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Schrecken der Ozeane. Eine kurze Globalgeschichte der Piraterie | Piraterie | bpb.de | Seit einigen Jahren scheint ein internationaler Verbrechertyp zurückzukehren, dessen Umtriebe als Geißel der Menschheit für längst überwunden galten: der Pirat. Noch vor wenigen Jahren hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass Männer aus Somalia vor einem deutschen Gericht als Piraten bestraft und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt würden, wie es im Oktober 2012 am Hamburger Landgericht geschehen ist. Hinzu kommt, dass die Wiederkehr von Seeräuberei im großen internationalen Maßstab ausgerechnet da erfolgt ist, wo vor rund 300 Jahren schon einmal Seeräuber die ganze Welt in Atem hielten: am Horn von Afrika. Kommt es zu einer Renaissance der historischen Freibeuter? Eins steht jedenfalls fest: Das "goldene Zeitalter" der Piraterie wird sich deshalb nicht wiederholen, weil es als solches nie existiert hat. Um keine andere Verbrecherfigur ranken sich bis heute so viele Mythen und Legenden. Das gilt nicht nur für die sagenhaften Raubzüge von schillernden Gestalten wie Henry Every, William Kidd oder Blackbeard um 1700, denen das goldene Zeitalter seinen Namen verdankt, sondern ebenfalls für Störtebekers dreistes Vorgehen gegen die Hansestädte im Mittelalter oder Pompeius’ Feldzug in der Antike gegen tollkühne Mittelmeerpiraten. Dementsprechend bemühen sich bis heute Historikerinnen und Historiker aller Länder unermüdlich, Fakten und Fiktionen hinsichtlich der Geschichten berühmt-berüchtigter Seeräuber sauber voneinander zu trennen.
Bis auf wenige, aber bedeutende Ausnahmen existieren kaum Selbstzeugnisse von Seeräubern, da die meisten von ihnen weder lesen noch schreiben konnten. Ferner ist es immer schon im Eigeninteresse der an Raub, Plünderung und Mord Beteiligten gewesen, alle Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen oder falsche Fährten zu legen. Schließlich beruhen etwa unsere heutigen Kenntnisse über die nahezu weltumspannende Seeräuberei an der Wende zum 18. Jahrhundert zum größten Teil auf literarischen Erzeugnissen, in denen Fakten und Fiktionen untrennbar miteinander verbunden sind.
Als Franzosen und Engländer zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Nordafrikanern aus Tunis, Algier und Tripolis Seeräuberei vorwarfen, sich dabei selbst aber weder an die eigenen Verträge mit den Bewohnern des Maghreb noch an internationales Kriegsrecht hielten, richtete der Bey von Tunis diesen Vorwurf nicht ganz zu Unrecht gegen die Europäer selbst. Weil sie in das von ihnen beanspruchte Herrschaftsgebiet segelten, bezeichneten Spanier und Portugiesen französische, englische und holländische Amerikafahrer im 16. Jahrhundert als Piraten. Von den Iberern daran gehindert, in die "Neue Welt" zu fahren, drehten Franzosen, Engländer und Holländer den Spieß um und hielten ihnen ihrerseits Seeräuberei vor. In der Wechselseitigkeit des Piraterievorwurfs zeigt sich, was die Bezeichnungen "Seeräuber" oder "Pirat" immer schon waren, nämlich Begriffe der Fremdbeschreibung, um die Handlungen und Gewaltanwendungen des Gegners zu delegitimieren und zugleich die eigenen damit zu rechtfertigen, etwa mit Hilfe der Selbstbeschreibung als "Seepolizist" oder "Piratenjäger". Das hat sich bis heute nicht geändert: Nicht wir sind Räuber und Banditen, sondern die Hochseefahrer internationaler Fischfangflotten, die in unsere Küstengewässer eingedrungen sind, um widerrechtlich unsere Fischgründe auszurauben – so argumentieren in jüngerer Zeit viele Somalier, wenn sie der Piraterie beschuldigt werden und sich dabei als selbst organisierte Küstenschutzpatrouille verstehen.
Verstehen lässt sich die lange Geschichte der Piraterie daher häufig als eine Angelegenheit wechselseitiger Beschuldigungen. Fast immer fehlte eine neutrale dritte Instanz, so dass die meisten Streitfälle durch das Recht des Stärkeren entschieden wurden und dieser dann über das Monopol verfügte, zu definieren, wer Pirat sei und wer nicht. Stationen der Piraterie-Weltgeschichte
Oft ist Piraterie als "zweitältestes Gewerbe" der Welt bezeichnet worden. Wagt man den Versuch, eine kurze Geschichte dieses Gewerbes wenigstens knapp zu umreißen, dann ist zunächst zu bedenken, dass einem die Bezeichnung "Piraterie" als abwertende Fremdzuschreibung ständig und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen begegnet. Erschwerend kommt hinzu, dass unsere heutige völkerrechtliche Definition von Piraten als Personen, die auf hoher See aus Eigennutz Gewalttaten gegen Personen oder Eigentum begehen, ohne hierzu von einer anerkannten Regierung ermächtigt worden zu sein, nur sehr bedingt auf die lange Geschichte solcher Zuschreibungen angewandt werden kann. Legt man diese allgemeine Definition zugrunde, dann erscheint die Geschichte der Piraterie zunächst nicht viel mehr zu sein, als eine bloße zeitliche Abfolge von aufflackernden Verdichtungen seeräuberischer Aktivitäten, die an verschiedenen Orten der Welt auftauchen und wieder verschwinden. Schaut man jedoch genauer hin, indem man den Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Funktionen des Seeraubs richtet, ergeben sich gewisse Muster und Strukturen, die sich in veränderten Formen wiederholen.
Antike: Hartnäckig hält sich bis heute die Behauptung, Piraterie sei im frühen Altertum nichts Verwerfliches, sondern etwas Heldenhaftes gewesen. Bereits bei Hugo Grotius, dem großen Theoretiker des modernen Völkerrechts aus dem 17. Jahrhundert, liest man, die Worte Homers "Seid Ihr Räuber?" seien eine freundschaftliche Frage gewesen. Und gemäß Justin habe Seeräuberei bis zur Zeit des Tarquinius (der Sage nach der letzte König Roms) als etwas Ruhmvolles gegolten. Etwas Heroisches scheint auch im griechischen Begriff peiratés anzuklingen, der sich von peíra (Probe, Versuch) ableitet und damit einen Räuber bezeichnet, der es immer wieder aufs Neue wissen will und die Herausforderung sucht. Hingegen relativieren neuere Forschungen das bis in die Gegenwart vorherrschende Klischee vom heldenhaften Ursprung der Piraterie und weisen darauf hin, dass in den homerischen Epen zwischen Heroen und Piraten unterschieden und Seeräuberei missbilligend dargestellt wurde.
Abgesehen von der Rechtsfrage lassen sich bis in die älteste Zeit menschlicher Überlieferung zwei Formen von maritimer Gewaltanwendung und Beutenahme unterscheiden. Zum einen werden seit dem "Seevölkersturm" im östlichen Mittelmeer um etwa 1200 v. Chr. immer wieder verschiedene Völker genannt, die als Gemeinschaft insgesamt vorrangig vom Seeraub lebten. Gezählt werden dazu etwa in der Antike die griechischen Phokaier, die Kilikier aus Kleinasien oder im Mittelalter die fast ganz Europa mit Plünderungszügen heimsuchenden Normannen und Wikinger. Zum anderen waren es immer wieder sehr kleine, regional engräumig agierende Personengruppen, die Raubüberfälle zur See in sehr begrenztem Umfang und auf bestimmte Zeiten beschränkt unternahmen. Oft waren es Bauern in Zeiten von Missernten oder Fischer während der Laichsaison, die ihren Erwerbsausfall kompensierten, indem sie Schiffe überfielen, später aber wieder zu ihrem eigentlichen Gewerbe zurückkehrten. Beobachten lassen sich solche Ausprägungen saisonaler oder episodischer Piraterie als subsidiäre Erwerbsform nicht nur im europäischen Raum, sondern etwa auch in Asien an der langen chinesischen Küste, wo seit den ersten chinesischen Dynastien einheimische Fischer in den fangfreien Sommermonaten Boote ausrüsteten, um an den Küsten zu plündern und Handelsdschunken zu überfallen.
Spätestens nach dem Ende der Perserkriege (ca. 450 v. Chr.) setzte mit dem Aufstieg Athens das Bemühen ein, Piraterie wirksam zu bekämpfen, um den Handel auf dem Meer sicherer zu gestalten. Allmählich entstanden Normen zwischen den Mächten, durch die Piraterie als Straftat verurteilt wurde. Die damit einhergehende Verrechtlichung kriegerischer Beziehungen führte dazu, dass römische Juristen der spätrepublikanischen Zeit Kämpfe gegen Piraten nicht als Kriege, sondern als "Polizeiaktionen" ansahen. Das imperiale Rom instrumentalisierte den Antipiratenkampf zur Delegitimierung des Widerstands gegen äußere Gegner wie innere Opposition. Aus der Seeräuberbekämpfung wurde in der Kaiserzeit das Selbstbild als starke politische Autorität ab. Wie problematisch aber eine solche Unterscheidung zwischen Krieg und Raub letztlich blieb, belegen die Worte Augustins (354–430) aus "De civitate Dei". Dem Kirchenvater zufolge habe der von Alexander dem Großen gefangene Erzpirat Demetrios auf dessen Frage, warum er das Meer unsicher mache, geantwortet: "Warum werde ich, weil ich es mit kleinen Schiffe tue, Pirat genannt, und Du, König, weil du die Erde mit Heerscharen unsicher machst, Imperator?"
Mittelalter: Ihrerseits begann sich die Piraterie im Mittelalter in eine legale und eine illegale Variante aufzuspalten. Im lateinischen Mittelmeerraum, insbesondere in den mächtigen Handelsstädten Genua und Venedig, bezeichnete man maritime Raubfahrten, die mit einer obrigkeitlichen Lizenz legalisiert wurden, als Piraterie in cursum (wörtlich: "in rascher Fahrt"). Aus diesem Ausdruck entwickelte sich später dann der Begriff des Korsaren sowie des Kaperfahrers für den nordeuropäischen Raum. Die seit dem Mittelalter in ganz Europa gebräuchlichen Kaperbriefe schufen einen legalen Rahmen für private Seebeutenahme. Die für legal erklärte Seebeute bezeichnete man als "Prise". Dass offiziell eingesetzte Seebeutefahrer immer wieder dazu tendieren, sich in autonom agierende Seeräuber zu verwandeln, zeigen bereits an der Wende zum 15. Jahrhundert die sogenannten Vitalienbrüder. Zunächst im Einsatz als Blockadebrecher für Stockholm gegen die Belagerung durch dänische Verbände, verselbstständigten sie sich später – unter schillernden Figuren wie Gödeke Michels oder Klaus Störtebeker – zu unabhängigen Raubfahrern, die zeitweise fast den gesamten Handelsverkehr der Nord- und Ostseeschifffahrt lahmlegten. Interkontinentale Piraterie ab dem 16. Jahrhundert
Mit dem globalen Ausgriff europäischer Seemächte nach Amerika und Ostindien dehnten sich ab dem 16. Jahrhundert auch die Aktivitäten europäischer Seeräuber aus. Seefahrer aus Frankreich, England und Holland widersetzten sich dem Vorherrschaftsanspruch der Spanier und Portugiesen auf weite Teile der außereuropäischen Welt. In einer Mischung aus Seeraub, Schmuggel und Handel beteiligten sie sich als Handelskorsaren am Wettlauf um Machtansprüche und Handelsmonopole in West- und Ostindien. Seebeutefahrer wie François le Clerc, Richard Hawkins, Francis Drake oder Piet Heyn dienten ihren jeweiligen Souveränen als Pioniertruppe exterritorialer Machtausdehnung. Während sie auf diese Weise den Atlantik in einen Schauplatz seekämpferischer Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Europäern verwandelten, war die Lage östlich von Afrika wesentlich komplizierter. Kaufmannskrieger der englischen und niederländischen Ostindienkompanien führten einen permanenten Seebeutekampf mit den Portugiesen. Französische, englische und holländische Korsaren sorgten dafür, dass lizenzierter und unlizenzierter Seeraub im 16. und 17. Jahrhundert interkontinentale Ausmaße annahmen.
Seit Beginn des portugiesischen Vordringens in den Indischen Ozean und in das Südchinesische Meer wurden die europäischen Beziehungen zu den Völkern Asiens durch die Piraterie kompliziert wie verdichtet. Mal wurden die Portugiesen von chinesischer Seite als Räuber und Piraten angesehen, ein anderes Mal galten sie den Japanern als Verbündete im Kampf gegen chinesische Piraten. Auf der anderen Seite wurden sie immer wieder Opfer von japanischen Piraten, etwa den Noshima Mukarami, die sich jedoch nicht als Piratenbanden, sondern als Seeherrscher verstanden. Wie ihre europäischen Konkurrenten und Handelspartner kombinierten viele chinesische Seefahrer ebenfalls friedlichen Handel mit Schmuggel und Seeraub. Hinzu kam, dass sich unter den japanischen Seeräuberbanden der Wōkòu häufig auch Chinesen, Malaysier, Siamesen und eben auch Portugiesen, Spanier oder sogar Afrikaner befanden. In der Auseinandersetzung mit asiatischen Seeräubern wurde den Europäern im Laufe des 16. Jahrhunderts bewusst, dass sie in Asien im Unterschied zu Amerika nicht die alleinigen Machtfaktoren bildeten, sondern auf die Kooperation mit regionalen Großmächten wie Persien, Indien und China angewiesen waren.
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Karibik zu einem Zentrum piratischer Aktivitäten entwickelt. Von den Inseln der Kleinen und Großen Antillen bis zur nordamerikanischen Küste reichte das Operationsgebiet der Bukanier und Flibustier, ursprünglich Gruppen europäischer Emigranten, die – in Westindien ansässig – vorrangig vom Seeraub lebten. Sie setzten sich vor allem aus den engagés zusammen, die von Europa nach Westindien übergesiedelt waren, um dort als Schuldknechte zu arbeiten, nach ihrer Freilassung aber keine Arbeitsmöglichkeit mehr hatten oder aufgrund der schlechten Behandlung geflohen waren. Mit den Bukaniern und Flibustiern entstand ein neuer Typus der Überseepiraterie. Während Handelskorsaren und die ersten Kaufmannskrieger von Europa aus ihre Beuteexpeditionen starteten und dorthin auch wieder zurückkehrten, waren sie vor Ort ansässig.
Lange Zeit von Engländern und Franzosen als Kaperfahrer gegen Neu-Spanien eingesetzt, verloren die Bukanier und Flibustier im ausgehenden 17. Jahrhundert die Unterstützung der Nordeuropäer, nachdem letztere sich in Westindien selbst als Kolonialmächte etablieren konnten. Auf der Suche nach neuen Jagdgründen schwärmten Bukanier und Flibustier in den Pazifik und in den Atlantik aus. Aus dem Indischen Ozean lockten Nachrichten von sagenhaften Schätzen indischer Handels- und Pilgerschiffe. Nachdem es den Piraten Thomas Tew und Henry Every gelungen war, im Arabischen Meer reiche Beute zu machen, brach in Westindien und Nordamerika ein regelrechter Goldrausch aus. An der Wende zum 18. Jahrhundert machten sich junge Kapitäne und Seeleute in Scharen von den Bahamas, aus Virginia oder Boston auf. Um Afrika herum und zurück – auf diesen Weg der "Piratenrunde" begaben sich Ende des 17. Jahrhunderts schätzungsweise bis zu 1500 Männer.
Erst durch die anhaltenden Raubüberfälle der Piraten aus den europäischen Kolonien Amerikas wurde die im ostindischen Raum vorherrschende Großmacht, das Mogulimperium, auf die Präsenz der europäischen Händler im indischen Ozean aufmerksam. Pauschal gab man ihnen die Schuld an den Überfällen und verlangte von ihnen Schutzmaßnahmen durch Konvoischiffe und Piratenjäger. So waren es die Piraten der "Runde", welche die bislang untereinander konkurrierenden Europäer dazu zwangen, sich an einen Tisch zu setzen. Die gemeinsamen seepolizeilichen Maßnahmen gegen die roundsmen bildeten den Ausgangspunkt ihrer späteren Seevorherrschaft im Indischen Ozean. Als sie die Verbindungen zu den Hintermännern in Amerika kappten, brach das fragile Piratennetzwerk der roundsmen zusammen, aber durch deren Raub- und Schleichhandel, der insbesondere zur Erschließung neuer Sklavenmärkte an der ostafrikanischen Küste führte, waren Westindien und Ostindien als bisher weitgehend getrennte Wirtschaftsräume ein ganzes Stück näher zusammengerückt – was man als Globalisierungseffekt der "Piratenrunde" bezeichnen könnte. Mit dem Verschwinden der "Runde" verbindet man heute auch das Ende des goldenen Zeitalters der Piraterie.
Aber das Seeraubproblem als Gegenstand internationaler Beziehungen blieb weiterhin vor allem im mediterranen Raum virulent. Seit das Osmanische Reich sich am Ende des 16. Jahrhundert aus dem westlichen Mittelmeer weitgehend zurückgezogen hatte, nahmen die Überfälle muslimischer Korsaren aus Nordafrika auf europäische Handelsschiffe rapide zu. Auf christlicher Seite entsprachen den nordafrikanischen Seekämpfern vor allem von Malta aus operierende und vom dortigen Orden der Johannes-Ritter unterstützte Korsaren, die "maurische" Schiffe angriffen und sich dabei als Glaubenskämpfer verstanden. In Syrien fürchteten katholische Christen noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts, dass die andauernden Überfälle der Malteser Korsaren zum Abfall vieler syrischer Christen vom katholischen Glauben führen könnten. Ebenso wenig wie die Malteser betrachteten sich die Beutefahrer der sogenannten Barbareskenstädte Algier, Tunis und Tripolis als Piraten, vielmehr nannten sie sich ġâzîs, Soldaten im Krieg gegen die Ungläubigen, und definierten sich als Kämpfer des djihād. Im corso oder guerra corsara, wie der Kaperkrieg des Mittelmeers bezeichnet wurde, waren auf beiden Seiten ökonomische und religiöse Motive kaum voneinander zu trennen. Die Schädigung des Glaubensfeindes durch Wegnahme seiner Schiffe und Güter ließ sich beiderseits immer auch zugleich als religiöse Handlung rechtfertigen. Während die Korsarenaktivitäten auf Malta mit der Besetzung der Insel durch Napoleons Flotte 1798 praktisch eingestellt wurden, fanden die Beutefahrten der Maghrebiner erst ein Ende, als Algier 1830 von Frankreich eingenommen wurde.
In Form der Kaperei erfuhr der staatlich lizenzierte Seeraub einen letzten großen Höhepunkt in den Napoleonischen Kriegen sowie den Unabhängigkeitskriegen in Nord- und Südamerika im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Nach politischer Autonomie von Spanien oder England strebende Mächte wie die USA, Bolivien, Chile oder Argentinien bedienten sich mangels eigener Seestreitkräfte privater Seebeutefahrer durch die Ausstellung von Kaperbriefen für ihren politischen Befreiungskampf. Dabei verschwamm die ohnehin schwer fixierbare Grenze zwischen Kaperei und Piraterie immer mehr. Der Kaperkrieg hatte ein solches Maß an Irregularität erreicht, dass keine der an den Auseinandersetzungen diesseits und jenseits des Atlantiks beteiligten Großmächte sicher einschätzen konnte, was nach internationalen Standards als legitime Kaperaktion zu gelten habe und was nicht.
Wenngleich mit der "Piratenrunde" um 1700 Seeräuberei ihre räumlich größte Ausdehnung in der bisherigen Geschichte erreichte, so bildete sich die bis heute größte Piratenflotte weder im Mittelmeer noch im Atlantik, sondern im Südchinesischen Meer. Ende des 18. Jahrhunderts hatten Rebellen in Vietnam chinesische Fischer, die nebenberuflich Piraterie betrieben, zur Unterstützung ihres Kampfes rekrutiert. Nachdem die Tay-Son-Rebellion 1802 niedergeschlagen worden war, kehrten viele der vertriebenen Piraten in die chinesische Provinz Guangdong zurück; mehrere Banden schlossen sich dort zu einem einzigen Verband zusammen, der in sich sechs Flotten vereinigte und 1804 etwa 400 Dschunken und 70000 Mann umfasste. Während die kleineren Piratenbanden um 1800 meist an der Peripherie des chinesischen Reiches operierten, errichtete die Piratenkonföderation ihre Basen entlang der viel befahrenen Handelsrouten, die nach Kanton führten. In China agierte der Piratenbund wie ein Staat im Staate. Den Großteil ihres Einkommens "erwirtschafteten" die Piraten durch den Verkauf von Schutzbriefen. 1809 erreichte die Macht des paramilitärischen Bundes ihren Höhepunkt. Den Seeräubern standen rund 200 große Dschunken (yang-chu’an) zur Verfügung, die jede bis zu 400 Mann Besatzung an Bord hatte. 1810 kollabierte die Konföderation jedoch vollständig. Das Embargo der Qing, Marinekampagnen, ein kaiserliches Amnestieangebot und lokale Milizenaufstände einerseits, innere Streitigkeiten und der Tod oder Rückzug der wichtigsten Flottenführer andererseits führten zu einer raschen Auflösung des Piratenbundes. Obwohl der Bund jede noch so große Piratengemeinschaft der Europäer seit den Zeiten ihrer Expansion nach Amerika und Ostindien zahlenmäßig und an Kampfeskraft bei Weitem überstieg, wurde er nie dazu genutzt, ferne Gegenden zu kolonisieren oder neue Welten zu entdecken. Pirateriebekämpfung im Zeichen des kolonialen Imperialismus
Politisch nutzten im 19. Jahrhundert vor allem die großen Kolonialmächte das universale Recht der Piraterieverfolgung, um daraus weltweite Jurisdiktions- und Seeherrschaftsansprüche abzuleiten. Auf dieses Recht beriefen sich beispielsweise die Briten, als sie im Rahmen seepolizeilicher Maßnahmen dazu übergingen, ihre Stellung als imperiale Kolonialmacht auf der Arabischen Halbinsel oder in Südostasien auszubauen und zu festigen. "Bis in die entlegensten Winkel der Welt", so formulierte bereits im 17. Jahrhundert ein Londoner Admiralitätsrichter den Anspruch der englischen Marine, Piratenschiffe rund um den Globus zu verfolgen. Man berief sich damit auf das aus dem Begriff der Universalfeindschaft abgeleitete universale Piratenstrafrecht, wonach Piraten, weil sie Feinde aller seien, auch von jedermann überall verfolgt und bestraft werden dürften. Als die Briten ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihr Imperium in Indien und Asien auszubauen begannen, nutzten sie dieses Universalstrafrecht, um die Bekämpfung von Gegnern ihrer Kolonisierung als polizeiliche Maßnahme gegen die Piraterie zu rechtfertigen. Die Sicherung der internationalen Handelsschifffahrt und Zivilisationsmission waren die offiziellen Ziele, mit denen die Briten etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts militärisch im Persischen Golf Flagge zeigten und entsprechend gegen Seeräuberüberfälle vorgingen. Dabei war die Ausübung seepolizeilicher Funktionen vom Streben nach machtpolitischer Vorherrschaft in dieser Region nicht zu trennen.
