, 1 <16>; 93, 266 <294>;
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25.
Februar 1993 - 1 BvR 151/93 -, NJW 1993, S. 1462;
Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. August 2005
- 1 BvR 1917/04 -, NJW 2005, S. 3274; Beschluss der 1.
Kammer des Ersten Senats vom 5. Dezember 2008 - 1 BvR 1318/07
-, NJW 2009, S. 749 f.).
29
3. Diesen Vorgaben wird die angegriffene
Entscheidung des Amtsgerichts nicht gerecht.
30
a) Allerdings ist es verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht der Bezeichnung
als „durchgeknallt“ ehrverletzenden Gehalt zugemessen
hat.
31
aa) Bei Äußerungsdelikten können schon die
tatsächlichen Feststellungen des erkennenden Gerichts eine
Verletzung spezifischen Verfassungsrechts enthalten, wenn der
Sinn der Äußerung nicht zutreffend erfasst worden ist (vgl.
BVerfGE 43, 130 <136 f.>; 93, 266
<295 f.>; 94, 1 <9>). Zu den
verfassungsrechtlichen Anforderungen bei der Deutung einer
Äußerung gehört, dass sie unter Einbeziehung ihres Kontextes
ausgelegt und ihr kein Sinn zugemessen wird, den sie objektiv
nicht haben kann. Bei mehrdeutigen Äußerungen darf die zur
Verurteilung führende Bedeutung nicht zu Grunde gelegt
werden, ohne vorher mit schlüssigen Gründen Deutungen
ausgeschlossen zu haben, welche die Sanktion nicht zu
rechtfertigen vermögen (vgl. BVerfGE 85, 1
<13 f.>; 82, 43 <52 f.>; 272
<280 f.>; 94, 1 <9>; 114, 339 <349>;
BVerfGK 4, 54 <56>). Maßgeblich für die Deutung einer
Äußerung ist die Ermittlung ihres objektiven Sinns aus Sicht
eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums. Dabei
ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt
ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr
auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene
Äußerung steht und von den erkennbaren Begleitumständen,
unter denen sie fällt, bestimmt. Die isolierte Betrachtung
eines umstrittenen Äußerungsteils wird den Anforderungen an
eine tragfähige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht (vgl.
BVerfGE 54, 129 <137>; 93, 266 <295>; 94, 1
<9>).
32
bb) Entgegen der Auffassung des
Beschwerdeführers decken der Wortlaut und der Sprachgebrauch
des Begriffes „durchgeknallt“ die Deutung des Amtsgerichts,
dass hiermit zum Ausdruck gebracht werde, eine als solche
bezeichnete Person sei „verrückt“ oder „durchgedreht“. Im
modernen Sprachgebrauch wird das Adjektiv „durchgeknallt“
umgangssprachlich in dem Sinne von „absonderlich, bizarr,
extravagant, skurril, schrill, überspannt, wunderlich,
exzentrisch, schrullig, überdreht“, aber auch für „verrückt“
verwendet (Duden, Das Synonymwörterbuch, 4. Aufl.,
Mannheim u.a. 2007, S. 272). Dass der Begriff in einer
neutralen bis positiven Bedeutung etwa im Sinne von
absonderlich oder extravagant gebraucht worden sei, liegt
angesichts des Kontextes fern und bedurfte keiner
Erörterung.
33
Bezieht man den sprachlichen Kontext der
Äußerung in die Betrachtung mit ein, kommen allerdings
weitere Deutungsalternativen in Betracht, die das Amtsgericht
unberücksichtigt ließ. Offen bleibt, ob die Äußerung aus
Sicht des unbefangenen und unvoreingenommenen Publikums
dahingehend verstanden wird, dass die geistige Gesundheit des
Betroffenen in genereller Form in Abrede gestellt wird oder
ob sie sich nicht vielmehr auf die Diensthandlungen des
Betroffenen bezog und zum Ausdruck bringen sollte, dass
dieser - im umgangssprachlichen Sinne einer durchgebrannten
Sicherung - bei den Ermittlungen gegen einen prominenten
Beschuldigten jegliche distanzwahrende Selbstkontrolle
verloren habe, mithin die ihm gebotene Zurückhaltung habe
vermissen lassen. In beiden Deutungsvarianten ist die
Äußerung aber ehrverletzend, so dass die Würdigung des
Amtsgerichts insoweit zumindest im Ergebnis nicht zu
beanstanden ist. Die vom Beschwerdeführer angeführte Deutung,
die Äußerung habe sich allenfalls auf die Behörde der
Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin und nicht auf den
Geschädigten persönlich bezogen, findet im Wortlaut seiner
Äußerung und ihrem Sinnzusammenhang keine Stütze und bedurfte
daher keiner näheren Erörterung.
34
b) Dagegen ist es verfassungsrechtlich nicht
tragfähig, dass das Amtsgericht von einer Abwägung zwischen
dem Persönlichkeitsrecht des Geschädigten und der
Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers mit der Begründung
abgesehen hat, in der Bezeichnung als „durchgeknallt“ liege
eine Schmähung des Geschädigten. Unabhängig davon, welchen
der in Betracht kommenden Bedeutungsgehalte man hier zu
Grunde legt, trägt weder dieser für sich genommen noch der
vom Amtsgericht festgestellte Kontext die Annahme einer der
Abwägung entzogenen Schmähung.
35
Zwar ist der Begriff „durchgeknallt“ von einer
gewissen Schärfe und auch von einer Personalisierung
gekennzeichnet und hat unabhängig von seiner Deutung
ehrverletzenden Charakter. Eine Meinungsäußerung wird aber
nicht schon wegen ihrer herabsetzenden Wirkung für Dritte zur
Schmähung. Hinzukommen muss vielmehr, dass die persönliche
Kränkung das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund
drängt. Die Beurteilung dieser Frage erfordert regelmäßig,
den Anlass und den Kontext der Äußerung zu beachten (vgl.
BVerfGE 93, 266 <303>; BVerfG, NJW 2005, S.
3274 f.). Eine isolierte Betrachtung eines einzelnen
Begriffs kann allenfalls ausnahmsweise dann die Annahme einer
der Abwägung entzogenen Schmähung tragen, wenn dessen
diffamierender Gehalt so erheblich ist, dass der Ausdruck in
jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des
Betroffenen erscheint und daher unabhängig von seinem
konkreten Kontext stets als persönlich diffamierende
Schmähung aufgefasst werden muss, wie dies möglicherweise bei
Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter - etwa aus
der Fäkalsprache - der Fall sein kann (vgl. BVerfG, NJW 2009,
S. 749 <750>).
36
Die bisherigen Feststellungen des Amtsgerichts
tragen eine solche Beurteilung nicht. Bei der beanstandeten
Wortwahl handelt es sich nicht um eine Ehrverletzung, die
ihrem Bedeutungsgehalt nach unabhängig von ihrem
Verwendungskontext die mit ihm bezeichnete Person stets als
ganze herabsetzt und der Abwägung von vornherein entzogen
wäre. Vielmehr kann die Äußerung, der Betreffende sei
angesichts der von ihm zu verantwortenden Art und Weise der
Führung eines Ermittlungsverfahrens „verrückt geworden“,
„durchgedreht“ beziehungsweise ihm seien „die Sicherungen
durchgebrannt“, an ein Verhalten des Betroffenen anknüpfen
und in polemischer Form zum Ausdruck bringen, dass die von
ihm gerügte Verletzung rechtlicher oder ethischer Grenzen so
schwer wiege, dass sie aus sachlichen und rationalen Gründen
nicht erklärbar sei. In diesem Fall hängt die Beurteilung der
schmähenden Wirkung aber gerade vom Kontext ab, so dass
ungeachtet ihrer ehrverletzenden Wirkung die Bezeichnung als
„durchgeknallt“ in keiner in der in Betracht kommenden
Deutungen eine solche Schmähung darstellt, die in jedem
denkbaren Äußerungszusammenhang bar jeden Sachbezugs allein
der Diffamierung des Betroffenen diente.
37
Bei der gebotenen Berücksichtigung des
Zusammenhangs, in dem die Äußerung fiel, ist die Annahme
einer Schmähkritik aber nicht tragfähig. Gegenstand der
Fernsehdiskussion war das Ermittlungsverfahren gegen Dr. F.
In diesem Zusammenhang äußerte der Beschwerdeführer Kritik an
der Informationspolitik der zuständigen Staatsanwaltschaft
und bedachte deren Behördenleiter mit der beanstandeten
Bezeichnung. Dieser Kontext spricht gegen die Annahme, dass
der Beschwerdeführer dem Betroffenen pauschal die geistige
Gesundheit habe absprechen und ihn damit ungeachtet seines
Sachanliegens habe diffamieren wollen. Vielmehr liegt es aus
Sicht des unvoreingenommenen Publikums nahe, dass er auch
durch diese Begriffswahl Kritik an dem Umgang des als
verantwortlich betrachteten Generalstaatsanwalts mit den
Persönlichkeitsrechten eines Beschuldigten üben wollte,
dessen - nach Auffassung des Beschwerdeführers -
skandalöser Gehalt darin liege, dass die Staatsanwaltschaft
die gebotene Rücksichtnahme auf das Persönlichkeitsrecht
eines Beschuldigten missachtet habe, indem sie in einem
frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens die Öffentlichkeit
über die Vorwürfe informiert und auf diese Weise den
Betroffenen ungeachtet der seinerzeit noch fehlenden
Schuldfeststellung bloßgestellt habe. Die Herauslösung des
Begriffs „durchgeknallt“ aus diesem Kontext verstellt den
Blick darauf, dass die umstrittene Äußerung im Zusammenhang
mit einer Sachauseinandersetzung um die Ausübung staatlicher
Strafverfolgungsbefugnisse fiel. In diesem Kontext kann der
verwendeten Begriffswahl aber nicht jeglicher Sachbezug
abgesprochen werden, da sie - wenn auch in polemischer und in
herabsetzender Form - durchaus die Sachaussage transportieren
kann, dass ein als verantwortlich angesehener Staatsanwalt im
Zuge der Strafverfolgungstätigkeit die gebotene Zurückhaltung
und Rücksichtnahme auf das Persönlichkeitsrecht eines
Beschuldigten in unsachgemäßer und übertriebener Weise habe
vermissen lassen.
38
In diesem zu berücksichtigenden Kontext
erlangt die Vermutung für die freie Rede umso schwereres
Gewicht, als die geübte Kritik die Ausübung staatlicher
Gewalt zum Inhalt hatte; die Meinungsfreiheit ist aber gerade
aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen
und findet darin unverändert ihre Bedeutung (vgl. BVerfGE 93,
266 <293>). Teil der von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG
umfassten Freiheit, seine Meinung in selbstbestimmter Form
zum Ausdruck zu bringen (vgl. BVerfGE 54, 129
<138 f.>; 60, 234 <241>), ist auch, dass der
Äußernde von ihm als verantwortlich angesehene Amtsträger in
anklagender und personalisierter Weise für die zu
kritisierende Art der Machtausübung angreifen kann, ohne
befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente
seiner Äußerung aus diesem Kontext herausgelöst betrachtet
werden und als solche die Grundlage für eine einschneidende
gerichtliche Sanktion bilden. Die Personalisierung eines
Sachanliegens in anklagender Form ist in solch
unterschiedlicher Form und Intensität möglich, dass es nicht
gerechtfertigt wäre, die Meinungsfreiheit in diesen Fällen
wie bei Schmähungen stets und ungeachtet der weiteren
Umstände zurücktreten zu lassen. Vielmehr ist es
erforderlich, in die gebotene Abwägung einzustellen, ob der
Betreffende als private Person oder sein öffentliches Wirken
mit seinen weitreichenden gesellschaftlichen Folgen
Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die
persönliche Integrität des Betroffenen von der Äußerung
ausgehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten
Senats vom 8. April 1999 - 1 BvR 2126/93 -, NJW 1999, S. 2358
<2359>).
39
c) Infolge dessen durfte das Amtsgericht den
Beschwerdeführer nicht wegen Beleidigung verurteilen, ohne
eine Abwägung zwischen seiner Meinungsfreiheit und dem
Persönlichkeitsrecht des Geschädigten vorzunehmen. Hält ein
Gericht eine Äußerung fälschlicherweise für eine Schmähung,
so liegt darin ein auch verfassungsrechtlich erheblicher
Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese
darauf beruht (vgl. BVerfGE 82, 272 <281>; 93, 266
<294>), insbesondere wenn - wie hier - das Gericht aus
diesem Grunde eine Abwägung unterlässt (vgl. BVerfGK 4, 54
<59>; 8, 89 <98>).
40
4. Auch die Entscheidung des Kammergerichts
verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5
Abs. 1 Satz 1 GG. Mit Erhebung der Sachrüge hat der
Beschwerdeführer die erstinstanzliche Entscheidung auch mit
Blick auf die gerügte Grundrechtsverletzung zur Überprüfung
durch das Revisionsgericht gestellt. Mangels eigener
Begründung kann nicht beurteilt werden, ob das Kammergericht
die erforderliche Abwägung vorgenommen und mit tragfähigen
Gründen ein Überwiegen des Persönlichkeitsschutzes angenommen
hat. Soweit in Betracht kommt, dass das Kammergericht sich
die Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft zu Eigen gemacht
hat (vgl. hierzu BVerfGK 5, 269 <285 f.>), ergibt
sich kein anderes Ergebnis. Die Generalstaatsanwaltschaft
blendet ebenso wie das Amtsgericht bei Beurteilung der Frage,
ob es sich bei der beanstandeten Äußerung um eine Schmähung
handelt, den Sachzusammenhang der Äußerung in
verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise aus, indem sie
allein auf deren personalisierenden Gehalt abstellt und
hervorhebt, dass eine Kritik an der Tätigkeit der
Staatsanwaltschaft für sich genommen unbedenklich sei, nicht
aber in der personalisierten, auf den Betroffenen
zugespitzten und diesen herabsetzenden Form. Auch die
weiteren von der Generalstaatsanwaltschaft aufgeworfenen
Umstände vermögen die Annahme der Schmähkritik nicht zu
rechtfertigen. Sie lassen auch nicht diejenigen Erwägungen
erkennen, die für eine Abwägung maßgeblich wären. Die
Generalstaatsanwaltschaft reduziert das Recht zur
Meinungsäußerung im politischen Meinungskampf zumindest mit
Blick auf personalisierte Kritik in ehrverletzender Form im
Wesentlichen auf ein Recht zum Gegenschlag und verneint
dieses im vorliegenden Fall. Ungewichtet bleibt demgegenüber
die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Kritik
an staatlicher Machtausübung und der erkennbare Sachbezug der
Äußerung zur kritisierten Art und Weise der Führung eines
konkreten Ermittlungsverfahrens, welche die
Generalstaatsanwaltschaft im Übrigen selbst als kritikwürdig
einstuft.
41
5. Die Entscheidungen beruhen auch auf dem
aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehler. Es ist nicht
auszuschließen, dass die Gerichte bei erneuter Befassung zu
einer anderen Entscheidung in der Sache kommen werden. Soweit
keine weitergehenden Umstände festgestellt werden, welche die
Annahme einer Schmähkritik rechtfertigen können, werden die
Gerichte in die erforderliche Abwägung den Sachzusammenhang,
in dem die Äußerung fiel, einzustellen und zu gewichten
haben, ob die Äußerung mit den von ihr ausgehenden
Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen
durch die Meinungsfreiheit mit Blick auf das vom
Beschwerdeführer verfolgte Anliegen gerechtfertigt ist.
Hierbei kann unter anderem von Bedeutung sein, ob der
vermeintliche Anlass für die Kritik auch insoweit vorgelegen
hat, als sie auf den Geschädigten persönlich zugespitzt
worden ist. Berücksichtigung kann im diesem Zusammenhang auch
finden, ob der Beschwerdeführer zugleich auf die eigenen
Äußerungen des Betroffenen zur Art und Weise seiner
Amtsführung angespielt hat. Zu Recht hat das Amtsgericht zwar
angenommen, dass der behauptete Umstand, der Geschädigte habe
seinerseits zuvor öffentlich in polarisierender Form ein
hartes Durchgreifen der Ermittlungsbehörden propagiert und
dabei dezidiert für sich in Anspruch genommen, nicht
zimperlich zu sein, nicht dazu führt, dass der Geschädigte
sich seines Persönlichkeitsrechts begeben habe. Ungeachtet
dessen können solcherart polarisierende Äußerungen
möglicherweise dann einen Anlass für scharfe Kritik gerade in
personalisierter Form gegen den Behördenleiter geben, wenn
ein Fall in Rede steht, bei dem - nach Auffassung des
Kritikers - eine Strafverfolgungsbehörde in Umsetzung eben
jener Haltung ihres Behördenleiters auf das
Persönlichkeitsrecht eines Beschuldigten keine Rücksicht
genommen habe.
42
6. Die Entscheidungen über die Erstattung der
notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf
§ 34a Abs. 2 BVerfGG.
Papier
Eichberger
Masing | bundesverfassungsgericht |
2-2002 | 15. Januar 2002 | Schächterlaubnis für muslimischen Metzger
Pressemitteilung Nr. 2/2002 vom 15. Januar 2002
Urteil vom 15. Januar 20021 BvR 1783/99
Mit Urteil vom heutigen Tage hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines türkischen muslimischen Metzgers stattgegeben, der eine Ausnahmegenehmigung von dem allgemeinen gesetzlichen Verbot erstrebte, Tiere ohne Betäubung zu schlachten (zu schächten). Der Hintergrund des Verfahrens ist dargestellt in der Pressemitteilung Nr. 97/2001 vom 15. Oktober 2001, die auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts nach gelesen werden kann.
Der Erste Senat stellt fest, dass § 4 a des Tierschutzgesetzes (TierSchG) verfassungsgemäß ist, seine Auslegung und Anwendung durch die Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte in den angegriffenen Entscheidungen den Anforderungen des Grundgesetzes (GG) jedoch nicht gerecht werden. Nach Absatz 1 dieser Norm ist das Schächten grundsätzlich verboten. Absatz 2 eröffnet jedoch die Möglichkeit, aus bestimmten - auch religiös motivierten - Gründen eine Aus nahmegenehmigung zu erteilen. Im Ausgangsverfahren ging es um die zweite Alternative der Nr. 2 dieses Absatzes; danach darf eine Ausnahmegenehmigung nur erteilt werden, soweit es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich des Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen.
Der Senat stellt klar, dass das Schächten für einen muslimischen Metzger in erster Linie eine Frage der Berufsausübung und nicht der Religionsausübung ist. Ein gläubiger Moslem hat diese Tätigkeit allerdings unter Beachtung religiöser Vorschriften auszuüben. Deshalb ist das Grundrecht der Religionsfreiheit als Maßstab für die Auslegung von Vorschriften, die die Berufsausübung einschränken, ergänzend und deren Schutz verstärkend heranzuziehen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Berufsausübungsfreiheit eingeschränkt werden kann. Hierbei ist insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
Danach ist § 4 a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG mit dem Grundgesetz verein bar. Der Gesetzgeber hat durch das allgemeine Schächtverbot wie durch die Ausnahmeregelung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG in zulässiger Weise den Belangen des Tierschutzes Rechnung getragen. Seine Grundannahme, dass es Tieren weniger Schmerzen und Leiden bereitet, wenn sie vor dem Schlachten betäubt werden, ist zumindest vertretbar. Durch die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen zu erteilen, wird aber auch den Grundrechten muslimischer Metzger hinreichend Rechnung getragen, deren Berufsausübung unter Beachtung ihrer religiösen Überzeugung so ermöglicht wird. Sie können damit ihre muslimischen Kunden mit dem Fleisch geschächteter Tiere beliefern und auf diese Weise in den Stand setzen, Fleisch in Übereinstimmung mit ihrer Glaubensüberzeugung zu verzehren.
Dies gilt allerdings nur, wenn § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG nicht wie seit einem Ur teil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995 (BVerwGE 99, 1) so ausgelegt und angewandt wird, dass die Vorschrift für muslimische Metzger praktisch leer läuft. Ein solches Ergebnis lässt sich durch eine verfassungsgemäße Auslegung der Tatbestandsmerkmale "Religionsge meinschaft" und "zwingende Vorschriften" vermeiden. Der Begriff der Religionsgemeinschaft ist, wie inzwischen in einer neueren Entscheidung (BVerwGE 112, 227) auch das Bundesverwaltungsgericht angenommen hat, nicht in dem Sinne zu verstehen, dass es sich um eine Religions gesellschaft oder -gemeinschaft im Verständnis des Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichsverfassung oder des Art. 7 Abs. 3 GG handeln müsste. Für die Bewilligung einer Ausnahmegenehmigung vom Schächtverbot ist vielmehr ausreichend, dass der Antragsteller einer Gruppe von Menschen angehört, die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbindet. Als Religionsgemeinschaften kommen im vorliegenden Zusammenhang deshalb auch Gruppierungen innerhalb des Islam in Betracht, deren Glaubensrichtung sich von derjenigen anderer islamischer Gemeinschaften unterscheidet. Diese Auslegung des Begriffs der Religionsgemeinschaft steht mit der Verfassung im Einklang und trägt insbesondere Art. 4 GG Rechnung. Sie ist auch mit dem Wortlaut der genannten tierschutzrechtlichen Vorschrift vereinbar und entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Dieser wollte die Ausnahmemöglichkeit nicht nur für Angehörige der jüdischen Glaubenswelt, sondern auch für Mitglieder des Islam und seiner unterschiedlichen Glaubensrichtungen eröffnen.
Mittelbar hat das Konsequenzen auch für die Handhabung des weiteren Merkmals "zwingende Vorschriften", die den Angehörigen der Gemeinschaft den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Ob dieses Merkmal erfüllt ist, haben die Behörden und im Streitfall die Gerichte zu entscheiden. Allerdings kann diese Frage bei einer Religion, die - wie der Islam - unterschiedliche Auffassungen zum Schächtgebot vertritt, nicht mit Blick auf den Islam insgesamt oder die sunnitischen oder schiitischen Glaubensrichtungen dieser Religion beantwortet werden.
Die Frage nach der Existenz zwingender Vorschriften ist vielmehr für die konkrete, gegebenen falls innerhalb einer solchen Glaubensrichtung bestehende Religionsgemeinschaft zu beurteilen.
Dabei reicht es aus, dass derjenige, der die erstrebte Ausnahmegenehmigung zur Versorgung der Mitglieder einer Gemeinschaft benötigt, substantiiert und nachvollziehbar darlegt, dass nach deren gemeinsamer Glaubensüberzeugung der Verzehr des Fleischs von Tieren zwingend eine betäubungslose Schlachtung voraussetzt. Ist eine solche Darlegung erfolgt, hat sich der Staat, der ein derartiges Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft nicht unberücksichtigt lassen darf, einer Bewertung dieser Glaubenserkenntnis zu enthalten.
Die Behörden und die Verwaltungsgerichte haben im Ausgangsverfahren die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer solchen Auslegung verkannt und sind daher bei der Anwendung der Ausnahmeregelung vom Schächtverbot zu Lasten des Beschwerdeführers zu einer unverhältnismäßigen Grundrechtsbeschränkung gelangt. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat deshalb die angegriffenen Gerichtsentscheidungen aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Karlsruhe, den 15. Januar 2002
nach oben | L e i t s ä t z e
zum Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar
2002
- 1 BvR 1783/99 -
Die Tätigkeit eines nichtdeutschen gläubigen
muslimischen Metzgers, der Tiere ohne Betäubung schlachten
(schächten) will, um seinen Kunden in Übereinstimmung mit
ihrer Glaubensüberzeugung den Genuss von Fleisch
geschächteter Tiere zu ermöglichen, ist
verfassungsrechtlich anhand von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu beurteilen.
Im Lichte dieser Verfassungsnormen ist
§ 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2
Alternative 2 des Tierschutzgesetzes so auszulegen, dass
muslimische Metzger eine Ausnahmegenehmigung für das
Schächten erhalten können.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1783/99 -
Verkündet
am 15. Januar 2002
Achilles
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn A...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Michael P. Stark und Koll.,
Gutzkowstraße 9, 60594 Frankfurt am Main -
1. unmittelbar gegen
a)
den Beschluss des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 1999
- 11 UZ 37/98 -,
b)
das Urteil des
Verwaltungsgerichts Gießen vom 2. Dezember 1997 - 7 E
1572/97 (3) -,
c)
den Widerspruchsbescheid
des Regierungspräsidiums Gießen vom 16. September 1997 -
17 c - 19 c 20/07 -,
d)
den Bescheid des Landrats
des Lahn-Dill-Kreises vom 7. Juli 1997 - 19 c 20/07
-,
2. mittelbar gegen
§ 4 a Abs. 1 und 2 Nr. 2 des
Tierschutzgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 17.
Februar 1993 (BGBl I S. 254)
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster
Senat - unter Mitwirkung
des Vizepräsidenten Papier,
der Richterinnen Jaeger,
Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 6.
November 2001 durch
Urteil
für Recht erkannt:
Der Beschluss des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 1999 - 11 UZ 37/98
-, das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 2.
Dezember 1997 - 7 E 1572/97 (3) - und der Bescheid des
Landrats des Lahn-Dill-Kreises vom 7. Juli 1997 - 19 c
20/07 - in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des
Regierungspräsidiums Gießen vom 16. September 1997 - 17 c -
19 c 20/07 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel
4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss des
Verwaltungsgerichtshofs und das Urteil des
Verwaltungsgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an
das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die
im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die
Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für das so genannte
Schächten, das heißt das Schlachten warmblütiger Tiere ohne
vorherige Betäubung.
I.
2
1. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in
Deutschland das Schächten als Schlachtmethode nach jüdischem
Ritus weithin erlaubt (vgl. dazu und zum Folgenden BGH, DÖV
1960, S. 635 f.). Die einschlägigen Regelungen sahen
dafür überwiegend Ausnahmen vom prinzipiellen Verbot des
Schlachtens ohne Betäubung vor. Nachdem der
Nationalsozialismus im Deutschen Reich an die Macht gekommen
war, gingen immer mehr Länder dazu über, das Schächten zu
verbieten. Deutschlandweit wurde der Zwang, warmblütige Tiere
vor der Schlachtung zu betäuben, durch das Gesetz über das
Schlachten von Tieren vom 21. April 1933 (RGBl I S. 203)
eingeführt, das nach den Feststellungen des
Bundesgerichtshofs das Ziel verfolgte, den jüdischen Teil der
Bevölkerung in seinen religiösen Empfindungen und Gebräuchen
zu verletzen (a.a.O., S. 636). Ausnahmen vom Schächtverbot
wurden nur noch für Notschlachtungen zugelassen.
3
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das
Schächten, soweit es nicht durch landesrechtliche
Vorschriften ausdrücklich wieder zugelassen worden war, meist
stillschweigend geduldet (vgl. Andelshauser, Schlachten im
Einklang mit der Scharia, 1996, S. 140 f.). Eine
bundesweite Regelung zum religiös motivierten betäubungslosen
Schlachten wurde aber erst mit der Aufnahme des
Schlachtrechts in das Tierschutzgesetz (im Folgenden:
TierSchG) getroffen. Seit dem In-Kraft-Treten des Ersten
Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 12. August
1986 (BGBl I S. 1309; zur aktuellen Fassung des
Tierschutzgesetzes vgl. die Bekanntmachung vom 25. Mai 1998,
BGBl I S. 1105, mit späteren Änderungen) enthält § 4 a
TierSchG in Absatz 1 das grundsätzliche Verbot, warmblütige
Tiere ohne vorherige Betäubung zu schlachten. Absatz 2 Nr. 2
sieht jedoch die Möglichkeit vor, aus religiösen Gründen
Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Dabei wurde die Regelung
der zweiten Alternative im Gesetzgebungsverfahren im
Zusammenhang mit Speisevorschriften sowohl der jüdischen wie
auch der islamischen Glaubenswelt gesehen (vgl. BT-Drucks
10/5259, S. 38).
4
§ 4 a TierSchG hat derzeit folgenden
Wortlaut:
5
(1) Ein warmblütiges Tier darf nur geschlachtet
werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden
ist.
6
(2) Abweichend von Absatz 1 bedarf es keiner
Betäubung, wenn
7
1. ...,
8
2. die zuständige Behörde eine
Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung
(Schächten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur
insoweit erteilen, als es erforderlich ist, den Bedürfnissen
von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im
Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen
zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das
Schächten vorschreiben oder den Genuß von Fleisch nicht
geschächteter Tiere untersagen oder
9
3. dies als Ausnahme durch Rechtsverordnung
nach § 4 b Nr. 3 bestimmt ist.
10
2. Nach dem Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995 (BVerwGE 99, 1),
in dem dieses die Ablehnung einer Ausnahmegenehmigung nach
der zweiten Alternative des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG
bestätigte, verlangt diese Bestimmung die objektive
Feststellung zwingender Vorschriften einer
Religionsgemeinschaft über das Betäubungsverbot beim
Schlachten. Erforderlich sei das eindeutige Vorliegen von
Normen der betreffenden Religionsgemeinschaft, die nach dem
staatlicher Beurteilung unterliegenden Selbstverständnis der
Gemeinschaft als zwingend zu gelten hätten. Eine individuelle
Sicht, die allein auf die jeweilige subjektive - wenn auch
als zwingend empfundene - religiöse Überzeugung der
Mitglieder einer Religionsgemeinschaft abstelle, sei mit
Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des
Gesetzes nicht vereinbar (vgl. a.a.O., S. 4 ff.).
11
In dieser Auslegung stehe § 4 a Abs. 2
Nr. 2 TierSchG nicht im Widerspruch zur Verfassung. Die
Vorschrift verletze insbesondere nicht das in Art. 4 Abs. 1
und 2 GG garantierte Grundrecht der Religionsfreiheit. In
dieses Recht werde durch die Versagung einer Ausnahme vom
Schächtungsverbot nicht eingegriffen, wenn die religiöse
Überzeugung dem Betroffenen nur den Genuss von Fleisch nicht
geschächteter Tiere verbiete. Das Verbot betäubungslosen
Schlachtens hindere die Anhänger einer solchen Religion nicht
an einer ihrer Religion entsprechenden Lebensgestaltung. Sie
seien weder rechtlich noch tatsächlich gezwungen, entgegen
ihrer religiösen Überzeugung Fleisch nicht geschächteter
Tiere zu verzehren. Mit dem Schächtungsverbot werde nicht der
Verzehr des Fleischs geschächteter Tiere verboten. Sie
könnten sowohl auf Nahrungsmittel pflanzlichen Ursprungs und
auf Fisch ausweichen als auch auf Fleischimporte aus anderen
Ländern zurückgreifen. Zwar möge Fleisch heute ein allgemein
übliches Nahrungsmittel sein. Der Verzicht darauf stelle
jedoch keine unzumutbare Beschränkung der persönlichen
Entfaltungsfreiheit dar. Diese an Art. 2 Abs. 1 GG zu
messende Erschwernis in der Gestaltung des Speiseplans sei
aus Gründen des Tierschutzes zumutbar (vgl. a.a.O., S.
7 f.).
12
Das Bundesverwaltungsgericht sah sich in dem
von ihm entschiedenen Fall an die tatsächlichen
Feststellungen des Berufungsgerichts gebunden, nach denen es
für die Sunniten ebenso wie für die Muslime insgesamt keine
zwingenden Glaubensvorschriften gebe, die den Genuss des
Fleischs von Tieren verböten, die vor dem Schlachten betäubt
worden seien (vgl. a.a.O., S. 9).
13
Diese Rechtsprechung hat das
Bundesverwaltungsgericht inzwischen modifiziert (vgl. BVerwGE
112, 227).
II.
14
Der Beschwerdeführer ist türkischer
Staatsangehöriger und nach seinen - im Verfahren nicht
bestrittenen - Angaben strenggläubiger sunnitischer Muslim.
Er lebt seit 20 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und
betreibt in Hessen eine Metzgerei, die er 1990 von seinem
Vater übernahm. Für die Versorgung seiner muslimischen Kunden
erhielt er bis Anfang September 1995 Ausnahmegenehmigungen
für ein Schlachten ohne Betäubung nach § 4 a Abs. 2 Nr.
2 TierSchG. Die Schlachtungen nahm er in seinem Betrieb unter
veterinärärztlicher Aufsicht vor. Für die Folgezeit stellte
der Beschwerdeführer weitere Anträge auf Erteilung solcher
Genehmigungen. Sie blieben im Hinblick auf das erwähnte
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995
erfolglos. Die im Ausgangsverfahren gegen den Ablehnungs- und
Widerspruchsbescheid erhobene Klage hat das
Verwaltungsgericht abgewiesen; dabei hat es zur Begründung
ebenfalls auf dieses Urteil und außerdem auf das
Berufungsurteil in jenem Verfahren verwiesen. Der
Verwaltungsgerichtshof hat den Antrag des Beschwerdeführers
auf Zulassung der Berufung abgelehnt:
15
Soweit der Beschwerdeführer ernstliche Zweifel
an der zutreffenden Anwendung der zweiten Alternative des
§ 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG äußere, fehle es an einer
substantiierten Darlegung, dass das Bundesverwaltungsgericht
und das Berufungsgericht in den in Bezug genommenen
Entscheidungen zu Unrecht zu der Feststellung gekommen seien,
der Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere sei durch
höchste und maßgebliche Vertreter des sunnitischen Islam
nicht zwingend verboten. Der Beschwerdeführer verkenne diese
Feststellungen, wenn er meine, in einer säkularen Republik
könnten Glaubensinhalte nicht behördlich festgestellt werden.
Die Gerichte entschieden insoweit nicht verbindlich
religionsgesetzliche Fragen, sondern stellten mit Hilfe von
Sachverständigen nur fest, ob die Tatbestandsvoraussetzungen
der anzuwendenden Vorschrift gegeben seien. Diese Bewertung
der Feststellungen von Sachverständigen habe das
Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung ausdrücklich
als rechtmäßig beurteilt.
16
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des
verwaltungsgerichtlichen Urteils ergäben sich auch nicht aus
verfassungsrechtlichen Gründen. Griffe die zweite Alternative
des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG in das Recht des
Beschwerdeführers auf freie Religionsausübung ein, wäre
dieser Eingriff unter Beachtung der Begrenzungen, denen auch
die Religionsfreiheit unterliege, jedenfalls nicht
verfassungswidrig. Nach der Wertung des Gesetzgebers werde
durch diese Vorschrift allein geregelt, dass bei freiwilliger
Ausübung des Berufs des Schlachters Einschränkungen der
religiösen Grundhaltung gerechtfertigt sein könnten. Insofern
handele es sich um eine sachgerechte Regelung der
Berufsausübung.
17
Vor diesem Hintergrund lägen auch keine
besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten
vor, derentwegen die Berufung zuzulassen wäre. Die
Rechtssache habe auch keine grundsätzliche Bedeutung.
III.
18
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der
Beschwerdeführer unmittelbar gegen die im
Verwaltungsverfahren und im Verfahren vor den
Verwaltungsgerichten ergangenen Entscheidungen sowie
mittelbar gegen § 4 a Abs. 1 und 2 Nr. 2 TierSchG. Er
rügt unter anderem die Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3
Abs. 1 und 3, Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie von Art. 12 Abs. 1
GG.
19
1. Das Schächten und die Möglichkeit, sich
ohne erhebliche Erschwernisse mit Fleisch geschächteter Tiere
zu versorgen, seien vom Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2
GG erfasst. Dem Schlachten ohne Betäubung komme in der
islamischen Religion zentrale Bedeutung zu. Sein kultischer
Charakter ergebe sich nicht nur daraus, dass das Schächtgebot
direkt dem Koran zu entnehmen sei. Auch die Art und Weise des
Schächtens seien genau bestimmt. Bei dem Schächtverbot
handele es sich danach um einen Eingriff in das Grundrecht
des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Dies sei in den angegriffenen
Entscheidungen verkannt worden. Der Beschwerdeführer sehe das
Schächten als unbedingte religiöse Pflicht an. Dass seine
Religionsausübung zugleich eine Berufsausübung darstelle,
ändere daran nichts.
20
Das Schächtgebot sei für den Beschwerdeführer,
dessen Kunden und alle Angehörigen der sunnitischen
Glaubensrichtung des Islam eine zwingende Vorschrift im
Verständnis des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG. Die
entgegenstehende Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts in
der Entscheidung vom 15. Juni 1995 verkenne die Bedeutung der
Glaubensfreiheit grundlegend. Ob für den einzelnen Gläubigen
zwingende Vorschriften in dem genannten Sinne bestünden, sei
im Hinblick auf das Gebot strikter weltanschaulicher
Neutralität des Staates nicht vom staatlichen Gericht
verbindlich zu entscheiden. Es reiche deshalb aus, wenn aus
den Umständen hinreichend deutlich hervorgehe, dass eine
ernsthafte Glaubensüberzeugung vorliege. Bei Anwendung dieses
Maßstabs hätte dem Beschwerdeführer die Ausnahmegenehmigung
erteilt werden müssen.
21
2. Auch die Berufsfreiheit des
Beschwerdeführers sei verletzt. Er sei zwar türkischer
Staatsbürger, besitze aber eine - zeitlich wie räumlich
unbeschränkte - Aufenthaltsberechtigung und sei im Hinblick
auf die Dauer seines Aufenthalts in der Bundesrepublik
Deutschland hier so verwurzelt, dass ihm als
De-facto-Deutschem hinsichtlich seiner beruflichen Tätigkeit
als Metzger nicht nur der Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG,
sondern ein Grundrechtsschutz zu gewähren sei, der demjenigen
des Art. 12 Abs. 1 GG gleichwertig sei.
22
Bei der Tätigkeit eines muslimischen Metzgers
handele es sich um einen eigenständigen Beruf, weil zu dessen
Ausübung Qualifikationen erforderlich seien, die ein normaler
Schlachter nicht haben müsse. Dies betreffe nicht nur die
Durchführung des Schächtschnitts selbst, der schnell und
sauber vorgenommen werden müsse, damit das Schlachttier nicht
unnötig leide. Berufsbildprägend seien vielmehr auch
religiöse Handlungen wie die Anrufung Allahs.
23
Das Schächtverbot wirke sich für den
Beschwerdeführer faktisch als Berufsverbot und damit als
objektive Berufswahlbeschränkung aus. Er werde sich einen
neuen Beruf suchen müssen, wenn die angegriffenen
Entscheidungen Bestand hätten und ihm eine
Ausnahmegenehmigung für immer versagt bleibe. Ein so weit
reichender Eingriff könne verfassungsrechtlich nur
gerechtfertigt werden, wenn er der Abwehr nachweisbarer oder
höchstwahrscheinlich schwerer Gefahren für ein überragend
wichtiges Gemeinschaftsgut diene. Das sei aber hier nicht der
Fall.
24
3. Das Schächtverbot verstoße ferner gegen
Art. 3 Abs. 1 GG. Jüdische Metzger erhielten wegen ihrer
Glaubensüberzeugung zu Recht eine Ausnahmegenehmigung zum
Schächten. Da sich die Glaubenshaltung des Beschwerdeführers
von der jüdischen hinsichtlich des betäubungslosen
Schlachtens nicht unterscheide, sei für eine
Ungleichbehandlung kein Raum. Weiter sei Art. 3 Abs. 3 GG
verletzt. Die Aufnahme des Begriffs der
Religionsgemeinschaften in den Tatbestand des § 4 a Abs.
2 Nr. 2 TierSchG führe dazu, dass eine individuelle
Glaubensüberzeugung keine Beachtung mehr finde. Der
Beschwerdeführer werde deshalb, wenn seine
Glaubensvorstellungen von denen anderer Muslime abwichen,
gegenüber den Anhängern kleinerer und homogenerer
Glaubensgemeinschaften benachteiligt.
IV.
25
Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich -
schriftlich und in der mündlichen Verhandlung - geäußert: das
Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft namens der Bundesregierung, die Hessische
Staatskanzlei, der Zentralrat der Muslime in Deutschland und
der Deutsche Tierschutzbund.
26
Das Bundesministerium hält die mittelbar
angegriffene Regelung des § 4 a Abs. 1, 2 Nr. 2 TierSchG
für verfassungsgemäß. Sie diene einerseits dem von der
Verfassung vorgegebenen Ziel eines ethisch ausgerichteten
Tierschutzes, trage andererseits aber mit der Möglichkeit,
das Schächten aus religiösen Gründen, hier nach der zweiten
Alternative des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG,
ausnahmsweise zu genehmigen, auch dem Grundrecht der
Religionsfreiheit Rechnung. Durch die Erteilung
entsprechender Genehmigungen an Muslime werde auch deren
Integration in der Bundesrepublik Deutschland gefördert. Das
Schächten sei wie das Schlachten nach vorheriger Betäubung
dem ethisch begründeten Tierschutz verpflichtet und als
Schlachtmethode noch akzeptabel, wenn es ordnungsgemäß
durchgeführt werde. Soweit § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG
den Begriff der Religionsgemeinschaften verwende, werde an
einen Begriff angeknüpft, der hinreichend flexibel sei, um
auch den Besonderheiten der Muslime gerecht zu werden. Für
das Vorliegen einer solchen Gemeinschaft genüge ein
Mindestmaß an organisatorischen kontinuitätswahrenden
Strukturen.
27
Nach Auffassung der Hessischen Staatskanzlei
ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Teils fehle es an
einer unmittelbaren Grundrechtsbetroffenheit, teils an einer
den Substantiierungserfordernissen genügenden Darlegung.
28
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland
betont die große Bedeutung des Tierschutzes im Islam und
führt aus, das betäubungslose Schächten sei den Muslimen als
wesentlicher Bestandteil der Religionsausübung zwingend
vorgeschrieben. Diese Auffassung werde von allen bedeutsamen
islamischen Gruppierungen in Deutschland geteilt. Soweit in
einem Gutachten der Al-Azhar-Universität von Kairo davon die
Rede sei, dass Muslime auch das Fleisch nicht geschächteter
Tiere verzehren dürften, gelte dies nur für Notsituationen.
Eine solche sei für Muslime in Deutschland nicht gegeben. Das
Prinzip der Gleichbehandlung mit jüdischen Gläubigen gebiete
die Genehmigung des Schächtens nach § 4 a TierSchG auch
für Muslime.
29
Nach Ansicht des Deutschen Tierschutzbundes
erleiden Schlachttiere beim betäubungslosen Schlachten mehr
und stärkere Schmerzen als bei der konventionellen
Schlachtung. Die mit dem Schächten verbundenen Todesqualen
beschränkten sich nicht auf den Schnitt am Hals des zu
schlachtenden Tieres mit anschließendem langsamem
Bewusstseinsverlust, sondern begännen schon mit dem
Hereinführen der Tiere in den Schlachtraum und mit ihrer
Fixierung. Sie erstreckten sich also auf einen relativ langen
Zeitraum, den das Tier bei vollem Bewusstsein durchleide.
B.
30
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Zwar
ist § 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2
Alternative 2 TierSchG mit dem Grundgesetz vereinbar. Doch
halten die angegriffenen Entscheidungen, die auf diese
Regelung gestützt sind, der verfassungsgerichtlichen Prüfung
nicht stand.
I.
31
1. Prüfungsmaßstab ist in erster Linie Art. 2
Abs. 1 GG. Der Beschwerdeführer hat als gläubiger
sunnitischer Muslim im Ausgangsverfahren eine Ausnahme von
dem Betäubungsgebot des § 4 a Abs. 1 TierSchG erstrebt,
um in Ausübung seines Berufs als Metzger seinen muslimischen
Kunden den Genuss von Fleisch geschächteter Tiere zu
ermöglichen. Die Eigenversorgung des Beschwerdeführers mit
derartigem Fleisch tritt daneben zurück. Die zweite
Alternative des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG, auf deren
Grundlage die Verwaltungsbehörden und -gerichte das Begehren
des Beschwerdeführers geprüft haben, berührt daher vorrangig
die berufliche Tätigkeit des Beschwerdeführers als
Metzger.
32
Diese Tätigkeit wird, weil der
Beschwerdeführer nicht deutscher, sondern türkischer
Staatsangehöriger ist, nicht durch Art. 12 Abs. 1 GG
geschützt. Schutznorm ist vielmehr Art. 2 Abs. 1 GG in der
Ausprägung, die sich aus dem Spezialitätsverhältnis zwischen
dem auf Deutsche beschränkten Art. 12 Abs. 1 GG und dem für
Ausländer nur subsidiär geltenden Art. 2 Abs. 1 GG ergibt
(vgl. dazu BVerfGE 78, 179 <196 f.>). Das
Schächten ist allerdings für den Beschwerdeführer nicht nur
Mittel zur Gewinnung und Zubereitung von Fleisch für seine
muslimischen Kunden und für sich selbst. Es ist vielmehr nach
seinem in den angegriffenen Entscheidungen nicht in Zweifel
gezogenen Vortrag auch Ausdruck einer religiösen
Grundhaltung, die für den Beschwerdeführer als gläubigen
sunnitischen Muslim die Verpflichtung einschließt, die
Schächtung nach den von ihm als bindend empfundenen Regeln
seiner Religion vorzunehmen (vgl. dazu allgemein
Andelshauser, a.a.O., S. 39 ff.; Jentzsch, Das rituelle
Schlachten von Haustieren in Deutschland ab 1933, 1998, S.
28 ff.; Mousa, Schächten im Islam, in:
Potz/Schinkele/Wieshaider, Schächten. Religionsfreiheit und
Tierschutz, 2001, S. 16 ff.). Dem ist, auch wenn das
Schächten selbst nicht als Akt der Religionsausübung
verstanden wird, dadurch Rechnung zu tragen, dass der Schutz
der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG
durch den speziellen Freiheitsgehalt des Grundrechts der
Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verstärkt
wird.
33
2. Die Rechtsstellung, die der
Beschwerdeführer danach im Hinblick auf seine berufliche
Tätigkeit als Metzger genießt, ist gemäß Art. 2 Abs. 1 GG
allerdings nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung
gewährleistet. Dazu zählen alle Rechtsnormen, die formell und
materiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind (vgl. BVerfGE 6,
32 <36 ff.>; 96, 375 <397 f.>; stRspr).
Das setzt in materieller Hinsicht vor allem die Wahrung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und in diesem Rahmen die
Beachtung der Religionsfreiheit voraus.
II.
34
Diesen Maßstäben wird § 4 a Abs. 1 in
Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG
gerecht.
35
1. Zwar greift die Regelung in das Grundrecht
aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
ein, indem sie das betäubungslose Schlachten als Ausnahme vom
Betäubungsgebot des § 4 a Abs. 1 TierSchG im Rahmen der
beruflichen Tätigkeit eines muslimischen Metzgers nur unter
den einschränkenden Voraussetzungen der zweiten Alternative
des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG ermöglicht. Dieser
Eingriff ist jedoch nicht zu beanstanden, weil er sich
verfassungsrechtlich hinreichend rechtfertigen lässt.
36
a) Zweck des Tierschutzgesetzes ist es, aus
der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf
dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem
Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden
zufügen (§ 1 TierSchG). Dem Ziel eines ethisch
begründeten Tierschutzes (vgl. BVerfGE 36, 47
<56 f.>; 48, 376 <389>; 101, 1 <36>)
dient auch die Regelung des § 4 a Abs. 1 in Verbindung
mit Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG. Der Gesetzgeber
wollte mit der Aufnahme des Grundsatzes, dass warmblütige
Schlachttiere vor Beginn des Blutentzugs zu betäuben sind,
die in § 1 TierSchG umschriebene Grundkonzeption des
Gesetzes auf diesen Bereich ausdehnen (vgl. BTDrucks 10/3158,
S. 16). Das ist ein legitimes Regelungsziel, das auch dem
Empfinden breiter Bevölkerungskreise Rechnung trägt (vgl.
BVerfGE 36, 47 <57 f.>, und speziell mit Blick auf
das Schächten BTDrucks 10/5259, S. 32 unter I 2 a Nr. 3).
37
b) § 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2
Nr. 2 Alternative 2 TierSchG genügt den Anforderungen des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
38
aa) Die Regelung ist zur Erreichung des
genannten Regelungszwecks, auch das Schlachten warmblütiger
Tiere an die Grundsätze eines ethisch ausgerichteten
Tierschutzes zu binden, geeignet und erforderlich.
39
Die Verfassung billigt dem Gesetzgeber für die
Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit der von ihm für
die Durchsetzung der gesetzgeberischen Regelungsziele
gewählten Mittel einen Einschätzungsspielraum zu. Dies gilt
auch für die Beurteilung der tatsächlichen Grundlagen einer
gesetzlichen Regelung. Insoweit kann eine Fehleinschätzung
hier nicht angenommen werden. Zwar gibt es Stimmen, die
bezweifeln, dass das Schlachten nach vorheriger Betäubung für
das Tier deutlich weniger Schmerzen und Leiden verursacht als
das Schlachten ohne Betäubung (vgl. etwa für Schafe und
Kälber das Übersichtsreferat von
Schulze/Schultze-Petzold/Hazem/Groß, Deutsche Tierärztliche
Wochenschrift 85 <1978>, S. 62 ff.). Doch scheint
dies wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt zu
sein. Andere wie der Deutsche Tierschutzbund in seiner
Äußerung in der mündlichen Verhandlung geben dem Schlachten
unter Betäubung aus Gründen des Tierschutzes eindeutig den
Vorzug. Auch Art. 12 des Europäischen Übereinkommens über den
Schutz von Schlachttieren vom 10. Mai 1979 (BGBl 1983 II S.
771) und Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 93/119/EG
des Rates der Europäischen Union über den Schutz von Tieren
zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung vom 22. Dezember
1993 (ABlEG Nr. L 340/21) gehen davon aus, dass es Tieren
weniger Schmerzen und Leiden bereitet, wenn sie vor dem
Blutentzug betäubt werden. Die damit übereinstimmende
Einschätzung durch den Bundesgesetzgeber und dessen Annahme,
das Betäubungsgebot des § 4 a Abs. 1 TierSchG sei zur
Erreichung der Ziele des § 1 TierSchG geeignet und
mangels einer gleich wirksamen Alternative auch erforderlich,
sind unter diesen Umständen zumindest vertretbar.
40
Gleiches gilt für die Beurteilung der
Ausnahmeregelung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2
TierSchG. Der Gesetzgeber hat die Befreiung vom
Betäubungsgebot des § 4 a Abs. 1 Tier-SchG unter den
Vorbehalt einer Ausnahmegenehmigung gestellt, weil er das
Schächten einer verstärkten staatlichen Kontrolle unterwerfen
wollte. Insbesondere sollte die Möglichkeit geschaffen
werden, über die Prüfung der Sachkunde und der persönlichen
Eignung der antragstellenden Personen hinaus durch
Nebenbestimmungen zur Ausnahmegenehmigung zu gewährleisten,
dass den zu schlachtenden Tieren beim Transport, beim
Ruhigstellen und beim Schächtvorgang selbst alle vermeidbaren
Schmerzen oder Leiden erspart werden. Das soll beispielsweise
durch Anordnungen über geeignete Räume, Einrichtungen und
sonstige Hilfsmittel erreicht werden können (vgl. BTDrucks
10/3158, S. 20 zu Nr. 5). Haus- und sonstige
Privatschlachtungen, bei denen ein ordnungsgemäßes Schächten
häufig nicht gesichert ist und die infolgedessen zu besonders
Anstoß erregendem Leiden der betroffenen Tiere führen können,
sollen auf diese Weise möglichst unterbunden, Schlachtungen
in zugelassenen Schlachthäusern stattdessen angestrebt werden
(vgl. BTDrucks 10/5259, S. 39 zu Art. 1 Nr. 5).
41
Im Übrigen setzt die Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung nach § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative
2 TierSchG voraus, dass im konkreten Fall Bedürfnissen von
Angehörigen einer Religionsgemeinschaft zu entsprechen ist,
denen zwingende Vorschriften dieser Gemeinschaft den Genuss
von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Dadurch,
dass das Gesetz Ausnahmen vom Betäubungsgebot nur unter
diesen Voraussetzungen zulässt, wird zwangsläufig die Zahl
der in Betracht kommenden Ausnahmen verringert. Bei einer
Religion wie dem Islam kommt hinzu, dass dieser selbst, wie
der Zentralrat der Muslime in Deutschland in seiner
Stellungnahme ausgeführt hat, eine möglichst schonende Tötung
von Tieren verlangt (ebenso Andelshauser, a.a.O., S. 35, 62,
79 f.). Das Schächten muss nach den Regeln des Islam so
vorgenommen werden, dass der Tod des zu schlachtenden Tiers
so schnell wie möglich herbeigeführt wird und dessen Leiden
unter Vermeidung jeder Art von Tierquälerei auf ein Minimum
beschränkt werden (vgl. auch Österreichischer
Verfassungsgerichtshof, EuGRZ 1999, S. 600 <603>). Auch
von daher konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass der
Ausnahmevorbehalt des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2
TierSchG eine zur Gewährleistung eines ethischen Geboten
verpflichteten Tierschutzes geeignete und auch erforderliche
Maßnahme darstellt.
42
bb) Die in Rede stehende gesetzliche Regelung
ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Bei einer
Gesamtabwägung zwischen der Schwere des mit § 4 a Abs. 1
in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG
verbundenen Grundrechtseingriffs und dem Gewicht sowie der
Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe ist es den
Betroffenen zuzumuten (vgl. BVerfGE 90, 145 <173>; 101,
331 <350>), warmblütige Tiere unter den vom Gesetzgeber
festgelegten Voraussetzungen nur auf der Grundlage einer
Ausnahmegenehmigung ohne vorherige Betäubung zu
schlachten.
43
(1) Der Eingriff in das Grundrecht der
Berufsfreiheit muslimischer Metzger wiegt allerdings schwer.
Ohne Ausnahmevorbehalt wäre es gläubigen Muslimen wie dem
Beschwerdeführer nicht mehr möglich, in der Bundesrepublik
Deutschland den Beruf des Schlachters auszuüben. Sie müssten
sich darauf beschränken, in ihrem Betrieb entweder
importiertes Fleisch geschächteter oder Fleisch nicht
geschächteter, also unter Betäubung geschlachteter Tiere zu
verkaufen, wenn sie ihren Betrieb wenigstens als
Verkaufsstelle fortführen wollten und nicht, wie es der
Beschwerdeführer für seine Person geltend gemacht hat,
aufgeben würden, um sich eine neue Grundlage ihrer
Lebensführung zu schaffen. Jede dieser Entscheidungen wäre
für den Betroffenen mit weit reichenden Konsequenzen
verbunden. Der Entschluss, nur noch als Verkäufer das Fleisch
geschächteter Tiere zu vermarkten, wäre nicht nur mit dem
Verzicht auf die Tätigkeit eines Schlachters, sondern auch
mit der Ungewissheit verbunden, ob das von ihm angebotene
Fleisch tatsächlich von geschächteten Tieren stammt und damit
einen Fleischgenuss in Übereinstimmung mit den Regeln des
eigenen Glaubens und des Glaubens der Kunden ermöglicht. Die
Entscheidung, den Metzgereibetrieb auf den Verkauf von
Fleisch nicht geschächteter Tiere umzustellen, hätte zur
Folge, dass vom Betriebsinhaber neue Kunden gewonnen werden
müssen. Die völlige berufliche Umorientierung schließlich
würde, falls sie in der konkreten Lebenssituation des
Betroffenen überhaupt noch möglich sein sollte, bedeuten,
dass dieser sich eine andere Existenzgrundlage aufbauen
müsste.
44
Das Verbot trifft nicht nur den muslimischen
Metzger, sondern auch seine Kunden. Wenn sie Fleisch
geschächteter Tiere nachfragen, beruht dies ersichtlich auch
auf der Überzeugung von der bindenden Kraft ihres Glaubens,
anderes Fleisch nicht essen zu dürfen. Von ihnen zu
verlangen, im Wesentlichen dem Verzehr von Fleisch zu
entsagen, trüge den Essgewohnheiten in der Gesellschaft der
Bundesrepublik Deutschland nicht hinreichend Rechnung. Danach
ist Fleisch ein weit verbreitetes Nahrungsmittel, auf das
unfreiwillig zu verzichten schwerlich als zumutbar angesehen
werden kann. Der Verzehr importierten Fleischs macht einen
solchen Verzicht zwar entbehrlich, ist jedoch im Hinblick auf
das Fehlen des persönlichen Kontakts zum Schlachter und der
dadurch geschaffenen Vertrauensbasis mit der Unsicherheit
verbunden, ob das verzehrte Fleisch tatsächlich den Geboten
des Islam entspricht.
45
(2) Diesen Konsequenzen für gläubige
muslimische Metzger und ihre ebenfalls gläubigen Kunden steht
gegenüber, dass der Tierschutz einen Gemeinwohlbelang
darstellt, dem auch in der Bevölkerung ein hoher Stellenwert
beigelegt wird. Der Gesetzgeber hat dem dadurch Rechnung
getragen, dass er Tiere nicht als Sachen, sondern als -
Schmerz empfindende - Mitgeschöpfe versteht und sie durch
besondere Gesetze geschützt wissen will (vgl. § 90 a
Satz 1 und 2 BGB, § 1 TierSchG). Dieser Schutz ist vor
allem im Tierschutzgesetz verankert.
46
Er ist dort allerdings nicht in der Weise
verwirklicht, dass den Tieren jede Beeinträchtigung ihres
Wohlbefindens von Gesetzes wegen zu ersparen ist. Das Gesetz
wird vielmehr lediglich von dem Leitgedanken bestimmt, Tieren
nicht "ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder
Schäden" zuzufügen (vgl. § 1 TierSchG sowie BVerfGE 36,
47 <57>; 48, 376 <389>).
47
Dementsprechend sieht das Tierschutzgesetz von
dem Gebot, Tiere nur unter Betäubung zu töten, nicht allein
in § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Ausnahmen vor. Ausnahmen von der
Betäubungspflicht bestehen vielmehr auch für
Notschlachtungen, soweit eine Betäubung nach den gegebenen
Umständen nicht möglich ist (vgl. § 4 a Abs. 2 Nr. 1
TierSchG), und können außerdem für das Schlachten von
Geflügel durch Rechtsverordnung nach § 4 a Abs. 2 Nr. 3
in Verbindung mit § 4 b Satz 1 Nr. 3 TierSchG bestimmt
werden. Darüber hinaus erlaubt § 4 Abs. 1 Satz 1
TierSchG generell das Töten von Wirbeltieren ohne Betäubung,
soweit dies nach den Umständen zumutbar ist und Schmerzen
vermieden werden können. Ist die Tötung eines Wirbeltieres
ohne Betäubung im Rahmen weidgerechter Ausübung der Jagd oder
aufgrund anderer Rechtsvorschriften zulässig oder erfolgt sie
im Rahmen zulässiger Schädlingsbekämpfungsmaßnahmen, darf die
Tötung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TierSchG vorgenommen
werden, wenn dabei nicht mehr als unvermeidbare Schmerzen
entstehen.
48
Gerade die zuletzt genannten Ausnahmen zeigen,
dass der Gesetzgeber dort, wo sachliche Gesichtspunkte oder
auch Gründe des Herkommens und der gesellschaftlichen
Akzeptanz Ausnahmen vom Betäubungszwang nahe legen,
Durchbrechungen des Betäubungsgebots als mit den Zielen eines
ethischen Tierschutzes vereinbar angesehen hat.
49
(3) Unter diesen Umständen kann eine Ausnahme
von der Verpflichtung, warmblütige Tiere vor dem Ausbluten zu
betäuben, auch dann nicht ausgeschlossen werden, wenn es
darum geht, einerseits die grundrechtlich geschützte Ausübung
eines religiös geprägten Berufs und andererseits die
Einhaltung religiös motivierter Speisevorschriften durch die
Kunden des Berufsausübenden zu ermöglichen. Ohne eine
derartige Ausnahme würden die Grundrechte derjenigen, die
betäubungslose Schlachtungen berufsmäßig vornehmen wollen,
unzumutbar beschränkt, und den Belangen des Tierschutzes wäre
ohne zureichende verfassungsrechtliche Rechtfertigung
einseitig der Vorrang eingeräumt. Notwendig ist stattdessen
eine Regelung, die in ausgewogener Weise sowohl den
betroffenen Grundrechten als auch den Zielen des ethischen
Tierschutzes Rechnung trägt.
50
(a) § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2
TierSchG wird diesen Anforderungen im Ansatz gerecht. Die
Regelung will im Hinblick auf Speisenormen vor allem der
islamischen und der jüdischen Glaubenswelt (vgl. BTDrucks
10/5259, S. 38) das Schächten aus religiösen Gründen auf der
Grundlage von Ausnahmegenehmigungen ermöglichen (vgl.
BTDrucks 10/3158, S. 20 zu Nr. 5). Über das Instrument der
Ausnahmegenehmigung soll ein Weg eröffnet werden, der es
erlaubt, öffentlicher Kritik am religiös motivierten
Schlachten ohne Betäubung insbesondere in Form so genannter
Haus- und Privatschlachtungen zu begegnen (vgl. BTDrucks
10/5259, S. 32 unter I 2 a Nr. 3). Auf diesem Weg kann, wie
schon erwähnt, unter anderem durch Nebenbestimmungen
sichergestellt werden, dass den zu schlachtenden Tieren alle
vermeidbaren Schmerzen und Leiden erspart werden (vgl.
BTDrucks 10/3158, S. 20 zu Nr. 5, und auch BT-Drucks 10/5259,
S. 39 zu Art. 1 Nr. 5). Ziel der Regelung ist danach, den
Grundrechtsschutz gläubiger Muslime und Juden zu wahren, ohne
damit die Grundsätze und Verpflichtungen eines ethisch
begründeten Tierschutzes aufzugeben. Das trägt den Rechten
auch des Beschwerdeführers angemessen Rechnung.
51
(b) Anders wäre es allerdings dann, wenn der
Tatbestand des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG
so zu verstehen wäre, wie er vom Bundesverwaltungsgericht in
dem Urteil vom 15. Juni 1995 (BVerwGE 99, 1) ausgelegt worden
ist. Es hat das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen
dieser Norm verneint, weil der sunnitische Islam, dem auch
der Beschwerdeführer angehört, wie der Islam insgesamt den
Verzehr des Fleischs nicht geschächteter Tiere nicht zwingend
verbiete (vgl. a.a.O., S. 9). § 4 a Abs. 2 Nr. 2
TierSchG verlange die objektive Feststellung zwingender
Vorschriften einer Religionsgemeinschaft über das
Betäubungsverbot beim Schlachten.
52
Eine individuelle Sicht, die allein auf die
jeweilige subjektive - wenn auch als zwingend empfundene -
religiöse Überzeugung der Mitglieder einer solchen
Gemeinschaft abstellt, sei demzufolge mit dem Regelungsgehalt
des Gesetzes unvereinbar (vgl. a.a.O., S. 4 f.).
53
Diese Auslegung wird der Bedeutung und
Reichweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht gerecht. Sie führt im
Ergebnis dazu, dass § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2
TierSchG für Muslime ohne Rücksicht auf ihre
Glaubensüberzeugung leer läuft. Die berufliche Tätigkeit
eines Metzgers, der im Hinblick auf die Speisevorschriften
seines Glaubens und des Glaubens seiner Kunden schächten
will, um deren Versorgung mit dem Fleisch betäubungslos
geschlachteter Tiere sicherzustellen, wird damit verhindert.
Das belastet die Betroffenen in unangemessener Weise und
trägt einseitig nur den Belangen des Tierschutzes Rechnung.
In dieser Auslegung wäre § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative
2 TierSchG verfassungswidrig.
54
(c) Dieses Ergebnis lässt sich jedoch durch
eine Auslegung der Tatbestandsmerkmale der
"Religionsgemeinschaft" und der "zwingenden Vorschriften"
vermeiden, die dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Rechnung trägt.
55
Wie das Bundesverwaltungsgericht inzwischen
selbst in seinem Urteil vom 23. November 2000 (BVerwGE 112,
227) entschieden hat, verlangt § 4 a Abs. 2 Nr. 2
TierSchG mit dem Begriff der Religionsgemeinschaft keine
Gemeinschaft, die im Sinne des Art. 137 Abs. 5 WRV die
Voraussetzungen für die Anerkennung als öffentlichrechtliche
Körperschaft erfüllt oder gemäß Art. 7 Abs. 3 GG berechtigt
ist, an der Erteilung von Religionsunterricht mitzuwirken.
Für die Bewilligung einer Ausnahme nach § 4 a Abs. 2 Nr.
2 TierSchG sei vielmehr ausreichend, dass der Antragsteller
einer Gruppe von Menschen angehört, die eine gemeinsame
Glaubensüberzeugung verbindet (vgl. a.a.O., S. 234 f.).