Blieben Piraterie und ihre Bekämpfung im kolonialen Kontext während des gesamten 19. Jahrhunderts eine willkommene Rechtfertigung imperialer Machtbestrebungen, so geriet die legale Gegenseite der Piraterie, die Kaperei, um die Jahrhundertmitte international stark unter Druck, bis man sich 1856 auf der Pariser Seerechtskonferenz multilateral auf ein uneingeschränktes Kapereiverbot einigte. Völkerrechtlich zwar zunächst umstritten, setzte sich dieses Verbot auf lange Sicht gesehen international durch. Die Pariser Beschlüsse zum Seekriegsrecht markieren den Anfang vom Ende der Unterscheidung zwischen Piraterie und Kaperei, womit die völkerrechtliche Legitimität der Seebeutenahme durch Privatpersonen aufgehoben wurde. Seitdem die Differenz von Kaperei und Piraterie verschwunden ist, beschränkt sich die Grenze zwischen Legalität und Illegalität innerhalb des Seekriegsrechtes einzig auf die Unterscheidung von Kriegsmarine/Seepolizei und Seeräuberei. Im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte schlossen sich weitere Regierungen diesem Abkommen an, und bis etwa 1900 hatte sich auch in der Praxis dieses Verbot nahezu in allen Teilen der Welt durchgesetzt. Fehlende völkerrechtliche Kodifikation
Während sich im 19. Jahrhundert die Ausweitung des Pirateriebegriffs auf den Sklavenhandel ebenso wenig behaupten konnte wie dessen Ausdehnung auf die Beschädigung internationaler Telegrafenkabel, blieb andererseits manchem Rechtsgelehrten die gängige Bestimmung von Seeraub zu eng gefasst. Nachdem aus Mangel an Konsens das Bemühen um eine völkerrechtliche Kodifikation der gesetzlichen Pirateriebekämpfung 1927 von der Agenda des Völkerbundes genommen wurde, kommentierte der Jurist Alexander Müller das Scheitern mit dem Hinweis, dass immer noch "fast keine Frage des Piraterierechtes unstreitig" sei, etwa betreffend der Meuterei auf Schiffen, der Behandlung von Schiffen Aufständischer oder von Handelsschiffen, die sich an Kriegsmaßnahmen beteiligten. International durchsetzen konnte sich bis heute eine weite Definition, die neben Raub auf hoher See ebenfalls jede rechtswidrige Gewalttat, Freiheitsberaubung oder Plünderung umfasst, nicht dagegen der vor allem von Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg unternommene Versuch, den Einsatz von Unterseebooten als Akt der Piraterie zu definieren.
Recht und Politik treffen im Pirateriebegriff immer wieder aufeinander und treten zueinander in ein widersprüchliches, wenn nicht paradoxes Verhältnis. Auch wenn organisierte Aufständische, sofern sie als solche anerkannt sind, nicht als Piraten angesehen werden, verhält sich die Spruchpraxis hierzu nicht ganz eindeutig. Das gilt insbesondere für nicht anerkannte Rebellen. Dabei komme es Völkerrechtler Rüdiger Wolfrum zufolge nicht so sehr darauf an, ob sie für sich das Recht der Kriegführenden in Anspruch nehmen können, "sondern darauf, ob die vorgenommenen Gewaltakte noch in den typischen Bereich der Seekriegsführung fallen oder nicht." Auch die Unterscheidung zwischen Piraterie und Terror auf See, wie sie vor allem in Bezug auf das im Oktober 1985 von palästinensischen Terroristen überfallene Kreuzfahrtschiff "Achille Lauro" gemacht wurde, bleibt problematisch. So erstaunt es nicht, dass gerade nach den Anschlägen vom 11. September 2001 manche Politiker und Juristen dafür plädieren, die Pirateriebestimmung, wie sie dem UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 zugrunde liegt, ebenfalls auf Akte terroristischer Gewalt auszudehnen.
Im modernen Völkerrechtsverständnis führte die rechtliche Nichtgreifbarkeit des Piraten dazu, dass er auf der einen Seite, so könnte man mit Carl Schmitt sagen, in die "merkwürdige" Liste nicht-staatlicher Völkerrechtssubjekte aufgenommen wurde, "eine Liste, die mit dem Heiligen Vater beginnt und mit dem Seeräuber endet". Auf der anderen Seite blieb der Pirat par excellence dasjenige Völkerrechtsobjekt, welches aus der Rechtsgemeinschaft aller Völker auszuschließen ist. In ihm verdichteten sich alle Merkmale von Inhumanität und Unzivilisiertheit. Nachdem heute der internationale Terrorist den Piraten in seiner Rolle als meist gesuchten internationalen Verbrecher abgelöst hat, lässt er sich auf ähnliche Weise wie sein semantischer Vorgänger als Identifikationsfigur eines globalen Freund-Feind-Dualismus heranziehen. Etwa als der US-Präsident George W. Bush nach dem 11. September 2001 die Staatengemeinschaft vor die Wahl stellte, sich entweder auf die Seite Amerikas oder auf die der Terroristen zu stellen. Drohende Wiederkehr?
Wenn gegenwärtig Seeraub in ihrer Spielart der Somalia-Piraterie eine neue Blüte als Gefahr internationaler Schifffahrt zu erleben scheint, so ist dieses Phänomen vor allem im Zusammenhang neuer Formen von Gewalt zu sehen, die weder vollständig staatlicher Kontrolle unterliegen, noch durch das Aufeinandertreffen militärisch wie politisch gleichberechtigter Gegner gekennzeichnet sind. Zu einer ähnlich globalen Gefahr wie um 1700 könnte die heutige Piraterie am Horn von Afrika allerdings nur unter den Bedingungen werden, dass erstens eine ganze Reihe von Küstenstaaten wie Somalia nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt ihr Gewaltmonopol wahrnehmen kann, zweitens der Mangel an legalen Erwerbstätigkeiten in solchen Ländern die Bereitschaft zur gefährlichen Beutejagd auf See steigen lässt. Drittens müsste es zu Nachahmern in größerem Stil auch in anderen Regionen der Welt kommen, die viertens, im Rahmen von Strukturen international organisierter Kriminalität miteinander kooperieren würden. Freilich bleibt davon unberührt, dass örtlich begrenzte Phänomene gewalttätiger Überfälle auf See wohl nie ganz zu unterbinden sein werden.
Vgl. Michael Kempe, Fluch der Weltmeere, Frankfurt/M.–New York 2010; ders. "Even in the remotest corners of the world", in: Journal of Global History, 5 (2010) 3, S. 353–372.
Vgl. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, libri tres in quibus ius naturae et gentium, hrsg. v. B.J.A. De Kanter/Van Hettinga Tromp, Leiden 1939, S. 392.
Vgl. Philip de Souza, Piracy in the Graeco-Roman World, Cambridge 1999.
Vgl. Aurelius Augustinus, Gottesstaat, Kempten 1911, S. 191f.
Vgl. Karl-Heinz Böhringer, Das Recht der Prise gegen Neutrale in der Praxis des Spätmittelalters dargestellt anhand Hansischer Urkunden, Frankfurt/M. 1970.
Vgl. Matthias Puhle, Die Vitalienbrüder, Frankfurt/M.–New York, 19942.
Vgl. Les Caraïbes au temps des flibustiers XVIe–XVIIe siècles, Paris 1982.
Vgl. Michael Kempe, Die Piratenrunde, in: Volker Grieb/Sabine Todt (Hrsg.), Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2012, S. 155–180; Arne Bialuschewski, Between Newfoundland and the Malacca Strait: A Survey of the Golden Age of Piracy, in: Mariner’s Mirror, 90 (2004) 2, S. 167–186.
Vgl. auch M. Kempe, Fluch der Weltmeere (Anm. 1), Kap. 6, S. 245–288; Daniel Panzac, Barbary Corsaires. The End of a Legend 1800–1820, Leiden 2005.
I. Mélikoff, Ghāzī, in: B. Lewis u.a., The Encyclopaedia of Islam, Bd. 2, Leiden 1991, S. 1043–1045; Andreas Rieger, Die Seeaktivitäten der muslimischen Beutefahrer als Bestandteil der staatlichen Flotte während der osmanischen Expansion im Mittelmeer im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1994.
Vgl. Dian H. Murray, Pirates of the South China Coast 1790–1810, Stanford 1987.
Leoline Jenkins, Charge given to an Admiralty Session held at the Old Bailey, [ohne Datum, ca. 1669–1674] in: William Wynne, The Life of Sir Leoline Jenkins, 2 Bde., London 1724, Bd. 1, xc–xci.
Vgl. Charles E. Davies, The Blood-Red Arab Flag, Exeter 1997.
Vgl. Francis R. Stark, The Abolition of Privateering and the Declaration of Paris, New York 1897; Francis Piggott, The Declaration of Paris 1856, London 1919.
Alexander Müller, Die Piraterie im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes der Völkerbundskommission und der Regierungsäußerungen, Frankfurt/M. 1929, S. 80.
Vgl. United Nations Convention on the Law of the Sea, Part VII, High Seas, Art. 101.: "Definition of piracy: Piracy consists of any of the following acts: (a) any illegal acts of violence or detention, or any act of depredation, committed for private ends by the crew or the passengers of a private ship or a private aircraft, and directed: (i) on the high seas, against another ship or aircraft, or against persons or property on board such ship or aircraft; (ii) against a ship, aircraft, persons or property in a place outside the jurisdiction of any state; (b) any act of voluntary participation in the operation of a ship or of an aircraft with knowledge of facts making it a pirate ship or aircraft; (c) any act of inciting or of intentionally facilitating an act described in subparagraph (a) or (b)."
Vgl. Christoph Sattler, Die Piraterie im modernen Seerecht und die Bestrebungen der Ausweitung des Pirateriebegriffes im neueren Völkerrecht, Bonn 1971.
Rüdiger Wolfrum, Hohe See und Tiefseeboden (Gebiet), in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts, München 2006, §53, S. 308.
Vgl. Malvina Halberstam, Terrorism on the High Seas, in: The American Journal of International Law, 82 (1988) 2, S. 269–310; Michael Stehr, Piraterie und Terror auf See, Berlin 2004, S. 93.
Carl Schmitt, Völkerrecht (1948/50), in: ders., Frieden oder Pazifismus?, hrsg. v. Günter Maschke, Berlin 2005, S. 764.
| Article | , Michael Kempe | 2021-12-07T00:00:00 | 2012-11-22T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/149607/schrecken-der-ozeane-eine-kurze-globalgeschichte-der-piraterie/ | Seit einigen Jahren scheint ein Verbrechertyp zurückzukehren, dessen Umtriebe als Geißel der Menschheit für längst überwunden galten. Kann man von einer Renaissance der historischen Freibeuterei sprechen? | [
"Aus Politik und Zeitgeschichte 48/2012",
"Piraterie",
"Weltgeschichte",
"Imperialismus",
"Völkerrecht"
] | 200 |
M 02.01 Caricature d'introduction | Europawahl 2019 (mehrsprachig) | bpb.de | Aide à la traduction:
Yummy = [familier] miam Dolmio = (Nom de la sauce)) EU Referendum Sauce = Sauce au référendum sur l’UE Stay = Rester Leave = Quitter Warning Only use once in a lifetime = Attention: n’utiliser qu’une fois May leave bitter after-taste = Peut laisser un arrière-goût amer Lies - So Many - 98% = Mensonges – Nombreux – 98% Fear - Argh! - 97% = Peur – Ah! – 97% Idiocy – Total - 99% =Idiotie – Totale – 99% Rac[...] Pro[...] 96[%] =Rac…] – Pro[…] – 96[%]
Exercices:
Décris ce qu’on peut voir dans la caricature.
Interprète la caricature: A quel événement politique fait-elle référence? Quel message le caricaturiste Brian Adcock veut-il faire passer? Justifie ton interprétation.
Discutez en classe du message de la caricature.
Le document est aussi disponible en Interner Link: format PDF. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-01-29T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/europawahl-2019-grafstat/284732/m-02-01-caricature-d-introduction/ | Vraiment bon? La caricature d'introduction doit motiver les élèves à s'intéresser à la campagne autour du référendum sur le Brexit. | [
"Europawahl 2019; EU; UE; Élections européennes 2019; Union européenne; élections européennes; europe; vote; Brexit"
] | 201 |
Pierre Bourgeois | Frankreich | bpb.de | Hong Kong ist aufgewacht, der Verkehr ist schon dicht. In den lauten Straßen vom Wanchai eilen Businessleute zu ihrem ersten Meeting, während die Händler in den engen Lädchen auf Kunden warten. In seinem Büro, mit Blick auf die Wolkenkratzer der Stadt, bereitet Pierre Bourgeois ein Arbeitstreffen über den Bau der neuen Hongkonger Metrolinie vor. Den Vertrag dafür unterschrieb im Frühling 2013 seine Firma, das französische Bauunternehmen VINCI; die Bauarbeiten für die neue Linie sollen nicht weniger als 68 Monate dauern.
Seit 2010 leitet Monsieur Bourgeois in Hong Kong die Niederlassung von VINCI Construction Grands Projets, eine Firma, die in großen Infrastrukturprojekten wie Tunnel- und Brückenbau spezialisiert ist. In dieser Funktion ist er für 450 Mitarbeiter verantwortlich, darunter Franzosen, aber auch Chinesen und Nepalesen. Sein Arbeitsalltag ist vielfältig und besteht nicht nur darin, für den richtigen Ablauf der Baustellen zu sorgen: Parallel dazu muss er auch u.a. neue Projekte initiieren, an Ausschreibungen teilnehmen und technische Workshops organisieren. Dazu gehört viel Netzwerkpflege. Interkulturelle Missverständnisse scheinen aber selten zu sein, was laut Bourgeois am Sprachgebrauch (alle Geschäftsgespräche finden auf Englisch statt) und an der langjährigen Präsenz von westlichen Baufirmen in der Stadt liegt.
Für den Franzosen hat das Leben im Ausland nichts Ungewöhnliches. Seine erste Auslandserfahrung hat er schon als Kleinkind gemacht: Er war noch nicht ein Jahr alt, als sein Vater mit der ganzen Familie nach Mauretanien gezogen ist, um dort in einem Eisenbergwerk zu arbeiten. Diese Erfahrung hat ihn so stark geprägt, dass er sich gleich nach seinem Studium des Bauingenieurwesens entschied, als Expat auf einer Baustelle in Kolumbien zu arbeiten. Dort lernte er auch seine zukünftige Frau kennen. Es folgten Stellen als Bauingenieur und anschließend Bauleiter in Südafrika, in der Schweiz und in China. Pierre Bourgeois ist von Natur aus ein neugieriger Mensch. Von einem Leben im Ausland erhofft er sich, neue Kulturen kennenzulernen und einen Einblick in die globalen Herausforderungen unserer Zeit zu bekommen. Er ist in erster Linie von der "technischen Modernität Asiens" fasziniert.Gleichzeitig sorgt er sich aber darum, dass "Europa dabei zurückbleibt". Insbesondere von Frankreich wünscht er sich mehr Zukunftsorientierung und Reformbereitschaft.
Und doch bleibt der Bauunternehmer optimistisch: Die Europäer haben viele Stärken, wie die Fähigkeit, offen zu diskutieren, zu hinterfragen und sogar sich selbst infrage zu stellen, stellt er fest. Diese Einstellung ermögliche es, kreativ und leistungsfähig zu sein, was in einem internationalen Kontext sehr zu schätzen sei. Bourgeois‘ Optimismus gilt übrigens auch für Frankreich. Weil er vom Potenzial der französischen Industrie im Ausland überzeugt ist, engagiert er sich seit 2015 als Außenhandelsrat Frankreichs. Damit will er französischen Unternehmen helfen, sich in Hong Kong zu entwickeln.
Pierre Bourgeois ist zugleich überzeugter Europäer und Patriot. Obwohl der größte Teil seiner Karriere im Ausland stattfand, fühlt er sich "durch und durch als Franzose" und ist "sich über seine Wurzeln tief bewusst und ziemlich stolz". Das Gefühl, zu einem Land zu gehören und dort zu Hause zu sein, hält er für eine große Chance. Es ist ihm auch bewusst, dass seine beiden erwachsenen Töchter, die ihre ganze Kindheit im Ausland verbrachten, diese Chance nicht erben konnten. Sein größter Wunsch ist nun, dass sie als Weltbürgerinnen glücklich werden. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-06T00:00:00 | 2015-09-29T00:00:00 | 2021-12-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/212835/pierre-bourgeois/ | Pierre Bourgeois baute schon Brücken und Tunnel in Kolumbien, Südafrika und der Schweiz. Heute arbeitet der Bauunternhemer in China. Als Weltbürger unterwegs fühlt sich Burgeois trotzdem "durch und durch als Franzose". Er ist vom Potenzial der franzö | [
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Basisdemokratische Partei Deutschland | Abgeordnetenhauswahl Berlin 2023 | bpb.de |
Die "Basisdemokratische Partei Deutschland" (dieBasis) entstand im Juli 2020. Sie ist eine der Nachfolgeorganisationen der im April 2020 von Gegnern der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie gegründeten und mittlerweile wieder aufgelösten Parteiinitiative Widerstand2020. Sie erreichte bei der Bundestagswahl 2021 1,4 Prozent der Stimmen und kam bei bisher acht Landtagswahlteilnahmen auf Werte zwischen 0,8 (Nordrhein-Westfalen 2022) und 1,5 (Sachsen-Anhalt 2021) Prozent.
DieBasis, der sowohl ehemalige Mitglieder aus anderen Parteien als auch Personen angehören, die aus dem Umfeld der sogenannten Querdenker-Bewegung stammen, ist im Parteiensystem nicht eindeutig verortbar. Die Partei bezeichnet sich selbst als größte Demokratiebewegung in Deutschland, deren Zielsetzung von "vier Säulen: Freiheit, Machtbegrenzung, Achtsamkeit und Schwarmintelligenz" bestimmt sei. Neben der Fundamentalkritik am staatlichen Umgang mit der Covid-19-Pandemie ist das zentrale Ziel der Partei die Etablierung der Basisdemokratie.
Fakten zur Partei
Gründungsjahr Landesverband: 2020* Landesvorsitz: Silvia Ortmann und Sören Jagla* Mitgliederzahl in Berlin: ca. 1.550* Wahlergebnis 2016: nicht angetreten Wahlergebnis 2021: 1,3 %
* nach Angaben der Partei
Auch der Ende Juli 2020 gegründete Berliner Landesverband setzt sich dafür ein "die Basisdemokratie als unser politisches System von Morgen zu etablieren". Er will bei der Wahl "nicht ausschließlich mit landespolitischen Themen" punkten. Daher fordert er weiter die sofortige Aufhebung sämtlicher in der Corona-Krise verfügten Maßnahmen. Zudem spricht sich die Basis in der Energiekrise für die Gewinnung von Gas-Energien im eigenen Land aus. Die Partei unterstützt den "Schluss mit untauglichen, uns selbst schadenden Sanktionen gegen Russland" fordernden und sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine wendenden Aufruf der "Handwerker für den Frieden".
Gründungsjahr Landesverband: 2020* Landesvorsitz: Silvia Ortmann und Sören Jagla* Mitgliederzahl in Berlin: ca. 1.550* Wahlergebnis 2016: nicht angetreten Wahlergebnis 2021: 1,3 %
* nach Angaben der Partei
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-01-25T00:00:00 | 2023-01-17T00:00:00 | 2023-01-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/berlin-2023/517362/basisdemokratische-partei-deutschland/ | DieBasis ging 2020 aus dem Protest gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie hervor. Sie fordert das Ende dieser Bestimmungen und betont basisdemokratische Entscheidungsfindungen. | [
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Ausländische Bevölkerung nach Aufenthaltsdauer | Die soziale Situation in Deutschland | bpb.de | Ende 2020 lebten gut 11,4 Millionen Ausländer in Deutschland. Davon 3,6 Millionen bereits seit zwanzig Jahren oder länger und 2,7 Millionen erst seit vier Jahren oder kürzer. Je nach Staatsangehörigkeit der Ausländer schwankt die Aufenthaltsdauer erheblich. Bei den Ausländern, die als sogenannte Gastarbeiter angeworben wurden (zum Beispiel Türken, Italiener, Griechen), ist die durchschnittliche Aufenthaltsdauer sehr viel höher als bei Ausländern aus den neuen EU-Staaten (Rumänien, Bulgarien) oder aus den Staaten, aus denen in den letzten Jahren die meisten Flüchtlinge und Asylbewerber nach Deutschland kamen (Syrien, Afghanistan, Irak).
Fakten
Nach Angaben des Ausländerzentralregisters (AZR) lebten Ende 2020 gut 11,4 Millionen Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland. Davon knapp ein Drittel seit mindestens zwanzig Jahren (31,2 Prozent). 13,0 Prozent aller Ausländer lebten seit zehn bis unter zwanzig Jahren in Deutschland, 32,1 Prozent seit vier bis unter zehn Jahren. Fast jeder vierte Ausländer lebte Ende 2020 weniger als vier Jahre in Deutschland (23,8 Prozent).
Unter den größten Gruppen mit ausländischer Staatsangehörigkeit haben insbesondere die Ausländer, die als sogenannte Gastarbeiter angeworben wurden, einen langjährigen Aufenthalt: 85,5 Prozent der Türken, 65,0 Prozent der Italiener und 60,5 Prozent der Griechen lebten im Jahr 2020 seit mindestens fünfzehn Jahren in Deutschland. Die meisten Personen mit einer polnischen Staatsangehörigkeit sind zu einem späteren Zeitpunkt nach Deutschland gekommen. Entsprechend lag der Anteil der Personen mit einer Aufenthaltsdauer von mindestens fünfzehn Jahren bei den polnischen Staatsangehörigen bei 23,6 Prozent.
Bei anderen Staaten liegt der Anteil der Personen mit einer Aufenthaltsdauer von mindestens fünfzehn Jahren deutlich niedriger. So zum Beispiel bei den Zuwanderern aus den beiden EU-Mitgliedstaaten Rumänien und Bulgarien, für die noch bis zum 31.12.2013 die eingeschränkte Freizügigkeit galt. Ende 2020 lag der Anteil der Personen mit einer Aufenthaltsdauer von fünfzehn Jahren und mehr bei den rumänischen bzw. bulgarischen Staatsangehörigen in Deutschland bei 5,1 bzw. 5,9 Prozent. Auch bei den Staaten, aus denen 2015 und 2016 viele Personen als Flüchtlinge oder Asylbewerber nach Deutschland kamen, ist der Anteil der Personen mit einer Aufenthaltsdauer von mindestens fünfzehn Jahren entsprechend gering: Lediglich 1,6 Prozent der Syrer, 6,0 Prozent der Afghanen sowie 8,7 Prozent der Iraker lebten im Jahr 2020 seit mindestens fünfzehn Jahren in Deutschland.
43,3 Prozent aller Rumänen lebten Ende 2020 seit weniger als vier Jahren in Deutschland. Bei den Ausländern aus Bulgarien galt dies für gut ein Drittel (36,6 Prozent). Zusammen stellten Rumänen und Bulgaren 18,0 Prozent der 2,7 Millionen Ausländer, die am Stichtag 31.12.2020 seit weniger als vier Jahren in Deutschland lebten. 59,9 Prozent aller Afghanen und 59,0 Prozent aller Syrer lebten Ende 2020 seit vier bis unter sechs Jahren in Deutschland. Bei den Ausländern aus dem Irak galt dies für 48,7 Prozent. Allein aus diesen drei Staaten stammten rund 772.000 der zwei Millionen Ausländer, die Ende 2020 seit vier bis unter sechs Jahren in Deutschland lebten (38,4 Prozent).
Während die durchschnittliche Aufenthaltsdauer aller Ausländer 1992 noch bei 12,0 Jahren lag, betrug sie Ende 2003 bereits 16,0 Jahre und 2011 erreichte sie mit 19,0 Jahren ihren bisherigen Höchstwert. Bis 2018 ging die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der sich in Deutschland aufhaltenden Ausländer kontinuierlich zurück. 2018 lag sie bei 15,2 Jahren, 2020 bei 15,6 Jahren.
Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen
Das Ausländerzentralregister (AZR) ist eine bundesweite personenbezogene Datei, die zentral vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geführt wird. Sie enthält Informationen über alle Ausländerinnen und Ausländer, die sich nicht nur vorübergehend (weniger als drei Monate) in Deutschland aufhalten.
Die Bestandszahlen über die ausländische Bevölkerung aus dem AZR und aus der Bevölkerungsfortschreibung weichen infolge unterschiedlicher Abgrenzungen voneinander ab. Ein unmittelbarer Vergleich der Ergebnisse ist damit nicht möglich.
Freizügigkeit meint hier das Recht den Aufenthalt und Wohnsitz innerhalb der Europäischen Union (EU) frei bestimmen und jederzeit ändern zu können.
Informationen zum Aufenthaltsstatus der ausländischen Bevölkerung und zum Schutzstatus der Schutzsuchenden finden Sie Interner Link: hier...
Informationen zur Einbürgerung finden Sie Interner Link: hier...
Ausländische Bevölkerung nach Aufenthaltsdauer
In absoluten Zahlen, Aufenthaltsdauer und Durchschnittsalter in Jahren, 31.12.2020
Aufenthaltsdauer von ... bis unter ... Jahre 1 ausländische Bevölkerung Durchschnitts- alter Anzahl in Jahren insgesamt 11.432.460 38,0 unter 1 572.615 25,4 1 bis 4 2.147.460 26,6 4 bis 6 2.009.055 28,7 6 bis 8 1.039.830 32,7 8 bis 10 618.085 35,4 10 bis 15 759.125 38,0 15 bis 20 724.310 42,5 20 bis 25 685.615 42,6 25 bis 30 759.795 46,6 30 bis 35 512.050 49,4 35 bis 40 267.210 51,0 40 und mehr 1.337.310 64,1
Fußnote: 1 Die Aufenthaltsdauer entspricht (ohne Berücksichtigung von Aufenthaltsunterbrechungen) der Differenz zwischen dem 31.12.2020 und dem Datum der ersten Einreise nach Deutschland bzw. der Geburt in Deutschland.
Quelle: Statistisches Bundesamt: Ausländische Bevölkerung. Ergebnisse des Ausländerzentralregisters (AZR)
Quellen / Literatur
Statistisches Bundesamt: Ausländische Bevölkerung. Ergebnisse des Ausländerzentralregisters (AZR)
Statistisches Bundesamt: Ausländische Bevölkerung. Ergebnisse des Ausländerzentralregisters (AZR)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-12T00:00:00 | 2012-02-01T00:00:00 | 2022-01-12T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61628/auslaendische-bevoelkerung-nach-aufenthaltsdauer/ | Ende 2020 lebten gut 11,4 Millionen Ausländer in Deutschland. Davon 3,6 Millionen bereits seit zwanzig Jahren oder länger und 2,7 Millionen erst seit vier Jahren oder kürzer. | [
"Zahlen und Fakten",
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Collective Works | bpb.de | Juryauswahl Der Performance-Abend "Collective Works" des Frankfurter Backstein Kollektivs verbindet drei künstlerische Arbeiten der letzten zwei Jahre an den Schnittstellen von Tanz, Sprache, Musik und bildender Kunst. Der Titel beschreibt sowohl den Inhalt des Abends als auch die Philosophie der interdisziplinären Gruppe, die von der Kraft der Gemeinschaft überzeugt ist und das Werk in gemeinsamer Recherchearbeit vorbereitet hat. Der erste Teil, in Zusammenarbeit mit dem Künstler Marcel Appel entstanden, besteht aus einer hölzernen und mit Folie verkleideten beweglichen Rauminstallation, auf die collageartig Bilder und Daten projiziert werden. Es geht um Themen wie Datensicherheit, AGBs, Cookies, Werbung, Daten auf Social Media, es geht um Beeinflussung oder Ablenkung durch das Netz. Teil 2 ist keine Bühnenarbeit, sondern der Kurzfilm "Tracing Empathy!" über die Frage, was es gerade in Konfliktsituationen für eine Gesellschaft bedeuten würde, wenn der:die Einzelne sich stärker in Mitmenschen einfühlte. Den Abend beschließt das Tanzstück "Blue Pill? Red Pill?", in dem es um Fragen der physischen wie politischen Transparenz und den Preis des Whistleblowings geht, aber auch um körperliche Nähe und Zugewandtheit.
English Version
The evening of performance "Collective Works" by the Backstein Kollektiv from Frankfurt brings together three art works from the last two years in which dance, language, music and visual arts converge. The title describes both the evening’s contents as well as the philosophy behind this interdisciplinary group, which is committed to the power of the collective and which prepares its works through communal research. The first section, produced in collaboration with the artist Marcel Appel, consists of a wooden, foil-covered, mobile, spatial installation upon which collage-like images and data are projected. Referencing themes such as data security, terms of use, cookies, advertising and data on social media, it explores influence and distraction through the internet. Section 2 is not a stage work, but a short film: "Tracing Empathy" about the question of what it would mean for a society in situations of conflict if the individuals had greater empathy for their fellow human beings. The evening is concluded by the dance piece "Blue Pill? Red Pill?" that deals with issues of physical and political transparency and the price of whistleblowing, as well as with physical intimacy and attention.
Backstein Kollektiv
Das spartenübergreifende Backstein Kollektiv (Julie Grutzka, Sopran; Hendrik Hebben, Tanz; Moritz Fabian, Tanz/Theaterwissenschaft und Soziologie) arbeitet interdisziplinär und performativ. Seine Arbeiten gehen aus intensiven Recherchen hervor und haben einen soziopolitischen Hintergrund.
The evening of performance "Collective Works" by the Backstein Kollektiv from Frankfurt brings together three art works from the last two years in which dance, language, music and visual arts converge. The title describes both the evening’s contents as well as the philosophy behind this interdisciplinary group, which is committed to the power of the collective and which prepares its works through communal research. The first section, produced in collaboration with the artist Marcel Appel, consists of a wooden, foil-covered, mobile, spatial installation upon which collage-like images and data are projected. Referencing themes such as data security, terms of use, cookies, advertising and data on social media, it explores influence and distraction through the internet. Section 2 is not a stage work, but a short film: "Tracing Empathy" about the question of what it would mean for a society in situations of conflict if the individuals had greater empathy for their fellow human beings. The evening is concluded by the dance piece "Blue Pill? Red Pill?" that deals with issues of physical and political transparency and the price of whistleblowing, as well as with physical intimacy and attention.
Collective Works
Konzept, Regie und Performance: Backstein Kollektiv Bühnenbild: Marcel Appel Lichtdesign und Ton: Manuel Oeschger Musik: Felix Krell Film: Deda-Productions
Dauer: 70 Minuten Altersempfehlung: 14+ Sprachen: Deutsch, Englisch
Gefördert von der Stadt Frankfurt am Main, Hessische Theaterakademie (HTA), Aventis Foundation/CrowdFunding.
Der mobile Tanzschwingboden wird vom ID_Tanzhaus Frankfurt Rhein-Main zur Verfügung gestellt. | Article | Annett Gröschner | 2022-09-21T00:00:00 | 2022-06-08T00:00:00 | 2022-09-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/pift2022/produktionen/509124/collective-works/ | Der Performance-Abend "Collective Works" des Frankfurter Backstein Kollektivs verbindet drei künstlerische Arbeiten der letzten zwei Jahre an den Schnittstellen von Tanz, Sprache, Musik und bildender Kunst. | [
"Macht der Daten",
"Macht des Kollektivs",
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Kommentar: Abschied vom Wolkenkuckucksheim. Deutschlands langsamer Wiedereintritt in die Weltpolitik | Russland-Analysen | bpb.de | In einer historischen Rede verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 eine Zeitenwende in der europäischen Nachkriegsgeschichte und deutschen Außenpolitik. Der Beginn der unverhohlenen militärischen Invasion und Bombardierung der Ukraine durch Russland drei Tage zuvor hatte nicht nur die kooperative Phase der Ost-West-Beziehungen nach Ende des Kalten Krieges beendet. Er stellte auch viele bis dahin lieb gewonnene deutsche Überzeugungen über internationale Beziehungen im Allgemeinen und die Berliner Ostpolitik im Besonderen in Frage.
Bis vor gut zwei Monaten beruhte ein Großteil des deutschen geopolitischen Denkens auf einer rosigen Sichtweise auf europäische Zeitgeschichte. Die deutsche Öffentlichkeit lebte, was die Quellen und Funktionsweise zwischenstaatlicher Konflikte anging, in einem Wolkenkuckucksheim. Das vorherrschende deutsche außenpolitische Paradigma ging davon aus, dass sich bewaffnete Konfrontationen (die nicht von Adolf Hitler initiiert wurden) durch Missverständnisse und mangelnde Kommunikation erklären. Politischer Dialog, kultureller Austausch, Entwicklungshilfe, wirtschaftliche Kooperation und diplomatische Verhandlungen erzeugen – anstelle von Militärbündnissen, Abschreckung und Verteidigungsanstrengungen – nachhaltige nationale Sicherheit und Frieden. Aus dieser Sicht brauchte Deutschland keine akademische Kriegsforschung, sondern war bestens mit ihrer verzweigten Friedens- und Konfliktforschung bedient.
Der auch heute noch weit verbreitete deutsche weltpolitische Eskapismus rechtfertigt sich freilich mit einem selbstkritischen Blick auf die jüngere Geschichte und dem Hinweis auf die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Der Aufstieg pazifistischer Stimmungen in Westdeutschland war jedoch weniger von tatsächlich angemessenen Lehren aus der Vergangenheit geprägt. Stattdessen war er in hohem Maße eine Funktion des kostenarmen Schutzes Westeuropas durch US-Truppen im Allgemeinen und nichtdeutsche NATO-Atomwaffen im Besonderen.
Mit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks und Beginn der EU- sowie NATO-Erweiterungen in den 1990er Jahren verstärkte sich die weltpolitische Tagträumerei der Deutschen und ihre Perzeption, dass die Herstellung internationaler Sicherheit eine ethisch und strategisch unproblematische Aufgabe sei. Deutschland ist die letzten 30 Jahre ausschließlich von befreundeten Nationen und Bündnissen umgeben und eng mit ihnen verbunden. Die günstige geografische Lage der wiedervereinigten Deutschen und die Verlässlichkeit ihrer Verbündeten schufen den Nährboden für einen besonders introvertierten außenpolitischen Diskurs, der hohen Moralismus, unreflektierten Pazifismus und impraktikablen Idealismus zelebriert.
Ein prominentes Beispiel verzerrter deutscher Selbstreflexion war und ist die Begeisterung vieler Westdeutscher für die so genannte Neue Ostpolitik. Dieser Erzählung zufolge erzielte die Herangehensweise der sozialliberalen Koalitionsregierungen gegenüber dem Ostblock in den 1970er Jahren große Erfolge. Die versöhnliche Wendung im Bonner Verhalten gegenüber Moskau und seinen osteuropäischen Satelliten während der Entspannungsperiode habe das Ende des Kalten Krieges 20 Jahre später vorbereitet.
Dieses selbstbeweihräuchernde, nicht nur sozialdemokratische Autonarrativ ignoriert jedoch, dass das unmittelbare Produkt der Neuen Ostpolitik nicht die Perestroika war. Vielmehr begannen der Einmarsch der UdSSR in Afghanistan 1979 und die rasante Eskalation der Ost-West-Spannungen in den frühen 1980er Jahren, als die sozialliberale Koalition in Deutschland noch an der Macht war. Die Welt befand sich bereits am Rande des Dritten Weltkriegs, bevor Ronald Reagan 1981 Jimmy Carter im Weißen Haus ablöste.
Anstatt sich von den Avancen Westdeutschlands unter Willi Brandt Anfang der 1970er Jahre beeindrucken zu lassen, begann die Sowjetunion in der Blütezeit der Neuen Ostpolitik mit der Planung, Entwicklung und dem Bau ihrer berüchtigten SS-20 Mittelstreckenraketen. Das Auftauchen dieses neuen Typs von Atomwaffen brachte die Ost-West-Beziehungen in der zweiten Hälfte der 1970er aus dem Gleichgewicht und führte zu enormer Nervosität in ganz Europa. Schlimmer noch: Moskaus Aufrüstung wurde durch eine gleichzeitige groß angelegte sowjetisch-deutsche Energiekooperation finanziell begünstigt.
Man sollte meinen, dass das widersprüchliche Endergebnis der Bonner Annäherung an den Kreml in den 1970er Jahren der deutschen politischen Elite und breiten Öffentlichkeit eine nachhaltige Lehre erteilt hat. Doch die eher ambivalenten Aus-, Neben- und Nachwirkungen der Neuen Ostpolitik wurden nie kritisch reflektiert. Obwohl die Entspannungsphase vor den konservativen Regierungswechseln in Washington und Bonn Anfang der Achtziger endete, geriet in Vergessenheit, dass sie nur kurz und ihre Errungenschaften nicht nachhaltig waren. Das bis heute anhaltende Versäumnis einer rationalen Bewertung der Neuen Ostpolitik führte einige Jahrzehnte später zu einer merkwürdigen Wiederholung zweischneidiger deutscher Außenwirtschaftsbeziehungen mit Moskau.
1970 wurde das bis dahin größte sowjetisch-westdeutsche Finanzgeschäft, der so genannte Röhrenkredit 1 zum Bau eines Gaspipelinesystems zwischen Westsibirien und der Europäischen Gemeinschaft abgeschlossen; neun Jahre später folgte der Einmarsch Moskaus in Afghanistan. Im Jahr 2005 wurde das bis dahin größte europäische Investitionsprojekt, der Bau der ersten Nord-Stream-Gasleitung von Russland nach Deutschland auf dem Grund der Ostsee, begonnen; neun Jahre später folgte die Annexion der Krim durch Moskau und das Anheizen eines Pseudo-Bürgerkriegs in der Ostukraine. Im Jahr 2015 arrangierten Berlin und Moskau den berüchtigten Nord-Stream-2-Vertrag zwischen Gazprom und einer Reihe westeuropäischer Energieunternehmen; sieben Jahre später folgte der Beginn einer groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine 2022.
Zwar waren die Zeitenwende-Rede von Scholz vom Februar sowie zahlreiche ähnliche Erklärungen anderer deutscher Mainstream-Politiker vor dem Hintergrund früherer eskapistischer Interpretationen ermutigend. Die vielen Ankündigungen einer neuen Berliner Außenpolitik-Doktrin und darauffolgende intensive Mediendiskussion über die deutsche Fehleinschätzung Putins haben sich jedoch bisher in Umfang und Tiefe in Grenzen gehalten. Deutschland unterstützt zwar weitreichende Sanktionen und liefert Waffen an die Ukraine. Die deutsche Kehrtwende hat jedoch keine ausreichende Selbstreflexion über die Ursachen vergangener Fehltritte ausgelöst und noch nicht zu einer vollwertigen Anpassung außenpolitischer Prärogative Berlins geführt.
Die historischen und ideellen Ursachen für das fragwürdige Engagement Deutschlands mit Putin & Co. in den letzten zwanzig Jahren sind noch immer nebulös. Der ehemalige Bundeskanzler und heutige Rosneft-Mitarbeiter Gerhard Schröder ist nach wie vor ordentliches Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Das Aufzeigen störender Ambivalenzen in der 50-jährigen Bilanz der Bonner und Berliner Ostpolitik gilt in vielen öffentlichen Debatten in Deutschland immer noch als pietätlos. Die akademische Kriegsforschung ist an deutschen Universitäten und Forschungsinstituten nach wie vor ein unterentwickeltes Feld, ja teils tabu.
Die Diskrepanz zwischen den lautstarken pro-ukrainischen Äußerungen Berlins auf der einen Seite und den nur zögerlichen Entscheidungen über militärische Hilfe für Kyjiw sowie Sanktionen gegen Moskau auf der anderen Seite irritiert nach wie vor Deutschlands Verbündete in West und Ost. Für einen vollständigen Neustart der Berliner Außenpolitik braucht Deutschland mehr als ein paar politische Reden und Talkshow-Diskussionen. Eine tiefere Untersuchung und breitere Debatte über das gesamte Spektrum der vergangenen Missgeschicke sollte dazu beitragen, endlich aus dem geopolitischen Wolkenkuckucksheim, in dem viele Deutsche immer noch leben, auszuziehen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-06-30T00:00:00 | 2022-05-13T00:00:00 | 2023-06-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-419/508280/kommentar-abschied-vom-wolkenkuckucksheim-deutschlands-langsamer-wiedereintritt-in-die-weltpolitik/ | Die russische Invasion in der Ukraine stellte auch viele bis dahin lieb gewonnene deutsche Überzeugungen über internationale Beziehungen in Frage. | [
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"Russlands Angriffskrieg 2022"
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Überlegungen zur Disziplin der Maschinenethik | Künstliche Intelligenz | bpb.de | Mit dem rechtlichen und moralischen Status von Maschinen mit Chips beschäftigt man sich in der Wissenschaft schon seit den 1950er Jahren. Die Science-Fiction-Literatur war noch früher dran. Lange Zeit ging es vor allem darum, ob Roboter Objekte der Moral sind, sogenannte moral patients, ob man ihnen etwa Rechte zugestehen kann. Ich befasse mich seit den 1990er Jahren mit diesem Thema. Ich habe damals keinen Grund gesehen, Robotern Rechte zu geben, und bis heute nicht meinen Standpunkt geändert. Wenn sie eines Tages etwas empfinden oder wenn sie leiden können, oder wenn sie eine Art von Lebenswillen haben, lasse ich mich bestimmt überzeugen. Aber im Moment bemerke ich keine entsprechenden Tendenzen.
Subjekte der Moral
Die Diskussion, ob Roboter Subjekte der Moral sind, das heißt, ob von ihnen moralische Handlungen ausgehen können oder sie bestimmte Pflichten haben, folgte in den 2000er Jahren. Ich tue mir in diesem Zusammenhang schwer mit dem letztgenannten Begriff. Ich habe von "Verpflichtungen" gesprochen, bin mir jedoch nicht sicher, ob das Problem dadurch wirklich gelöst wird. In der Monografie "Moral Machines" (2009) von Wendell Wallach und Colin Allen wurden Roboter in systematischer Weise als moral agents besprochen und Einteilungen und Unterscheidungen der moralischen Subjekte angeboten. In dem zwei Jahre später folgenden Sammelband "Machine Ethics" von Michael Anderson und Susan Leigh Anderson wurde der Diskurs fortgeführt.
Seit den 1980er Jahren spielt für mich die Tierethik (mithin Tierschutz) eine große Rolle. Tiere sind für mich Objekte der Moral, keine Subjekte. Sicherlich haben Schimpansen oder Elefanten vormoralische Qualitäten, und weil wir von Tieren abstammen, eventuell solche sind, dürfte es fließende Übergänge geben. Jedenfalls können Tiere nicht gut oder böse sein, und sie können ebenso wenig unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten aus moralischer Perspektive beurteilen und sich dann beispielsweise für das geringste Übel entscheiden. Wir können "Du böser Hund!" sagen, wenn er uns gebissen hat, aber wir meinen das nicht moralisch, höchstens pädagogisch.
Gute und böse Maschinen
Ebenso wie Tiere halte ich auch Maschinen nicht für gut oder böse, zumindest nicht im Sinne der Philosophin Annemarie Pieper, die einen bösen oder guten Willen voraussetzt (ob Handlungen an sich gut oder böse sind, kann man dennoch diskutieren). Aber offenbar können sie blitzschnell Optionen erfassen und dann nach einer vorgegebenen moralischen Regel entscheiden oder die moralischen Folgen abschätzen und dann auswählen. In diesem Sinne steht ein hochentwickelter Roboter (oder ein hochentwickeltes System der Künstlichen Intelligenz, kurz KI) zwischen Mensch und Tier. Das mag irritieren, und ich weise darauf hin, dass er in einem anderen Sinne ganz woanders steht. Als Objekt der Moral taucht er im Moment gar nicht auf. Man darf ihn behandeln, wie man will, ihn schlagen und zerstören, und wenn das jemand bedauert, ist eben der, der es bedauert, das Objekt der Moral, nicht der Roboter. Ein Spiel über Bande sozusagen, wie bei Teddybären und heiligen Steinen oder Bergen. Diese kommen nur in die Sphäre der Moral, weil sie jemandem gehören oder jemanden interessieren.