Als Religionsgemeinschaften in der Bedeutung des § 4 a
Abs. 2 Nr. 2 TierSchG kommen deshalb auch Gruppierungen
innerhalb des Islam in Betracht, deren Glaubensrichtung sich
von derjenigen anderer islamischer Gemeinschaften
unterscheidet (vgl. a.a.O., S. 236). Diese Auslegung des
Begriffs der Religionsgemeinschaft steht mit der Verfassung
im Einklang und trägt insbesondere Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
Rechnung. Sie ist auch mit dem Wortlaut der genannten
Vorschrift vereinbar und entspricht dem Willen des
Gesetzgebers, den Anwendungsbereich des § 4 a Abs. 2 Nr.
2 TierSchG nicht nur für Angehörige der jüdischen
Glaubenswelt, sondern auch für Mitglieder des Islam und
seiner unterschiedlichen Glaubensrichtungen zu öffnen (vgl.
BTDrucks 10/5259, S. 38).
56
Mittelbar hat dies Konsequenzen auch für die
Handhabung des weiteren Merkmals der "zwingenden
Vorschriften", die den Angehörigen der Gemeinschaft den
Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Ob
dieses Merkmal erfüllt ist, haben die Behörden und im
Streitfall die Gerichte als Tatbestandsvoraussetzung für die
begehrte Ausnahmegenehmigung zu prüfen und zu entscheiden.
Bezugspunkt für diese Prüfung sind aber bei einer Religion,
die wie der Islam zum Schächtgebot unterschiedliche
Auffassungen vertritt, nicht notwendig der Islam insgesamt
oder die sunnitischen oder schiitischen Glaubensrichtungen
dieser Religion. Die Frage nach der Existenz zwingender
Vorschriften ist vielmehr für die konkrete, gegebenenfalls
innerhalb einer solchen Glaubensrichtung bestehende
Religionsgemeinschaft zu beantworten (vgl. auch BVerwGE 112,
227 <236>).
57
Dabei reicht es aus, dass derjenige, der die
Ausnahmegenehmigung nach § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative
2 TierSchG zur Versorgung der Mitglieder einer Gemeinschaft
benötigt, substantiiert und nachvollziehbar darlegt, dass
nach deren gemeinsamer Glaubensüberzeugung der Verzehr des
Fleischs von Tieren zwingend eine betäubungslose Schlachtung
voraussetzt (vgl. BVerwGE 94, 82 <87 f.>). Ist
eine solche Darlegung erfolgt, hat sich der Staat, der ein
solches Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft nicht
unberücksichtigt lassen darf (vgl. BVerfGE 24, 236
<247 f.>), einer Bewertung dieser
Glaubenserkenntnis zu enthalten (vgl. BVerfGE 33, 23
<30>). Er kann den "zwingenden" Charakter einer
religiösen Norm im Lichte des Art. 4 GG auch nicht allein
deshalb verneinen, weil die Religion zugleich Regeln kennt,
die auf die Gewissensnot von Gläubigen Rücksicht nehmen und
etwa im Hinblick auf den Aufenthaltsort und die dort
herrschenden Speisegewohnheiten Abweichungen zulassen. Einem
Antragsteller ist vielmehr die beantragte Ausnahmegenehmigung
zu erteilen, soweit eine solche nicht aus anderen Gründen
ausscheidet. Dabei ist durch Nebenbestimmungen und die
Überwachung ihrer Einhaltung ebenso wie bei der Prüfung der
Sachkunde und der persönlichen Eignung des Antragstellers
auch in Bezug auf die besonderen Fertigkeiten des Schächtens
sicherzustellen, dass die Belange des Tierschutzes so weit
wie möglich gewahrt werden (vgl. auch BVerwGE 112, 227
<236>).
58
2. § 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2
Nr. 2 Alternative 2 TierSchG steht, wenn die Ausnahmeregelung
der zuletzt genannten Vorschrift im vorstehenden Sinne
ausgelegt wird, auch im Übrigen mit dem Grundgesetz im
Einklang. Insbesondere ist für die Annahme eines Verstoßes
gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG
oder das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG
kein Raum, weil nach dieser Auslegung auch Muslime eine
Ausnahmegenehmigung nach § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative
2 TierSchG erhalten können, die als Metzger ihre Kunden mit
dem Fleisch geschächteter Tiere versorgen wollen, denen
zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft den Genuss
des Fleischs nicht geschächteter Tiere verbieten.
III.
59
1. Die angegriffenen Behörden- und
Gerichtsentscheidungen verletzen das Grundrecht des
Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4
Abs. 1 und 2 GG. Die Behörden und die Verwaltungsgerichte
haben die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer
verfassungsgemäßen Auslegung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2
Alternative 2 TierSchG verkannt und sind daher bei der
Anwendung der Ausnahmeregelung vom Schächtverbot zu einer
unverhältnismäßigen Beschränkung des genannten Grundrechts
gelangt. Die Ablehnung der beantragten Ausnahmegenehmigung
und die Bestätigung dieser Entscheidung im Widerspruchs- und
im Verwaltungsstreitverfahren beruhen auf diesem Umstand. Es
kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Kunden des
Beschwerdeführers wie dieser selbst einer
Religionsgemeinschaft im oben dargestellten Sinne angehören,
die von ihnen die Beachtung des Schächtgebots zwingend
verlangt, und dass dem Beschwerdeführer bei Zugrundelegung
eines derartigen Sachverhalts die begehrte Genehmigung
erteilt worden wäre, damit er den Kunden und sich selbst den
Genuss des Fleischs geschächteter Tiere ermöglichen kann.
60
2. Von den angegriffenen Entscheidungen sind
nach § 95 Abs. 2 BVerfGG diejenigen der
Verwaltungsgerichte aufzuheben. Die Sache wird an das
Verwaltungsgericht zurückverwiesen, weil erwartet werden
kann, dass der Verwaltungsrechtsstreit dort auf der Grundlage
des vorliegenden Urteils zum Abschluss gebracht wird. Bei
einer Zurückverweisung an den Verwaltungsgerichtshof müsste
dieser, bevor er zu einer das Verfahren beendenden
Entscheidung gelangen könnte, erst über den Antrag des
Beschwerdeführers befinden, die Berufung zuzulassen.
61
Diese Entscheidung ist einstimmig
ergangen.
Papier
Jaeger
Haas
Hömig
Steiner
Hohmann-Dennhardt
Hoffmann-Riem
Bryde | bundesverfassungsgericht |
15-2014 | 27. Februar 2014 | Weitere teilweise erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen Unterbringungsanordnungen auf Grundlage des Therapieunterbringungsgesetzes
Pressemitteilung Nr. 15/2014 vom 27. Februar 2014
Beschluss vom 23. Januar 2014, Beschluss vom 23. Januar 2014, Beschluss vom 23. Januar 2014, Beschluss vom 05. Februar 2014, Beschluss vom 23. Januar 2014, Beschluss vom 22. Januar 2014, Beschluss vom 23. Januar 20142 BvR 119/122 BvR 565/122 BvR 923/122 BvR 953/122 BvR 1020/122 BvR 1100/122 BvR 1239/12
Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2301/11 und 2 BvR 1279/12 - hatte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass das Therapieunterbringungsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, jedoch verfassungskonform ausgelegt werden muss (vgl. hierzu die Pressemitteilung Nr. 50/2013 vom 8. August 2013). Die Unterbringung darf nur dann angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist. Die in den konkreten Verfahren ergangenen fachgerichtlichen Entscheidungen hatte der Zweite Senat aufgehoben, weil sie nicht den verfassungsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsmaßstab zugrunde gelegt hatten.
Im Anschluss hieran hat die 3. Kammer des Zweiten Senats in sieben weiteren Verfahren den Verfassungsbeschwerden gegen die gerichtlich angeordnete Unterbringung der Beschwerdeführer auf Grundlage des Therapieunterbringungsgesetzes teilweise stattgegeben.
Auch in diesen Verfahren verletzen die fachgerichtlichen Entscheidungen das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil sie nicht den verfassungsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsmaßstab zugrunde gelegt haben. Es kommt hierbei allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist. Soweit sich die Verfassungsbeschwerden mittelbar gegen das Therapieunterbringungsgesetz selbst richten, wurden sie unter Verweis auf den Beschluss vom 11. Juli 2013 nicht zur Entscheidung angenommen.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 119/12 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G…,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Peter J. Guttmann,
Seidlstraße 27, 80335 München -
gegen
a)
den Beschluss des
Oberlandesgerichts Nürnberg vom 8. Dezember 2011 - 15 W
2335/11 ThUG -,
b)
den Beschluss des
Landgerichts Regensburg vom 13. Oktober 2011 - 7 AR 2/11
ThUG -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Landau
und die Richterin Kessal-Wulf
am 23. Januar 2014 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts
Nürnberg vom 8. Dezember 2011 - 15 W 2335/11 ThUG - und der
Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 13. Oktober 2011
- 7 AR 2/11 ThUG - verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung
mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg wird
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über
die Kosten und die notwendigen Auslagen des
Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht Nürnberg
zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem
Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit im
Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 40.000,00 €
(in Worten: vierzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine
Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz
(ThUG).
I.
2
1. Das Landgericht München I verurteilte den
bereits mehrfach wegen vorsätzlicher Sexualdelikte
vorbestraften Beschwerdeführer 1997 wegen sexueller Nötigung
zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten
und ordnete die Sicherungsverwahrung an, die ab dem
5. Juni 2000 in der Justizvollzugsanstalt Straubing
vollzogen wurde. Nachdem die auswärtige
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit
Sitz in Straubing den weiteren Vollzug der
Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus
angeordnet hatte, erklärte das Oberlandesgericht Nürnberg mit
Beschluss vom 15. April 2011 die Unterbringung des
Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zum
30. Juni 2011 für erledigt.
3
Im Verfahren nach dem
Therapieunterbringungsgesetz ordnete das Oberlandesgericht
Nürnberg mit Beschluss vom 21. Juli 2011 die vorläufige
Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 14
Abs. 1 ThUG an, nachdem die Vorinstanz das Vorliegen der
Unterbringungsvoraussetzungen unter Hinweis auf die zur
nachträglichen Sicherungsverwahrung gleich zu handhabenden
Unterbringungsvoraussetzungen noch abgelehnt hatte. Das
Verfahren über die vorläufige Unterbringung war Gegenstand
der Verfassungsbeschwerde zum Aktenzeichen 2 BvR 1795/11, die
mit Beschluss vom 21. September 2011 wegen
Unzulässigkeit mit kurzer Tenorbegründung nicht zur
Entscheidung angenommen wurde.
4
Mit Beschluss vom 13. Oktober 2011
erfolgte durch das Landgericht Regensburg die
Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum
21. Januar 2013. Das Oberlandesgericht Nürnberg wies die
hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers mit
Beschluss vom 8. Dezember 2011 zurück. In den
Entscheidungsgründen des Oberlandesgerichts wird hinsichtlich
des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes unter anderem auf
die vorangegangene Entscheidung zur vorläufigen Unterbringung
verwiesen, wonach der strenge Maßstab, der bei einer
Weiterführung einer über zehn Jahre hinausgehenden
Sicherungsverwahrung anzulegen sei und eine hochgradige
Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten verlange,
nicht auf den Tatbestand des § 1 ThUG zu übertragen
sei.
5
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der
anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 104 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und
Art. 3 Abs. 1 GG. Es stelle einen
rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigenden „Etikettentausch“
dar, wenn die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten
Voraussetzungen für eine Verlängerung der
Sicherungsverwahrung in Altfällen über zehn Jahre hinaus
durch eine Unterbringung nach dem
Therapieunterbringungsgesetz umgangen würden, obwohl die
Unterbringung inhaltlich der (nachträglichen)
Sicherungsverwahrung entspreche. Ihn unter diesen
Gegebenheiten zunächst aus der Sicherungsverwahrung zu
entlassen und trotz gleichbleibender Tatsachengrundlage die
Therapieunterbringung anzuordnen, zerstöre nicht nur sein
rechtlich geschütztes Vertrauen in die Begrenzung der
Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre, sondern auch sein
Vertrauen auf die Rechtskraft des Beschlusses des
Oberlandesgerichts Nürnberg, mit dem die Sicherungsverwahrung
für erledigt erklärt worden war. Schließlich sei es
willkürlich, dass bei identischer Tatsachengrundlage ein
Strafsenat die Sicherungsverwahrung für erledigt erkläre und
ein Zivilsenat desselben Gerichts „de facto“ die
Sicherungsverwahrung wieder anordne.
6
3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats mit
Beschluss vom 26. Januar 2012 abgelehnt.
7
4. Das Verfahren wurde dem Bayerischen
Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit
der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium
hat von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
8
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde
zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen
für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c
Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a
Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das
Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen - insbesondere die Frage der Anforderungen an
eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1
Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats
vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris,
Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c
Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), und die Annahme der
Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts
des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2
Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3
GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist
offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1
BVerfGG).
9
a) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass
die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle
Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein
fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer
nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die
Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse
in der Zeit vom 13. Oktober 2011 bis zum 21. Januar
2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein
Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl. dazu BVerfGE 9, 89
<92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152
<157 f.>; 104, 220 <234>; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 -
2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).
10
b) Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. In
den angegriffenen Beschlüssen über die Anordnung der
Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde
gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem
Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
11
Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das
Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 1
Abs. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung
des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der
Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.
Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) mit dem Grundgesetz mit
der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren
Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige
Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten
Umständen in der Person oder dem Verhalten des
Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten
Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris,
Rn. 69 ff.).
12
Die mit der Verfassungsbeschwerde
angefochtenen fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen
Vorgaben für die Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes
nicht zu vereinbaren. Sowohl das Landgericht als auch das
Oberlandesgericht übertragen den strengen
Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr
schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das
Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange
betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128,
326 <399>) und wie er in gleicher Weise für die
Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG,
Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR
2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den
Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die
Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme
Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht
und verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
13
Dabei kommt es für die Feststellung der
Grundrechtsverletzung allein auf die objektive
Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen
Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob
die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist
(vgl. BVerfGE 128, 326 <407 f.>).
14
c) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen
der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist,
bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere
Grundrechte verletzt sind.
15
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts
Nürnberg vom 8. Dezember 2011 ist daher aufzuheben. Die
Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die
notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128,
326 <407>) an das Oberlandesgericht Nürnberg
zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
16
3. Die Entscheidung über die Erstattung der
notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2
BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf
§ 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14
Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365
<366 ff.>).
Lübbe-Wolff
Landau
Kessal-Wulf | bundesverfassungsgericht |
104-2002 | 3. Dezember 2002 | Zur Besetzung des Aufsichtsrats der nordrhein-westfälischen Universitätsklinika
Pressemitteilung Nr. 104/2002 vom 3. Dezember 2002
Beschluss vom 11. November 20021 BvR 2145/01
Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerden (Vb) von mehreren Professorinnen und Professoren medizinischer Fachbereiche (Bf) gegen die Regelungen über die Besetzung des Aufsichtsrats der Universitätsklinika in Nordrhein-Westfalen nicht zur Entscheidung angenommen.
1. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Die Universitätsklinika waren früher Betriebseinheiten der Hochschule und nicht rechtsfähig. Im Rahmen der Novellierung des Hochschulgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen wurden sie zu rechtlich verselbständigten Medizinischen Einrichtungen der Universitäten und in Anstalten des öffentlichen Rechts umgebildet. Das Hochschulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen gestattet die Neuorganisation des Fachbereichs Medizin auf Grund einer Verordnungsermächtigung. Nach den daraufhin erlassenen Klinikumsverordnungen sowie den Satzungen für die Universitätsklinika sind die Professorinnen und Professoren des Fachbereichs Medizin im Aufsichtsrat des jeweiligen Klinikums nicht vertreten. Sie wenden sich deshalb gegen diese Regelungen. Sie sehen sich in ihrem Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verletzt.
2. In der Entscheidung der Kammer heißt es im Wesentlichen:
Die Voraussetzungen für die Annahme der Vb zur Entscheidung liegen nicht vor. Die Vb haben weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung noch werden die Bf durch die angegriffenen Regelungen in ihren Grundrechten verletzt. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit gibt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem einzelnen Wissenschaftler ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraumes unerlässlich sind, weil sie ihm freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen.
Nicht jeder Hochschullehrer braucht jedoch an der Leitung der wissenschaftlichen Einrichtung, an welcher er tätig ist, teilzunehmen oder auf die Bestellung dieser Leitung Einfluss auszuüben. Besonderheiten für die Organisation der Hochschulklinika ergeben sich daraus, dass sie neben Forschung und Lehre auch die Aufgabe der Krankenversorgung wahrnehmen. Deren Organisation unterliegt nicht ohne weiteres den verfassungsrechtlichen Garantien aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, die im Bereich der Selbstverwaltung wissenschaftsrelevanter Angelegenheiten und im Rahmen der Tätigkeit des Hochschullehrers in Forschung und Lehre gelten. Sie muss straffer sein, die Verantwortlichkeiten klar abgrenzen und rasche Entscheidungen ermöglichen.
Allerdings sind Forschung, Lehre und Krankenversorgung an Universitätsklinika untrennbar miteinander verknüpft. Deshalb darf das Grundrecht des medizinischen Hochschullehrers auf Wissenschaftsfreiheit auch bei seiner Tätigkeit in der Krankenversorgung nicht unberücksichtigt bleiben. Der Gesetzgeber muss deshalb bei der Organisation der Universitätsklinika zwischen der Wissenschaftsfreiheit einerseits und der bestmöglichen Krankenversorgung andererseits einen angemessenen Ausgleich finden. Insoweit eignen sich Koordinations- und Kooperationsmöglichkeiten beider Funktionsbereiche und sachgerechte organisatorische Verzahnungen.
Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Regelungen die Bf nicht in ihrem Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit. Hierbei kommt es nicht allein auf die Vorschrift über die Besetzung des Aufsichtsrats an. Ebenso ist von Bedeutung, ob die Regelungen über das Universitätsklinikum in ihrer Gesamtheit die Wissenschaftsfreiheit hinreichend berücksichtigen. Dies bejaht die Kammer. Sie führt im Einzelnen aus, dass die Klinikumsverordnung durch geeignete Koordinations- und Kooperationsmöglichkeiten beider Funktionsbereiche einen Ausgleich zwischen der Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer und den Organisationsanforderungen an die Krankenversorgung gewährleistet.
Dieser Ausgleich ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die angegriffenen Regelungen verstoßen weiter auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. Die Ungleichbehandlung zwischen den Professorinnen und Professoren und dem übrigen im Klinikum tätigen Personal hinsichtlich der Vertretung im Aufsichtsrat ist gerechtfertigt. Ihr Ausschluss von der Mitbestimmungsregelung ist zur Gewährleistung einer funktionierenden Vertretung von Arbeitnehmerinteressen im Aufsichtsrat geeignet, weil Professoren im Universitätsklinikum regelmäßig Leitungsfunktionen wahrnehmen.
Karlsruhe, den 3. Dezember 2002
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2145/01 -
- 1 BvR 2146/01 -
- 1 BvR 2175/01 -
- 1 BvR 2176/01 -
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
I.
1. des Herrn Professor Dr. B...,
2. des Herrn Professor Dr. G...,
3. des Herrn Professor Dr. P...,
4. des Herrn Professor Dr. R...,
5. des Herrn Professor Dr. S...,
6. des Herrn Professor Dr. S...,
7. des Herrn Professor Dr. S...,
8. des Herrn Professor Dr. S...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwalt Dr. Christian Kirchberg,
Mozartstraße 13, 76133 Karlsruhe,
Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Prof. Dr. Achim
Krämer,
Baischstraße 5, 76133 Karlsruhe -
gegen
a)
§ 4 Abs. 3 der
Verordnung über die Errichtung des Klinikums Essen der
Universität - Gesamthochschule Essen
(Universitätsklinikum Essen) als Anstalt des öffentlichen
Rechts vom 1. Dezember 2000 (GV.NW S. 725),
b)
§ 4 Abs. 1 und 3 der
Satzung des Universitätsklinikums Essen - Anstalt des
öffentlichen Rechts - Runderlass des Ministeriums für
Schule, Wissenschaft und Forschung vom 6. Februar 2001 -
321-7511-E (ABl NRW 2 S. 10) -
- 1 BvR 2145/01 -,
II.
1. des Herrn Professor Dr. v a n
A...,
2. des Herrn Professor Dr. A...,
3. des Herrn Professor Dr. B...,
4. des Herrn Professor Dr. B...,
5. der Frau Professorin Dr. E...,
6. des Herrn Professor Dr.Dr.Dr. h.c. J...,
7. des Herrn Professor Dr. J...,
8. des Herrn Professor Dr. S...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwalt Dr. Christian Kirchberg,
Mozartstraße 13, 76133 Karlsruhe,
Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Prof. Dr. Achim
Krämer,
Baischstraße 5, 76133 Karlsruhe -
gegen
a)
§ 4 Abs. 3 der
Verordnung über die Errichtung des Klinikums Münster der
Universität Münster (Universitätsklinikum Münster) als
Anstalt des öffentlichen Rechts vom 1. Dezember 2000
(GV.NW S. 716),
b)
§ 4 Abs. 1 und 3 der
Satzung des Universitätsklinikums Münster - Anstalt des
öffentlichen Rechts - Runderlass des Ministeriums für
Schule, Wissenschaft und Forschung vom 6. Februar 2001 -
321-7511-MS (ABl NRW 2 S. 15) -
- 1 BvR 2146/01 -,
III.
1. des Herrn Professor Dr. B...,
2. des Herrn Professor Dr. E...,
3. des Herrn Professor Dr. G...,
4. des Herrn Professor Dr. H...,
5. des Herrn Professor Dr. J...,
6. des Herrn Professor Dr. N...,
7. des Herrn Professor Dr. O...,
8. des Herrn Professor Dr. R...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwalt Dr. Christian Kirchberg,
Mozartstraße 13, 76133 Karlsruhe,
Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Prof. Dr. Achim
Krämer,
Baischstraße 5, 76133 Karlsruhe -
gegen
a)
§ 4 Abs. 3 der
Verordnung über die Errichtung des Klinikums Aachen der
Technischen Hochschule Aachen (Universitätsklinikum
Aachen) als Anstalt des öffentlichen Rechts vom 1.
Dezember 2000 (GV.NW S. 738),
b)
§ 4 Abs. 1 und 3 der
Satzung des Universitätsklinikums Aachen - Anstalt des
öffentlichen Rechts - Runderlass des Ministeriums für
Schule, Wissenschaft und Forschung vom 6. Februar 2001 -
321-7511-AC (ABl NRW 2 S. 2) -
- 1 BvR 2175/01 -,
II.
IV. 1. des Herrn Professor Dr. B...,
2. des Herrn Professor Dr. E...,
3. des Herrn Professor Dr. H...,
4. des Herrn Professor Dr. K...,
5. des Herrn Professor Dr. M...,
6. des Herrn Professor Dr. S...,
7. des Herrn Professor Dr. S...,
8. des Herrn Professor Dr. Dr. Z...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwalt Dr. Christian Kirchberg,
Mozartstraße 13, 76133 Karlsruhe,
Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Prof. Dr. Achim
Krämer,
Baischstraße 5, 76133 Karlsruhe -
gegen
a)
§ 4 Abs. 3 der
Verordnung über die Errichtung des Klinikums Köln der
Universität Köln (Universitätsklinikum Köln) als Anstalt
des öffentlichen Rechts vom 1. Dezember 2000 (GV.NW S.
721),
b)
§ 4 Abs. 1 und 3 der
Satzung des Universitätsklinikums Köln - Anstalt des
öffentlichen Rechts - Runderlass des Ministeriums für
Schule, Wissenschaft und Forschung vom 6. Februar 2001 -
321-7511-K (ABl NRW 2 S. 13) -
- 1 BvR 2176/01 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Jaeger
und die Richter Hömig,
Bryde
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 11. November 2002 einstimmig
beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Mit den Verfassungsbeschwerden wenden sich
Professoren der medizinischen Fachbereiche der Universität -
Gesamthochschule Essen, der Universität Münster, der
Technischen Hochschule Aachen und der Universität Köln gegen
Regelungen über die Besetzung des Aufsichtsrats der
Universitätsklinika. Die Beschwerdeführer rügen eine
Verletzung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
2
1. Die heute als Universitätsklinika rechtlich
verselbstständigten Medizinischen Einrichtungen der
Universitäten waren zuvor Betriebseinheiten der Hochschule
ohne eigene Rechtsfähigkeit (§ 34 Abs. 1 Satz 2 des
Gesetzes über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen
<Hochschulgesetz - HG> vom 14. März 2000 <GV.NW S.
190>). Im Rahmen der Novellierung des Hochschulgesetzes im
März 2000 bestimmte der nordrhein-westfälische
Landesgesetzgeber in § 41 Abs. 1 Satz 1 HG, dass die
Medizinischen Einrichtungen der Hochschulen durch
Rechtsverordnung in Anstalten des öffentlichen Rechts
umgebildet werden. § 41 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 4 HG
enthält eine entsprechende Verordnungsermächtigung, die auch
eine Neuorganisation des Fachbereichs Medizin gestattet.
3
2. a) Aufgrund dieser Ermächtigung erließ die
Ministerin für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes
Nordrhein-Westfalen im Wesentlichen gleichlautende
Klinikumsverordnungen zur Verselbstständigung der
nordrhein-westfälischen Universitätsklinika.
4
Durch § 1 Abs. 1 der jeweiligen
Klinikumsverordnung wurde das Universitätsklinikum als
rechtsfähige Anstalt des Landes errichtet; das
Universitätsklinikum trat an die Stelle der bisherigen
medizinischen Einrichtungen der Universität (§ 1 Abs. 2
Klinikumsverordnung). Gemäß § 2 Abs. 1
Klinikumsverordnung dient das Klinikum dem Fachbereich
Medizin der Universität zur Erfüllung seiner Aufgaben in
Forschung und Lehre, nimmt es Aufgaben der Krankenversorgung
einschließlich der Hochleistungsmedizin wahr und
gewährleistet es die Verbindung der Krankenversorgung mit
Forschung und Lehre. Das Universitätsklinikum arbeitet auf
der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung eng mit der
Universität zusammen (§ 2 Abs. 2, § 13
Klinikumsverordnung). Es stellt sicher, dass die Mitglieder
der Hochschule die ihnen durch Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 des
Grundgesetzes und durch das Hochschulgesetz verbürgten Rechte
wahrnehmen können (§ 2 Abs. 2 Satz 2
Klinikumsverordnung). Soweit der Bereich von Forschung und
Lehre durch Entscheidungen des Klinikums betroffen ist,
erfolgen diese im Einvernehmen mit dem Fachbereich Medizin
(§ 2 Abs. 2 Satz 3 Klinikumsverordnung). Kommt das
Einvernehmen nicht zustande, entscheidet auf Antrag der
Dekanin oder des Dekans der Aufsichtsrat des Klinikums
(§ 2 Abs. 2 Satz 4 Klinikumsverordnung).
5
Organe des Universitätsklinikums sind der
Aufsichtsrat und der Vorstand (§ 3 Klinikumsverordnung).
Der Vorstand leitet und vertritt das Klinikum (§ 5 Abs.
1 Klinikumsverordnung). Der Aufsichtsrat legt die
betrieblichen Ziele des Universitätsklinikums fest, überwacht
die Geschäftsführung des Vorstands und entscheidet unter
anderem über die Bestellung der Vorstandsmitglieder mit
Ausnahme des Dekans, den Wirtschaftsplan und die Entlastung
des Vorstandes (§ 4 Abs. 1 Klinikumsverordnung). Über
den Rahmen des laufenden Geschäftsbetriebs hinausgehende
Rechtsgeschäfte, Maßnahmen und Regelungen bedürfen seiner
Zustimmung (§ 4 Abs. 2 Klinikumsverordnung).
6
Die Besetzung des Aufsichtsrats ist in
§ 4 Abs. 3 der Klinikumsverordnungen geregelt. Die Norm
hat jeweils folgenden Wortlaut:
7
Dem Aufsichtsrat gehören an:
8
1. je eine Vertreterin oder ein Vertreter des
Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung und des
Finanzministeriums;
9
2. die Rektorin oder der Rektor und die
Kanzlerin oder der Kanzler der Universität;
10
3. eine externe Sachverständige oder ein
externer Sachverständiger aus dem Bereich der Wirtschaft;
11
4. eine externe Sachverständige oder ein
externer Sachverständiger aus dem Bereich der medizinischen
Wissenschaft;
12
5. eine Vertreterin oder ein Vertreter des
wissenschaftlichen Personals (§ 12);
13
6. eine Vertreterin oder ein Vertreter des
Personals des Universitätsklinikums;
14
7. die Gleichstellungsbeauftragte mit
beratender Stimme.
15
Die Satzung kann weitere Mitglieder mit
beratender Stimme vorsehen. Die Mitglieder gemäß Satz 1 Nr. 3
und 4 werden vom Ministerium für Schule, Wissenschaft und
Forschung bestellt. Ihre Bestellung erfolgt auf Vorschlag des
Rektorats, das dazu das Benehmen mit dem Fachbereich Medizin
und dem Vorstand herstellt. Das unter § 12 dieser
Verordnung fallende Personal mit Ausnahme des der Gruppe der
Professorinnen und Professoren angehörenden Personals wählt
aus seiner Mitte das Mitglied nach Satz 1 Nr. 5. Das Personal
des Universitätsklinikums wählt aus seiner Mitte das Mitglied
nach Satz 1 Nr. 6. Für die Wahl der Mitglieder nach Satz 1
Nr. 5 und 6 und ihrer Stellvertreterinnen oder Stellvertreter
erlässt der Aufsichtsrat eine Wahlordnung.
16
Neben diesen Organen sieht § 6
Klinikumsverordnung als den Vorstand in grundsätzlichen
Fragen beratendes Gremium eine Klinikumskonferenz vor, die
aus den Leitern und geschäftsführenden Leitern der klinischen
und medizinisch-theoretischen Abteilungen und der zentralen
Dienstleistungseinrichtungen des Universitätsklinikums sowie
vier Vertretern der nicht zu den Leitern zählenden
Professoren und Hochschuldozenten zusammengesetzt ist.
17
b) Gestützt auf § 7 Klinikumsverordnung
erließ das Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung
Satzungen für die Universitätsklinika. Bezüglich der
Besetzung des Aufsichtsrats enthalten die Satzungen folgende
Regelung:
18
§ 4
19
Zusammensetzung, Bestellung und Verfahren des
Aufsichtsrats
20
(1) Dem Aufsichtsrat gehören an:
21
1. eine Vertreterin oder ein Vertreter des
Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung;
22
2. eine Vertreterin oder ein Vertreter des
Finanzministeriums;
23
3. die Rektorin oder der Rektor der
Universität;
24
4. die Kanzlerin oder der Kanzler der
Universität;
25
5. eine externe Sachverständige oder ein
externer Sachverständiger aus dem Bereich der Wirtschaft;
26
6. eine externe Sachverständige oder ein
externer Sachverständiger aus dem Bereich der medizinischen
Wissenschaft;
27
7. eine Vertreterin oder ein Vertreter des
wissenschaftlichen Personals;
28
8. eine Vertreterin oder ein Vertreter des
Personals des Universitätsklinikums;
29
9. die Gleichstellungsbeauftragte mit
beratender Stimme.
30
(2) ...
31
(3) Das am Universitätsklinikum tätige
wissenschaftliche Personal mit Ausnahme des der Gruppe der
Professorinnen und Professoren angehörenden Personals wählt
aus seiner Mitte das Mitglied nach Absatz 1 Nr. 7. Das
Personal des Universitätsklinikums wählt aus seiner Mitte das
Mitglied nach Absatz 1 Nr. 8. Die Amtszeit beträgt vier
Jahre. Für die Wahl der Mitglieder nach Absatz 1 Nr. 7 und 8
erlässt der Aufsichtsrat eine Wahlordnung.
32
(4) bis (9) ...
33
3. Die Beschwerdeführer sind Professorinnen
und Professoren des Fachbereichs Medizin ihrer Universitäten
und zugleich Klinikdirektoren oder Abteilungs- oder
Institutsleiter am jeweiligen Universitätsklinikum. Sie
wenden sich gegen § 4 Abs. 3 Klinikumsverordnung und
§ 4 Abs. 1 und 3 Klinikumssatzung und rügen die
Verletzung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3
Abs. 1 GG. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fordere nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die
Professoren des Fachbereichs Medizin im Aufsichtsrat des
Klinikums vertreten seien. Zwar unterliege die Organisation
der Krankenversorgung der Universitäten nicht in gleichem
Umfang wie die Hochschulverwaltung selbst den
verfassungsrechtlichen Garantien aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG,
das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit dürfe aber auch bei
der Organisation der Krankenversorgung nicht gänzlich außer
Betracht bleiben. Der ausdrücklich verfügte Ausschluss der
Gruppe der Professoren von der stimmberechtigten Mitwirkung
im Aufsichtsrat stehe in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur
Funktion des Klinikums, Aufgaben in Forschung und Lehre
wahrzunehmen. Da Vertreter des wissenschaftlichen Personals
mit Ausnahme der Professoren und des Personals des Klinikums
im Aufsichtrat vertreten seien, liege darin zugleich eine
willkürliche Diskriminierung der Gruppe der Professoren.
II.
34
Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur
Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des
§ 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Die
Verfassungsbeschwerden haben keine grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung. Die maßgebenden
verfassungsrechtlichen Fragen zum Grundrechtsschutz des
Hochschullehrers gegen organisatorische Regelungen und zum
Verhältnis universitärer Krankenversorgung und
Wissenschaftsfreiheit sind vom Bundesverfassungsgericht
bereits entschieden (vgl. BVerfGE 35, 79 <115>; 57,
70 ff.; 85, 360 <384 f.>). Die Annahme der
Verfassungsbeschwerden ist auch nicht zur Durchsetzung der
von den Beschwerdeführern als verletzt bezeichneten
Verfassungsrechte angezeigt. Denn die Verfassungsbeschwerden
haben keine Aussicht auf Erfolg.
35
1. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden
ist unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität zweifelhaft.
Dieser ist auch bei Normen zu beachten, die den
Beschwerdeführer unmittelbar betreffen und gegen die selbst
kein fachgerichtlicher Rechtsschutz eröffnet ist (vgl.
BVerfGE 74, 69 <74>; 90, 128 <136 f.>). Dies
gilt auch bei Verordnungen eines Landes, das von der
Ermächtigung des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO keinen Gebrauch
gemacht hat (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats,
Beschluss vom 18. August 2000 - 1 BvR 1329/00 -, NVwZ 2000,
S. 1407 f.). Die Frage der Zulässigkeit kann jedoch
dahingestellt bleiben, da die Verfassungsbeschwerden
unbegründet sind.
36
2. Die angegriffenen Regelungen verletzen die
Beschwerdeführer nicht in ihren Grundrechten.
37
a) Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist nicht
verletzt.
38
aa) Das durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG
gewährleistete Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit gibt dem
einzelnen Wissenschaftler ein Recht auf solche staatlichen
Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines
grundrechtlich gesicherten Freiheitsraumes unerlässlich sind,
weil sie ihm freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt
erst ermöglichen. Im Bereich des mit öffentlichen Mitteln
eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebes hat
der Staat durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu
sorgen, dass das Grundrecht der freien wissenschaftlichen
Betätigung so weit unangetastet bleibt, wie das unter
Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der
Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der
verschiedenen Beteiligten möglich ist (vgl. BVerfGE 35, 79
<115>; 85, 360 <384 f.>).
39
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verlangt aber nicht,
dass jeder Hochschullehrer an der Leitung der
wissenschaftlichen Einrichtung, an welcher er tätig ist,
teilnehmen oder auf die Bestellung dieser Leitung Einfluss
ausüben kann (vgl. BVerfGE 57, 70 <92 f.>). Der
Leitung einer wissenschaftlichen Einrichtung können
Koordinationsbefugnisse hinsichtlich eines sachgerechten
Einsatzes der dem Institut zugewiesenen Personal- und
Sachmittel auch dann zugewiesen werden, wenn solche
Befugnisse die Forschungsvorhaben der an dem Institut tätigen
Professoren mittelbar berühren können (vgl. BVerfGE 57, 70
<94>).
40
Besonderheiten für die Organisation der
Hochschulklinika ergeben sich daraus, dass diese neben
Forschung und Lehre die Aufgabe der Krankenversorgung
wahrnehmen. Die Organisation der Krankenversorgung unterliegt
nicht ohne weiteres den verfassungsrechtlichen Garantien aus
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, welche im Bereich der
Selbstverwaltung wissenschaftsrelevanter Angelegenheiten und
im Rahmen der Tätigkeit des Hochschullehrers in Forschung und
Lehre Geltung beanspruchen. Bei der Krankenversorgung handelt
es sich um eine Zusatzaufgabe der Hochschullehrer, die neben
Forschung und Lehre tritt. Es liegt nahe, dass sie eine
straffere, die Verantwortlichkeiten klar abgrenzende und
rasche Entscheidungen ermöglichende Organisation erfordert.
Deshalb kann die Strukturierung der Krankenversorgung
weitgehend unbedenklich mit Rücksicht auf ihre Effizienz
erfolgen (vgl. BVerfGE 57, 70 <96 ff.>).
41
Wegen der untrennbaren Verknüpfung von
Forschung, Lehre und Krankenversorgung an Universitätsklinika
darf das Grundrecht des medizinischen Hochschullehrers auf
Wissenschaftsfreiheit auch bei seiner Tätigkeit in der
Krankenversorgung allerdings nicht unberücksichtigt bleiben.
Der Gesetzgeber muss bei der Organisation der
Universitätsklinika zwischen der Wissenschaftsfreiheit
einerseits und der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das
Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG geforderten
bestmöglichen Krankenversorgung andererseits einen
angemessenen Ausgleich finden (vgl. BVerfGE 57, 70
<98 f.>). Dazu gehört, dass sowohl dem Interesse
an bestmöglicher Krankenversorgung als auch der Freiheit
medizinischer Forschung und Lehre und der akademischen
Selbstverwaltung der Universität durch geeignete
Koordinations- und Kooperationsmöglichkeiten beider
Funktionsbereiche und durch sachgerechte organisatorische
Verzahnungen Rechnung getragen wird (vgl. BVerfGE 57, 70
<100> im Anschluss an den Staatsgerichtshof für das
Land Baden-Württemberg <ESVGH 24, 12 [17]>).
42
bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe
verletzen die angegriffenen Regelungen über die Besetzung des
Aufsichtsrates das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 5
Abs. 3 Satz 1 GG nicht. Entscheidend ist hierbei nicht allein
die Vorschrift über die Besetzung des Aufsichtsrats; ebenso
ist von Bedeutung, ob die Regelungen über das
Universitätsklinikum in ihrer Gesamtheit die
Wissenschaftsfreiheit hinreichend berücksichtigen (vgl.
BVerfGE 57, 70 <106>). Dies ist der Fall. Die
Klinikumsverordnung gewährleistet durch geeignete
Koordinations- und Kooperationsmöglichkeiten beider
Funktionsbereiche einen verfassungsrechtlich nicht zu
beanstandenden Ausgleich zwischen der Wissenschaftsfreiheit
der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer und den
Organisationsanforderungen an die Krankenversorgung.
43
Nach der Verselbstständigung des
Universitätsklinikums bleibt die Aufgabe medizinischer
Forschung und Lehre in erster Linie bei der Universität. Der
Fachbereich Medizin entscheidet insbesondere über die für
Forschung und Lehre vorgesehenen Stellen und Mittel (vgl.
§ 17 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1, 2, 3, § 18 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1, 2 Klinikumsverordnung). Das Universitätsklinikum dient
dem Fachbereich zwar bei der Erfüllung der Aufgaben in
Forschung und Lehre (§ 2 Abs. 1 Klinikumsverordnung),
seine Entscheidungskompetenz bezieht sich jedoch in erster
Linie auf die Organisation der Krankenversorgung. Nur
hinsichtlich der Krankenversorgung, nicht aber bezüglich
ihrer Tätigkeit in Forschung und Lehre, sind die
Hochschullehrer danach in die hierarchische Organisation des
Klinikums mit Vorstand und Aufsichtsrat als den zentralen
Leitungsorganen eingegliedert und an deren Beschlüsse
gebunden.
44
Die primäre Zuständigkeit der Fachbereiche für
die Wissenschaftsfreiheit betreffende Fragen wird
organisatorisch dadurch gesichert, dass Entscheidungen des
Universitätsklinikums im Bereich der Krankenversorgung,
soweit Forschung und Lehre betroffen sind, im Einvernehmen
mit dem Fachbereich Medizin erfolgen müssen (§ 2 Abs. 2
Satz 3 Klinikumsverordnung). Damit ist gewährleistet, dass
die Professorinnen und Professoren des Fachbereichs über den
Fachbereichsrat auch auf wissenschaftsrelevante
Entscheidungen der Klinika Einfluss ausüben können. Die in
dem Einvernehmenserfordernis liegende Verpflichtung zur
Einigung verliert als sachgerechte organisatorische
Verzahnung nicht dadurch an Wert, dass, wenn das Einvernehmen
nicht zustande kommt, auf Antrag des Dekans der Aufsichtsrat
des Klinikums entscheidet (§ 2 Abs. 2 Satz 4
Klinikumsverordnung). Schon dass die Initiative in diesem
Fall beim Dekan liegt, spricht dafür, dass die Auflösung von
Konfliktfällen durch den Aufsichtsrat eher dem Schutz als der
Beeinträchtigung wissenschaftlicher Belange dienen soll. Auch
die Besetzung des Aufsichtsrates unter anderem mit Vertretern
der Universität (Rektor und Kanzler) und einem im Benehmen
mit dem Fachbereich berufenen sachverständigen Mitglied aus
dem Bereich der medizinischen Wissenschaft stellt insoweit
eine organisatorische Sicherung dar.
45
Darüber hinaus ist die Gewährleistung der
Wissenschaftsfreiheit eine ausdrücklich definierte Aufgabe
des Aufsichtsrates (§ 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2
Klinikumsverordnung). Der Aufsichtsrat hat bei seinen
Entscheidungen daher stets darauf zu achten, dass die Arbeit
der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer in Forschung und
Lehre möglichst nicht beeinträchtigt wird.
46
Eine weitere organisatorische Vorkehrung zur
Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit liegt in der
Verpflichtung der Klinika zur Kooperation mit den
Universitäten, insbesondere mit den Fachbereichen Medizin
(§ 2 Abs. 2 Satz 1 Klinikumsverordnung). Die Kooperation
erfolgt auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung nach
§ 13 Klinikumsverordnung. Als vertragliche Regelung ist
sie geeignet, erforderlichenfalls die unterschiedlichen
Interessen von Klinikum und Universität durch eine
differenzierte, den besonderen Verhältnissen angepasste
Regelung zu einem optimalen Ausgleich zu bringen. Während
Anhörung, Benehmen und Einvernehmen als
Kooperationsinstrumente nur Einzelentscheidungen betreffen,
ist eine Vertragslösung in der Lage, auch die komplexen
Zusammenhänge unterschiedlicher Entscheidungen in die Lösung
einzubeziehen (vgl. Karthaus/Schmehl, MedR 2000, S. 299
<309>).
47
Schließlich dient auch die Vertretung der
Professorinnen und Professoren in der Klinikumskonferenz
gemäß § 6 Klinikumsverordnung der Berücksichtigung der
Wissenschaftsfreiheit bei wissenschaftsrelevanten
Entscheidungen der Klinika im Bereich der Krankenversorgung.
Die Eignung als angemessenes Institut zur organisatorischen
Berücksichtigung der Wissenschaftsfreiheit ist zwar dadurch
beschränkt, dass das Gremium nur eine beratende Funktion hat.
Auch beratenden Gremien kann aber eine erhebliche Bedeutung
zukommen. Dies gilt besonders, wenn sie aus in hohem Maße
sachverständigen Mitgliedern bestehen.
48
b) Die angegriffenen Regelungen verstoßen auch
nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
49
Art. 3 Abs. 1 GG verbietet, eine Gruppe von
Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders
zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen,
dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl.
BVerfGE 55, 72 <88>; 84, 348 <359>; 101, 239
<269>).
50
Die Ungleichbehandlung zwischen den
Professorinnen und Professoren und dem übrigen im Klinikum
tätigen Personal hinsichtlich der Vertretung im Aufsichtsrat
ist gerechtfertigt. Die Beteiligung von Vertretern der
anderen Gruppen ist keine Gruppenvertretung im Rahmen
universitärer Selbstverwaltung, sondern ihr Grund liegt in
der Gewährleistung einer funktionierenden Vertretung von
Arbeitnehmerinteressen im Aufsichtsrat (vgl. § 41 Abs. 2
Nr. 5 HG; LTDrucks 12/3787, S. 31). Der Ausschluss der
Professoren von dieser Mitbestimmungsregelung ist zur
Gewährleistung einer funktionierenden Vertretung von
Arbeitnehmerinteressen im Aufsichtsrat geeignet, weil
Professoren im Universitätsklinikum regelmäßig
Leitungsfunktionen wahrnehmen.
51
Von einer weiteren Begründung wird nach
§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
52
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Jaeger
Hömig
Bryde | bundesverfassungsgericht |
33-2009 | 1. April 2009 | Verfassungsbeschwerde gegen Grundsteuerbescheid erfolglos
Pressemitteilung Nr. 33/2009 vom 1. April 2009
Beschluss vom 18. Februar 20091 BvR 1334/07
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde von Eltern dreier Kinder, die sich gegen den Grundsteuerbescheid der Gemeinde für ihr selbst genutztes Hausgrundstück richtet, nicht zur Entscheidung angenommen. Rechtsbehelfe und Rechtsmittel gegen diesen Grundsteuerbescheid vor den Fachgerichten waren ohne Erfolg geblieben. Die Beschwerdeführer hatten zuvor weder den ergangenen Einheitswertbescheid noch den Grundsteuermessbescheid des Finanzamts mit Erfolg angefochten.
Die Erhebung der Grundsteuer als solche begegnet nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Bedenken. Ebenfalls ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Grundsteuer grundsätzlich ohne Rücksicht auf die familiären Verhältnisse des Grundbesitzers erhoben wird, denn dies entspricht ihrem Charakter als Objektsteuer. Behauptete Mängel im System der Grundstücksbewertung konnten im Rahmen der allein gegen den Grundsteuerbescheid der Gemeinde und die ihn bestätigenden Gerichtsentscheidungen erhobenen Verfassungsbeschwerde nicht berücksichtigt werden. Diese Rügen richten sich gegen Feststellungen und Festlegungen der Grundlagenbescheide des Finanzamts. Werden diese nicht mit Erfolg angefochten, ist die Gemeinde im Rahmen des Erlasses des Grundsteuerbescheides an den Inhalt der Grundlagenbescheide, die die Grundstücksbewertung abschließend regeln, gebunden.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1334/07 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1.
der Frau L...,
2.
des Herrn L...
- Bevollmächtigter zu 1.:
Rechtsanwalt Peter Leuchtenberg,
Alte Rather Straße 89, 47802 Krefeld -
1.
unmittelbar gegen
a)
den Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 25. April 2007 - 14 A 661/06 -,
b)
das Urteil des
Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 23. Januar 2006 - 25 K
2643/05 -,
c)
den Widerspruchsbescheid
der Stadt Krefeld vom 25. Mai 2005 - 21/10 ms -
d)
den Grundsteuer-Bescheid
der Stadt Krefeld vom 24. Januar 2005 - Kassenzeichen:
01113181.6/0100 -,
2.
mittelbar gegen
das Grundsteuergesetz 1973 (BGBl I S. 965), zuletzt
geändert durch Art. 29 des Gesetzes vom 21. Juni
2005 (BGBl I S. 1818), insbesondere gegen §§ 27, 25,
1, 2, 33, 34 des Grundsteuergesetzes
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 18. Februar 2009 einstimmig
beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die
Verfassungsmäßigkeit der Grundsteuer.
I.
2
Die Beschwerdeführer, Eltern dreier Kinder,
werden für ihr selbst genutztes Hausgrundstück zur Zahlung
von Grundsteuer herangezogen. Der von der beklagten Kommune
des Ausgangsverfahrens erlassene Grundsteuerbescheid für das
Jahr 2005 beruht auf dem zuvor ergangenen
Einheitswertbescheid und dem Grundsteuermessbescheid des
Finanzamts, die von den Beschwerdeführern nicht mit Erfolg
angefochten wurden. Widerspruch und Anfechtungsklage der
Beschwerdeführer gegen den Grundsteuerbescheid blieben ohne
Erfolg. Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das
Oberverwaltungsgericht als unbegründet ab. Es könne
dahinstehen, ob die Verfassungswidrigkeit der Grundsteuer
überhaupt im Verfahren gegen den Grundsteuerbescheid geltend
gemacht werden könne oder dieser Einwand nicht vielmehr gegen
die Grundlagenbescheide vorzubringen gewesen wäre. Jedenfalls
liege die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der
Rechtssache nicht vor. Die Grundsteuer verstoße nicht gegen
Art. 3 Abs. 1 GG. Im Anschluss an die Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofes sei davon auszugehen, dass aus dem
Vermögensteuerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts keine
Schlussfolgerungen zur Verfassungswidrigkeit der Grundsteuer
zu ziehen seien.
II.
3
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die
Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Rechts aus Art. 3
Abs. 1 GG.
4
Im Vermögensteuerbeschluss habe das
Bundesverfassungsgericht Art. 3 Abs. 1 GG den Grundsatz
entnommen, dass die Bürger je nach ihrer finanziellen
Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der Staatsaufgaben
herangezogen würden. Dieser Grundsatz werde durch die
Grundsteuer verletzt, weil sie die Bürger unabhängig von
ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit erfasse. Eine fünfköpfige
Familie werde genauso wie kinderlose Personen herangezogen.
Der besondere Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1
GG) fordere insoweit aber eine Ungleichbehandlung. Im Übrigen
habe das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der
Gesetzgeber die wirtschaftliche Grundlage persönlicher
Lebensführung von einer Sollertragsteuer ausnehmen müsse.
Dieser Grundsatz werde insbesondere bei Mietern verletzt, auf
die die Grundsteuer durch die Vermieter abgewälzt werde. Aus
der Abwälzung der Grundsteuer auf die Mieter folge auch
insoweit eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG, als
Wohnen zur Miete von der Umsatzsteuer befreit sei. Es sei
gleichheitswidrig, dass diese „Vorgabe" des
Umsatzsteuerrechts durch das Grundsteuerrecht nicht
„aufgenommen" werde. Ein gleichheitswidriger
Begünstigungsausschluss sei zudem darin zu erblicken, dass
bewegliche Vermögenswerte - wie Segelyachten oder Wertpapiere
- nicht besteuert würden. Zudem lägen erhebliche
Wertverzerrungen vor. So würden altersbedingte
Wertunterschiede von Immobilien nicht berücksichtigt. Ein
1964 errichtetes und seitdem nur notdürftig instand
gehaltenes Haus werde mit demselben Vervielfältiger angesetzt
wie ein im Jahr 2002 errichteter Neubau. Die
Einheitsbewertung verstoße gegen den Gleichheitssatz, weil
das Ausbleiben turnusmäßiger Anpassungen der Einheitswerte zu
erheblichen Wertverzerrungen geführt habe, so dass die
Gleichmäßigkeit der Besteuerung in Frage gestellt sei. Der
Gesetzgeber müsse Wertverschiebungen innerhalb des
Grundvermögens berücksichtigen. Aus § 33 GrStG folge
zudem, dass das Realsteuerprinzip bei der Grundsteuer
durchbrochen werde, weswegen gegen den Grundsatz der
Folgerichtigkeit verstoßen werde, wenn die in § 33 GrStG
gewährte Steuervergünstigung im Widerspruch zu Art. 3
Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG nicht auf Familien erstreckt
werde. Schließlich widerspreche die Grundsteuer mit ihrer
Brutto-Bemessungsgrundlage dem steuerlichen Nettoprinzip und
verstoße auch insoweit gegen den Gleichheitssatz, weil
Belastungen der Immobilie keine Berücksichtigung fänden. Die
Grundsteuer könne daher auch nicht aufgrund ihrer
ausdrücklichen Erwähnung als Verteilungsnorm in Art. 106
GG als verfassungsgemäß eingestuft werden.
III.
5
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des
§ 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der
Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur
Durchsetzung des als verletzt gerügten Grundrechts aus
Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt.
6
Die Erhebung der Grundsteuer entspricht
jedenfalls dem Grunde nach und in ihrer wesentlichen Struktur
der Verfassung, wie sich bereits aus der mehrfachen
ausdrücklichen Erwähnung der Grundsteuer in den Bestimmungen
des Grundgesetzes über die Ertragshoheit der Finanzmonopole
und Steuern in Art. 106 Abs. 6 GG ergibt (vgl. die
entsprechende Argumentation zur Gewerbesteuer in BVerfG,
Beschluss des Ersten Senats vom 15. Januar 2008 - 1 BvL 2/04
-, NVwZ 2008, S. 1102 <1103 f.>). Das steht
im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, das sich in der Vergangenheit
mehrfach - teils unmittelbar (vgl. BVerfGE 10, 372), teils
inzident (vgl. BVerfGE 3, 407 <437>; 26, 1 <13>;
41, 269 <281, 288 f.>; 46, 224 <237>; 49,
343 <355 ff.>; 65, 325 <353>; 86, 148
<225>) - mit der Grundsteuer befasst hat, ohne dabei
verfassungsrechtliche Zweifel an der Grundsteuer als solcher
zu äußern.
7
Soweit sich die Beschwerdeführer gegen
bestimmte Modalitäten der Bestimmung und Festsetzung der
Grundsteuer wenden, können sie damit im Rahmen der allein
gegen den Grundsteuerbescheid und die ihn bestätigenden
Gerichtsentscheidungen erhobenen Verfassungsbeschwerde in dem
Umfang nicht gehört werden, als diese Rügen auf
Feststellungen und Festlegungen zielen, die bereits in den
vorangegangenen von ihnen nicht mit Erfolg angegriffenen
Grundlagenbescheiden des Finanzamts erfolgt sind. Dies gilt
vor allem für die Angriffe gegen Mängel im System der
Grundstücksbewertung, die nach Auffassung der
Beschwerdeführer zu einer gleichheitswidrigen Belastung der
Grundstückseigentümer führt (zur Kritik an den
Wertverzerrungen bei der Einheitsbewertung vgl. Drosdzol,
DStZ 1999, S. 831 <832>; ders., in: DStZ, 2001,
S. 689 <691>; Dötsch, in: Gürsching/Stenger,
Bewertungsrecht, Stand Januar 2007, BewG Einf. Rn. 110;
Thöne, in: Lange, Reform der Gemeindesteuern, 2006, S. 173
<175 f.>; Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 18.
Aufl. 2005, § 13 Rn. 210; Kühnold/Stöckel, NWB 2007, S.
3873 ff. <3878 ff.>; Balke, ZSteu 2005,
S. 322 andererseits aber auch Bundesfinanzhof, Urteil
vom 2. Februar 2005 - II R 36/03 -, BFHE 209, 138). Denn im
Rahmen des Erlasses des Grundsteuerbescheides ist die
Gemeinde an den Inhalt der Grundlagenbescheide gebunden
(§ 13 Abs. 1, § 15, § 16 Abs. 1, § 25
Abs. 1 GrStG i. V. m. § 182 Abs. 1, § 184
Abs. 1 AO). Sie hat folglich hinsichtlich des Inhalts des
durch das Finanzamt erlassenen Einheitswertbescheides und des
Grundsteuermessbescheides weder eine Prüfungspflicht noch ein
Prüfungsrecht. Die Gemeinde errechnet lediglich die konkrete
Steuerschuld durch Anwendung des für das Gemeindegebiet
geltenden Steuerhebesatzes auf den im Steuermessbescheid
ausgewiesenen Messbetrag (§ 25 Abs. 1, § 27 Abs. 1
GrStG). Danach kann offen bleiben, ob die von den
Beschwerdeführern vorgebrachten Rügen zur
Verfassungsmäßigkeit des Einheitswertverfahrens Einwendungen
gegen den Einheitswertbescheid oder den
Grundsteuermessbescheid betreffen. Denn jedenfalls die
Grundstücksbewertung ist durch die Grundlagenbescheide
abschließend entschieden.
8
Ob die Einwände der Beschwerdeführer gegen die
Nichtberücksichtigung ihrer familiären Verhältnisse und damit
ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit ebenso bereits die
Grundlagenbescheide berührende Fragen betreffen, bedarf hier
gleichfalls keiner Entscheidung. Es ist dem Charakter der
Grundsteuer als Objektsteuer geschuldet und daher als solches
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sie
grundsätzlich ohne Rücksicht auf die persönlichen
Verhältnisse des Grundbesitzers erhoben wird (vgl. BVerfGE
46, 224 <237>; 65, 325 <353>).
9
Verfehlt ist die Berufung der Beschwerdeführer
auf die Umsatzsteuerbefreiung der Grundstücksvermietung
(§ 4 Nr. 12 Buchstabe a UStG). Die Grundsteuer
soll den Grundbesitz besteuern und ist nicht auf Abwälzung
auf den Wohnungsmieter hin angelegt, unabhängig von der
privatrechtlichen Zulässigkeit dieses Vorgangs. Schon deshalb
können aus der umsatzsteuerrechtlichen Behandlung der
Wohnraummiete keine Rückschlüsse auf die
verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Erhebung von
Grundsteuer von mit Wohnraum vermietetem Grundbesitz gezogen
werden.
10
An einer den Anforderungen von § 23
Abs. 2 Satz 1, § 92 BVerfGG genügenden
Begründung fehlt es der Verfassungsbeschwerde bereits, soweit
sie die Erhebung der Grundsteuer unter Berufung auf die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre
1995 zum sogenannten Halbteilungsgrundsatz (vgl. BVerfGE 93,
121 <136 ff.>) angreift. Die Beschwerdeführer
erkennen zwar, dass der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts zwischenzeitlich festgestellt hat,
dass sich den Ausführungen jenes Beschlusses vom 22. Juni
1995 keine Belastungsobergrenze entnehmen lässt, die
unabhängig von der dort streitgegenständlichen Steuerart der
Vermögensteuer Geltung beanspruchen könnte (vgl. BVerfGE 115,
97 <108>). Sie lassen jedoch jegliche substantiierte
Ausführung dazu vermissen, weshalb insoweit anderes für die
Grundsteuer gelten sollte und insbesondere dass die in jenem
Beschluss umschriebene Belastungsobergrenze bei der
Grundsteuer im Zusammentreffen mit anderen Ertragsteuern
strukturell oder jedenfalls in ihrem Fall generell
überschritten würde.
11
Von einer weiteren Begründung wird nach
§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
12
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Eichberger
Masing | bundesverfassungsgericht |
60-2008 | 3. Juni 2008 | Versagung des Verheiratetenzuschlags bei eingetragener Lebenspartnerschaft verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden
Pressemitteilung Nr. 60/2008 vom 3. Juni 2008
Beschluss vom 06. Mai 20082 BvR 1830/06
Beamten wird neben ihrem Grundgehalt ein Familienzuschlag gewährt. Seine Höhe richtet sich nach der Besoldungsgruppe und der Stufe, die den Familienverhältnissen entspricht. Zur Stufe 1 gehören gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 1-3 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG) verheiratete und verwitwete, außerdem geschiedene Beamte, soweit sie aus der Ehe zum Unterhalt verpflichtet sind ("Verheiratetenzuschlag"). Andere Beamte erhalten nach § 40 Abs. 1 Nr. 4 BBesG den Familienzuschlag der Stufe 1 nur, wenn sie einer in ihre Wohnung aufgenommenen Person Unterhalt gewähren und das Einkommen dieser Person eine bestimmte Höhe nicht überschreitet.
Der Beschwerdeführer ist Beamter. Er begründete Mitte 2004 eine eingetragene Lebenspartnerschaft. Seine Klage vor den Verwaltungsgerichten auf Zahlung des Verheiratetenzuschlags blieb ohne Erfolg.
Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, da die Beschränkung des Verheiratetenzuschlags auf verheiratete Beamte - wie bereits im Beschluss vom 20. September 2007 ausgeführt (vgl. Pressemitteilung Nr. 100 vom 12. Oktober 2007) - verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Insbesondere steht die Vorschrift des § 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG und ihre Anwendung durch die Gerichte im Einklang mit der Richtlinie 2000/78/EG in der Auslegung, die sie durch den Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 1. April 2008 erfahren hat.
Dem Nichtannahmebeschluss liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Nach der Entscheidung des Gerichtshofs kommt es für die Beantwortung der Frage, ob im vorliegenden Fall eine Diskriminierung vorliegt, darauf an, ob sich die Lebenspartner in einer Situation befinden, die in Bezug auf den Familienzuschlag mit der Situation von Ehegatten vergleichbar wäre. Dies ist zu verneinen. In Anknüpfung an die verfassungsrechtliche Wertung in Art. 6 Abs. 1 GG berücksichtigt § 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG den in der Lebenswirklichkeit anzutreffenden typischen Befund, dass in der Ehe ein Ehegatte namentlich wegen der Aufgabe der Kindererziehung und hierdurch bedingter Einschränkungen bei der eigenen Erwerbstätigkeit tatsächlich Unterhalt vom Ehegatten erhält und so ein erweiterter Alimentationsbedarf entsteht. Demgegenüber hat der Gesetzgeber bei der eingetragenen Lebenspartnerschaft in der Lebenswirklichkeit keinen typischerweise bestehenden Unterhaltsbedarf gesehen, der eine rechtliche Gleichstellung nahe legen könnte. Auch wenn die Lebenspartnerschaft der Ehe bezüglich der gegenseitigen Unterhaltspflichten der Partner grundsätzlich entspricht, besteht daher keine Gleichstellung bei den typisierenden Vereinfachungen im Bereich des Familienzuschlags.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1830/06 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn H…
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Thomas Stiller,
Bürgerstraße 12, 53173 Bonn -
1. Unmittelbar gegen:
a)
den Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 25. Juli 2006 - 1 A 1368/05 -,
b)
das Urteil des
Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 9. März 2005 - 26 K
8353/04 -,
2. Mittelbar gegen:
das Unterlassen des Gesetzgebers, Beamten, die gemäß § 1
Abs. 1 Lebenspartnerschaftsgesetz eine Lebenspartnerschaft
eingegangen sind, einen Anspruch auf Familienzuschlag nach
§ 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG, den Verheiratete erhalten, zu
gewähren,
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richter Di Fabio
und Landau
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 6.
Mai 2008 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage,
ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, den Beamten, die
eine eingetragene Lebenspartnerschaft geschlossen haben, den
Familienzuschlag der Stufe 1, den verheiratete Beamte
erhalten, nicht beziehungsweise nur unter weitergehenden
Voraussetzungen zu gewähren.
I.
2
1. Beamten wird gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1
Bundesbesoldungsgesetz (BBesG) neben ihrem Grundgehalt ein
Familienzuschlag gewährt. Seine Höhe richtet sich nach der
Besoldungsgruppe und der Stufe, die den Familienverhältnissen
entspricht, § 39 Abs. 1 Satz 2 BBesG. Zur Stufe 1
gehören gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG verheiratete
Beamte, außerdem verwitwete (Nr. 2) und geschiedene Beamte
beziehungsweise solche, deren Ehe aufgehoben oder für nichtig
erklärt ist, soweit sie aus der Ehe zum Unterhalt
verpflichtet sind (Nr. 3). Andere Beamte erhalten nach
§ 40 Abs. 1 Nr. 4 BBesG den Familienzuschlag der Stufe
1, wenn sie eine andere Person nicht nur vorübergehend in
ihre Wohnung aufgenommen haben und ihr Unterhalt gewähren,
weil sie gesetzlich oder sittlich dazu verpflichtet sind oder
aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen ihrer Hilfe
bedürfen, und das Einkommen dieser Person eine bestimmte Höhe
nicht überschreitet.
3
2. Der Beschwerdeführer ist Beamter im Dienste
der Stadt Düsseldorf. Er begründete am 21. Juli 2004 eine
eingetragene Lebenspartnerschaft. Seine Klage auf Zahlung des
Familienzuschlags der Stufe 1 wies das Verwaltungsgericht
Düsseldorf mit Urteil vom 9. März 2005 ab. Den Antrag auf
Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht für
das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 25. Juli 2006
ab. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei
durch das Urteil vom 26. Januar 2006 - 2 C 43.04 - (BVerwGE
125, 79) zwischenzeitlich geklärt, dass die Richtlinie
2000/78/EG es nicht gebiete, Vergütungsbestandteile, die
verheirateten Beschäftigten gewährt würden, auch den
Beschäftigten zukommen zu lassen, die eine
Lebenspartnerschaft eingegangen seien. An dieser Auslegung
bestünden auch unter Gesichtspunkten des deutschen
Verfassungsrechts, die im Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts mitbehandelt worden seien,
keinerlei Zweifel.
4
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
wurde den Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am
31. Juli 2006 zugestellt.
II.