Nach dem, was bisher gesagt wurde, sind manche Maschinen neue, fremde, merkwürdige Subjekte der Moral. So habe ich es in den vergangenen Jahren vertreten. Sie sind nicht gut oder böse, zumindest nicht in Bezug auf einen Willen (den sie nicht haben), und sie haben keine Pflichten im engeren Sinne (höchstens "Verpflichtungen", im Sinne von Aufgaben, die man an sie delegiert, und vielleicht nicht einmal die). Wenn sie eine Verantwortung tragen, dann allenfalls, weil ihnen etwas anvertraut oder übereignet wurde. Eine maschinelle Primärverantwortung könnte das sein, die noch genauer zu untersuchen wäre. Bei der Sekundärverantwortung wird es schon schwieriger, denn wie sollten wir die Maschine zur Rechenschaft ziehen? An den Ohren können wir sie nicht ziehen, und selbst wenn sie welche hat, wird es sie nicht stören. Die Tertiärverantwortung wird eventuell ein Thema, wenn sie ins Rechtliche übergeht. Ein Jurist kann alles konstruieren, sogar eine elektronische Person, die man verklagen und belangen kann. Als Ethiker bin ich hier vorsichtig. Maschinelle Moral
Den Begriff der maschinellen Moral verwende ich gerne ähnlich wie den der künstlichen Intelligenz. Beide Male meine ich den Gegenstand der Disziplinen. Die Künstliche Intelligenz hat die maschinelle oder künstliche Intelligenz zum Gegenstand. Sie simuliert menschliche Intelligenz oder strebt danach, diese eines Tages in wesentlichen Funktionen abzubilden. Die Maschinenethik hat die maschinelle Moral zum Gegenstand. Sie simuliert derzeit die menschliche Moral. Allerdings konzentriert sie sich in ihren aktuellen Ausprägungen auf gewisse Grundzüge. Die meisten moralischen Maschinen sind wie menschliche Fundamentalisten. Sie halten sich stur an Regeln, die man ihnen eingetrichtert hat. Einige moralische Maschinen vermögen immerhin die Folgen abzuschätzen, die ihre Handlungen nach sich ziehen würden, und unterschiedliche Entscheidungen treffen, die ihnen wiederum beigebracht wurden. Selbstlernende Maschinen könnten indes mehr.
Bisher scheint also festzustehen, dass Maschinen neuartige Subjekte der Moral sein können. Sie können unterschiedliche Optionen beurteilen und dann Entscheidungen treffen, die moralisch adäquat zu sein scheinen. Die moralischen Fähigkeiten werden ihnen von Menschen beigebracht. Dieser Transferprozess bleibt freilich nicht ohne Folgen. Wir haben es in der Regel mit teilautonomen und autonomen Maschinen zu tun, die alleingelassen sind, die nicht von uns beaufsichtigt werden, die in Situationen geraten, die wir vielleicht vorausgesehen haben, aber doch ein wenig anders sind. Es ergeben sich erste Unschärfen: Moral und Anwendungsfall der Moral passen nicht immer zueinander.
Die Disziplin der Maschinenethik
Die Disziplin, die sich mit Maschinen als Subjekten der Moral beschäftigt, die die maschinelle Moral untersucht und hervorbringt, ist die Maschinenethik. Sie ist ein Pendant zur Menschenethik, die sich mit Menschen als Subjekten der Moral beschäftigt. Oder auch nur ein Ausnahmefall der angewandten Ethik. Sie scheint aber nicht ganz zu den klassischen Bereichsethiken zu passen, zu Informations-, Technik- oder Wirtschaftsethik. Etwas ist anders, eben die Antwort auf die Frage nach dem Subjekt der Moral. Die Ethik ist für mich, wie gerade deutlich wurde, die Disziplin, die Moral der Gegenstand. Ein Student von mir hat es so ausgedrückt: Ethik treibt man, Moral hat man. Anders als die klassischen Bereichsethiken denkt die Maschinenethik nicht nur über Subjekte der Moral nach, sondern schafft sie im besten Falle auch. Sie bringt, zusammen mit Künstlicher Intelligenz und Robotik, moralische und manchmal unmoralische Maschinen hervor.
Selbstverständlich darf man ganz anders sprechen, darf man Ethik und Moral in eins setzen, wie es im Englischen oft gemacht wird, darf man die Ethik oder die Moral weiter fassen. Wichtig ist mir, dass deutlich wird, was ich meine. Der Rest ist Übersetzungsarbeit. Die Ethik ist also die Disziplin (eine Disziplin der Philosophie), gerne auch eine Theorie oder eine Lehre. Als Moralphilosophie westlicher Prägung ist sie für mich, Annemarie Pieper folgend, Wissenschaft. Was wir in der Ethik, genauer: in der normativen Ethik, auch finden, sind Modelle wie die Pflicht- oder Pflichtenethik und die Folgenethik. Was wir der Maschine einpflanzen, ist eine maschinelle Moral, eine Moral, die in ihr, der Maschine, funktioniert. Diese Moral können wir einbetten in ein Modell der normativen Ethik. Artefakte der Maschinenethik
Wer sich heute als Moralphilosoph der Maschinenethik verschließt, verkennt deren historische Bedeutung. Zum ersten Mal bauen wir in der Ethik etwas, bringen Artefakte hervor, treiben nicht nur Gedankenexperimente, sondern "Tatsachenexperimente". Natürlich ist die Frage, ob man jede moralische oder unmoralische Maschine umzusetzen hat. In einem Labor sollte man vielleicht die Atombombe der Maschinenethik bauen, dann aber dort lassen. Vielleicht wäre es zu gewagt, sie zu bauen, weil man sie kaum unter Verschluss halten kann. Aber man sollte der Maschinenethik, wie der Physik, möglichst wenig verbieten. Auch solche Erkenntnisse, die problematisch zu sein scheinen, können sich als nützlich erweisen.
Ich entwickle unter anderem spezielle Chatbots, also Vertreter der Softwareroboter. Zuletzt haben wir einen Hardwareroboter auf die Welt gebracht. Er zeigt den Fokus meiner Forschung: Ich will im Kontext von Maschinenethik und Tierethik (und Tierschutz) tierfreundliche Maschinen erfinden. Saugroboter, Mähmaschinen, Windkraftanlagen, selbstständig fahrende Autos – es existieren zahlreiche Maschinen, die man "moralisieren" kann. Nicht mit allen sollte man das tun, und bei selbstständig fahrenden Autos bin ich sehr skeptisch, was ihre Entscheidungen und Handlungen uns gegenüber anbelangt, vor allem dann, wenn menschliche Unfallopfer auszuwählen sind.
2018 wollen wir unser viertes Artefakt der Maschinenethik bauen. Nach dem GOODBOT und dem LIEBOT aka LÜGENBOT, zwei Chatbots, nach dem LADYBIRD, einem tierfreundlichen Staubsaugerroboter (der seine Arbeit einstellt, sobald er Marienkäfer erkennt), wird hoffentlich der BESTBOT geboren. Unsere Maschinen halten sich entweder an vorgegebene Regeln, die sie unmittelbar umsetzen, oder versuchen die Folgen abzuschätzen (um dann wieder vorgegebene Regeln anzuwenden). Hier sind Pflicht- und Folgenethik gefragt. Danach würde ich gerne selbstlernende moralische Maschinen bauen. Diese wären in der Lage, eine eigene, genuin maschinelle Moral zu entwickeln. Das könnte ausgesprochen gefährlich sein, für Körper und Geist, und es ist nicht mein Bestreben, alle unsere Prototypen zum Vorbild von Produkten zu erklären. Es interessiert mich, was möglich ist, die neue Unschärfe, die entsteht, die maschinelle Moral, die nicht auf die menschliche passt. Unser LIEBOT war zwar nicht lernfähig, aber stark vernetzt, und er hatte genuin maschinelle Strategien des Lügens, wenn er Suchmaschinen und Klassifikationen benutzte, um die Wahrheit herauszufinden, und diese dann nach allen Regeln der Kunst verdrehte. Mich interessiert also auch die Maschine, die sich anders als der Mensch verhält. Der GOODBOT war lernfähig, dies am Rande, ohne seine Moral weiterzuentwickeln. Vielmehr hat er den Benutzer bewertet und eingeordnet und sein Verhalten angepasst, innerhalb eines vorgegebenen Rahmens.
Damit wären wir bei der Frage, was die Maschine kann und soll. Die immer wieder auftauchende Frage, ob man Maschinenethik treiben soll, halte ich für müßig. Soll man Teilchenphysik treiben oder Mikrobiologie? Wenn man damit eine Disziplin so ergänzt oder unterteilt, dass man gezielter forschen kann, und wenn man neue wissenschaftliche Erkenntnisse hervorzubringen vermag, durchaus. Automatisiertes Fahren
Es ist schade, dass man Maschinenethik vor allem mit theoretischen Dilemmata in Verbindung bringt, mit philosophischen Gedankenexperimenten, die ungemein wichtig und interessant sind, aber nicht immer zum entscheidenden Schritt führen. Auch praktische Dilemmata sind einzubeziehen, die tatsächlichen Situationen, in die eine Maschine kommt. Wenn man sagt, dass theoretischen Dilemmata der Realitätsbezug fehlt, hat man nicht verstanden, was Gedankenexperimente sind. Das Trolley-Problem ist nicht dafür da, dass es in der Wirklichkeit auftritt. In der Wirklichkeit sind selten fünf Personen auf einem Gleis, die man durch eine Weichenstellung retten kann, wobei man aber einen Unbeteiligten auf einem anderen Gleis opfern muss. Das Gedankenexperiment ist dafür da, unsere moralische Haltung offenzulegen und Modelle der normativen Ethik zu veranschaulichen. Es kann unterschiedliche Ansätze aufzeigen, an eine Sache heranzugehen.
Da wäre zum Beispiel das Qualifizieren und Quantifizieren. Ich habe mir 2012 auf der Grundlage des Trolley-Problems das etwas komplexere Roboterauto-Problem ausgedacht (auf dem Weg und der Straße befinden sich zwei voneinander unabhängige Erwachsene und drei Kinder) und dieses Anfang 2013 auf einer Konferenz zur Technologiefolgenabschätzung in Prag vorgestellt. Einer meiner Studenten hatte für das autonome Auto des Gedankenexperiments (NAC, New Autonomous Car) eine Formel entwickelt, die qualifizieren und quantifizieren konnte. Es konnte also Menschen anhand ihres Geschlechts, Alters, Aussehens und so weiter beurteilen, sie in diesem Sinne klassifizieren, und sie durchzählen, also beispielsweise potenzielle Unfallopfer berechnen und gegeneinander aufrechnen. Wir haben damals theoretisch festgestellt, dass beide Verfahren problematisch sind. Wenn man qualifiziert, diskriminiert man meist, und wenn man quantifiziert, muss man die Frage beantworten, warum drei Menschen unbedingt mehr wert sein sollen als zwei.
Nun kann man dies praktisch anwenden, man kann im automatisierten Fahren praktische Dilemmata und Gefahrensituationen aller Art voraussehen und die beiden Ansätze implementieren. Damit gelangt man von der Theorie in die Praxis, und da faktisch alle möglichen Gefahrensituationen auftreten, in denen man abwägen und urteilen muss, kann man hier nicht mehr sagen, dass nichts geschehen wird. Natürlich wird etwas geschehen und eine bestimmte Entscheidung getroffen werden müssen. Es ist sogar so: Ein autonomes Auto kann sich, frei nach Paul Watzlawick, nicht nicht entscheiden (der berühmte Kommunikationswissenschaftler hat vom Kommunizieren gesprochen). Selbst wenn es in einer Unfallsituation unbeirrt geradeaus fährt, ist das eben eine Entscheidung, die der Entwickler oder Programmierer der Maschine mitgegeben hat. Einige lehnen es ab, bei Maschinen von Entscheidungen zu sprechen. Es wird freilich schwierig bei einer solch extremen Position, überhaupt über sie zu sprechen. Gibt es Roboter, die Fußball spielen? In einem gewissen Sinne nicht.
Die Lösung des praktischen Problems lautet für mich: Man sollte beim hoch- und vollautomatisierten beziehungsweise beim autonomen Fahren vorsichtig sein mit moralischen Regeln, die man dem Auto beibringt. Man sollte zudem vorsichtig sein mit moralischen Fähigkeiten, zu denen das Auto selbst gelangt. Es existieren viele interessante Ansätze, die Maschine dazulernen zu lassen. Man kann sie aufziehen wie ein Kind, ihr in den ersten Monaten einen Fahrlehrer aufzwingen, sie nur in solche Gegenden und Situationen schicken, wo sie sich vorbildliches Verhalten abschaut. Ob das alles zum gewünschten Ziel führt, zu einem tier- und menschenfreundlichen Verhalten, ist die Frage. Ich denke, in den nächsten 20 Jahren ist man gut beraten, wenn man das selbstständig fahrende Auto auf die Autobahnen schickt und ansonsten uns steuern lässt. Sowohl die Stadt als auch die Landstraßen sind hochkomplexe Umgebungen. Ich finde autonome Autos als Maschinenethiker, wie vermutlich klar wurde, vor allem mit Blick auf Tiere interessant. Pflegeroboter, zivile und militärische Roboter
Die Maschinenethik beschäftigt sich also vor allem mit (teil-)autonomen Systemen. Dazu gehören auch Pflege- und Therapieroboter oder zivile und militärische Drohnen. Aber selbst 3D-Drucker könnte man moralisieren. Man könnte ihnen beibringen, keine Waffen auszudrucken. Sie müssten wissen, was eine Waffe ist, die Objekte, Vorlagen und Dateien beurteilen und sich dann entsprechend entscheiden können. Bei Pflegerobotern ist zum Beispiel von Bedeutung, ob sie den Patienten töten können sollen, also Sterbehilfe leisten können. Die meisten Krankenhäuser und Pflegeheime dürften dies ablehnen. Der Maschinenethiker interessiert sich weniger für die Frage an sich, denn er ist kein Medizin- und kein Sterbeethiker. Er interessiert sich vielmehr dafür, wie er die Fähigkeit, einen Befehl aus moralischen Gründen zu verweigern, konzipieren und implementieren kann. Denn darum könnte es gehen: Der Pflegeroboter weiß, wie man jemanden erwürgt, und er entscheidet sich, das nie zu tun, selbst wenn man ihn inständig darum bittet. Wer das für Science-Fiction hält, sollte sich unterschiedliche Typen von Pflegerobotern anschauen. Solche, die etwas transportieren, solche, die uns informieren, und solche, die Hand an uns legen. Manche sehen aus wie ein Mensch oder ein Tier, andere wie Kooperations- und Kollaborationsroboter aus der Industrie. Diese haben meist einen Arm, mehrere Achsen und zwei bis drei Finger. Man kann sie trainieren, indem man ihren Arm und ihre Finger bewegt oder ihnen einfach etwas vormacht, während sie mit ihren Sensoren und Systemen alles verfolgen und verarbeiten. Im Prinzip kann man ihnen beibringen, uns zu erwürgen, wobei es nicht ohne Grund bestimmte technische Normen gibt, um dies zu verhindern. Eine Aufgabe der Maschinenethik wäre es eben, den Roboter mit einer Form der Befehlsverweigerung vertraut zu machen, die moralisch begründet wäre.
Der militärische Einsatz wurde erwähnt. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen erhalten Geld von Verteidigungsministerien. Ein großer Teil fließt in die Entwicklung autonomer Kampfsysteme, in Robotik und Informatik, ein kleiner – wie im Falle des Pentagon – in das künstliche Gewissen, das diese haben sollen, oder in ihre Fähigkeit, den Gegner zu täuschen, zu betrügen und zu verwirren, also in die Maschinenethik. Man kann den Kampfroboter grundsätzlich für unmoralisch halten. Dennoch kann er etwas tun, was man moralisch nennen könnte, etwa mithilfe seines künstlichen Gewissens einen Kollateralschaden vermeiden. Hier zeigt sich, dass der Unterschied zwischen moralischen und unmoralischen Maschinen nicht einfach zu bestimmen ist. Diese Frage muss im Rahmen der Maschinenethik noch intensiver diskutiert werden.
Zusammenfassung und Ausblick
Maschinenethik ist eine junge Disziplin, die man in der Philosophie ansiedeln kann, die aber Partnerinnen wie die Künstliche Intelligenz und Robotik braucht, vor allem dann, wenn sie erfolgreich Artefakte herstellen und erforschen will, Simulationen und Prototypen, die die Möglichkeit moralischer und unmoralischer Maschinen zeigen. Von solchen darf die Maschinenethik sprechen, so wie die Disziplin der Künstlichen Intelligenz davon sprechen darf, dass sie künstliche Intelligenz hervorbringt. Welche Maschinen man genau moralisieren soll, muss diskutiert und eruiert werden.
Es ist unproblematisch, ja hilfreich, tierfreundliche Staubsaugerroboter zu bauen, die die Moral ihrer Besitzer auch in deren Abwesenheit umsetzen. Sie bewegen sich in geschlossenen oder halboffenen Welten und treffen einfache Entscheidungen. Beim automatisierten Fahren sieht es schon anders aus, und ich bin dagegen, dass Autos potenzielle menschliche Unfallopfer durchzählen oder sie bewerten und dann ihre Urteile fällen. Tierische Verkehrsteilnehmer darf man auf diese Weise behandeln, und es wäre wünschenswert, die Zahl der Getöteten dadurch zu reduzieren. Man könnte sagen, dass auch in offenen Welten überschaubare Situationen entstehen können (hier solche, die sich auf Tiere beziehen), in denen einfache Entscheidungen möglich sind.
Vor der Maschinenethik liegt also ein weites Feld, und sie kann unterschiedliche Richtungen einschlagen. Es ist weniger wichtig, dass sie moralische Regeln begründet. Viel wichtiger ist, dass sie moralisch begründete Regeln in einer befriedigenden Weise implementiert. Dabei kann sie sowohl moralische als auch unmoralische Maschinen erschaffen. Die Ethik erforscht, was gut und böse ist, sie ist nicht gut oder böse. Natürlich darf jeder dazu beitragen, dass die Welt ein bisschen besser wird. Und genau deshalb bin ich persönlich an bestimmten moralischen Maschinen besonders interessiert.
Vgl. Wendell Wallach/Colin Allen, Moral Machines: Teaching Robots Right from Wrong, New York 2009.
Vgl. Michael Anderson/Susan Leigh Anderson (Hrsg.), Machine Ethics, Cambridge 2011.
Vgl. Ursula Wolf, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Frankfurt/M. 2012.
Vgl. Annemarie Pieper, Einführung in die Ethik, Tübingen–Basel 2007.
Vgl. Oliver Bendel, Wirtschaftliche und technische Implikationen der Maschinenethik, in: Die Betriebswirtschaft 4/2014, S. 237–248.
Vgl. Oliver Bendel, Maschinenethik, in: Gabler Wirtschaftslexikon, 2012, Externer Link: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/maschinenethik.html.
Vgl. Luís Moniz Pereira/Ari Saptawijaya, Programming Machine Ethics, Cham 2016.
Vgl. Oliver Bendel, Towards Machine Ethics, in: Tomáš Michalek/Lenka Hebáková/Leonhard Hennen et al. (Hrsg.), Technology Assessment and Policy Areas of Great Transitions, 1st PACITA Project Conference, March 13–15, 2013, Prague 2014, S. 321–326.
| Article | , Oliver Bendel | 2022-02-17T00:00:00 | 2018-01-29T00:00:00 | 2022-02-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/263686/ueberlegungen-zur-disziplin-der-maschinenethik/ | Anders als die klassischen Bereichsethiken, die Reflexionsdisziplinen sind, ist die Maschi-nenethik eine Gestaltungsdisziplin und bringt zusammen mit Künstlicher Intelligenz und Robotik moralische und unmoralische Maschinen hervor. | [
"künstliche Intelligenz",
"Roboter",
"Digitalisierung",
"APuZ 6-8/2018",
"APuZ"
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Intersektionale politische Bildung | Politische Bildung | bpb.de | Eine intersektional angelegte politische Bildung schafft (…) Zugangsmöglichkeiten und Reflexionsräume, die plurale Wege kollektiver Geschichten entstehen lassen. So können gesellschaftliche Narrative kontinuierlich divers gestaltet werden.
Politische Bildung ist im besten Falle in der Lage, Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Das bedeutet, sie sollte dazu beitragen, Personen in ihrer politischen Selbstbildung zu unterstützen, politische Systeme zu erklären und Menschen in die Lage versetzen, politische Spannungen, Herausforderungen und Gewichtungen zu erkennen. Politische Bildung sollte dabei informativ und engagiert sein, um auch den Streitwert zu vermitteln, um den es geht. Das bedeutet, politische Bildung ist involviert und betrachtet nicht nur einen abstrakten Gegenstand. Wenn politische Bildung intersektional – also unter Berücksichtigung sich überschneidender Diskriminierungskategorien – gedacht wird, stehen zudem folgende Fragen im Zentrum: Wie steht es um Beteiligung und Diversität in der Themensetzung von politischer Bildung? Wie können strukturelle Problemlagen der Demokratie verdeutlicht werden? Und wie sind insgesamt mehr politische Teilhabe und Repräsentation von marginalisierten Menschen in der politischen Bildung zu erreichen?
Wenn wir im Folgenden von "intersektionaler politischer Bildung" sprechen, müssen wir vorwegnehmen, dass es so etwas in institutionalisierter Form (noch) nicht gibt; dass aber gleichzeitig viele intersektionale Ansätze für die politische Bildung erprobt, gedacht und ermöglicht werden. Häufig handelt es sich um das Engagement von marginalisierten Menschen, das diese Zugänge und Auseinandersetzungsmöglichkeiten schafft; meist liegen dahinter politische Verhandlungen und Kämpfe, um diese Art der politischen Bildung überhaupt erst zu ermöglichen.
Wenn wir uns der Idee von intersektionaler politischer Bildung annähern und fragen, wie sie in unterschiedlichen Zusammenhängen gefasst wird, so bedarf es zunächst einer grundsätzlichen Verständigung darüber, was mit Intersektionalität gemeint ist: Zum einen geht es darum, wer oder was dazugehört und welche grundlegenden Perspektiven Berücksichtigung finden müssen. Zum anderen geht es aber auch darum, herauszustellen, welche Arten von Diskriminierungen zu berücksichtigen sind und wo sich analytisch Ausschlüsse ergeben. In der intersektionalen politischen Bildung ist zudem zu bedenken, dass neben der politischen Bildung häufig auch Beratung oder politische Vertretung in das Aufgabengebiet einfließt, wie es derzeit einige Organisationen schon anbieten. Zu nennen sind hier beispielsweise das Kompetenzzentrum Prävention und Empowerment, das Center for Intersectional Justice, Les Migras, Eoto oder auch die Anne-Frank-Bildungsstätte und einige andere mehr. All diese Institutionen sprechen Menschen an, die mehrfach marginalisiert sind und eine politische Bildung der Teilhabe und Sichtbarmachung dieser Marginalisierungen verdeutlichen.