5
Mit der am 28. August 2006 - mit Eingang der
Anlagen am 29. August 2006 - erhobenen Verfassungsbeschwerde
rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus
Art. 3 Abs. 3 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
6
1. Er ist der Auffassung, es verstoße gegen
Art. 3 Abs. 3 GG, dem Beschwerdeführer im Gegensatz zu
verheirateten Beamten die Zahlung des Familienzuschlags der
Stufe 1 zu verweigern. Lebenspartnerschaft und Ehe
unterschieden sich letztlich nur dadurch, dass die Ehe nur
von einem Mann und einer Frau, die Lebenspartnerschaft
dagegen nur von zwei Menschen gleichen Geschlechts begründet
werden könne. Die Ungleichbehandlung sei nicht
gerechtfertigt, da es sich bei Ehe und eingetragener
Lebenspartnerschaft gleichermaßen um auf Dauer angelegte
Lebensgemeinschaften handele, die durch einen staatlichen
Begründungsakt geschlossen würden und mit gegenseitigen
gesetzlichen Unterhaltspflichten der Partner einhergingen.
Das Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG könne eine
unterschiedliche Behandlung nicht begründen, da § 40
Abs. 1 BBesG im Wesentlichen auf den Unterhaltsbedarf
abstelle. Auch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur
Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung
der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.
November 2000 (ABl. EG L 303/16 vom 2. Dezember 2000) gebiete
es, dass der Gesetzgeber hier tätig werde, um den
Familienzuschlag auch Beamten in eingetragener
Lebenspartnerschaft zu gewähren. Die Richtlinie verbiete
Diskriminierungen innerhalb von Beschäftigungsverhältnissen
aufgrund der sexuellen Ausrichtung. Die Begründungserwägung
Nr. 22 der Richtlinie, wonach einzelstaatliche
Rechtsvorschriften über den Familienstand und davon abhängige
Leistungen unberührt blieben, stehe im Widerspruch zu dem
eindeutigen Wortlaut der Richtlinie.
7
2. Das Recht auf den gesetzlichen Richter
gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei verletzt, da die
Gerichte im Ausgangsverfahren die Frage der
Verfassungswidrigkeit der Gesetzeslücke im Besoldungsrecht
nicht nach Art. 100 Abs. 1 GG dem
Bundesverfassungsgericht vorgelegt hätten.
III.
8
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen, weil die Voraussetzungen des
§ 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Der
Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu
noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90
Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE
90, 22 <24 ff.>; 96, 245 <248>). Sie hat
keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
9
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die
angegriffenen Entscheidungen sowie die angewendete Vorschrift
des § 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG verletzen den
Beschwerdeführer nicht in den in § 90 Abs. 1 BVerfGG
genannten Rechten. Die Entscheidungen verletzen weder
Art. 3 Abs. 1 GG noch Art. 33 Abs. 5 GG oder
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Zur Begründung wird Bezug
genommen auf den Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats
des Bundesverfassungsgerichts vom 20. September 2007 in dem
Parallelverfahren 2 BvR 855/06 (NJW 2008, S. 209). Die
Fragen, welche die vorliegende Verfassungsbeschwerde
aufwirft, waren bereits Gegenstand jenes Beschlusses.
10
1. Zur Begründung ist ergänzend auszuführen,
dass die angegriffenen Entscheidungen auch im vorliegenden
Verfahren den Beschwerdeführer nicht entgegen Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG seinem gesetzlichen Richter
entziehen. Das Oberverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss
auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar
2006 - 2 C 43.04 - (BVerwGE 125, 79) verwiesen, das
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 855/06 war. Das
Bundesverwaltungsgericht hat eine Vorlage an den Europäischen
Gerichtshof nicht für erforderlich gehalten, um zu
entscheiden, dass die Richtlinie 2000/78/EG es nicht
verbietet, den Familienzuschlag den verheirateten Beamten zu
gewähren, Beamten in eingetragener Lebenspartnerschaft
dagegen nur unter zusätzlichen Voraussetzungen. Das
Bundesverwaltungsgericht hat damit den ihm zukommenden
Beurteilungsspielraum nicht in unvertretbarer Weise
überschritten (BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats,
Beschluss vom 20. September 2007 - 2 BvR 855/06 -, NJW 2008,
S. 209 <212>). An der verfassungsrechtlichen
Beurteilung dieser Entscheidung ändert sich nichts durch das
inzwischen ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom
1. April 2008 (Rs. C-267/06 - juris) zur Auslegung der
Richtlinie 2000/78/EG. Das Verwaltungsgericht München hatte
die Frage vorgelegt, ob Art. 1 in Verbindung mit
Art. 2 Abs. 2 Buchstabe a der Richtlinie 2000/78/EG
Satzungsbestimmungen eines Zusatzversorgungssystems (hier:
der Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen) entgegensteht,
nach denen ein eingetragener Lebenspartner keine
Hinterbliebenenversorgung erhält, wie sie Ehegatten nach
dieser Satzung gewährt wird, und ob in diesem Fall eine
Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung im Hinblick
auf den 22. Erwägungsgrund der Richtlinie zulässig wäre
(Beschluss vom 1. Juni 2006 - M 3 K 05.1595 - juris). Der
Europäische Gerichtshof entschied auf diese Vorlage hin, wenn
eine Hinterbliebenenversorgung als Entgelt in den
Geltungsbereich der Richtlinie falle, könne deren 22.
Begründungserwägung die Anwendung der Richtlinie nicht in
Frage stellen. Der Gerichtshof führte weiter aus, falls das
vorlegende Gericht entscheide, dass die Lebenspartnerschaft
nach nationalem Recht Personen gleichen Geschlechts in eine
Situation versetze, die in Bezug auf die
Hinterbliebenenversorgung mit der Situation von Ehegatten
vergleichbar sei, stelle eine Regelung, welche die Versorgung
nur überlebenden Ehegatten gewähre, eine unmittelbare
Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung im Sinne der
Richtlinie dar. Es sei jedoch Sache des vorlegenden Gerichts
zu prüfen, ob sich ein überlebender Lebenspartner in einer
Situation befinde, die mit der eines Ehegatten, der die
Hinterbliebenenversorgung erhalte, vergleichbar sei.
11
Diese Auslegung der Richtlinie durch den
Europäischen Gerichtshof in Bezug auf einen anderen
Rechtsbereich - die Hinterbliebenenversorgung aus einem
Zusatzversorgungssystem - steht den Entscheidungen im
hiesigen Ausgangsverfahren wie auch im
Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 855/06 nicht entgegen,
da das Urteil des Gerichtshofs erst nach der jeweiligen
letztinstanzlichen Entscheidung erging. Für die
verfassungsrechtliche Beurteilung der Handhabung der
Vorlagepflicht ist jedoch ausschließlich auf die Einschätzung
der (Gemeinschafts-)Rechtslage zur Zeit der Entscheidung
abzustellen (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats,
Beschluss vom 16. Dezember 1993 - 2 BvR 1725/88 -, NJW 1994,
S. 2017 <2018>).
12
2. Darüber hinaus steht die Vorschrift des
§ 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG und ihre Anwendung durch die
Gerichte im Ausgangsverfahren auch im Einklang mit der
Richtlinie 2000/78/EG in der Auslegung, die sie durch den
Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 1. April 2008
erfahren hat. Die unterschiedliche Behandlung von
verheirateten Beamten und Beamten in eingetragener
Lebenspartnerschaft bei der Regelung des Familienzuschlags
ist keine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von
Art. 2 Abs. 2 Buchstabe a der Richtlinie. Denn
Lebenspartner befinden sich jedenfalls nicht in einer
Situation, die in Bezug auf den Familienzuschlag mit der
Situation von Ehegatten vergleichbar wäre.
13
a) Eine allgemeine rechtliche Gleichstellung
der Lebenspartnerschaft mit der Ehe besteht im deutschen
Recht nicht. Der Gesetzgeber hat vielmehr an die
Rechtsinstitute Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft
unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft, die der
verfassungsrechtlichen Wertung aus Art. 6 Abs. 1 GG
folgend zwischen diesen Formen der Partnerschaft
differenzieren (vgl. BVerfGE 105, 313 <350 f.>).
Eine Gleichstellung entsprach gerade nicht dem
gesetzgeberischen Willen. Daher wurde bei Einführung der
eingetragenen Lebenspartnerschaft durch das Gesetz zur
Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher
Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften vom 16. Februar 2001
(LPartG - BGBl I S. 266) keine allgemeine Verweisungsnorm
erlassen, welche sämtliche Rechtsvorschriften, die für die
Ehe gelten, entsprechend auf die eingetragene
Lebenspartnerschaft übertragen hätte. Der Gesetzgeber regelte
das Recht der eingetragenen Lebenspartnerschaften vielmehr
durch eigene Vorschriften, die in einzelnen Sachbereichen
Übereinstimmungen mit dem Eherecht vorsehen, in anderen
Bereichen jedoch abweichende Regelungen enthalten. Die
Übertragung eherechtlicher Vorschriften auf die eingetragene
Lebenspartnerschaft geschah nicht regelhaft, sondern als
punktuelle Annäherung. Eine allgemeine Gleichstellung der
Lebenspartnerschaft mit der Ehe ist auch nicht durch das
Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts vom
15. Dezember 2004 (LPartÜbG - BGBl I S. 3396), das zum 1.
Januar 2005 in Kraft trat, erfolgt, wenngleich die
Unterschiede zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft durch
dieses Gesetz geringer geworden sind.
14
b) Eine vergleichbare Situation zwischen
Ehegatten und Lebenspartnern besteht auch nicht speziell im
Recht des öffentlichen Dienstes. Sowohl der Bundes- als auch
der Landesgesetzgeber haben in diesem Bereich bewusst von
einer umfassenden Gleichstellung abgesehen und Angleichungen
zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft nur in Randbereichen des
Dienstrechts geschaffen. Diese punktuellen Annäherungen
betreffen nicht den hier in Rede stehenden
Familienzuschlag.
15
Die in Art. 3 § 10 des Entwurfs des
Lebenspartnerschaftsgesetzes vom 4. Juli 2000 (BTDrucks
14/3751) vorgesehene Vorschrift, wonach Bestimmungen des
Bundesbesoldungsgesetzes, die sich auf das Bestehen einer Ehe
beziehen, auf das Bestehen einer Lebenspartnerschaft
sinngemäß anzuwenden sind, wurde im Verlauf des
Gesetzgebungsverfahrens aus dem Entwurf herausgelöst und als
Art. 2 § 6 in den Entwurf eines Gesetzes zur
Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes (BTDrucks 14/4545)
eingefügt. Dieser Entwurf wurde vom Bundesrat abgelehnt
(BTDrucks 14/4875). Durch das Gesetz zur Überarbeitung des
Lebenspartnerschaftsrechts ist die Lebenspartnerschaft der
Ehe nur für bestimmte Bereiche des Bundesbeamtenrechts wie
den Reisekosten, den Umzugskosten, dem Trennungsgeld, dem
Sonderurlaub und dem Laufbahnrecht gleichgestellt worden
(vgl. Art. 5 Abs. 4 – 13 LPartÜbG). Für das
Besoldungsrecht wie auch für das Beamtenversorgungsrecht
fehlt dagegen eine derartige Gleichstellung. Zu einer
Angleichung ist es im Bereich des Alimentationsgrundsatzes,
der zu den Strukturprinzipien des Berufsbeamtentums zählt
(vgl. BVerfGE 8, 1 <16 f.>; 29, 1 <9>; 81,
363 <375>; 99, 300 <314>), gerade nicht
gekommen.
16
Eine vergleichbare Situation verheirateter
Beamter und Beamter in eingetragener Lebenspartnerschaft in
Bezug auf die ihnen gewährte Alimentation hat auch der
nordrhein-westfälische Gesetzgeber für die dortigen Landes-
und Kommunalbeamten nicht geschaffen. Durch das Gesetz zur
Anpassung des Landesrechts an das Lebenspartnerschaftsgesetz
des Bundes (LPartAnpG) vom 3. Mai 2005 (GVBl NRW S. 498)
erfolgte eine Angleichung beim Trennungsgeld sowie im
Laufbahnrecht (vgl. Teil 1, Art. 2 und Teil 2,
Art. 2, 6, 7 LPartAnpG). Über das Bundesbeamtenrecht
geht das nordrhein-westfälische Landesrecht nur insoweit
hinaus, als es im Bereich der Beihilfe Ehegatten und
eingetragene Lebenspartner gleichstellt (vgl. § 88 Satz
2 LBG). Dagegen entschied sich der Landesgesetzgeber gegen
eine vollständige Gleichstellung, auch nachdem durch das
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006
(BGBl I S. 2034) die Gesetzgebungskompetenz für die
Beamtenbesoldung und -versorgung auf die Länder übergegangen
war. Der Antrag der Landtagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN
vom 17. Oktober 2006 (LTDrucks 14/2724), eine
Gleichstellung von verpartnerten Beamten mit verheirateten
Beamten bezüglich der Besoldung und Versorgung
herbeizuführen, wurde vom Landtag abgelehnt (Plenarprotokoll
14/55 vom 8. März 2007, S. 6199).
17
Für die normative Vergleichbarkeit von Ehe und
eingetragener Lebenspartnerschaft in Bezug auf den hier in
Rede stehenden Familienzuschlag ist diese Ausgestaltung des
öffentlichen Dienstrechts entscheidend, nicht die
zivilrechtliche Regelung der Unterhaltspflichten in der Ehe
und der Lebenspartnerschaft, die inzwischen grundsätzlich
übereinstimmen (vgl. § 5 LPartG). Das Besoldungsrecht
einschließlich der Regelungen zum Familienzuschlag gestaltet
die Pflicht des Dienstherrn zur Alimentation des Beamten und
seiner Familie eigenständig aus, ohne an die
bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflichten gebunden zu sein
(vgl. BVerfGE 21, 329 <347 f.>). In Anknüpfung an
die verfassungsrechtliche Wertung in Art. 6 Abs. 1
GG berücksichtigt § 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG den in der
Lebenswirklichkeit anzutreffenden typischen Befund, dass in
der Ehe ein Ehegatte namentlich wegen der Aufgabe der
Kindererziehung und hierdurch bedingter Einschränkungen bei
der eigenen Erwerbstätigkeit tatsächlich Unterhalt vom
Ehegatten erhält und so ein erweiterter Alimentationsbedarf
entsteht. Demgegenüber hat der Gesetzgeber bei der
eingetragenen Lebenspartnerschaft in der Lebenswirklichkeit
keinen typischerweise bestehenden Unterhaltsbedarf gesehen,
der eine rechtliche Gleichstellung nahe legen könnte. Auch
wenn die Lebenspartnerschaft der Ehe bezüglich der
gegenseitigen Unterhaltspflichten der Partner grundsätzlich
entspricht, besteht daher keine Gleichstellung bei den
typisierenden Vereinfachungen im Bereich des
Familienzuschlags.
18
3. Von einer weiteren Begründung der
Entscheidung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG
abgesehen.
19
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Di Fabio
Landau | bundesverfassungsgericht |
37-2001 | 10. April 2001 | Altersgrenze für Niederlassung als Vertragsarzt bestätigt
Pressemitteilung Nr. 37/2001 vom 10. April 2001
Beschluss vom 20. März 20011 BvR 491/96
Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat festgestellt, dass es mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar ist, Ärzte jenseits des 55. Lebensjahres nicht mehr neu zur vertragsärztlichen Versorgung zuzulassen.
I.
Beschwerdeführer (Bf) ist ein 1934 geborener Arzt für Innere Medizin. Seit 1969 war er an einer Universitätsklinik als Oberarzt und außerplanmäßiger Professor tätig. Kurz vor seinem 60. Geburtstag beantragte er erfolglos die Zulassung als Vertragsarzt. Zur Begründung der Ablehnung bezogen der Zulassungsausschuss und die Gerichte sich auf § 98 SGB V und die Zulassungsordnung. Danach ist die erstmalige Zulassung eines Arztes, der das 55. Lebensjahr vollendet hat - außer in Härtefällen - ausgeschlossen.
Diese Vorschriften (im Anhang abgedruckt) sind mit dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) 1989 in Kraft getreten. Ziel ihrer Einführung war die Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Dem lag die auf empirische Erhebungen gestützte Einschätzung des Gesetzgebers zugrunde, dass die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen auch mit der steigenden Zahl niedergelassener Ärzte zusammenhängt. Zur Kostendämpfung sind in den letzten Jahren eine Vielzahl weiterer Maßnahmen zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ergriffen worden. Unter anderem wurden die Beitragsbemessungsgrenze angehoben, den Versicherten Zuzahlungen abverlangt, Festbeträge für Arznei- und Hilfsmittel eingeführt und bestimmte Sachleistungen vollständig aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen. Weiter wurde der Facharztvorbehalt für die Vertragsarztzulassung eingeführt und eine absolute Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragsärzte festgelegt. Auch Maßnahmen wie die Budgetierung, die Absenkung der Punktwerte u.s.w. sollen das Krankenversicherungssystem bei vertretbarer Beitragshöhe für Versicherte und Arbeitgeberleistungsfähig erhalten.
II.
Mit Beschluss vom 20. März 2001 hat der 1. Senat des BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Bf gegen die Verweigerung der Zulassung zurückgewiesen. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus: Die Sicherung der finanziellen Stabilität der Krankenversicherung ist ein Gemeinwohlbelang von überragendem Gewicht, der Regelungen der Berufsausübung, aber auch der Berufswahl rechtfertigt. Bei der Erreichung dieses Ziels hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, den er durch die Festlegung der Altersgrenze nicht überschritten hat. Verfolgt er ein komplexes Ziel - wie die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung - mit vielfältigen Mitteln, ist eine Maßnahme nicht ungeeignet, weil die Betroffenen andernorts größere Einsparpotentiale sehen. Eine einzelne Maßnahme ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil nicht alle Betroffenen durch die gesetzlichen Vorkehrungen gleichmäßig belastet werden. Der Gesetzgeber muss bei der Regelung dieses Bereichs verschiedene, zum Teil gegenläufige Grundrechtspositionen und Gemeinwohlbelange ausgleichen.
Das Beitragsaufkommen lässt sich nicht beliebig erhöhen; gerade die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen stellen den Großteil der gesetzlich Krankenversicherten. Das System reguliert sich nicht nach den Kräften des Marktes selbst, denn die Preise für die ärztliche Leistung werden nicht zwischen Arzt und Patient ausgehandelt, sondern durch sozialstaatliche Regelungen festgesetzt. Diese eröffnen erst die Beteiligung an dem umfassenden sozialen Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung, das aus Beiträgen der Versicherten finanziert wird, von dem auch die Leistungserbringer profitieren und für dessen Funktionsfähigkeit der Staat die Verantwortung trägt. Gleichzeitig muss die angemessene Versorgung der Versicherten gewährleistet sein, eine leistungsfähige Ärzteschaft ist hierfür Voraussetzung.
Die Kostenbegrenzung ist damit nur eines der Ziele, die der Gesetzgeber verfolgt, um das System insgesamt funktionsfähig zu erhalten. Zugleich strebt er an, dass die volkswirtschaftlich für vertretbar gehaltene Beitragsbelastung, die der Krankenversicherung ihr Finanzierungsvolumen vorgibt, nicht überschritten und die Verteilung der Finanzmittel den Zielen der Versorgung der Versicherten mit einem ausreichenden und zweckmäßigen Schutz im Krankheitsfall gerecht wird. Mehrausgaben in einem Sektor bedingen dabei notwendigerweise Kürzungen an anderer Stelle, wenn Beitragserhöhungen vermieden werden sollen.
Auch dieses Streben nach einer ausgewogenen Lastenverteilung gehört zu den vom Gesetzgeber legitimerweise definierten Zielen einer strukturellen Ausgewogenheit.
Die getroffenen Maßnahmen sind grundsätzlich geeignet, zur finanziellen Stabilität der Krankenversicherung beizutragen, wenn auch keine Einzelmaßnahme nachhaltig gewirkt haben mag. Ihre Festlegung im Einzelnen ist eine politische Entscheidung, die durch die Verfassung nicht vorgegeben ist. Insbesondere ist es keine Frage des Verfassungsrecht, ob sich das Gesamtziel auch auf andere Weise und besser hätte erreichen lassen.
Auch die hier angegriffene Altersgrenze ist eine solcherart geeignete Maßnahme. Der Gesetzgeber konnte sich besondere wirtschaftliche Einsparungen von ihr versprechen. Denn es besteht die auf plausible Annahmen gestützte Gefahr, dass Personen, die die vertragsärztliche Tätigkeit nur noch während einer relativ kurzen Zeit (nämlich zwischen dem 55. und 68. Lebensjahr) ausüben können, erhöhte Umsätze anstreben.
Gerade in den ersten Jahren nach Gründung einer Praxis verbleibt dem Arzt ein geringerer Anteil seines Umsatzes als Gewinn, da er in der Regel Kredite abzahlen muss. Es dauert durchschnittlich 12 Jahre, bis die für einen Praxiserwerb oder eine Praxisgründung notwendigen Kredite insgesamt zurückgezahlt sind. Haben Ärzte nur wenige Jahre der Gewinnerzielung aus selbstständiger Tätigkeit zur Verfügung, wollen aber dennoch durchschnittliche Gewinne erwirtschaften, müssen sie einen erhöhten Umsatz anstreben, was - aus der Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung unerwünschte - Mengenausweitungen zur Folge haben kann. Der Gesetzgeber durfte es daher für angezeigt halten, mit den Zugangsbeschränkungen gerade solche Ärzte fernzuhalten, die angesichts des sie selbst treffenden wirtschaftlichen Drucks weniger geeignet erscheinen, kostenbewusst im Gesamtsystem tätig zu werden. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Vertragsarzt nicht nur die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung trägt, sondern zugleich Sachwalter der Kassenfinanzen insgesamt ist. Vertragsärzte entscheiden über die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Heilbehandlung. Sie verordnen durchschnittlich Kassenleistungen in Höhe des Vierfachen ihres Honorars. Allgemeinärzte veranlassen nach Schätzungen sogar das Siebenfache des eigenen Umsatzes. Sie müssen deshalb Kenntnisse im Vertragsarztrecht haben und bereit sein, wirtschaftlich vertretbare Behandlungen in einer betriebswirtschaftlich sinnvollen Weise zu organisieren. Erfahrungen mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten einer Vertragsarztpraxis werden im Laufe der Jahre erworben. Ärzte, die bis dahin im Krankenhaus, im Labor oder in der Forschung tätig waren, konnten diese regelmäßig nicht erwerben. Hierin liegt ein signifikanter Unterschied gegenüber den gleich alten Ärzten, die schon seit Jahren an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.
Der Bf kann auch nicht geltend machen, es gäbe weniger einschneidende Mittel zur Stabilisierung der Krankenversicherung. Eine Maßnahme ist nicht deshalb ein milderes Mittel, weil sie nicht den Bf, sondern eine andere Gruppe trifft. So wäre eine weitere Absenkung der ärztlichen Vergütung kein milderes Mittel, da sie sich im Wesentlichen gegen die bereits zugelassenen Vertragsärzte richtet.
Die Altersgrenze von 55 Jahren für eine erstmalige Zulassung als Vertragsarzt trifft den Bf auch nicht unverhältnismäßig. Es handelt sich um ein Lebensalter, in dem für abhängig Beschäftigte bereits Altersteilzeit und Frühverrentung in Betracht kommen. Die Betroffenen sind in ihrem Beruf, den sie weiter ausüben können, in der Regel bereits voll etabliert. Auch ist zu berücksichtigen, dass sie die Entscheidung, sich als Vertragsarzt niederzulassen bevor sie 55 Jahre alt werden, in großem Umfang selbst in der Hand haben. Die Möglichkeit einer Härtefallregelung kann untypischen Umständen Rechnung tragen.
Karlsruhe, den 10. April 2001
Anlage zur Pressemitteilung Nr. 37/2001 vom 10. April 2001
Die maßgebliche Vorschrift des § 98 SGB V hat folgenden Wortlaut:
Zulassungsverordnungen
1. Die Zulassungsverordnungen regeln das Nähere über die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung sowie die zu ihrer Sicherstellung erforderliche Bedarfsplanung (§ 99) und die Beschränkung von Zulassungen. Sie werden vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Rechtsverordnung erlassen.
2. Die Zulassungsverordnungen müssen Vorschriften enthalten über
1. bis 11. .....
12. den Ausschluss einer Zulassung oder Ermächtigung von Ärzten, die das fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet haben, sowie die Voraussetzungen für Ausnahmen von diesem Grundsatz, soweit die Ermächtigung zur Sicherstellung erforderlich ist, und in Härtefällen,
13. bis 15. .....
§ 25 der Zulassungsverordnung für Kassenärzte (Ärzte-ZV) in der Fassung von Art. 18 Nr. 13 GRG bestimmt ergänzend:
Die Zulassung eines Arztes, der das fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet hat, ist ausgeschlossen. Der Zulassungs ausschuss kann von Satz 1 in Ausnahmefällen abweichen, wenn dies zur Vermeidung von unbilligen Härten erforderlich ist.
Die Vorschrift ist gemäß Art 79 Abs. 1 GRG am 1. Januar 1989 in Kraft getreten.
nach oben | L e i t s a t z
zum Beschluss des Ersten Senats vom 20. März
2001
- 1 BvR 491/96 -
Es ist mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit
(Art. 12 Abs. 1 GG) und mit dem allgemeinen Gleichheitssatz
(Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar, dass approbierte Ärzte, die das
55. Lebensjahr vollendet haben, grundsätzlich nicht mehr zur
vertragsärztlichen Versorgung zugelassen werden.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 491/96 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Professor Dr. B...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Becker, Büttner und Koll.,
Gisonenweg 9, 35037 Marburg/Lahn -
1. unmittelbar gegen
a)
den Beschluss des
Bundessozialgerichts vom 9. Januar 1996 - 6 BKa 24/94
-,
b)
das Urteil des
Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Mai 1994
- L 11 Ka 17/94 -,
c)
das Urteil des
Sozialgerichts Köln vom 20. Oktober 1993 - S 19 Ka 26/93
-,
d)
den Beschluss des
Berufungsausschusses für Kassenarztzulassungen Nordrhein
vom 9. Juni 1993 - W.-Nr. 57/93 -,
e)
den Beschluss des
Zulassungsausschusses für Vertragsärzte Köln bei der
Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein vom 30. März 1993
- 271/93 -,
2. mittelbar gegen
a)
§ 98 Abs. 2 Nr. 12 des
Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des
Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen
(Gesundheits-Reformgesetz - GRG) vom 20. Dezember 1988
(BGBl I S. 2477),
b)
§ 25 der
Zulassungsverordnung für Kassenärzte (Ärzte-ZV) in der
Fassung des Gesetzes zur Strukturreform im
Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz - GRG) vom 20.
Dezember 1988 (BGBl I S. 2477)
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster
Senat - unter Mitwirkung
des Vizepräsidenten Papier,
der Richterinnen Jaeger,
Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt
und des Richters Hoffmann-Riem
am 20. März 2001 beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird
zurückgewiesen.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage,
ob approbierten Ärzten nach Vollendung des 55. Lebensjahres
der Zugang zur vertragsärztlichen Tätigkeit in aller Regel
versperrt werden darf, insbesondere um zur Kostendämpfung im
Gesundheitswesen beizutragen.
I.
2
1. Die deutsche gesetzliche
Krankenversicherung ist ein im Umlageverfahren durch
Versicherungsbeiträge finanziertes Gesundheitssystem zur
medizinischen Vollversorgung von inzwischen nahezu 90 vom
Hundert der Bevölkerung. Die Versicherungsleistungen werden
dabei weitgehend als Sachleistungen ohne direkte
Kostenbeteiligung der Versicherten erbracht. Ein derartiges
System tendiert nach Einschätzung von Sachverständigen zur
Kostenausweitung. Bedarfsfeststellung und Kostenkontrolle
liegen nicht in einer Hand. Fragt ein Versicherter Leistungen
nach, definiert der Arzt den medizinischen Bedarf und erfüllt
ihn sodann; die Krankenkassen tragen die Kosten, die über
Beiträge aufgebracht werden, mit denen im Wesentlichen kleine
und mittlere Einkommen aus abhängiger Beschäftigung belastet
sind. Einkommensbezieher mit höherem Erwerbseinkommen,
Selbständige und Beamte sind in der Regel privat versichert,
sofern sie der gesetzlichen Versicherung nicht als freiwillig
Versicherte angehören. In der Privatversicherung gibt es etwa
6 Millionen Versicherte mit vollem
Krankenversicherungsschutz; in der gesetzlichen Versicherung
sind 72 Millionen versichert, davon etwa 15 Millionen als
Rentner und 22 Millionen als beitragsfrei versicherte
Familienmitglieder. Die kontinuierlich steigenden Ausgaben
der gesetzlichen Krankenversicherung haben zu Steigerungen im
Beitragssatz und zu erheblichen Anhebungen der
Versicherungspflichtgrenze geführt (vgl. Verband der privaten
Krankenversicherung <Hrsg.>, Die private
Krankenversicherung, Zahlenbericht 1996/97, S. 16). Auch für
die Zukunft wird mit steigenden Kosten bei den
Gesundheitsleistungen gerechnet als Folge der zunehmenden
Alterung der Gesellschaft, der hiermit verbundenen Abnahme
der Beitragszahler aus aktiver Erwerbstätigkeit und der
Steigerungseffekte aus dem medizinischen und
medizinisch-technischen Fortschritt. Die Vermeidung von
weiteren Beitragssteigerungen ist seit Jahren ein vorrangiges
Ziel der Gesundheitspolitik (vgl. Deutscher Bundestag,
Referat Öffentlichkeitsarbeit <Hrsg.>, Strukturreform
der gesetzlichen Krankenversicherung, Endbericht der
Enquête-Kommission des 11. Deutschen Bundestages, 1990 <im
Folgenden: Enquête-Bericht>, Rn. 82 ff.;
Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung <im Folgenden:
Sachverständigenrat>, Jahresgutachten 1992/93, Nr.
377 ff. m.w.N.; vgl. zur Entwicklung auch BTDrucks
11/2237, S. 1, 132 ff., 156; BTDrucks 13/6087, S.
15).
3
2. Einspareffekte können durch
Kostenbeteiligung der Versicherten, Leistungskürzungen oder
durch Freilegung von Leistungsreserven im Gesundheitswesen
erwirtschaftet werden. Dem ambulanten Bereich wird hierbei
eine Schlüsselstellung zugeschrieben (vgl. BTDrucks 12/3608,
S. 94; Hess, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, Stand: Dezember
2000, § 73 SGB V Rn. 12). Der Vertragsarzt konkretisiert
die Ansprüche der Versicherten gegenüber den Krankenkassen,
definiert das Kranksein der Patienten und den Bedarf an
ärztlichen und sonstigen Dienst- und Sachleistungen
(§ 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 SGB V;
vgl. BSG, SozR 3-2500 § 13 Nr. 4). Er verordnet
durchschnittlich Kassenleistungen in Höhe des Vierfachen
seines Honorars (vgl. BTDrucks 12/3608, S. 98;
Enquête-Bericht, S. 119 Rn. 53). Allgemeinärzte veranlassen
nach Schätzungen sogar das Siebenfache des eigenen Umsatzes
(vgl. Hess, a.a.O., Rn. 12; Sachverständigenrat für die
Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen <im Folgenden:
Sachverständigenrat Konzertierte Aktion>, Jahresgutachten
1988, Rn. 354). Unter den Kostendämpfungsmaßnahmen kommt
deshalb der Vermeidung ungerechtfertigter Mengenausweitung
hohe Priorität zu (vgl. Enquête-Bericht, a.a.O., S.
117 ff., Rn. 45 ff.). Die Mengenausweitung kann
durch das System der Vergütung und die Zahl der Beteiligten
an der vertragsärztlichen Versorgung beeinflusst werden (vgl.
Enquête-Bericht, a.a.O., Rn. 109 ff.). Denn durch das
grundsätzlich einzelleistungsbezogene Vergütungssystem
steigen die Ausgaben auch mit steigender Zahl
niedergelassener Ärzte. Seit den Erhebungen zum ersten
Kassenarzt-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 11,
30) hat sich die Zahl niedergelassener Ärzte bis 1996 knapp
verdreifacht; die Arztdichte hat seitdem weiter zugenommen.
Die Fallzahlen pro Vertragsarzt sind gleichwohl nicht
gesunken, sondern gestiegen. Nachdem das an die Ärzte zu
verteilende Honorarvolumen durch Budgets beschränkt worden
war, sank die Vergütung für die einzelne erbrachte Leistung.
In vielen Bereichen kam es daraufhin zu Mengenausweitungen
mit der Folge, dass Ärzte, die auf die Budgetierung nicht mit
einer Leistungsausweitung reagiert haben, faktisch
Honoraranteile an andere abgeben (vgl.
Pfaff/Nagel/Rindsfüßer, Die zukünftige Entwicklung der
Arztzahlen im ambulanten Bereich bis zum Jahr 2006, 1993, S.
11 f., 71 f., 125 f.).
4
Zur Vermeidung weiterer Kostensteigerungen
gibt es zahlreiche - zum Teil schon gesetzlich verwirklichte
- Vorschläge, die bei der Neustrukturierung des ärztlichen
Versorgungsangebots als Ganzem einsetzen (vgl.
Sachverständigenrat Konzertierte Aktion, Jahresgutachten
1990, Rn. 461 ff. und Jahresgutachten 1992, Rn.
322 ff.), eine Verringerung der Studienplätze in der
Medizin befürworten (vgl. Sachverständigenrat Konzertierte
Aktion, Sachstandsbericht 1994, Rn. 334) oder auf andere
Weise die Zulassung der Vertragsärzte zu begrenzen suchen,
beispielsweise durch die Verlängerung der ärztlichen
Ausbildung und die Einführung des Facharztvorbehalts für die
Vertragsarztzulassung (§ 95 a SGB V) sowie durch die
Festlegung der End-Altersgrenze für Vertragsärzte (vgl.
§ 95 Abs. 7 SGB V). Der Gesetzgeber hat zusätzlich
Regelungsmechanismen bei Überversorgung (Bedarfsplanung -
§§ 99 ff. SGB V) geschaffen sowie die hier
angegriffene Altersgrenze für den erstmaligen Entschluss zur
Niederlassung als Arzt und zur Zulassung als Vertragsarzt
eingeführt. Weitere Reformüberlegungen zielen auf den
Abschluss von Einzelverträgen statt kollektiver Verträge
sowie auf eine befristete Vergabe von Vertragsarztsitzen
(vgl. Sachverständigenrat Konzertierte Aktion,
Sachstandsbericht 1994, Rn. 596 ff.). Beim
Vergütungssystem wird mehr Transparenz und verstärkt die
Abrechnung nach Fallpauschalen befürwortet.
5
Die Einsparmaßnahmen im Krankenkassenbereich
sind aber nicht auf die niedergelassenen Ärzte beschränkt. So
werden den Versicherten Zuzahlungen abverlangt. Mit den
Festbeträgen wird auf das Preisgefüge bei Arznei- und
Hilfsmitteln Einfluss genommen. Bestimmte Sachleistungen
werden überhaupt nicht mehr zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung erbracht. Auch die Vergütungs- und
Budgetregelungen im ambulanten und stationären Bereich dienen
dem Ziel, Einsparungen zu erzielen.
6
3. Das Sachleistungsprinzip in der
gesetzlichen Krankenversicherung bedingt, dass sich die
Krankenkassen zur Sicherstellung der ihnen zugewiesenen
Aufgaben der in Kassenärztlichen Vereinigungen
zusammengeschlossenen Vertragsärzte bedienen. Von Beginn an
drängten die Ärzte auf erweiterte
Beschäftigungsmöglichkeiten, die Krankenkassen auf die
Vermeidung hoher Kosten (vgl. Rosewitz/Webber, Reformversuche
und Reformblockaden im deutschen Gesundheitswesen, 1990, S.
14 ff.). Den niedergelassenen und zur vertragsärztlichen
Versorgung zugelassenen Ärzten ist die ambulante Versorgung
der Versicherten vorbehalten. Ihre Zahl stieg kontinuierlich
an. 1913 wurde ein Arzt auf je 1.350 Versicherte, 1932 ein
Arzt auf nur noch 600 Versicherte zugelassen. Die auf 500
abgesenkte Zahl war gültig, bis das Bundesverfassungsgericht
die Zulassung nach Verhältniszahlen als mit Art. 12 Abs. 1 GG
nicht vereinbar aufgehoben hat (BVerfGE 11, 30 <39>).
Als daraufhin bis 1986 die Zahl der zugelassenen
Vertragsärzte im ambulanten Bereich um 75 vom Hundert
anstieg, hat der Gesetzgeber regional wirkende
Zulassungsregeln eingeführt, die einer Konzentration der
Überversorgung in bestimmten Gebieten entgegenwirken sollten
(vgl. § 368 t RVO). Das erschien notwendig, weil die
Ausgaben der Krankenkassen je Versichertem umso höher lagen,
je höher die Versorgungsdichte mit Ärzten war (vgl. BTDrucks
10/5630, S. 12; 10/6444, S. 5 f.).
7
Zwei Jahre später wurde mit dem Gesetz zur
Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz
- GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S. 2477) die vorliegend
angegriffene Altersgrenze eingeführt, um den Anstieg der
Kassenarztzahlen weiter abzuschwächen und damit die
Kostendämpfung zu verbessern (vgl. BTDrucks 11/2237, S. 132,
137, 156). Zur Begründung wurde ausgeführt, der Zustrom von
Ärzten, die das 55. Lebensjahr bereits vollendet haben, führe
zu einer Gefährdung der Wirtschaftlichkeit in der
gesetzlichen Krankenversicherung. Es sei zu befürchten, dass
solche Ärzte die Tätigkeit nur relativ kurze Zeit ausüben
könnten und die Amortisation ihrer Praxisinvestitionen durch
gesteigerte und unwirtschaftliche Tätigkeit zu erreichen
versuchten. Im Übrigen hätten diese Ärzte ein abgeschlossenes
Berufsleben hinter sich, so dass mit Ausnahme von Härtefällen
auch kein Bedürfnis für ihre Beteiligung an der
kassenärztlichen Versorgung bestehe (vgl. BTDrucks 11/2237,
S. 195).
8
Die maßgebliche Vorschrift des § 98 SGB V
hat folgenden Wortlaut:
Zulassungsverordnungen
(1) Die Zulassungsverordnungen regeln das
Nähere über die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung
sowie die zu ihrer Sicherstellung erforderliche
Bedarfsplanung (§ 99) und die Beschränkung von
Zulassungen. Sie werden vom Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung mit Zustimmung des Bundesrates als
Rechtsverordnung erlassen.
(2) Die Zulassungsverordnungen müssen
Vorschriften enthalten über
1. bis 11. ...
12. den Ausschluss einer Zulassung oder
Ermächtigung von Ärzten, die das fünfundfünfzigste Lebensjahr
vollendet haben, sowie die Voraussetzungen für Ausnahmen von
diesem Grundsatz, soweit die Ermächtigung zur Sicherstellung
erforderlich ist, und in Härtefällen,
13. bis 15. ...
9
§ 25 der Zulassungsverordnung für
Kassenärzte (Ärzte-ZV) in der Fassung von Art. 18 Nr. 13 GRG
bestimmt ergänzend:
Die Zulassung eines Arztes, der das
fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet hat, ist
ausgeschlossen. Der Zulassungsausschuss kann von Satz 1 in
Ausnahmefällen abweichen, wenn dies zur Vermeidung von
unbilligen Härten erforderlich ist.
10
Die Vorschrift ist gemäß Art. 79 Abs. 1 GRG am
1. Januar 1989 in Kraft getreten.
11
Jungen Ärzten wird demgegenüber der Eintritt
ins Berufsleben dadurch erleichtert, dass sie ohne eigene
Kassenzulassung bei Vertragsärzten beschäftigt werden können
(§ 32 Abs. 2 Ärzte-ZV). Vertragsarztsitze werden frei,
wenn die Inhaber die mit dem Gesetz zur Sicherung und
Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung
(Gesundheitsstrukturgesetz) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S.
2266) eingeführte Altersgrenze von 68 Jahren erreichen (vgl.
BTDrucks 12/3608, S. 93).
II.
12
1. Der 1934 geborene Beschwerdeführer ist Arzt
für Innere Medizin. Seit 1969 war er an einer medizinischen
Universitätsklinik vornehmlich im Bereich der Hämapherese
(Trennung von Blutzellen und Plasma) als Oberarzt und
außerplanmäßiger Professor tätig. Das
Beschäftigungsverhältnis war nicht frei von Spannungen, die
erst 1994 vor dem Arbeitsgericht mit einem Vergleich bei
fortbestehendem Beschäftigungsverhältnis ihren Abschluss
fanden.
13
2. Noch während dieses Verfahrens beantragte
der Beschwerdeführer Anfang 1993 kurz vor Vollendung seines
60. Lebensjahres die Zulassung als Vertragsarzt mit der
Begründung, er empfinde die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses als zu belastend und insgesamt nicht
mehr zumutbar; erhalte er die Zulassung, werde er seine
Tätigkeit als angestellter Arzt aufgeben. Sowohl der
Zulassungsantrag als auch die vom Beschwerdeführer gegen die
Ablehnung ergriffenen Rechtsbehelfe waren erfolglos. Zur
Begründung stützte sich das Landessozialgericht auf § 98
Abs. 2 Nr. 12 SGB V in Verbindung mit § 25 Ärzte-ZV, die
es in Übereinstimmung mit dem 6. Senat des
Bundessozialgerichts (BSGE 73, 223) für verfassungsgemäß
hielt. Nach Vollendung des 55. Lebensjahres seien hiernach
erstmalige Zulassungen ausgeschlossen; ein Härtefall liege
nicht vor, weil der Beschwerdeführer in einem ungekündigten
Arbeitsverhältnis stehe; hieraus resultierende Konflikte
müssten durch Verhandlungen oder die Arbeitsgerichtsbarkeit
gelöst werden.
14
Das Bundessozialgericht ließ gegen das Urteil
des Landessozialgerichts die Revision nicht zu. Eine
Divergenz sei nicht schlüssig dargetan. Sie folge nicht
allein daraus, dass ein anderer Senat, der für die
Vertragszahnärzte zuständig war, die angewandten Vorschriften
für verfassungswidrig gehalten und dem
Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt habe.
15
Das Verfahren, das unter dem Aktenzeichen 1
BvL 13/93 anhängig war, hat sich durch Aufhebung des
Vorlagebeschlusses im Jahr 1994 erledigt.
III.
16
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich
der Beschwerdeführer unmittelbar gegen die Beschlüsse des
Zulassungs- und des Berufungsausschusses, gegen die
sozialgerichtlichen Entscheidungen sowie mittelbar gegen
§ 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V und § 25 Ärzte-ZV.
17
Er rügt eine Verletzung seines Grundrechts aus
Art. 12 Abs. 1 GG. Die Altersgrenze für Vertragsärzte stelle
eine objektivierte subjektive Zulassungsbeschränkung dar, die
nur zu rechtfertigen sei, wenn die Zulassung älterer Bewerber
eine schwere Gefährdung der Finanzkraft der Krankenkassen
herbeiführen würde. Das sei jedoch nicht der Fall. Auch der
Gesetzgeber sei den Nachweis hierfür schuldig geblieben.
Sowohl die ihn treffende Regelung als auch alle übrigen
Zulassungsbeschränkungen im vertragsärztlichen Bereich seien
zur Eindämmung der angebotsinduzierten Nachfrage nach
Vertragsarztleistungen weder geeignet noch erforderlich.
Dafür stünden andere und mildere Mittel zur Verfügung, wie
eine Änderung der Vergütungsstruktur und eine Kostendämpfung
bei Medikamenten, bei Heil- und Hilfsmitteln und im
stationären Bereich. Selbst wenn im Jahr 1988 bei Erlass des
Gesundheits-Reformgesetzes die Ungeeignetheit der
Zulassungsbeschränkungen noch nicht festgestanden habe, trete
sie nunmehr offen zutage. Nach der umstrittenen
Rechtsänderung seien seit Anfang der neunziger Jahre mehr
Vertragsärzte zugelassen worden als jemals zuvor. Soweit eine
Kostendämpfung bewirkt worden sei, lasse sie sich deshalb
nicht auf die Zulassungsbeschränkungen zurückführen.
18
Auch Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, weil die
Ungleichbehandlung zwischen jüngeren und älteren
zulassungswilligen Ärzten nicht gerechtfertigt sei.
IV.
19
Zu der Verfassungsbeschwerde haben das
Bundesministerium für Gesundheit namens der Bundesregierung,
das Bundessozialgericht, die Kassenärztliche und die
Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung sowie im Namen der
Spitzenverbände der Krankenkassen der AOK-Bundesverband
Stellung genommen. In den Stellungnahmen wird ganz
überwiegend davon ausgegangen, dass die angegriffenen
Regelungen verfassungsgemäß sind; diese Sicht wird lediglich
von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung nicht
geteilt.
20
1. Die Bundesregierung bezieht sich auf die
veröffentlichten Erkenntnisse, wonach das unvertretbare
Ausgabenwachstum in der gesetzlichen Krankenversicherung auf
einer medizinisch nicht begründbaren Mengenausweitung infolge
der steigenden Zahl an Vertragsärzten beruhe. Hieraus ergebe
sich eine schwere Gefahr für das überragend wichtige
Gemeinschaftsgut der Funktionsfähigkeit des
öffentlichrechtlichen Krankenversicherungssystems. Der
bedrohlichen Finanzentwicklung entgegenzuwirken, sei Ziel des
Gesetzgebers gewesen. Die Zulassungsaltersgrenze sei
eingebettet in eine Gesamtkonzeption zur Kostendämpfung. Sie
sei nach den statistischen Erhebungen geeignet und auch
erforderlich, weil andere, gleich wirksame, die Ärzteschaft
aber weniger belastende Maßnahmen nicht zur Verfügung
stünden. Budgetierungen und Wirtschaftlichkeitsprüfungen
böten keine Alternativen. Die Regelung sei auch
verhältnismäßig im engeren Sinne, weil sie nur Ärzte erfasse,
die ein im Wesentlichen abgeschlossenes vollständiges
Berufsleben zurückgelegt hätten.
21
2. Das Bundessozialgericht hat auf seine
Rechtsprechung verwiesen (BSGE 73, 223), die auch der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung die Überzeugung vermittelt
hat, dass die Zulassungsaltersgrenze verfassungsgemäß
sei.
22
3. Der AOK-Bundesverband betont, dass dem
Vertragsarzt hinsichtlich der Ausgabenentwicklung eine
Schlüsselstellung in der gesetzlichen Krankenversicherung
zukomme, weil er durchschnittlich Ausgaben in Höhe des
Vierfachen der von ihm selbst verdienten Honorare verursache.
Der Zusammenhang zwischen steigenden Vertragsarztzahlen und
steigenden Leistungen sei statistisch belegt. Der Gesetzgeber
habe seit längerem versucht, der Ausgabenentwicklung mit
Kostendämpfungsmaßnahmen entgegenzuwirken. Vor diesem
Hintergrund seien die gerügten Regelungen
verfassungskonform.
23
4. Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung
hält dagegen die angegriffenen Regelungen für
verfassungswidrig. Diese wirkten über die Härtefallklausel
kontraproduktiv, weil ältere Ärzte ausnahmsweise nur dann
zugelassen werden könnten, wenn sie aus wirtschaftlichen
Gründen darauf existentiell angewiesen seien, also unter
einem besonders hohen Amortisationsdruck stünden. Im Übrigen
sei für den Bereich zahnärztlicher Versorgung die These von
der angebotsinduzierten Nachfrage nicht belegbar. Beweise für
unwirtschaftliches Verhalten gerade der älteren Zahnärzte
gebe es nicht. Der Kostenanstieg im zahnärztlichen Bereich
liege auch deutlich niedriger als der Anstieg der
Zahnarztzahlen. Inwieweit dies auf sonstige Maßnahmen
zurückzuführen sei, lasse sich nicht verifizieren.
B.
24
Die Verfassungsbeschwerde ist im Wesentlichen
zulässig.
25
Nur soweit sich die Verfassungsbeschwerde
gegen den Beschluss des Bundessozialgerichts über die
Nichtzulassung der Revision richtet, ist sie unzulässig.
Dieser Beschluss ist rein prozessrechtlicher Natur und
befindet nicht über die gesetzlichen Regelungen, durch die
sich der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt
sieht.
26
Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde
als unzulässig steht einer verfassungsgerichtlichen Prüfung
im Übrigen jedoch nicht entgegen. Dem Beschwerdeführer sind
bei Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde
keine prozessualen Versäumnisse vorzuwerfen, die im Hinblick
auf § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu einem
Zulässigkeitshindernis führen könnten (vgl. BVerfGE 91, 93
<105 f.>). Solange zwei Senate des
Bundessozialgerichts die im vorliegenden Verfahren
umstrittenen Fragen für ihren jeweiligen Bereich
uneinheitlich beurteilt hatten und deshalb auch ein konkretes
Normenkontrollverfahren (1 BvL 13/93) beim
Bundesverfassungsgericht anhängig war, durfte der
Beschwerdeführer die zur revisionsrechtlichen Überprüfung
gestellten Rechtsfragen weiterhin für grundsätzlich
klärungsbedürftig halten und sich bei der Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde auf die bekannten unterschiedlichen
Argumente beziehen.
C.
27
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet.
Die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen sowie die ihnen
zugrunde liegenden Vorschriften des § 98 Abs. 2 Nr. 12
SGB V und des § 25 Ärzte-ZV sind mit dem Grundgesetz
vereinbar.
I.
28
Durch die angegriffenen Regelungen ist das für
die Vertragsärzte maßgebliche Berufsrecht umgestaltet und
damit der Zugang zu diesem Betätigungsfeld für Ärzte
grundsätzlich nur bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres der
Bewerber eröffnet worden. Diese Umgestaltung berührt für
angehende Vertragsärzte das Grundrecht der
Berufsfreiheit.
29
1. Art. 12 Abs. 1 GG gewährt dem Einzelnen das
Recht, jede Tätigkeit, für die er sich geeignet glaubt, als
Beruf zu ergreifen und zur Grundlage seiner Lebensführung zu
machen. Die Vorschrift konkretisiert das Grundrecht auf freie
Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen
Leistung und Existenzerhaltung und zielt auf eine möglichst
unreglementierte berufliche Betätigung ab (vgl. BVerfGE 82,
209 <223> m.w.N.). Das Grundrecht schützt auch den
Berufswechsel und den Übergang zwischen unterschiedlichen
Ausübungsformen desselben Berufs, insbesondere den Übergang
von der unselbständigen zur selbständigen Tätigkeit (vgl.
BVerfGE 7, 377 <398 f.>).
30
Art. 12 Abs. 1 GG formuliert ein einheitliches
Grundrecht der Berufsfreiheit, dessen verschiedene
Gewährleistungen allerdings insofern Bedeutung haben, als an
die Einschränkung der Berufswahl höhere Anforderungen
gestellt werden als an die Einschränkung der Berufsausübung.
Durch den Eingriff auf der Ebene der Berufswahl wird der
Freiheitsanspruch des Einzelnen in besonders empfindlicher
Weise beeinträchtigt. Deshalb sind an den Nachweis der
Notwendigkeit einer solchen Freiheitsbeschränkung besonders
strenge Anforderungen zu stellen. Es muss im Allgemeinen um
die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer
Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut gehen
(BVerfGE 97, 12 <32>). Dabei gibt es in der beruflichen
Realität fließende Übergänge zwischen Berufswahl und
Berufsausübung, weil der persönliche Entschluss, sich einer
Berufstätigkeit in der einen oder anderen Ausprägung zu
widmen, Elemente enthalten kann, die einer Berufswahl
zumindest nahekommen (vgl. BVerfGE 33, 125 <161>).
31
Eingriffszweck und Eingriffsintensität müssen
stets in einem angemessenen Verhältnis stehen (vgl. BVerfGE
101, 331 <347>). Die Bewertung dieses Verhältnisses
richtet sich in Bereichen, in denen ein sehr allgemein
gehaltenes Ziel durch eine Vielzahl von Maßnahmen verfolgt
wird, die unterschiedliche Rechtspositionen verschiedener
Grundrechtsträger berühren, nach dem Maß der jeweiligen
individuellen Betroffenheit. Verfolgt der Gesetzgeber ein
komplexes Ziel - wie die finanzielle Stabilität der
gesetzlichen Krankenversicherung - mit vielfältigen Mitteln,
ist eine Maßnahme nicht ungeeignet, weil die Betroffenen
anderenorts größere Einsparpotentiale sehen. Auch ist eine
bestimmte Maßnahme nicht deshalb als nicht erforderlich
anzusehen, weil es andere Mittel innerhalb des Systems gibt,
die andere Personen weniger belasten würden. Eine einzelne
Maßnahme ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks auch
nicht deshalb unverhältnismäßig, weil nicht alle Betroffenen
durch die gesetzlichen Vorkehrungen gleichmäßig belastet
werden.
32
2. Offen bleiben kann, ob die angegriffene
Altersgrenze wegen ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen in die
Nähe einer Regelung der Berufszulassung kommt und damit das
Recht auf freie Berufswahl berührt (vgl. dazu BVerfGE 11, 30
<42 f.>).
33
a) Eine Bewertung als Berufswahlregelung
erscheint eher fern liegend, wenn die angegriffene
Altersgrenze dahin verstanden wird, dass den approbierten
Ärzten typischerweise hierdurch nur eine Zeitspanne
vorgegeben wird, innerhalb der sie sich für eine
Niederlassung als Vertragsarzt, nicht etwa als Arzt
schlechthin, entscheiden müssen. Diese Entscheidung muss in
einem Zeitpunkt gefallen sein, in dem üblicherweise schon
zwei Drittel des aktiven Berufslebens verstrichen sind. Ist
die Grenze von 55 Jahren allerdings überschritten, nähern
sich die Wirkungen der angegriffenen Normen einer Regelung
der Berufswahl. Für die meisten Ärzte ist die Zulassung als
Vertragsarzt noch immer von entscheidender wirtschaftlicher
Bedeutung.
34
b) Die rechtliche Einordnung der Maßnahme
bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, weil dem
Gesetzgeber legitime Gemeinwohlgründe von überragender
Bedeutung bei der Ausgestaltung des Berufsrechts der
ärztlichen Leistungserbringer im Bereich der gesetzlichen
Krankenversicherung zur Seite stehen, die auch eine
Berufswahlregelung rechtfertigen. Die Sicherung der
finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der
gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Gemeinwohlbelang von
hinreichendem Gewicht. Auch im Übrigen sind die Anforderungen
an Zulassungsbeschränkungen erfüllt.
35
3. Neben der Gesundheitsversorgung der
Bevölkerung, die das Bundesverfassungsgericht in ständiger
Rechtsprechung als besonders wichtiges Gemeinschaftsgut
bezeichnet hat (vgl. BVerfGE 78, 179 <192>), hat gerade
im Gesundheitswesen der Kostenaspekt für gesetzgeberische
Entscheidungen erhebliches Gewicht. Die Stabilität der
gesetzlichen Krankenversicherung ist für das Gemeinwohl
anerkanntermaßen von hoher Bedeutung (vgl. BVerfGE 70, 1
<30>; 82, 209 <230>). Soll die
Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mit Hilfe eines
Sozialversicherungssystems erreicht werden, stellt auch
dessen Finanzierbarkeit einen überragend wichtigen
Gemeinwohlbelang dar, von dem sich der Gesetzgeber bei der
Ausgestaltung des Systems und bei der damit verbundenen
Steuerung des Verhaltens der Leistungserbringer leiten lassen
darf.
36
a) Der Gesetzgeber hat den ihm bei der
Festlegung und Ausgestaltung sozialpolitischer Ziele
eingeräumten Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfGE 77, 308
<332>) vorliegend nicht überschritten. Soweit er die
Gesundheitsversorgung der Bevölkerung durch die gesetzliche
Krankenversicherung zu gewährleisten sucht, muss er hierbei
unterschiedliche Gemeinwohlbelange und - zum Teil
gegenläufige - Grundrechtspositionen vieler Personengruppen
miteinander zum Ausgleich bringen.
37
aa) In der sozialen Krankenversicherung sind
abhängig Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen
sowie Rentner pflichtversichert. Die Beiträge werden von den
Versicherten, ihren Arbeitgebern, den Rentnern und den
Rentenversicherungsträgern aufgebracht. Die Beitragshöhe
richtet sich nach dem im erzielten Bruttoeinkommen
verkörperten Leistungsvermögen, nicht nach dem individuellen
Risiko. Mit dieser Versicherungsform wird auch
einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller
Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beiträgen ermöglicht.
In der privaten Krankenversicherung betrügen die Prämien für
Familien, chronisch Kranke und für ältere Versicherte,
insbesondere solche, die mit einem nicht erwerbstätigen
Partner verheiratet sind, ein Vielfaches der Beiträge zur
Sozialversicherung.
38
bb) Das System der gesetzlichen
Krankenversicherung ist so ausgestaltet, dass es in weiten
Bereichen nicht durch Marktkräfte gesteuert wird. Die Preise
für Güter und Leistungen sind nicht Gegenstand freien
Aushandelns im Rahmen eines freien Wettbewerbs. Deshalb
unterliegen die Leistungserbringer in erhöhtem Maße den
Einwirkungen sozialstaatlicher Gesetzgebung (vgl. BVerfGE 68,
193 <220 f.>). Staatliche Regulierungen des
Berufsrechts eröffnen insoweit die Beteiligung an dem
umfassenden sozialen Leistungssystem der gesetzlichen
Krankenversicherung, das aus Beiträgen der Versicherten
finanziert wird, von dem auch die Leistungserbringer
profitieren und für dessen Funktionsfähigkeit der Staat die
Verantwortung trägt (vgl. BVerfGE 70, 1 <31>).
39
cc) Der Gesetzgeber hat unter Berücksichtigung
dieser Faktoren sowie der allgemeinen wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen darüber zu befinden, welche
Beitragsbelastung den Versicherten, ihren Arbeitgebern und
den Rentenversicherungsträgern zumutbar ist und welche
Gesundheitsdienstleistungen aus diesem Finanzvolumen bezahlt
werden können. Dabei hat er zugleich die Bedingungen auch für
die Leistungserbringer so festzulegen, dass die Krankenkassen
ihrem Sicherstellungsauftrag genügen können. Das setzt
leistungsbereite Anbieter im Gesundheitswesen, insbesondere
den Erhalt einer leistungsfähigen Ärzteschaft voraus (vgl.
zur Berufsgruppe der Rechtsanwälte BVerfGE 97, 12
<31>).
40
Die Kostenbegrenzung ist damit nur eines der
Ziele, die der Gesetzgeber verfolgt, um das System insgesamt
funktionsfähig zu erhalten. Zugleich strebt er an, dass die
volkswirtschaftlich für vertretbar gehaltene
Beitragsbelastung, die der Krankenversicherung ihr
Finanzierungsvolumen vorgibt, nicht überschritten und die
Verteilung der Finanzmittel den Zielen der Versorgung der
Versicherten mit einem ausreichenden und zweckmäßigen Schutz
im Krankheitsfall gerecht wird. Mehrausgaben in einem Sektor
bedingen dabei notwendigerweise Kürzungen an anderer Stelle,
wenn Beitragserhöhungen vermieden werden sollen.
41
b) Der Gesetzgeber hat bei der Verfolgung
seines Gesamtziels in den letzten Jahrzehnten alle am System
Beteiligten in die Verantwortung für die Funktionsfähigkeit
der gesetzlichen Krankenversicherung eingebunden. Auch dieses
Streben nach einer ausgewogenen Lastenverteilung gehört zu
den vom Gesetzgeber legitimerweise definierten Zielen einer
strukturellen Ausgewogenheit.
42
aa) Die Einnahmen wurden erhöht, indem der
versicherte Personenkreis ausgeweitet und die Beitragssätze
angehoben wurden (Kassenärztliche Bundesvereinigung
<Hrsg.>, Grunddaten zur vertragsärztlichen Versorgung
in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, G 11). Der
monatliche Höchstbeitrag in der gesetzlichen
Krankenversicherung stieg in den letzten 20 Jahren um mehr
als 100 vom Hundert (vgl. die Zahlen in: Verband der Privaten
Krankenversicherung <Hrsg.>, Die private
Krankenversicherung, Zahlenbericht 1996/97, S. 16, 21, 22;
Nachweise zum Anteil der Versicherten in der gesetzlichen
Krankenversicherung in: Der Bundesminister für Gesundheit
<Hrsg.>, Daten des Gesundheitswesens, Ausgabe 1997, S.
293; zur Entwicklung des versicherten Personenkreises vgl.
Bloch, in: Schulin <Hrsg.>, Handbuch des
Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, Krankenversicherungsrecht,
1994, § 15 Rn. 4 ff.; von Stillfried,
Gesundheitssysteme im Wandel, 1996, S. 85).
43
bb) Den Versicherten wurden
Leistungseinschränkungen zugemutet, indem bestimmte -
durchaus notwendige - Arznei- oder Hilfsmittel
(beispielsweise Schnupfentherapeutika, Verbandmittel,
Brillengestelle) nicht mehr als Sachleistungen zur Verfügung
gestellt werden (§ 34 SGB V). Die Versicherten müssen
sie selbst bezahlen. Durch die Rezeptgebühren beteiligen sich
die Versicherten an den Ausgaben für Arzneimittel (§ 31
Abs. 3 SGB V) und durch Zuzahlungen auch an den Kosten, die
durch Krankenhausbehandlung (§ 39 Abs. 4 SGB V) und
Rehabilitation (§ 40 Abs. 5 und § 41 Abs. 3 SGB V)
entstehen. Im Zahnarztbereich ist die Selbstbeteiligung bei
den Zahnersatzleistungen besonders ausgeprägt (§ 30 Abs.
2 SGB V).
44
cc) Für die Leistungserbringer hat sich das
Spektrum an Dienst- und Sachleistungen, das mit den
Krankenkassen abgerechnet werden kann, verengt (§ 135
SGB V). Ihnen sind Kürzungen bei den Honoraren
(Punktwertdegression und Budgetierung - §§ 84, 85 SGB
V), versuchsweise Einschränkungen beim Einsatz teurer Geräte
(vgl. die inzwischen aufgehobene GroßgeräteRichtlinien Ärzte
vom 16. Oktober 1990, abgedr. bei Schulin <Hrsg.>,
Gesetzliche Krankenversicherung, Soziale Pflegeversicherung,
Textsammlung, 1997, Nr. 270) und die Verantwortung für den
Arzneimittelverbrauch (der bisher nicht vollzogene, aber
immer wieder angedrohte Arzneimittelbudgetregress - § 84
Abs. 1 Satz 4 bis 7 SGB V) auferlegt worden. Die Vergütung
der Leistungserbringer wurde verschiedentlich abgesenkt oder
eine Zeit lang konstant gehalten (vgl. BVerfGE 62, 354; 70,
1); ihre Verteilung wurde eingehend geregelt und der Zuwachs
an die beitragspflichtigen Einnahmen gekoppelt (§ 85 SGB
V). Die Vertragsärzte müssen sich einer
Wirtschaftlichkeitsprüfung stellen (§ 106 SGB V), soweit
sie die Verantwortung für die Notwendigkeit der von ihnen
verordneten und angeordneten Dienst- und Sachleistungen
(§ 27 i.V.m. § 72 Abs. 2 SGB V) sowie für die
ausreichende und zweckmäßige ärztliche Behandlung (§ 28
Abs. 1 i.V.m. § 72 Abs. 2 SGB V) tragen. Die
Krankenhausbedarfsplanung hat dazu geführt, dass stationäre
Einrichtungen geschlossen werden mussten. Mit der
Festbetragsregelung (§ 35 SGB V) soll auf die
Preisgestaltung der Pharmaindustrie eingewirkt werden (vgl.
BTDrucks 11/3480, S. 24 und 12/3608, S. 73, 81); das
Preismoratorium hatte zuvor unmittelbar die Preise für
Arzneimittel eingefroren (§ 35 SGB V - vgl. dazu BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, SozR 3-5407 Art.
30 Nr. 1 = NJW 2000, S. 1781).
45
dd) Auch der Zustrom der Leistungserbringer in
die vertragsärztliche Versorgung unterlag vielfachen
gesetzlichen Änderungen. Einerseits musste der Gesetzgeber
berücksichtigen, dass neuere Erkenntnisse über die notwendige
Versorgung der Versicherten die Zulassung neuer Berufe
erforderlich machten; so wurden beispielsweise die
Psychologischen Psychotherapeuten in den Kreis der
abrechnungsberechtigten Leistungserbringer aufgenommen (vgl.
hierzu BVerfGE 78, 165 <178>; § 95 Abs. 10 SGB V,
angefügt mit Gesetz über die Berufe des Psychologischen
Psychotherapeuten und des Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten vom 16. Juni 1998 <BGBl I S.