Das Feld der intersektionalen politischen Bildung ist offen, dynamisch und mehrdeutig. In diesem Beitrag wollen wir uns deshalb damit beschäftigen, was verschiedene intersektionale Zugänge für die politische Bildung bedeuten. Wir beginnen mit einer Begriffsrekonstruktion und werden anschließend die Relevanz von Ungleichheiten und ungleichen Zugängen zu Bildung und politischer Bildung verdeutlichen. Darauf aufbauend wollen wir diskutieren, welche spezifischen Herausforderungen dies mit sich bringt und zum Schluss festhalten, warum intersektionale politische Bildung verschiedene Ebenen adressieren muss.
Was ist Intersektionalität?
Der Begriff "Intersektionalität" ist in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum angekommen, zunächst hauptsächlich im Bereich der Geschlechterforschung. Innerhalb dieses Forschungsfeldes galt der intersektionale Zugang als Kritik an einer rein weißen und bürgerlichen Perspektive auf Geschlecht und eben auch als Kritik an einem Zugang zu Geschlechterforschung, die eine hierarchische kategoriale Trennung von race, class und gender nutzte. Wichtig für diese frühen deutschsprachigen Auseinandersetzungen um Intersektionalität ist, dass darin zwei unterschiedliche Debattenstränge, deutschsprachige und englischsprachige, aufeinandertrafen, die im Nachhinein als dieselben erscheinen. Tatsächlich sind sie das aber nicht, und an der Kategorie race beziehungsweise "Rasse" zeigt sich das sehr deutlich.
Frühe Debatten in der Bundesrepublik
Besonders in den 1980er Jahren wurde in Deutschland umfänglich über Differenz innerhalb feministischer Kontexte debattiert. Gestritten wurde über die Position, Sichtbarkeit und Anerkennung von Frauen*, die aufgrund verschiedener Merkmale ihre jeweiligen Lebenslagen innerhalb mehrheitsweißer feministischer Debatten und Organisationen diskursiv und praktisch negiert sahen.
Der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem diese Perspektiven formuliert wurden, war eine bundesdeutsche Gesellschaft, die Migration als Realität leugnete, obgleich diese Gesellschaft und ihr Wohlstand erst durch die massenhafte Anwerbung und Ausbeutung sogenannter Gastarbeiter hatten entstehen können. Insbesondere vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit mit Shoah, Porajmos, Kranken- und Behindertenmorden, Einweisungen und Zwangssterilisierungen konstituierte sich daraus die post-nationalsozialistische Realität der Bundesrepublik: Es wiederholte sich die Dethematisierung von Gewaltgeschichte als antisemitische und rassistische Realität, die auch in der Gegenwart gewaltvoll blieb. Hinzu kam die Negierung der Geschichte des deutschen Kolonialismus und des Genozids im heutigen Namibia.
Die Bundesrepublik ließ sich daher schon in den 1980er Jahren in dreifacher Hinsicht als "post" verstehen: postkolonial, postnationalsozialistisch und postmigrantisch. Die Vorsilbe "post" meint auch in diesem Kontext nicht einfach ein zeitliches danach, sondern markiert die dreifache Wiederholung sowohl einer bestimmten Struktur (Rassenherrschaft oder rassistische Herrschaft) als auch deren erfolgreiche Neutralisierung und Überdeckung im Nachhinein. Seit 1989 ist die Bundesrepublik außerdem postsozialistisch, was eine Herrschaftsform mit eigener Gewaltgeschichte markiert, die aber insofern anders gelagert ist, als die Kategorie der "Rasse" nicht in demselben Ausmaß (wenn auch in derselben globalen Logik) Strukturkategorie sozialistischer Herrschaft war.
Die Debatten der 1980er Jahre griffen also den historisch spezifischen Hintergrund auf und markierten genau diejenigen Positionen, die im offiziellen Narrativ der Bundesrepublik verunsichtbart wurden. Der gesellschaftliche Ort, an denen die Debatten auch theoretisiert wurden, war innerhalb feministischer Kontexte. Dort war es möglich, marginalisierte Perspektiven einzubringen – auch wenn die Auseinandersetzungen, die an weißen bürgerlichen Verständnissen von Feminismus orientiert waren, die Thematisierung von Antisemitismus und Rassismus erschwerten. Die marginalisierten Feminismen verdeutlichten die Notwendigkeit, die Verwobenheit von Ungleichheitsverhältnissen analytisch nachzuvollziehen, um ihnen politisch begegnen zu können. Damit gerieten mehrheitsweiße Feminist*innen in den mehrheitsweißen Frauen*- und Lesbenbewegungen sehr konkret in die Kritik, rassistische und antisemitische Verhältnisse nicht nur nicht zu kritisieren, sondern sie im Gegenteil zu stabilisieren.
Begriffsprägung und Black Feminist Thought in den USA
Auch beim Blick in die USA der 1980er Jahre zeigt sich, dass feministische Debatten in dieser Zeit besonders stark von diversen Positionen aus geführt wurden, was die zeitgenössischen und historischen Bedingungen der US-Gesellschaft widerspiegelte. Zentrale Marker waren und sind hier die koloniale Siedlungsgeschichte und Versklavung sowie ihre verschiedenen langfristigen Effekte. Die Soziologin Patricia Hill Collins entwarf 1990 dafür das Konzept der "Matrix of Domination".
Als die Juristin Kimberlé Crenshaw ein Jahr zuvor den Begriff intersectionality prägte, tat sie das mithilfe der reichen Theoriegeschichte von Black Feminist Thought. Die analytische Verknüpfung der Kategorien race, class und gender unterscheidet die Herangehensweise in Black Feminist Thought grundlegend von mehrheitsweißen Feminismen. Die eher strukturtheoretischen und marxistisch argumentierenden Konzepte von "Triple Oppression" und "Double Jeopardy" formulieren ihre Analysen aus der Situation heraus, die aufgrund der Dynamik zwischen race, class und gender entstand. Die Kollektivist*innen des Combahee River Collectiv formulierten in ihrem Statement von 1977 die Notwendigkeit, Ausbeutung in diesem Sinne zu verstehen und deshalb politische Praxis immer auch als antikapitalistisch und staatskritisch aufzufassen. Hill Collins markierte dieses auf Interdependenz fokussierende Theoretisieren als Black Feminist Standpoint. Obwohl es Unterschiede in den Zugängen gab, war den Ansätzen gemeinsam, dass race als strukturierende Größe konzeptionell eine große Rolle spielte.
Eine Verengung auf Black Feminist Thought würde hier allerdings zu kurz greifen. Die 1980er Jahre waren auch im angloamerikanischen Raum stark von der Theoriebildung verschiedener marginalisierter Feminismen geprägt, die in einem engen thematischen Austausch standen und insofern bereits vor der kanonischen Begriffsprägung 1989 als Realisierung des intersektionalen Projekts angesehen werden können.
Race, "Rasse" und Weißsein
Ein Kernthema in der komplexen Begriffsgeschichte von Intersektionalität ist die Kategorie race oder "Rasse". Schon bei der Wahl von entweder race als sprachliche Bezugsgröße oder aber "Rasse" werden durchaus miteinander verbundene, aber distinkte historische Bedingungen aufgerufen. Mit der Etablierung des Begriffs "Intersektionalität" für unterschiedliche marginalisierte Feminismen hat die Kategorie race einen unhintergehbaren und deshalb konflikthaften Eingang in deutschsprachige Auseinandersetzungen gefunden. Im Unterschied zu angloamerikanischen Debatten ist im deutschsprachigen Raum vor dem Hintergrund insbesondere der Shoah kein nicht-rassistischer Bezug auf "Rasse" möglich. Race als soziale Situation oder Rassismus und Antisemitismus als Macht- und Herrschaftsinstrumente konnten zwar benannt werden, sie konnten jedoch nicht konzeptuell integriert und schon gar nicht in die Forschungslandschaft aufgenommen werden.
So kritisieren viele Feministinnen und Geschlechterforscher*innen of Color denn auch, dass die Kategorie entleert und in intersektionalen Arbeiten in Deutschland nicht aufgegriffen werde. Angesichts der Häufigkeit intersektionaler Ansätze in den Gender Studies war und ist die Befürchtung, dass Geschlecht als dominante Kategorie Eingang findet und race nicht konzeptuell verknüpft oder gänzlich als nur eine der vielen weiteren Kategorien erscheint. Diese Situation prägt Debatten zu und um Intersektionalität im deutschsprachigen Raum noch immer, was bedeutet, dass intersektionale Ansätze hierzulande gänzlich ohne Bezug zu Critical Race Theory und/oder Macht- und Herrschaftsanalysen auskommen können.
Wie verstehen wir Intersektionalität?
Es gibt aber mittlerweile – speziell außerhalb Europas – weitere Verständnisse von Intersektionalität. Anders als Crenshaw, die Intersektionalität vor dem Hintergrund einer gewachsenen Rechtsphilosophie und -praxis versteht und damit auf andere gewachsene Wissenssysteme hinweist, sehen Patricia Hill Collins und Selma Bilge Intersektionalität als gesellschaftliches Strukturproblem. Einen veränderten geografischen, soziohistorischen und epistemischen Ansatz in Bezug auf Geschlecht bringt die Philosophin María Lugones mit dem Konzept der "Kolonialität von Geschlecht" ein. Sie knüpft an Intersektionalitätsforschungen an, fokussiert aber die historischen und langfristigen Strukturen von Kolonialismus und Kolonialität in Bezug auf die Kategorie Geschlecht. Die ugandische Rechtswissenschaftlerin und Aktivistin Sylvia Tamale verändert die Perspektive intersektionaler und dekolonialer Theoriebildung, indem sie Afro-Feminismus und Ubuntu als epistemologische Reflexion heranzieht. Sie folgt darin der dekolonialen Tradition der Überschreitung, sowohl von geografischen (kolonialen) Grenzen als auch von konzeptionellen und der intersektionalen Tradition des Sichtbarmachens und der Rekonstruktion.
Im Anschluss an diese Theoretiker*innen verstehen wir eine intersektionale Perspektive als Analyseinstrument gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch Kolonialismus und Versklavung hervorgebracht wurden. Insbesondere race und class sind hier über Ausbeutung eng verwoben und weisen noch immer auf Migrations- und Lohnarbeitsverhältnisse hin. Geschlecht als Zweigeschlechtlichkeit wurde in dieser kolonialen Matrix hervorgebracht und stabilisiert kapitalistische Verhältnisse. Die Verhältnisse korrespondieren mit den Subjekten und bringen sie spezifisch hervor. Intersektionale Analysen müssen deswegen neben den individuellen Zurichtungen besonders die strukturellen Bedingungen sehen und hier die rassifizierenden und vergeschlechtlichenden Strukturen eines globalen Marktkapitalismus im Blick haben. Mit diesen Perspektiven im Hintergrund wenden wir uns nun der politischen Bildung zu.
Race, class und gender in Bildungsprozessen
Race, class und gender haben nicht nur große Bedeutung für die Strukturierung von Gesellschaft – das gleiche Gewicht kommt ihnen auch in der politischen Bildung zu. Hierbei lassen sich vier Problemkonstellationen identifizieren: Das ist erstens der Zugang zu politischer Bildung, zweitens die Art, wie Menschen von dieser Bildung angesprochen und als Subjekte ernst genommen werden, drittens die Themensetzung und viertens die personelle Besetzung in der politischen Bildung.
Zugang zu politischer Bildung
Der Zugang zu politischer Bildung wird – einer Studie folgend – als ungleich und hochschwellig beschrieben; er reproduziere soziale Ungleichheit. Besonders institutionalisierte politische Bildung, wie sie beispielsweise in der Kinder- und Jugendarbeit, aber auch in der Erwachsenenbildung betrieben und verstanden wird, ist von der Machart, der institutionellen Anbindung und auch von der Sprache her häufig ausschließend. Alle drei Kategorien – race, class und gender – können hier als ausschließende Faktoren betrachtet werden, und wenn sie sich kreuzen und eine Mehrfachbetroffenheit in Betracht gezogen werden kann, noch viel mehr. Nicht nur fehlen in bestimmten "Klassenverhältnissen" Ressourcen, um an politischer Bildung teilzunehmen, häufig können Menschen nicht mal freiwillige Angebote nutzen, weil sie damit beschäftigt sind, prekäre Situationen zu meistern und zu überleben. Intersektionale Machtverhältnisse gestalten also die Möglichkeit, an politischer Bildung teilzuhaben und mithin verändernd auf die eigenen Lebensbedingungen einzuwirken.
Intersektionale Subjekte
Bildungsprozesse und auch jene in der politischen Bildung können als Transformation von Selbst, Welt und anderen Verhältnissen nur stattfinden, wenn Personen sich angesprochen fühlen, wenn sie ihr Selbstverständnis mit den Themen verknüpfen können. Das bedeutet, dass insbesondere Bildungsprozesse eine hohe Eigenmotivation und Identifikation benötigen, um als solche eine Wirkung zu entfalten. Bildung ist, bildungstheoretisch verstanden, eine Veränderung – meist der eigenen Person – in ihrem Bezug zu ihrer Umwelt und zu anderen Menschen. Politische Bildung hat diesen Anspruch der Transformation; insbesondere kritische politische Bildung versteht sich selbst als Kraft, die involviert und involvierte Subjekte anspricht. Gerade wenn Menschen aber – aufgrund ihrer Rassifizierung – immer als "die Anderen" und "die Fremden" angesprochen werden, lässt sich schlecht von einer Identifizierung mit Themen sprechen. Sie erscheinen dann als Randfiguren dieser politischen Bildung – angesprochen, aber doch nicht richtig gemeint.
Intersektionale Themensetzungen
Die Frage der Subjekte korrespondiert mit Fragen der Themensetzung. Themen sind immer Zugangsmöglichkeiten, oder sie verweigern einen Zugang; sie sind eine spezifische Anerkennung von Lebens- und Seinsmöglichkeiten. Gerade, wenn politische Bildung sich der Setzung intersektionaler Themen verweigert, verweigert sie implizit auch die Anerkennung dieser politischen Auseinandersetzungen und die Relevanz für Menschen, die davon betroffen sind. Fragestellungen und Themensetzungen, die der Mainstream als relevant betrachtet, werden von Menschen, die von intersektionalen Machtverhältnissen betroffen sind, teilweise anders wahrgenommen. Festmachen lässt sich das am Thema Rassismus: Wo die Mehrheitsgesellschaft über rassistische Strukturen und Alltäglichkeiten aufgeklärt werden muss, geht es Menschen, die von Rassismus betroffen sind, häufig so, dass sie um diese Strukturen wissen, sie manchmal nur nicht benennen können. Der Ausgangspunkt ist dann unterschiedlich: Wo die einen Aufklärung und eine Art Verlernen brauchen, benötigen die anderen eine Auseinandersetzung, die es ihnen ermöglicht, eine Politik der Anerkennung und Veränderung anzustoßen. Sie leben mit und in diesen Entmenschlichungen und benötigen daher dezidiert andere Strategien.
Personelle Besetzung
Last but not least führt die personelle Besetzung dazu, dass spezifische Themen und Zugänge ermöglicht werden und dass Menschen sich angesprochen fühlen. Aber auch hier verengen sich Möglichkeiten, Ansprachen und Wünsche, welche Menschen politische Bildung mitgestalten und wie diese vermittelt werden. In einem klassischen Verständnis von politischer Bildung geschieht dies noch immer über Seminare und Face-to-face-Interaktionen. Dabei wäre hier eine Öffnung hin zu niedrigschwelligen, divers besetzten multimedialen Formaten möglich und manchmal anzuraten. Sie ermöglichen einerseits einen leichteren Zugang und helfen anderseits bei einer diverseren Personalbesetzung, so der Wille dazu gegeben ist.
Herausforderungen
Ein nach wie vor prägendes Problem für Intersektionalitätsdebatten im deutschsprachigen Raum generell ist die bereits angesprochene Kategorie race. So beruht die Existenz der USA auf dem "erfolgreichen" kolonialen Siedlungsprojekt, der Versklavung Schwarzer Menschen und einer rassifizierten Einwanderungspolitik, die jeweils eigenen kapitalistischen Ausbeutungen folgte. Diese unterschiedlichen Formen der rassistischen Logiken haben Eingang in nationale Selbsterzählungen der weißen Selbsterschaffung und des Wiederaufbaus nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg gefunden. Damit ist race in Kombination mit class wesentlich in die Geschichte der USA eingeschrieben. Die kritische Betrachtung von Rassifizierung als sozialer Tatsache – entgegen biologischer Zuweisungen – wird von den betroffenen Gruppen immer wieder eingebracht. Sie treten damit gegen den Versuch an, Weißsein als universellen Ausgangspunkt des Erschaffungsmythos hervorzubringen und es als biologische Tatsache zu verstehen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, die Konstruktion in den Vordergrund zu rücken und race als analytischen Begriff zu prägen.
Dem entgegen gründet die Bundesrepublik nach den nationalsozialistischen Verbrechen auf der Fiktion eines Neuanfangs, der "Stunde Null". Ihre politische Legitimität speist sich also gerade aus der umfänglichen Abgrenzung zur jüngsten Vergangenheit. Allerdings war die Abgrenzung eben nur das und kein radikaler Bruch, wie die persönlichen, politischen und gesetzlichen Kontinuitäten zeigen. "Rasse" und Rassismus in ihrer Kombination mit Klasse wurden diskursiv in eine inkriminierte, nunmehr überwundene Vergangenheit verschoben, verbunden mit dem offiziellen Bekenntnis zum umfänglichen Diskriminierungsverbot in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes. Anstelle einer wirklichen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen von Rassismus und Antisemitismus trat und tritt das Bekenntnis gegen Antisemitismus und Rassismus.
Mit dieser besonderen diskursiven Verkehrung tritt folgendes Paradox auf: Das Bekenntnis gegen Antisemitismus und Rassismus verhindert die Thematisierung von Antisemitismus und Rassismus auch in Zusammenhang mit Klassenverhältnissen. In der Folge können Rassismus und Antisemitismus weiter gedeihen, was mancherorts zu einer liberalen Thematisierung führt, ohne Klasse als spezifisches Moment im Blick zu haben. Die Thematisierung erfolgt, wenn überhaupt, meist aus politischen Bewegungen, Communities und von Betroffenen und lassen sich nur schwer nach außen tragen. Für intersektionale Praktiken bringt das eine Dopplung desselben Paradoxes mit sich: Der Begriff "Intersektionalität" (wie zuvor das Bekenntnis) tritt an die Stelle der noch immer ausbleibenden Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus als strukturelle Größen von Gesellschaft. So können die gesellschaftlichen Verhältnisse fortbestehen, nunmehr aber zusätzlich aktiv negiert in genau jenem Diskurs, der eigentlich auf die vorhergehenden Negierungen kritisch und fordernd antwortet.
Schluss
Wie angemerkt, enthält Intersektionalität auch eine Verteilungsfrage: Wer ist in welchen Räumen mit welchen Zugängen? Die gläserne Decke scheint in deutschsprachigen feministischen Institutionen, den Orten der Debatten, Ressourcen und Zugänge, besonders stabil zu sein. Zwar hat der Begriff erfolgreich in die entsprechenden Räume und Forschungen Einzug gehalten, nicht aber die damit verknüpften Körper. Es sind nach wie vor mehrheitsweiße Räume, in denen Intersektionalität verhandelt wird. Damit sind sie per definitionem keine intersektionalen Räume. Politische Bildung mit intersektionalem Anspruch richtet sich entsprechend nicht nur an ein zu bildendes äußeres Gegenüber. Intersektionale politische Bildung tut vielmehr und insbesondere überall dort Not, wo vermeintlich bereits mit intersektionaler Bildung gearbeitet wird – nur eben in Ignoranz des Umstandes, dass die Räume monokulturell mehrheitsweiß sind.
Verteilung bedeutet in diesem Sinne, ebenso sehr danach zu fragen, welche Leute von den Bildungsangeboten überhaupt profitieren können, wie danach, welches Wissen in den Angeboten vermittelt wird, und wer dies tut. Intersektionalität braucht (nicht nur) in Deutschland einen Prozess der Dekolonisierung. Ein Anfang wäre, von den Kämpfen marginalisierter Feminist*innen und ihren Themensetzungen in den 1980er Jahren auszugehen und ihnen folgend die langausstehende Auseinandersetzung um race in der postkolonialen, postnationalsozialistischen, postmigrantischen und postsozialistischen deutschen Gegenwart zu führen.
Peggy Piesche/Francesca Schmidt/Iris Rajanayagam/Morgan Etzel, Politische Bildung Intersektional, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2022, S. 7, Externer Link: http://www.bpb.de/512676.
Dies zeigt etwa der jüngst erschienene Reader von Piesche et al. (Anm. 1).
Porajmos ist der Romanes-Begriff, der den nationalsozialistischen Völkermord an den Roma bezeichnet und übersetzt "Verschlingen" oder "Zerstörung" bedeutet.
Vgl. Anita Kalpaka/Nora Räthzel, Paternalismus in der Frauenbewegung?!, in: Informationsdienst für Ausländerarbeit 3/1985, S. 21–27; May Ayim/Katharina Oguntoye/Dagmar Schultz (Hrsg.), Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Frankfurt/M. 1992; Mareen Heying, Die Hurenbewegung als Teil der Zweiten Frauenbewegung, 13.9.2018, Externer Link: http://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-hurenbewegung-als-teil-der-zweiten-frauenbewegung; Sedef Gümen, Die sozialpolitische Konstruktion "kultureller" Differenzen in der bundesdeutschen Frauen- und Migrationsforschung, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 42/1996, S. 77–90; Ika Hügel-Marshall (Hrsg.), Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin 1999; Pinar Tuzcu/Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Migrantischer Feminismus in der Frauen:bewegung in Deutschland (1985–2000), München 2021; Julia Groth, Intersektionalität und Mehrfachdiskriminierung in Deutschland, Weinheim 2021.
Vgl. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York 2000.
Vgl. Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: University of Chicago Legal Forum 1/1989, S. 139–167.
Vgl. Anna J. Cooper, A Voice from the South, Mineola 2016; Angela Y. Davis, Women, Race & Class, New York 1983.
Vgl. Claudia Jones, An End to the Neglect of the Problems of the Negro Woman!, 1949, Externer Link: https://abolitionnotes.org/claudia-jones/neglect.
Vgl. Frances M. Beal, Double Jeopardy. To Be Black and Female, in: Meridians 2/2008, S. 166–176.
Vgl. Combahee River Collective, The Combahee River Collective Statement, 1977, Externer Link: http://combaheerivercollective.weebly.com/the-combahee-river-collective-statement.html.
Vgl. Hill Collins (Anm. 5).
Vgl. Adrienne Rich, Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence, in: Signs 4/1980, S. 631–660; María C. Lugones/Elizabeth V. Spelman, Have We Got a Theory for You! Feminist Theory, Cultural Imperialism and the Demand for "The Woman’s Voice", in: Women’s Studies International Forum 6/1983, S. 573–581; dies., Notes Toward a Politics of Location, in: Reina Lewis/Sara Mills (Hrsg.), Feminist Postcolonial Theory, Edinburgh 2003, S. 29–42.