1311>). Andererseits suchte man die Zulassungszahlen zu
vermindern, nachdem der Gesetzgeber die Annahme des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 11, 30
<44 ff.>) für empirisch widerlegt erachtet hatte,
dass eine steigende Zahl von Ärzten keinen Einfluss auf die
Ausgabenhöhe der gesetzlichen Krankenversicherung haben werde
(vgl. die Längs- und Querschnittsvergleiche bei
Breyer/Zweifel, Gesundheitsökonomie, 2. Aufl., 1997, S.
241 ff., 257 f.; Adam, Ambulante ärztliche
Leistungen und Ärztedichte, 1983, S. 106 f.,
158 f., 179 ff.; Sachverständigenrat Konzertierte
Aktion, Sachstandsbericht 1994, Rn. 76 f. und BTDrucks
12/3608, S. 98). Die Verlängerung der Ausbildung bis zur
Approbation (§ 1 der Approbationsordnung für Ärzte
i.d.F. der Bekanntmachung vom 14. Juli 1987 <BGBl I S.
1593>) und die Einführung des Facharztvorbehalts für die
Vertragsarztniederlassung (§ 95 a SGB V) haben den
Anstieg der an der vertragsärztlichen Versorgung Beteiligten
abgeschwächt (vgl. Kassenärztliche Bundesvereinigung
<Hrsg.>, Grunddaten zur vertragsärztlichen Versorgung
in der Bundesrepublik Deutschland 1999, A 18). Dies wurde
durch die Regelungen über die Bedarfsplanung (§ 368 Abs.
3 RVO i.d.F. des Gesetzes zur Verbesserung der
kassenärztlichen Bedarfsplanung vom 19. Dezember 1986
<BGBl I S. 2593>; §§ 99 ff. SGB V; vgl.
BTDrucks 10/5630, S. 12; 10/6444, S. 5 f.) unterstützt.
Infolge des mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eingefügten
§ 95 Abs. 7 SGB V müssen inzwischen die über 68-Jährigen
ihre Vertragsarztsitze aufgeben.
46
c) Die genannten Mittel waren und sind
allesamt grundsätzlich geeignet, zur finanziellen Stabilität
der gesetzlichen Krankenversicherung beizutragen, wenngleich
keine Maßnahme nachhaltig gewirkt hat. Sie treffen
unterschiedliche Personenkreise und haben unterschiedliche
Folgen für die Volkswirtschaft. Die Auswahl solcher Maßnahmen
obliegt dem Gesetzgeber, der bei der Erfüllung dieser
komplexen Aufgabe einen besonders weiten Einschätzungs- und
Gestaltungsspielraum hat. Dabei kann er sich zur Beurteilung
der Lage eines Sachverständigengremiums bedienen. Auch hat er
die Erfolge der getroffenen Maßnahmen zu beobachten und
abzuschätzen sowie gegebenenfalls neuen Handlungsbedarf
festzustellen (Einsetzung der Enquête-Kommission mit
Beschlussantrag vom 3. Juni 1987, vgl. BTDrucks 11/414;
Erlass des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom
12. Dezember 1985 zur Einsetzung des Sachverständigenrats für
die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen - vgl. jetzt
§ 141 SGB V). Die politischen Optionen sind durch die
Verfassung nicht vorgegeben. Insbesondere ist es keine Frage
des Verfassungsrechts, ob sich das Gesamtziel auch auf andere
Weise und besser hätte erreichen lassen.
47
4. Der Gesetzgeber durfte zum Erhalt der
Funktionsfähigkeit der kassenärztlichen Versorgung auch den
Zugang von Ärzten, die allenfalls noch für eine relativ kurze
Zeitspanne an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen
können, begrenzen.
48
a) Die angegriffenen Regelungen sind geeignet,
zur Verwirklichung des gesetzgeberischen Konzepts
beizutragen.
49
aa) Betroffen von § 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB
V und § 25 Ärzte-ZV ist mit dem Beschwerdeführer die
Gruppe der angehenden Vertragsärzte und unter diesen wiederum
nur die Gruppe der bereits 55 Jahre alten approbierten Ärzte.
Sie waren bisher weitgehend von Zulassungshürden ausgenommen.
Zugangserschwernisse für die jüngeren Ärzte hatte der
Gesetzgeber bereits eingeführt. Sie wurden zeitgleich mit dem
Erlass der hier angegriffenen Vorschrift in § 103 Abs. 2
SGB V (i.d.F. des GRG) verschärft, indem die Kassenzulassung
von der Ableistung einer Vorbereitungszeit von einem Jahr
abhängig gemacht wurde (vgl. BTDrucks 11/2237, S. 195). Mit
der Altersgrenze von 68 Jahren hat der Gesetzgeber später
auch dafür gesorgt, dass die Altersstruktur der
vertragsärztlich zugelassenen Ärzte ausgewogen bleibt und die
nachrückenden jüngeren Ärzte trotz der Zulassungssperren
(§§ 101, 103 SGB V) ihre Zugangschance erhalten.
50
Die im vorliegenden Verfahren angegriffene
Altersgrenze ist ein erster Schritt in diese Richtung
gewesen. Mit ihr verringert sich die Zahl von Ärzten, die
nach Einschätzung des Gesetzgebers in spezifischer Weise zu
einer Gefährdung der Wirtschaftlichkeit der gesetzlichen
Krankenversicherung beitragen (BTDrucks a.a.O., S. 151,
195).
51
bb) Der Gesetzgeber durfte sich besondere
wirtschaftliche Einsparungen davon verprechen, dass Personen,
die die vertragsärztliche Tätigkeit nur noch während einer
relativ kurzen Zeit ausüben können, nicht mehr zugelassen
werden. Er konnte sich dabei auf plausible Annahmen
stützen.
52
In den ersten Jahren nach der Praxisgründung
bleibt einem Arzt ein geringerer Anteil seines Umsatzes als
Gewinn. Schon ein zu Anfang gewährter Betriebsmittelkredit,
der der Vorfinanzierung der Anlaufkosten und dem Geldbedarf
für Praxis und Lebenshaltungskosten dient, ist nach den
Untersuchungen der Deutschen Apotheker- und Ärztebank häufig
erst nach einem Zeitraum von drei bis fünf Jahren abgetragen.
Durchschnittlich 12 Jahre dauert es, bis die für einen
Praxiserwerb oder für eine Praxisgründung notwendigen Kredite
insgesamt zurückgezahlt sind (vgl. Deutsche Apotheker- und
Ärztebank <Hrsg.>, Praxisgründung, 3. Aufl., 1996, S.
89; vgl. auch das Zahlenmaterial für 1989/90 in Arzt und
Wirtschaft, Sonderdruck aus Heft 18 vom 17. September 1991).
Wenn Ärzten nur wenige Jahre der Gewinnerzielung aus
selbständiger Tätigkeit zur Verfügung stehen, sie aber
dennoch durchschnittliche Gewinne erwirtschaften wollen,
müssen sie einen erhöhten Umsatz anstreben, was - aus der
Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung unerwünschte -
Mengenausweitungen zur Folge haben kann. Der Gesetzgeber
durfte es daher für angezeigt halten, mit den
Zugangsbeschränkungen gerade solche Ärzte fernzuhalten, die
angesichts des sie selbst treffenden wirtschaftlichen Drucks
weniger geeignet erscheinen, kostenbewusst im Gesamtsystem
tätig zu werden.
53
cc) Dieser Gesichtspunkt ist von besonderer
Bedeutung, weil der Vertragsarzt zugleich Sachwalter der
Kassenfinanzen insgesamt ist. Befugnis und Verpflichtung zu
wirtschaftlicher Verwaltung der Mittel der gesetzlichen
Krankenversicherung sind den Vertragsärzten überantwortet.
Sie entscheiden über die Zweckmäßigkeit und
Wirtschaftlichkeit einer Heilbehandlung.
54
Vertragsärzte müssen zur Erfüllung dieser
Aufgabe über spezifische Kenntnisse im Vertragsarztrecht und
auch über die Bereitschaft verfügen, wirtschaftlich
vertretbare Behandlungen in einer betriebswirtschaftlich
sinnvollen Weise zu organisieren. Dazu gehören auch der
Erwerb von Erfahrungen mit den rechtlichen und
wirtschaftlichen Besonderheiten einer Vertragsarztpraxis, die
Ärzte, die bis dahin im Krankenhaus, im Labor oder in der
Forschung tätig waren, regelmäßig nicht haben erwerben
können. Sie unterscheiden sich insoweit signifikant von der
Gruppe der gleich alten Ärzte, die schon seit Jahren an der
vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.
55
b) Der Gesetzgeber konnte die Gesamtheit der
von ihm verfolgten Ziele nicht mit einem die Belange des
Beschwerdeführers weniger beeinträchtigenden Mittel
erreichen. Mildere, aber für die Personengruppe der bereits
55 Jahre alten Ärzte gleich wirksame Berufsregelungen sind
nicht ersichtlich.
56
Änderungen in der Vergütungsstruktur und der
Höhe der Vergütung oder schärfere Kontrollen des Verordnungs-
und Abrechnungsverhaltens wären insoweit keine tauglichen
milderen Mittel gewesen. Sie hätten sich im Wesentlichen
gegen die bereits zugelassenen Vertragsärzte gerichtet. Neu
zuzulassende Ärzte können die Auswirkungen solcher Änderungen
nicht aus eigener Erfahrung abschätzen. Die Zahl der
zugangswilligen Ärzte hätte hierdurch allenfalls dann
vermindert werden können, wenn die Vergütungseinbußen so
erheblich gewesen wären, dass angehende Vertragsärzte andere
Berufsperspektiven für wirtschaftlich interessanter gehalten
hätten. Das ist schwer vorstellbar, weil Ärzte unter den
Freiberuflern im Durchschnitt zu den gut verdienenden
Personen zählen (vgl. Statistisches Bundesamt, Unternehmen
und Arbeitsstätten, Ausgabe 1991, Fachserie 2, Reihe 1.6.1.,
S. 13 und Reihe 1.6.2., S. 14 und Ausgabe 1995 Reihe 1.6.1.,
S. 14 und Reihe 1.6.2., S. 14; vgl. auch Bedau, Zur
Einkommenslage in den freien Berufen, DIW-Wochenbericht 1999,
S. 2 ff.).
57
c) Die Altersgrenze wahrt auch den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.
58
aa) Die Altersgrenze ist für eine
Erstzulassungsgrenze sehr hoch angesetzt und liegt in einem
Bereich, in dem Arbeitnehmern vielfach schon die
Möglichkeiten von Altersteilzeit oder Frühverrentung offen
stehen. Zugangshürden, die erst so spät eingreifen, wirken in
der Regel nicht sehr belastend, weil die Betroffenen bereits
beruflich etabliert sind. Ihnen wird mit der Vorenthaltung
der Kassenarztzulassung keine Betätigung verwehrt, für die
sie in ihrem langen Berufsleben besondere Erfahrungen
gesammelt haben.
59
Die Altersgrenze trifft diesen Personenkreis
auch nicht empfindlich. Bis zur Vollendung des 55.
Lebensjahres können die Ärzte noch frei über einen Wechsel
zur vertragsärztlichen Versorgung entscheiden, soweit die
Bedarfsplanung es zulässt. Den Betroffenen wird weder die
Fortführung ihres Arztberufes noch der Berufswechsel
überhaupt verwehrt; sie haben für ihre Entscheidung nur eine
äußerste Frist einzuhalten.
60
bb) Demgegenüber wiegen die öffentlichen
Interessen, denen die Altersgrenze zu dienen bestimmt ist,
schwer. Die Sicherung der Leistungsfähigkeit und die
Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen
Krankenversicherung sind Gemeinwohlaufgaben von hohem Rang.
Jeder einzelne Schritt, mit dem der Gesetzgeber diese Ziele
zu erreichen sucht, ist von erheblicher Bedeutung, auch wenn
eine einzelne Maßnahme immer nur einen Teilbeitrag zur
Verwirklichung des Gesamtziels leisten kann. Die öffentlichen
Belange verlieren nicht an Gewicht, wenn sie sich nur durch
eine Vielzahl kleiner Schritte verwirklichen lassen.
61
cc) Damit löst die getroffene Regelung den
Konflikt in angemessener Weise. Sie ist insbesondere deshalb
verhältnismäßig, weil sie den Zulassungsgremien abweichende
Entscheidungen ermöglicht, wenn dies zur Vermeidung von
unbilligen Härten erforderlich ist. Der Gesetzgeber
berücksichtigt damit, dass es im Einzelfall Besonderheiten
geben mag. Vom Grundsatz der starren Altersgrenze kann
abgewichen werden, weil sich individuelle Lebenswege
gelegentlich der gesetzlichen Typik entziehen. Nicht immer
beruht beispielsweise der Wunsch nach Veränderung auf einer
freien Entschließung des Arztes. Die Zulassungsgremien und
Fachgerichte sind aufgerufen, bei der Prüfung des
Einzelfalles der wertsetzenden Bedeutung von Art. 12 Abs. 1
GG im Rahmen ihrer Härtefallentscheidung Rechnung zu
tragen.
II.
62
§ 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V und § 25
Ärzte-ZV sind auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des
Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.
63
1. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben
sich je nach Regelungsgegenstand und
Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den
Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer
strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse
reichen. Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sind umso
engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die
Ungleichbehandlung von Personen auf die Ausübung
grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken
kann (vgl. BVerfGE 95, 267 <316 f.>; stRpr).
64
2. Auch einem strengen Prüfungsmaßstab hält
die Norm stand. Wie oben ausgeführt, hatte der Gesetzgeber
gute Gründe für seine Einschätzung, dass die approbierten
Ärzte, die sich erst im letzten Drittel ihres Berufslebens
für eine Vertragsarztniederlassung entscheiden, für das
Gesamtsystem höhere Kosten verursachen als jüngere Ärzte.
Soweit der Gesetzgeber gerade an die Vollendung des 55.
Lebensjahres angeknüpft hat, hat er von seiner Befugnis zur
Typisierung Gebrauch gemacht und auch nicht einen atypischen
Fall als Leitbild gewählt (vgl. BVerfGE 27, 142 <150>).
Er hat eine Grenze gewählt, bei der für Arbeitnehmer der
Vorruhestand oder die Altersteilzeit beginnen kann. Damit ist
die Grenze im Verlauf eines regelmäßigen Arbeitslebens so
weit hinausgeschoben, dass eine wesentliche Beeinträchtigung
der Entschließungsfreiheit in der aktiven Zeit nicht zu
besorgen ist.
65
Die ungleiche Situation der jüngeren und
älteren Bewerber um einen Vertragsarztsitz, ihre - durch
Erfahrungswerte belegbare - unterschiedliche Einflussnahme
auf die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung,
rechtfertigt die den Zugang regelnde Altersgrenze von 55
Jahren. Sie hält einer Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1
GG umso eher stand, als die Betroffenen die Wirkung der Norm
und damit die unterschiedliche Behandlung weitgehend selbst
vermeiden können (vgl. BVerfGE 95, 267 <316>), indem
sie sich rechtzeitig um einen Vertragsarztsitz bewerben.
III.
66
Auch die angegriffenen Entscheidungen
verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten
aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
67
Auslegung und Anwendung der mittelbar
angegriffenen Rechtsnormen sind Aufgabe der Fachgerichte. Das
Bundesverfassungsgericht überprüft sie - abgesehen von
Verstößen gegen das Willkürverbot - nur darauf, ob sie
Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich
unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen
Grundrechte, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs,
beruhen (vgl. BVerfGE 85, 248 <257 f.>;
stRspr).
68
Dies ist hier nicht festzustellen.
Verfassungsrechtlich ist auch nicht bedenklich, dass dem
Beschwerdeführer die oben genannte Härtefallregelung nicht
zugute gekommen ist. Die fachgerichtliche Rechtsprechung hat
inzwischen näher konkretisiert, wann unbillige Härten
vorliegen (vgl. BSG, SozR 3-2500 § 98 Nr. 3 und 4; SozR
3-5520 § 25 Nr. 3). Vorliegend lassen sich dem
Beschwerdevorbringen keine Gründe entnehmen, die auf einen
Härtefall hindeuten. Das gilt insbesondere, nachdem das
Zerwürfnis zwischen dem Beschwerdeführer und seinem
Arbeitgeber im arbeitsgerichtlichen Verfahren durch Vergleich
beigelegt worden ist.
Papier
Jaeger
Haas
Hömig
Steiner
Hohmann-Dennhardt
Hoffmann-Riem | bundesverfassungsgericht |
44-2013 | 28. Juni 2013 | Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Errichtung der BTU Cottbus-Senftenberg abgelehnt
Pressemitteilung Nr. 44/2013 vom 28. Juni 2013
Beschluss vom 27. Juni 20131 BvR 1501/13
Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das brandenburgische Landesgesetz zur Neustrukturierung der Hochschulregion Lausitz abgelehnt. Die Kammer hat ihre Entscheidung auf Grundlage einer Folgenabwägung getroffen. Das Gesetz tritt am 1. Juli 2013 in Kraft. Die nähere verfassungsrechtliche Prüfung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Zwei Fakultäten der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus (BTU Cottbus) wenden sich gegen Normen des Gesetzes zur Neustrukturierung der Hochschulregion Lausitz. Durch dieses Gesetz sollen u.a. ihre Universität und die Fachhochschule Lausitz fusioniert werden. Die Beschwerdeführerinnen rügen insbesondere eine unzureichende Beteiligung ihrerseits wie auch ihrer Hochschule im Entscheidungsprozess zur Fusion. Sie befürchten schwere und irreparable Nachteile durch den Gesetzesvollzug und haben deswegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. 2. Gegen das Gesetz haben auch die BTU Cottbus sowie deren Studierendenschaft - verbunden mit Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - jeweils Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgericht des Landes Brandenburg erhoben. Dieses hat mit Beschluss vom 19. Juni 2013 den Antrag der BTU Cottbus auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Den Eilantrag der Studierendenschaft hat es mit Beschluss vom selben Tag als unzulässig verworfen.
3. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei lediglich die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.
4. Zwar ist die zugrundeliegende Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Jedoch ergibt eine Gesamtabwägung, dass überwiegende Gründe gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass im Fall der vorläufig weiteren Wirksamkeit des Gesetzes endgültige und nicht wiedergutzumachende Schäden von besonderem Gewicht oder nur unter ganz erheblichen Schwierigkeiten wieder ausräumbare vollendete Tatsachen geschaffen würden.
Zwar ist es nicht undenkbar, dass eine Universität, die mit einer Fachhochschule fusioniert wird, Reputation in der Forschungskooperation einbüßt. Jedoch ist es keineswegs zwingend, dass Kooperationen scheitern. Die Planungssicherheit, die für eine Stiftung für die Bereitstellung von Drittmitteln von zentraler Bedeutung ist, bietet auch eine einstweilige Anordnung nicht. Soweit es um den Anspruch von Studierenden auf Durchführung und Beendigung eines begonnenen Studiums geht, ist zwar nicht irrelevant, nach welchen Kriterien immatrikuliert und auf welchem fachlichen Niveau studiert wird. Nach dem Gesetz bleiben alle Studierenden immatrikuliert und das Gesetz verändert auch nicht die Anerkennung von Leistungen. Unumkehrbare und unzumutbare Beeinträchtigungen, die durch die Fusion verursacht würden, sind nicht erkennbar.
Der von den Beschwerdeführerinnen angeführte Rückgang von Studierendenzahlen hat bereits eingesetzt und lässt sich durch eine Eilentscheidung nicht beenden. Die gewünschte Planungssicherheit wird nur durch eine Entscheidung in der Hauptsache hergestellt. Das gilt auch für die befürchtete Abwanderung von Personal.
Soweit der vom Ministerium des Landes eingesetzte Gründungsbeauftragte die Hochschule leitet, ist nicht ersichtlich, dass damit unumkehrbare Fakten von entsprechendem Gewicht geschaffen würden. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Dauer dieser Interims-Leitung "so kurz wie möglich bemessen sein". Dem Gründungsbeauftragten stehen zudem mangels hinreichender Mitwirkung der Hochschullehrenden an seinen Entscheidungen von Verfassung wegen keine Befugnisse zu, wissenschaftsrelevante Entscheidungen zu treffen. Dies sieht das Gesetz auch nicht vor.
Demgegenüber würde sich die Umsetzung der vom Landesgesetzgeber für dringend erforderlich gehaltenen Strukturentscheidungen verzögern, wenn das Bundesverfassungsgericht die begehrte einstweilige Anordnung erließe. Kann ein Überwiegen der Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, nicht festgestellt werden, fordert das gemeine Wohl den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1501/13 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. der F…,
2. der F…,
- Bevollmächtigte:
DOMBERTRechtsanwälte,
Mangerstraße 26, 14467 Potsdam -
gegen
das Gesetz zur
Neustrukturierung der Hochschulregion Lausitz vom 11.
Februar 2013 (GVBl I Nr. 4)
hier:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit
§ 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 27. Juni 2013
einstimmig beschlossen:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung wird abgelehnt.
Gründe:
1
Die Antragstellerinnen, zwei von vier
Fakultäten der Brandenburgischen Technischen Universität
Cottbus (BTU Cottbus), begehren mit ihren Anträgen auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung, die Art. 1, §§ 1, 5,
7, 8, 9, 12, 17, 18, 20 und 21 und Art. 2 Nr. 1 des
Gesetzes zur Neustrukturierung der Hochschulregion Lausitz
erst in Kraft treten zu lassen, wenn das
Bundesverfassungsgericht über ihre zugleich eingelegte
Verfassungsbeschwerde entschieden hat.
I.
2
Am 11. Februar 2013 beschloss der
Brandenburgische Landtag das Gesetz zur Neustrukturierung der
Hochschulregion Lausitz (GVBl I Nr. 4), das unter anderem in
Art. 1 das Gesetz zur Weiterentwicklung der
Hochschulregion Lausitz (GWHL) und in Art. 2 Änderungen
des Brandenburgischen Hochschulgesetzes (BbgHG) vorsieht.
3
1. § 1 GWHL errichtet mit Wirkung zum 1.
Juli 2013 die neue Brandenburgische Technische Universität
Cottbus-Senftenberg (BTU Cottbus-Senftenberg). Die
Fakultäten, Einrichtungen und Studiengänge der BTU Cottbus
und der Hochschule Lausitz (FH Lausitz) werden mit ihrer
Errichtung solche dieser neuen Universität; die bisherigen
Verwaltungen bilden deren Hochschulverwaltung. Die BTU
Cottbus-Senftenberg wird zum 1. Juli 2013 gemäß
§ 21 Abs. 1 und Abs. 2 GWHL Rechtsnachfolgerin von BTU
Cottbus und FH Lausitz und nach Art. 2 Nr. 1 Buchstabe a
des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Hochschulregion
Lausitz anstelle der BTU Cottbus in die Liste der staatlichen
Hochschulen des Landes Brandenburg aufgenommen.
4
Alle Mitglieder der alten Hochschulen werden
gemäß § 5 GWHL, alle Planstellen, Stellen und Mittel
gemäß § 7 GWHL in die neue Universität überführt.
Desgleichen werden - jenseits der Universitätsleitung und des
Senats, die nach § 8 Abs. 1, § 12 Abs. 1 Satz 1
GWHL zum 1. Juli 2013 aufgelöst werden - Gremien und
Untereinheiten der bisherigen Hochschulen nach § 17 Abs.
1, § 18 Abs. 1 Satz 1 GWHL in die neue Universität
übernommen. Wichtige Entscheidungen trifft der
Gründungssenat, in dem mehrheitlich Hochschullehrende
vertreten sind, die je zur Hälfte aus der BTU Cottbus und der
FH Lausitz kommen. Nach § 17 Abs. 2 GWHL bleiben
Entscheidungen in der neuen Hochschule auch bei einer
rechtskräftig festgestellten fehlerhaften Wahl oder Besetzung
der Handelnden rechtswirksam.
5
Für die Übergangsphase bestellt das zuständige
Mitglied der Landesregierung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2
GWHL eine oder einen Beauftragten zur Leitung der neuen
Universität, bis ein Gründungspräsident bzw. -präsidentin
gewählt ist. Dazu wird gemäß § 9 GWHL eine
Findungskommission eingesetzt: ihr gehört je eine von den
dort zuständigen Organen gewählte Vertretung für die
Mitgliedergruppen der BTU Cottbus und der FH Lausitz sowie
eine Vertretung des Ministeriums an, die die
Findungskommission auch leitet. Die Findungskommission
schlägt jedenfalls mit den Stimmen der Hochschullehrenden und
des Ministeriums bis zu drei Personen vor, die nicht aus der
BTU Cottbus oder FH Lausitz kommen sollen (§ 9 Abs. 4
Satz 2 GWHL). Der Präsident bzw. die Präsidentin werden dann
nach § 9 Abs. 1 GWHL im Einvernehmen mit dem erweiterten
Gründungssenat bestellt. Dieser besteht nach § 12 Abs. 3
GWHL aus 31 Personen, mit einer Mehrheit der
Hochschullehrenden von 16 Personen, die je zur Hälfte in der
vormaligen Universität beziehungsweise der vormaligen
Fachhochschule gewählt werden.
6
§ 20 GWHL enthält Bestimmungen zur
Ersatzvornahme.
7
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich
die Beschwerdeführerinnen unmittelbar gegen Art. 1,
§§ 1, 5, 7, 8, 9, 12, 17, 18, 20 und 21 sowie
Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Neustrukturierung der
Hochschulregion Lausitz und rügen eine Verletzung von
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und von Art. 19 Abs. 4 GG.
Die Beschwerdeführerinnen bringen vor, sie seien ebenso wie
ihre Hochschule im Entscheidungsprozess zur Fusion von BTU
Cottbus und FH Lausitz unzureichend beteiligt gewesen. Der
Gesetzgeber habe ihre Wissenschaftsfreiheit verletzt, weil
seine Entscheidung auf Fehlinformationen durch das
Ministerium beruhe und unverhältnismäßig sei. Die Forschung
und Lehre der beschwerdeführenden Fakultäten seien
strukturell gefährdet, denn Kooperationen und Förderung,
Profil und Studienangebot beruhten darauf, dass sie
Fakultäten der BTU Cottbus seien. Die Entscheidungsstrukturen
der neuen Universität verletzten zudem das Gebot der
Homogenität in der Gruppe der Hochschullehrenden.
8
3. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung
sei wegen der schwerwiegenden und irreparablen Nachteile für
den Fall des Gesetzesvollzugs begründet. Personal werde
abwandern oder nicht zu gewinnen sein. Es würden
Forschungskooperationen zu Stellen im In- und Ausland
zerstört oder irreparabel beeinträchtigt, denn sie erfolgten
profilbezogen auf Universitätsniveau, welches die FH Lausitz
nur zu einem geringen Teil erreiche. Eine Stiftung stelle
bereits ihr Engagement in Frage und habe die Freigabe von
Mitteln aufgehalten, weil Planungssicherheit für sie von
zentraler Bedeutung sei. Die neue Gesamthochschule habe
künftig nicht die gleiche Chance wie die BTU Cottbus,
Drittmittel für Grundlagenforschung einzuwerben; auch
persönliche Netzwerke ließen sich nicht „auf Knopfdruck“
reaktivieren. Der laufende Antrag auf Aufnahme in die
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) werde irreparabel
scheitern. Zudem könnten von der neuen Hochschule ohne
hinreichende Beteiligung der Beschwerdeführerinnen getroffene
Entscheidungen nicht rückgängig gemacht werden. Dem oder der
Gründungsbeauftragten fehle sogar jede Legitimation, denn
eine Beteiligung der Hochschullehrenden an der Bestellung sei
weder gewünscht noch gewährleistet. Es sei zu befürchten,
dass unterwertige Paketberufungen erfolgten und dass in den
Lehrbereichen der Beschwerdeführerinnen Studiengänge auf
Universitätsniveau für lange Zeit unumkehrbar eingestellt
würden, was auch zu Mindereinnahmen führe und Personalstellen
verwaisen lasse. Ein schwerer und irreparabler Nachteil liege
auch darin, dass Studienabschlüsse im Namen der neuen
Universität erlangt würden. Die Studierendenzahlen gingen
zurück, was nur sehr langfristig wieder umzusteuern sei.
9
4. Gegen das Gesetz haben die BTU Cottbus
sowie deren Studierendenschaft - verbunden mit Anträgen auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung - jeweils
Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgericht des Landes
Brandenburg erhoben. 19 Abgeordnete des Landtags Brandenburg
haben dort einen Normenkontrollantrag gestellt. Daneben sind
weitere Verfassungsbeschwerden einzelner Hochschulangehöriger
beim Landesverfassungsgericht und beim
Bundesverfassungsgericht anhängig.
II.
10
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das
Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch
einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr
schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder
aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend
geboten ist.
11
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung ist zulässig.
12
a) Die Beschwerdeführerinnen sind als
Fakultäten unbeschadet der Frage, in welcher Hinsicht sie
eine Verletzung eigener Rechte geltend machen können,
Trägerinnen des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.
Insoweit sind sie im Verfahren der Verfassungsbeschwerde und
damit auch für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung beschwerdefähig (vgl. BVerfGE 15, 256
<261 f.>; 68, 193 <207>; 75, 192
<196>; 93, 85 <93>; 111, 333 <352>; s.a.
BVerfGK 5, 135 <139 ff.>).
13
b) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung wurde von den Beschwerdeführerinnen wirksam
eingelegt. Die gerichtliche Geltendmachung der
Wissenschaftsfreiheit gehört zwar weder nach
§§ 69 ff. BbgHG noch nach §§ 22 ff. der
Grundordnung zu den Aufgaben der Fakultäten. Insofern den
Fakultäten als organisatorische Grundeinheiten der
Hochschulen für Lehre und Forschung (§ 69 Abs. 1 Satz 1
BbgHG) eigene Grundrechtspositionen zustehen, ist deren
Geltendmachung von der Aufgabenzuweisung aber mit umfasst
(vgl. BVerfGE 15, 256 <261 f.>; 93, 85
<93>; 111, 333 <352>). Die Vollmacht zur
Einlegung der Verfassungsbeschwerde und Stellung des
Eilantrags sind durch Dekanin bzw. Dekan gezeichnet und wird
jeweils durch einen vorgelegten Fakultätsratsbeschluss
getragen. Dies war auch erforderlich, insofern die Leitung
der Fakultät nach § 70 Abs. 1 Satz 1 BbgHG in Verbindung
mit § 22 Abs. 1 Satz 1 der Grundordnung nicht alle
Entscheidungen umfasst, die für eine Fakultät zu treffen
sind.
14
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung ist zurückzuweisen.
15
Bei der Prüfung der Voraussetzungen des
§ 32 Abs. 1 BVerfGG ist wegen der weittragenden Folgen
einer verfassungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung
regelmäßig ein strenger Maßstab (vgl. BVerfGE 55, 1
<3>; stRspr), bei einer Aussetzung eines Gesetzes ein
besonders strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 131,
47 <61> m.w.N. und BVerfGE 29, 318 <323>). Dabei
müssen die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der
angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es
sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von
vornherein als insgesamt unzulässig oder offensichtlich
unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich die
Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige
Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in
der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die
entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen
würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen
wäre (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; stRspr).
16
Die Verfassungsbeschwerde ist zwar nicht
offensichtlich unzulässig (a) oder offensichtlich unbegründet
(b). Doch ergibt die damit erforderliche Gesamtabwägung (c)
der Folgen der begehrten Entscheidung, dass die aufgrund des
Vortrags der Beschwerdeführerinnen und den von ihnen
beigefügten Unterlagen absehbaren Folgen des Inkrafttretens
der angegriffenen Bestimmungen des Gesetzes zur
Neustrukturierung der Hochschulregion Lausitz in Ausmaß und
Schwere nicht von einem derartigen Gewicht sind, dass eine
Aussetzung des Vollzugs des Gesetzes zu rechtfertigen
wäre.
17
a) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht von
vornherein unzulässig.
18
aa) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen,
dass die Beschwerdeführerinnen gegen ein Gesetz vorgehen,
denn sie sind von diesem unmittelbar betroffen (vgl. BVerfGE
1, 97 <101 ff.>; 109, 279 <306>; stRspr).
Auch ist die Möglichkeit einer Verletzung von Rechten aus
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG für Fakultäten anerkannt
(vgl. grundsätzlich BVerfGE 15, 256
<261 f.>; 93, 85 <93>; 111, 333
<352>). Entsprechende Rügen sind allerdings insofern
begrenzt, als sie sich nur auf die Wissenschaftsfreiheit der
Fakultät beziehen können.
19
bb) Die Verfassungsbeschwerde richtet sich
auch nicht gegen den Fortbestand einer wissenschaftlichen
Einrichtung, den Art. 5 Abs. 3 GG als solches nicht
schützt (vgl. BVerfGE 85, 360 <384 f.>). § 21
Abs. 1 GWHL lässt die BTU Cottbus und die FH Lausitz in der
neuen Universität „aufgehen“, beendet die Existenz der BTU
Cottbus also nur in ihrer bisherigen Form und überführt sie
mit der FH Lausitz in eine neue (Gesamt-)Universität. Alle
Einheiten der BTU Cottbus werden nach § 1 Abs. 2,
§ 17 Abs. 1 GWHL als Einheiten der neuen Hochschule
weitergeführt.
20
b) Die Verfassungsbeschwerde ist bei der hier
gebotenen summarischen Prüfung zumindest nicht offensichtlich
gänzlich unbegründet. Sie wirft die bislang ungeklärte Frage
auf, ob und gegebenenfalls wieweit sich Fakultäten unter
Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit gegen eine
Umgestaltung der Hochschule zur Wehr setzen können und ob
ihnen in einem diesbezüglichen Gesetzgebungsverfahren
bestimmte Beteiligungsrechte zustehen. Zugleich können sich
damit Fragen danach stellen, inwieweit Fakultäten aus
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG Anforderungen an eine
wissenschaftsadäquate Organisation geltend machen können. Die
hiermit verbundenen schwierigen, bislang ungeklärten
Rechtsfragen können in dem summarischen Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes nicht beantwortet werden.
21
c) Die danach für den Erlass einer
einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht
erforderliche Gesamtabwägung der Folgen einer solchen
Entscheidung ergibt, dass überwiegende Gründe gegen den
Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen. Die aufgrund
des Vortrags der Beschwerdeführerinnen und den von ihnen
beigefügten Unterlagen absehbaren Folgen des Inkrafttretens
der angegriffenen Bestimmungen des Gesetzes zur
Neustrukturierung der Hochschulregion Lausitz sind in Ausmaß
und Schwere nicht von einem derartigen Gewicht, dass eine
Aussetzung des Vollzugs des Gesetzes zu rechtfertigen
wäre.
22
aa) Wird die Aussetzung des Vollzugs eines
Gesetzes begehrt, ist bei der Folgenabwägung ein besonders
strenger Maßstab anzulegen. Das Bundesverfassungsgericht darf
von seiner Befugnis, das Inkrafttreten eines Gesetzes zu
verzögern, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da
dies stets einen erheblichen Eingriff in die
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers darstellt. Die
Nachteile, die mit dem Inkrafttreten nach späterer
Feststellung der Verfassungswidrigkeit verbunden wären,
müssen in Ausmaß und Schwere die Nachteile deutlich
überwiegen, die im Fall der vorläufigen Verhinderung eines
sich als verfassungsmäßig erweisenden Gesetzes einträten. Bei
dieser Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle vom
Gesetz Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur Folgen, die
sich für die Beschwerdeführerinnen ergeben (vgl. BVerfGE 131,
47 <61>; stRspr).
23
bb) Gemessen an diesen Anforderungen
rechtfertigt das Vorbringen der Beschwerdeführerinnen den
Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht. Es sind keine
Nachteile ersichtlich, die in Ausmaß und Schwere den Nachteil
deutlich überwiegen, der darin liegt, die vom Gesetzgeber
gewünschte Reform nicht umzusetzen. Es ist insbesondere nicht
ersichtlich, dass im Fall der vorläufig weiteren Wirksamkeit
des Gesetzes zur Neustrukturierung der Hochschulregion
Lausitz endgültige und nicht wiedergutzumachende Schäden von
besonderem Gewicht oder nur unter ganz erheblichen
Schwierigkeiten wieder ausräumbare vollendete Tatsachen
geschaffen würden (vgl. BVerfGE 91, 70
<76 f.>).
24
(1) Soweit die Beschwerdeführerinnen geltend
machen, Forschungskooperationen würden irreparabel zerstört,
ist nicht erkennbar, weshalb eine Fortsetzung der bereits
laufenden Forschung bei Inkrafttreten des angegriffenen
Gesetzes nicht mehr möglich sein soll. Soweit die
Bereithaltung bestimmter universitärer Ressourcen in
Kooperationsvereinbarungen ausdrücklich zugesichert wurde,
ist die BTU Cottbus-Senftenberg als Rechtsnachfolgerin der
BTU Cottbus nach der Regelung des § 21 Abs. 2 GWHL daran
gebunden. Im Hinblick auf die nicht näher spezifizierten
Netzwerke der Hochschullehrenden erschließt sich nicht,
weshalb gerade persönliche Forschungskontakte nicht auch in
einem veränderten Rahmen genutzt werden können. Zwar ist es
nicht undenkbar, dass eine Universität, die mit einer
Fachhochschule fusioniert wird, in der Forschungskooperation
Reputation einbüßt, doch ist es keineswegs zwingend, dass
Kooperationen daran scheitern. Schließlich tritt ein durch
ein Schreiben einer Stiftung illustrierter eventueller
Verlust von Drittmitteln bereits aufgrund der Unsicherheit
ein, in der die BTU Cottbus derzeit agiert und auch bei
Erlass einer einstweiligen Anordnung weiter agieren würde.
Die Planungssicherheit, die für die Stiftung „von zentraler
Bedeutung“ ist, bietet auch eine einstweilige Anordnung
nicht.
25
(2) Soweit die Beschwerdeführerinnen
vortragen, die Unterstützung von Promotionsvorhaben sei bei
Inkrafttreten des Gesetzes gefährdet, ist ein besonders
schwerer Nachteil nicht auszumachen. Die Fakultäten verlieren
das Promotionsrecht nicht, denn die neue BTU
Cottbus-Senftenberg wird gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1
BbgHG in Verbindung mit Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur
Weiterentwicklung der Hochschulregion Lausitz als Universität
das Promotionsrecht haben. Die bisherigen
Promotionsstudierenden der BTU Cottbus sind mit Inkrafttreten
des Gesetzes an der BTU Cottbus-Senftenberg eingeschrieben.
Dass ein Kooperationspartner tatsächlich die
Promotionsförderung von einer unveränderten Struktur der BTU
Cottbus abhängig gemacht hat und damit eine Unterstützung
jeglicher Promotionsvorhaben ausgeschlossen wäre, ist
jedenfalls nicht hinreichend erkennbar.
26
(3) Auch die Wirkungen, die das Inkrafttreten
des angegriffenen Gesetzes auf einen von der BTU Cottbus
gestellten Antrag auf Aufnahme in die DFG haben kann, sind
nicht in einem solchen Ausmaß und einer solchen Schwere
ersichtlich, dass sie die Aussetzung des Inkrafttretens eines
Gesetzes rechtfertigen könnten. Zwar wäre es für die neue
Hochschule ersichtlich ein Nachteil, von
Mitwirkungsmöglichkeiten in dieser Forschungsorganisation
ausgeschlossen zu sein. Doch ist nicht erkennbar, wie
erfolgversprechend der laufende Antrag ist, der sich nach
Angaben der Beschwerdeführerinnen in der Phase der Vorprüfung
befindet. Zudem zielt der Antrag lediglich auf Mitgliedschaft
in der DFG, ist aber keine Voraussetzung für die Gewährung
von Forschungsfördermitteln.
27
(4) Soweit die Beschwerdeführerinnen weiter
vortragen, von der neuen BTU Cottbus-Senftenberg getroffene
Entscheidungen seien nach Inkrafttreten des Gesetzes
unumkehrbar, sind daraus erwachsende Folgen nicht von einem
derartig nachteiligen Ausmaß und Gewicht, dass sie ein
Aussetzen des Gesetzes rechtfertigen könnten. Die
Immatrikulation von Studierenden durch die neu gegründete
Universität sowie deren Anspruch auf Durchführung und
Beendigung eines begonnenen Studiums gemäß den (neuen)
Studien- und Prüfungsordnungen ist nicht unumkehrbar. Zwar
ist es für die Wahrnehmung der Wissenschaftsfreiheit in Bezug
auf die Lehre nicht folgenlos, nach welchen Kriterien
immatrikuliert und auf welchem fachlichen Niveau studiert
wird. Es sind jedoch keine unumkehrbaren und unzumutbaren
Beeinträchtigungen erkennbar, die durch die Fusion verursacht
würden. Die Maßstäbe zur Anerkennung von Leistungen (vgl.
§ 22 BbgHG) verschiebt das angegriffene Gesetz nicht.
Gegen neue Satzungen steht zudem die Normenkontrolle -
inklusive Eilrechtsschutz - zum Oberverwaltungsgericht offen
(§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 4 Abs.
1 BbgVwGG).
28
(5) Ein besonders schwerwiegender Nachteil,
der den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das
Bundesverfassungsgericht rechtfertigen könnte, liegt auch
nicht in einer eventuellen Einstellung von Studiengängen,
insofern die BTU Cottbus-Senftenberg bei der Einrichtung der
organisatorischen Grundeinheiten für Lehre und Forschung nach
§ 2 Abs. 1 Satz 1 GWHL die Empfehlungen der
Lausitz-Kommission berücksichtigen „soll“. Es ist schon
zweifelhaft, ob eine Sollvorschrift überhaupt als Nachteil
bewertet werden kann. Zudem gelten die Empfehlungen auch ohne
die Reorganisation. Derartige Entscheidungen lassen sich
weder hinreichend sicher vorhersehen noch sind sie
unumkehrbar. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 GWHL sind die
bisherigen Studiengänge der BTU Cottbus solche der neuen BTU
Cottbus-Senftenberg. § 14 GWHL sieht für deren
Neuordnung eine Frist bis zum 31. Dezember 2014 vor, doch ist
mit einem länger andauernden Aufbau- und Entwicklungsprozess
zu rechnen (vgl. die Gesetzesbegründung, LTDrucks 5/56180,
S. 44). Schließlich steht gegen die Aufhebung von
Studiengängen wiederum verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz
zur Verfügung (vgl. BVerfGK 5, 135 <139 ff.>).
29
(6) Ein schwerwiegender Nachteil für die
Fakultäten liegt nicht darin, dass Absolventinnen und
Absolventen von Fachhochschulstudiengängen einen Mastergrad
im Namen der neuen Universität erlangten. Dies ist für die
Studierenden zunächst ein Vorteil. Ob Absolventinnen und
Absolventen von Universitätsstudiengängen allenfalls indirekt
benachteiligt werden, weil sie mit anderen konkurrieren, die
einen weniger wissenschaftlich ausgerichteten
Fachhochschulstudiengang durchlaufen haben, ist zweifelhaft.
Das Diploma Supplement, das dem Zeugnis zwingend beizufügen
ist, weist auch gegenüber Dritten weiterhin Unterschiede
aus.
30
(7) Der von den Beschwerdeführerinnen
angeführte Rückgang der Studierendenzahlen ist ebenfalls kein
gravierender Nachteil, den eine einstweilige Anordnung
verhindern könnte. Dieser Rückgang hat bereits eingesetzt und
lässt sich durch eine Eilentscheidung nicht beenden, denn
Planungssicherheit für Studienanfängerinnen und -anfänger
lässt sich nur durch eine Entscheidung in der Hauptsache
herstellen.
31
(8) Schließlich ist es zwar nicht
ausgeschlossen, dass sich Fakultäten in ihrem
wissenschaftsrelevanten Profil und Handeln unumkehrbar
verändern, wenn in erheblichem Maße „Paketberufungen“
durchgeführt werden. Doch ist ein darin liegender schwerer
und irreparabler Nachteil zu Lasten der Beschwerdeführerinnen
bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht ersichtlich. So
ist nicht erkennbar, in welchem Umfang derartige Berufungen
überhaupt anstehen, da Professuren bislang besetzt sind - die
bisherigen Professorinnen und Professoren der BTU Cottbus
werden gemäß § 5 Abs. 1 GWHL, die Planstellen gemäß
§ 7 GWHL auf die neue BTU Cottbus-Senftenberg
übergeleitet - oder aber eher gekürzt als ausgebaut werden.
Zudem nehmen Berufungsverfahren geraume Zeit in Anspruch.
Nach § 15 Abs. 3 GWHL treffen die Grundordnungen der BTU
Cottbus-Senftenberg schließlich Regelungen, wie zumindest
eine nach § 59 Abs. 1 Satz 6 BbgHG erforderliche
Mehrheit der Professorinnen und Professoren und bestimmter
Juniorprofessorinnen und -professoren in
Berufungsangelegenheiten in den Organen und Gremien der neuen
Universität sichergestellt wird.
32
(9) Auch eine einstweilige Anordnung könnte
die von den Beschwerdeführerinnen befürchtete Abwanderung von
Personal nicht verhindern. Die vorgelegten Schreiben zur
Annahme eines Rufes an eine andere Universität und zur
Ablehnung eines Rufes lassen nicht den Schluss auf eine
signifikante und unumkehrbare Personalabwanderung gerade
durch das Inkrafttreten des Gesetzes zu.
33
(10) Ein gravierender Nachteil liegt für die
Beschwerdeführerinnen jedenfalls bis zu einer Entscheidung in
der Hauptsache nicht darin, dass sie eventuell nicht
hinreichend an der Selbstverwaltung der BTU
Cottbus-Senftenberg mitwirken können, obwohl § 17 Abs. 2
Satz 2 GWHL die Rechtswirksamkeit von Entscheidungen bei
einer fehlerhaften Wahl oder Besetzung von Organen oder
Gremien normiert. Es ist nicht ersichtlich, dass auf diese
Weise bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache
schwerwiegende Fakten geschaffen würden, die nicht mehr
rückgängig gemacht werden können. Eventuell nachteilige
Folgen können, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung, durch
finanziellen Aufwand wettgemacht werden, den das Land
Brandenburg und nicht die Beschwerdeführerinnen zu tragen
hätten (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11.
Dezember 1990 - 1 BvR 1245/90 -, juris Rn. 8).
34
(11) Soweit der vom Ministerium des Landes
eingesetzte Gründungsbeauftragte die Hochschule leitet, ist
nicht ersichtlich, dass unumkehrbare Fakten von
entsprechendem Gewicht geschaffen würden. Ohnehin soll die
Dauer dieser Interims-Leitung „so kurz wie möglich bemessen
sein“ (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs, LTDrucks 5/6180,
S. 38); die Wahl des erweiterten Gründungssenats soll nach
§ 12 Abs. 1 Satz 2 GWHL spätestens bis zum 31. Oktober
2013 erfolgen. Der Beauftragte verfügt jenseits des Erlasses
der Wahlordnung für die Gründungssenate nach § 12 Abs. 4
GWHL über keine Befugnisse, wissenschaftsrelevante
Entscheidungen zu treffen, bei denen von Verfassungs wegen
eine hinreichende Mitwirkung der Hochschullehrenden gesichert
sein müsste. Aus einem umfassenden Informationsrecht des
Gründungssenats gegenüber dem Gründungsbeauftragten nach
§ 13 Abs. 1 Satz 2 GWHL ergeben sich keine Befugnisse.
Im Gesetz zur Weiterentwicklung der Hochschulregion Lausitz
sind wissenschaftsrelevante Entscheidungsbefugnisse für den
Beauftragten - anders als für den Gründungspräsidenten in der
Gründungsphase in § 2 Abs. 2 Nr. 5, § 3 Abs. 6 Satz
2, § 6 Abs. 2 oder § 17 Abs.1 GWHL - nicht
normiert. Sie ergeben sich auch nicht aus dem
Brandenburgischen Hochschulgesetz, da dieses keinen
Gründungsbeauftragten kennt. Der brandenburgische Gesetzgeber
hat es selbst zumindest vorsorglich für erforderlich
gehalten, neben der allgemeinen Verweisung in § 1 Abs. 4
GWHL auf die Vorschriften des Brandenburgischen
Hochschulgesetzes mit § 9 Abs. 5 GWHL eine eigene
Verweisungsvorschrift zur entsprechenden Anwendbarkeit der
Vorschriften über den Präsidenten auch auf den
Gründungspräsidenten oder die Gründungspräsidentin - aber
auch nur auf diese - zu schaffen (vgl. Begründung des
Gesetzentwurfs, LTDrucks 5/6180, S. 39). Folglich kommt eine
darüber hinausgehende Gleichsetzung des Beauftragten mit dem
Präsidenten nicht in Betracht. Dies ist auch sachgerecht. Die
Leitung der Hochschule nach § 8 Abs. 2 Satz 2 GWHL durch
den Beauftragten des Ministeriums kann mangels hinreichender
Mitwirkung der Hochschullehrenden von Verfassungs wegen nicht
das Recht enthalten, wissenschaftsrelevante Entscheidungen zu
treffen.
35
cc) Erließe das Bundesverfassungsgericht die
begehrte einstweilige Anordnung, würde sich demgegenüber die
Umsetzung der vom Landesgesetzgeber für dringend erforderlich
gehaltenen Strukturentscheidungen verzögern. Kann ein
Überwiegen der Nachteile, die entstünden, wenn die
einstweilige Anordnung nicht erginge, nicht festgestellt
werden, fordert das gemeine Wohl den Erlass einer
einstweiligen Anordnung nicht (vgl. BVerfGE 91, 70 <81>
m.w.N.).
36
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Masing
Baer | bundesverfassungsgericht |
56-2008 | 16. Mai 2008 | Kapitalzahlung aus einer Direktlebensversicherung unterliegt Beitragspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung
Pressemitteilung Nr. 56/2008 vom 16. Mai 2008
Beschluss vom 07. April 20081 BvR 1924/07
Direktversicherungen sind meist eine Form der betrieblichen Altersversorgung. Sie werden in der Regel als Lebensversicherung durch den Arbeitgeber als Versicherungsnehmer zugunsten des Arbeitnehmers als Bezugsberechtigten abgeschlossen. Als Versicherungsfall wird regelmäßig die Vollendung eines bestimmten Lebensjahres vereinbart. Tritt der Versicherungsfall ein, kann die Direktversicherung als fortwährende Leistung in Form eines regelmäßigen, monatlichen Versorgungsbezugs oder als einmaliger Kapitalbetrag geleistet werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu der bis zum 31. Dezember 2003 gültigen Rechtslage unterlag jedoch nur der fortwährende Versorgungsbezug aus einer Direktversicherung uneingeschränkt der Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Demgegenüber wurde eine einmalige Kapitalleistung aus der Direktversicherung nicht von der Beitragspflicht erfasst und zwar selbst dann nicht, wenn ursprünglich eine laufende Leistung vereinbart worden war, sie aber noch vor Eintritt des Versicherungsfalles in eine Kapitalleistung umgewandelt wurde. Durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. November 2003 sind die maßgeblichen Bestimmungen zum 1. Januar 2004 geändert worden: Danach unterliegt die als Kapitalleistung erbrachte Direktversicherung nunmehr uneingeschränkt der Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung, auch wenn eine einmalige Kapitalzahlung von Anfang an oder vor Eintritt des Versicherungsfalls vereinbart wurde.
Den beiden Beschwerdeführern war aus einer vom Arbeitgeber zu ihren Gunsten abgeschlossenen Kapitallebensversicherung ein Betrag von 22.950,51 Euro bzw. 86.331,31 Euro ausbezahlt worden. Hierauf setzten die Krankenkassen Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von monatlich 29,07 Euro bzw. 107,19 Euro fest. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolglos. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte fest, dass die Heranziehung von Versorgungsbezügen in der Form der nicht wiederkehrenden Leistung zur Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Dem Nichtannahmebeschluss liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz liegt nicht vor. Es kann kein wesentlicher Unterschied bezüglich der beschäftigungsbezogenen Einnahmen zwischen laufend gezahlten Versorgungsbezügen und nicht regelmäßig wiederkehrenden Leistungen identischen Ursprungs und gleicher Zwecksetzung, insbesondere einmaligen Kapitalleistungen aus Direktversicherungen, festgestellt werden. Beide Leistungen knüpfen an ein Dienst- oder Beschäftigungsverhältnis an und sind Teil einer versicherungsrechtlich organisierten, durch Beiträge gespeisten zusätzlichen Altersversorgung, welche dem Versicherten mit dem Eintritt des Versicherungsfalls einen unmittelbaren Leistungsanspruch vermittelt. Ausgangspunkt der gesetzlich angeordneten Gleichbehandlung der nicht wiederkehrenden Leistungen mit den laufenden Versorgungsbezügen sind die mit dem Versicherungsfall eintretende Erhöhung der Einnahmen des Versicherten und ihr Ziel der Alterssicherung. Die im Beschäftigungsverhältnis wurzelnde, auf einer bestimmten Ansparleistung während des Erwerbslebens beruhende einmalig Zahlung einer Kapitalabfindung ist nicht grundsätzlich anders zu bewerten als eine auf gleicher Ansparleistung beruhende, laufende Rentenleistung; sie unterscheiden sich allein durch die Art der Auszahlung.
Die Beitragspflicht ist auch verhältnismäßig: Zwar stellt die auf zehn Jahre begrenzte Beitragspflicht eine erhebliche Belastung der Betroffenen dar. Sie hat jedoch keine grundlegende Beeinträchtigung der Vermögensverhältnisse im Sinne einer erdrosselnden Wirkung zur Folge. Schließlich verstößt die Neuregelung der Beitragspflicht auf einmalige Kapitalleistungen nicht gegen den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz. Sie gestaltet ein öffentlichrechtliches Versicherungsverhältnis erst mit Wirkung für die Zukunft. Im Übrigen konnten die Betroffenen nicht in den Fortbestand der die einmaligen Kapitalleistungen gegenüber einem fortwährenden Versorgungsbezug privilegierenden Rechtslage vertrauen.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1924/07 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1.
des Herrn S…,
2.
der Frau H…
- Bevollmächtigter:
Professor Dr. Friedhelm Hase,
Universität Siegen Fachbereich 5, Hölderlinstraße 3, 57076
Siegen
1.
unmittelbar gegen
die Urteile des Bundessozialgerichts vom 25. April 2007 -
B 12 KR 25/05 R, B 12 KR 26/05 R -,
2.
mittelbar gegen
§ 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V in der durch Art. 1
Nr. 143 des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG) vom
14. November 2003 (BGBl I S. 2190) geschaffenen und ab 1.
Januar 2004 geltenden Fassung
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Kirchhof
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 7. April 2008 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die
Beitragspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung aus der
Kapitalzahlung von Direktlebensversicherungen.
I.
2
Die Krankenversicherung der Rentner wird seit
dem Rentenanpassungsgesetz 1982 vom 1. Dezember 1981 (BGBl I
S. 1205) unter anderem durch Beiträge finanziert, welche die
Versicherten zu tragen haben. Seitdem wird außer dem
Arbeitsentgelt, der Rente aus der gesetzlichen
Rentenversicherung und dem Arbeitseinkommen auch der
Zahlbetrag von der Rente vergleichbaren Einnahmen
(Versorgungsbezüge) zur Beitragsberechnung herangezogen.
3
Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche
Krankenversicherung – (SGB V) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I
S. 2477) hat den Begriff der Versorgungsbezüge in § 229
Abs. 1 SGB V definiert. Als der Rente vergleichbare Einnahmen
(Versorgungsbezüge) gelten danach,
4
1. Versorgungsbezüge aus einem
öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis oder aus einem
Arbeitsverhältnis mit Anspruch auf Versorgung nach
beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen; …
5
2. Bezüge aus der Versorgung der Abgeordneten,
Parlamentarischen Staatssekretäre und Minister,
6
3. Renten der Versicherungs- und
Versorgungseinrichtungen, die für Angehörige bestimmter
Berufe errichtet sind,
7
4. Renten und Landabgaberenten nach dem Gesetz
über die Alterssicherung der Landwirte mit Ausnahme einer
Übergangshilfe,
8
5. Renten der betrieblichen Altersversorgung
einschließlich der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst
und der hüttenknappschaftlichen Zusatzversorgung,
9
soweit sie wegen einer Einschränkung der
Erwerbsfähigkeit oder zur Alters- oder
Hinterbliebenenversorgung erzielt werden.
10
§ 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V in der bis zum
31. Dezember 2003 geltenden Fassung bestimmte ferner:
11
„Tritt an die Stelle der Versorgungsbezüge eine
nicht regelmäßig wiederkehrende Leistung, gilt ein
Einhundertzwanzigstel der Leistung als monatlicher Zahlbetrag
der Versorgungsbezüge, längstens jedoch für einhundertzwanzig
Monate.“
12
Bereits zu der weitgehend inhaltsgleichen
Vorgängervorschrift des § 180 Abs. 8 Satz 4 RVO
hatte das Bundessozialgericht entschieden, diese Vorschrift
greife nur ein, wenn an die Stelle eines ursprünglich
vereinbarten laufenden Versorgungsbezugs (z.B. eine Rente)
eine nicht regelmäßig wiederkehrende Leistung, z.B. eine
Kapitalabfindung, trete. Hingegen sei die Vorschrift
unanwendbar, wenn von vorne herein eine nicht wiederkehrende
Leistung (Kapitalzahlung) vereinbart worden sei (BSGE 58, 10
<13>; SozR 3-2500 § 229 Nr. 4). Ebenso wenig kam
es zu einer Beitragspflicht, wenn zwar ursprünglich eine
laufende Leistung vereinbart war, sie aber noch vor Eintritt
des Versicherungsfalles in eine Kapitalleistung umgewandelt
wurde (BSG, SozR 3-2500 § 229 Nr. 10). Als Konsequenz
aus dieser Rechtsprechung erhoben die Krankenkassen Beiträge
aus einer Kapitalabfindung nur dann, wenn sie einen aufgrund
des Eintritts des Versicherungsfalls (Erwerbsminderung,
Alter) bereits geschuldeten Versorgungsbezug ersetzte; in
allen anderen Fällen blieben Kapitalzahlungen
beitragsfrei.
13
Durch Art. 1 Nr. 143 des Gesetzes zur
Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) vom
14. November 2003 (BGBl I S. 2190) ist § 229 Abs. 1
Satz 3 SGB V neu gefasst worden. Die Vorschrift lautet
nunmehr:
14
„Tritt an die Stelle der Versorgungsbezüge eine
nicht regelmäßig wiederkehrende Leistung oder ist eine solche
Leistung vor Eintritt des Versicherungsfalls vereinbart oder
zugesagt worden, gilt ein Einhundertzwanzigstel der Leistung
als monatlicher Zahlbetrag der Versorgungsbezüge, längstens
jedoch für einhundertzwanzig Monate.“
15
Damit wurde die Belastung derartiger
Kapitalzahlungen auch auf Fälle erstreckt, in denen sie schon
vor Beginn der Rente vereinbart worden waren.
II.
16
1. Der 1942 geborene Beschwerdeführer zu 1)
ist als Rentner bei seiner Krankenkasse pflichtversichert.
Aus einem im Jahre 1992 als Direktversicherung
abgeschlossenen Lebensversicherungsvertrag wurden ihm im Juni
2004 22.950,51 € ausgezahlt.
17
Bei der 1944 geborenen Beschwerdeführerin zu
2) schloss der Arbeitgeber im Mai 1977 bei der Nürnberger
Lebensversicherung AG eine Kapitallebensversicherung zu ihren
Gunsten ab. In der Zeit vom 1. Januar bis 30. September 2004
war die Beschwerdeführerin bei ihrer Krankenkasse wegen des
Bezuges von Leistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch
- Arbeitsförderung - (SGB III), danach als Arbeitnehmerin
pflichtversichert. Zum Fälligkeitszeitpunkt am 1. Mai 2004
erhielt die Beschwerdeführerin aus der Lebensversicherung
einen Betrag von 86.331,31 € ausgezahlt.
18
In beiden Fällen haben die Krankenkassen 1/120
der Kapitalleistung als fiktiven monatlichen Zahlbetrag einer
betrieblichen Altersversorgung angesehen und hierauf
Krankenversicherungsbeiträge festgesetzt. Im Fall des
Beschwerdeführers zu 1) sind dies seit dem 1. Juli 2004
monatlich 29,07 €, im Fall der Beschwerdeführerin zu 2) seit
dem 1. Mai 2004 monatlich 107,19 €.
19
2. Mit ihren gegen die Beitragserhebung
gerichteten Klagen sind die Beschwerdeführer vor den
Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit erfolglos geblieben. Das
Bundessozialgericht hat in seinen Urteilen ausgeführt, zu den
Renten der betrieblichen Altersversorgung gehörten auch
Renten, die aus einer vom Arbeitgeber auf das Leben des
Arbeitnehmers abgeschlossenen Direktversicherung gezahlt
würden, wenn daraus der Arbeitnehmer oder seine
Hinterbliebenen ganz oder teilweise bezugsberechtigt seien
und die Rente der Sicherung des Lebensstandards nach dem
Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Erwerbsleben dienen
solle. Ihren Charakter als Versorgungsbezug verlören sie auch
nicht dadurch, dass sie zum Teil oder ganz auf Leistungen des
Arbeitnehmers bzw. Bezugsberechtigten beruhten; entscheidend
sei allein, ob die Rente von einer Einrichtung der
betrieblichen Altersversorgung gezahlt werde. Aufgrund von
§ 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V seien seit dem 1. Januar
2004 nunmehr auch von vorne herein oder jedenfalls vor
Eintritt des Versicherungsfalls zugesagte oder vereinbarte
nicht regelmäßig wiederkehrende Leistungen beitragspflichtig,
sofern sie – unabhängig von der Zahlungsmodalität – ihre
Wurzel in der betrieblichen Altersversorgung hätten. Bei
beiden Beschwerdeführern sei die zugeflossene Kapitalzahlung
ein einmalig gezahlter Versorgungsbezug aus einer
betrieblichen Altersversorgung, denn es handele sich jeweils
um Leistungen aus einer Direktversicherung des ehemaligen
Arbeitgebers, die im Hinblick auf den Fälligkeitszeitpunkt
(60. bzw. 62. Lebensjahr) auch der Altersversorgung gedient
hätten.
20
Diese Belastung der Kapitalleistung mit
Beiträgen begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Ein
Grundsatz, demzufolge mit aus bereits der Beitragspflicht
unterliegenden Einnahmen vom Versicherten selbst finanzierte
Versorgungsbezüge der Beitragspflicht überhaupt nicht oder
jedenfalls nicht mit dem vollen Beitragssatz unterworfen
werden dürften, existiere im Beitragsrecht der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht. Es verstoße auch nicht gegen den
allgemeinen Gleichheitssatz, wenn Kapitalleistungen aus
Direktversicherungen anders als andere private
Altersvorsorgeformen zur Beitragsbemessung herangezogen
würden. Es liege im Gestaltungsermessen des Gesetzgebers,
wenn er auch zur Vermeidung von Umgehungsmöglichkeiten
Versorgungsbezüge in Form einmaliger Kapitalleistungen mit
regelmäßig wiederkehrend gezahlten Versorgungsbezügen
gleichstelle und damit bei gleichartiger Verwurzelung in der
früheren Erwerbstätigkeit eine Gleichbehandlung ohne
Berücksichtigung der Zahlungsmodalitäten schaffe. Einmalige
Kapitalzahlungen erhöhten wie die regelmäßig wiederkehrenden
Zahlungen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des
Versicherten. Ein schutzwürdiges Vertrauen auf den
Fortbestand der Beitragsfreiheit habe angesichts der
wiederholten Änderungen hinsichtlich der Beitragspflicht von
Renten- und Versorgungseinkünften in der Vergangenheit nicht
entstehen können.
21
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich
die Beschwerdeführer unmittelbar gegen die Urteile des
Bundessozialgerichts, mittelbar gegen § 229 Abs. 1
Satz 3 SGB V in der durch Art. 1 Nr. 143 GMG vom 14.
November 2003 geschaffenen Fassung. Sie rügen eine Verletzung
ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG.
22
Die Vorschrift des § 229 Abs. 1 Satz 3
SGB V sei so verkürzt und unklar, dass schon die Bestimmung
ihres materiellen Gehalts auf beträchtliche Schwierigkeiten
stoße. Der Wortlaut lasse die Einbeziehung jeder auch
außerhalb der betrieblichen Altersversorgung stehenden
Kapitalleistung zu, die aufgrund einer vor dem Eintritt des
- nicht näher definierten - Versicherungsfalls
gezahlt werde. Allein aus dem Regelungskontext könne auf
einen Zusammenhang mit der betrieblichen Altersversorgung
geschlossen werden.
23
Die Abgabenerhebung auf Kapitalleistungen der
betrieblichen Altersversorgung laufe auf eine
verfassungswidrige Besteuerung der Betroffenen durch die
Krankenversicherung hinaus. Die gesetzliche
Krankenversicherung sei strukturell eine
Beschäftigtenversicherung, welche sich bei der
Einnahmenerhebung auf die für den Eintritt der
Versicherungspflicht maßgeblichen Einkünfte beschränken
müsse, damit der Sozialversicherungsbeitrag nicht zur Steuer
mutiere. Insoweit komme bei Pflichtversicherten – anders als
bei freiwillig Versicherten – auch nicht die allgemeine
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als Maßstab der
Beitragsbemessung in Betracht. Die Einbeziehung der
Versorgungsbezüge sei nur deshalb gerechtfertigt, weil die
ausschließliche Berücksichtigung der gesetzlichen Renten bei
Personen, die über längere Zeiträume nicht
rentenversicherungspflichtig gearbeitet hätten und deswegen
Alterseinkünfte aus anderen Quellen hätten, ihrerseits zu
Ungerechtigkeiten führe. Die in § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB
V aufgeführten laufenden Versorgungsbezüge seien den Renten
vergleichbar, weil sie aus Anrechten folgten, die durch die
berufliche Tätigkeit begründet worden seien und nach dem Ende
des Erwerbslebens oder im Falle eingeschränkter
Erwerbsfähigkeit als Sozial- oder Versorgungsleistung von
einem entsprechenden Leistungsträger fortlaufend und
gleichmäßig gezahlt würden. Eine solche rententypische
Stabilität und Kontinuität fehle bei Kapitalleistungen. Mit
der Auszahlung der Kapitalleistung werde der Empfänger aus
dem System gesetzlich organisierter Sicherheit entlassen.
Vergleichen mit der Rente der gesetzlichen Rentenversicherung
werde damit der Boden entzogen. Das verkenne das
Bundessozialgericht, welches zwischen Betriebsrenten und
Kapitalleistungen nur einen im Grunde zu vernachlässigenden
Unterschied in der Zahlungsmodalität sehe.
24
Auch Art. 2 Abs. 1 GG werde verletzt. Mit
der Erhebung von Beiträgen auf Kapitalleistungen würden sie
über das Maß hinaus in Anspruch genommen, bis zu dem ihre
Belastung durch Belange der Sozialversicherung im Sinne von
Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gerechtfertigt sei.
25
Schließlich bedeute die abrupte Änderung des
§ 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V ohne jede Übergangsregelung
eine Verletzung des durch Art. 20 Abs. 3 GG geschützten
Vertrauens in den Rechtsstaat. Sie hätten auf den Fortbestand
der im Krankenversicherungsrecht seit mehr als zwei
Jahrzehnten geltenden Regel vertrauen können, dass
Kapitalleistungen nur insoweit belastet würden, als sie an
die Stelle bereits geschuldeter Versorgungsbezüge träten. Bei
einer Rechtsänderung, mit der ein solcher Grundsatz
aufgegeben werde, seien Übergangsregelungen erforderlich,
insbesondere um den Belangen älterer und hochbetagter
Versicherter Rechnung zu tragen, die die abrupten
Rechtsänderungen aufgrund ihrer Lebenslage nicht mehr
auffangen könnten.
III.
26
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur
Entscheidung anzunehmen. Ihr kommt grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu (§ 93a Abs. 2
Buchstabe a BVerfGG). Ihre Annahme ist auch nicht nach
§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung
der von den Beschwerdeführern als verletzt gerügten
Grundrechte angezeigt. Denn die Verfassungsbeschwerde hat
keine Aussicht auf Erfolg. § 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V in
der Fassung des Art. 1 Nr. 143 GMG ist mit dem
Grundgesetz vereinbar.
27
1. Die angegriffene Vorschrift genügt dem
verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot. Der Vorbehalt des
Gesetzes verlangt, dass staatliches Handeln, welches in
Grundrechte eingreift, eine gesetzliche Grundlage hat, welche
nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und
begrenzt ist (vgl. BVerfGE 108, 52 <75>; 110, 33
<53>; stRspr).
28
Aus dem Gesamtzusammenhang des § 229 Abs.
1 SGB V ergibt sich hinreichend deutlich, was der Gesetzgeber
mit § 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V in der Fassung des
Art. 1 Nr. 143 GMG als "nicht regelmäßig wiederkehrende
Leistung" erfassen wollte. Nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts gehören zu den Renten der
betrieblichen Altersversorgung im Sinne von § 229
Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V auch Renten, die aus einer vom
Arbeitgeber für den Arbeitnehmer abgeschlossenen
Direktversicherung im Sinne des § 1 Abs. 2 des Gesetzes
zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG)
gezahlt werden, wenn sie die Versorgung des Arbeitnehmers
oder seiner Hinterbliebenen im Alter, bei Invalidität oder
Tod bezwecken, also der Sicherung des Lebensstandards nach
dem Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Erwerbsleben dienen
sollen. Durch § 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V in der Fassung
des Art. 1 Nr. 143 GMG wird nunmehr, wie das
Bundessozialgericht in den angegriffenen Urteilen darlegt,
bei einer nicht regelmäßig wiederkehrenden Leistung - wie der
Kapitalzahlung aus einer betrieblichen Direktversicherung -
für einen begrenzten Zeitraum ihre Berücksichtigung als
„Rente der betrieblichen Altersversorgung“ erlaubt, wenn
diese Leistung den Versorgungsbezügen im Sinne des § 229
Abs. 1 Satz 1 SGB V zuzuordnen ist, sie also ihre Wurzel in
einem der dort aufgeführten Rechtsverhältnisse hat und in
gleicher Weise die Versorgung des Arbeitnehmers oder seiner
Hinterbliebenen im Alter, bei Invalidität oder Tod bezweckt.
Die versicherungsrechtliche Zwecksetzung unterscheidet die
betriebliche Altersversorgung auch im Fall der nicht
regelmäßig wiederkehrenden Kapitalzahlung von anderweitigen
Zuwendungen des Arbeitgebers, etwa Leistungen zur
Vermögensbildung, zur Überbrückung einer Arbeitslosigkeit
oder Abfindungen für den Verlust des Arbeitsplatzes (vgl.
BSG, SozR 3-2500 § 229 Nr. 13). Diese Auslegung, welche
den Begriff der betrieblichen Altersversorgung von sonstigen
Leistungen des Arbeitgebers ausreichend abgrenzt, ist mit
Wortlaut und Systematik der Vorschrift vereinbar und damit
verfassungsrechtlich unbedenklich.
29
2. Diese Anknüpfung an die betriebliche
Altersversorgung und damit an die Herkunft der Kapitalzahlung
aus einem Beschäftigungsverhältnis und an ihr Ziel einer
Absicherung des Altersrisikos sowie die Widmung des dadurch
erzielten Beitragsaufkommens für die Finanzierung der
Krankenversicherung halten die mittelbar angegriffene
Vorschrift im Rahmen der Kompetenz des Bundesgesetzgebers für
die Sozialversicherung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12
GG.
30
3. Die Heranziehung von Versorgungsbezügen in
der Form der nicht wiederkehrenden Leistung zur
Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung wahrt
das Gebot des Art. 3 Abs. 1 GG, Gleiches gleich,
Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu
behandeln (vgl. BVerfGE 112, 268 <279>; stRspr). Der
allgemeine Gleichheitssatz ist verletzt, wenn eine Gruppe von
Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders
behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen,
dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl.
BVerfGE 104, 126 <144 f.>). Je nach
Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal fallen die
Anforderungen an den Differenzierungsgrund dabei
unterschiedlich aus. Sie reichen vom bloßen Willkürverbot bis
zu einer strengen Bindung an
Verhältnismäßigkeitserfordernisse (vgl. BVerfGE 99, 367
<388>; stRspr). Eine strenge Prüfung ist vorzunehmen,
wenn verschiedene Personengruppen und nicht nur verschiedene
Sachverhalte ungleich behandelt werden (vgl. BVerfGE 55, 72
<88>; 88, 87 <96>; 99, 367 <388>).
31
a) Das Bundesverfassungsgericht hat bereits
entschieden, dass es von Verfassungs wegen nicht zu
beanstanden ist, Versorgungsbezüge im Rahmen der
Krankenversicherung der Rentner zur Beitragsbemessung
heranzuziehen (vgl. BVerfGE 79, 223 ff.; BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 28. Februar
2008 - 1 BvR 2137/06 -, JURIS). Dabei ist die
Heranziehung von Versorgungsbezügen nicht nur für die
versicherungspflichtigen Rentner, sondern ebenso für die in
§§ 226, 232 ff. SGB V genannten Personengruppen
(z.B. pflichtversicherte Arbeitnehmer oder Bezieher von
Arbeitslosengeld) mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar (vgl.
BVerfGK 2, 330 <334 f.>). Denn auch für die
Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung, welche
noch nicht Rentner sind, bedeutet der Zufluss von
Versorgungsbezügen eine Stärkung ihrer wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit, die ihren entscheidenden Ausgangspunkt in
einer Beschäftigung hat (vgl. BVerfGE 79, 223 <238>).
Sie werden unter Einsatz der Arbeitskraft erworben und haben
Entgeltersatzcharakter (vgl. BVerfGE 102, 68 <95>).
32
b) Entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführer unterliegt es keinen verfassungsrechtlichen
Bedenken, Kapitalleistungen aus betrieblichen
Direktversicherungen, welche die vom Bundessozialgericht
aufgestellten Kriterien erfüllen, den Versorgungsbezügen nach
§ 229 Abs. 1 Satz 1 SGB V gleichzustellen und damit der
Beitragspflicht zu unterwerfen. Für ihre gegenteilige Ansicht
berufen sich die Beschwerdeführer im Wesentlichen darauf,
dass einmaligen Kapitalzahlungen die notwendige strukturelle
Ähnlichkeit mit den Renten der gesetzlichen
Rentenversicherung fehle, dies jedoch der legitimierende
Anknüpfungspunkt für die Einbeziehung anderer
Versorgungsleistungen in die Beitragspflicht der gesetzlichen
Krankenversicherung sei. Indes kann kein wesentlicher
materieller Unterschied bezüglich der beschäftigungsbezogenen
Einnahmen zwischen laufend gezahlten Versorgungsbezügen und
nicht regelmäßig wiederkehrenden Leistungen identischen
Ursprungs und gleicher Zwecksetzung, insbesondere einmaligen
Kapitalleistungen aus Direktversicherungen, festgestellt
werden. Beide Leistungen knüpfen an ein Dienst- oder
Beschäftigungsverhältnis an und sind Teil einer
versicherungsrechtlich organisierten, durch Beiträge
gespeisten zusätzlichen Altersversorgung, welche dem
Versicherten mit dem Eintritt des Versicherungsfalls einen
unmittelbaren Leistungsanspruch vermittelt. Ausgangspunkte
der durch § 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V angeordneten
Gleichbehandlung der nicht wiederkehrenden Leistungen mit den
laufenden Versorgungsbezügen sind die mit dem
Versicherungsfall eintretende Erhöhung der Einnahmen des
Versicherten und ihr Ziel der Alterssicherung. Die im
Beschäftigungsverhältnis wurzelnde, auf einer bestimmten
Ansparleistung während des Erwerbslebens beruhende einmalige
Zahlung einer Kapitalabfindung ist nicht grundsätzlich anders
zu bewerten als eine auf gleicher Ansparleistung beruhende,
laufende Rentenleistung; sie unterscheiden sich allein durch
die Art der Auszahlung. Auch das BetrAVG wertet Leistungen,
die auf eine laufende Altersversorgung (z.B. durch einen
Pensionsfonds oder eine Pensionskasse) gerichtet sind, gleich
mit Leistungen an eine Direktversicherung, die sich in einer
einmaligen Kapitalauszahlung erschöpfen (vgl. § 1 Abs. 2
und § 1b Abs. 2 BetrAVG). Daher ist es nicht zu
beanstanden, wenn der Gesetzgeber diese Leistungen auch
beitragsrechtlich in der gesetzlichen Krankenversicherung
gleich behandelt. Anderenfalls würde die privatautonom
getroffene Entscheidung über das Versicherungsprodukt in der
aktiven Phase der Beschäftigung über die Frage der späteren
Beitragspflicht entscheiden und damit die Möglichkeit zu
ihrer Umgehung eröffnen (vgl. die Begründung des
Fraktionsentwurfs zum GKV-Modernisierungsgesetz, BTDrucks
15/1525, S. 139).
33
c) Vor Art. 3 Abs. 1 GG ist es nicht zu
beanstanden, dass die Beschwerdeführer auf die ausgezahlten
Kapitalleistungen der betrieblichen Direktversicherung
Beiträge nach dem vollen allgemeinen Beitragssatz ihrer
Krankenkasse zu zahlen haben. Aus Art. 3 Abs. 1 GG lässt
sich kein verfassungsrechtliches Gebot ableiten, die
Pflichtmitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung im
wirtschaftlichen Ergebnis so zu stellen, dass sie auf ihre
beitragspflichtigen Einkünfte nur den halben Beitragssatz
oder einen ermäßigten Beitragssatz zu entrichten haben.
Verfassungsrechtlich ist es nicht geboten, an der
Finanzierung des Beitrages aus Versorgungsbezügen Dritte in
der Weise zu beteiligen, wie dies im Rahmen der
Arbeitnehmerversicherung für die Arbeitgeber (§ 249 SGB
V) und im Rahmen der Krankenversicherung der Rentner für die
Rentenversicherungsträger (§ 249a SGB V) gesetzlich
angeordnet ist. Zur weiteren Begründung wird auf den
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 2008 (1 BvR 2136/06
- JURIS) Bezug genommen.
34
4. Die Einbeziehung der nicht wiederkehrenden
Versorgungsleistungen in die Beitragspflicht ist mit dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar. Sie bildet ein
geeignetes und erforderliches Mittel zur Stärkung der
Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl.
BVerfGE 103, 392 <404>). Den betroffenen Personen sind
die damit verbundenen Folgen zumutbar. Der Gesetzgeber ist
von Verfassungs wegen berechtigt, jüngere Krankenversicherte
von der Finanzierung des höheren Aufwands für die Rentner zu
entlasten und die Rentner entsprechend ihrem Einkommen
verstärkt zur Finanzierung heranzuziehen (vgl. BVerfGE 69,
272 <313>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats
vom 13. Dezember 2002 - 1 BvR 1660/96 -, SozR 3-2500
§ 248 Nr. 6). Der Gesetzgeber kann dazu auch Teilgruppen
herausgreifen und diese zu höheren Beitragszahlungen
heranziehen, wenn dies durch einen sachlichen Grund
gerechtfertigt ist. Hierzu durfte der Gesetzgeber vor allem
die bisherige Privilegierung der Bezieher nicht
wiederkehrender Versorgungsleistungen beseitigen, deren
Besserstellung gegenüber den Beziehern laufender
Versorgungsleistungen ohnedies verfassungsrechtlich
problematisch war.
35
Die Höhe der dadurch hervorgerufenen
Beitragsbelastung bewirkt keinen unzumutbaren Eingriff in die
Vermögensverhältnisse der Betroffenen. Die monatliche
Beitragspflicht aus der erfolgten Zahlung der
Direktversicherung beträgt im Fall des Beschwerdeführers zu
1) seit dem 1. Juli 2004 monatlich 29,07 €, im Fall der
Beschwerdeführerin zu 2) seit dem 1. Mai 2004 monatlich
107,19 €, wobei dieser Betrag nach § 229 Abs. 1 Satz 3
SGB V längstens für 10 Jahre zu leisten ist. Das ist
erheblich, aber angesichts der Höhe der zugeflossenen
Versicherungsleistungen nicht mit einer grundlegenden
Beeinträchtigung der Vermögensverhältnisse im Sinne einer
erdrosselnden Wirkung verbunden (vgl. hierzu - mit Blick
auf Art. 14 GG - BVerfGE 82, 159 <190>).
36
5. § 229 Abs. 1 Satz 3 SGB V in der
Fassung des Art. 1 Nr. 143 GMG verstößt nicht gegen
Art. 2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen
Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die Belastung nicht
wiederkehrend gezahlter Versorgungsleistungen mit dem vollen
allgemeinen Beitragssatz beurteilt sich nach den Grundsätzen
über die unechte Rückwirkung von Gesetzen (vgl. BVerfGE 95,
64 <86>; 103, 392 <403>); denn die angegriffene
Regelung greift mit Wirkung für die Zukunft in ein
öffentlich-rechtliches Versicherungsverhältnis ein und
gestaltet dies zum Nachteil für die betroffenen Versicherten
um. Solche Regelungen sind verfassungsrechtlich grundsätzlich
zulässig und entsprechen dem rechtsstaatlichen
Vertrauensschutzprinzip, wenn das schutzwürdige
Bestandsinteresse des Einzelnen die gesetzlich verfolgten
Gemeinwohlinteressen bei der gebotenen Interessenabwägung
nicht überwiegt (vgl. BVerfGE 101, 239 <263>; 103, 392
<403>). Diesen Grundsätzen genügt die angegriffene
Regelung. Auch insoweit wird zur weiteren Begründung auf die
Gründe des Beschlusses vom 28. Februar 2008 (1 BvR
2136/06) verwiesen. Die Versicherten konnten, nachdem der
Gesetzgeber bereits mit dem Rentenanpassungsgesetz (RAG) 1982
vom 1. Dezember 1981 (BGBl I S. 1205) laufende
Versorgungsbezüge in die Beitragspflicht einbezogen hatte, in
den Fortbestand der Rechtslage, welche die nicht
wiederkehrenden Leistungen gegenüber anderen
Versorgungsbezügen privilegierte, nicht uneingeschränkt
vertrauen. Übergangsregelungen waren verfassungsrechtlich
nicht geboten, vor allem auch deshalb, weil bei der
Einmalzahlung von Versorgungsbezügen den Versicherten schon
am Anfang der Belastung die gesamte Liquidität zur Tragung
der finanziellen Mehrbelastung zur Verfügung steht.
37
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hohmann-Dennhardt
Gaier
Kirchhof | bundesverfassungsgericht |
109-2006 | 9. November 2006 | Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde der deutschen Vereinigungskirche gegen Einreiseverbot für Ehepaar Mun
Pressemitteilung Nr. 109/2006 vom 9. November 2006
Beschluss vom 24. Oktober 20062 BvR 1908/03
Herr Mun ist Gründer der weltweit vertretenen Vereinigungskirche, deren Anhänger in Deutschland in dem beschwerdeführenden Verein organisiert sind. Das Ehepaar Mun beabsichtigte Ende 1995, im Rahmen einer Welttour nach Deutschland einzureisen. Das Besuchsprogramm sah vor, dass Herr Mun bei einer Veranstaltung eines dem Beschwerdeführer nahe stehenden Vereins einen Vortrag mit dem Titel "Die wahre Familie und ich" halten sollte; außerdem wollte das Ehepaar Mun Gespräche mit seinen Anhängern führen. Um dies zu verhindern, schrieb die Grenzschutzdirektion Koblenz auf Bitte des Bundesinnenministeriums die Eheleute Mun für die Dauer von drei Jahren zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem aus. Die Ausschreibung wurde fortlaufend, zuletzt im Jahr 2004, verlängert. Die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ausschreibung gerichtete Klage des Beschwerdeführers blieb vor den Verwaltungsgerichten ohne Erfolg.
Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob das klageabweisende Urteil des Oberverwaltungsgerichts auf, da es auf einem unzutreffenden Verständnis des Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (Religionsfreiheit und Recht auf freie Religionsausübung) beruhe. Die Sache wurde an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage des Beschwerdeführers abgewiesen, weil der geplante Besuch der Eheleute Mun keine besondere Bedeutung für die gemeinschaftliche Religionsausübung und keinen spezifisch religiösen Gehalt für die Mitglieder des Beschwerdeführers habe. Damit hat das Gericht seiner Entscheidung eine Gewichtung genuin religiöser Belange aus dem Binnenbereich des Beschwerdeführers zugrunde gelegt, die staatlichen Stellen verwehrt ist. Für die Beantwortung der Frage, welche Bedeutung der persönlichen Begegnung der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft mit ihrem Gründer oder geistlichen Oberhaupt zukommt, kann nur das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft maßgebend sein. Insoweit sind durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Kernfragen der Pflege und Förderung des Glaubens und Bekenntnisses angesprochen, die der Beurteilung durch staatliche Stellen grundsätzlich entzogen sind. Das Besuchsvorhaben der Eheleute Mun diente - jedenfalls auch - dem Kontakt der Gläubigen mit dem Religionsstifter, dem nach dem Selbstverständnis der Vereinigungskirche religiöse Bedeutung zukommt. Angesichts der zentralen Stellung des Religionsstifters für jede auf eine solche Person ausgerichtete Religion hätte es besonderer Hinweise bedurft, um eine davon abweichende Einschätzung zu rechtfertigen. Allerdings kann unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG weder für den Einreisewilligen noch für die an seiner Einreise interessierte Religionsgemeinschaft ein Anspruch auf Einreise abgeleitet werden. Es ist aber geboten, bei der Auslegung der Vorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern das Eigenverständnis der Religionsgemeinschaft so weit wie möglich zu berücksichtigen. Bei der Abwägung zwischen den mit der Ausschreibung im Schengener Informationssystem verfolgten Belangen und den Interessen des Beschwerdeführers ist zu berücksichtigen, dass sich der Gesetzgeber im Rahmen des Schengener Durchführungsübereinkommens insoweit gebunden hat, als die für alle Schengen-Staaten grundsätzlich verbindliche Ausschreibung zur Einreiseverweigerung das Vorliegen von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit voraussetzt. Es liegt nicht auf der Hand, dass Besuchsaufenthalte der Eheleute Mun Gefahren mit sich bringen, die auch bei der Einbeziehung der Interessen des Beschwerdeführers die Anordnung und Aufrechterhaltung der Ausschreibung der Eheleute Mun zur Einreiseverweigerung gerechtfertigt erscheinen lassen. Soweit das Bundesministerium des Innern das öffentliche Interesse an der Einreiseverweigerung aus Widersprüchen zwischen den Glaubensinhalten des Beschwerdeführers und den Wertentscheidungen des Grundgesetzes herleitet, ist darauf hinzuweisen, dass die Religionsgemeinschaften hinsichtlich der von ihnen vertretenen Glaubensinhalte und sonstiger rein interner Angelegenheiten grundsätzlich nicht den für das Verhalten des Staates maßgeblichen Wertvorstellungen des Grundgesetzes verpflichtet sind und außerhalb dieses Bereichs der Wechselwirkung von Religionsfreiheit und Schrankenzweck durch entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen ist.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1908/03 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der V ... e.V.
- Bevollmächtigte:
Aderhold, v. Dalwigk, Knüppel,
Rechtsanwaltsgesellschaft GmbH,
Subbelrather Straße 15 A, 50823 Köln -
gegen
a)
den Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts vom 4. September 2003 - BVerwG
1 B 288.02 -,
b)
das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Juni 2002
- 12 A 10349/99.OVG -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Broß,
die Richterin Lübbe-Wolff
und den Richter Gerhardt
am 24. Oktober 2006 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Rheinland-Pfalz vom 7. Juni 2002 - 12 A 10349/99.OVG -
verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus
Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes und wird
aufgehoben; die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht
zurückverwiesen. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts
vom 4. September 2003 - BVerwG 1 B 288.02 – ist damit
gegenstandslos.
Das Land Rheinland-Pfalz hat dem
Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage
der Reichweite der durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
geschützten Rechte einer religiösen Vereinigung im
Zusammenhang mit einer gegen ihr ausländisches religiöses
Oberhaupt verhängten Einreisesperre.
I.
2
1. Der Beschwerdeführer, ein eingetragener
Verein, wendet sich gegen die Ausschreibung von Herrn Sun
Myung Mun und Frau Hak Ya Han Mun zur Einreiseverweigerung
gemäß Art. 96 Abs. 2 des Übereinkommens zur Durchführung
des Übereinkommens vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen
der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik
Deutschland und der Französischen Republik betreffend den
schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen
(Schengener Durchführungsübereinkommen) vom 19. Juni 1990
(BGBl 1993 II S. 1013).
3
2. Herr Mun ist Gründer der weltweit
vertretenen Vereinigungskirche, deren Anhänger in der
Bundesrepublik Deutschland in dem beschwerdeführenden Verein
organisiert sind. Herr und Frau Mun beabsichtigten Ende 1995,
im Rahmen einer Welttour in die Bundesrepublik einzureisen.
Das Besuchsprogramm sah vor, dass Herr Mun bei einer
Veranstaltung eines dem Beschwerdeführer nahestehenden
Vereins einen Vortrag mit dem Titel "Die wahre Familie und
ich" halten sollte; außerdem wollten Herr und Frau Mun
Gespräche mit ihren Anhängern führen.
4
3. Nachdem es vor dem Hintergrund von Bedenken
gegen Auftreten und Wirken des Beschwerdeführers sowie der
Eheleute Mun zu verschiedenen Anfragen hinsichtlich der
beabsichtigten Reise der Eheleute Mun gekommen war, schrieb
die Grenzschutzdirektion Koblenz auf Bitte des
Bundesministeriums des Innern die Eheleute Mun Ende 1995 für
die Dauer von drei Jahren zur Einreiseverweigerung gemäß
Art. 96 Abs. 2 des Schengener
Durchführungsübereinkommens (SDÜ) aus. Den Eheleuten Mun
wurde bei ihrer kurz darauf erfolgten Ankunft in Paris auf
Grund der Ausschreibung die Einreise verweigert. Die
Ausschreibung wurde fortlaufend, zuletzt im Jahr 2004,
verlängert. Sie führt dazu, dass den Eheleuten Mun die
Einreise in jeden Schengen-Staat verweigert wird, wenn nicht
der betreffende Staat einen Dispens erteilt.
5
4. Das Verwaltungsgericht wies die auf die
Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ausschreibung
gerichtete Klage des Beschwerdeführers mangels Klagebefugnis
als unzulässig ab. Auf die Berufung des Beschwerdeführers
stellte das Oberverwaltungsgericht durch Zwischenurteil die
Zulässigkeit der Klage fest; die Revision hiergegen blieb
erfolglos. Das Bundesverwaltungsgericht führte aus, der
Beschwerdeführer sei klagebefugt, weil jedenfalls für Fragen
der Zulässigkeit der Klage davon auszugehen sei, dass er
Rechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG für sich in Anspruch
nehmen könne. Den ausländerrechtlichen Einreisebestimmungen
komme zwar einfachrechtlich keine Schutzwirkung zugunsten
Dritter zu. Eröffneten diese der Behörde Ermessen, seien bei
dessen Ausübung aber auch durch die zu treffende Entscheidung
berührte verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und
Grundrechte Dritter zu berücksichtigen. Hiermit
korrespondiere ein subjektives Recht des betroffenen
Grundrechtsträgers. Angesichts der Weite des Schutzbereichs
der Religionsausübungsfreiheit und wegen der grundsätzlich
nicht bestehenden selbstständigen Rechtsposition der
Religionsgemeinschaft im ausländerrechtlichen Verfahren ihres
religiösen Oberhaupts bestehe die Pflicht des Staates zur
Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der
Religionsgemeinschaft allerdings nur, sofern die
Einreiseverweigerung religiöse Belange der Gemeinschaft nach
deren eigenem Verständnis nicht unerheblich beeinträchtige.
Ob tatsächlich ein subjektives Recht des Beschwerdeführers
auf Berücksichtigung seiner Interessen im Rahmen der
ausländerrechtlichen Entscheidung bestehe und welche Folgen
sich hieraus ergäben, sei im Rahmen der Begründetheit der
Klage zu prüfen.
6
5. Das Oberverwaltungsgericht wies die Klage
ab. Dem Besuch der Eheleute Mun komme nach der Theologie der
Vereinigungskirche keine besondere Bedeutung für die
gemeinschaftliche Religionsausübung zu. Die gemeinsame
Religionsausübung sei auch ohne persönliche Begegnungen wie
die vorgesehene uneingeschränkt möglich. Seine Bedeutung
erhalte der Besuch der Eheleute Mun für die Mitglieder des
Beschwerdeführers vielmehr dadurch, dass er für diese ein von
der Ausstrahlung und der Persönlichkeit des Herrn Mun
geprägtes außerordentliches Erlebnis gemeinschaftlicher
Begegnung darstelle. Es sei zwar nachvollziehbar, dass die
Gläubigen der auf Herrn Mun ausgerichteten Religion einem
persönlichen Treffen mit ihm und seiner Ehefrau einen hohen
Stellenwert beimäßen und dieser auf die Mitglieder des
Beschwerdeführers inspirierend wirke, Begeisterung entfache
und Optimismus verbreite. Diese Effekte hätten aber keinen
spezifisch religiösen Gehalt, z.B. in Gestalt eines
Offenbarungserlebnisses, sondern seien solche, die sich mit
jeder Begegnung mit einem geistlichen Oberhaupt einer Kirche
verbänden.
7
6. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der
Revision stützten die Beschwerdeführer auf die grundsätzliche
Bedeutung der Frage, ob ein Anspruch des Beschwerdeführers
aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eine - im Vergleich zu
anderen Religionsgemeinschaften - besondere Bedeutung der
Begegnung zwischen dem religiösen Oberhaupt und den
Mitgliedern voraussetze und die "nur übliche" Bedeutung des
Besuchs des kirchlichen Oberhaupts nicht ausreiche. Im
Übrigen komme der persönlichen Begegnung der Mitglieder des
Beschwerdeführers mit ihrem religiösen Führer eine besondere
Bedeutung zu, die das Oberverwaltungsgericht nicht in Abrede
stelle und die allein religiös begründet sei.
8
7. Das Bundesverwaltungsgericht verwarf die
Beschwerde. Im Zusammenhang mit der Verweigerung der Einreise
für einen Ausländer bestehe eine Pflicht des Staates und ein
korrespondierendes Recht der Religionsgemeinschaft auf
Berücksichtigung der Interessen der Religionsgemeinschaft
nur, wenn mit der Verweigerung der Einreise religiöse Belange
der Glaubensgemeinschaft nicht unerheblich beeinträchtigt
würden. Ob dies der Fall sei, könne nur im jeweiligen
Einzelfall - hier anhand des Charakters des geplanten
Besuchs, der zu der Einreiseverweigerung geführt habe -
beurteilt werden. Die angegriffene Entscheidung lege zwar
Rechtsgrundsätze zu Grunde, die von der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts abwichen und zu hohe Anforderungen
stellten. Das angegriffene Urteil beruhe hierauf aber nicht,
weil auch bei zutreffender Anwendung der vom
Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstäbe mangels
entsprechender Darlegungen eine spezifisch religiöse
Bedeutung des im Herbst 1995 geplanten Besuches nicht
angenommen werden könne.
II.
9
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 4 Abs. 1 und 2
und Art. 19 Abs. 4 GG.
10
1. Ziel der erhobenen Klage sei die
Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ausschreibung zur
Einreiseverweigerung insgesamt gewesen; diesem
Rechtsschutzziel würden die allein auf den im Herbst 1995
geplanten Besuch abstellenden Entscheidungen des
Oberverwaltungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts
nicht gerecht.
11
2. Dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts
liege ebenso wie dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts ein
Maßstab zugrunde, der Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht
gerecht werde. Bei Anwendung des zutreffenden Maßstabs hätte
das Bundesverwaltungsgericht das Berufungsurteil aufheben
müssen. Das im Herbst 1995 geplante Treffen habe eine
spezifisch religiöse Dimension gehabt. Das Grundgesetz
schütze nicht nur das Haben einer religiösen Überzeugung,
sondern auch die freie Entfaltung bei der Ausübung der
Religion. Hierzu zähle auch und gerade der persönliche
Kontakt mit religiösen Oberhäuptern. Die besondere Bedeutung
eines persönlichen Zusammentreffens sei im vorliegenden Fall
offenkundig, weil Herr Mun der Gründer der Vereinigungskirche
und nach deren Glaubensinhalten der Messias sei. Die
Möglichkeit, den Religionsführer im Ausland zu treffen,
stelle kein Äquivalent für dessen Besuch dar. Eine Begrenzung
des Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auf einen
Kernbereich der Religionsausübung sei (auch) in diesem
Zusammenhang unzulässig. Der Beschwerdeführer habe keinen
Anlass gehabt, auf die besondere Bedeutung des geplanten
Treffens für ihn in Abgrenzung zu seinen Mitgliedern
einzugehen, weil das Bundesverwaltungsgericht selbst in
seiner vorangegangenen Entscheidung insoweit keine
Differenzierung vorgenommen habe.
12
3. Eine Rechtfertigung für den Eingriff in den
Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sei nicht
erkennbar. Die Verweigerung eines Kurzbesuchs komme nur in
Betracht, wenn hierfür Gründe des öffentlichen Wohls
sprächen, die so gewichtig seien, dass sie vor Art. 4
Abs. 1 und 2 GG Bestand hätten. Der Vortrag der Beklagten im
Ausgangsverfahren habe sich jedoch auf Gerüchte und
Vermutungen beschränkt. Einzubeziehen sei in die Würdigung
auch der negative Einfluss, den die Einreiseverweigerung auf
das Ansehen des Beschwerdeführers habe.
III.
13
Das Bundesministerium des Innern hält bereits
das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers für nicht
gegeben, weil Herr Mun selbst sich - jedenfalls in einem
Hauptsacheverfahren - nicht gegen seine Ausschreibung im
Schengener Informationssystem gewandt habe. Der Schutzbereich
des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sei jedenfalls hinsichtlich
des Beschwerdeführers nicht betroffen, weil dem im Jahr 1995
geplanten Besuch der Eheleute Mun die erforderliche
spezifisch religiöse Dimension gefehlt habe. Insoweit sei
zwar auf die Inhalte der jeweiligen Glaubenslehre
abzustellen; dies bedeute aber nicht, dass auf einen objektiv
nachvollziehbaren religiösen Bezug des jeweiligen Verhaltens
verzichtet werden könne. Ein solcher fehle, wie das
Oberverwaltungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht
zutreffend festgestellt hätten. Selbst wenn davon ausgegangen
werde, dass der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
betroffen sei, könne die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg
haben, weil die den Beschwerdeführer nur mittelbar treffende
Ausschreibung der Eheleute Mun im Schengener
Informationssystem verfassungsrechtlich gerechtfertigt sei.
Die zuständigen Stellen hätten das ihnen bei Fragen der
Einreise zukommende weite Ermessen in vertretbarer Weise
ausgeübt. Die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung sei auf
problematische Inhalte der Lehre der Vereinigungskirche
gestützt. Insbesondere stehe diese im Widerspruch zu den in
Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 2 GG sowie in
Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 WRV
zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen des Grundgesetzes.
Gewichtige religiöse Gründe für den Besuch der Eheleute Mun
hätten demgegenüber nicht bestanden. Die Einreiseverweigerung
wirke auch weder stigmatisierend noch beeinträchtige sie das
(sonstige) Wirken des Beschwerdeführers. Sie sei auch deshalb
gerechtfertigt, weil der Staat mit ihr den gegenüber seinen
Bürgern bestehenden Schutzpflichten nachkomme, die sich im
vorliegenden Fall insbesondere aus Art. 6 Abs. 1 und
Art. 3 Abs. 2 GG ergäben.
B.
14
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur
Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90
Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers
angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
Verfassungsbeschwerde ist zulässig; insbesondere kann dem
Beschwerdeführer, dem es gerade um die Durchsetzung eigener
geschützter Interessen geht, das Rechtsschutzinteresse nicht
mit Blick auf die Nichtwahrnehmung von
Rechtsschutzmöglichkeiten durch Herrn Mun abgesprochen
werden. Die Verfassungsbeschwerde ist - in einer die
Entscheidungszuständigkeit der Kammer begründenden Weise
(§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) - auch offensichtlich
begründet; die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
15
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts
verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
16
1. Der Beschwerdeführer kann sich als
religiöse Vereinigung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
berufen.
17
a) Vereinigungen, deren Zweck die Pflege oder
Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündung
des Glaubens ihrer Mitglieder ist, können Träger des
Grundrechts aus Art. 4 GG sein (vgl. BVerfGE 102, 370
<383>; 105, 279 <293>). Art. 4 Abs. 1 und 2
GG schützt auch die Freiheit des organisatorischen
Zusammenschlusses zum Zweck des gemeinsamen öffentlichen
Bekenntnisses (BVerfGE 19, 129 <132>; 42, 312
<323>; 70, 138 <161>; 99, 100 <118>; 102,
370 <383>; 105, 279 <293>). Voraussetzung hierfür
ist allerdings, dass die Eigenschaft einer
Religionsgemeinschaft nicht nur behauptet wird, sondern es
sich bei dem Bekenntnis und der Gemeinschaft auch tatsächlich
nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild um eine
Religion und eine Religionsgemeinschaft handelt (BVerfGE 83,
341 <353>).
18
b) Der Beschwerdeführer widmet sich nach den
Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts - jedenfalls auch
- der gemeinsamen Pflege der Lehren des Herrn Mun, die sowohl
das Oberverwaltungsgericht als auch das
Bundesverwaltungsgericht als Religion eingeordnet haben.
Bedenken hiergegen bestehen nicht. Es ist
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die
Fachgerichte eine Überzeugung, die Ziele des menschlichen
Seins aufstellt, den Menschen im Kern seiner Persönlichkeit
anspricht und auf umfassende Weise den Sinn der Welt und des
menschlichen Lebens zu erklären beansprucht, wie es bei dem
vom Beschwerdeführer vertretenen Glauben der Fall ist, dem
Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unterstellen (vgl.
BVerfGE 105, 279 <293> für die Osho-Bewegung). Dass der
Beschwerdeführer daneben möglicherweise auch andere -
insbesondere wirtschaftliche - Zwecke verfolgt, steht dieser
Einordnung nicht entgegen (vgl. BVerfGE 105, 279
<293>).
19
2. Die im Ausgangsverfahren angegriffene
Maßnahme berührt den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und
2 GG.
20
a) Der einer Religionsgemeinschaft zukommende
Grundrechtsschutz umfasst das Recht zu eigener
weltanschaulicher oder religiöser Betätigung, zur
Verkündigung des Glaubens sowie zur Pflege und Förderung des
Bekenntnisses. Hierzu gehören nicht nur kultische Handlungen
sowie die Beachtung und Ausübung religiöser Gebote und
Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten,
Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen, Zeigen von
Kirchenfahnen und Glockengeläut, sondern auch religiöse
Erziehung, Feiern und andere Äußerungen des religiösen und
weltanschaulichen Lebens sowie allgemein die Pflege und
Förderung des jeweiligen Bekenntnisses (vgl. BVerfGE 19, 129
<132>; 24, 236 <246 f.>; 53, 366
<387>; 105, 279 <293 f.>). Welche Handlungen
im Einzelnen erfasst sind, bestimmt sich wesentlich nach der
Eigendefinition der Religionsgemeinschaft; denn Teil der
grundrechtlich gewährleisteten Glaubensfreiheit ist auch und
gerade, dass eine staatliche Bestimmung genuin religiöser
Fragen unterbleibt (vgl. BVerfGE 102, 370 <394>; s.
ferner BVerfGE 12, 1 <4>; 18, 385 <386 f.>;
24, 236 <247 f.>; 41, 65 <84>; 42, 312
<332>; 53, 366 <392 f., 401>; 72, 278
<294>; 74, 244 <255>; 102, 370 <394>).
21
Soweit der Schutzbereich des Grundrechts aus
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG im Schrifttum mit Hilfe von
Erheblichkeitskriterien restriktiv gefasst wird (vgl. Jarass,
in: Jarass/Pieroth, GG, 8. Aufl. 2006, Art. 4 Rn. 15;
Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2000,
Art. 4 Rn. 56; Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den
Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft,
in: Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 149
<157 ff.>), betreffen diese Erwägungen vor allem
Betätigungen, mit denen die Religionsgemeinschaft über den
Kreis ihrer Mitglieder hinaus in die Gesellschaft
hineinwirkt. Ob und inwieweit ihnen zu folgen sein könnte,
bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Denn hier
geht es um eine Frage, die den Bereich der
innergemeinschaftlichen Pflege und Betätigung des vom
Beschwerdeführer vertretenen Glaubens betrifft. Für die
Beantwortung der Frage, welche Bedeutung der persönlichen
Begegnung der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft mit
ihrem Gründer und geistlichem Oberhaupt zukommt, kann, von
offensichtlich außerreligiösen Begegnungszusammenhängen
abgesehen, nur das Selbstverständnis der jeweiligen
Religionsgemeinschaft maßgebend sein. Insoweit sind durch
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Kernfragen der Pflege
und Förderung des Glaubens und Bekenntnisses angesprochen,
die "mangels Einsicht und geeigneter Kriterien" (BVerfGE 102,
370 <394>) der Beurteilung durch staatliche Stellen
grundsätzlich entzogen sind. Auch wenn bei Betrachtung von
außen ein Zusammenhang mit der Religionsausübung nicht
zwingend erscheint, ist es dem Staat verwehrt, eigene
Bewertungen und Gewichtungen diesbezüglicher Vorgänge an die
Stelle derjenigen der Religionsgemeinschaft zu setzen.
Dementsprechend kann auch nicht darauf abgestellt werden, ob
die beanstandete staatliche Maßnahme der
Religionsgemeinschaft bzw. ihren Anhängern die Ausübung ihrer
Religion gänzlich oder wesentlich unmöglich macht. Abgesehen
davon, dass die Anlegung eines solchen Maßstabs eine
inhaltliche Bewertung religiöser Fragen erzwänge, führte dies
zu einem mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht zu
vereinbarenden Schutz lediglich eines "religiösen
Existenzminimums". Welche äußersten Grenzen der
Definitionsmacht der Religionsgemeinschaften gesetzt sind,
bedarf hier keiner Erörterung.
22
b) Das zu dem Einreiseverbot Anlass gebende
Besuchsvorhaben der Eheleute Mun gründete nach den
Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts in der vom
Beschwerdeführer vertretenen Religion. Es diente - jedenfalls
auch - dem Kontakt der Gläubigen mit dem Religionsstifter,
dem nach dem Selbstverständnis der Vereinigungskirche
religiöse Bedeutung zukommt. Angesichts der zentralen
Stellung des Religionsstifters für jede auf eine solche
Person ausgerichtete Religion hätte es besonderer, hier nicht
festgestellter Hinweise – etwa auf einen rein touristischen
Charakter des Aufenthalts - bedurft, um eine davon
abweichende Einschätzung zu rechtfertigen. Das Einreiseverbot
berührt demnach den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
23
3. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts
beruht auf einem unzutreffenden Verständnis des
Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
24
a) Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage
des Beschwerdeführers abgewiesen, weil der im Herbst 1995
geplante Besuch der Eheleute Mun keine besondere Bedeutung
für die gemeinschaftliche Religionsausübung und keinen
spezifisch religiösen Gehalt für die Mitglieder des
Beschwerdeführers habe. Das Oberverwaltungsgericht hat seiner
Entscheidung damit eine Gewichtung genuin religiöser Belange
aus dem Binnenbereich des Beschwerdeführers zugrunde gelegt,
die, wie dargelegt, staatlichen Stellen verwehrt ist. Darin
liegt ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
25
b) Das angegriffene Urteil beruht auch auf
diesem Grundrechtsverstoß.
26
aa) Der grundrechtliche Schutz der
Religionsgemeinschaften führt allerdings nicht dazu, dass
diese von den Regelungen des für alle geltenden Rechts von
vornherein ausgenommen sind. Auch kann unmittelbar aus
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG weder für den Einreisewilligen
noch für die an seiner Einreise interessierte
Religionsgemeinschaft ein Anspruch auf Einreise abgeleitet
werden. Insofern kann für Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nichts
anders gelten als für andere grundrechtlich geschützte
Positionen wie z.B. solche aus Art. 6 Abs. 1 GG (vgl.
hierzu BVerfGE 76, 1 <47, 49 ff.>). Es ist jedoch
geboten, bei der Auslegung und Handhabung der
einfachrechtlichen Vorschriften über die Einreise und den
Aufenthalt von Ausländern, die hier eine visumsfreie Einreise
vorsehen und den vorübergehenden Aufenthalt damit
grundsätzlich gestatten, das Eigenverständnis der
Religionsgemeinschaft, soweit es in dem Bereich der durch
Art. 4 Abs. 1 GG gewährleisteten Glaubens- und
Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der durch Art. 4
Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung verwirklicht, so weit
wie möglich zu berücksichtigen (BVerfGE 83, 341 <356>;
ähnlich bereits BVerfGE 24, 236 <251>; 53, 366
<401>, vgl. auch Bundesverwaltungsgericht, Beschluss
vom 4. Juli 1996 - 11 B 23/96 -, NJW 1997, S. 406
<407>).
27
bb) Das Oberverwaltungsgericht hat, von seinem
Rechtsstandpunkt aus konsequent, die Voraussetzungen einer
Ausschreibung zur Einreiseverweigerung nicht geprüft. Das
Ergebnis der bei zutreffender Bestimmung der Reichweite des
durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Schutzes
vorzunehmenden Abwägung zwischen den mit der Ausschreibung im
Schengener Informationssystem verfolgten Belangen und den
Interessen des Beschwerdeführers ist nicht in einer Weise
deutlich absehbar, die es dem Bundesverfassungsgericht
erlauben könnte, von der Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung und Zurückverweisung der Sache abzusehen. Zu
berücksichtigen ist zunächst, dass sich der Gesetzgeber im
Rahmen des Schengener Durchführungsübereinkommens über
§ 60 Abs. 3 in Verbindung mit § 7 Abs. 2 Nr. 3
AuslG (jetzt § 15 Abs. 3 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 3
AufenthG) hinaus insoweit gebunden hat, als die für alle
Schengen-Staaten grundsätzlich verbindliche Ausschreibung zur
Einreiseverweigerung nach Art. 96 Abs. 2 SDÜ das
Vorliegen von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung oder die nationale Sicherheit voraussetzt. Aus den in
Art. 96 Abs. 2 Satz 2 SDÜ aufgeführten Beispielen für
die Annahme derartiger Gefahren, die auf begangene oder zu
befürchtende Straftaten des Ausländers Bezug nehmen, folgt
zugleich, dass die mit der Anwesenheit des Ausländers
verbundene Gefahr eine gewisse Erheblichkeit haben muss. Es
ist bereits nicht offenkundig, dass ein Besuch der Eheleute
Mun ein derartiges Gefahrenpotential birgt. Erst recht liegt
nicht auf der Hand, dass Besuchsaufenthalte der Eheleute Mun
Gefahren mit sich bringen, die auch bei der gebotenen
Einbeziehung der Interessen des Beschwerdeführers die
Anordnung und Aufrechterhaltung der Ausschreibung der
Eheleute Mun zur Einreiseverweigerung gerechtfertigt
erscheinen lassen. Ob und inwieweit auch § 60 Abs. 3 in
Verbindung mit § 7 Abs. 2 Nr. 3 AuslG (jetzt § 15
Abs. 3 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) angesichts der
in Art. 20 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1
Buchstabe d) und e) SDÜ getroffenen Regelung für eine nur
national wirkende Einreiseverweigerung einschränkend
ausgelegt werden müsste, kann dahinstehen, weil Gegenstand
des Ausgangsverfahrens allein die auf der Grundlage des
Art. 96 Abs. 2 SDÜ getroffene Maßnahme ist. Soweit das
Bundesministerium des Innern das öffentliche Interesse an der
Einreiseverweigerung aus Widersprüchen zwischen den
Glaubensinhalten des Beschwerdeführers und den
Wertentscheidungen des Grundgesetzes herleitet, ist darauf
hinzuweisen, dass die Religionsgemeinschaften hinsichtlich
der von ihnen vertretenen Glaubensinhalte und sonstiger rein
interner Angelegenheiten grundsätzlich nicht den für das
Verhalten des Staates maßgeblichen Wertvorstellungen des
Grundgesetzes verpflichtet sind (vgl. BVerfGE 102, 370
<394 f.>) und außerhalb dieses Bereichs der
Wechselwirkung von Religionsfreiheit und Schrankenzweck durch
entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen ist (vgl.
BVerfGE 72, 278 <289>).
II.
28
Soweit der Beschwerdeführer einen Verstoß
gegen Art. 19 Abs. 4 GG darin sieht, dass
Oberverwaltungsgericht und Bundesverwaltungsgericht sein
Rechtsschutzziel verfehlt hätten, indem sie allein auf den im
Herbst 1995 geplanten, den Anlass für die Ausschreibung zur
Einreiseverweigerung gebenden Besuch abgestellt hätten,
bedarf es keiner Entscheidung. Der Beschwerdeführer kann sein
Rechtsschutzanliegen nach der aus Sachgründen erfolgten
Zurückverweisung an das Oberverwaltungsgericht vor diesem
weiterverfolgen.
III.
29
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung
beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
30
Diese Entscheidung ist unanfechtbar
(§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Broß
Lübbe-Wolff
Gerhardt | bundesverfassungsgericht |
3-2012 | 19. Januar 2012 | Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen gesetzliches Sonnenstudio-Verbot für Minderjährige
Pressemitteilung Nr. 3/2012 vom 19. Januar 2012
Beschluss vom 21. Dezember 20111 BvR 2007/10
Die am 4. August 2009 in Kraft getretene Vorschrift des § 4 des Gesetzes zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung bei der Anwendung am Menschen (NiSG) bestimmt, dass Minderjährigen die Nutzung von Sonnenbänken in Sonnenstudios, ähnlichen Einrichtungen oder sonst öffentlich zugänglichen Einrichtungen nicht gestattet werden darf.
Die 1994 geborene Beschwerdeführerin zu 1. nutzt gelegentlich öffentliche Solarien und sieht sich durch die Verbotsregelung in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt. Ihre Eltern, die Beschwerdeführer zu 2. und 3., rügen die Verletzung ihres Elterngrundrechts, weil der nach ihrer Ansicht unverhältnismäßige Eingriff sie daran hindere, ihrer Tochter die Solariennutzung zu erlauben. Der Beschwerdeführer zu 4. ist Betreiber eines Sonnenstudios und macht im Wesentlichen eine Verletzung seiner Berufsfreiheit geltend. Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen nicht vorliegen. Die Beschwerdeführer sind durch das Verbot der öffentlichen Solariennutzung für Minderjährige nicht in ihren Grundrechten verletzt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Die Beschwerdeführerin zu 1. wird durch das Nutzungsverbot nicht in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt, weil der Grundrechtseingriff gerechtfertigt ist. Die Regelung verfolgt das legitime Ziel, Minderjährige vor UV-Strahlung zu schützen, die nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Einschätzung des Gesetzgebers gerade im jugendlichen Alter Schäden an den Hautzellen verursachen kann, die zu Hautkrebs führen. Im Hinblick auf dieses wichtige Gemeinschaftsanliegen ist das Nutzungsverbot verhältnismäßig. Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass der Ausschluss dieser - neben der natürlichen UV-Strahlung durch die Sonne - zusätzlichen Bestrahlungsmöglichkeit geeignet ist, eine deutliche Reduzierung der auf Kinder und Jugendliche einwirkenden UV-Strahlung zu erreichen. Die Regelung ist zur Verfolgung des angestrebten Ziels auch erforderlich. Angesichts des dem Gesetzgeber im Bereich der Gefahrenverhütung zustehenden Beurteilungsspielraums ist seine auf wissenschaftlichen Untersuchungen beruhende Einschätzung nicht zu beanstanden, dass UV-Strahlung im Allgemeinen und bei Kindern und Jugendlichen im Besonderen eine für die Haut negative Wirkung vor allem im Hinblick auf die Entstehung und den Verlauf von Hautkrebs hat. Durch das Verbot der Benutzung von Sonnenstudios wird den Minderjährigen auch keine unzumutbare Einschränkung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit auferlegt. Das Verbot wirkt nur eingeschränkt, da den Minderjährigen die Möglichkeit des "Sonnenbadens" im Freien und der Nutzung privater Solarien bleibt. Andererseits ist der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit für die betroffenen Minderjährigen keineswegs belanglos. Ihnen wird die Dispositionsbefugnis über die Gestaltung ihres Aussehens und ihrer Freizeitgestaltung teilweise genommen, ohne dass es sich dabei um ein gemeinwohlschädliches Verhalten handelt. Zudem verfolgt die angegriffene Verbotsregelung mit dem Schutz vor selbstschädigendem Verhalten ein Ziel, das nur in besonders gravierenden Fällen in der Abwägung mit einem Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zu bestehen vermag. Denn diese umfasst gerade auch im Freizeitbereich die Freiheit, Handlungen vorzunehmen, die gesundheitliche Risiken mit sich bringen. Anderes gilt jedoch im Bereich des Jugendschutzes, der als Rechtfertigungsgrund für Grundrechtseingriffe im Grundgesetz ausdrücklich anerkannt ist. Das verfassungsrechtlich bedeutsame Interesse an einer ungestörten Entwicklung der Jugend berechtigt den Gesetzgeber zu Regelungen, durch welche der Jugend drohende Gefahren abgewehrt werden. Da Aufklärungskampagnen und freiwillige Selbstverpflichtungen bislang nicht den gewünschten Erfolg hatten, musste der Gesetzgeber nicht davon ausgehen, dass Minderjährige schon vor der Vollendung des 18. Lebensjahres die notwendige Einsichtsfähigkeit haben, den Besuch von Sonnenstudios und ähnlichen Einrichtungen aus freien Stücken zu unterlassen.
2. Der durch das Sonnenstudio-Verbot bewirkte Eingriff in das nach Art. 6 Abs. 2 GG grundrechtlich geschützte Erziehungsrecht der Beschwerdeführer zu 2. und 3. ist ebenfalls gerechtfertigt. Es bleibt den Eltern unbenommen, ihrem Kind im privaten Lebensbereich den Zugang zu einer UV-Bestrahlung zu eröffnen, wenn sie dies für verantwortbar und richtig halten. Angesichts der daher geringen Eingriffsintensität durfte der Gesetzgeber sich auf ein umfassendes, nicht nach Altersgruppen und daran anknüpfende Einverständnispflichten differenzierendes und damit für alle Beteiligten leicht praktikables Verbot entscheiden.
3. Schließlich ist auch der Beschwerdeführer zu 4. durch das Nutzungsverbot von Sonnenstudios für Minderjährige nicht in seinem Grundrecht auf freie Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. In Anbetracht der hohen Bedeutung des Jugendschutzes und der vom Gesetzgeber vertretbar eingeschätzten Gefahr, die Kindern und Jugendlichen durch die Nutzung von Sonnenbänken droht, erweist sich die mit der Regelung verbundene Einschränkung der Berufsausübung für die Betreiber von Sonnenstudios ebenfalls nicht als unverhältnismäßig.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2007/10 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. der Mdj. Sch...,
2. der Frau Sch...,
3. des Herrn Dr. Sch...,
4. des Herrn Sch...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Markus Deutsch in Sozietät
Rechtsanwälte Dolde Mayen & Partner,
Mildred-Scheel-Straße 1, 53175 Bonn -
gegen
§ 4 des Gesetzes zum
Schutz vor nichtionisierender Strahlung bei der Anwendung
am Menschen (NiSG) vom 29. Juli 2009 (BGBl I S.
2433)
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 21. Dezember 2011 einstimmig
beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen
den mit dem Gesetz zur Regelung des Schutzes vor
nichtionisierender Strahlung vom 29. Juli 2009 (BGBl I
S. 2433) eingeführten § 4 des Gesetzes zum Schutz
vor nichtionisierender Strahlung bei der Anwendung am
Menschen (NiSG). Die Vorschrift bestimmt, dass Minderjährigen
die Nutzung von Sonnenbänken in Sonnenstudios, ähnlichen
Einrichtungen oder sonst öffentlich zugänglichen
Einrichtungen nicht gestattet werden darf. Zuwiderhandlungen
gegen die Vorschrift sind mit einem Bußgeld bedroht (§ 8
Abs. 1 Nr. 4 NiSG). Sie lautet:
2
„§ 4
3
Nutzungsverbot für Minderjährige
4
Die Benutzung von Anlagen nach § 3 zur
Bestrahlung der Haut mit künstlicher ultravioletter Strahlung
in Sonnenstudios, ähnlichen Einrichtungen oder sonst
öffentlich zugänglichen Räumen darf Minderjährigen nicht
gestattet werden.“
5
Zur Begründung führt der Gesetzgeber an, dass
das Risiko, im Erwachsenenalter an Hautkrebs zu erkranken,
steige, wenn Menschen bereits in Kindheit und Jugend
verstärkt der ultravioletten Strahlung (UV-Strahlung)
ausgesetzt gewesen seien. Bei Kindern und Jugendlichen, die
schon früh eine erhöhte Anzahl an UV-bedingten Pigmentmalen
erworben hätten, steige das Risiko einer Melanomentstehung,
wenn sie sich neben natürlicher UV-Strahlung (Sonne)
zusätzlich künstlicher UV-Strahlung aussetzten. Schäden an
Hautzellen, die zu Hautkrebs führen könnten, würden vor allem
im Jugendalter angelegt, wenn sich die Haut noch entwickele
(BTDrs. 16/12276, S. 17).
II.
6
1. Die am 2. Juni 1994 geborene
Beschwerdeführerin zu 1) nutzt gelegentlich - im
Einverständnis mit ihren Erziehungsberechtigten -
Solarien und möchte dies auch weiterhin tun. Sie rügt eine
Verletzung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus
Art. 2 Abs. 1 GG.
7
Es gebe keine allgemeine Pflicht der
Verfassung, gesund oder vernünftig zu leben. Weiter fehle es
auch an einer Beeinträchtigung von Grundrechten Dritter. Die
möglicherweise auf die Allgemeinheit zukommenden
Gesundheitskosten, unterstellt die Nutzung künstlicher
UV-Bestrahlung hätte tatsächlich langfristig
gesundheitsgefährdende Wirkung, rechtfertigten das Verbot
nicht. Auch die Verpflichtung des Staates zum Schutze von
Jugendlichen rechtfertige den Eingriff nicht, soweit es sich
um ein grundsätzliches Verbot der Solariennutzung für alle
Minderjährigen handele.
8
Das Verbot sei ungeeignet zur Erreichung des
gesetzgeberischen Ziels, da damit zu rechnen sei, dass sich
die Betroffenen verstärkt der natürlichen UV-Strahlung durch
die Sonne aussetzten, die in ihrer Wirkungsweise der
künstlichen UV-Strahlung gleich stehe. Zudem sei das
gesetzgeberische Schutzkonzept deshalb nicht schlüssig, weil
die Nutzung von Solarien im privaten oder häuslichen Umfeld
nicht unterbunden werde.
9
Der Gesetzgeber habe nicht hinreichend
zwischen der Schwere des Eingriffs, dem Gewicht der
rechtfertigenden Gründe und den Grenzen der Zumutbarkeit für
die Betroffenen abgewogen. Es gebe auch positive Wirkungen
der UV-Strahlung im Zusammenhang mit der Bildung von Vitamin
D.
10
2. Die Beschwerdeführer zu 2) und 3) sind die
Eltern der Beschwerdeführerin zu 1). Sie sehen sich durch das
Verbot daran gehindert, ihrer Tochter den Besuch öffentlicher
Solarien zu erlauben und rügen die Verletzung ihres
Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, weil
der Eingriff nicht verhältnismäßig sei.
11
Ein milderes Mittel stelle die Möglichkeit
dar, die Nutzung öffentlich zugänglicher Solarien durch
Minderjährige von einer ausdrücklichen Erlaubnis der Eltern
oder davon abhängig zu machen, dass Eltern ihre Kinder
begleiten. Dadurch werde im Ergebnis das gleiche Schutzniveau
erreicht.
12
3. Der Beschwerdeführer zu 4) ist Betreiber
eines Sonnenstudios, dessen Kunden in der Vergangenheit
teilweise Jugendliche im Alter ab etwa 16 gewesen seien.
Durch den Wegfall dieses Kundenanteils aufgrund des Verbots
sei der Umsatz des Betriebs nicht unerheblich
zurückgegangen.
13
Der Beschwerdeführer zu 4) rügt zunächst die
Verletzung seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1
GG. Er hält das Verbot im Wesentlichen aus den gleichen
Erwägungen wie die anderen Beschwerdeführer für
unverhältnismäßig. Zudem macht er eine Verletzung seines
Grundrechts auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1
GG geltend.
III.
14
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen. Sie hat keine grundsätzliche
Bedeutung im Sinne von § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG,
da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen geklärt
sind, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt.
15
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch
nicht zur Durchsetzung der in § 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt, denn
sie hat keine Aussicht auf Erfolg.
16
1. Die Beschwerdeführerin zu 1) wird durch das
Nutzungsverbot in § 4 NiSG nicht in ihrer allgemeinen
Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.
Der Eingriff ist gerechtfertigt.
17
a) Der Schutzbereich von Art. 2
Abs. 1 GG ist gegenständlich nicht beschränkt, er
umfasst jedes menschliche Verhalten ohne Rücksicht darauf,
welches Gewicht ihm für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt
(vgl. BVerfGE 80, 137 <152>; 90, 145 <171>; 91,
335 <338>). So umschließt die allgemeine
Handlungsfreiheit die prinzipielle Befugnis, sein Äußeres
nach eigenem Gutdünken zu gestalten (vgl. BVerfGE 47, 239
<248 f.>). Auch ein Verhalten, das Risiken für die
eigene Gesundheit oder gar deren Beschädigung in Kauf nimmt,
ist vom Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit geschützt
(vgl. BVerfGE 59, 275 <278>
- Schutzhelmpflicht -; 90, 145 <171>
- Cannabiskonsum -; BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Juli 1986 - 1 BvR
331/85 u.a. -, NJW 1987, S. 180 <180> -
Gurtanlegepflicht -; Beschluss der 1. Kammer des Ersten
Senats vom 11. August 1999 - 1 BvR 2181/98 u.a. -, NJW 1999,
S. 3399 <3402> - Organentnahme -).
18
§ 4 NiSG richtet sein Verbot zwar nicht
unmittelbar gegen Minderjährige, sondern wendet sich in
erster Linie an Betreiber von Sonnenstudios und ähnlichen
Einrichtungen. Die Vorschrift wirkt sich im Ergebnis aber
auch für die Beschwerdeführerin zu 1) wie ein Verbot der
Nutzung von Solarien aus und ist damit funktionales
Äquivalent (vgl. BVerfGE 105, 279 <300>; 110, 177
<191>; 113, 63 <76>) eines Eingriffs in die
allgemeine Handlungsfreiheit.
19
b) Der Eingriff durch § 4 NiSG in die
allgemeine Handlungsfreiheit ist gerechtfertigt. Die Regelung
verfolgt ein legitimes Ziel (aa) und erweist sich als
verhältnismäßig (bb).
20
aa) Der Gesetzgeber verfolgt mit dem Gesetz
zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung bei der Anwendung
am Menschen das Ziel, die Bevölkerung - insbesondere
Minderjährige - vor UV-Strahlung zu schützen, da eine
Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen nach seiner
Auffassung belegt, dass diese sowohl die Hautkrebsentstehung
als auch den Verlauf einer bestehenden Hautkrebserkrankung
entscheidend beeinflusst. UV-Strahlung werde von
internationalen Organisationen als karzinogen eingestuft
(vgl. BTDrs. 16/12276, S. 8). Besonders empfindlich
reagiert dabei nach Einschätzung des Gesetzgebers die Haut
bei Jugendlichen. Schäden an den Hautzellen, die zu Hautkrebs
führen könnten, würden vor allem im Jugendalter angelegt,
wenn sich die Haut noch entwickele (vgl. BTDrs. 16/12276,
S. 17). § 4 NiSG soll offensichtlich gerade dem
Gesundheitsschutz der Minderjährigen dienen.
21
Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts ist es grundsätzlich ein legitimes
Gemeinwohlanliegen, Menschen davor zu bewahren, sich selbst
leichtfertig einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen
(vgl. BVerfGE 60, 123 <132>; BVerfG, Beschluss der 1.
Kammer des Ersten Senats vom 11. August 1999 - 1 BvR 2181/98
u.a. -, NJW 1999, S. 3399 <3401>). Insbesondere
der Schutz der Jugend ist nach einer vom Grundgesetz selbst
getroffenen Wertung ein Ziel von bedeutsamem Rang und ein
wichtiges Gemeinschaftsanliegen (vgl. BVerfGE 83, 130
<139>).
22
bb) Das Nutzungsverbot ist zur Verfolgung
dieses Ziels auch geeignet (1), erforderlich (2) und
verhältnismäßig im engeren Sinne (3).