Vgl. Gümen (Anm. 4).
Vgl. Patricia Hill Collins/Sirma Bilge, Intersectionality, Cambridge 2016.
Vgl. María Lugones, The Coloniality of Gender, in: Wendy Harcourt (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Gender and Development, London 2016, S. 13–33.
Vgl. Sylvia Tamale, Decolonization and Afro-Feminism, Ottawa 2020.
Vgl. Encarnación Gutiérrez Rodríguez, The Coloniality of Migration and the "Refugee Crisis": On the Asylum-Migration Nexus, the Transatlantic White European Settler Colonialism-Migration and Racial Capitalism, in: Refuge 1/2018, S. 16–28.
Vgl. Sabine Achour/Susanne Wagner, Ungleicher Zugang zur politischen Bildung: "Wer hat, dem wird gegeben". Ergebnisse einer bundesweiten Studie zur politischen Bildung und Demokratiebildung an Schulen, in: Die deutsche Schule 2/2020, S. 143–158.
Vgl. zum Beispiel Bettina Kleiner, subjekt bildung heteronormativität. Rekonstruktion schulischer Differenzerfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans*Jugendlicher, Opladen 2015; Nadine Rose, Migration als Bildungsherausforderung. Subjektivierung und Diskriminierung im Spiegel von Migrationsbiografien, Bielefeld 2012.
Vgl. W.E.B. du Bois, Black Reconstruction. An Essay Toward a History of the Part Which Black Folk Played in the Attempt to Reconstruct Democracy in America, 1860–1880, New York 1935.
Rassismus und Antisemitismus sind in Verbindung mit Geschlecht und Klasse als gesellschaftliche Verhältnisse zu verstehen, nicht als Verfehlungen einzelner Individuen.
| Article | Bergold-Caldwell, Denise | Traußneck, Matti | 2023-07-07T00:00:00 | 2022-11-22T00:00:00 | 2023-07-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/politische-bildung-2022/515538/intersektionale-politische-bildung/ | Wenn politische Bildung intersektional, also unter Berücksichtigung sich überschneidender Diskriminierungskategorien, gedacht wird, sind Fragen der Beteiligung und Diversität von zentraler Bedeutung. | [
"Politische Bildung",
"Politikdidaktik",
"Intersektionalität",
"race",
"class",
"Gender",
"Diversität",
"Kolonialität",
"Rassismus",
"Antisemitismus",
"Feminismus"
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Übersicht
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Berlin
Interner Link: Projektleitung für angewandte Forschung und wissenschaftliche Begleitung in der ExtremismuspräventionBerlin modusIzad Interner Link: Bildungsreferent:in für die "Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Berlin"Berlin ufuq.de Interner Link: Sozialarbeiter:in im psychotherapeutisch-psychiatrischen Projekt NEXUSBerlin Beratungsnetzwerk NEXUS (Charité Universitätsmedizin Berlin) Interner Link: Leitende:r Streetworker:in für Präventions- und DeradikalisierungsarbeitBerlin Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. (AVP) Interner Link: Streetworker:in für Präventions- und Deradikalisierungsarbeit Berlin Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. (AVP)
Nordrhein-Westfalen
Interner Link: Projektkoordination für das Projekt „Demokratie Leben!“ Düsseldorf Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. (AGB) Interner Link: Fachkraft für Präventionsprogramm "Wegweiser – gemeinsam gegen Islamismus"Gelsenkirchen Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit (IFAK e. V.) Interner Link: Projektmitarbeiter:in für das Projekt CleaRNetworkingDüsseldorf Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. (AGB) Interner Link: Ehrenamtliche MitarbeitNRW-weit 180 Grad Wende, Jugendbildungs- und Sozialwerk Goethe e. V.
Rheinland-Pfalz
Interner Link: Pädagogische:r Mitarbeiter:in für Projekt „Wertraum“Mainz Wertzeug e. V.
Schleswig-Holstein
Interner Link: Projektmitarbeiter:in für das Projekt PROventionKiel Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V.
Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
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Berlin
Projektleitung für angewandte Forschung und wissenschaftliche Begleitung in der Extremismusprävention
Berlin
modus|zad sucht ab sofort eine Projektleitung für angewandte Forschung und wissenschaftliche Begleitung in der Extremismusprävention. Als Zentrum für Deradikalisierungsforschung arbeitet modus|zad insbesondere an praxisorientierter Forschung zur Verbreitung extremistischer Inhalte in den sozialen Medien, wie zum Beispiel auf YouTube oder TikTok.
Die Stelle ist zunächst bis 31. Dezember 2024 befristet und umfasst folgende Aufgaben:
Projektleitung, Teammanagement und Berichtswesen für mehrere (öffentlich geförderte) Projekte mit Fokus auf (angewandte) Forschung und partizipative wissenschaftliche Begleitung in der Extremismusprävention Weiter- und Neuentwicklung von Projektideen und Projektanträgen im Kontext der angewandten Forschung im Themenfeld Extremismus Projektübergreifende Redaktion und Abnahme der modusIzad
Voraussetzung für die Anstellung ist ein abgeschlossenes Masterstudium in einem einschlägigen sozialwissenschaftlichen Fachgebiet (z. B. Soziologie, Politikwissenschaft, Sozialwissenschaft, Soziale Arbeit, Kommunikations- oder Medienwissenschaft). Außerdem gefordert wird mehrjährige Berufserfahrung im Bereich angewandte Forschung und Erfahrung in der Projektleitung und Personalführung. Exzellente Kenntnisse in den Themenfeldern Extremismusprävention und Radikalisierung werden vorausgesetzt.
Arbeitgeber: Modus – Zentrum für angewandte Deradikalisierungsforschung Ort: Berlin Bewerbung: bis 18. August E-Mail Link: per Mail möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von modusIzad
Bildungsreferent:in für die "Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Berlin"
Berlin
ufuq.de sucht zum 1. September 2023 eine:n Bildungsrefert:in für die "Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Berlin".
Die Fachstelle Berlin unterstützt Fachkräfte und Einrichtungen in der schulischen und außerschulischen Bildungs- und Jugendarbeit. Sie reagiert auf Herausforderungen der Migrationsgesellschaft, die sich auch in der Bildungs- und Jugendarbeit stellen. Mit Beratungen und Fortbildungen für Fachkräfte sowie Workshops für Jugendliche fördert die Fachstelle Handlungskompetenzen im Umgang mit gesellschaftlicher und religiöser Diversität und unterstützt bei der Konzeption und Umsetzung von Angeboten der politischen Bildung und Präventionsarbeit.
Die Stelle umfasst 24 Wochenstunden und ist bis 31. Dezember 2024 befristet. Sie umfasst folgende Aufgaben:
Fachliche und methodische Qualifikation und Begleitung der Teamer:innen Inhaltlich-fachliche und methodische Weiterentwicklung von (medienpädagogischen) Workshop-Formaten und Peer-Education-Ansätzen für die Arbeit mit Jugendlichen Konzeption von (digitalen) Arbeitshilfen und Lernmaterialien Repräsentation des Projekts auf Veranstaltungen
Gesucht wird eine Person mit thematisch passendem Studium, fachlicher Expertise im Themenbereich und Erfahrungen in der pädagogischen Arbeit und der politischen Bildung mit Jugendlichen.
Arbeitgeber: ufuq.de Ort: Berlin Bewerbungsfrist: 16. Juli 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de
Sozialarbeiter:in im psychotherapeutisch-psychiatrischen Projekt NEXUS
Berlin
Ab dem 1. Juli 2023 sucht das psychotherapeutisch-psychiatrische Projekt NEXUS eine:n Sozialarbeiter:in in Teilzeit. Das Projekt ist im Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention im Phänomenbereich Islamismus tätig. Es bietet mit einem multiprofessionellen Team Fallhilfen sowie Initiativen der Vernetzung mit dem Gesundheitswesen an. Die Stelle ist zunächst bis zum 31. Dezember 2023 befristet, mit Aussicht auf Verlängerung.
Die Stelle umfasst folgende Aufgaben:
Bedürfnisangepasste, koordinierende und begleitende Unterstützung von Klient:innen mit psychischen Erkrankungen Unterstützung bei der Mobilisierung von Hilfen der Gesundheitsversorgung für Klient:innen (zum Beispiel Kontaktaufnahme zu Ambulanzen, Praxen, Kliniken), Teilhabeleistungen und weiteren sozialen Hilfen Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen (insbesondere Fachberatungsstellen der Distanzierungs- und Ausstiegshilfe
Voraussetzung für die Anstellung ist eine Qualifizierung als Sozialpädagog:in oder Sozialarbeiter:in mit staatlicher Anerkennung. Zudem sind Kenntnisse und Fähigkeiten in der Unterstützung von Menschen mit psychischer Erkrankung notwendig.
Arbeitgeber: Beratungsnetzwerk NEXUS (Charité Universitätsmedizin Berlin) Ort: Berlin Bewerbungsfrist: bis 31. Juli 2023 per E-Mail Link: E-Mail
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Charité
Leitende:r Streetworker:in für Präventions- und Deradikalisierungsarbeit
Berlin
Der Verein Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. sucht eine:n leitende:r Streetworker:in ab sofort in Vollzeit für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in Online-Communities sowie auf öffentlichen Plätzen und Straßen in Berlin. Ziel des Projekts "streetwork@online" ist es, einer islamistisch begründeten Radikalisierung von jungen Menschen im Alter zwischen 14 und 27 Jahren entgegenzuwirken.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Online-Streetwork: Aufbau und Pflege von Social-Media-Kanälen, Interaktion mit der Zielgruppe, Screening des islamistischen Umfeldes, Weiterentwicklung von Präventionsstrategien Offline-Streetwork: Aufbau eines lokalen Netzwerks vor Ort zur Zielgruppenerreichung, Aufsuchende Arbeit im öffentlichen Raum, Kontakt- und Beziehungsarbeit im Lebensraum Fallbezogene Präventions- und Deradikalisierungsarbeit: individuelle Beratung, Begleitung, Vermittlung, Angehörigen- und Netzwerkarbeit Leitung des Projektbüros am Standort Berlin Budget- und Personaleinsatzplanung und Steuerung Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit
Voraussetzung für die Anstellung ist ein Hochschulabschluss im Bereich Soziale Arbeit, Sozialpädagogik oder vergleichbare Qualifikationen. Erwartet werden gute Erfahrungen in der Extremismusprävention und der projektbezogenen Jugendarbeit sowie hohe interkulturelle und mediale Kompetenzen.
Arbeitgeber: Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. (AVP) Ort: Berlin Bewerbungsfrist: 31. Juli 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online
Streetworker:in für Präventions- und Deradikalisierungsarbeit
Berlin
Der Verein Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. sucht für das Projekt "streetwork@online" ab sofort eine:n Streetworker:in für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in Online-Communities sowie auf öffentlichen Plätzen und Straßen in Berlin. Ziel des Projekts ist es, einer islamistisch begründeten Radikalisierung von jungen Menschen im Alter zwischen 14 und 27 Jahren entgegenzuwirken. Es handelt sich um eine 80-Prozent-Stelle.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Kontaktaufnahme mit der Zielgruppe durch aufsuchende Arbeit (online und offline) Begleitung von ideologisch beeinflussten jungen Menschen im Rahmen einer Verweisberatung Beziehungsaufbau mit Radikalisierungsgefährdeten und Umsetzung von ersten Maßnahmen der Deradikalisierung Mitgestaltung von Inhalten und Betreuung eigener Profile in Social Media Regelmäßiges Screening von Inhalten der Online-Communities Weiterentwicklung zielgruppengerechter Präventionsstrategien
Voraussetzung für die Anstellung ist ein Hochschulabschluss im Bereich Soziale Arbeit, Sozialpädagogik, Medienpädagogik, eine passende Ausbildung (Erzieher:in o. ä.) oder vergleichbare Qualifikationen. Erwartet werden Erfahrungen und Fachkenntnisse in Methoden und Ansätzen der Deradikalisierungs- und Distanzierungsberatung.
Arbeitgeber: Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. (AVP) Ort: Berlin Bewerbungsfrist: 31. Juli 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online
Nordrhein-Westfalen
Projektkoordination für das Projekt „Demokratie Leben!“
Düsseldorf
Die Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. sucht ab sofort Unterstützung für die Koordination des Projekts „Demokratie Leben!“ in Teilzeit (25–30 Stunden).
Die Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. (AGB) ist ein freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe aus Düsseldorf und in verschiedenen Feldern der sozialen Arbeit tätig, wie etwa Schulsozialarbeit, Radikalisierungsprävention, Gemeinwesenarbeit und Ganztagsbetreuung.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Planung und Durchführung von Konferenzen und weiteren Veranstaltungen Teilnahme an Netzwerktreffen sowie an Maßnahmen des Bundesprogramms Beratung in Demokratieförderungsmaßnahmen für diverse Einrichtungen sowie Beratung und Unterstützung von Projektantragssteller:innen Verantwortung für den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit Organisation von Fortbildungen und Fachtagen
Gesucht wird eine Person mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium sowie Berufserfahrung im sozialen Bereich, der Beratung und Organisation. Kenntnisse im Bereich Demokratiestärkung sind wünschenswert.
Arbeitgeber: Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. Ort: Düsseldorf Bewerbungsfrist: 14. Juli 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AGB
Fachkraft für Präventionsprogramm "Wegweiser – gemeinsam gegen Islamismus"
Gelsenkirchen
Der Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit (IFAK e. V.) sucht ab sofort eine Fachkraft in Vollzeit für die Beratungsstelle "Wegweiser – gemeinsam gegen Islamismus" in Gelsenkirchen. Das Präventionsprogramm Wegweiser bietet Beratung, Unterstützung sowie Informationen an zum Themenfeld Islamismus und Radikalisierungsprävention.
Die neue Fachkraft soll das Team in der Beratung im Feld gewaltbereiter Salafismus unterstützen. Zudem zählt die Präventionsarbeit mit Jugendlichen – darunter auch Online-Beratung – zu den Aufgaben.
Voraussetzung ist unter anderem ein abgeschlossenes Studium der Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaft, der Pädagogik oder vergleichbaren Studiengängen. Zudem ist eine mindestens einjährige Berufserfahrung in der Jugendhilfe, Beratung oder Netzwerkarbeit notwendig sowie Erfahrung im Social Media-Bereich.
Arbeitgeber: Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit (IFAK e. V.) Ort: Gelsenkirchen Bewerbung: E-Mail Link: per Mail möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von IFAK e. V.
Projektmitarbeiter:in für das Projekt CleaRNetworking
Düsseldorf
Die Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. sucht für das Projekt "CleaRNetworking – Netzwerk zum Umgang mit Hinwendungsprozessen zu politischen und religiösen Phänomenen im schulischen Kontext" ab sofort eine:n Projektmitarbeiter:in in Teilzeit (19,5h pro Woche). Die Stelle ist zunächst befristet bis zum 31.12.2025.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Mitarbeit beim Aufbau und Betreuung einer moderierten Netzwerkstruktur für bereits zertifizierte Clearingbeauftragte und Schulen Durchführung von Clearingverfahren zur Radikalisierungsprävention im schulischen Kontext Durchführung von Intervisionsgruppen und kollegialer Fachberatung Planung, Durchführung und Weiterentwicklung von Weiterbildungsformaten im Kontext der Radikalisierungsprävention sowie Weiterentwicklung von Interventionsformaten Mitarbeit an projektbezogenen Publikationen und Dokumentationen
Voraussetzung für die Anstellung ist ein abgeschlossenes Studium der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik, der Islamwissenschaften oder eines angrenzenden Fachs in Kombination mit einer pädagogischen Qualifikation oder entsprechenden Vorerfahrung. Erwartet werden Erfahrung und Kenntnisse im Projektmanagement sowie umfassende Kenntnisse über Radikalisierung sowie Radikalisierungsprävention und ihre Methoden.
Arbeitgeber: Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. Ort: Düsseldorf Bewerbungsfrist: 30. Juni 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von AGB Ehrenamtliche Mitarbeit bei 180 Grad Wende
Nordrhein-Westfalen
Die Initiative 180 Grad Wende sucht Menschen, die ehrenamtlich als sogenannte Keeper ein eigenes Projekt in ihrer Stadt in Nordrhein-Westfalen starten möchten. Seit 2012 ist 180 Grad Wende mit Projekten an Schulen, Jugendzentren und Haftanstalten sowie mit einer Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene in den Bereichen Prävention und Konfliktbeilegung tätig.
Arbeitgeber: 180 Grad Wende, Jugendbildungs- und Sozialwerk Goethe e. V. Ort: Nordrhein-Westfalen
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der 180 Grad Wende
Rheinland-Pfalz
Pädagogische:r Mitarbeiter:in für Projekt „Wertraum“
Mainz
Der gemeinnützige Verein Wertzeug e. V. sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine:n pädagogische:n Mitarbeiter:in für das Projekt Wertraum – Demokratiebildung und Extremismusprävention in Justizovllzugseinrichtungen. Das Projekt wird aus Mitteln des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ finanziert.
Die Stelle ist zunächst bis zum 31. Dezember 2024 befristet mit Aussicht auf Verlängerung.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Konzeption und Durchführung von Gruppenangeboten zur Extremismusprävention sowie Demokratiebildung für Inhaftierte Konzeption und Durchführung von Fortbildungen für Mitarbeiter:innen von Justizvollzugseinrichtungen und der Bewährungshilfe Beratung von Fachkräften Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit Erledigung allgemeiner Büro- und Verwaltungsaufgaben
Gesucht wird eine Person mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium in Sozialer Arbeit, Psychologie, Politikwissenschaft, Islamwissenschaft, Soziologie oder verwandten Fächern. Vorausgesetzt werden Kompetenzen in der rassismuskritischen und intersektionalen Bildungsarbeit. Auch Berufserfahrung im Kontext von Haft oder Demokratiebildung sind von Vorteil.
Arbeitgeber: Wertzeug e. V. Ort: Mainz Bewerbungsfrist: bis zum 31. August 2023 E-Mail Link: per Mail möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von Wertzeug e. V.
Schleswig-Holstein
Projektmitarbeiter:in für das Projekt PROvention
Kiel
Die Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. sucht ab sofort eine:n Projektmitarbeiter:in für PROvention, die Fach- und Informationsstelle gegen religiös begründeten Extremismus in Schleswig-Holstein.
Zu den Tätigkeiten gehört unter anderem:
Planung und Durchführung von Fachtagungen, zum Beispiel zu religiös begründetem Extremismus und Antimuslimischem Rassismus Moderation und Konzeptionierung von Fortbildungen und Workshops für Multiplikator:innen und Jugendliche Mitarbeit an Publikationen und Informationsmaterial Unterstützung in der Netzwerkarbeit mit Behörden, Ämtern und anderen zivilgesellschaftlichen Trägern Weiterentwicklung des Gesamtprojekts
Die Stelle ist zunächst bis zum 31. Dezember 2024 befristet. Das Projekt läuft bereits seit 2015 und eine Weiterführung nach 2024 wird angestrebt.
Arbeitgeber: Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Ort: Kiel
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Türkischen Gemeinde
Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-08-03T00:00:00 | 2020-01-24T00:00:00 | 2023-08-03T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/304029/stellenangebote/ | Stellenangebote aus dem Themenfeld Radikalisierung, Islamismus & Prävention | [
"Infodienst Radikalisierungsprävention",
"Stellenangebote",
"Deradikalisierung",
"Radikalisierungsprävention",
"Salafismus",
"Infodienst Salafismus"
] | 209 |
Was Menschen gegen das Artensterben tun können | einfach POLITIK | bpb.de |
Interner Link: Dieses Kapitel als Hörangebot
Artenschutz in Deutschland: drei Beispiele
Wildbienen
Viele Pflanzen werden von Insekten bestäubt. Das ist zum Beispiel bei Obstbäumen so. Bienen bestäuben die Blüten der Obstbäume. Heute sind schon viele Wildbienen-Arten vom Aussterben bedroht. Zum Beispiel durch Insektengifte. Wenn die Bienen aussterben, werden auch die Obstbäume nicht mehr bestäubt.
Biene (© bpb)
Um Bienen zu schützen, können wir Menschen:
Pestizide verbieten oder uns für ein Verbot einsetzen, mehr Grünflächen anlegen, damit Bienen Nahrung finden, auf dem Land mehr naturnahe Flächen schaffen, zu Hause oder am Straßenrand Blumen aussäen, selbst ein Bienenvolk im Garten haben.
Totwald (© bpb)
Aufforstung im Harz
Der Harz ist ein deutsches Gebirge. Die Menschen haben dort sehr viele Fichten angepflanzt, weil sie Holz brauchten. Denn Fichten wachsen besonders schnell. Fichten sind aber auch besonders empfindlich gegen Borkenkäfer. Die Käfer haben schon große Teile des Fichtenwaldes zerstört.
Heute gibt es im Harz große Flächen mit abgestorbenen Fichten. Menschen greifen dort nicht mehr in die Natur ein. Nach und nach entsteht dort von allein neuer Wald. Das alte Holz bleibt liegen und bietet kleinen Tieren Nahrung und Schutz. Manche dieser Flächen sind Naturschutzgebiete.
Mischwald (© bpb)
Förster und Försterinnen pflanzen heute auch in anderen Wäldern Mischwald an. Mischwald besteht aus Laubbäumen und Nadelbäumen.
Gemischte Wälder sind weniger empfindlich für Schädlinge wie Borkenkäfer und bieten mehr Artenvielfalt.
Lachse im Rhein
Biene (© bpb)
Totwald (© bpb)
Mischwald (© bpb)
Der Rheinlachs ist eine bestimmte Lachsart. Der Rheinlachs ist schon vor einiger Zeit vollständig ausgestorben. Gründe dafür waren starker Fischfang und die Wasserverschmutzung durch Fabriken. Die Wasserverschmutzung ist heute nicht mehr so stark. Es gibt jetzt Gesetze, damit die Fabriken ihre Abwässer stärker reinigen. Inzwischen haben sich wieder Lachsarten im Rhein angesiedelt.