23
(1) Für die Eignung reicht es aus, wenn durch
die Maßnahme der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Es
genügt mithin bereits die Möglichkeit einer Zweckerreichung
(vgl. BVerfGE 96, 10 <23>; 100, 313 <373>; 103,
293 <307>; 117, 163 <188 f.>). Dass das
Verbot des § 4 NiSG die UV-Strahlenexposition von
Kindern und Jugendlichen generell verringern kann, ist nicht
ernstlich zweifelhaft.
24
Die Beschwerdeführer weisen darauf hin, dass
sich Jugendliche aufgrund des Verbots verstärkt der
natürlichen UV-Strahlung durch die Sonne aussetzen könnten,
die das gleiche Gefährdungspotential wie künstliche
UV-Strahlung habe. Dieser Einwand stellt die Geeignetheit des
§ 4 NiSG zur Erreichung des mit seiner Einführung
verfolgten Zwecks schon deshalb nicht infrage, weil
Sonnenstudios und ähnliche Einrichtungen jederzeit,
insbesondere zu jeder Jahreszeit, und unabhängig von
Witterung und Tageszeit die Möglichkeit bieten, sich der
UV-Strahlung auszusetzen. Dass der Ausschluss dieser, die
natürlichen Optionen ergänzenden zusätzlichen
Bestrahlungsmöglichkeit zumindest unter mitteleuropäischen
Witterungsbedingungen geeignet ist, eine deutliche
Reduzierung der auf Kinder und Jugendliche einwirkenden
UV-Strahlung zu erreichen, durfte der Gesetzgeber
annehmen.
25
Das gilt umso mehr, als in der
Gesetzesbegründung zu § 4 NiSG darauf hingewiesen wird,
dass bei Kindern und Jugendlichen, die schon früh eine
erhöhte Anzahl an UV-bedingten Pigmentmalen erworben hätten,
das Risiko einer Melanomentstehung steige, wenn sie sich
neben natürlicher UV-Strahlung durch die Sonne zusätzlich
künstlicher UV-Strahlung aussetzten (vgl. BTDrs. 16/12276,
S. 17). Der Gesetzgeber geht demnach davon aus, dass die
Nutzung von Sonnenstudios und ähnlichen Einrichtungen in der
Regel zusätzlich zur - und nicht an Stelle der - natürlichen
Besonnung erfolgt. Diese Einschätzung ist nicht nur
vertretbar sondern naheliegend.
26
Auch die von den Beschwerdeführern
vorgebrachte Möglichkeit, dass interessierte Kreise
„Bräunungsclubs“ bilden, sich Kinder und Jugendliche selbst
eine Sonnenbank anschaffen oder sonst im privaten Bereich
künstlicher UV-Strahlung aussetzen, ändert nichts an der
Geeignetheit des Verbots. Insbesondere die Anschaffungspreise
von Solarien sprechen dafür, dass diese Formen der Nutzung
eher eine Ausnahme bleiben dürften. Außerdem vermag der
Verzicht des Gesetzgebers auf ein faktisch kaum oder nur
durch zusätzliche Grundrechtseingriffe zu kontrollierendes
Besonnungsverbot im Privatbereich dem Verbot im Übrigen nicht
die Eignung zu nehmen, sofern auch dies spürbare Wirkung
erwarten lässt. Dies aber ist, wie dargelegt, der Fall.
27
(2) Da ein anderes, gleich wirksames, aber die
allgemeine Handlungsfreiheit weniger einschränkendes Mittel
nicht zur Verfügung steht, ist das gesetzliche Verbot auch
erforderlich.
28
An der Erforderlichkeit des Verbots fehlt es
insbesondere auch nicht deshalb, weil, wie die
Beschwerdeführer meinen, die vom Gesetzgeber zur Begründung
der Regelung herangezogenen Erkenntnisse zur Schädlichkeit
der UV-Strahlung bei Kindern und Jugendlichen nicht gesichert
seien und die im Sinne des gesetzgeberischen Anliegens
einschlägigen Studien in der Wissenschaft kritisiert
würden.
29
Wird der Gesetzgeber zur Verhütung von
Gefahren für die Allgemeinheit tätig, so belässt ihm die
Verfassung bei der Prognose und Einschätzung der in den Blick
genommenen Gefährdung einen Beurteilungsspielraum, der vom
Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen
Beurteilung je nach der Eigenart des in Rede stehenden
Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend
sicheres Urteil zu bilden, und der auf dem Spiel stehenden
Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann.
Der Beurteilungsspielraum ist erst dann überschritten, wenn
die Erwägungen des Gesetzgebers so offensichtlich fehlsam
sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für die
angegriffenen gesetzgeberischen Maßnahmen abgeben können
(vgl. BVerfGE 121, 317 <350> m.w.N.).
30
Bei Anlegung dieses Maßstabs ist die
Einschätzung des Gesetzgebers nicht zu beanstanden, dass
UV-Strahlung im Allgemeinen und bei Kindern und Jugendlichen
im Besonderen eine für die Haut negative Wirkung vor allem im
Hinblick auf die Entstehung und den Verlauf von Hautkrebs
hat. Allein der Umstand, dass - wie die Beschwerdeführer
behaupten - die Zusammenhänge im Einzelnen nicht hinreichend
geklärt sein mögen und vom Gesetzgeber herangezogene Studien
wissenschaftlicher Kritik ausgesetzt sind, führt nicht zu
einer Überschreitung des gesetzgeberischen
Beurteilungsspielraums bei der Einschätzung der Gefahr.
Hieraus ergibt sich nämlich nicht, dass die vom Gesetzgeber
gesehenen Gefahren, deren Eindämmung er mit Einführung des
§ 4 NiSG verfolgt, nicht bestünden. Es kann daher keine
Rede davon sein, dass die Erwägungen des Gesetzgebers
offensichtlich fehlsam sind. Bestätigt wird dies durch den
Umstand, dass selbst die Beschwerdeführer von einer
gesundheitsschädlichen Wirkung der (übermäßigen)
UV-Exposition ausgehen und die Annahmen des Gesetzgebers
damit nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen sind.
31
(3) Das Verbot ist auch verhältnismäßig im
engeren Sinne.
32
Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere
des Eingriffs in ein Grundrecht und dem Gewicht sowie der
Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe muss die Grenze
der Zumutbarkeit noch gewahrt sein (vgl. BVerfGE 30, 292
<316>; 67, 157 <178>; 81, 70 <92>; 83, 1
<19>; 90, 145 <173>). Die Maßnahme darf die
Adressaten mithin nicht übermäßig belasten (vgl. BVerfGE 90,
145 <173>).
33
Der Eingriff in die allgemeine
Handlungsfreiheit durch das Verbot des § 4 NiSG ist für
den betroffenen Minderjährigen nicht besonders schwer, aber
auch keineswegs belanglos. Das Verbot der Benutzung von
Sonnenstudios und ähnlichen Einrichtungen wirkt nur
eingeschränkt, weil den Minderjährigen die Möglichkeit des
„Sonnenbadens“ im Freien und der Nutzung von UV-Licht im
privaten Bereich bleibt. Andererseits wird dem Minderjährigen
mit dem Verbot des § 4 NiSG im Bereich privater
Lebensgestaltung und damit in einem Kernbereich der
allgemeinen Handlungsfreiheit die Dispositionsbefugnis über
die Gestaltung seines Aussehens und seiner Freizeitgestaltung
teilweise genommen, ohne dass es sich dabei um ein
gemeinwohlschädliches Verhalten handeln würde. Außerdem
verfolgt die angegriffene Regelung mit dem Schutz vor
selbstschädigendem Verhalten ein Ziel, das nur in besonders
gravierenden Fällen in der Abwägung mit einem Eingriff in die
allgemeine Handlungsfreiheit zu bestehen vermag (vgl. BVerfGE
60, 123 <132>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des
Ersten Senats vom 11. August 1999 - 1 BvR 2181/98 u.a. -, NJW
1999, S. 3399 <3401>). Denn sie umfasst gerade
auch im Freizeitbereich die Freiheit, Handlungen vorzunehmen
oder Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die
gesundheitliche Risiken in sich bergen.
34
Anderes gilt allerdings im Bereich des
Jugendschutzes, der als Rechtfertigungsgrund für
Grundrechtseingriffe im Grundgesetz ausdrücklich anerkannt
ist (vgl. Art. 5 Abs. 2 GG). Mit Rücksicht auf den
gebotenen Schutz der Minderjährigen, ihre mangelnde
Einsichtsfähigkeit und Reife sind deshalb seit langem
verschiedene Regelungen auch zum Schutz der Minderjährigen
vor Selbstgefährdung und Selbstschädigung in der
Rechtsordnung etabliert. Das verfassungsrechtlich bedeutsame
Interesse an einer ungestörten Entwicklung der Jugend
berechtigt den Gesetzgeber zu Regelungen, durch welche der
Jugend drohende Gefahren abgewehrt werden (vgl. BVerfGE 30,
336 <347>). Es ist in erster Linie Sache des
Gesetzgebers zu entscheiden, in welchem Zusammenhang und in
welcher altersmäßigen Abstufung und auf welche Weise
Situationen entgegengewirkt werden soll, die nach seiner
Einschätzung zu Schäden führen können (vgl. BVerfGE 110, 141
<159>; 121, 317 <356>). Dabei steht ihm unter
Berücksichtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der
Jugendlichen und dem Erziehungsrecht der Eltern ein weiter
Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 96,
56 <64>; 121, 317 <356>).
35
Gemessen hieran hat der Gesetzgeber mit dem
Verbot des § 4 NiSG den Minderjährigen keine unzumutbare
Einschränkung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit zugemutet.
Insbesondere ist nicht erkennbar, dass er mit der Annahme der
mangelnden Einsichtsfähigkeit oder jedenfalls mangelnden
grundsätzlichen Einsichtsbereitschaft eines nicht
unerheblichen Teils der Minderjährigen bis zur Vollendung des
18. Lebensjahres in das Gefährdungspotential künstlicher
UV-Bestrahlung seinen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum
überschritten hat. Mit dem Ende der Minderjährigkeit hat der
Gesetzgeber vielmehr eine vom Grundgesetz - wenn auch in
anderem Zusammenhang - anerkannte Altersgrenze gewählt (vgl.
Art. 38 Abs. 2 GG), die zudem im Bürgerlichen Recht
(vgl. § 2 BGB) eine maßgebliche Rolle spielt und auch
bei der Frage des Jugendschutzes in Bezug auf den Tabakkonsum
relevant ist (vgl. § 10 JuSchG). Dass der Gesetzgeber in
anderen Bereichen des Jugendschutzes niedrigere
Altersgrenzen, wie zum Beispiel beim Konsum von Alkohol,
festgelegt hat, zwingt ihn nicht dazu, diese Grenze auch hier
heranzuziehen.
36
Das Verbot des § 4 NiSG erweist sich auch
nicht deshalb als unverhältnismäßig, weil der Gesetzgeber
Minderjährigen die Benutzung von Solarien verboten hat,
obwohl die UV-Strahlung im Hinblick auf die Vitamin-D-Bildung
auch positive Auswirkungen haben kann. Nach der nicht zu
beanstandenden Einschätzung des Gesetzgebers kann der
Vitamin-D-Haushalt auch durch Nahrungsmittel,
Nahrungsergänzungsmittel und den Aufenthalt im Freien
ausreichend reguliert werden (BTDrs. 16/12276, S. 9). Es
ist daher nicht davon auszugehen, dass das Verbot bei
Minderjährigen zu gesundheitlichen Problemen aufgrund eines
Vitamin-D-Mangels führen wird.
37
2. Es kann dahinstehen, ob das Verbot des
§ 4 NiSG in das grundrechtlich geschützte
Erziehungsrecht der Beschwerdeführer zu 2) und 3) eingreift,
weil es ihnen die Möglichkeit nimmt, nach ihren eigenen
Erziehungsvorstellungen darüber zu entscheiden, ob ihr Kind
ein Sonnenstudio oder eine ähnliche Einrichtung besuchen
können soll. Der Eingriff wäre jedenfalls gerechtfertigt.
38
Der Eingriff in das Elterngrundrecht aus
Art. 6 Abs. 2 GG wäre nur geringfügig, da es den
Eltern unbenommen bleibt, ihrem Kind im privaten
Lebensbereich den Zugang zu einer UV-Bestrahlung zu eröffnen,
wenn sie dies für verantwortbar und richtig halten. Der
Gesetzgeber war von Verfassungs wegen auch nicht gehalten,
aus Verhältnismäßigkeitserwägungen ein bloßes Verbot mit
elterlichem Einverständnisvorbehalt vorzusehen. Angesichts
der allenfalls geringen Eingriffsintensität durfte er sich
auf ein umfassendes, nicht nach Altersgruppen und daran
anknüpfende Einverständnispflichten differenzierendes und
damit für alle Beteiligten leicht praktikables Verbot
entscheiden.
39
3. Der Beschwerdeführer zu 4) ist durch das in
§ 4 NiSG geregelte Nutzungsverbot von Sonnenstudios für
Minderjährige nicht in seinem Grundrecht auf freie
Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.
40
Die darin liegende Regelung der Berufsausübung
belastet die Betreiber von öffentlich zugänglichen
Sonnenstudios nicht in unzumutbarer Weise. Der Eingriff
selbst ist in seiner Reichweite beschränkt. Von den
potentiellen Kunden werden den Betreibern von Sonnenstudios
und ähnlicher Einrichtungen nur die Minderjährigen und nur
für die Dauer ihrer Minderjährigkeit entzogen. Angesichts der
hohen Bedeutung des Jugendschutzes und der vom Gesetzgeber
vertretbar eingeschätzten Gefahr, die Kindern und
Jugendlichen durch die Nutzung von Sonnenbänken droht,
erweist sich diese Einschränkung nicht als
unverhältnismäßig.
41
Von einer weiteren Begründung wird gemäß
§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
42
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Eichberger
Masing | bundesverfassungsgericht |
160-2000 | 21. Dezember 2000 | Zur Reisekostenerstattung für Pflichtverteidiger
Pressemitteilung Nr. 160/2000 vom 21. Dezember 2000
Beschluss vom 24. November 20002 BvR 813/99
Die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat festgestellt, dass einem Pflichtverteidiger Reisekosten zur Hauptverhandlung und deren Vorbereitung im erforderlichen Umfang zu erstatten sind, auch wenn er vorher Wahlverteidiger war.
Der Verfassungsbeschwerde liegt ein Verfahren zugrunde, in dem der Beschwerdeführer (Bf), ein Rechtsanwalt aus Hamburg, einen in Hamburg inhaftierten Untersuchungshäftling vertrat. Die zuständige Strafkammer des Landgerichts bestellte den Bf auf seinen Antrag zum Verteidiger. Nach Anklageerhebung wurde der Mandant nach Hanau verlegt. Der Vorsitzende der Strafkammer genehmigte eine Informationsreise des Bf zu seinem Mandanten und verfügte, dass die Kosten dafür aus der Staatskasse vorzulegen seien. Die Hauptverhandlung fand an zwei Verhandlungstagen in Hanau statt. Der Bf reiste dazu jeweils aus Hamburg an.
Nach Abschluss des Verfahrens verweigerte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Landgerichts Hanau die Festsetzung der Erstattung der Reisekosten und der Zahlung von Abwesenheitsgeld an den Bf. Nach der ständigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts (OLG) seien die Reisekosten eines auswärtigen Pflichtverteidigers, der zuvor Wahlverteidiger gewesen sei, nicht erstattungsfähig. Rechtsmittel und Beschwerde des Bf blieben erfolglos.
Auf die Vb hat die 3. Kammer des Zweiten Senats die ablehnenden Beschlüsse des Landgerichts Hanau und des OLG Frankfurt am Main aufgehoben und die Sache an das OLG Frankfurt am Main zurückverwiesen.
Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus:
Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Bf in seiner Berufsausübungsfreiheit.
Die Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger ist eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken. Sie erfolgt im öffentlichen Interesse daran, dass der Beschuldigte in den Fällen, in denen die Verteidigung aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens notwendig ist, rechtskundigen Beistand erhält. Aus der Bestellung zum Pflichtverteidiger folgen für den Rechtsanwalt teilweise weiter gehende Verpflichtungen im Verhältnis zum Wahlverteidiger, insbesondere hat er an der Hauptverhandlung ununterbrochen selbst teilzunehmen. Nach § 97 BRAGO hat der Pflichtverteidiger Anspruch auf eine Vergütung für seine Tätigkeit und Ersatz seiner Auslagen. Die im Prozesskostenhilfeverfahren vorgesehene Ausnahme für Mehrkosten, die dadurch entstehen, dass der Rechtsanwalt seinen Wohnsitz oder seine Kanzlei nicht am Gerichtsort hat, gilt für Pflichtverteidiger nach § 97 BRAO nicht. Ein anderer gesetzlicher Grund für die Versagung notwendiger Auslagen findet sich nicht und kommt auch bei Gesamtbetrachtung der Vergütungsregelungen nicht in Betracht, da der Vergütungsanspruch des Pflichtverteidigers bereits erheblich unter den als angemessen geltenden Rahmengebühren des Wahlverteidigers liegt. Letzteres ist zwar durch das öffentliche Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos gerechtfertigt. Dies gilt jedoch nur, sofern die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist. Dies ist nicht der Fall, wenn die Gebühren für die Verteidigertätigkeit vollständig aufgezehrt werden, weil die Kosten für die zur sachgerechten Verteidigung notwendigen Reisen nicht erstattet werden. Hätten die angegriffenen Beschlüsse Bestand, müsste der Bf durch seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger im konkreten Fall wirtschaftliche Verluste erleiden. Dadurch wird die Grenze des Zumutbaren überschritten. Ein solches Ergebnis wäre auch mit dem Gleichheitsgebot nicht zu vereinbaren. Die Frage, ob die Bestellung eines auswärtigen Rechtsanwalts als Verteidiger erforderlich ist, wird bereits bei seiner Auswahl geprüft. Daher sind dann, wenn das Gericht die Bestellung eines auswärtigen Rechtsanwalts als Verteidiger beschließt, grundsätzlich auch diejenigen Mehrkosten erstattungsfähig, die dadurch entstehen, dass er seinen Wohnsitz oder seine Kanzlei nicht am Gerichtsort hat.
Karlsruhe, den 21. Dezember 2000
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 813/99 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn N...
gegen
a)
den Beschluss des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 17. März 1999 -
2 Ws 35/99 -,
b)
den Beschluss des
Landgerichts Hanau vom 22. Januar 1999 - 1 Js 1848/94 KLs
-,
c)
den Beschluss des
Landgerichts Hanau vom 15. Dezember 1998 - 1 Js 1848/94
KLs -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Präsidentin Limbach
und die Richter Hassemer,
Broß
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a,
93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August
1993 (BGBl I S. 1473) am 24. November 2000 einstimmig
beschlossen:
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts
Frankfurt am Main vom 17. März 1999 - 2 Ws 35/99 - und des
Landgerichts Hanau vom 22. Januar 1999 - 1 Js 1848/94 KLs -
sowie der Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts
Hanau vom 15. Dezember 1998 - 1 Js 1848/94 KLs -, soweit
darin die Festsetzung der Erstattung von Reisekosten und
der Zahlung von Abwesenheitsgeld abgelehnt worden sind,
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel
12 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Sie werden
aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main
zurückverwiesen.
Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die
Erstattung von Reisekosten des gerichtlich bestellten
Strafverteidigers.
2
1. Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt mit
Kanzlei in Hamburg, verteidigte den türkischen
Staatsangehörigen B. Dieser befand sich im Februar 1994 in
der Untersuchungshaftanstalt Hamburg. Der Beschwerdeführer
zeigte dem zuständigen Ermittlungsrichter unter Vorlage einer
Vollmacht die Übernahme der Verteidigung an und beantragte
seine gerichtliche Bestellung zum Verteidiger. Er wurde am
26. April 1994 vom Vorsitzenden der für das Hauptverfahren
zuständigen Strafkammer des Landgerichts zum Verteidiger
bestellt. Nach Anklageerhebung wurde sein Mandant B. in die
Justizvollzugsanstalt Hanau verlegt. Der Beschwerdeführer
beantragte, ihm zur Vorbereitung der Hauptverhandlung dort
ein Informationsgespräch mit dem Angeklagten unter
Zuhilfenahme eines Dolmetschers auf Kosten der Staatskasse zu
bewilligen und die Erforderlichkeit seiner Reise
festzustellen. Der Vorsitzende der Strafkammer genehmigte die
Informationsreise sowie die Beiziehung eines Dolmetschers und
verfügte, dass die Kosten dafür aus der Staatskasse
vorzulegen seien. Die Hauptverhandlung vor dem Landgericht
fand an zwei Verhandlungstagen statt. Dazu reiste der
Beschwerdeführer jeweils aus Hamburg an.
3
2. Der Beschwerdeführer beantragte unter dem
6. Mai 1997 die Festsetzung seiner Gebühren und Auslagen in
Höhe von insgesamt 3.524,57 DM, darunter Reisekosten und
Abwesenheitsgeld in Höhe von 2.297,75 DM.
4
a) Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des
Landgerichts setzte die Gebühren durch Beschluss vom 15.
Dezember 1998 antragsgemäß fest, lehnte aber die Festsetzung
der Erstattung der Reisekosten und der Zahlung von
Abwesenheitsgeld ab. Nach der ständigen Rechtsprechung des
Oberlandesgerichts seien die Reisekosten eines auswärtigen
Pflichtverteidigers, der zuvor Wahlverteidiger gewesen sei,
nicht erstattungsfähig.
5
b) Hiergegen wandte der Beschwerdeführer mit
der Erinnerung ein, die Versagung der Auslagenerstattung
entspreche nicht dem Gesetz und sei unverhältnismäßig. Das
Landgericht wies die Erinnerung durch Beschluss vom 22.
Januar 1999 zurück. Nach seiner Rechtsprechung könne ein
früherer Wahlverteidiger, der danach zum Verteidiger bestellt
worden sei, nicht mehr an Gebühren ersetzt verlangen als ein
Wahlverteidiger beanspruchen könne.
6
c) Gegen diesen Beschluss wandte sich der
Beschwerdeführer mit der Beschwerde. Die Entscheidung des
Landgerichts entspreche nicht dem Gesetz. Seine Bestellung
zum Verteidiger sei ohne Vorbehalt erfolgt. Zu
berücksichtigen sei auch die Feststellung der
Erforderlichkeit seiner Informationsreise unter Zahlung eines
Vorschusses. Es sei unzumutbar, wenn der bestellte
Verteidiger seine Reisekosten selbst tragen müsse und
letztlich mehr Auslagen habe als er an Gebühren verdiene. Das
Oberlandesgericht verwarf die Beschwerde. Die Entscheidung
des Landgerichts entspreche seiner bisherigen Rechtsprechung.
Danach sei maßgebliches Kriterium für die Berechnung der
Gebühren und Auslagen die erstmalige Beauftragung des
Verteidigers. Seine Rechtsprechung sei vom
Bundesverfassungsgericht durch Nichtannahme der
Verfassungsbeschwerde in einer anderen Sache bestätigt
worden.
II.
7
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner am
30. April 1999 eingegangenen Verfassungsbeschwerde gegen die
Entscheidungen. Er macht aus eigenem Recht die Verletzung der
Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, 3 Abs. 1 und
14 Abs. 1 GG geltend. Die angegriffenen Entscheidungen ließen
eine plausible Begründung vermissen. Es sei willkürlich, dem
bestellten Verteidiger nach vorangegangener Genehmigung einer
Informationsreise unter Zahlung eines Vorschusses
nachträglich die Auslagenerstattung zu versagen. Dies
verstoße auch gegen rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze,
weil dadurch die Verteidigung nachträglich beeinträchtigt
werde. Darüber hinaus liege ein enteignungsgleicher Eingriff
vor. Die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts werde auch
nicht durch die von ihm zitierten Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts gestützt.
III.
8
Zu der Verfassungsbeschwerde hat die hessische
Landesregierung Stellung genommen. Sie hält die
Verfassungsbeschwerde für begründet. Die angegriffenen
Entscheidungen berücksichtigten nicht in ausreichendem Maße
die Bedeutung und Tragweite der Berufsausübungsfreiheit des
Beschwerdeführers; sie führten auch zu einer
unverhältnismäßigen Einschränkung dieses Rechts. Die
gerichtliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Verteidiger
sei ein Fall der Indienstnahme eines Privaten zu öffentlichen
Zwecken; dafür sei der Rechtsanwalt angemessen zu
entschädigen. Die Grenze des Zumutbaren werde überschritten,
wenn er durch Reisekosten einen Teil seines sonstigen
Einkommens preisgeben müsse, um seiner Pflicht zur
sachgerechten Verteidigung nachzukommen. Gründe des
Gemeinwohls könnten für ein solches Ergebnis nicht gefunden
werden. Bei der Auslegung des Merkmals der Erforderlichkeit
der Auslagen des bestellten Verteidigers sei mittelbar auch
das Interesse des Beschuldigten an effektiver Verteidigung zu
beachten. Dem würden die angegriffenen Entscheidungen nicht
gerecht. Jedenfalls soweit die Erstattung der Auslagen für
die Informationsreise versagt wurde, sei auch das
Willkürverbot verletzt worden; denn insoweit gingen die
angegriffenen Entscheidungen darüber hinweg, dass die
Erforderlichkeit der Informationsreise bereits bindend
festgestellt worden sei (§ 126 Abs. 2 Satz 2 BRAGO).
IV.
9
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur
Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten
des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b i.V.m.
§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); denn die
angegriffenen Entscheidungen deuten im Blick auf die ständige
Rechtsprechung, die ihnen zugrunde liegt, auf eine generelle
Vernachlässigung dieser Grundrechte hin (vgl. BVerfGE 90, 22
<25>).
10
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig,
insbesondere nach dem durch eidesstattliche Versicherungen
glaubhaft gemachten Vorbringen des Beschwerdeführers
rechtzeitig erhoben worden, und sie ist mit der - der Sache
nach erhobenen - Rüge, die angegriffenen Beschlüsse
verletzten den Beschwerdeführer in seiner
Berufsausübungsfreiheit, in einer die
Entscheidungszuständigkeit der Kammer begründenden Weise
offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs.
1 Satz 1 BVerfGG). Dass eine Verletzung des Art. 12 Abs. 1
Satz 1 GG nicht ausdrücklich gerügt wurde, steht deren
Prüfung nicht entgegen (vgl. BVerfGE 79, 174 <201>; 84,
366 <369>; 85, 214 <217>).
11
1. Die angegriffenen Entscheidungen weisen die
vom Beschwerdeführer geltend gemachten Ansprüche aus
beruflicher Tätigkeit teilweise ab und berühren damit dessen
Berufsausübung. Sie sind daher an Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu
messen (vgl. BVerfGE 47, 285 <321>; 83, 1 <13>;
101, 331 <346>).
12
a) Die gerichtliche Bestellung zum Verteidiger
ist eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu
öffentlichen Zwecken (vgl. BVerfGE 39, 238 <241>; 68,
237 <253 f.>). Sie erfolgt im öffentlichen
Interesse daran, dass der Beschuldigte in den Fällen, in
denen die Verteidigung aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit
des Verfahrens notwendig ist (vgl. § 140 StPO),
rechtskundigen Beistand erhält (vgl. BVerfGE 39, 238
<242>; 68, 237 <254>; Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November
1986 - 2 BvR 1169/86 -, JurBüro 1987, Sp. 1029). Der
gerichtlich bestellte Verteidiger muss die Verteidigung
übernehmen (§ 49 BRAO); nur aus wichtigem Grund kann er
die Aufhebung der Beiordnung beantragen (§ 49 i.V.m.
§ 48 Abs. 2 BRAO). Er muss die Verteidigung -
gegebenenfalls unter Hintansetzung anderer beruflicher
Interessen - in sachgerechter Weise führen. Im Gegensatz zum
Wahlverteidiger hat der bestellte Verteidiger die
Verteidigung selbst zu führen; er hat insbesondere an der
Hauptverhandlung selbst ununterbrochen teilzunehmen und darf
keine Untervollmacht erteilen. Im Übrigen hat er dieselben
Aufgaben wie ein gewählter Verteidiger.
13
Angesichts dieser umfassenden Inanspruchnahme
des bestellten Verteidigers hat der Gesetzgeber dessen
Aufgabe nicht als vergütungsfrei zu erbringende Ehrenpflicht
ausgestaltet, sondern er sieht vor, dass der bestellte
Verteidiger für seine Tätigkeit honoriert wird (§ 97
Abs. 1 BRAGO) und Ersatz seiner Auslagen erhält (§ 97
Abs. 2 Satz 1 BRAGO), es sei denn, die Auslagen seien zur
sachgemäßen Wahrnehmung der Interessen des Mandanten nicht
erforderlich (§ 97 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 126 Abs.
1 Satz 1 BRAGO). Die für die Auslagenerstattung bei
Prozesskostenhilfe geltende weitere Ausnahme gemäß § 126
Abs. 1 Satz 2 BRAGO für Mehrkosten, die dadurch entstehen,
dass der Rechtsanwalt seinen Wohnsitz oder seine Kanzlei
nicht am Gerichtsort hat, wird in § 97 Abs. 2 BRAGO
nicht in Bezug genommen. Ein anderer gesetzlicher Grund für
die Versagung der Auslagenerstattung an den bestellten
Verteidiger findet sich nicht. Er kommt auch bei
Gesamtbetrachtung der Vergütungsregelung nicht in Betracht;
denn der Vergütungsanspruch des bestellten Verteidigers liegt
bereits erheblich unter den als angemessen geltenden
Rahmengebühren des Wahlverteidigers (vgl. BVerfGE 68, 237
<255>).
14
Diese Begrenzung ist zwar durch einen vom
Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen
Interessenausgleich, der auch das Interesse an der
Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt,
gerechtfertigt; dies gilt aber nur, sofern die Grenze der
Zumutbarkeit noch gewahrt ist (vgl. BVerfGE 68, 237
<255>). Eine Kürzung der gesetzlich genau bestimmten
Gebühren oder eine Versagung der Erstattung von Auslagen, die
für die sachgerechte Verteidigung erforderlich waren, kann
dem bestellten Verteidiger ein unzumutbares Opfer
abverlangen. Sie ist dann mit dem Recht auf freie
Berufsausübung gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar
(vgl. BVerfGE 47, 285 <321 f.>; 54, 251
<271>; 68, 237 <255>).
15
b) Daran gemessen, verstoßen die angegriffenen
Entscheidungen gegen das Recht des Beschwerdeführers aus Art.
12 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie berücksichtigen nicht, dass die
Gebühren für die Verteidigertätigkeit des Beschwerdeführers
(§ 97 Abs. 1 BRAGO) vollständig aufgezehrt werden, wenn
ihm die Kosten für seine zur sachgerechten Verteidigung
notwendigen Reisen nicht erstattet werden. Diese Auslagen
übersteigen sogar die Gebühr für die Verteidigertätigkeit, so
dass der Beschwerdeführer durch seine Tätigkeit als
bestellter Verteidiger im konkreten Fall wirtschaftliche
Verluste erleiden müsste, wenn die angegriffenen
Entscheidungen Bestand hätten. Die Grenze des Zumutbaren wird
dadurch überschritten. Insoweit liegt der vorliegende Fall
anders als die Fälle, die durch die nicht mit Gründen
versehenen Nichtannahmebeschlüsse der 2. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Dezember 1996 - 2
BvR 289/96 - und vom 10. Dezember 1996 - 2 BvR 366/96 -
entschieden worden sind, auf die sich das Oberlandesgericht
beruft.
16
Auch ist das im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 Satz
1 GG zu berücksichtigende Gleichheitsgebot (vgl. BVerfGE 54,
251 <271>) verletzt; denn wenn die Tätigkeit als
gerichtlich bestellter Verteidiger nicht vergütungsfrei
ausgestaltet ist, so entspricht jedenfalls das Ergebnis der
angegriffenen Entscheidungen, nach dem der Beschwerdeführer
wegen seiner Tätigkeit als bestellter Verteidiger einen
wirtschaftlichen Verlust erleiden müsste, nicht dem Gesetz
(§§ 97 Abs. 2 Satz 1, 126 Abs. 1 Satz 1 BRAGO), ohne
dass die angegriffenen Entscheidungen dafür eine
nachvollziehbare Begründung enthielten. § 126 Abs. 1
Satz 2 BRAGO gilt insoweit nicht entsprechend; denn die
Frage, ob die Bestellung eines auswärtigen Rechtsanwalts als
Verteidiger erforderlich ist, wird bereits bei der Auswahl
des Verteidigers nach § 142 Abs. 1 Satz 1 StPO geprüft.
Daher sind dann, wenn das Gericht die Bestellung eines
auswärtigen Rechtsanwalts als Verteidiger beschließt,
grundsätzlich auch diejenigen Mehrkosten erstattungsfähig,
die dadurch entstehen, dass der bestellte Verteidiger seinen
Wohnsitz oder seine Kanzlei nicht am Gerichtsort hat (vgl.
Hartmann, Kostengesetze, 28. Aufl., § 97 BRAGO Rn. 39
m.w.N.).
17
Die Erforderlichkeit der Informationsreise des
Beschwerdeführers zur Vorbereitung der Hauptverhandlung wurde
mit bindender Wirkung für das Kostenfestsetzungsverfahren
festgestellt (§ 126 Abs. 2 Satz 2 BRAGO). Zur Teilnahme
an der Hauptverhandlung war der Beschwerdeführer ohnehin
rechtlich verpflichtet. Demnach kann im
Kostenfestsetzungsverfahren weder die Erforderlichkeit der
Bestellung des Beschwerdeführers zum Verteidiger noch die
Erforderlichkeit seiner Reisen zur sachgerechten Verteidigung
in Frage gestellt werden. Gründe des Gemeinwohls, die die
Belastung des Beschwerdeführers mit einem wirtschaftlichen
Verlust infolge seiner Tätigkeit als bestellter Verteidiger
rechtfertigen könnten, sind weder ersichtlich noch werden
solche Gründe in den angegriffenen Entscheidungen genannt.
Warum nach der ständigen Rechtsprechung des
Oberlandesgerichts, der das Landgericht gefolgt ist, das
maßgebliche Kriterium für die Berechnung von Gebühren und
Auslagen die erstmalige Beauftragung des Verteidigers sein
soll, wird gleichfalls nicht erläutert, obwohl es sich dem
Gesetz nicht unmittelbar entnehmen lässt.
18
2. Ob auch andere Grundrechte oder
grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzt
sind, kann offen bleiben.
19
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Hassemer
Broß | bundesverfassungsgericht |
25-2000 | 9. März 2000 | Arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zur Festanstellung ständiger freier redaktioneller Mitarbeiter bei Rundfunkanstalten verletzt die Rundfunkfreiheit nicht
Pressemitteilung Nr. 25/2000 vom 9. März 2000
Beschluss vom 18. Februar 20001 BvR 491/93
In den Verfassungsbeschwerde(Vb)-Verfahren ging es um die Festanstellung zuvor freier Mitarbeiter im Rundfunk. Die Arbeitsgerichte einschließlich des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hatten Klagen freier Mitarbeiter auf Festanstellung stattgegeben, die beschwerdeführende Rundfunkanstalt der Saarländische Rundfunk (Bf) hat dies als Verstoß gegen die Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) beanstandet. Die 1. Kammer des Ersten Senats hat die Vb nicht zur Entscheidung angenommen, weil die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen den Bf nicht in seinem Grundrecht auf Rundfunkfreiheit verletzen.
I.
Die Kläger der Ausgangsverfahren waren seit 1972, 1980 und 1984 als Mitarbeiter im redaktionellen Bereich jeweils unterschiedlicher, regelmäßig ausgestrahlter Sendungen des Bf tätig. Auf Grund der mit den Vb angegriffenen arbeitsgerichtlichen Entscheidungen wurde festgestellt, dass die Mitarbeiter in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zum Bf stehen. Die hiergegen erhobenen Vb betrafen die Frage, ob ein Grundrechtsverstoß allein darin besteht, dass die Arbeitsgerichte das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses bejaht haben. Ob die Anforderungen der Rundfunkfreiheit eventuell in anderer Hinsicht verletzt worden sind etwa hinsichtlich der Feststellung einer fehlenden Befristung oder hinsichtlich der Einordnung als Voll oder Teilzeitbeschäftigung war nicht zu entscheiden, da insoweit keine Rügen erhoben worden waren.
II.
Die Kammer hat die Vb nicht zur Entscheidung angenommen.
Zur Begründung heißt es u.a.:
Es ist von Verfassungs wegen nicht ausgeschlossen, auch im Rundfunkbereich von den für das Arbeitsrecht allgemein entwickelten Merkmalen abhängiger Arbeit auszugehen. Allerdings muss das durch die Verfassung geschützte Recht der Rundfunkanstalten, frei von fremder Einflussnahme über die Auswahl, Einstellung und Beschäftigung dieser Mitarbeiter zu bestimmen, berücksichtigt werden. Nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung kommt es für die Einstufung eines Dienstverhältnisses als Arbeitsverhältnis auf die Eingliederung in eine von Dritten bestimmte Arbeitsorganisation und den hierdurch gekennzeichneten Grad der persönlichen Abhängigkeit an. Mit der Qualifizierung eines Mitarbeiters als Arbeitnehmer wird die Rundfunkfreiheit nur beeinträchtigt, wenn die verfügbaren Vertragsgestaltungen wie Teilzeitbeschäftigungs oder Befristungsabreden zur Sicherung der Aktualität und Flexibilität der Berichterstattung in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht in gleicher Weise geeignet sind wie die Beschäftigung in freier Mitarbeit. Die Frage der Eignung lässt sich nicht abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung der konkret in Rede stehenden publizistischen Aufgabe des jeweiligen Mitarbeiters beantworten. Bei nicht auf ein bestimmtes Ereignis, sondern auf eine oder mehrere konkrete Sendungen oder Sendereihen bezogener redaktioneller Tätigkeit kann dem Bedürfnis nach Personalwechsel hinreichend mittels Befristungsabreden Rechnung getragen werden. Jedenfalls hat der Bf nicht substantiiert dargelegt, worin sein Interesse begründet sei, die Beschäftigungsverhältnisse der Kläger der Ausgangsverfahren zeit oder projektbezogen zu beschränken. Die Kammer verweist im Übrigen auf die durch die Änderung des Beschäftigungsförderungsgesetzes erfolgte Erleichterung von Befristungsabreden sowie darauf, dass die Rundfunkfreiheit nach ständiger Rechtsprechung des BAG die Befristung eines Arbeitsvertrages mit einem programmgestaltenden Mitarbeiter rechtfertigen kann. Schließlich können auch durch eine Kombination von Befristungsmöglichkeiten nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz und nach § 620 Abs. 1 BGB in rechtlich zulässiger Weise Befristungsketten geschaffen werden. Auch dadurch kann im Bereich des Rundfunks flexibel auf die Anforderungen des Marktes reagiert werden.
Karlsruhe, den 9. März 2000
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 491/93 -
- 1 BvR 562/93 -
- 1 BvR 624/98 -
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1. des Saarländischen Rundfunks, Anstalt des
öffentlichen Rechts,
vertreten durch den Intendanten,
Funkhaus Halberg, Saarbrücken,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Jochen Eisenbeis und Partner,
Lilienthalstraße 9, Saarlouis -
gegen
das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Saarland vom 4. November 1992 - 1
Sa 73/91 -
- 1 BvR 491/93 -,
2. des Saarländischen Rundfunks, Anstalt des
öffentlichen Rechts,
vertreten durch den Intendanten,
Funkhaus Halberg, Saarbrücken,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Jochen Eisenbeis und Partner,
Lilienthalstraße 9, Saarlouis -
gegen
das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Saarland vom 9. Dezember 1992 - 2
Sa 44/91 -
- 1 BvR 562/93 -,
3. des Saarländischen Rundfunks, Anstalt des
öffentlichen Rechts,
vertreten durch den Intendanten,
Funkhaus Halberg, Saarbrücken,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dr. Horst Lechner und Partner,
Berliner Promenade 15, Saarbrücken -
gegen
a)
den Beschluss des
Bundesarbeitsgerichts vom 25. Februar 1998 - 2 AZN 2/98
-,
b)
das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Saarland vom 15. Oktober 1997 - 2
Sa 16/97 -
- 1 BvR 624/98 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 18. Februar 2000 einstimmig
beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerden des
Beschwerdeführers richten sich gegen arbeitsgerichtliche
Entscheidungen. Gerügt wird die Verletzung des Grundrechts
der Rundfunkfreiheit.
2
Die Kläger der Ausgangsverfahren waren seit
1972, 1980 und 1984 als Mitarbeiter im redaktionellen Bereich
jeweils unterschiedlicher, regelmäßig ausgestrahlter
Sendungen für den Beschwerdeführer tätig. Ihren Klagen auf
Feststellung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses war
stattgegeben worden.
II.
3
Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur
Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des
§ 93 a Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473), die gemäß Art. 8 des
Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das
Bundesverfassungsgericht vom 2. August 1993 (BGBl I S. 1442)
auch auf vorher anhängig gewordene Verfahren und damit auch
auf die Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 491/93 und 1 BvR
562/93 anzuwenden sind, nicht vorliegen.
4
Den Verfassungsbeschwerden kommt keine
grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93
a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die von ihnen aufgeworfenen
Fragen sind in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts geklärt (BVerfGE 59, 231
<256 ff.>). Eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ist auch nicht zur Durchsetzung des
vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Grundrechts auf
Rundfunkfreiheit angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerden haben keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg (BVerfGE 90, 22 <26>).
5
1. Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1
BvR 624/98 ist unzulässig, soweit der Beschwerdeführer die
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts angreift. Insofern
genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den
Begründungsanforderungen aus §§ 23, 92 BVerfGG. Aus dem
Sachvortrag des Beschwerdeführers ergibt sich nicht mit
hinreichender Deutlichkeit, dass die allein auf eine
mangelnde Darlegung der Voraussetzungen einer Divergenz gemäß
§ 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG gestützte Entscheidung des
Bundesarbeitsgerichts ihn in seinem Grundrecht auf
Rundfunkfreiheit verletzen könnte.
6
2. Die im Übrigen zulässigen
Verfassungsbeschwerden sind unbegründet. Die angegriffenen
Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts verletzen den
Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht auf
Rundfunkfreiheit.
7
a) Die Verfassungsbeschwerden richten sich
gegen gerichtliche Entscheidungen auf dem Gebiet des
Arbeitsrechts. Die Auslegung und Anwendung der Vorschriften
und Grundsätze dieses Rechtsgebiets als solche hat das
Bundesverfassungsgericht nicht nachzuprüfen. Ihm obliegt
lediglich die Kontrolle, ob die Gerichte bei der Auslegung
und Anwendung des einfachen Rechts Verfassungsrecht verletzt,
insbesondere die Einwirkung von Grundrechten auf die
einfachrechtlichen Normen und Maßstäbe verkannt haben
(BVerfGE 18, 85 <92>; 59, 231 <256>; stRspr).
8
b) Prüfungsmaßstab ist das Grundrecht der
Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Der
Beschwerdeführer kann als öffentlichrechtliche
Rundfunkanstalt mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung
dieses Grundrechts geltend machen (BVerfGE 59, 231
<254>).
9
aa) Die sich aus der Rundfunkfreiheit
ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen, die von den
Gerichten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bei der
Beurteilung der Rechtsbeziehungen zwischen
Rundfunkmitarbeitern und Rundfunkanstalten zu beachten sind,
hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 13. Januar
1982 (BVerfGE 59, 231 <257 ff.>) entwickelt.
10
Danach umfasst der Schutz des Art. 5 Abs. 1
Satz 2 GG das Recht der Rundfunkanstalten, frei von fremdem,
insbesondere staatlichem Einfluss über die Auswahl,
Einstellung und Beschäftigung derjenigen Mitarbeiter zu
bestimmen, die an Hörfunk- und Fernsehsendungen inhaltlich
gestaltend mitwirken. Die Rundfunkfreiheit in ihrer Bedeutung
als Programmfreiheit gewährleistet, dass Auswahl, Inhalt und
Gestaltung des Programms Sache des Rundfunks bleiben und sich
an publizistischen Kriterien ausrichten können. Unvereinbar
mit der Rundfunkfreiheit sind nicht nur unmittelbare
Einflussnahmen Dritter auf das Programm, sondern auch
Einflüsse, welche die Programmfreiheit mittelbar
beeinträchtigen können (BVerfGE 90, 60 <87>).
11
Die Gefahr einer solchen Beeinträchtigung
besteht auch bei fremdbestimmter Einflussnahme auf die
Auswahl, die Einstellung und Beschäftigung des Personals, von
dem die Programmgestaltung abhängt. Den öffentlichrechtlichen
Rundfunkanstalten ist ein Programmangebot aufgetragen, das
die Vielfalt der Gegenstände und Meinungen in einem auf
unterschiedliche Nutzerbedürfnisse abgestimmten
Gesamtprogramm zum Ausdruck bringt. Das setzt voraus, dass
die Sendungen von Personen gestaltet werden, die in der Lage
sind, die gebotene Vielfalt in das Programm einzubringen. Die
Rundfunkanstalten müssen den Erfordernissen ihres
Programmauftrags durch den Einsatz von für die jeweilige
Aufgabe qualifizierten Mitarbeitern gerecht werden. Dabei
kann sich die Notwendigkeit eines personellen Wechsels etwa
durch neue Informationsbedürfnisse, die Änderung von
Programmstrukturen infolge veränderter Publikumsinteressen
oder Veränderungen im publizistischen Wettbewerb mit anderen
Veranstaltern ergeben. Dem Flexibilitätsbedarf könnten die
Rundfunkanstalten nicht gerecht werden, wenn sie
ausschließlich auf ständige feste Mitarbeiter angewiesen
wären, welche in einer laufendem Wechsel unterworfenen
Medienordnung unvermeidlich nicht die ganze Vielfalt der in
den Sendungen zu vermittelnden Inhalte wiedergeben und
gestalten könnten. Die Rundfunkanstalten müssen daher auf
einen breit gestreuten Kreis unterschiedlich geeigneter
Mitarbeiter zurückgreifen können. Dies kann seinerseits
voraussetzen, dass unterschiedliche Vertragsgestaltungen
einsetzbar sind und dass die Mitarbeiter nicht auf Dauer,
sondern nur für die Zeit beschäftigt werden, in der sie
benötigt werden (vgl. BVerfGE 59, 231 <259>).
12
Aufgrund des dargelegten Zusammenhangs
zwischen Programmfreiheit und Personalentscheidungen umfasst
der Schutz der Rundfunkfreiheit neben der Auswahl der an der
inhaltlichen Gestaltung der Sendungen mitwirkenden
Mitarbeiter die Entscheidung darüber, ob solche Mitarbeiter
fest angestellt werden oder ob ihre Beschäftigung aus Gründen
der Programmplanung auf eine gewisse Dauer oder ein gewisses
Projekt zu beschränken ist und wann, wie oft oder wie lange
ein Mitarbeiter benötigt wird. Dies schließt die Befugnis
ein, bei der Begründung von Mitarbeiterverhältnissen den
insoweit jeweils geeigneten Vertragstyp zu wählen (vgl.
BVerfGE 59, 231 <260>).
13
Die in den Ausgangsverfahren jeweils
getroffene Feststellung, dass die Kläger zum Beschwerdeführer
in einem unbefristeten und damit dauerhaften
Arbeitsverhältnis stehen, beeinträchtigt den Beschwerdeführer
in der dargestellten Entscheidungsfreiheit.
14
bb) Die Rundfunkfreiheit ist allerdings nicht
vorbehaltlos gewährt. Sie findet nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre
Schranken unter anderem in den allgemeinen Gesetzen. Dazu
gehören die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über den
Dienstvertrag und die besonderen Bestimmungen des
Arbeitsrechts, namentlich des Kündigungsschutzgesetzes.
Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften sind ebenso Sache
der dafür zuständigen Arbeitsgerichte wie die dem
vorausgehende und hier in den Ausgangsverfahren relevante
Frage ihrer Anwendbarkeit (BVerfGE 59, 231 <264>). Doch
müssen die Gerichte die betroffenen Grundrechte
interpretationsleitend berücksichtigen, damit deren
wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene
gewahrt bleibt (BVerfGE 7, 198 <205 ff.>). Das
verlangt in der Regel eine fallbezogene Abwägung zwischen der
Bedeutung der Rundfunkfreiheit auf der einen und dem Rang der
von den Normen des Arbeitsrechts geschützten Rechtsgüter auf
der anderen Seite.
15
Hierbei ist auf Seiten der Rundfunkfreiheit
der dargestellte Zusammenhang zwischen Programmfreiheit und
Personalentscheidungsbefugnis zu berücksichtigen. Keine Rolle
spielen in diesem Zusammenhang allerdings diejenigen mit der
Feststellung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses
ausgelösten Folgewirkungen, die keine Auswirkung auf die
Programmfreiheit der Rundfunkanstalt haben. Das trifft etwa
auf die Anwendbarkeit der Regelungen des
Sozialversicherungsrechts und die damit verbundenen
finanziellen Folgen zu (vgl. BVerfGE 59, 231
<268>).
16
Zwar besteht zwischen Programmfreiheit und
Finanzausstattung ein enger Zusammenhang. Deshalb haben die
öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten ein aus Art. 5 Abs. 1
Satz 2 GG folgendes Recht, die zur Erfüllung ihres Auftrags
erforderlichen finanziellen Mittel zu erhalten. Dies
sicherzustellen ist Aufgabe des Gesetzgebers, der dabei eine
Finanzierung gewähren muss, die die Rundfunkanstalten in die
Lage versetzt, die ihnen zukommende Funktion im dualen System
erfüllen zu können (vgl. BVerfGE 90, 60 <90>). Der
Beschwerdeführer hat in pauschaler Weise hohe Aufwendungen
für die Festanstellung anstelle ständiger freier Mitarbeit
behauptet. Er hat allerdings nicht dargelegt, dass erhebliche
Ausgabensteigerungen auch dann unvermeidbar wären, wenn
Möglichkeiten der Teilzeitbeschäftigung und der Befristung
genutzt würden.
17
Es ist Sache der Rundfunkanstalten, wie sie
die ihnen zur funktionsgerechten Erfüllung ihres
Programmauftrags zur Verfügung stehenden Mittel im Rahmen der
gesetzlichen Bestimmungen auf einzelne Programme oder
Programmsparten verteilen (vgl. BVerfGE 87, 181 <203>).
Insoweit ist die Rundfunkanstalt zwar frei in der Verwendung
der verfügbaren Mittel. Das entbindet sie jedoch nicht von
den Zahlungspflichten, die sich aus den zur Erfüllung des
Programmauftrags erforderlichen Verträgen ergeben. Dies gilt
auch für finanzielle Verpflichtungen, die mit der Anwendung
der Regeln des Arbeitsrechts verbunden sind und deren
Erfüllung bei der Anmeldung des Finanzbedarfs gegenüber der
Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der
Rundfunkanstalten (KEF) berücksichtigt wird. Dass die
Finanzausstattung der Rundfunkanstalt zur Erfüllung ihres
gesetzlichen Auftrags ausreicht, ist vom Erfordernis
funktionsgerechter Finanzierung des öffentlichrechtlichen
Rundfunks erfasst, dem der Gesetzgeber Rechnung tragen muss
(vgl. BVerfGE 90, 60 <90>). Ein Kriterium für die
Abwägung bei der Entscheidung über die grundsätzliche
Anwendbarkeit der besonderen Bestimmungen des Arbeitsrechts
ist der Vorbehalt der Finanzierbarkeit deshalb nicht.
18
Auf Seiten der Rundfunkmitarbeiter sind die
Rechtsgüter in die Abwägung einzustellen, deren Schutz die
besonderen Bestimmungen des Arbeitsrechts bezwecken. Das sind
hinsichtlich der die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses,
insbesondere den arbeitsrechtlichen Bestandsschutz,
betreffenden Regelungen das Sozialstaatsprinzip und die
Berufsfreiheit (BVerfGE 59, 231 <261 ff.>).
19
Das Ergebnis der gebotenen Abwägung ist
verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Weder darf den
programmgestaltend tätigen Rundfunkmitarbeitern der
arbeitsrechtliche Schutz generell versagt werden, noch dürfen
bei der Entscheidung über diesen Schutz die Regeln und
Maßstäbe des Arbeitsrechts in einer Weise auf die
Anstellungsverhältnisse dieser Mitarbeiter angewendet werden,
die das durch die Verfassung geschützte Recht der Anstalten,
frei von fremder Einflussnahme über die Auswahl, Einstellung
und Beschäftigung dieser Mitarbeiter zu bestimmen,
unberücksichtigt lässt (BVerfGE 59, 231 <265>).
20
Die den Fachgerichten bei der Frage der
Anwendbarkeit des Arbeitsrechts obliegende Abwägung schließt
von Verfassungs wegen nicht aus, von den für das Arbeitsrecht
allgemein entwickelten Merkmalen abhängiger Arbeit auszugehen
und, wenn diese für ein Arbeitsverhältnis sprechen, dem
Einfluss der Rundfunkfreiheit dadurch gerecht zu werden, dass
einzelne in anderen Bereichen anerkannte, etwa gegen eine
Befristung sprechende, Merkmale zurückzutreten haben. Das
Verfassungsrecht steht nur Regelungen und einer
Rechtsprechung entgegen, welche den Rundfunkanstalten die zur
Erfüllung ihres Programmauftrags notwendige Freiheit und
Flexibilität nehmen würden.
21
c) Auf der Grundlage dieses Prüfungsmaßstabes
sind die Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts - soweit
sie vom Beschwerdeführer angegriffen worden sind - von
Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die vom
Landesarbeitsgericht zugrunde gelegten Voraussetzungen für
die Feststellung eines Arbeitsverhältnisses von
Rundfunkmitarbeitern genügen den dargelegten
verfassungsrechtlichen Anforderungen, die das Grundrecht auf
Rundfunkfreiheit verlangt. Ob diese Anforderungen auch im
Übrigen, insbesondere hinsichtlich der Feststellung einer
fehlenden Befristung oder der Möglichkeit einer
Teilzeitbeschäftigung, beachtet worden sind, bedarf mangels
einer diesbezüglichen Rüge keiner Prüfung.
22
aa) Das Landesarbeitsgericht hat in sämtlichen
angegriffenen Entscheidungen die vom Bundesarbeitsgericht
entwickelten Kriterien für die Abgrenzung eines
Arbeitsverhältnisses von dem Rechtsverhältnis eines freien
Mitarbeiters zugrunde gelegt. Danach kommt es für die
Einstufung eines Dienstverhältnisses als Arbeitsverhältnis
auf die Eingliederung in eine von Dritten bestimmte
Arbeitsorganisation und den hierdurch gekennzeichneten Grad
der persönlichen Abhängigkeit an. Maßgebliches Kriterium
hierfür ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem Mitarbeiterteam, wohl
aber die Befugnis des Dienstberechtigten zur Verfügung über
die Arbeitsleistung des Mitarbeiters innerhalb eines
bestimmten zeitlichen Rahmens (seit dem Urteil vom 13. Januar
1983 - 5 AZR 149/82 -, AP Nr. 42 zu § 611 BGB
Abhängigkeit; seine frühere Rechtsprechung hat das
Bundesarbeitsgericht ausdrücklich aufgegeben in BAGE 78, 343
<352>). Hiervon ist auch das Landesarbeitsgericht in
den angegriffenen Entscheidungen ausgegangen.
23
bb) In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung
des Bundesarbeitsgerichts hat das Landesarbeitsgericht die
allgemeinen arbeitsrechtlichen Kriterien zur Bestimmung der
Arbeitnehmereigenschaft auch dann für allein maßgeblich
gehalten, wenn es um die Beurteilung von
Beschäftigungsverhältnissen programmgestaltender
Rundfunkmitarbeiter geht. Da erst die Verpflichtung zu
dauerhafter Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis in das
Grundrecht auf Rundfunkfreiheit eingreife, wirke sich der
grundrechtliche Einfluss nicht bereits bei der Beurteilung
der Arbeitnehmereigenschaft, sondern erst bei der Frage der
Befristung aus.
24
Die hiergegen erhobene Rüge des
Beschwerdeführers, die Rundfunkfreiheit habe vom
Landesarbeitsgericht bereits bei der Definition des
Arbeitnehmerbegriffs berücksichtigt werden müssen, greift
nicht durch.
25
Allerdings ist der unter Bezugnahme auf die
Entscheidung der 3. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 3. Dezember 1992 (abgedruckt in
NZA 1993, S. 741 ff.) erhobene Einwand des
Beschwerdeführers, die isolierte Anwendung des
arbeitsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs könne zu einer
unverhältnismäßigen Zurückdrängung der Rundfunkfreiheit
führen, im Ansatz berechtigt. Die Kammer hat dies seinerzeit
für den Fall erwogen, dass aufgrund der Nichtberücksichtigung
des inhaltlichen Einflusses des Rundfunkmitarbeiters auf die
Programmgestaltung der Zugang zum Schutzbereich der
Rundfunkfreiheit verstellt würde. Soweit der Beschwerdeführer
jedoch hieraus allgemein den Schluss zieht, die
Rundfunkfreiheit müsse bei programmgestaltenden Mitarbeitern
stets schon bei der Zuordnung zum Arbeitnehmerbegriff
berücksichtigt werden, ist dem nicht zu folgen. Vielmehr
kommt dies nur insoweit in Betracht, als bereits mit der
Einordnung des Beschäftigungsverhältnisses als
Arbeitsverhältnis der Schutz des Grundrechts aus Art. 5 Abs.
1 Satz 2 GG versperrt wird. Belässt die Einordnung als
Arbeitsverhältnis aber genügend Raum zur Berücksichtigung der
Anforderungen der Rundfunkfreiheit, ist dies nicht der Fall.
So liegt es hier.
26
Mit der Qualifizierung eines Mitarbeiters als
Arbeitnehmer wird zunächst nur die Beschäftigungsmöglichkeit
im freien Mitarbeiterverhältnis ausgeschlossen. Die hierdurch
bewirkte Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der
Rundfunkanstalt betrifft den Schutzbereich der
Rundfunkfreiheit, soweit die danach verbleibende Möglichkeit
zur rechtlichen Gestaltung des Arbeitsverhältnisses im
Vergleich zur freien Mitarbeit eine Beeinträchtigung der für
die Erfüllung des Programmauftrags notwendigen Freiheit und
Flexibilität mit sich brächte. Das lässt sich jedenfalls für
die hier zur Entscheidung anstehenden Fälle langjähriger
redaktioneller Tätigkeit für eine oder mehrere konkrete
Sendungen oder Sendereihen nicht feststellen.
27
In Betracht kommt eine Beeinträchtigung
allerdings, wenn die verfügbaren Vertragsgestaltungen - wie
Teilzeitbeschäftigungs- oder Befristungsabreden - zur
Sicherung der Aktualität und Flexibilität der
Berichterstattung in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht
nicht in gleicher Weise geeignet sind wie die Beschäftigung
in freier Mitarbeit. Soweit der Beschwerdeführer die
mangelnde Eignung von Befristungsabreden in tatsächlicher
Hinsicht unter Hinweis auf die Interdependenz von
Informationsbedarf und personeller Ausstattung generell
geltend macht, kann dem nicht gefolgt werden. Die Frage der
Eignung von Befristungsabreden lässt sich nicht abstrakt,
sondern nur unter Berücksichtigung der konkret in Rede
stehenden publizistischen Aufgabe des jeweiligen Mitarbeiters
beantworten. So mögen in den vom Beschwerdeführer angeführten
Beispielen Befristungsabreden ungeeignet sein, den sich
täglich verändernden Informationsbedürfnissen im Zusammenhang
mit nicht vorhersehbaren herausragenden Ereignissen
hinreichend Rechnung zu tragen, und in diesem Aufgabenbereich
deshalb die Möglichkeit freier Beschäftigungsverhältnisse
erfordern. In vielen anderen Fällen wird dies allerdings
nicht so sein.
28
Namentlich bei nicht auf ein bestimmtes
Ereignis, sondern auf eine oder mehrere konkrete Sendungen
oder Sendereihen bezogener redaktioneller Tätigkeit ist
nichts dafür ersichtlich, dass mittels Befristungsabreden dem
Bedürfnis nach Personalwechsel nicht in gleicher Weise
Rechnung getragen werden könnte wie das im Rahmen eines
freien Mitarbeiterverhältnisses der Fall ist. Zeitliche oder
auf das jeweilige Projekt oder Sendekonzept bezogene
Befristungen hielten der Rundfunkanstalt in gleicher Weise
wie bei freier Mitarbeit die Möglichkeit offen, bei aus
publizistischen Gründen erfolgter Programm-, insbesondere
Projekt- oder Konzeptänderung einen notwendig erachteten
Personalwechsel umzusetzen und gegebenenfalls auch
Veränderungen im Stellenplan vorzunehmen. Hinzu kommt, worauf
der Beschwerdeführer selbst verwiesen hat, dass bei einem auf
eine gewisse Dauer angelegten freien Mitarbeiterverhältnis
aufgrund der dann anwendbaren Regelung über Auslauffristen
nach dem Tarifvertrag für arbeitnehmerähnliche Personen die
Flexibilität im Vergleich zu befristeter Beschäftigung
ohnehin eher weiter eingeschränkt und die soziale Sicherung
auch im Übrigen eher stärker ausgestaltet sein kann.
29
In den hier zur Entscheidung stehenden Fällen
hat der Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt, worin
sein Interesse begründet ist, im Hinblick auf die
Programmplanung oder auf sonstige von der Rundfunkfreiheit
gedeckte Gründe die konkreten Beschäftigungsverhältnisse der
drei Kläger der Ausgangsverfahren zeit- oder projektbezogen
zu beschränken. Es ist nicht erkennbar, warum hinsichtlich
dieser Mitarbeiter ein Flexibilitätsbedarf besteht, dem
aufgrund des von den Fachgerichten festgestellten
Arbeitnehmerstatus nicht Rechnung getragen werden kann.
Vielmehr sprechen die Art und insbesondere die Dauer der
jeweiligen Tätigkeit der Kläger der Ausgangsverfahren gegen
ein Bedürfnis nach einer besonderen Flexibilität. So handelte
es sich in allen Fällen um eine über Jahre währende
redaktionelle Mitarbeit für jeweils eine bestimmte,
regelmäßig ausgestrahlte Sendung.
30
Unter Berücksichtigung der publizistischen
Aufgaben der Kläger der Ausgangsverfahren begegnen die
rechtlichen Möglichkeiten zur Sicherung von Flexibilität und
Aktualität, insbesondere durch Befristung, in rechtlicher
Hinsicht keinen Bedenken. Der Beschwerdeführer weist in
diesem Zusammenhang im Verfahren 1 BvR 624/98 selbst auf die
durch die Änderung des Beschäftigungsförderungsgesetzes
erfolgte Erleichterung von Befristungsabreden hin. Danach
sind nunmehr Befristungen bis zu 24 Monaten möglich, ohne
dass die hierfür maßgeblichen Gründe einer gerichtlichen
Kontrolle unterliegen. Zuvor ermöglichte das
Beschäftigungsförderungsgesetz Befristungen bis zu immerhin
18 Monaten.
31
Der für darüber hinausgehende Befristungen
nach § 620 Abs. 1 BGB von der Rechtsprechung geforderte
sachliche Grund liegt bei programmgestaltender Tätigkeit in
der Rundfunkfreiheit. Nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts kann die Rundfunkfreiheit die
Befristung des Arbeitsvertrags mit einem programmgestaltenden
Mitarbeiter rechtfertigen, ohne dass weitere Gründe für die
Befristung erforderlich sind. Im Rahmen der
Befristungskontrolle berücksichtigt die Rechtsprechung vor
allem, in welcher Intensität der betroffene Mitarbeiter auf
das Programm der Rundfunk- und Fernsehanstalten Einfluss
nehmen kann und wie groß bei Bejahung eines unbefristeten
Arbeitsverhältnisses die Gefahr ist, dass die Rundfunkanstalt
nicht mehr den Erfordernissen eines vielfältigen Programms
und den sich ändernden Informationsbedürfnissen und
Publikumsinteressen gerecht werden kann (vgl. BAG, NZA 1998,
S. 1336 <1340>).
32
Schließlich können durch Kombination der
Befristungsmöglichkeiten nach dem
Beschäftigungsförderungsgesetz und § 620 Abs. 1 BGB in
rechtlich zulässiger Weise Befristungsketten geschaffen
werden. Hierdurch kann im Bereich des Rundfunks flexibel auf
die Anforderungen des Marktes reagiert werden. Medienbezogene
Projekte, deren terminliche Fertigstellung von Beginn an
nicht oder nur schwer überschaubar ist und die nicht selten
einer längeren und umfangreichen Nachbearbeitung bedürfen -
wozu die weitere befristete Beschäftigung der an dem Projekt
arbeitenden Mitarbeiter erforderlich wird -, lassen sich auf
diese Weise weitgehend ohne das Risiko einer Vernachlässigung
der Belange der Rundfunkfreiheit realisieren (vgl.