Naturschutzprojekte helfen dabei:
Schleusen und Stauwehre werden umgebaut. Junge gezüchtete Lachse werden im Rhein ausgesetzt.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-02T00:00:00 | 2021-05-10T00:00:00 | 2022-02-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/politisches-system/politik-einfach-fuer-alle/332952/was-menschen-gegen-das-artensterben-tun-koennen/ | Das Aussterben einer Art kann viele Folgen haben, die noch nicht bekannt sind oder noch erforscht werden müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir Menschen etwas gegen das Artensterben tun. Was kann jeder und jede Einzelne tun? | [
"Einfach Politk",
"Klimawandel",
"Artensterben",
"Artenschutz"
] | 210 |
Kongress - fragmentierte Legislative | USA | bpb.de | Artikel I, Absatz 1 der US-amerikanischen Verfassung bestimmt: Die "gesetzgebende Gewalt ruht im Kongress der Vereinigten Staaten, der aus einem Senat und einem Repräsentantenhaus besteht". Im US-amerikanischen Gewaltenteilungssystem ist der Kongress weitgehend autonom. In der Politikwissenschaft der USA wird daher auch vom "halbsouveränen Kongress" gesprochen. Souverän deswegen, weil der Kongress der Gesetzgeber ist. Halbsouverän, weil punktuell und indirekt andere Gewalten - der Präsident durch sein suspensives Veto, der Supreme Court durch seine Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen - an der Gesetzgebung beteiligt sind. Den Kongress unterscheidet von Abgeordnetenhäusern in parlamentarischen Regierungssystemen, dass er der Gesetzgeber, der Legislateur ist, während zum Beispiel in Deutschland die Exekutive wesentlich an der Gesetzgebung, häufig als deren Initiatorin, beteiligt ist. Dagegen ist es formal dem Präsidenten nicht einmal möglich, selbst Gesetzentwürfe in den parlamentarischen Beratungsprozess in Washington einzubringen. Will die Regierung einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen, dann muss sie in beiden Häusern Abgeordnete suchen, die für sie initiativ werden. Verfassungsrechtlich ist der Präsident auf Botschaften an den Kongress beschränkt, in die er Gesetzesvorschläge aufnehmen kann, er leitet dem Parlament den Haushaltsentwurf zu. In der Verfassungswirklichkeit sind allerdings - mit der Herausbildung des Sozialstaates und des Aufstiegs der USA zur Weltmacht - Kompetenzen von der Legislative auf die Exekutive übergegangen. Gerade in Krisenzeiten - wie der Weltwirtschaftskrise und dem New Deal - sind diese dem Präsidenten regelrecht aufgedrängt worden.
Zusammensetzung und Aufgabenstellung
Der Kongress besteht aus zwei Kammern, Senat und Repräsentantenhaus. Im Senat sitzen je zwei Senatoren aus jedem Einzelstaat, ungeachtet der jeweiligen Bevölkerungszahl. Er umfasst bei heute 50 Einzelstaaten also 100 Mitglieder. Alle zwei Jahre wird ein Drittel der Senatoren neu gewählt. Das Repräsentantenhaus hingegen besteht aus 435 Mitgliedern. Die Mandate werden auf die Einzelstaaten entsprechend ihrer Einwohnerzahl verteilt. Nach jeder Volkszählung, die alle zehn Jahre stattfindet, werden die Abgeordnetensitze neu zugewiesen und die Wahlkreise im Fall von Veränderungen neu zugeschnitten. Die Bevölkerungswanderung nach Süden bzw. nach Westen kommt dann in der steigenden oder sinkenden Zahl von Repräsentanten eines Staates zum Ausdruck. So hatte der Staat New York 1981 34, 2001 nur noch 29 Abgeordnete, Kalifornien hingegen 1981 45, 2001 53, Florida 1981 19, 2001 aber 35 Abgeordnete. Das Repräsentantenhaus wird alle zwei Jahre neu gewählt. Eine Legislaturperiode des Kongresses dauert mithin zwei Jahre.
Drei zentrale Aufgaben nimmt der Kongress wahr:
Gesetzgebung;Haushaltsberatung und -beschlussfassung (power of the purse); Kontrolle des Präsidenten und der Exekutive (oversight).
Gesetzgebung
Gesetzesvorlagen werden in den Ausschüssen und Unterausschüssen beider Häuser beraten und bedürfen der Zustimmung beider Kammern. Weichen die von beiden Häusern beschlossenen Vorlagen voneinander ab, dann findet eine Angleichung in einer Art Vermittlungsausschuss, einem Conference Committee statt. Dies ist kein ständiger Ausschuss (wie bei uns der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat), vielmehr wird er ad hoc zu jeder miteinander abzugleichenden Gesetzesvorlage neu eingesetzt. Erst durch die Unterschrift des Präsidenten wird eine Vorlage zum Gesetz.
Über die Gesetzgebung kann der Präsident kontrolliert, in seiner Macht eingeschränkt werden. Dies war beispielsweise das Ziel der so genannten War Powers Resolution. Nach der Verfassung ist der Präsident zwar Oberbefehlshaber der Streitkräfte, aber nur der Kongress hat das Recht, Krieg zu erklären. Dieses Recht des Kongresses ist im 20. Jahrhundert zunehmend ausgehöhlt worden. Der Präsident hat das Militär in den Kampf geschickt, ohne dass es eine Kriegserklärung gegeben hätte - zum Beispiel nach Vietnam.
Um derartige nicht-erklärte Kriege zu verhindern, sieht die War Powers Resolution vor, dass für den Fall eines Angriffs auf die Vereinigten Staaten, auf amerikanisches Eigentum oder auf amerikanische Streitkräfte, der Präsident ohne ausdrückliche Zustimmung des Kongresses für 60 Tage (unter besonderen Bedingungen auch für 90 Tage) Truppen zu entsenden vermag. Dann muss der Präsident jedoch den Kongress konsultieren und ihn über weitere Entwicklungen informieren. Präsidenten umgehen den War Powers Act, indem sie sich auf eine andere Art, nämlich durch eine zustimmende Resolution des Kongresses anstatt durch formelle Kriegserklärung, das Recht verschaffen, Truppen einzusetzen - so unter George W. Bush beim Krieg gegen den Irak.
Haushaltsberatung und -beschlussfassung
Erfolgreicher in der Einschränkung präsidentieller Macht war der Kongress im Bereich des Haushalts. Die power of the purse ist zentrales Recht eines jeden Parlaments, denn durch die Vergabe von Mitteln werden politische Prioritäten gesetzt. Es wird durch die US-Verfassung ausdrücklich dem Kongress zugewiesen. Diese Kompetenz wurde von verschiedenen Präsidenten dadurch ausgehöhlt, dass sie Gelder, die in den Haushalt eingestellt worden waren, um nach dem Willen des Kongresses bestimmte Programme zu finanzieren, stillschweigend nicht ausgegeben haben. Durch den Budget and Impoundment Control Act von 1974 ist diese Praxis untersagt worden. Heute muss der Präsident das Parlament offiziell davon in Kenntnis setzen, wenn er bewilligte Gelder nicht auszugeben gedenkt - und der Kongress kann mit einfacher Mehrheit diese Absicht zunichte machen. Zudem wurde mit diesem Gesetz der bis dahin höchst komplizierte und unübersichtliche Prozess der Haushaltsberatung im Kongress gestrafft. Und als Gegengewicht zum Office of Management and Budget, das im Executive Office den Haushaltsplan entwirft, der dann vom Präsidenten dem Kongress zugeleitet wird, hat sich der Kongress im Haushaltsbereich eine eigene Bürokratie geschaffen, das Congressional Budget Office, in dem über 200 Fachleute arbeiten.
Kontrolle der Exekutive
Die zeitraubendste Aufgabe des Kongresses ist die Kontrolle der Exekutive, die Untersuchung der einzelnen Behörden und auch wichtiger Akteure darauf hin, wie sie die Gesetze ausführen. Oversight kann dabei in unterschiedlichster Art und Weise stattfinden. Das beginnt mit Gesetzen wie dem War Powers Act und dem Budget and Impoundment Control Act, die die Macht der Exekutive eingrenzen. Gefürchtet sind auch Anhörungen vor Ausschüssen und Unterausschüssen, bei denen prominente Politiker der Exekutive in aller Öffentlichkeit verhört werden können. Jeder Ausschuss oder Unterausschuss des Kongresses kann sich in einen Untersuchungsausschuss verwandeln. Es ist aber auch möglich, spezielle Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diesen stehen - ähnlich Gerichten - Zwangsmittel zur Verfügung. Sie können nicht nur Zeugen vorladen und befragen, sondern die Auslieferung von Dokumenten und Akten der Exekutive verlangen und im Fall der Aussageverweigerung sogar die Bestrafung wegen Missachtung des Kongresses beantragen. Lediglich der Präsident und sein Mitarbeiterstab im White House Office sind vor derartigen Anhörungen und Untersuchungen aufgrund des so genannten executive privilege geschützt.
Um seiner Gesetzgebungstätigkeit und Kontrollfunktion nachzukommen, stehen dem Kongress wissenschaftliche Dienste und Untersuchungsbehörden zur Verfügung. Dazu gehören die größte Bibliothek der Welt, die Library of Congress mit über 4.000 Beschäftigten, der Congressional Research Service mit über 700 wissenschaftlichen Assistentinnen und Assistenten sowie das General Accounting Office, eine Art Rechnungshof des Parlaments mit über 3.000 Beschäftigten. Der Kongress hat also auch im Bereich Gesetzgebung und Kontrolle als Gegengewicht zur Regierungsbürokratie eigene Bürokratien geschaffen.
Die Fragmentierung als Charakteristikum des US-amerikanischen politischen Systems zeigt sich auch am Kongress. Anders als ein übersichtlich strukturiertes Fraktionenparlament, in dem es, wie in Großbritannien oder in Deutschland, eine Mehrheit und eine Minderheit gibt, ist der Kongress auf dreifache Weise fragmentiert: Auf der einen Ebene agieren die Mitglieder des Senats und des Repräsentantenhauses als Individuen, als politische Unternehmer. Auf einer zweiten Ebene gibt es Dutzende und Aberdutzende von Ausschüssen und Unterausschüssen, also Untergliederungen des Kongresses. Und auf der dritten Ebene findet sich die Führung des Kongresses. Obwohl dieser in den letzten Jahrzehnten Macht zugewachsen ist, lässt sie sich in ihren Kompetenzen und ihrem tatsächlichen Einfluss nicht mit den Fraktions- und Parlamentsführungen in parlamentarischen Regierungssystemen vergleichen. Tätigkeiten der Abgeordneten
Die Fragmentierung des Kongresses setzt an bei den einzelnen Senatoren und Repräsentanten, alle ausgeprägte Individualisten. Sie vertreten im fernen Washington vor allem und zunächst ihren Einzelstaat oder ihren Wahlkreis, ihren Congressional District, in dem sie gewählt worden sind. Für dessen Einwohnerschaft versuchen sie möglichst Vergünstigungen und Privilegien zu erlangen. Ihre Abstimmungen und politischen Entscheidungen im Kongress werden also nicht zuvorderst von einem abstrakten nationalen Gemeinwohl bestimmt, sondern primär von den lokalen und regionalen Bedürfnissen ihrer Wahlkreise. Sie betreiben Politik aus der Perspektive des Kirchturms. Der immer wieder gegen das Parlament erhobene Vorwurf lautet: "Lokalismus und Provinzialismus". Aber die Abgeordneten stehen zu ihrem Verhalten. So hat Tip O'Neill, legendärer Mehrheitsführer und Parlamentspräsident aus Boston im Repräsentantenhaus (1977-1986), einmal formuliert: "All politics is local". Wie ein Kleinunternehmer betreibt der einzelne Abgeordnete sein politisches Geschäft, sucht Macht und Einfluss zu nutzen, um seinen Wahlkreis zu fördern - und seine Wiederwahl.
Dabei hat er manche Unterstützung. Dazu gehört in der Regel jedoch nicht zwingend die Partei, unter deren Etikett er gewählt worden ist. Denn Parteien sind in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu Deutschland relativ schwach. Sie finanzieren und organisieren anders als bei uns nicht die Wahlkämpfe ihrer Kandidatinnen und Kandidaten für Senat und Repräsentantenhaus. Diese müssen das vielmehr selbst tun. Um nominiert und gewählt zu werden, baut ein politischer Aspirant seine persönliche Wahlkampforganisation auf und treibt Spenden ein, um sie finanzieren zu können.
Wahlkreisbetreuung
Einmal gewählt stehen für ein Senatsmitglied und einen Kongressabgeordneten Wahlkreisarbeit und Betreuung der Wählerschaft im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Möglichst oft versuchen die Abgeordneten, sich in ihrem Wahlkreis aufzuhalten, führen Bürgersprechstunden im Wahlkreisbüro durch, besuchen Veranstaltungen lokaler Vereine, lassen sich bei den Mitgliedern des Stadtrates und beim Bürgermeister sehen, besichtigen die neuesten Industrieanlagen oder Problemnachbarschaften. Selbst in Tagungswochen versuchen einige Kongressmitglieder, abends noch schnell in den Wahlkreis zu fliegen. Und wenn sie das wegen der großen Entfernungen in den USA nicht schaffen, dann lassen sie sich back home wenigstens am Wochenende sehen. Und in den Wahlkreisbüros sitzen die Mitarbeiter der Abgeordneten. Jedes Mitglied von Senat oder Repräsentantenhaus verfügt über eine Zahl von Mitarbeitern, angesichts derer Bundestagsabgeordnete nur neidisch werden können. Im Repräsentantenhaus sind heute etwa 7.200 persönliche Mitarbeiter der Repräsentanten angestellt, das heißt jedem Parlamentarier arbeiten zwischen 15 und 20 Helfer zu, 40 Prozent von ihnen in den Wahlkreisen. Im Senat gibt es knapp 4.000 persönliche Mitarbeiter, pro Senator also durchschnittlich 40, wobei Senatoren aus einem großen Einzelstaat wie Kalifornien durchaus auf 100 Helfer kommen. Natürlich stehen diese Mitarbeiter auf den Gehaltslisten des Kongresses, denn letztendlich arbeiten sie ja für das Parlament.
Case work
Zu den wichtigsten Aufgaben der Mitglieder von Senat und Repräsentantenhaus gehört die so genannte Case Work. Wie an einen Ombudsmann wenden Bürgerinnen und Bürger sich an ihren Abgeordneten. Es geht um den Rentenbescheid, um Fragen der Krankenversicherung oder auch um den Straßenbau oder die Schließung einer Militärbasis im Wahlkreis. Das Senatsmitglied eines großen Einzelstaates und seine Mitarbeiter haben im Jahr bis zu 50.000 solcher Einzelfälle zu bearbeiten. Umfragen zeigen immer wieder, dass die einzelnen Abgeordneten und Senatoren in ihren Wahlkreisen höchst populär sind, auch wenn die Wählerinnen und Wähler gleichzeitig auf "die da oben in Washington", auf den Kongress oder auf den Präsidenten schimpfen.
Lobbyisten machen sich heute die Verankerung der Parlamentarier in ihren Wahlkreisen zu Nutze. Sie gehen selbst in die Wahlkreise und mobilisieren dort für ihre Interessen die Wählerinnen und Wähler in der Hoffnung, dass diese dann Druck auf ihren Abgeordneten ausüben. Dieses Grass Roots Lobbying ist teuer, aber es lohnt sich offensichtlich.
In ihrem Abstimmungsverhalten im Kongress lassen sich die Mitglieder von Senat und Repräsentantenhaus vor allem von den Interessen ihres Wahlkreises leiten, erst dann von der Position ihrer Partei oder von den Wünschen des Präsidenten. Ohne ihre Mitarbeiter wären die Parlamentarier verloren. Da es keine Fraktion wie im deutschen Bundestag gibt, an der sie sich ausrichten und deren Leitlinien sie folgen könnten, bedürfen sie des sachverständigen Ratschlags "ihrer Leute", ihrer Staffer. Die gehen ihnen nicht nur zur Hand, sondern sie beeinflussen ihre Chefinnen bzw. Chefs auch politisch. Leiter des Mitarbeiterstabes eines Senators von Kalifornien oder Texas zu sein, ist eine politisch gewichtige Position. Die Mitarbeiter bereiten ihre Abgeordneten auf Ausschusssitzungen vor, sie führen selbst Untersuchungen durch und flüstern den Abgeordneten bei Anhörungen zuweilen die Fragen ins Ohr, die diese dann laut stellen. Sie erarbeiten Gesetzentwürfe, die ihre Abgeordneten einbringen. Jedes Senatsmitglied legt in einer Legislaturperiode um die 33 Gesetzentwürfe vor, jedes Mitglied des Repräsentantenhauses um die 14. Die meisten haben eine lokale oder regionale Bedeutung, sollen den Wählerinnen und Wählern zuhause zeigen, dass ihr Vertreter sich um sie kümmert. Insgesamt werden im Repräsentantenhaus fast 6.000, im Senat an die 3.300 Gesetzentwürfe eingebracht. Von diesen werden aber nur circa 16 bzw. 24 Prozent verabschiedet.
Eins wird deutlich: Um Senator oder Repräsentant zu werden, reicht es nicht aus, über politisches Naturtalent zu verfügen, sondern es gilt wie im Management eines mittleren Unternehmens in der Lage zu sein, Kompetenzen zu delegieren, Arbeitsabläufe zu organisieren und zu koordinieren. Die soziale Zusammensetzung der Kongressmitglieder entspricht denn auch diesen Erfordernissen. Die beiden größten Berufsgruppen sind Juristen und Unternehmer bzw. Manager, gefolgt von Personen, die aus dem Bildungsbereich oder dem Journalismus kommen. Fast alle Parlamentarier haben einen College-Abschluss, die meisten darüber hinausgehend auch eine Berufsausbildung. Industrie- oder Landarbeiter sowie Gewerkschafter sind nicht vertreten. Ausschüsse und Unterausschüsse
Wie dezentralisiert Macht im Kongress ist, zeigt sich an der Tätigkeit der Ausschüsse und Unterausschüsse. In diesen werden die Gesetzesvorlagen beraten, und sie sind es, die die Exekutive kontrollieren. Mehr als die Hälfte der Sitzungsdauer wird mit Oversight verbracht. Wird über Misswirtschaft oder gar einen Skandal in den Medien berichtet oder auch nur in der politischen Klasse Washingtons darüber geraunt, dann kann ein Ausschuss- oder ein Unterausschussvorsitzender umgehend eine Anhörung festsetzen. Diese Anhörungen sind fast immer öffentlich und im Vergleich zu solchen des Bundestages von ungewöhnlicher Schärfe.
Mitte der siebziger Jahre wurde das Repräsentantenhaus (und ähnlich der Senat) grundlegend reformiert, das heißt weiter dezentralisiert und demokratisiert. Macht wurde von den Ausschüssen in die Unterausschüsse verlagert. Im Repräsentantenhaus gab es 1975 204, im Senat 205 Ausschüsse und Unterausschüsse, ein Repräsentant gehörte durchschnittlich 6,2 Ausschüssen und Unterausschüssen an, ein Senator 17,6. Da die Mehrheitspartei automatisch den Vorsitz in allen Ausschüssen und Unterausschüssen übernimmt, war jeder zweite Abgeordnete der Mehrheitspartei Vorsitzender eines solchen Gremiums, jeder Senator der Mehrheitspartei nahm zwei Vorsitze wahr. Es war der Höhepunkt der Fragmentierung im Kongress. Was fehlte, war zentrale Führung. Dies änderte sich, als die Republikanische Partei 1994 erstmals seit 40 Jahren wieder eine Mehrheit im Repräsentantenhaus errang. Unter dem Republikanischen Parlamentspräsidenten und Mehrheitsführer Newt Gingrich wurden die Reformen teilweise wieder zurückgenommen, das Repräsentantenhaus zu Gunsten des Parlamentspräsidenten zentralisiert, die Zahl der Ausschüsse reduziert. Die Abschaffung der Senioritätsregel, Teil der Reformen Mitte der siebziger Jahre, blieb allerdings unverändert gültig: Danach war nicht mehr automatisch der von der Amtszeit her älteste Parlamentarier Vorsitzender eines Ausschusses oder Unterausschusses, sondern die Vorsitze konnten auch durch Wahl vergeben werden. Gingrich ging hier sogar noch einen Schritt weiter: Vorsitzende wurden nur noch auf drei Legislaturperioden gewählt, ihr Mandat läuft also automatisch nach sechs Jahren aus. Diese organisatorische Straffung des Ausschusswesens im Kongress war nur aufgrund einer politisch entschlossenen konservativen Republikanischen Führung durchsetzbar. 2002 gab es im Repräsentantenhaus dann nur noch 116, im Senat 91 Ausschüsse und Unterausschüsse.
Trotz der Gingrich-Reformen ist die Macht der Ausschüsse und Unterausschüsse und ihrer jeweiligen Vorsitzenden nach wie vor beachtlich, viel größer als in parlamentarischen Regierungssystemen. Zur Fragmentierung des Kongresses trägt bis heute bei, dass jeder Ausschuss und Unterausschuss mit einer kleinen Bürokratie ausgestattet ist. 2002 gab es im Repräsentantenhaus 1.177 Ausschussassistenten, im Senat 805. Diese Zahlen beziehen sich nur auf die ständigen Ausschüsse. Dabei ist die Zahl der Mitarbeiter je nach Ausschuss verschieden, reicht im Repräsentantenhaus von 148 beim Haushaltsausschuss bis zu elf beim Ethikausschuss, beim Senat von 91 beim Haushaltsausschuss bis zu 16 beim Ausschuss für Angelegenheiten der Kriegsveteranen.
Auch um die Ausschüsse und Unterausschüsse legen sich wiederum Politiknetzwerke, issue networks, zu denen außer den Parlamentariern Abgesandte exekutiver Behörden, Vertreter von Interessengruppen und die verschiedensten Fachleute gehören. Jeder Ausschuss und Unterausschuss bildet demnach für sich einen eigenen kleinen Politikkosmos. Der Kongress insgesamt stellt sich somit als fast unübersichtliches System vielfältigster Politikarenen dar.
Fraktionen und Fraktionsführungen
Im Unterschied zu westeuropäischen parlamentarischen Regierungssystemen gibt es im Kongress kaum Fraktionsdisziplin. Im Grunde können die Abgeordneten ihrem Gewissen folgen - oder den Interessen ihres Wahlkreises. Wenn sie mögen, können aber auch ihre Partei oder der Präsident Richtschnur ihres Verhaltens werden. Lediglich in einem Punkt gibt es Abstimmungsdisziplin entlang der Parteizugehörigkeit, dann nämlich, wenn das Parlament sich geschäftsordnungsmäßig konstituiert und seinen Präsidenten und die Ausschussvorsitzenden wählt. In politikinhaltlichen Fragen existiert dagegen kein Fraktionszwang. Ein US-amerikanischer Abgeordneter kann sich nicht hinter seiner Fraktion verstecken, wie dies gelegentlich Bundestagsabgeordnete tun, wenn sie im Wahlkreis oder von Verbandsvertretern kritisiert werden. Der Hinweis auf die geforderte Fraktionsdisziplin hilft in Washington D.C. überhaupt nicht. Der schützende Filter der Fraktion fehlt. Der Einfluss des Wahlkreises und der Interessengruppen wirkt direkt auf den US-amerikanischen Parlamentarier ein.