Bezani/Müller, Arbeitsrecht in Medienunternehmen, 1999, Rn.
195 und 286).
33
Die mit dem Ausschluss freier Mitarbeit
verbundene Wirkung der Einordnung des
Beschäftigungsverhältnisses als Arbeitsverhältnis
beeinträchtigt damit in den vorliegenden Fällen nicht das
Grundrecht auf Rundfunkfreiheit. Es ist folglich nicht zu
beanstanden, dass das Landesarbeitsgericht die Einstufung der
Kläger als Arbeitnehmer nicht als Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1
Satz 2 GG behandelt hat.
34
3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß
§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
35
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Hoffmann-Riem | bundesverfassungsgericht |
85-2009 | 28. Juli 2009 | Beweismittel können auch nach rechtswidriger Wohnungsdurchsuchung verwertet werden
Pressemitteilung Nr. 85/2009 vom 28. Juli 2009
Beschluss vom 02. Juli 20092 BvR 2225/08
Das Amtsgericht München ordnete die Durchsuchung der Wohnungen des Beschwerdeführers im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen eines Verstoßes gegen das Markenrecht zum Zwecke der Beschlagnahme von Rechneranlagen sowie von weiteren Unterlagen an. Bei den Durchsuchungen fand die Polizei keine Beweismittel, die im Zusammenhang mit diesem Tatvorwurf standen. Das Ermittlungsverfahren wegen des Verstoßes gegen das Markenrecht wurde daher eingestellt. Der zugrundeliegende Durchsuchungsbeschluss wurde durch die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 13. November 2005 - 2 BvR 728/05 u.a. - deswegen aufgehoben, weil der mit der Durchsuchung verbundene Grundrechtseingriff außer Verhältnis zu dem allenfalls geringen Tatverdacht gestanden habe.
Bei der Durchsuchung einer der Wohnungen des Beschwerdeführers, die dieser gemeinsam mit anderen Personen bewohnte, fanden die Ermittlungspersonen in einem dem Beschwerdeführer zugeordneten Zimmer Haschisch in nicht geringer Menge sowie zwei Feinwaagen. Der Beschwerdeführer wurde deswegen vom Amtsgericht wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt. Dieses Urteil wurde auf die Revision des Beschwerdeführers hin vom Oberlandesgericht wegen lückenhafter Beweiswürdigung insoweit aufgehoben, als es um die Zuordnung des Haschischs zum Besitz des Beschwerdeführers ging. Die bei der Durchsuchung gewonnenen Beweismittel sah das Gericht aber als verwertbar an. Der Beschwerdeführer legte gegen diesen Beschluss Verfassungsbeschwerde ein, die nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
Nach Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht sprach dieses den Beschwerdeführer vom Tatvorwurf des § 29a BtMG frei. Es bejahte ein Verwertungsverbot bzgl. der gewonnenen Beweismittel im Hinblick auf den mit der Wohnungsdurchsuchung verbundenen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hob das Landgericht wiederum das amtsgerichtliche Urteil auf und verurteilte den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Landgericht verneinte ein Verwertungsverbot mit der Begründung, dass dieses nur aus übergeordneten Gründen im Einzelfall anzunehmen sei. Die Revision des Beschwerdeführers blieb ohne Erfolg.
Die erneute Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen. Die Verwertung der bei dieser Durchsuchung gewonnenen Beweismittel im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Verstoß gegen das BtmG verstößt nicht gegen Art. 13 Abs. 1 GG. Zwar verletzte die Anordnung und Durchführung der Durchsuchung den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG, wie die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 13. November 2005 festgestellt hat. Es besteht aber kein Rechtssatz des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften Beweiserhebung die Verwertung der gewonnenen Beweise stets unzulässig wäre. Für die Beurteilung der Frage, welche Folgen ein möglicher Verstoß gegen strafprozessuale Verfahrensvorschriften hat und ob hierzu insbesondere ein Beweisverwertungsverbot zählt, sind in erster Linie die Fachgerichte zuständig. Diese gehen in gefestigter, willkürfreier Rechtsprechung davon aus, dass dem Strafverfahrensrecht ein allgemein geltender Grundsatz, dass jeder Verstoß bei der Beweisgewinnung ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, fremd ist, und dass die Frage jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden ist. Ein Beweisverwertungsverbot bedeutet eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Insbesondere die willkürliche Annahme von Gefahr im Verzug oder das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Fehlers können - müssen indes nicht in jedem Fall - danach ein Verwertungsverbot nach sich ziehen. Die Gerichte haben im vorliegenden Fall die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze ausreichend beachtet. Insbesondere wurde die Schwere der Grundrechtsverletzung bei der Durchsuchung in ihrer Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung und der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren wegen des Verbrechenstatbestandes des § 29a Abs. 1 BtMG angemessen berücksichtigt.
Es liegt auch kein Verstoß gegen das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG vor. Denn es liegen keine Anhaltspunkte für eine willkürliche, den Fairnessgrundsatz ignorierende Handhabung der strafprozessualen Grundsätze über Beweisverwertungsverbote vor.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2225/08 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P...
- Bevollmächtigte:
1. Rechtsanwalt Dr. Ralf Ritter,
Schulterblatt 124, 20357 Hamburg,
Rechtsanwältin Britta Eder,
Bartelsstraße 9, 20357 Hamburg -
gegen
a)
den Beschluss des
Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 16. September 2008 -
2 - 10/08 (REV) -,
b)
das Urteil des Landgerichts
Hamburg vom 5. Oktober 2007 - 704 Ns 72/07 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Broß,
Di Fabio
und Landau
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 2. Juli 2009 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die
Verwertung von Beweismitteln nach einer rechtswidrigen
Wohnungsdurchsuchung.
I.
2
1. Die Wohnung des Beschwerdeführers wurde auf
Anordnung des Amtsgerichts München durchsucht. Der
Durchsuchung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der
Beschwerdeführer hatte als damaliges Vorstandsmitglied des
Vereins „R.e.V.“ im Jahr 1995 bei der Postbank München ein
Konto für dessen Ortsgruppe München einrichten lassen.
Zeichnungsberechtigt waren drei Münchner Vereinsmitglieder.
Das Konto wurde genutzt, um Mitgliedsbeiträge und Spenden zu
verbuchen. Hierzu wurde das Konto öffentlich, etwa in
Broschüren, bekannt gemacht. Der Beschwerdeführer schied im
Jahr 2000 aus dem Vereinsvorstand aus.
3
Im Januar 2003 wurde ein Fall des Verstoßes
gegen das Markengesetz bekannt. Der spätere Anzeigeerstatter
hatte bei dem Internetauktionshaus Ebay eine Uhr der Marke
„Rado“, die sich als Fälschung erwies, ersteigert und per
Nachnahme bezahlt. Vom Verkäufer, der im Internet den
Kontaktnamen „s.“ verwendete und als Kontonummer diejenige
des Vereins „R.e.V.“ angegeben hatte, war die Rückabwicklung
des Geschäfts verweigert worden. Im E-Mail-Verkehr mit dem
Anzeigeerstatter hatte der Verkäufer die E-Mail-Adresse „s.“
gebraucht. Nach einer im Zuge der polizeilichen Ermittlungen
erteilten Auskunft des Internetanbieters Ebay handelte es
sich beim Verkäufer um D. aus München. Die Firma Ebay teilte
außerdem mit, die Kontoverbindung sei für eine Vielzahl von
weiteren Accounts, also von weiteren Anbietern, verwendet
worden. Über diese Accounts seien bei Ebay auch
Computerprogramme verkauft worden. D. gab in der
Beschuldigtenvernehmung an, mit dem Verkauf der Uhr nichts zu
tun zu haben.
4
Eine Bankanfrage ergab, dass auf dem vom
Verkäufer angegebenen Konto des Vereins nur ein
Zahlungsvorgang verbucht war, der sich auf Verkäufe über den
Internetanbieter Ebay bezog. 36,33 € waren von Ebay
eingezogen und nach Widerspruch der Kontoinhaber
zurückgebucht worden.
5
2. Das Amtsgericht München ordnete mit
Beschluss vom 21. September 2004 die Durchsuchung der
Wohnungen des Beschwerdeführers und der drei nach den
Kontounterlagen zeichnungsbefugten weiteren Vereinsmitglieder
zum Zwecke der Beschlagnahme von Rechneranlagen sowie von
Unterlagen an, die Aufschluss darüber gäben, dass die
Beschuldigten Uhrenplagiate sowie Computerprogramme ohne
Genehmigung des Rechteinhabers veräußert haben könnten. Alle
vier Personen seien verdächtig, Plagiate der Marke „Rado“
sowie verschiedene Computerprogramme ohne Genehmigung des
Rechteinhabers veräußert zu haben. Die Wohnung des
Beschwerdeführers wurde am 8. Dezember 2004 durchsucht.
6
3. Nachdem der Beschwerdeführer
Verfassungsbeschwerde erhoben hatte, stellte die 3. Kammer
des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit
Beschluss vom 13. November 2005 - 2 BvR 728/05 u.a. -
(NStZ-RR 2006, S. 110) fest, dass der Durchsuchungsbeschluss
und der ihn bestätigende Beschwerdebeschluss sowie die
Wohnungsdurchsuchung den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG verletzten. Die
Beschlüsse wurden aufgehoben. Zur Begründung führte das
Bundesverfassungsgericht aus, der mit der Durchsuchung
verbundene Grundrechtseingriff habe außer Verhältnis zu dem
allenfalls geringen Tatverdacht gestanden. Bei der
bestehenden Sachlage wären vor der Anordnung einer in die
Grundrechte der Betroffenen schwerwiegend eingreifenden
Durchsuchung andere grundrechtsschonendere
Ermittlungsschritte vorzunehmen gewesen, um den allenfalls
geringen Tatverdacht zu erhärten oder endgültig zu
zerstreuen.
7
4. Bei der Wohnungsdurchsuchung wurde nichts
gefunden, was auf einen Zusammenhang mit der Tat hindeutete,
wegen der das Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war.
Dieses Ermittlungsverfahren wurde schließlich gemäß
§ 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Bei der Durchsuchung der
Wohnung, die der Beschwerdeführer mit anderen Personen im
Rahmen einer Wohngemeinschaft bewohnte, wurden aber in einem
dem Beschwerdeführer zugeordneten Zimmer in einem Nachttisch
rd. 463g Haschisch mit einem Wirkstoffgehalt von rd. 39g THC
sowie zwei Feinwaagen gefunden. In dem daraufhin
eingeleiteten Verfahren wegen Verstoßes gegen das
Betäubungsmittelgesetz wurde der Beschwerdeführer zunächst
vom Amtsgericht Hamburg mit Urteil vom 24. Januar 2006
verurteilt. Dieses Urteil wurde auf die Revision des
Beschwerdeführers hin vom Oberlandesgericht mit Beschluss vom
5. September 2006 mit der Begründung aufgehoben, die
Beweiswürdigung des Amtsgerichts sei lückenhaft, soweit es um
die Zuordnung des Haschischs zum Besitz des Beschwerdeführers
gehe. Weiter führte das Oberlandesgericht aus, die
Verfahrensrüge des Beschwerdeführers sei unbegründet; denn
die bei der Durchsuchung gewonnenen Beweismittel unterlägen
keinem Verwertungsverbot. Der Beschwerdeführer legte gegen
diesen Beschluss Verfassungsbeschwerde ein, die als
unzulässig nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
8
5. Nach Zurückverweisung der Sache teilte der
Beschwerdeführer dem Amtsgericht schriftlich mit, das Zimmer,
in dem das Haschisch gefunden worden sei, sei allein und
ausschließlich von ihm benutzt worden. In der neuen
Hauptverhandlung widersprach der Beschwerdeführer der
Verwertung der Ergebnisse der Wohnungsdurchsuchung und
schwieg zur Sache. Er wurde mit Urteil des Amtsgerichts
Hamburg vom 18. April 2007 freigesprochen. Das Amtsgericht
begründete dies damit, die Ergebnisse der
Wohnungsdurchsuchung unterlägen im Hinblick auf den mit der
Wohnungsdurchsuchung verbundenen schwerwiegenden
Grundrechtsverstoß einem Verwertungsverbot. Die
Staatsanwaltschaft legte dagegen Berufung ein. In der
Berufungsverhandlung widersprach der Beschwerdeführer erneut
der Verwertung der Ergebnisse der Wohnungsdurchsuchung und
machte keine Angaben zur Sache. Das Landgericht Hamburg hob
mit Urteil vom 5. Oktober 2007 das amtsgerichtliche
Urteil auf und verurteilte den Beschwerdeführer wegen
unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren
Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Kammer
führte aus, aus dem Verstoß gegen
Art. 13 Abs. 1 GG durch die
Wohnungsdurchsuchung folge kein Verwertungsverbot. Die Kammer
schließe sich der Ansicht des Oberlandesgerichts im Beschluss
vom 5. September 2006 an und mache sich dessen
Argumentation zu eigen, falls diese Ausführungen nicht
ohnehin bindend sein sollten. Ein Verwertungsverbot sei nur
aus übergeordneten Gründen im Einzelfall anzunehmen. Die
Durchsuchung habe den Beschwerdeführer gewichtig in seinem
Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG verletzt. Allerdings
sei einschränkend zu berücksichtigen, dass der
Beschwerdeführer die Wohnung in einer Wohngemeinschaft mit
weiteren Personen teilte, so dass von einem gegenüber einer
Einzelwohnung herabgesetzten Privatheitsanspruch auszugehen
sei. Dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung
gebühre hier der Vorrang, da der Beschwerdeführer schweres
Unrecht verwirklicht habe und die Durchsuchung auch in
rechtmäßiger Weise hätte angeordnet werden können. Es könne
dahinstehen, ob der Durchsuchungsbeschluss weitere formelle
Fehler aufweise. Anhaltspunkte für einen bewussten oder
willkürlichen Rechtsverstoß lägen nicht vor.
9
6. Die Revision des Beschwerdeführers verwarf
das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 16. September 2008
als unbegründet. Ein Verwertungsverbot bestehe nicht. Der
Senat gehe bei seiner Abwägung zugunsten des
Beschwerdeführers davon aus, dass bei Anordnung und
Durchführung der Durchsuchung gegen den Beschwerdeführer kein
ausreichender Anfangsverdacht für einen Markenrechtsverstoß
bestanden habe. Der darin liegende Verstoß gegen § 102
StPO und die gewichtige Verletzung des Grundrechts aus
Art. 13 Abs. 1 GG wiege jedoch in der Abwägung gegenüber
dem öffentlichen Interesse an der Aufklärung des
Betäubungsmittelverbrechens nicht so schwer, dass das
Aufklärungsinteresse hinter den Interessen des
Beschwerdeführers zurücktreten müsse. Ein bewusster oder
willkürlicher Rechtsverstoß bei der Anordnung und
Durchführung der Wohnungsdurchsuchung sei nicht gegeben. Das
etwaige Bestehen weiterer lediglich formaler Fehler könne
dahinstehen, da darin gegenüber dem materiellrechtlichen
Rechtsfehler und der Grundrechtsverletzung durch den
Durchsuchungsbeschluss kein zusätzliches Gewicht liege. Der
Beschwerdeführer habe mit der durch die Durchsuchung
aufgedeckten Tat schweres Unrecht verwirklicht. Zwar habe das
Landgericht die Tat als minder schweren Fall des unerlaubten
Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge
gewertet, da es sich bei dem Haschisch lediglich um eine so
genannte „weiche“ Droge gehandelt habe und eine Bestimmung
des Haschisch zum Handeltreiben nicht festgestellt worden
sei. Doch sei die nicht geringe Menge des Betäubungsmittels
hier um ein Mehrfaches überschritten gewesen und aufgrund der
erheblichen Menge der Droge habe die typische Gefahr der
Abgabe eines Teils der zum Eigenkonsum bestimmten Drogen an
andere Personen bestanden. In der Gesamtabwägung überwiege
daher das öffentliche Interesse an einer möglichst
vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafprozess. Für die
Gewichtung sei auch zu berücksichtigen, dass das zu Tage
getretene Betäubungsmittelverbrechen ohne Verletzung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Anordnung der
durchgeführten Durchsuchung gerechtfertigt hätte.
II.
10
Mit der fristgerecht erhobenen
Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine
Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG sowie von Art. 13 Abs. 1 GG.
11
Die Verwertung der Erkenntnisse aus der
grundrechtswidrigen Wohnungsdurchsuchung verletze den
Beschwerdeführer erneut in seinem Grundrecht aus Art. 13
Abs. 1 GG. Aus der Verfassungswidrigkeit der Durchsuchung
folge ein Beweisverwertungsverbot, das keine Abwägung
voraussetze. Doch auch wenn man der Ansicht folgen wollte,
das Bestehen eines Beweisverwertungsverbotes sei im Wege der
Abwägung zu ermitteln, hätten die Gerichte hier eine
fehlerhafte Abwägung vorgenommen. Die Gerichte hätten bei
ihrer Abwägung neben der Unverhältnismäßigkeit der
Durchsuchung und dem fehlenden Tatverdacht das Bestehen
möglicher weiterer Fehler der Durchsuchung nicht offenlassen
dürfen. Diese weiteren Fehler vertieften die Rechtsverletzung
und seien daher abwägungsrelevant. Es hätte berücksichtigt
werden müssen, dass bei richtiger Würdigung kein
Anfangsverdacht eines Markenrechtsverstoßes gegen den
Beschwerdeführer bestanden habe, der Durchsuchungsbeschluss
nicht hinreichend bestimmt und sogar willkürlich gewesen sei,
da er auf einem objektiv grob falschen polizeilichen
Ermittlungsbericht beruht habe. Die in diesem Bericht
enthaltene Darstellung des angeblichen Ermittlungsstandes,
die Überweisungen aus den Ebay-Verkäufen seien auf das
besagte Konto gelaufen und insbesondere bei der Buchung und
Rückbuchung von 36,33 € habe es sich eindeutig um die
Bezahlung von Anbieterkosten bei Ebay gehandelt, sei falsch
und objektiv irreführend. Die Gerichte hätten zudem
fälschlich mit der Möglichkeit eines hypothetischen
Ersatzeingriffs argumentiert, obwohl ein solcher angesichts
des fehlenden Tatverdachts und der Unverhältnismäßigkeit der
Durchsuchung nicht denkbar gewesen wäre. Schließlich sei in
der Abwägung der grundrechtliche Schutz der Wohnung nicht
angemessen gewichtet worden. Das Landgericht habe zudem den
Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG falsch bestimmt,
indem es davon ausgegangen sei, der Unverletzlichkeit der
Wohnung komme bei einer Wohngemeinschaft nur ein geringerer
grundrechtlicher Schutz zu. Die Verwertung der Ergebnisse aus
einer grundrechtswidrigen Durchsuchung entspreche bei dieser
Sachlage nicht mehr rechtsstaatlichen Mindeststandards und
verletze daher auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf
ein faires Verfahren.
III.
12
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des
§ 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der
Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur
Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte
angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>; 96, 245
<248 ff.>). Sie hat keine hinreichende Aussicht
auf Erfolg, da sie unbegründet ist.
13
1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen
den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht auf
Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG.
14
a) Die Gewährleistung des Art. 13 Abs. 1
GG umfasst den Schutz der räumlichen Privatsphäre vor
staatlichen Eingriffen und erstreckt sich auch auf den
Gebrauch, der von den durch das Eindringen in die Wohnung
erlangten Kenntnissen gemacht wird (vgl. BVerfGE 109, 279
<325 f.>). Die Anordnung und Durchführung der
Durchsuchung verletzte den Beschwerdeführer zwar in seinem
Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG, wie die 3. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom
13. November 2005 festgestellt hat. Die Verwertung der bei
dieser Durchsuchung gewonnenen Beweismittel im Strafverfahren
gegen den Beschwerdeführer verstößt dagegen nicht gegen
Art. 13 Abs. 1 GG.
15
Die Feststellungen zur Tat des
Beschwerdeführers im Urteil des Landgerichts stützten sich
maßgeblich auf die bei der Wohnungsdurchsuchung
beschlagnahmten Beweismittel. Es besteht aber kein Rechtssatz
des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften
Beweiserhebung die Verwertung der gewonnenen Beweise stets
unzulässig wäre (vgl. BVerfGK 9, 174 <196>; BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April
2000 - 2 BvR 1990/96 -, NJW 2000, S. 3556; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 2000 - 2
BvR 75/94 -, NJW 2000, S. 3557; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 - 2 BvR
2017/94, 2 BvR 2039/94 -, NStZ 2000, S. 489 <490>;
BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom
30. Juni 2005 - 2 BvR 1502/04 -, NStZ 2006, S. 46). Die
Beurteilung der Frage, welche Folgen ein möglicher Verstoß
gegen strafprozessuale Verfahrensvorschriften hat und ob
hierzu insbesondere ein Beweisverwertungsverbot zählt,
obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten (vgl.
BVerfGK 4, 283 <285>; 9, 174 <196>; BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Juli 2008
- 2 BvR 784/08 -, NJW 2008, S. 3053 <3054>).
16
Dabei gehen die Strafgerichte in gefestigter,
willkürfreier Rechtsprechung davon aus, dass dem
Strafverfahrensrecht ein allgemein geltender Grundsatz, dass
jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein
strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, fremd
ist, und dass die Frage jeweils nach den Umständen des
Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem
Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden
Interessen zu entscheiden ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2.
Kammer des Zweiten Senats vom 28. Juli 2008 - 2 BvR 784/08 -,
NJW 2008, S. 3053; BGHSt 38, 214 <219 f.>; 44, 243
<249>; 51, 285 <289 f.>; vgl. auch Schäfer,
in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2004, § 105 Rn. 119;
Nack, in: Karlsruher Kommentar zur StPO,
6. Aufl. 2008, vor § 94 Rn. 10). Auch wenn die
Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung „um jeden
Preis“ gerichtet ist, schränkt die Annahme eines
Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des
Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das
Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die
Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und
Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Das
Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die
Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen
Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum
Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367
<383>; 46, 214 <222>). Der Rechtsstaat kann sich
nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür
getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden
Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung
zugeführt werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214
<222>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15.
Januar 2009 - 2 BvR
2044/07 -, NJW 2009, S. 1469 <1474>).
Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine
Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift
oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall
anzuerkennen ist (vgl. BGHSt 44, 243 <249>; 51, 285
<290>). Insbesondere die willkürliche Annahme von
Gefahr im Verzug oder das Vorliegen eines besonders schwer
wiegenden Fehlers können - müssen indes nicht in jedem Fall -
danach ein Verwertungsverbot nach sich ziehen (vgl. BGHSt 51,
285 <292>; BGH, Beschluss vom 18. November 2003 - 1 StR
455/03 -, NStZ 2004, S. 449 <450>).
17
Auch bei der Frage eines
Beweisverwertungsverbots wegen Mängeln der
Durchsuchungsanordnung ist eine Abwägung des
Strafverfolgungsinteresses mit dem betroffenen
Individualinteresse erforderlich (vgl. BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. November 2001 - 2
BvR 2257/00 -, StV 2002, S. 113). Die
Strafprozessordnung stellt kein grundsätzliches
Beschlagnahmeverbot für Fälle fehlerhafter Durchsuchungen
auf, die zur Sicherstellung von Beweisgegenständen führen
(vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats
vom 9. Oktober 2003 - 2 BvR 1707/02 -, NStZ 2004, S. 216).
Ein Beweisverwertungsverbot ist grundsätzlich nur dann Folge
einer fehlerhaften Durchsuchung, wenn die zur
Fehlerhaftigkeit der Ermittlungsmaßnahme führenden
Verfahrensverstöße schwerwiegend waren oder bewusst oder
willkürlich begangen wurden (vgl. BVerfGE 113, 29 <61>;
BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15.
Juli 1998 - 2 BvR 446/98 -, NJW 1999, S. 273 <274>;
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweitens Senats vom 16.
März 2006 - 2 BvR 954/02 -, NJW 2006, S. 2684
<2686>).
18
b) Die Gerichte sind in den angegriffenen
Entscheidungen von diesen Grundsätzen ausgegangen. Die
Anwendung des rechtlichen Maßstabes auf den vorliegenden Fall
ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die
rechtswidrige Durchsuchungsmaßnahme musste nicht zwingend zu
einem Verwertungsverbot hinsichtlich der dabei als
Zufallsfund beschlagnahmten Beweismittel führen.
19
Die Gerichte haben die Schwere der
Grundrechtsverletzung bei der Durchsuchung in ihrer Abwägung
noch angemessen gewichtet. Die Gerichte haben hier den
Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift des § 102 StPO
durch die Durchsuchung und den damit verbundenen
unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf
Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG
zugrunde gelegt. Bei der Beurteilung der Rechtsverletzung des
Beschwerdeführers durch die Durchsuchung sind die Gerichte
zugunsten des Beschwerdeführers davon ausgegangen, dass es
bei Anordnung der Durchsuchung an einem Tatverdacht
hinsichtlich eines Markenrechtsverstoßes ganz fehlte. Das
Landgericht hat dabei zwar in seinem Urteil den Schutzbereich
des Art. 13 Abs. 1 GG unscharf gefasst, indem es ein
geringeres grundrechtliches Schutzniveau für
Wohngemeinschaften andeutete. Grundrechtsträger des
Art. 13 Abs. 1 GG ist jedoch jeder Inhaber oder Bewohner
eines Wohnraums, unabhängig davon, auf welchen
Rechtsverhältnissen die Nutzung des Wohnraums beruht (vgl.
BVerfGE 109, 279 <326>). Dessen ungeachtet legte aber
auch das Landgericht seiner Abwägung eine erhebliche
Grundrechtsverletzung zugrunde, ebenso wie das
Oberlandesgericht bei korrekter Anwendung des
grundrechtlichen Maßstabes ein Verwertungsverbot in nicht zu
beanstandender Weise ablehnte. Die Gerichte gingen zu Recht
davon aus, dass keine Anhaltspunkte für einen bewussten oder
willkürlichen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften vorlagen.
Auch die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Einwände, die
ermittelnden Polizeibeamten hätten sich bewusst über das
Fehlen eines hinreichenden Tatverdachts hinweggesetzt, findet
im Verfahrensablauf keine Tatsachengrundlage. Die
beanstandete Darstellung im Ermittlungsbericht war
fehlerhaft, jedoch ohne dass man daraus auf eine bewusst
rechtswidrige oder willkürliche Rechtsanwendung durch den
Ermittlungsrichter schließen könnte.
20
Es ist nicht zu beanstanden, dass die Gerichte
bei ihrer Abwägung das Vorliegen möglicher weiterer, formaler
Fehler des Durchsuchungsbeschlusses offen ließen. Das Fehlen
des Tatverdachts als materieller Mangel der Anordnung, den
die Gerichte hier zugrunde legten, und die
Unverhältnismäßigkeit der Durchsuchung gehen über die
behaupteten formalen Fehler des Beschlusses bereits hinaus.
Da es bereits am Tatverdacht und der Verhältnismäßigkeit der
Anordnung fehlte, konnte der Durchsuchungsbeschluss
ersichtlich keine inhaltlich korrekten und bestimmten Angaben
zur Tat, zu den Verdachtsgründen oder zur Verhältnismäßigkeit
enthalten.
21
In der Abwägung mit dem öffentlichen Interesse
an einer effektiven Strafverfolgung und der
Wahrheitsermittlung im Strafverfahren wegen des
Verbrechenstatbestandes des § 29a Abs. 1 BtMG konnten
die Gerichte daher von einer Verwertbarkeit der Beweismittel
ausgehen. Die weiteren Erwägungen der Gerichte zur
Möglichkeit eines hypothetischen, rechtmäßigen
Ersatzeingriffes in diesem Fall bezogen sich allein darauf,
dass hinsichtlich des Zufallsfundes der Betäubungsmittel die
Anordnung von Durchsuchung und Beschlagnahme aufgrund der
Schwere der Tat verhältnismäßig gewesen wäre. Die Gerichte
haben dabei nicht übersehen, dass vor der Durchsuchung kein
Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer wegen eines
Betäubungsmitteldeliktes bestand.
22
2. Es liegt auch kein Verstoß gegen das Recht
des Beschwerdeführers auf ein faires, rechtsstaatliches
Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG vor. Die Begründung eines
Verwertungsverbots ist hier weder im Hinblick auf die
betroffenen Verfahrensbelange des Beschwerdeführers noch zur
Sicherung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens insgesamt
verfassungsrechtlich geboten.
23
Aus dem Prozessgrundrecht auf ein faires,
rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 20 Abs. 3 GG), dessen Wurzeln in der
freiheitssichernden Funktion der Grundrechte liegen (vgl.
BVerfGE 57, 250 <275>), ergeben sich
Mindesterfordernisse für eine Verfahrensregelung, die eine
zuverlässige Wahrheitserforschung im prozessualen
Hauptverfahren sicherstellen. Eine Verletzung des Rechts auf
ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine
Gesamtschau auf das Verfahrensrecht - auch in seiner
Auslegung und Anwendung durch die Gerichte - ergibt, dass
rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden
sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde
(vgl. BVerfGE 57, 250 <276>; 64, 135
<145 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom
15. Januar 2009 - 2 BvR 2044/07 -, NJW 2009, S. 1469
<1474>). Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die
Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in
den Blick zu nehmen (vgl. BVerfGE 47, 239 <250>; 80,
367 <375>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15.
Januar 2009 - 2 BvR 2044/07 -, NJW 2009, S. 1469
<1474>).
24
Unter diesem Gesichtspunkt ist lediglich zu
prüfen, ob ein rechtsstaatlicher Mindeststandard gewahrt ist
(vgl. BVerfGE 57, 250 <275 f.>) und weiter, ob die
maßgeblichen strafrechtlichen Vorschriften unter Beachtung
des Fairnessgrundsatzes und in objektiv vertretbarer Weise,
also ohne Verstoß gegen das allgemeine Willkürverbot
(Art. 3 Abs. 1 GG), ausgelegt und angewandt worden sind
(vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1987 - 2 BvR
1133/86 -, NJW 1987, S. 2662 <2663>). Hier liegen
jedoch - wie oben dargelegt - keine Anhaltspunkte für eine
willkürliche, den Fairnessgrundsatz ignorierende Handhabung
der strafprozessualen Grundsätze über
Beweisverwertungsverbote vor. In Fällen wie dem vorliegenden
ist daher die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes unter
dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Mindeststandards
nicht geboten.
25
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Broß
Di Fabio
Landau | bundesverfassungsgericht |
42-1999 | 7. April 1999 | Verfassungswidrige Wohnraumdurchsuchung
Pressemitteilung Nr. 42/1999 vom 7. April 1999
Beschluss vom 22. März 19992 BvR 2158/98
Die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde-Verfahren festgestellt, daß eine wegen Verdachts einer ausländerrechtlichen Ordnungswidrigkeit richterlich angeordnete Wohnungsdurchsuchung wegen Verstoßes gegen Art. 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung) i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip des GG verfassungswidrig war.
I.
Der Beschwerdeführer, ein abgelehnter Asylbewerber, hatte beim Standesamt Geburtsurkunde und Ledigkeitsbescheinigung vorgelegt. Der Aufforderung der Ausländerbehörde, weitere Unterlagen zum Nachweis seiner Identität vorzulegen, war er nicht nachgekommen. Daraufhin erließ das Amtsgericht (AG) einen Durchsuchungsbeschluß. Zur Begründung verwies es auf den "Verdacht des Ordnungswidrigkeitsverstoßes nach dem Ausländergesetz"; die "bei der Durchsuchung etwa aufgefundenen sachdienlichen Gegenstände, insbesondere Geburtsurkunden und Ledigkeitsbescheinigungen" seien zu beschlagnahmen.
Nach der Durchsuchung erhob der Beschwerdeführer gegen den Beschluß des AG Beschwerde zum Landgericht (LG). Diese wurde als unbegründet verworfen. Der lediglich formelhaft abgefaßte Durchsuchungsbeschluß sei zwar unzureichend gewesen. Der Beschwerdeführer sei aber zum Zeitpunkt des Erlasses einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 93 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 40 AuslG verdächtig gewesen, weil er dem Verlangen der Behörde, Identitätspapiere vorzulegen, nicht nachgekommen sei.
II.
Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hatte Erfolg. Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen worden.
Der Beschluß des AG verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht Art. 13 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip.
Eine Durchsuchung ist regelmäßig ein schwerwiegender Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen. Sie steht daher unter dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es ist Aufgabe des Richters, durch geeignete Formulierungen im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherzustellen, daß der Eingriff in die Grundrechte meßbar und kontrollierbar bleibt. Ein Durchsuchungsbeschluß, der keinerlei tatsächliche Angaben über den Inhalt des Tatvorwurfs enthält, wird diesen Anforderungen jedenfalls dann nicht gerecht, wenn solche Angaben nach dem Ergebnis der Ermittlungen ohne weiteres möglich und den Zwecken der Strafverfolgung nicht abträglich sind.
Diesem Maßstab genügt der Beschluß des AG nicht. Er enthält ohne rechtfertigenden Grund weder tatsächliche noch rechtliche Angaben zum Tatvorwurf. Allein der Hinweis, es gehe um eine ausländerrechtliche Ordnungswidrigkeit und insbesondere seien Geburtsurkunden und Ledigkeitsbescheinigungen zu beschlagnahmen, läßt keinen Rückschluß auf eine bestimmte Tat zu.
Der Beschluß des LG setzt den Verfassungsverstoß des AG fort. Auch seiner Entscheidung läßt sich kein hinreichend bestimmter Tatvorwurf entnehmen. Neben der Bezeichnung der Vorschrift des Ausländergesetzes führt das Gericht nur aus, der Beschwerdeführer sei dem Verlangen der Behörde, Identitätspapiere vorzulegen, nicht nachgekommen. Um welche Papiere es sich handeln soll, wird nicht angegeben. Die vom AG genannten Geburtsurkunden und Ledigkeitsbescheinigungen fallen jedenfalls nicht unter die vom LG bezeichnete Vorschrift des AuslG.
Im übrigen rechtfertigt nicht allein die Vermutung, der Beschwerdeführer könne im Besitz von Identitätspapieren im Sinne der Bußgeldvorschrift sein, ohne weitere tatsächliche Anhaltspunkte die Anordnung der Durchsuchung. Ein solcher Eingriff muß in angemessenem Verhältnis zur Stärke des Tatverdachts und zur Schwere der Tat stehen. Dieses Verhältnis ist bei der Vermutung einer Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße von höchstens 5.000,-- DM bewährt ist, nicht gewahrt.
nach oben | Bundesverfassungsgericht
- 2 BvR 2158/98 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn O...
-
gegen a)
den Beschluß des
Landgerichts Verden
vom 2. November 1998 - 1 Qs 229/98 -,
b)
den Beschluß des
Amtsgerichts Syke
vom 17. Juli 1998 - 8 Gs 196/98 -
u n d
Antrag auf Bewilligung von
Prozeßkostenhilfe
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin
Präsidentin Limbach
und die Richter Winter,
Hassemer
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a
Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 22.
März 1999 einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Syke vom 17.
Juli 1998 - 8 Gs 196/98 - und des Landgerichts Verden vom 2.
November 1998 - 1 Qs 229/98 - verletzen das Grundrecht des
Beschwerdeführers aus Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes
in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des
Grundgesetzes.
Der Beschluß des Landgerichts Verden vom 2. November 1998 - 1
Qs 229/98 - wird aufgehoben. Die Sache wird an das
Landgericht Verden zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur
Entscheidung angenommen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine
Durchsuchungsanordnung wegen Verdachts einer
ausländerrechtlichen Ordnungswidrigkeit.
I.
2
1. a) Der Wohnraum des Beschwerdeführers wurde
aufgrund richterlicher Anordnung durchsucht. Zur Begründung
verwies das Amtsgericht auf den "Verdacht des
Ordnungswidrigkeitsverstoßes nach dem Ausländergesetz"; die
"bei der Durchsuchung etwa aufgefundenen sachdienlichen
Gegenstände, insbesondere Geburtsurkunden und
Ledigkeitsbescheinigungen", seien zu beschlagnahmen. Die
Ausländerbehörde hatte die Anordnung dieser Maßnahmen
beantragt, nachdem der Beschwerdeführer, ein abgelehnter
Asylbewerber, Geburtsurkunde und Ledigkeitsbescheinigung beim
Standesamt vorgelegt hatte, während er Aufforderungen der
Ausländerbehörde, Unterlagen zum Nachweis seiner Identität
vorzulegen, nicht nachgekommen war.
3
b) Die Beschwerde gegen den Beschluß des
Amtsgerichts verwarf das Landgericht als unbegründet. Der
lediglich formelhafte Durchsuchungsbeschluß sei zwar
unzureichend gewesen. Der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt
des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses aber einer
Ordnungswidrigkeit gemäß § 93 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m.
§ 40 AuslG verdächtig gewesen, weil er dem Verlangen der
Behörde, Identitätspapiere vorzulegen, nicht nachgekommen
sei.
4
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet
sich der Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des
Amtsgerichts und des Landgerichts und rügt eine Verletzung
seines Grundrechts aus Art. 13 GG. Der Beschluß des
Amtsgerichts sei völlig unbestimmt, die Anordnung der
Durchsuchung allein wegen des Verdachts einer
Ordnungswidrigkeit sei unverhältnismäßig. Auch das
Landgericht habe sich mit der Unbestimmtheit und der
fehlenden Verhältnismäßigkeit nicht auseinandergesetzt.
5
3. Das Niedersächsische Ministerium der Justiz
und für Europaangelegenheiten hatte Gelegenheit zur
Stellungnahme.
II.
6
Die Verfassungsbeschwerde wird, soweit sie
zulässig ist, zur Entscheidung angenommen, weil dies zur
Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt
ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Kammer ist
zur Sachentscheidung berufen, da das Bundesverfassungsgericht
die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits
entschieden hat und die Verfassungsbeschwerde, soweit
zulässig, offensichtlich begründet ist (§§ 93b Satz 1,
93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
7
1. Der Beschluß des Amtsgerichts verletzt das
Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 13 Abs. 1 GG i. V.
m. dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Eine
Durchsuchung ist regelmäßig ein schwerwiegender Eingriff in
die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen.
Sie steht daher ebenso wie ihre Anordnung unter dem
allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es ist
Aufgabe des Richters, von vornherein für eine angemessene
Begrenzung der Zwangsmaßnahme Sorge zu tragen. Er muß durch
eine geeignete Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses im
Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherstellen, daß der
Eingriff in die Grundrechte meßbar und kontrollierbar bleibt.
Ein Durchsuchungsbefehl, der keinerlei tatsächliche Angaben
über den Inhalt des Tatvorwurfs enthält, wird diesen
Anforderungen jedenfalls dann nicht gerecht, wenn solche
Angaben nach dem Ergebnis der Ermittlungen ohne weiteres
möglich und den Zwecken der Strafverfolgung nicht abträglich
sind (BVerfGE 42, 212 <219 f.>; 96, 44
<51 f.>).
8
Diesem Maßstab genügt der Beschluß des
Amtsgerichts nicht. Er enthält ohne rechtfertigenden Grund
weder tatsächliche noch rechtliche Angaben zum Tatvorwurf.
Allein der Hinweis, es gehe um eine ausländerrechtliche
Ordnungswidrigkeit und insbesondere seien Geburtsurkunden und
Ledigkeitsbescheinigungen zu beschlagnahmen, läßt keinen
Rückschluß auf eine bestimmte Tat zu.
9
2. Der Beschluß des Landgerichts setzt den
Verfassungsverstoß des Amtsgerichts fort. Zwar hat das
Landgericht zutreffend festgestellt, daß der
Durchsuchungsbeschluß des Amtsgerichts unzureichend war, und
selbst eine Sachentscheidung getroffen. Auch seiner
Entscheidung läßt sich aber kein hinreichend bestimmter
Tatvorwurf entnehmen. Neben der Bezeichnung der Vorschrift
des Ausländergesetzes - die das Unterlassen der Vorlage des
Passes, des Paßersatzes, des Ausweisersatzes, der
Aufenthaltsgenehmigung oder der Duldung mit Bußgeld bewehrt -
führt das Landgericht nur aus, der Beschwerdeführer sei dem
Verlangen der Behörde, Identitätspapiere vorzulegen, nicht
nachgekommen. Um welche Papiere es sich handeln soll, wird
nicht angegeben. Die vom Amtsgericht genannten
Geburtsurkunden und Ledigkeitsbescheinigungen fallen
jedenfalls nicht unter die bezeichnete Vorschrift des
Ausländergesetzes.
10
Im übrigen rechtfertigt nicht allein die
Vermutung, der Beschwerdeführer könne im Besitz von
Identitätspapieren im Sinne der Bußgeldvorschrift sein, ohne
weitere tatsächliche Anhaltspunkte die Anordnung der
Durchsuchung. Ein solcher Eingriff muß in angemessenem
Verhältnis zur Stärke des Tatverdachts und zur Schwere der
Tat stehen (BVerfGE 42, 212 <220>; 59, 95 <97>).
Dieses Verhältnis ist bei der Vermutung einer
Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße von höchstens
5.000 DM (§ 93 Abs. 5 AuslG) bewehrt ist, nicht
gewahrt.
11
3. Soweit mit der Verfassungsbeschwerde die
Aufhebung des amtsgerichtlichen Durchsuchungsbeschlusses
begehrt wird, ist sie unzulässig und daher nicht zur
Entscheidung anzunehmen. Das Landgericht kann hier, ohne daß
es weiterer Sachaufklärung durch das Amtsgericht bedarf,
durch eine erneute Entscheidung der Beschwer des
Beschwerdeführers abhelfen und die Grundrechtsverletzung
beseiti- gen (vgl. BVerfGE 78, 374 <390>). Daß der
Beschwerdeführer diesen fachgerichtlichen Rechtsweg
ausschöpft, gebietet der Grundsatz der Subsidiarität
(§ 90 Abs. 2 BVerfGG; BVerfGE 96, 27 <43>).
12
4. Nachdem der Beschwerdeführer mit seiner
Verfassungsbeschwerde im wesentlichen Erfolg hat, ist der
Ausspruch der vollen Kostenerstattung angemessen (§ 34a
Abs. 2, 3 BVerfGG). Damit erübrigt sich eine Entscheidung
über das Prozeßkostenhilfegesuch.
Limbach
Winter
Hassemer | bundesverfassungsgericht |
46-2008 | 3. April 2008 | Unzulässige Vorlage eines Finanzgerichts zur Zinsbesteuerung und zum Strafbefreiungserklärungsgesetz
Pressemitteilung Nr. 46/2008 vom 3. April 2008
Beschluss vom 25. Februar 20082 BvL 14/05
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem "Zinsurteil" von 1991 festgestellt, dass bei der Besteuerung von Zinseinkünften seit dem Veranlagungszeitraum 1981 ein strukturelles Vollzugsdefizit bestand und den Gesetzgeber aufgefordert, bis zum 1. Januar 1993 durch hinreichende gesetzliche Vorkehrungen die Besteuerungsgleichheit zu gewährleisten. Um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber 1992 das Zinsabschlaggesetz erlassen. Es folgten weitere gesetzliche Änderungen mit Auswirkungen auf die Zinsbesteuerung durch das Steuerentlastungsgesetz von 1999, das unter anderem zur Erweiterung der Mitteilungspflicht und zum Wegfall der Verwendungsbeschränkung für die mitgeteilten Daten führte, und durch das Steueränderungsgesetz 2003, das die Jahressteuerbescheinigung einführte.
Mit dem Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit von 2003 wollte der Gesetzgeber einen Anreiz für steuerunehrliche Steuerpflichtige schaffen, in die Steuerehrlichkeit zurückzukehren. Gleichzeitig wollten die Überprüfungsmöglichkeiten der Finanzverwaltung maßvoll verbessert werden, um Steuerhinterziehung in der Zukunft zu erschweren. Dem verbesserten Gesetzesvollzug dienten die Regelungen des Strafbefreiungserklärungsgesetzes, das am 30. Dezember 2003 in Kraft trat. Durch die Abgabe einer strafbefreienden Erklärung und Entrichtung einer pauschalen, als Einkommensteuer geltenden Abgabe konnte Strafbefreiung für die in den Veranlagungszeiträumen 1993 bis 2002 erzielten Einnahmen, die zu Unrecht nicht der Besteuerung zugrunde gelegt worden waren, erlangt werden. Die derart nacherklärten Einnahmen wurden zur pauschalen Abgeltung aller denkbaren Abzüge lediglich in Höhe von 60% der Abgabe unterworfen. Unmittelbar nach dem Auslaufen der Regelungen des Strafbefreiungserklärungsgesetzes trat am 1. April 2005 das neu geschaffene Kontenabrufverfahren in Kraft. Durch die enge Verzahnung der Regelungen des Strafbefreiungserklärungsgesetzes mit dem Kontenabrufverfahren sollte die Steuerehrlichkeit nachhaltig gefördert werden.
Das vorlegende Finanzgericht ist der Auffassung, dass die Besteuerung von Zinseinkünften für die Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002 aufgrund eines nach wie vor bestehenden strukturellen Vollzugsdefizits gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße. Darüber hinaus führe das Strafbefreiungserklärungsgesetz zu einer verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden gleichheitswidrigen Begünstigung steuerunehrlicher Steuerpflichtiger gegenüber steuerehrlichen Steuerpflichtigen, da diesen die steuerlichen Begünstigungen nach dem Strafbefreiungserklärungsgesetz vorenthalten würden.
Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Vorlage für unzulässig erklärt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Das vorlegende Finanzgericht setzt sich mit der Frage, ob hinsichtlich der Besteuerung von Zinseinkünften für die Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002 ein strukturelles Vollzugsdefizit bestand, nicht hinreichend auseinander. Insbesondere geht das Gericht nicht ausreichend darauf ein, ob die im Anschluss an das "Zinsurteil" in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in ihrem Zusammenwirken gegenüber den Vorjahren erhebliche Verbesserungen der Vollzugsbedingungen herbeigeführt haben.
Soweit die Vorlage das Strafbefreiungserklärungsgesetz betrifft, setzt sich das Finanzgericht nicht mit der Frage auseinander, ob eine relative Schlechterstellung steuerehrlicher Steuerpflichtiger gegenüber der Begünstigung steuerunehrlicher Steuerpflichtiger durch das Strafbefreiungserklärungsgesetz verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein könnte. Es verkennt, dass das Strafbefreiungserklärungsgesetz nicht das Ziel hatte, die Steuerhinterziehung zu belohnen; es sollte vielmehr einen Anreiz für eine freiwillige Rückkehr in die Steuerehrlichkeit setzen. Unerörtert bleibt in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit durch das Strafbefreiungserklärungsgesetz die tatsächliche Erhebungssituation bei den Zinseinkünften auch positiv beeinflusst worden sein könnte. Hinsichtlich der bezweifelten Eignung einer Steueramnestie zur Förderung der Steuerehrlichkeit hätte das Finanzgericht zumindest dazu näher Stellung nehmen müssen, dass der Gesetzgeber durch die enge Verzahnung des Strafbefreiungserklärungsgesetzes mit dem neu geschaffenen Kontenabrufverfahren bewusst eine Regelung geschaffen hat, die Steuerverkürzungen in der Zukunft erschweren und die Steuerehrlichkeit nachhaltig fördern sollte.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvL 14/05 -
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
1.
ob die Vorschriften der § 20 Abs.
1, § 32a des Einkommensteuergesetzes in der für die
Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002 maßgeblichen Fassung
mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar sind, wie sie im
Zusammenwirken mit den ergänzenden Regelungen des
Strafbefreiungserklärungsgesetzes (StraBEG) vom
23. Dezember 2003 (BGBl I S. 2928)
steuerehrliche Steuerpflichtige einer höheren Steuer
unterwerfen als dies für Steuerunehrliche geschieht
und
2.
ob die Vorschrift des § 20 Abs. 1
Nr. 7 des Einkommensteuergesetzes mit dem Grundgesetz
unvereinbar ist, weil die Durchsetzung des aus dem Bezug
von Zinseinkünften erwachsenden Steueranspruchs wegen
struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt
wird.
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des
Finanzgerichts Köln vom 22. September 2005 - 10 K 1880/05
-
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Broß,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 81a BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 25.
Februar 2008 einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
1
Die Vorlage betrifft zum einen die Frage, ob
die Besteuerung gemäß § 20 Abs. 1, § 32a des
Einkommensteuergesetzes (EStG) insoweit gegen Art. 3
Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstößt, als
steuerehrlichen Steuerpflichtigen gleichheitswidrig die
Begünstigungen des Gesetzes über die strafbefreiende
Erklärung (Strafbefreiungserklärungsgesetz - StraBEG - vom
23. Dezember 2003, BGBl I S. 2928)
vorenthalten werden und zum anderen die Frage, ob die
Zinsbesteuerung gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG
aufgrund eines strukturellen Vollzugsdefizits gegen
Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Zur Überprüfung gestellt
sind die vorgelegten Normen in der jeweils für die
Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002 geltenden Fassung.
I.
2
1. a) Das Bundesverfassungsgericht hat in
seinem Urteil vom 27. Juni 1991 (BVerfGE 84, 239)
festgestellt, dass bei der Besteuerung von Zinseinkünften
nach § 2 Abs. 1 Nr. 5, § 20 Abs. 1
Nr. 8 EStG (1979) seit dem Veranlagungszeitraum 1981 ein
strukturelles Vollzugsdefizit bestand und den Gesetzgeber
aufgefordert, spätestens mit Wirkung zum 1. Januar 1993
durch hinreichende gesetzliche Vorkehrungen die
Besteuerungsgleichheit zu gewährleisten. Um den Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen, hat der
Gesetzgeber am 9. November 1992 das Gesetz zur
Neuregelung der Zinsbesteuerung (Zinsabschlaggesetz,
BGBl I S. 1853) erlassen, durch das er den
Sparerfreibetrag verzehnfachte, eine anrechenbare
„Zinsabschlagsteuer“ (Kapitalertragsteuer) in Höhe von
30 % (für Tafelgeschäfte 35 %) auf Kapitalerträge
sowie eine Mitteilungspflicht für Freistellungsaufträge
(§ 45d EStG) einführte.
3
Es folgten weitere gesetzliche Änderungen mit
Auswirkungen auf die Zinsbesteuerung durch das
Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 24. März 1999
(BGBl I S. 402), das zur Halbierung der
Sparerfreibeträge und zur Erweiterung der Mitteilungspflicht
gemäß § 45d EStG sowie zum Wegfall der
Verwendungsbeschränkung für die mitgeteilten Daten führte,
und durch das Steueränderungsgesetz 2003 vom
15. Dezember 2003 (BGBl I S. 2645), das seit
2004 die Jahressteuerbescheinigung gemäß § 24c EStG
einführte.
4
Mit dem Gesetz zur Förderung der
Steuerehrlichkeit vom 23. Dezember 2003 (BGBl I
S. 2928) wollte der Gesetzgeber einen Anreiz für
steuerunehrliche Steuerpflichtige schaffen, in die
Steuerehrlichkeit zurückzukehren. Gleichzeitig sollten die
Überprüfungsmöglichkeiten der Finanzverwaltung maßvoll
verbessert werden, um Steuerhinterziehungen in der Zukunft zu
erschweren. Der verbesserte Gesetzesvollzug sollte nach dem
Willen des Gesetzgebers einen „Beitrag zum Rechtsfrieden“
leisten (BTDrucks 15/1309, S. 1). Diesem Ziel dienten
die mit Art. 1 des Gesetzes zur Förderung der
Steuerehrlichkeit eingeführten Regelungen des
Strafbefreiungserklärungsgesetzes, das am 30. Dezember
2003 in Kraft trat. Durch die Abgabe einer strafbefreienden
Erklärung und Entrichtung einer pauschalen, als
Einkommensteuer geltenden Abgabe konnte Strafbefreiung oder
die Befreiung von Geldbuße für die in den
Veranlagungszeiträumen 1993 bis 2002 erzielten Einnahmen, die
zu Unrecht nicht der Besteuerung zugrunde gelegt worden
waren, erlangt werden. Die derart nacherklärten Einnahmen
wurden zur pauschalen Abgeltung aller denkbaren Abzüge
lediglich in Höhe von 60 % der Abgabe unterworfen
(§ 1 Abs. 2 Nr. 1 StraBEG). Die Höhe der
Abgabe belief sich auf 25 % der Bemessungsgrundlage,
wenn die Nacherklärung vor dem 1. Januar 2005 erfolgte
und die Abgabe spätestens bis zum 31. Dezember 2004
entrichtet wurde (§ 1 Abs. 1 StraBEG), und
35 %, wenn die Erklärung nach dem 31. Dezember 2004
und vor dem 1. April 2005 erfolgte und die Abgabe
spätestens bis zum 31. März 2005 entrichtet wurde
(§ 1 Abs. 6 StraBEG). Unmittelbar nach dem
Auslaufen der Regelungen des
Strafbefreiungserklärungsgesetzes trat am 1. April 2005
das neu geschaffene Kontenabrufverfahren nach § 93
Abs. 7, § 93b der Abgabenordnung (AO) in Kraft
(Art. 2 und 4 des Gesetzes zur Förderung der
Steuerehrlichkeit vom 23. Dezember 2003, BGBl I
S. 2928). Durch die enge Verzahnung der Regelungen des
Strafbefreiungserklärungsgesetzes mit dem neu geschaffenen
Kontenabrufverfahren sollte die Steuerehrlichkeit nachhaltig
gefördert werden (BTDrucks 15/1309, S. 12). Das
Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit des
Kontenabrufverfahrens, das zu einer Effektivierung
bestehender Ermittlungsmöglichkeiten führe, bestätigt
(BVerfGE 118, 168; vgl. zuvor BVerfGE 112, 284
<294 f.>).
5
b) Der Bundesfinanzhof hat die
Verfassungsmäßigkeit der vom Finanzgericht Köln zur Prüfung
gestellten Vorschrift des § 20 Abs. 1 Nr. 7
EStG, die in ihrer in den Streitjahren des Ausgangsverfahrens
2000 bis 2002 gültigen Fassung den Vorjahren bis
einschließlich 1993 entspricht, bislang bejaht (für den
Veranlagungszeitraum 1993 z.B. BFH BStBl II 1997,
S. 499 = BFHE 183, 45; BStBl II 1999, S. 138 =
BFHE 187, 302; für die Veranlagungszeiträume seit 1994 BFH
BStBl II 2006, S. 61 = BFHE 211, 183).
6
2. Die Kläger des Ausgangsverfahrens erklärten
im Rahmen ihrer Einkommensteuererklärungen für die
Streitjahre 2000 bis 2002 unter anderem Einkünfte aus
Kapitalvermögen im Sinne des § 20 EStG, darin enthalten
insbesondere auch Zinseinnahmen im Sinne des § 20
Abs. 1 Nr. 7 EStG. Diese wurden vom Finanzamt
erklärungsgemäß der Besteuerung zugrunde gelegt. Mit ihrer
Klage vor dem Finanzgericht Köln begehrten sie, auch ohne
Steuerverkürzung nach den Regelungen des
Strafbefreiungserklärungsgesetzes besteuert zu werden. Zudem
machten sie geltend, die vom Finanzamt der Besteuerung
zugrunde gelegte Vorschrift des § 20 Abs. 1
Nr. 7 EStG sei wegen eines strukturellen
Vollzugsdefizits mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar
und nichtig.
7
3. Mit Beschluss vom 22. September 2005
- 10 K 1880/05 - (EFG 2005, S. 1878) hat
der 10. Senat des Finanzgerichts Köln das Verfahren
ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage
vorgelegt, ob die Vorschriften der § 20 Abs. 1,
§ 32a Einkommensteuergesetzes in der für die
Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002 maßgeblichen Fassung des
Einkommensteuergesetzes mit dem Grundgesetz insoweit
unvereinbar seien, als sie im Zusammenwirken mit den
ergänzenden Regelungen des Strafbefreiungserklärungsgesetzes
steuerehrliche Steuerpflichtige einer höheren Steuer
unterwerfen als steuerunehrliche Steuerpflichtige, und ob,
sinngemäß bezogen auf dieselben Veranlagungszeiträume, die
Vorschrift des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG insoweit
mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig sei,
als die Durchsetzung des aus dem Bezug von Zinseinkünften
erwachsenden Steueranspruchs wegen struktureller
Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt werde.
8
Das Finanzgericht Köln ist der Auffassung,
dass die zur Prüfung gestellten entscheidungserheblichen
Rechtsnormen verfassungswidrig seien:
9
a) Das Strafbefreiungserklärungsgesetz
verstoße gegen das Gebot der Folgerichtigkeit und das Gebot
der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Der pauschale
Abschlag in Höhe von 40 % der nacherklärten Einnahmen
gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 StraBEG führe zu einer
verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden
gleichheitswidrigen Begünstigung steuerunehrlicher
Steuerpflichtiger, da steuerehrlichen Steuerpflichtigen bei
den Einnahmen aus Kapitalvermögen gemäß § 9a EStG
lediglich ein Werbungskostenpauschbetrag in Höhe von
51 € (bei zusammen veranlagten Ehegatten in Höhe von 102
€) gewährt und der 40 %-Abschlag nach dem
Strafbefreiungserklärungsgesetz vorenthalten werde. Das
Finanzgericht bezweifelt zudem, dass das
Strafbefreiungserklärungsgesetz zur Erreichung des
gesetzgeberischen Ziels, einen Anreiz für die freiwillige
Rückkehr in die Steuerehrlichkeit zu setzen, geeignet sei.
Verfassungsrechtliche Voraussetzung einer Amnestie sei die
notwendige Korrektur der Rechtslage durch einen
„Schlussstrich“ und einen „Neuanfang“. Dies sei jedoch
ausgeblieben. Mit der Einführung des Kontenabrufverfahrens
gemäß § 93 Abs. 7 und § 93b AO seien lediglich
einige „Reparaturen“ durchgeführt worden. Von einem Neuanfang
könne jedoch nicht gesprochen werden, da mit § 30a AO
unverändert die Vorschrift fortbestehe, die bisher im
Wesentlichen für die Korrekturbedürftigkeit der Rechtslage
verantwortlich gewesen sei.
10
Die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber die
Ungleichbehandlung dadurch beseitige, dass er den
Steuerehrlichen nunmehr auch die Vergünstigungen gewähre, die
er dem Steuerunehrlichen zugestehe, scheine im Streitfall
nicht gänzlich „unvorstellbar“, da es dem gesetzlichen Ziel
- der Förderung der Steuerehrlichkeit - langfristig
entgegenstehe, wenn Steuerehrliche von Vergünstigungen
ausgeschlossen würden, die der Gesetzgeber Steuerunehrlichen
gewähre.
11
b) Darüber hinaus verstoße die Besteuerung von
Zinseinkünften gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG
aufgrund eines nach wie vor bestehenden strukturellen
Vollzugsdefizits gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Da das
Einkommensteuergesetz auch nach der Einführung der
Zinsabschlagsteuer an der Quelle die Besteuerung der
Zinseinkünfte mit dem persönlichen Steuersatz fordere, habe
der Gesetzgeber auch dafür zu sorgen, dass der Steueranspruch
nicht nahezu allein von der Erklärung durch den
Steuerpflichtigen abhänge. Die Erhöhung der Freibeträge
befreie den Gesetzgeber nicht davon, für den weiterhin
steuerpflichtigen Teil der Zinseinkünfte die
Belastungsgleichheit herzustellen und durch
Kontrollmöglichkeiten im Besteuerungsverfahren abzusichern.
Die Kontrollmöglichkeit über die Erteilung von
Freistellungsaufträgen nach § 45d EStG greife nicht,
wenn keine Freistellungsaufträge erteilt worden seien. Der
Einsatz der Steuerfahndung zur Aufdeckung hinterzogener
Zinseinkünfte sei kein hinreichender Ersatz für
Prüfungsmöglichkeiten im Vorfeld. Die ab dem 1. April
2005 geltende Erweiterung der Kontrollmaßnahmen in der
Abgabenordnung führe zu keiner Änderung der Bewertung für die
Streitjahre, da der Gesetzgeber wegen der nicht
nachvollziehbaren Beibehaltung des § 30a AO, dessen
uneingeschränkte Anwendung das strukturelle Vollzugsdefizit
begründe, die Verantwortung für „Friktionen“ in diesem
Bereich trage.
12
4. Zu der Vorlage hat sich für die
Bundesregierung das Bundesministerium der Finanzen geäußert.
Der Präsident des Bundesfinanzhofs hat die Stellungnahme des
VIII. Senats des Bundesfinanzhofs übermittelt.
13
a) Das Bundesministerium der Finanzen hält die
Vorlage für unzulässig. Jedenfalls könne der in der Vorlage
vertretenen Auffassung des Finanzgerichts Köln nicht gefolgt
werden.
14
aa) Die Vorlagefrage zur Verfassungsmäßigkeit
des Strafbefreiungserklärungsgesetzes sei für das
Ausgangsverfahren nicht entscheidungserheblich. Es sei
ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber bei einer
Verfassungswidrigkeit des Strafbefreiungserklärungsgesetzes
eine Regelung treffe, die zu einer Begünstigung der Kläger
führen würde.
15
bb) Das Strafbefreiungserklärungsgesetz
verstoße nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
(Art. 3 Abs. 1 GG). Ziel des
Strafbefreiungserklärungsgesetzes sei es gewesen, Personen,
die sich bislang erfolgreich der Besteuerung entzogen hätten,
zu veranlassen, freiwillig in die Steuerehrlichkeit
zurückzukehren. Zugleich sollte durch das im April 2005
eingeführte Kontenabrufverfahren gemäß § 93 Abs. 7,
§ 93b AO die gleichmäßige Besteuerung für die Zukunft
sichergestellt werden. Die Begünstigung steuerunehrlicher
Steuerpflichtiger gegenüber steuerehrlichen Steuerpflichtigen
sei gerechtfertigt, da der Erfolg einer Amnestie im
Wesentlichen auch von der Höhe der steuerlichen Belastung
abhänge. Danach müsse die Regelung wirtschaftlich günstiger
als eine Selbstanzeige nach § 371 AO sein, um Wirkung zu
erzielen. Diesbezüglich sei dem Gesetzgeber eine Abgabe in
Höhe von 25 % bzw. 35 % der Bemessungsgrundlage als
sachgerecht erschienen. Da die Nachversteuerung der bisher
verschwiegenen Zinseinkünfte primäres Ziel des
Strafbefreiungserklärungsgesetzes gewesen sei, sei bei der
Ausgestaltung der Bemessungsgrundlage die Entrichtung einer
Abzugssteuer zu berücksichtigen gewesen. Anderenfalls wäre
zusätzlich zu dem Zinsabschlag in Höhe von 30 % die
pauschale Abgabe nach dem Strafbefreiungserklärungsgesetz in
Höhe von 25 % getreten. Eine strafbefreiende
Erklärung wäre bei einer danach bestehenden Abgabenhöhe von
insgesamt 55 % der Bruttoeinnahmen unattraktiv gewesen.
Der Minderungsbetrag gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1
StraBEG stelle somit keinen Werbungskostenpauschbetrag dar,
als den ihn das vorlegende Gericht offenbar verstehe. Die
Minderung habe vielmehr alles abgelten sollen, was
wirtschaftlich gesehen bei einer regulären Besteuerung
rechtlich zu berücksichtigen gewesen wäre.
16
cc) Ein die Verfassungswidrigkeit des
§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG begründendes
strukturelles Vollzugsdefizit liege in den Streitjahren 2000
bis 2002 nicht vor. Selbst wenn in der Vorschrift des
§ 30a AO noch eine die Besteuerung
beeinträchtigende Erhebungsregelung gesehen werden könnte,
habe der Gesetzgeber zwischenzeitlich - unter anderem
mit dem Zinsabschlaggesetz - hinreichende
Ausgleichsmaßnahmen getroffen. Insbesondere durch die
Einführung des Kontenabrufverfahrens gemäß § 93
Abs. 7, § 93a AO im April 2005, durch das für die
Finanzverwaltung die Möglichkeit geschaffen worden sei,
Erkenntnisse auch für frühere Jahre zu erlangen, sei einem
strukturellen Vollzugsdefizit entgegen gewirkt worden.
17
b) Auch nach Auffassung des VIII. Senats
des Bundesfinanzhofs ist die Vorlage unzureichend begründet.
Das Finanzgericht habe nicht ausreichend in Erwägung gezogen,
ob die Nachbesserungen des Gesetzgebers hinsichtlich der
Ermittlungs- und Kontrollmöglichkeiten objektiv geeignet
gewesen seien, ein eventuell bestehendes Vollzugsdefizit zu
beseitigen. Allein auf die Beibehaltung des § 30a AO
könne die Feststellung eines strukturellen Vollzugsdefizits
nicht gestützt werden.
II.
18
Die Vorlage ist unzulässig.
19
1. Ein Gericht kann die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer
gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur
einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit
der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig
geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 <76 f.>; 105, 48
<56>). Das vorlegende Gericht muss sich zur Begründung
seiner Überzeugung mit allen nahe liegenden tatsächlichen
Gründen und rechtlichen Gesichtspunkten befassen,
gegebenenfalls die Erwägungen des Gesetzgebers
berücksichtigen und sich mit in Literatur und Rechtsprechung
entwickelten Rechtsauffassungen auseinandersetzen (vgl.
BVerfGE 76, 100 <104>; 79, 240 <243 f.>; 86,
71 <77 f.>; 92, 277 <312>; 105, 48
<56>).
20
2. Diesen Anforderungen genügt die Vorlage
weder hinsichtlich der Vorlagefrage Nr. 1 noch
hinsichtlich der Vorlagefrage Nr. 2:
21
a) Hinsichtlich der Vorlagefrage Nr. 1
kann offen bleiben, ob das vorlegende Finanzgericht die
Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Normen
ausreichend dargelegt hat (vgl. BVerfGE 74, 182
<195 f.>). Jedenfalls fehlt es an einer
ausreichenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine
relative Schlechterstellung steuerehrlicher gegenüber der
Begünstigung steuerunehrlicher Steuerpflichtiger durch das
Strafbefreiungserklärungsgesetz verfassungsrechtlich
gerechtfertigt sein könnte.
22
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3
Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches
gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln
(BVerfGE 98, 365 <385>). Er verbietet sowohl ungleiche
Belastungen wie auch ungleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE
79, 1 <17>). Verboten ist daher auch ein
gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem einem
Personenkreis eine Begünstigung gewährt wird, einem anderen
Personenkreis die Begünstigung aber vorenthalten bleibt, ohne
dass sich ausreichende Gründe für die gesetzliche
Differenzierung finden lassen (vgl. BVerfGE 93, 386
<396 f.>; 112, 164 <174>; 116, 164
<180>). Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben
sich je nach Regelungsgegenstand und
Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den
Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer
strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen
(BVerfGE 110, 274 <291>; 112, 164 <174> m.w.N.).
Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG liegt vor, wenn
eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im
Vergleich zu einer anderen Gruppe unterschiedlich behandelt
wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von
solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die
unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Genauere
Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen
der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich
nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die
jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und
Regelungsbereiche bestimmen (vgl. BVerfGE 105, 73
<110>; 107, 27 <45 f.>; 112, 268
<279>).
23
Hier sind zunächst die Fachgerichte berufen,
die Grundlagen zu ermitteln und darzustellen, die für die
Beantwortung der Frage erheblich sind, ob die
unterschiedliche Besteuerung steuerehrlicher und
steuerunehrlicher Steuerpflichtiger, die durch das
Strafbefreiungserklärungsgesetz bewirkt wird,
verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein könnte. Das
vorlegende Finanzgericht hat sich jedoch mit nahe liegenden
tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu dieser Frage
nicht ausreichend auseinandergesetzt:
24
aa) Das Finanzgericht hat bei seiner Prüfung
wesentliche rechtliche Gesichtspunkte außer Betracht gelassen
(vgl. BVerfGE 105, 48 <56>). Es hat bei dem von ihm
angestellten Vergleich des Werbungskostenpauschbetrags für
Zinseinkünfte nach § 9a EStG mit den Regelungen des
Strafbefreiungserklärungsgesetzes nicht hinreichend
berücksichtigt, dass der Abschlag in Höhe 40 % der
Bruttoeinnahmen gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 StraBEG
- zur Vermeidung aufwendiger Ermittlungen und Prüfungen durch
den Steuerpflichtigen -, der pauschalen Abgeltung aller
denkbaren im regulären Besteuerungsverfahren steuermindernd
zu berücksichtigenden Abzüge dient (BTDrucks 15/1309,
S. 9). Hierunter fallen nicht nur – wie vom
Finanzgericht unterstellt – Werbungskosten für Zinseinkünfte,
sondern beispielsweise auch der Sparerfreibetrag und bereits
einbehaltene Abzugssteuern, die nicht von den Einnahmen im
Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 1 StraBEG abzuziehen
sind (s. Merkblatt des Bundesministeriums der Finanzen zur
Anwendung des Strafbefreiungserklärungsgesetzes vom
3. Februar 2004 - IV A 4-S 1928- 8/04,
BStBl I S. 225 ff.).
25
bb) Das Finanzgericht hat sich darüber hinaus
nicht ausreichend mit der Frage auseinandergesetzt, welche
sachlichen Gründe für eine Steueramnestie sprechen könnten.
Es verkennt, dass das Strafbefreiungserklärungsgesetz nicht
das Ziel hatte, die Steuerhinterziehung zu belohnen; es
sollte vielmehr einen Anreiz für eine freiwillige Rückkehr in
die Steuerehrlichkeit setzen (BTDrucks 15/1309, S. 9).
Unerörtert bleibt in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit
durch das Strafbefreiungserklärungsgesetz die tatsächliche
Erhebungssituation bei den Zinseinkünften auch positiv
beeinflusst worden sein könnte. Hinsichtlich der bezweifelten
Eignung einer Steueramnestie zur Förderung der
Steuerehrlichkeit hätte das Finanzgericht zumindest dazu
näher Stellung nehmen müssen, dass der Gesetzgeber durch die
enge Verzahnung des Strafbefreiungserklärungsgesetzes mit dem
neu geschaffenen Kontenabrufverfahren nach § 93
Abs. 7, § 93b AO, das parallel zu dem Auslaufen der
Regelungen des Strafbefreiungserklärungsgesetzes am
1. April 2005 in Kraft trat, bewusst eine Regelung
geschaffen hat, die Steuerverkürzungen in der Zukunft
erschweren und die Steuerehrlichkeit nachhaltig fördern
sollte (BTDrucks 15/1309, S. 12).
26
Nicht hinreichend ist insbesondere die
einfache These des Finanzgerichts, mit der Einführung des
Kontenabrufverfahrens nach § 93 Abs. 7, § 93b
AO seien „lediglich einige Reparaturen“ und keine
„grundlegende Renovierung des Systems“ durchgeführt worden,
so dass im Hinblick auf die Weitergeltung des § 30a AO
kein „Neuanfang“ vorliege, der eine Steueramnestie
rechtfertige. Die Vorlage lässt insoweit (auch) schon bei der
Würdigung der Steueramnestie eine sorgfältige Verarbeitung
und Diskussion der seit dem Jahr 1993 und insbesondere seit
dem Jahr 1998 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen
vermissen (u.a. die Erweiterung der Mitteilungspflicht gemäß
§ 45d EStG und der Wegfall der Verwendungsbeschränkung
für die mitgeteilten Daten, die Einführung der
Jahressteuerbescheinigung seit 2004 gemäß § 24c EStG und
des Kontenabrufverfahrens nach § 93 Abs. 7,
§ 93b AO). Mit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 2005 (BVerfGE
112, 284), die dem Finanzgericht bei seiner Beschlussfassung
jedenfalls aufgrund einer Pressemitteilung vom 23. März 2005
hätte bekannt sein können, setzt sich die Vorlage nicht
auseinander. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts
zur Effektivierung bestehender Ermittlungsmöglichkeiten durch
die Kontenabfrage gemäß § 93 Abs. 7, § 93b AO
(BVerfGE 112, 284 <294 f.>) greift das
Finanzgericht nicht auf. Allein der Verweis auf die Aussagen
des Bundesverfassungsgerichts zu § 30a AO in seinem
Urteil zur Zinsbesteuerung betreffend den
Veranlagungszeitraum 1981 (BVerfGE 84, 239) und in seinem
Urteil zur Besteuerung von privaten Wertpapiergeschäften
betreffend die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 (BVerfGE
110, 94) kann eine fundierte Prüfung der sachlichen und
rechtlichen Ausgangssituation der Besteuerung von
Kapitaleinkünften in den vorliegend streitigen
Veranlagungszeiträumen 2000 bis 2002 im Hinblick auf eine
verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Steueramnestie nicht
ersetzen.
27
cc) Auch mit der Rechtsprechung und Literatur
zur grundsätzlichen Frage der Verfassungsmäßigkeit einer
Steueramnestie setzt sich die Vorlage nicht hinreichend
auseinander. Zwar führt das Finanzgericht zahlreiche Aufsätze
an, die zur Frage der Verfassungsmäßigkeit einer
Steueramnestie veröffentlicht worden sind. Eine fundierte
Erörterung der Argumente, die in der Literatur für und gegen
die Verfassungsmäßigkeit einer Steueramnestie vorgebracht
worden sind, erfolgt jedoch nicht. Unerörtert lässt das
Finanzgericht auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 27. Juni 1991 (BVerfGE 84, 233) und das Urteil des
Bundesfinanzhofs vom 20. Juni 1989 (BFH BStBl II
1989,S. 836 = BFHE 156, 543). Gegenstand dieser
Urteile war die Amnestieregelung des Gesetzes über die
strafbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen
und von Kapitalvermögen (StrbEG) vom 25. Juli 1988 (BGBl
I 1988, S. 1093). Eine Auseinandersetzung mit den in
diesen Entscheidungen angestellten Überlegungen zur
Ausdehnung eines Amnestiegesetzes auf steuerehrliche
Steuerpflichtige hätte Anlass zu entsprechenden Überlegungen
des Finanzgerichts für das Strafbefreiungserklärungsgesetz
geben können.
28
b) Hinsichtlich der Vorlagefrage Nr. 2
hat das vorlegende Finanzgericht zwar nachvollziehbar und
deshalb für das Bundesverfassungsgericht bindend dargelegt,
dass es bei der Gültigkeit oder Ungültigkeit des § 20
Abs. 1 Nr. 7 EStG zu jeweils unterschiedlichen
Entscheidungen kommen müsse. Die Vorlage ist jedoch
unzulässig, da es an einer ausreichenden Auseinandersetzung
mit der Frage fehlt, ob hinsichtlich der Besteuerung von
Zinseinkünften ein strukturelles Vollzugsdefizit besteht, das
dem Gesetzgeber zurechenbar ist (§ 80 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG).
29
aa) Der Gleichheitssatz des Art. 3
Abs. 1 GG verlangt für das Steuerrecht, dass die
Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und
tatsächlich gleich belastet werden. Wird die Gleichheit im
Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des
Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die
Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage
nach sich ziehen. Nach dem Gebot tatsächlich gleicher
Steuerbelastung durch gleichen Gesetzesvollzug begründet die
in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers fallende
strukturell gegenläufige Erhebungsregel im Zusammenwirken mit
der zu vollziehenden materiellen Steuernorm deren
Verfassungswidrigkeit. Strukturell gegenläufig wirken sich
Erhebungsregelungen gegenüber einem Besteuerungstatbestand
aus, wenn sie dazu führen, dass der Besteuerungsanspruch
weitgehend nicht durchgesetzt werden kann. Die Frage, ob der
Gesetzgeber von ihm erstrebte Ziele - im Steuerrecht die
Erzielung von Einnahmen oder auch Lenkungsziele - faktisch
erreicht, ist rechtsstaatlich allein noch nicht entscheidend.
Vollzugsmängel, wie sie immer wieder vorkommen können und
sich tatsächlich ereignen, führen allein noch nicht zur
Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm.
Verfassungsrechtlich verboten ist jedoch der Widerspruch
zwischen dem normativen Befehl der materiell
pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung
dieses Befehls angelegten Erhebungsregel. Zur
Gleichheitswidrigkeit führt nicht ohne weiteres die
empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, wohl aber das
normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität
angelegten Rechts (vgl. BVerfGE 84, 239 <268 ff.>;
110, 94 <112 ff.>; vgl. auch BVerfGE 96, 1
<6 ff.>).
30
Für die Beantwortung der Frage, ab welchem
Kalenderjahr ein Verstoß gegen die tatsächliche
Belastungsgleichheit vorliegt und dem Steuergesetzgeber
zuzurechnen ist mit der Folge, dass die materiellrechtliche
Grundlage für die Steuererhebung selbst verfassungswidrig
wird, lassen sich keine allgemein gültigen
verfassungsrechtlichen Maßstäbe entwickeln, da die für die
Verfassungswidrigkeit maßgebliche veränderbare Relation
zwischen realen und normativen Einflussfaktoren auf die
Vollzugsrealität stets neu konkret zu würdigen ist. Die
Entscheidung hängt maßgeblich auch von Tatsachen ab, die für
jeden möglichen Fall einer gleichheitswidrig vollzogenen
Steuernorm gesondert festzustellen und zu bewerten sind. In
verschiedenen Veranlagungszeiträumen können unterschiedliche
Tatsachen von Bedeutung sein oder die gleichen Tatsachen
unterschiedlich zu gewichten sein (vgl. BVerfGE 110, 94
<140>; BVerfGK 8, 46 <47>; BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2008
- 2 BvR 294/06 -, DStR 2008,
S. 197 ff.).
31
Bei der Beurteilung der Frage, ob für die
Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002 hinsichtlich der
Besteuerung von Zinseinkünften ein strukturelles
Vollzugsdefizit bestand, sind danach alle faktischen und
normativen Veränderungen zu berücksichtigen, die nach Ablauf
der in dem „Zinsurteil“ des Bundesverfassungsgerichts dem
Gesetzgeber bis zum 1. Januar 1993 eingeräumten
Übergangsfrist eingetreten sind. In zeitlicher Hinsicht sind
dabei grundsätzlich alle solche Veränderungen in die
Betrachtung einzubeziehen, die sich typischerweise auf den
Vollzug innerhalb der allgemeinen vierjährigen
Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 AO) auswirken konnten, denn regelmäßig müsste ein
hinreichend effektiver Vollzug innerhalb dieser Frist
gelingen (vgl. BVerfGE 110, 94 <139>). Der Lauf der
Festsetzungsfrist in Veranlagungsfällen beginnt in der Regel
mit der Abgabe der Steuererklärungen (vgl. § 170
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO). Da die Verlängerung
der gesetzlichen Abgabefrist von fünf Monaten (vgl.
§ 149 Abs. 2 Satz 1 AO) für die Erklärungen
grundsätzlich bis zum Februar des zweiten dem
Veranlagungszeitraum folgenden Jahres möglich war (vgl.
§ 109 Abs. 1 Satz 1 AO; gleich lautende
Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder über
Steuererklärungsfristen) und solche Verlängerungen auch
verbreitet in Anspruch genommen wurden, kommt es für die
Würdigung der für die Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002
maßgeblichen Vollzugspraxis auch auf solche Veränderungen der
gesetzlichen Ermittlungsinstrumente an, die erst nach Ablauf
der Erklärungsfristen im Februar 2002 für den
Veranlagungszeitraum 2000, aber noch innerhalb der danach
laufenden allgemeinen Festsetzungsfrist bis zum Ablauf des
Jahres 2006 geschaffen wurden und die sich deshalb auf die
Veranlagungspraxis für das Jahr 2000 und die Folgejahre
auswirken konnten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Zweiten Senats vom 10. Januar 2008 - 2 BvR
294/06 -, DStR 2008, S. 197 ff.).
32
bb) Mit der Frage, ob die im Anschluss an die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1991 zum
Veranlagungszeitraum 1981 (BVerfGE 84, 239) in Kraft
getretenen Gesetzesänderungen in ihrem Zusammenwirken
gegenüber den Vorjahren erhebliche Verbesserungen der
Vollzugsbedingungen herbeigeführt haben, so dass ein dem
Gesetzgeber zurechenbares strukturelles Vollzugsdefizit in
den Veranlagungszeiträumen 2000 bis 2002 nicht mehr
angenommen werden kann, setzt sich die Vorlage nicht
hinreichend auseinander. Insoweit fehlt die erforderliche
eigenständige und fundierte Erörterung der Sach- und
Rechtslage (vgl. BVerfGE 105, 48 <56>). Hierzu genügt
nicht der jeweilige Hinweis des Gerichts, die einzelnen vom
Gesetzgeber getroffenen Maßnahmen seien für sich genommen aus
tatsächlichen oder rechtlichen Gründen ungeeignet, das vom
Bundesverfassungsgericht im Jahr 1991 für den
Veranlagungszeitraum 1981 festgestellte Vollzugsdefizit bei
der Zinsbesteuerung zu beseitigen. Zwar ist das Urteil des
VIII. Senats des Bundesfinanzhofs vom 7. September
2005 (BFH BStBl II 2006, S. 61 = BFHE 211, 183) zur
Verfassungsmäßigkeit der Zinsbesteuerung nach § 20
Abs. 1 Nr. 7 EStG seit 1994, das sich eingehend mit
der geänderten Rechtslage auseinandersetzt, erst nach dem
Vorlagebeschluss des Finanzgerichts Köln veröffentlicht
worden. Die vom Bundesfinanzhof vorgenommene Erörterung der
vom Gesetzgeber kontinuierlich vorgenommenen Erweiterung des
Ermittlungsinstrumentariums der Finanzämter zeigt jedoch,
dass sich auch das vorlegende Finanzgericht hätte veranlasst
sehen können und müssen, in dieser Hinsicht eigene
Überlegungen anzustellen.
33
Dieses beschränkt sich in seinem
Vorlagebeschluss jedoch darauf, pauschal und ohne weitere
Begründung festzustellen, dass die ab dem 1. April 2005
geltende Erweiterung der Kontrollmaßnahmen in der
Abgabenordnung keine Änderung der Bewertung für die
Streitjahre gebracht habe. Infolgedessen setzt sich das
Finanzgericht auch nicht hinreichend mit der Frage
auseinander, ob das Kontenabrufverfahren, das auch die
Abfrage steuerlich relevanter Daten früherer
Veranlagungszeiträume zulässt, zur Herstellung der
steuerlichen Belastungsgleichheit in den
Veranlagungszeiträumen seit 2000 geeignet sein könnte (vgl.
auch BVerfGE 112, 284 <294 f.>; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar
2008 - 2 BvR 294/06 -, DStR 2008,
S. 197 ff.).
34
Für die Darlegung eines dem Gesetzgeber
zurechenbaren strukturellen Vollzugsdefizits reicht es
insbesondere nicht aus, wenn das Finanzgericht seine
Überzeugung im Wesentlichen auf die Aufrechterhaltung des
§ 30a AO stützt. Die Beibehaltung der Norm mag dem
Finanzgericht „nicht nachvollziehbar“ erscheinen. Vor dem
Hintergrund der Ausweitung der Kontrollmöglichkeiten für die
Finanzämter kann jedoch allein der Umstand, dass § 30a
AO unverändert geblieben ist, ein die Verfassungswidrigkeit
der materiellen Steuernorm begründendes strukturelles
Vollzugsdefizit als ganz außergewöhnliche Rechtsfolge
mangelnder Effektivität des Rechts nicht herbeiführen,
unbeschadet der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des
§ 30a AO.
35
Im Ergebnis enthält die Vorlage keine
erschöpfende Darlegung und Prüfung der sachlichen und
rechtlichen Ausgangslage der streitigen Veranlagungszeiträume
2000 bis 2002, die eine Verfassungswidrigkeit der zur
Überprüfung gestellten Norm begründen könnte.
36
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Broß
Osterloh
Mellinghoff | bundesverfassungsgericht |
44-2011 | 14. Juli 2011 | Verfassungsbeschwerde gegen den Ausschluss der Mitversicherung von Kindern in der Familienversicherung erfolglos
Pressemitteilung Nr. 44/2011 vom 14. Juli 2011
Beschluss vom 14. Juni 20111 BvR 429/11
§ 10 Abs. 3 SGB V schließt Kinder miteinander verheirateter Eltern von der beitragsfreien Familienversicherung aus, wenn das Gesamteinkommen des Elternteils, der nicht Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse ist, höher ist als das des Mitglieds und bestimmte, im Gesetz festgelegte Einkommensgrenzen übersteigt. Durch die Regelung werden verheiratete Elternteile bei Vorliegen der einkommensbezogenen Voraussetzungen gegenüber unverheirateten Elternteilen schlechter gestellt, da bei ihnen ein solcher Ausschluss nicht erfolgt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mit Urteil vom 12. Februar 2003 (1 BvR 624/01) entschieden, dass die Ausschlussregelung mit dem Grundgesetz vereinbar ist (vgl. Pressemitteilung Nr. 9/2003 vom 12. Februar 2003).
Die Beschwerdeführerin zu 1) ist in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert und mit einem selbständigen Rechtsanwalt verheiratet, der wie die vier gemeinsamen Kinder, die Beschwerdeführer zu 2) bis 5), privatversichert ist. Die Beschwerdeführer begehrten die Feststellung, dass die Kinder im Wege der Familienversicherung beitragsfrei in der gesetzlichen Krankenversicherung über ihre Mutter mitversichert seien. Ihre gegen die Ablehnung der Krankenkasse erhobene Klage blieb vor den Sozialgerichten ohne Erfolg.
Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unbegründet ist. Das Bundesverfassungsgerichts hält damit an seiner Rechtsprechung im Urteil vom 12. Februar 2003 fest, dass die Ungleichbehandlung verheirateter Elternteile gegenüber unverheirateten Elternteilen im Hinblick auf die Familienversicherung nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Grundrecht auf Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) verstößt. Die Ungleichbehandlung von Ehen und eheähnlichen Lebensgemeinschaften mit Kind findet hier ihre Rechtfertigung nach wie vor in der Befugnis des Gesetzgebers, typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen. Eine Ausschlussregelung, die sich in gleicher Versicherungs- und Einkommenskonstellation auch auf Partner einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft erstreckte, wäre für die Krankenkasse nicht handhabbar. Für sie würde es eine faktisch nicht zu leistende Aufgabe darstellen, kontinuierlich zu prüfen, ob eine solche Lebensgemeinschaft besteht, immer noch oder wieder besteht. Demgegenüber ist die Ehe ein rechtlich klar definierter und leicht nachweisbarer Tatbestand. Die punktuelle gesetzliche Benachteiligung der verheirateten Elternteile durch Ausschluss der Kinder von der Familienversicherung bei Vorliegen der einkommensbezogenen Voraussetzungen ist hinzunehmen, weil sie - wie das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom 12. Februar 2003 festgestellt hat - bei einer Gesamtbetrachtung der gesetzlichen Regelung nicht schlechter gestellt sind als Partner einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft. Während der Ehepartner, der Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist, dem anderen Ehepartner, der nicht selbst Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung ist, beitragsfreien Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung vermitteln kann, ist eine solche Möglichkeit den Partnern einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft nicht eröffnet. Zwar kommt dieser Vorteil nicht den oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze gutverdienenden Ehegatten zugute. Für diese Gruppe wird der Ausschluss der Familienversicherung der Kinder jedoch über die einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung von Krankenversicherungsbeiträgen der Kinder hinreichend ausgeglichen, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. An der verfassungsrechtlichen Beurteilung hat sich durch das am 1. April 2007 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung nichts geändert. Dadurch wird der Bund verpflichtet, den gesetzlichen Krankenkassen als Abgeltung für versicherungsfremde Leistungen Zuschüsse zu gewähren. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer wird der Bundeszuschuss jedoch nicht gezielt zur Finanzierung der Familienversicherung verwendet, sondern fließt in den allgemeinen Haushalt der Krankenkassen und führt daher im Ergebnis zu einer alle Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkassen gleichmäßig begünstigenden Ermäßigung.
Eine Änderung der Rechtslage ergibt sich auch nicht aus der von den Beschwerdeführern herangezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Februar 2008 (2 BvL 1/06) zur einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung von Krankenversicherungsbeiträgen der Kinder. Diese verlangt die einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung der Krankenversicherungsbeiträge für die ca. 10 % privat versicherten Kinder, trifft aber keine Aussage dazu, ob Kinder auch dann im System der gesetzlichen Krankenversicherung beitragsfrei versichert werden müssen, wenn ein Elternteil mit einem Verdienst oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze, der das Einkommen des pflichtversicherten Ehegatten überschreitet, nicht pflichtversichert ist.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 429/11 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1.
der Frau M...,
2.
der Frau M...,
3.
der Minderjährigen M...,
vertreten durch die Eltern M...,
4.
der Minderjährigen M...,
vertreten durch die Eltern M...,
5.
des Minderjährigen M...,
vertreten durch die Eltern M...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Ropohl & Partner,
Roscherstraße 13, 30161 Hannover -
1.
unmittelbar gegen
a)
den Beschluss des
Bundessozialgerichts vom 6. Januar 2011 - B 12 KR 50/10 B
-,
b)
das Urteil des
Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. Mai
2010 - L 1 KR 420/09 -,
c)
das Urteil des
Sozialgerichts Hannover vom 16. Oktober 2009 - S 10 KR
317/07 -,
2.
mittelbar gegen
§ 10 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V
-
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Schluckebier
und die Richterin Baer
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 14. Juni 2011 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur
Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die
Familienversicherung in der gesetzlichen
Krankenversicherung.
I.
2
Die Beschwerdeführerin zu 1) ist in der
gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Sie ist
mit einem selbständigen Rechtsanwalt, der privat
krankenversichert ist, verheiratet. Die vier gemeinsamen
Kinder, die Beschwerdeführer zu 2) bis 5), sind ebenso wie
der Vater privat krankenversichert.
3
Die Beschwerdeführer begehrten die
Feststellung, dass die Beschwerdeführer zu 2) bis 5) im Wege
der Familienversicherung nach § 10 des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch - SGB V - (und damit nach § 3
Satz 3 SGB V beitragsfrei) in der gesetzlichen
Krankenversicherung über ihre Mutter mitversichert seien. Die
Krankenkasse lehnte dies mit Bescheiden vom Juni 2007 ab. Das
Begehren hatte auch im Widerspruchs- und im
sozialgerichtlichen Klageverfahren keinen Erfolg.
4
Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung des
Sozialstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 1 GG in Verbindung
mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG
sowie von Art. 6 Abs. 1 GG.
II.
5
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber
nicht begründet.
6
1. Entgegen dem Vortrag der Beschwerdeführer
hat sich an der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage,
ob § 10 Abs. 3 SGB V gegen Art. 3 Abs. 1 GG
verstößt, soweit er Ehen und eheähnliche Lebensgemeinschaften
in Bezug auf den Ausschluss von Kindern aus der
Familienversicherung unterschiedlich, nämlich Ehen schlechter
behandelt (vgl. hierzu BVerfGE 107, 205), durch das am
1. April 2007 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung des
Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG -) vom
26. März 2007 nichts geändert.
7
Bei § 10 Abs. 3 SGB V handelt es sich um
einen Ausschlusstatbestand von der familienpolitischen
Leistung der beitragsfreien Familienversicherung von Kindern
bis zu den in § 10 Abs. 2 SGB V geregelten Altersgrenzen
(vgl. BVerfGE 123, 186 <229>). Die Regelung stellt,
soweit ihre Voraussetzungen erfüllt sind, Mitglieder der
gesetzlichen Krankenversicherung, die mit dem anderen
Elternteil der gemeinsamen Kinder verheiratet sind, durch
Ausschluss der Kinder von der Familienversicherung bei
Vorliegen der einkommensbezogenen Voraussetzungen des
§ 10 Abs. 3 SGB V schlechter als unverheiratete
Mitglieder, bei denen ein solcher Ausschluss nicht erfolgt.
Übersteigt in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft das
Gesamteinkommen des Elternteils, das nicht Mitglied der
Krankenkasse ist, die Einkommensgrenze des § 10 Abs. 3
SGB V, so steht dies - im Unterschied zu verheirateten
Eltern - einer Mitversicherung des Kindes beim
gesetzlich versicherten Elternteil nicht entgegen (vgl.
BVerfGE 107, 205, <214, 216>).
8
Nach Auffassung der Beschwerdeführer verstößt
die in § 10 Abs. 3 SGB V geregelte Differenzierung
zwischen den in der gesetzlichen Krankenversicherung und der
privaten Krankenversicherung versicherten Kindern gegen den
allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in
Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, weil sich aus der
Gesetzesbegründung des GKV-WSG ergebe, dass die Mittel des
Bundes zur anteiligen Finanzierung der nach § 10 SGB V
beitragsfreien Mitversicherung von Kindern verwandt werden
sollten. Der Bundeszuschuss decke die Kosten der
Familienversicherung nunmehr fast vollständig ab.
9
§ 221 Abs. 1 und 2 SGB V in der Fassung
des GKV-WSG, gültig vom 1. April 2007 bis 30. Juni 2008,
lautet:
10
Beteiligung des Bundes an Aufwendungen
11
(1) Der Bund leistet zur pauschalen Abgeltung
der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde
Leistungen für das Jahr 2007 und das Jahr 2008 jeweils 2,5
Milliarden Euro in halbjährlich zum 1. Mai und zum 1.
November zu überweisenden Teilbeträgen über das
Bundesversicherungsamt an die Krankenkassen. Die Leistungen
des Bundes erhöhen sich in den Folgejahren um jährlich 1,5
Milliarden Euro bis zu einer jährlichen Gesamtsumme von 14
Milliarden Euro. Die Spitzenverbände der Krankenkassen
bestimmen gemeinsam und einheitlich eine Krankenkasse oder
einen Verband als zentrale Stelle für die Abrechnung mit dem
Bundesversicherungsamt. Das Bundesversicherungsamt zahlt die
Beteiligung des Bundes an die zentrale Stelle zur
Weiterleitung an die berechtigten Krankenkassen. Ab dem Jahr
2009 erfolgen die Leistungen des Bundes in monatlich zum
ersten Bankarbeitstag zu überweisenden Teilbeträgen an den
Gesundheitsfonds.
12
(2) Das Bundesministerium für Gesundheit wird
ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des
Bundesrates das Nähere über die Verteilung nach Absatz 1 zu
bestimmen. Maßstab für die Verteilung sind die Ausgaben für
versicherungsfremde Leistungen.
13
Durch § 221 Abs. 1 SGB V wird der Bund
verpflichtet, den gesetzlichen Krankenkassen als Abgeltung
für versicherungsfremde Leistungen die im Gesetz genannten
Geldleistungen zur Verfügung zu stellen. Eine Verwendung des
Geldes für spezielle Personengruppen oder besondere Zwecke
sieht das Gesetz nicht vor; es fließt in den allgemeinen
Haushalt der Krankenkassen. Die Geldleistungen des Bundes
führen deshalb - ungeachtet einer Gesetzesbegründung,
die von „dem Einstieg in eine teilweise Finanzierung von
gesamtgesellschaftlichen Aufgaben (beitragsfreie
Mitversicherung von Kindern) aus dem Bundeshaushalt“ spricht
(vgl. BTDrucks 16/3100, S. 212), im Ergebnis zu einer alle
Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkassen gleichmäßig
begünstigenden Ermäßigung der Beitragssätze
(§§ 241 ff. SGB V; vgl. BVerfGE 123, 186
<229>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten
Senats vom 7. April 2010 - 1 BvR 810/08 -, juris).
Es trifft also nicht zu, dass der Bundeszuschuss gezielt zur
Finanzierung der Familienversicherung verwendet würde.
Richtig ist nur, dass über der Jahresarbeitsentgeltgrenze
verdienende Personen wie der Ehemann der Beschwerdeführerin
zu 1) als Steuerzahler zur Finanzierung dieses
Bundeszuschusses beitragen, obwohl sie als Privatversicherte
selbst keine Vorteile aus der gesetzlichen
Krankenversicherung haben. Aus dem eigenen Steuerbeitrag
folgt aber grundsätzlich kein Anspruch auf Teilhabe an vom
Gesetzgeber gewährten familienpolitischen Leistungen wie der
Familienversicherung der Kinder nach § 10
SGB V.
14
2. Eine Änderung der Rechtslage gegenüber der
Senatsentscheidung vom 12. Februar 2003 (vgl. BVerfGE
107, 205) ergibt sich auch nicht aus der von den
Beschwerdeführern herangezogenen Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zur einkommensteuerrechtlichen
Berücksichtigung von Krankenversicherungsbeiträgen der Kinder
(vgl. BVerfGE 120, 125). Dort wird festgestellt, dass es dem
Gesetzgeber verwehrt sei, die von ihm durch das
sozialhilferechtlich garantierte Versorgungsniveau selbst
statuierte Sachgesetzlichkeit dadurch zu durchbrechen, dass
er bei der Berücksichtigung entsprechender
Versicherungsbeiträge der Steuerpflichtigen Grenzen ziehe,
die durch vernünftige Typisierungserwägungen nicht mehr zu
begründen seien. Dabei sei zu beachten, dass typisierende
Regelungen im Bereich des Existenzminimums in möglichst allen
Fällen den entsprechenden Bedarf abdeckten (vgl. BVerfGE 82,
60 <91>; 87, 153 <172>). Diese Grenzen seien
hinsichtlich der Beiträge zur privaten Krankenversicherung
der Kinder offensichtlich überschritten, wenn unter Berufung
auf die Beitragsfreiheit von ca. 90 % aller Kinder
aufgrund der Familienversicherung nach § 10 SGB V alle
privat krankenversicherten Kinder vollständig
„hinwegtypisiert“ werden (vgl. BVerfGE 120, 125
<166>).
15
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
verlangt daher die einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung
der Krankenversicherungsbeiträge für die ca. 10 % privat
versicherten Kinder, trifft aber keine Aussage dazu, ob
Kinder auch dann im System der gesetzlichen
Krankenversicherung beitragsfrei versichert werden müssen,
wenn ein Elternteil mit einem Verdienst oberhalb der
Jahresarbeitsentgeltgrenze, der das Einkommen des
pflichtversicherten Ehegatten überschreitet, nicht
pflichtversichert ist. Im Gegenteil setzt die Entscheidung
gerade voraus, dass es Kinder gibt, die privat und damit für
die Eltern nicht beitragsfrei versichert sind.
16
3. Das Bundesverfassungsgericht hält an seiner
Rechtsprechung fest, dass verheiratete Elternteile durch
Ausschluss der Kinder von der Familienversicherung bei
Vorliegen der einkommensbezogenen Voraussetzungen des
§ 10 Abs. 3 SGB V gegenüber unverheirateten
Elternteilen zwar schlechter gestellt werden, diese
Ungleichbehandlung aber nicht gegen Art. 3 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG verstößt.
17
Verfassungsrechtlicher Maßstab für die
Ungleichbehandlung von Ehen und eheähnlichen
Lebensgemeinschaften durch die Regelung des § 10 Abs. 3
SGB V ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 67, 186 <195>). Es
geht um die Frage einer Benachteiligung der Ehe gegenüber
eheähnlichen Lebensgemeinschaften im Hinblick auf die
Familienversicherung der Kinder in der gesetzlichen
Krankenversicherung, für deren Leistungen die
Versichertengemeinschaft aufzukommen hat. Bei dieser
Gleichheitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass Art. 6
Abs. 1 GG der Freiheit des Gesetzgebers, welche Sachverhalte
er gleich und welche er ungleich behandelt, Grenzen setzt
(vgl. BVerfGE 103, 242 <258>). Es ist dem Gesetzgeber
untersagt, die Ehe gegenüber anderen Lebensgemeinschaften zu
diskriminieren (vgl. BVerfGE 69, 188 <205 f.>; 75,
382 <393>), insbesondere Verheiratete gegenüber
Nichtverheirateten bei der Gewährung rechtlicher Vorteile zu
benachteiligen (vgl. BVerfGE 67, 186 <195 f.>; 75,
382 <393>). Eine punktuelle gesetzliche Benachteiligung
ist allerdings hinzunehmen, wenn die allgemeine Tendenz des
Gesetzes auf Ausgleich familiärer Belastungen abzielt, dabei
Eheleute teilweise begünstigt und teilweise benachteiligt,
die gesetzliche Regelung im Ganzen betrachtet aber keine
Schlechterstellung von Eheleuten bewirkt (vgl. BVerfGE 107,
205 <215 f.>).
18
Die Kammer lässt es dahin gestellt, ob die
Überlegungen des Senats zur unterhaltsrechtlichen Situation
eheähnlicher Familien eine Schlechterstellung der Kinder
verheirateter Eltern noch in gleicher Weise tragen, nachdem
der Betreuungsunterhaltsanspruch nach § 1615l BGB für
den Elternteil eines nichtehelich geborenen Kindes in
Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
28. Februar 2007 (vgl. BVerfGE 118, 45) dem
Anspruch nach § 1570 BGB für den geschiedenen Ehegatten
angepasst wurde.
19
Die Ungleichbehandlung von Ehen mit Kind und
eheähnlichen Gemeinschaften mit Kind in § 10 Abs. 3 SGB
V findet ihre Rechtfertigung jedenfalls weiterhin in der
Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber ist
grundsätzlich befugt, generalisierende, typisierende und
pauschalierende und auch pauschaliert quantifizierende
Regelungen zu treffen (stRspr; vgl. BVerfGE 99, 280
<290>; 100, 138 <174>; 103, 392 <397>; 105,
73 <127>; 113, 167 <236>).
20
Eine Ausschlussregelung in § 10 Abs. 3
SGB V, die auch dann greift, wenn in einer eheähnlichen
Lebensgemeinschaft ein Partner nicht gesetzlich versichert
ist, mehr verdient als der gesetzlich versicherte Partner und
ein Einkommen oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze
erzielt, wäre für die Krankenkasse nicht handhabbar.
21
Zwar knüpft das Sozialrecht in Einzelfällen
durchaus Folgen an das Bestehen einer eheähnlichen
Gemeinschaft an. Während es aber in der Regelung im
Opferentschädigungsgesetz, die Gegenstand der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 2004
(BVerfGE 112, 50) war, um den Einzelfall ging, dass der
eine Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft an den
Schädigungsfolgen einer Gewalttat verstorben ist und der
andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung
eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt, ist der
Familienversicherungstatbestand des § 10 SGB V ein
Problem der Massenverwaltung. Kinder sind bis zu 25 Jahre
familienversichert. Wollte man die Ausnahmeregelung des
§ 10 Abs. 3 SGB V jedoch auch beim Vorliegen einer
eheähnlichen Lebensgemeinschaft greifen lassen, hätte das
einen langen Beobachtungszeitraum für die Verwaltung zur
Folge. Da die eheähnliche Lebensgemeinschaft ohne formale
Hürden und Dokumentation jederzeit aufgelöst werden kann,
würde es eine für die Krankenkassen faktisch nicht zu
leistende Aufgabe darstellen, kontinuierlich zu prüfen, ob
eine solche Lebensgemeinschaft besteht, immer noch besteht
oder wieder besteht. Das Versicherungsrecht des SGB V, in das
die Familienleistung der beitragsfreien Versicherung der
Kinder integriert ist, ist darauf angewiesen, dass die
Versicherungstatbestände und die Ausschlusstatbestände klar
rechtlich definiert sind. Die Ehe ist ein solcher rechtlich
klar definierter und leicht nachweisbarer Tatbestand, das
Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft ist es nicht. Die
Krankenkassen wären überfordert, müssten sie Ermittlungen zum
Verfestigungsgrad tatsächlich bestehender, wie auch immer
rechtlich zu fassender eheähnlicher Lebensgemeinschaften
anstellen.
22
4. Eine punktuelle gesetzliche
Benachteiligung, wie sie verheiratete Elternteile durch
Ausschluss der Kinder von der Familienversicherung bei
Vorliegen der einkommensbezogenen Voraussetzungen des
§ 10 Abs. 3 SGB V gegenüber unverheirateten Elternteilen
trifft, ist hinzunehmen, wenn die allgemeine Tendenz des
Gesetzes auf den Ausgleich familiärer Belastungen abzielt,
dabei Eheleute teilweise begünstigt und teilweise
benachteiligt, die gesetzliche Regelung im Ganzen betrachtet
aber keine Schlechterstellung von Eheleuten bewirkt (vgl.
BVerfGE 107, 205 <215 f.>).
23
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung vom 12. Februar 2003 ausdrücklich festgestellt,
dass durch die unterschiedliche Behandlung bei einer
Gesamtbetrachtung Eheleute nicht schlechter gestellt seien
(vgl. BVerfGE 107, 205 <216>). So sähen die Regelungen
über die Familienversicherung in § 10 SGB V rechtliche
Vorteile vor, die nur zur Geltung kämen, wenn eine Ehe
vorliege. So könne nach § 10 Abs. 1 SGB V der
Ehepartner, der Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung
sei, dem anderen Ehepartner, der nicht selbst Mitglied in der
gesetzlichen Krankenversicherung sei, beitragsfreien
Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung
vermitteln. Eine solche Möglichkeit sei Partnern einer
eheähnlichen Lebensgemeinschaft nicht eröffnet.
24
Zwar kommt der Vorteil der beitragsfreien
Mitversicherung des Ehegatten nach § 10 Abs. 1 Nr.
5 SGB V den oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze
gutverdienenden Ehegatten nie zugute. Die beitragsfreie
Mitversicherung des Ehegatten ist nach dieser Bestimmung
sogar schon ausgeschlossen, wenn dieser ein Siebtel der
Bezugsgröße nach § 18 SGB IV verdient. Die über den
Ausschluss der beitragsfreien Mitversicherung der Kinder nach
§ 10 Abs. 3 SGB V schlechter gestellte Gruppe (Ehegatten
mit einem Einkommen oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze)
kommt somit niemals selbst in den Genuss der beitragsfreien
Mitversicherung. Sie gehört zu der Gruppe grundsätzlich von
der beitragsfreien Mitversicherung ausgeschlossener Ehegatten
mit einem Gesamteinkommen oberhalb der Grenze des § 10
Abs. 1 Nr. 5 SGB V. Ein Ausgleich der
Schlechterstellung hinsichtlich der Kinderversicherung findet
für die von § 10 Abs. 3 SGB V erfasste Gruppe somit
nicht im Krankenversicherungsrecht statt. Jedoch wird der
Ausschluss der Familienversicherung der Kinder nach § 10
Abs. 3 SGB V über die einkommensteuerrechtliche
Berücksichtigung von Krankenversicherungsbeiträgen der Kinder
jedenfalls teilweise ausgeglichen (vgl. BVerfGE 120, 125
<142>). Diese Kompensation genügt, um die
Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.
25
Von einer weiteren Begründung wird nach
§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
26
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Schluckebier
Baer | bundesverfassungsgericht |
100-2002 | 22. November 2002 | Zur Veröffentlichung von Anwalts-Ranglisten
Pressemitteilung Nr. 100/2002 vom 22. November 2002
Beschluss vom 07. November 20021 BvR 580/02
Die 1. Kammer des Ersten Senats hat einer Verfassungsbeschwerde gegen zivilgerichtliche Entscheidungen stattgegeben, die den Beschwerdeführern (Bf) untersagten, in dem von ihnen verbreiteten "JUVE-Handbuch" Anwalts-Ranglisten zu veröffentlichen. Die entgegenstehenden gerichtlichen Entscheidungen wurden aufgehoben, die Sache zur Neuverhandlung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
1. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Das Handbuch informiert vornehmlich über die Tätigkeit wirtschaftsrechtlich orientierter Anwaltskanzleien. Sein besonderes und allein streitiges Merkmal sind optisch hervorgehobene Listen, in denen namentlich genannten Anwaltskanzleien ein bestimmter Rang zugewiesen wird. In der Einleitung des Handbuchs wird erläutert, dass die redaktionellen Mitteilungen auf Befragungen mit Akteuren am Markt, Anwälten, Mandanten und juristischen Akademikern beruhen. Unter jeder Rangliste findet sich der Hinweis, die Auswahl der Kanzleien sei eine subjektive und gebe lediglich die auf zahlreichen Interviews basierende Recherche der Redaktion wieder. Zusätzlich enthält das Handbuch einen Werbeteil, in dem Rechtsanwälte gegen Entgelt Inserate aufgeben.Das Oberlandesgericht gab im Berufungsverfahren der gegen die Ranglisten gerichteten Unterlassungsklage zweier Münchner Rechtsanwälte statt. Es bejahte einen Verstoß gegen § 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) unter dem Gesichtspunkt der "getarnten Werbung". Die Revision der Bf blieb ohne Erfolg.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügten sie eine Verletzung ihres Grundrechts auf Meinungsfreiheit. Im Verlauf des Verfahrens teilten sie mit, in der geplanten 5. Auflage des Handbuchs die Grundlagen der wertenden Aussagen über die besprochenen Anwaltskanzleien eingehender darzulegen und auch unter jeder Rangliste den subjektiven Charakter der Bewertung deutlicher hervortreten zu lassen. Die Kammer hat alsdann dem Eilantrag, die Veröffentlichung der Neuauflage zu ermöglichen, in der einstweiligen Anordnung vom 1. August 2002 stattgegeben.
2. In der Entscheidung der Kammer heißt es unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Wesentlichen:
Das angegriffene Unterlassungsgebot verletzt die Bf in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit.
a) Die untersagten Ranglisten enthalten abweichend von der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht Tatsachen, sondern wertende Äußerungen über die Leistungen der aufgeführten Kanzleien. Die Einordnung einer Äußerung als Werturteil oder als Tatsachenbehauptung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die rechtliche Beurteilung von weichenstellender Bedeutung. Werturteile sind grundsätzlich frei; sie können nur unter besonderen Umständen beschränkt werden.
b) Die bisherigen Ausführungen der Gerichte reichen nicht für die Feststellung, dass die Ranglisten ein in § 1 UWG geschütztes Rechtsgut gefährden, dessen Schutz Vorrang vor der Freiheit der Meinungsäußerung hat. Schutzgut des § 1 UWG ist insbesondere der Leistungswettbewerb. Hier geht es um den Wettbewerb zwischen Rechtsanwälten. Die Ranglisten betreffen Transparenz und Offenheit des Anwaltsmarktes. Durch Beschränkung auf verhältnismäßig wenige Kanzleien, insbesondere auf Großkanzleien, geben sie diesen einen Wettbewerbsvorsprung; auch werden neu gegründete Kanzleien allenfalls mit erheblicher zeitlicher Verzögerung einbezogen.
Indem das Oberlandesgericht allein auf die wettbewerbsrechtliche Fallgruppe der "getarnten Werbung" abhebt, lässt es Bedeutung und Tragweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG außer Acht. Die Fallgruppe ist in hohem Maße auf wertende Einschätzungen und Prognosen angewiesen. Daher muss zusätzlich im konkreten Fall festgestellt werden, ob das von § 1 UWG geschützte Rechtsgut gefährdet ist. Hieran fehlt es. Das Oberlandesgericht ist insbesondere nicht auf die Frage eingegangen, ob etwa die Werbewirkung journalistischer Beiträge dem Leistungswettbewerb in der Anwaltschaft zuwiderlaufe, ob die angesprochenen Kreise die im Handbuch dargelegten Bewertungsgrundlagen nicht selbst zu werten wüssten oder ob der Verlag in sittenwidriger Weise auf die Aufgabe von Inseraten hingewirkt habe.
c) Sollte schließlich eine hinreichende Gefährdung des Schutzgutes festgestellt werden, fehlt es an tragfähigen Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit des Unterlassungsgebots. Möglicherweise reichen klarstellende Hinweise auf die Quellen der Ranglisten zur Abwehr einer solchen Gefährdung aus. Unter diesem Gesichtspunkt sind bei der Neuverhandlung der Sache auch die für die 5. Auflage angekündigten zusätzlichen Erläuterungen zu prüfen.
Karlsruhe, den 22. November 2002
Anlage zu Pressemitteilung Nr. 100/2002 vom 22. November 2002
§ 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG)
Wer im geschäftlichen Verkehre zu Zwecken des Wettbewerbes Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden.
nach oben | BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 580/02 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. der J U V E Verlag für juristische
Informationen GmbH, gesetzlich vertreten durch ihre
Geschäftsführer,
2. der Frau Dr. G...,
3. des Herrn G...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dr. Peter Nolte und Koll.,
Warburgstraße 50, 20354 Hamburg -
gegen
a)
den Beschluss des
Bundesgerichtshofs vom 21. Februar 2002 - I ZR 155/01
-,
b)
das Urteil des
Oberlandesgerichts München vom 8. Februar 2001 - 29 U
4292/00 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem
am 7. November 2002 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Oberlandesgerichts München vom
8. Februar 2001 - 29 U 4292/00 - und der Beschluss des
Bundesgerichtshofs vom 21. Februar 2002 - I ZR 155/01 -
verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus
Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache
wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Den Beschwerdeführern sind die notwendigen
Auslagen von der Bundesrepublik Deutschland zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen
Tätigkeit wird auf bis 35.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
1
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind
zivilgerichtliche Entscheidungen, mit denen die
Veröffentlichung optisch hervorgehobener Rangeinstufungen
(Ranking-Listen) in einem Handbuch über wirtschaftsrechtlich
orientierte Anwaltskanzleien untersagt wird.
I.
2
1. Die Beschwerdeführerin zu 1 gibt seit dem
Jahre 1998 das jährlich erscheinende "JUVE-Handbuch" heraus.
Die Kläger des Ausgangsverfahrens, zwei niedergelassene
Rechtsanwälte, nahmen die Beschwerdeführer wegen der in dem
Handbuch enthaltenen Anwalts-Ranglisten nach § 1 UWG auf
Unterlassung in Anspruch. Das Oberlandesgericht gab im
Berufungsrechtszug der Klage statt (vgl. NJW 2001, S. 1950 =
ZIP 2001, S. 1116). Der Bundesgerichtshof hat die Revision
nicht zur Entscheidung angenommen.
3
Die Verfassungsbeschwerde rügt eine Verletzung
der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG. Mit der
einstweiligen Anordnung vom 1. August 2002 hat die Kammer die
Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Oberlandesgerichts
München im Hinblick auf die geplante 5. Auflage des Handbuchs
einstweilen eingestellt.
4
2. Die Kläger des Ausgangsverfahrens, die
Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, die
Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs und der
Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft haben zur
Verfassungsbeschwerde Stellung genommen.
II.
5
Die Voraussetzungen einer Stattgabe durch die
Kammer nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG sind gegeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 12. Dezember
2000 (BVerfGE 102, 347 - Benetton-Werbung) eine
Grundsatzentscheidung zur Bedeutung des Grundrechts auf
Meinungs- und Pressefreiheit im Wettbewerbsrecht getroffen.
Damit sind die für den vorliegenden Fall maßgeblichen Fragen
im Wesentlichen geklärt. Nach den in dieser Entscheidung
niedergelegten Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde
begründet.
6
Im Anschluss an das Urteil vom 12. Dezember
2000 hat die Kammer in den Beschlüssen vom 1. August 2001
(NJW 2001, S. 3403) und vom 6. Februar 2002 (NJW 2002, S.
1187) zu Bedeutung und Tragweite des Grundrechts für den
Inhalt von Werbeaussagen Stellung genommen. Für die
vorliegende Sache gilt unter Bezugnahme hierauf
Folgendes:
7
1. Das Oberlandesgericht hat bei Auslegung und
Anwendung von § 1 UWG Bedeutung und Tragweite des
Grundrechts der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG
verkannt.
8
a) Die untersagten Ranglisten enthalten
schwerpunktmäßig wertende Äußerungen, nicht jedoch
Tatsachenbehauptungen.
9
Eine Meinung ist im Unterschied zur
Tatsachenbehauptung durch das Element des Wertens,
insbesondere der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt
(vgl. BVerfGE 61, 1 <9>; 85, 1 <14>). Die Listen
geben eine von der Redaktion erstellte Rangordnung der
aufgeführten Kanzleien wieder. Sie lassen erkennen, dass
dadurch über deren Leistungen ein Werturteil abgegeben wird.
Dieses baut allerdings auf Interviews auf, also auf
Auskünften Dritter, wie der jeweils am Ende wiedergegebene
Hinweis zeigt. Die Fundierung der Wertungen in tatsächlichen
Erhebungen ändert aber nichts daran, dass Werturteile
formuliert werden. Auch in den Interviews wurden wertende
Äußerungen erhoben und zur Grundlage der Auswertung
genommen.
10
Soweit sich den Entscheidungsgründen
Anhaltspunkte entnehmen lassen, geht das Oberlandesgericht
demgegenüber davon aus, bei den Ranglisten handele es sich um
die Äußerung von Tatsachen. Den aus den Ranggruppen zu
ersehenden Angaben zur Qualifikation der genannten
Rechtsanwälte wird ausdrücklich tatsächlicher Charakter
beigemessen. Im gleichen Zusammenhang ist von objektiven
Vergleichskriterien die Rede. An anderer Stelle werden die
Ranggruppen als objektiv nicht zu rechtfertigende und als
unrichtige Information charakterisiert, deren sachliche
Richtigkeit auch von den Beschwerdeführern nicht behauptet
werde. Dies alles setzt ein Verständnis der Tabellen als
Tatsachenäußerung voraus.
11
b) Auf der unzutreffenden Einordnung der
Äußerungen als Tatsachenbehauptungen beruht das
Berufungsurteil. Werden die Äußerungen bei erneuter
Verhandlung der Sache als Werturteil eingeordnet, besteht die
Möglichkeit, dass ein dem Beschwerdeführer günstigeres
Ergebnis erzielt wird. Die dahingehende Möglichkeit reicht
für die Annahme eines Zusammenhangs zwischen der
Grundrechtsverletzung und der angegriffenen Entscheidung aus
(vgl. BVerfGE 61, 1 <13>; 99, 185
<201 f.>).
12
aa) Die Einordnung einer Äußerung als
Werturteil oder als Tatsachenbehauptung ist für die
rechtliche Beurteilung von Eingriffen in das Grundrecht auf
Meinungsfreiheit nach der Rechtsprechung der Fachgerichte und
des Bundesverfassungsgerichts von weichenstellender Bedeutung
(vgl. BVerfGE 61, 1 <7 f.>; 99, 185
<196 f.>; stRspr). Führt eine Tatsachenbehauptung
zu einer Rechtsverletzung, hängt das Ergebnis der Abwägung
der kollidierenden Rechtsgüter vom Wahrheitsgehalt der
Äußerung ab. Bewusst unwahre Tatsachenäußerungen genießen den
Grundrechtsschutz überhaupt nicht (vgl. BVerfGE 54, 208
<219>). Ist die Wahrheit nicht erwiesen, wird die
Rechtmäßigkeit der Beeinträchtigung eines anderen Rechtsguts
davon beeinflusst, ob besondere Anforderungen, etwa an die
Sorgfalt der Recherche, beachtet worden sind. Werturteile
sind demgegenüber keinem Wahrheitsbeweis zugänglich. Sie sind
grundsätzlich frei und können nur unter besonderen Umständen
beschränkt werden (vgl. BVerfGE 85, 1
<16 f.>).
13
bb) Wird die Rangliste zutreffend als
Werturteil eingeordnet, lässt sich nach den bisherigen
Erkenntnissen des Oberlandesgerichts nicht feststellen, dass
sie ein in § 1 UWG geschütztes Rechtsgut gefährdet und
dessen Schutz Vorrang vor der Freiheit der Meinungsäußerung
hat.
14
(1) Schutzgut des § 1 UWG ist nach der
fachrichterlichen Rechtsprechung insbesondere der
Leistungswettbewerb. Zum Schutz der Wettbewerber und
sonstiger Marktbeteiligter, aber gegebenenfalls auch
gewichtiger Interessen der Allgemeinheit, werden durch die
Norm Verhaltensweisen missbilligt, welche die
Funktionsfähigkeit des an der Leistung orientierten
Wettbewerbs im wettbewerblichen Handeln einzelner Unternehmen
oder als Institution stören, so zum Beispiel durch unlautere
Einflussnahmen auf die freie Entschließung der Kunden (vgl.
BGHZ 140, 134 <138 f.>; BGH NJW 2000, S. 864; BGHZ
144, 255 <265 f.>; Baumbach/Hefermehl,
Wettbewerbsrecht, 22. Aufl., München 2001, Einl UWG, Rn.
100 ff.). Diese Schutzgutbestimmung ist
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, NJW
2001, S. 3403 <3404>; 2002, S. 1187 <1188>). Ob
§ 1 UWG noch weitere Schutzgüter umfasst (so, wenn auch
ohne Spezifizierung, BGH, VersR 2002, S. 456 <462> -
"H.I.V. Positive" II), brauchte vom Bundesverfassungsgericht
in den bisher entschiedenen Sachen nicht erörtert zu werden;
auch der vorliegende Fall bietet hierzu keinen Anlass. Die
Auslegung des einfachen Rechts und damit auch die Herleitung
von Schutzgütern aus einer Rechtsnorm ist Aufgabe der
Fachgerichte (BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 84, 372
<379>; 85, 248 <257 f.>; 102, 347
<362>).
15
(2) Berührt ist vorliegend der Wettbewerb
zwischen Rechtsanwälten. Die streitigen Ranglisten betreffen
insbesondere die Transparenz des Anwaltsmarktes. Durch
Beschränkung auf verhältnismäßig wenige Kanzleien,
insbesondere auf Großkanzleien, geben die Ranglisten diesen
einen Wettbewerbsvorsprung. Die Listen beeinflussen auch die
Offenheit des Anwaltsmarktes, weil sie neu gegründete
Kanzleien im Regelfall nicht oder doch nur mit erheblicher
zeitlicher Verzögerung einbeziehen.
16
(3) Eine auf § 1 UWG gestützte
Einschränkung der Meinungsfreiheit setzt im konkreten Fall
Feststellungen zur Gefährdung des Leistungswettbewerbs durch
sittenwidriges Verhalten voraus. Das Oberlandesgericht stellt
unter Bezugnahme auf die vom Bundesgerichtshof in den
Urteilen "Die Besten" I und II (BGH, NJW 1997, S. 2679; 2681)
erarbeiteten Grundsätze tragend auf die Fallgruppe der
getarnten Werbung ab, also eine Fallgruppe, die einen Bezug
auf den auch im Medienrecht enthaltenen Grundsatz der
Trennung von redaktionellem Text und Werbung herstellt.
Allein auf die Anwendbarkeit dieser Fallgruppe wird die
Annahme der Sittenwidrigkeit im Sinne des § 1 UWG
gestützt. Das ist mit den sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG
herleitenden Vorgaben nicht vereinbar.
17
Die Orientierung an Fallgruppen und damit an
typischen Situationen der Gefährdung des Schutzguts ist
verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn die betreffenden
Fallgruppen den miteinander kollidierenden grundrechtlichen
Positionen hinreichend Rechnung tragen. Dies kann in
abstrakter Weise geschehen. Verweist die Fallgruppe aber auf
Prognosen und die Anwendung unbestimmter, insbesondere
wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe, ist die
Rechtsanwendung nicht eindeutig vorgegeben. Dann sind auf den
konkreten Fall bezogene Feststellungen zur Gefährdung des von
§ 1 UWG geschützten Rechtsgutes und bei Kollisionen
unterschiedlicher Rechtsgüter eine die betroffenen Interessen
erfassende Abwägung erforderlich (vgl. BVerfG, NJW 2002, S.
1187 <1188>). Dementsprechend ist das
Bundesverfassungsgericht im Benetton-Urteil nicht von den
Tatbestandselementen der einschlägigen Fallgruppe
ausgegangen, sondern hat das angegriffene Unterlassungsgebot
selbständig am Maßstab des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bewertet
(vgl. BVerfGE 102, 347 <364 ff.>).
18
Von den Tatbestandselementen der von der
Rechtsprechung zu § 1 UWG entwickelten Fallgruppen kann
eine aus praktischer Erfahrung gewonnene Indizwirkung für die
Gefährdung des Leistungswettbewerbs und damit zusammenhängend
die Sittenwidrigkeit ausgehen. Allerdings müssen die
Fachgerichte prüfen, ob die Indizwirkung im konkreten Fall
ausreicht, um die Rechtsfolge, eine Einschränkung der
Meinungsfreiheit, zu rechtfertigen (vgl. BVerfG, NJW 2002, S.
1187 <1188>).
19
Die Fallgruppe der getarnten Werbung ist nicht
eindeutig eingegrenzt, sondern bei der Rechtsanwendung in
hohem Maße auf wertende Einschätzungen und Prognosen der
Folgen einer solchen Werbung angewiesen. Das gilt
insbesondere für die Merkmale der sachlichen Unterrichtung,
der Werbewirkung und deren Übermaß beziehungsweise
Einseitigkeit. Wird die Fallgruppe der getarnten Werbung auf
die journalistische Tätigkeit durch ein Medienunternehmen
angewandt, bieten die im Wettbewerbs- und Medienrecht
entwickelten Grundsätze über die Trennung von redaktionellem
Teil und Anzeigenteil Anhaltspunkte der Bewertung und damit
der Feststellung einer Gefährdung des Schutzgutes im
konkreten Fall.
20
Eine spezifische Gefahr für den
Leistungswettbewerb, die von den Ranglisten als solchen
ausgeht, wird in den Entscheidungsgründen nicht dargelegt.
Dass ein journalistischer Beitrag über Anwaltskanzleien mit
Werbewirkung allgemein oder im konkreten Fall dem
Leistungswettbewerb in der Anwaltschaft zuwiderläuft, etwa
mit Rücksicht auf die Funktion der Anwaltschaft als Organ der
Rechtspflege (§ 1 BRAO), hätte der näheren Begründung
bedurft. Soweit das Oberlandesgericht auf die begrenzte
Offenlegung der Bewertungsgrundlagen und -kriterien abstellt,
fehlen im Berufungsurteil Feststellungen insbesondere dazu,
dass die angesprochenen Kreise die Erläuterungen nicht selbst
angemessen zu werten wissen oder dass die verbleibenden
Unklarheiten Gefahren für den Leistungswettbewerb
bedingen.
21
Es ist auch nicht festgestellt worden, dass
durch die Veröffentlichung von Ranglisten in sittenwidriger
Weise auf die Aufgabe von Inseraten hingewirkt wird. Auch
dies hätte einer die spezifische Gefährdung des
Leistungswettbewerbs einbeziehenden Begründung bedurft. Dafür
reicht der Hinweis auf das Interesse der Beschwerdeführer an
der Akquisition von Anzeigenaufträgen nicht aus.
Anzeigenfinanzierte Medien sind regelmäßig darauf angewiesen,
zur Schaltung von Anzeigen zu motivieren. Die Bewertung als
sittenwidrig erfordert die Feststellung zusätzlicher
Umstände, die etwa gegeben sind, wenn durch Vortäuschung
einer neutralen redaktionellen Leistung ein werbender, auf
die Akquisition gerichteter Inhalt verborgen wird.
Entsprechende Feststellungen hat das Oberlandesgericht nicht
getroffen.
22
cc) Schließlich fehlt es für den Fall, dass
eine hinreichende Gefährdung des Schutzguts festgestellt
werden sollte, an tragfähigen Erwägungen zur
Verhältnismäßigkeit des Unterlassungsgebots.
23
Ein umfassendes Unterlassungsgebot ist nicht
erforderlich, wenn klarstellende Zusätze, etwa Hinweise auf
die Quellen der Ranglisten, ausreichen, um Irreführungen und
eine hierdurch hervorgerufene Beeinträchtigung des
Leistungswettbewerbs auszuschließen. Eine dahingehende
einschränkende Verurteilung ist, wenn nicht der Klageantrag
diese Möglichkeit ohnehin berücksichtigt, nach der
fachgerichtlichen Rechtsprechung auch bei einem umfassenden
Unterlassungsbegehren zulässig (vgl. BGHZ 78, 9
<18 ff.>). Im Zuge des Verfahrens über die
einstweilige Anordnung haben die Beschwerdeführer zum Teil
neue klarstellende Formulierungen für die Neuauflage des
Handbuchs angekündigt, mit denen sie den Bedenken des
Oberlandesgerichts Rechnung tragen wollen. Bei der
Neuverhandlung der Sache wird zu prüfen sein, ob eine vom
Oberlandesgericht möglicherweise bejahte Gefährdung des
Leistungswettbewerbs auf solche Weise abgewehrt werden kann.
Die neuen Formulierungen sind vom Bundesverfassungsgericht
bislang allerdings nur im Rahmen der nach § 32 Abs. 1
BVerfGG vorzunehmenden Abwägung, nicht hingegen in der Sache
selbst einer Würdigung unterzogen worden.
24
2. Da die Entscheidung des Bundesgerichtshofs
möglicherweise auf denselben Erwägungen beruht wie das
Berufungsurteil, verletzt auch sie die Beschwerdeführer in
ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
25
3. a) Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG
ist die Verletzung der Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht
aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG festzustellen. Auf die weiter
gehenden Grundrechtsrügen kommt es nicht an. Die
angegriffenen Entscheidungen werden gemäss § 95 Abs. 2
BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht
zurückverwiesen, weil die erneute Bearbeitung in einer
Tatsacheninstanz angezeigt ist.
26
b) Gemäß § 34 a BVerfGG sind den
Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen von der
Bundesrepublik Deutschland zu erstatten. Die Festsetzung des
Gegenstandswertes folgt aus § 113 Abs. 2 Satz 3
BRAGO.
27
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Hoffmann-Riem | bundesverfassungsgericht |