Seit Mitte der neunziger Jahre ist die Abstimmungskohärenz in beiden Häusern des Kongresses allerdings deutlich gestiegen. Dies hat seine Ursache in der politischen und gesellschaftlichen Polarisierung zwischen den Parteien, in ihrer zunehmenden Ideologisierung. Der Höhepunkt wurde auch hier unter Newt Gingrich erreicht, der mit seinem Contract with America ein prägnantes konservatives Programm für die Republikaner formuliert hatte. Die parteiliche Geschlossenheit ist heute soweit gediehen, dass fast 90 Prozent der Abgeordneten ihrer Parteilinie folgen. Im Impeachmentverfahren gegen Clinton stimmten sogar 92 Prozent mit ihrer Partei. Nach der Berücksichtigung der Interessen des Wahlkreises ist die Parteizugehörigkeit heute der zweitwichtigste Faktor bei Entscheidungen der einzelnen Abgeordneten.
Dabei spielen die "Fraktionen" - bei den Demokraten caucus, bei den Republikanern conference genannt - durchaus eine gewisse Rolle. Sie sind zunächst nichts anderes als Diskussionsforen zu aktuellen, zur Entscheidung anstehenden politischen Fragen. Empfehlungen zur Abstimmung können ausgesprochen werden, sie sind aber nicht verpflichtend. Früher tagten caucus und conference unregelmäßig und in größeren Abständen, heute sind wöchentliche Treffen nicht ungewöhnlich, was wiederum die gewachsene Bedeutung der Parteien im Parlament illustriert.
Der caucus bzw. die conference wählt die Fraktionsführung. Der Führer der Mehrheitspartei im Repräsentantenhaus bekommt das Amt des Parlamentspräsidenten, des Speakers, und führt es durchaus parteilich aus. Im Senat ist bekanntlich der Vizepräsident formal Parlamentspräsident, so dass von der Mehrheitspartei der Majority Leader gekürt wird. Die Minderheit wählt die Minority Leaders. Den Fraktionsspitzen stehen whips zur Seite, Fraktions-"Einpeitscher", deren Aufgabe darin besteht, die Parteikollegen möglichst auf die von caucus oder conference vorgegebene Parteilinie einzuschwören.
Der Speaker of the House, der Parlamentspräsident des Repräsentantenhauses, hat die größte Autorität. Er übt entscheidenden Einfluss darauf aus, wer Vorsitzender eines Ausschusses oder Unterausschusses wird oder was auf die Tagesordnung des Repräsentantenhauses gesetzt wird. Gehört er der gleichen Partei wie der Präsident an, dann versteht er sich in der Regel als Verbindungsmann zum Weißen Haus und versucht, die Politik des Präsidenten im Parlament durchzusetzen. Gehört er der Gegenpartei an, sieht er sich als den eigentlichen Gegenspieler des Präsidenten. So fand 1994/95 ein medieninszeniertes Duell zwischen dem Republikanischen Speaker Newt Gingrich und dem Demokratischen Präsidenten Bill Clinton statt. Trotz der Stärkung der Fraktionsspitze sind ihr dennoch Grenzen gesetzt, denn die Abgeordneten fühlen sich, wie gesagt, primär - auch aus Gründen ihres politischen Überlebens und ihrer Wiederwahl - den Wählerinnen und Wählern ihres Wahlkreises verpflichtet, nicht ihrer Partei.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten der Präsident und die Mehrheiten im Kongress häufig unterschiedlichen Parteien an. Der Chef der Exekutive bekam in einer solchen Situation stärkeren politischen Widerstand zu spüren. Genau das ist aber im US-amerikanischen System der Gewaltenteilung so gewollt, Machtanhäufung soll vermieden werden. Die Wählerinnen und Wähler in den USA haben diese Tendenz durch ihr Wahlverhalten befördert. Durch ihre Stimmabgabe sind die Verfassungsorgane häufig an verschiedene Parteien gefallen. Dies wird mit dem Begriff split government bezeichnet. Unified government, die Situation in der ersten Amtszeit von George W. Bush, in der Präsidentenamt und beide Häuser in der Hand der Republikaner lagen, ist eher untypisch.
Es entspricht ebenfalls diesem Verständnis von Gewaltenteilung, dass der Präsident - Krisen- und Kriegszeiten ausgenommen - größte Mühe hat, seine von ihm geförderten und unterstützten Gesetzesvorlagen durch den Kongress zu bekommen, in beiden Häusern Mehrheiten für sie zu finden. Reagan war nachgerade ein Genie darin, im Kongress Abstimmungskoalitionen für sich zu zimmern. So hat er 1981, im ersten Jahr seiner Amtszeit, 82,3 Prozent "seiner" Gesetze durchgebracht, 1986 aber sackte die Erfolgsquote auf 27,6 Prozent ab. George Bush sen. hat insgesamt nur eine Erfolgsquote von 51,6 Prozent vorzuweisen gehabt, Bill Clinton immerhin 57,6 Prozent. Diese Daten messen allerdings nicht, welche Gesetzentwürfe ein Präsident nicht einbringen lässt oder zu welchen Vorlagen er sich nicht äußert, weil er für seine Position im Kongress sowieso keine Mehrheit erwarten kann.
Informelle Zusammenschlüsse
Der Kongress wird auch durch die höchst unterschiedlichen Interessen fragmentiert, die entweder von außen auf ihn einwirken oder unter seinen Abgeordneten vertreten sind. So haben sich Abgeordnete mit gleichen regionalen, ethnischen oder wirtschaftlichen Interessen zu informellen Gruppen zusammengeschlossen, zu so genannten caucuses. Da gibt bzw. gab es im Repräsentantenhaus den New England Congressional Caucus, die Conference of Great Lakes Congressmen und den Congressional Sunbelt Caucus, ferner den Black Caucus, den Hispanic Caucus und den Womens Caucus, schließlich den Steel Caucus, den Textile Caucus oder den Mushroom Caucus (ein Zusammenschluss jener Abgeordneten, in deren Wahlkreis Champignons gezüchtet werden, deren Produktion dort also einen ökonomischen Faktor darstellt). Bis 1994 waren derartige Gruppen als Legislative Service Organizations anerkannt, sie erhielten Räume und Mitarbeiter vom Kongress. Die Republikanische Mehrheit untersagte 1994 derartige Unterstützung. Einige Gruppen existieren aber informell weiter und werden von den einzelnen Parlamentsmitgliedern finanziert. Die Interessengruppen, die von außen auf die Abgeordneten einwirken, haben die Zahl ihrer Lobbyisten in den letzten Jahrzehnten enorm erhöht. Sie wirken in jenen Netzwerken mit, die oben als issue networks, als nach außen relativ abgeschottete Politikarenen beschrieben wurden. Zudem gehen die Verbände in die Wahlkreise, betreiben Grass Roots Lobbying, üben Druck von unten auf die Parlamentarier aus. Außerdem haben Unternehmen, Unternehmensverbände, Gewerkschaften und andere Interessengruppen und Vereine Wahlkampfkomitees eingerichtet, Political Action Committees, deren Ziel das Einwerben und Verteilen von Wahlkampfspenden ist, um so bestimmte Kandidierende finanziell und organisatorisch zu unterstützen oder zu bekämpfen. Die Abgeordneten stehen zuweilen vor der schier unlösbaren Herausforderung, den Bedürfnissen ihrer Wahlkreise und zugleich den Interessen der Verbände nachzukommen, von denen sie Spenden für ihre Wahlkämpfe erhalten haben.
Heillos fragmentiert?
Ist der Kongress heillos fragmentiert, zur Politikformulierung unfähig? Dies mag zuweilen der äußere Anschein sein. In der politischen Wirklichkeit jedoch wird innerhalb des Kongresses und zwischen Kongress und Präsidentenamt bzw. Exekutive permanent verhandelt, wird nach Kompromissen und Konsens gesucht, wird argumentiert, überzeugt, Druck und Gegendruck ausgeübt. Das Ergebnis dieser permanenten Auseinandersetzung, dieses ständigen Machtkampfs ist dann die Bundespolitik, die zuweilen widersprüchlich erscheint und dies auch ist, da Ergebnis gegensätzlicher Einflüsse. Der Kongress kann dem Präsidenten Gesetze zur Ausführung aufzwingen, die seinen eigenen politischen Absichten widersprechen.
Es sei wiederholt: Der Kongress ist halbsouverän, er stellt eine vom Regierungschef klar abgetrennte Institution dar. Und nur punktuell sind die Gewalten miteinander verschränkt. Exekutive und Legislative sind aber voneinander abhängig. Die Zusammenarbeit von Kongress und Präsident findet dabei unter dem Vorbehalt jederzeit möglicher Aufkündigung, Blockade und gegenseitigen Vetos statt - bis hin zum Politikstillstand.
Und der einzelne Senator und Repräsentant muss die unterschiedlichen Einflüsse, Interessen und Bedürfnisse bedenken und berücksichtigen, wenn er entscheidet und abstimmt. Da sind die Wählerinnen und Wähler in seinem Wahlkreis oder im Einzelstaat; der Präsident tut seinen Willen und seine Absicht kund; die Partei meldet ihre Ansprüche an; die Interessengruppen üben Druck aus; die eigenen Mitarbeiter reden auf ihren Boss ein. Und schließlich gilt es, den politischen Sachverhalt selbst zu würdigen, nämlich eine Gesetzesvorlage, einen Haushaltsentwurf, einen Personalvorschlag oder die Kritik an einer Behörde. Da gibt es keine Parteien im Parlament, die die Abgeordneten unter das sanfte Joch der Fraktionsdisziplin zwingen - und auch keine Partei, die Präsidentenamt und Kongressmehrheit zu einer politischen Akionseinheit verbinden würde. Der einzelne Abgeordnete und Senator ist ganz auf sich gestellt. | Article | Peter Lösche | 2022-02-05T00:00:00 | 2011-11-24T00:00:00 | 2022-02-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/10649/kongress-fragmentierte-legislative/ | Welche Aufgaben und Rechte hat der amerikanische Kongress, der aus Repräsentantenhaus und Senat besteht? Wie wird er gewählt, aus welchen Mitgliedern setzt er sich zusammen? | [
"USA",
"Politisches System der USA",
"US-Kongress",
"Legislative"
] | 211 |
Zahlen und Fakten | Lateinamerika | bpb.de | Fläche
108.889 km2 (Weltrang: 103) Einwohner
13.348.000 = 123 je km2 (F 2007, Weltrang: 68) Hauptstadt
Guatemala (Guatemala-Stadt) Amtssprachen
Spanisch Bruttoinlandsprodukt
39 Mrd. US-$ realer Zuwachs: 4,0% Bruttosozialprodukt (BSP, pro Einwohner und Jahr)
2450 US-$ Währung
1 Quetzal (Q) = 100 Centavos Botschaft
Botschaft der Republik Guatemala Joachim-Karnatz-Allee 47, 10557 Berlin Telefon 030 2064363, Fax 030 20643659www.botschaft-guatemala.de Regierung
Staats- u. Regierungschef: Álvaro Colom Caballeros, Äußeres: Haroldo Rodas Melgar Nationalfeiertag
15.9. Verwaltungsgliederung
22 Departamentos Staats- und Regierungsform
Verfassung von 1986PräsidialrepublikParlament: Nationalkongress (Congreso Nacional) mit 158 Mitgl., Wahl alle 4 J.Direktwahl des Staatsoberhaupts alle 4 J.Wahlrecht ab 18 J. Bevölkerung
GuatemaltekenF 2007: 13.348.000 Einw. letzte Zählung 2002: 11.237.196 Einw.ca. 60% Indigene (u.a. Maya-Quiché, Mames, Cakchiqueles, Kekchi) 30% Mestizen (Ladinos) Schwarze, Mulatten, Zambos und Weiße Städte (mit Einwohnerzahl)
(Stand 2002) Guatemala 942.348 Einw., Mixco 403.689, Villa Nueva 355.901, San Juan Sacatepéquez 152.583, San Pedro Carchá 148.344, Cobán 144.461, Quezaltenango 127.569, Escuintla 119.897, Jalapa 105.796, Totonicapán 96.392 Religionen
60% Katholiken, 30-40% Pfingstkirchen und charismatische Gemeinden (Stand: 2006) Sprachen
Spanisch Maya-Quiché-Sprachen Erwerbstätige nach Wirtschaftssektor
Landwirtsch. 39%, Industrie 20%, Dienstl. 38% (2002) Arbeitslosigkeit (in % aller Erwerbspersonen)
Ø 2008: 3,2% offiziell hohe Unterbeschäftigung Inflationsrate (in %)
Ø 2008: 11,4% Wichtigste Importgüter (Anteil am Gesamtimport in %)
20% Mineralien, 15% Maschinen, 13% chemische Erzeugnisse, 13% Kunststoff- u. Kautschukprodukte, 9% Textilien, 8% Transportmittel, 8% Metalle u. Metallverarbeitungen Wichtigste Exportgüter (Anteil am Gesamtexport in %)
20% Bekleidung, 8% Kaffee, 5% Zucker, 5% Bananen, 4% Früchte u. Fruchtzubereitungen, 4% Erdöl, 3% chemische Erzeugnisse Quelle: Der Fischer Weltalmanach. © Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-02T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2022-02-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/mittel-suedamerika/lateinamerika/44757/zahlen-und-fakten/ | Guatemala im statistischen Überblick, alle wichtigen Zahlen und Fakten zu Demografie, Politik und Wirtschaft auf einen Blick. | [
"Lateinamerika",
"Guatemala",
"Zahlen und Fakten",
"Demografie",
"Politik und Wirtschaft",
"Guatemala"
] | 212 |
Umkämpftes Erinnern | Rechte Gewalt in den 1990er Jahren | bpb.de | Am 22. Februar 2020, drei Tage nach dem rassistischen Anschlag in Hanau, verlasen auf dem dortigen zentralen Freiheitsplatz Angehörige und Freund:innen von einer eigens für die Großkundgebung errichteten Bühne die Namen der neun Mordopfer. Tausende sprachen ihnen laut nach: "Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin". Dieses Gedenkritual wurde innerhalb weniger Wochen unter dem Hashtag #SayTheirNames zum erinnerungspolitischen Imperativ antirassistischer Initiativen und migrantischer Selbstorganisationen. Die Aufforderung, sich die Namen der Ermordeten einzuprägen, sollte verhindern, dass sie als namenlose Opfer und als Fremde dem gesellschaftlichen Vergessen anheimfallen würden, und an das Leben erinnern, das sie geführt hatten.
In der Tatnacht waren die Familien der Opfer von der Polizei in einer Turnhalle untergebracht worden, wo sie ohne seelischen Beistand, ohne Betreuung und ohne Versorgung hatten ausharren müssen, bis schließlich ein Beamter die Namen der Verstorbenen von einem Zettel abgelesen hatte – als amtsdienstliche Information, die mit dem Satz endete: "Die haben es nicht geschafft." Dieser Zettel war eine Notiz zum Wegwerfen gewesen und mit ihr die Namen der Opfer. Die traumatisierten Familien waren in die Nacht geschickt und sich selbst überlassen worden.
Am Abend darauf, dem 20. Februar, hatten der Bürgermeister von Hanau, der Ministerpräsident von Hessen und der Bundespräsident ihre Erschütterung über die "unbegreifliche Tat" geäußert, ebenfalls auf einer Bühne auf dem Freiheitsplatz. Dem Vater von Ferhat Unvar wurde indes der Zugang zum Mikrofon mit der Begründung verwehrt, die Bühne sei voll. Ministerpräsident Volker Bouffier, der auf der Bühne sein Beileid bekundete, hatte keine zwei Jahre zuvor die Prüfberichte des hessischen Verfassungsschutzes zu den NSU-Ermittlungen für 120 Jahre als Geheimsache unter Verschluss genommen und somit die Forderungen nach Aufklärung der Angehörigen der Mordopfer der rechtsextremen Terrorgruppe in den Wind geschlagen. Die Angehörigen in Hanau wussten also, dass sie das Erinnern selbst organisieren mussten.
2022/1992
Seit dem "Sommer der Migration" 2015, als fast eine Million Menschen nach Deutschland kamen, häufen sich Brand- und Sprengstoffanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte, Mordanschläge auf Migrant:innen wie am Olympia-Einkaufszentrum in München 2016, in Halle 2019 oder in Hanau 2020, ebenso Angriffe auf Geflüchtete wie in Chemnitz 2018, aber auch Anschläge auf Politiker:innen, die als zu liberal in der Einwanderungspolitik gelten, wie die Messerattacke auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker 2015 oder der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019. Erst im Oktober 2022 wurde im sächsischen Bautzen kurz vor Inbetriebnahme eine Flüchtlingsunterkunft angezündet, wenige Tage zuvor eine weitere in Groß Strömkendorf in Mecklenburg-Vorpommern.
Viele Jüngere mit Migrationsgeschichte erinnert diese Welle der Gewalt an die 1990er Jahre, die sie selbst gar nicht erlebt haben, als es getragen von einer in Teilen hegemonialen rechten Jugendkultur, täglich zu rassistischen Angriffen kam und auch zu vielen Toten. 1992 starben fast 30 Menschen durch die Gewalt von Neonazis. Allein im September 1992, also nur wenige Tage nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, wurden 151 Schüsse, Brand- und Sprengstoffanschläge auf Unterkünfte von Asylbewerber*innen verübt. Mit dem Begriff "Baseballschlägerjahre" hat diese Zeit einen eigenen Namen bekommen, der die ständige Bedrohung andeutet.
Die allermeisten Angriffe aus den frühen 1990er Jahren sind undokumentiert, unaufgeklärt und ungesühnt. Allein für die 1.129 erfassten rechtsextremen Brandanschläge zwischen 1990 und 1992 liegt die Aufklärungsrate unter 20 Prozent. Die rechte Szene kann auf eine Kultur der Straflosigkeit zurückblicken. Das zeigte sich etwa 2018 bei den gewalttätigen Ausschreitungen in Chemnitz, als dieselbe Generation am Werk war wie 1992 vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen.
Lücke im Narrativ zur deutschen Einheit
Obwohl 1989/90 kaum jemand die Überwindung der Blockkonfrontation bedauerte, stellte die deutsche Vereinigung für viele Menschen hierzulande eine unmittelbare Prekarisierung und Bedrohung ihrer Existenz dar. Es kam zu massenhaften Entlassungen migrantischer Arbeitnehmer:innen in der westdeutschen Industrie, und viele der fast 100.000 ehemaligen Vertragsarbeiter:innen in Ostdeutschland wurden unmittelbar nach dem Mauerfall abgeschoben oder durch Entlassungen und Rückkehrprämien zur Ausreise gedrängt. Von den Ende 1989 rund 60.000 vietnamesischen und 15.000 mosambikanischen Vertragsarbeiter:innen lebten ein Jahr später nur noch etwa ein Drittel bis ein Fünftel in Ostdeutschland. Im nationalen Taumel des Mauerfalls gingen ökonomischer Druck, massive Entrechtung und grundlegende Anfeindungen mit alltäglichem sowie strukturellem Rassismus einher, den all jene zu spüren bekamen, die nicht zur "nationalen Gemeinschaft" gezählt wurden. Auch wenn diese Gewalt von den Betroffenen sehr früh gesehen und in ihrer Bedeutung verstanden wurde, spielte ihre Perspektive im vorherrschenden Narrativ zur deutschen Einheit keine Rolle. Eine systematische Geschichtsschreibung zum Mauerfall, die sich der Perspektive von Migrant:innen, von Juden und Jüdinnen, von Rom:nja und Sinti:zze, von ehemaligen Gastarbeiter:innen, von internationalen Studierenden, von Vertragsarbeiter:innen, von Schwarzen Deutschen, von Geflüchteten und Asylsuchenden verschrieben hat, ist bis heute bruchstückhaft.
Zwar dokumentierten und thematisierten vor allem antifaschistische Gruppen und Archive wie das Berliner Apabiz oder die Münchner a.i.d.a. die Gewaltverbrechen im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses. Ohne die Anerkennung migrantisch situierter Geschichte blieben die damaligen Dynamiken jedoch weitestgehend unverstanden.
Bereits früh war bekannt, wie in den 1990er Jahren von "Überfremdung" und "Asylantenschwemme" berichtet worden war, wie Politiker:innen mit der Rede von der "Überschreitung der Belastungsgrenze durch Asylmissbrauch" Verständnis für die rassistische Gewalt signalisiert hatten und die Bundesregierung noch während des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen die Grundgesetzänderung zur Abschaffung des Rechts auf individuelles Asyl auf den Weg gebracht und wenige Wochen später ein Abkommen mit Rumänien zur erleichterten Abschiebung von vor allem Rom:nja abgeschlossen hatte. Die Geschichte der Migration als soziale Gesellschaftsgeschichte kam in dieser Perspektive jedoch nicht vor beziehungsweise wurde nicht ins Verhältnis zur rassistischen Gewalt gesetzt. Der scheinbar ahistorisch gegebene Rassismus von Neonazis bedurfte keiner weitergehenden Beschäftigung mit den realen Lebensgeschichten derjenigen, die angegriffen wurden. Migrant:innen wurden auf die Rolle von Opfern reduziert.
Die transgenerationale kollektive Gewalterfahrung in den migrantischen Communities, die seit jeher eng verknüpft war mit ihrem Kampf um soziale und politische Rechte, um Würde und gesellschaftliche Zugehörigkeit, wurde aus einer antifaschistischen Perspektive nicht in den Blick genommen und damit die Möglichkeit verbaut, die Funktionalität rassistischer Gesellschaftsformierung zu verstehen. Dass sich die Geschichte der beiden deutschen Staaten – und in verdichteter Form ihrer Vereinigung – politisch, ökonomisch und ideologisch auf dem Rücken der Migrant:innen vollzogen hatte, konnte mit der Fokussierung auf rechte Gewalt nicht gesehen werden. Die Frage der Zugehörigkeit, die sich im Übergang zu den 1990er Jahren in der jüngeren migrantischen Generation, aber ebenso bei jüngeren Schwarzen Deutschen, mit Vehemenz neu stellte, war jedoch das entscheidende Moment, auf das der Rassismus der "Baseballschlägerjahre" mit extremer Gewalt reagierte.
Transgenerationale Aufarbeitung
Die Schwierigkeit einer migrantisch situierten Geschichtsschreibung über die 1990er Jahre lag auch darin begründet, dass 1989/90 eine Zäsur war, die den Blick auf die ältere Migrationsgeschichte verstellte. Im Sinne einer Unterbrechung der Erinnerung war die deutsche Vereinigung ein historisches Trauma auch für die Nachkommen der Gastarbeiter:innen, die die Geschichte ihrer Eltern nicht kannten und diese oftmals als duldsam und schweigend erlebten. Ohne ein Verständnis für die Geschichte der Einwanderung musste die extreme Gewalt gegen die eigenen Lebenszusammenhänge unbegreifbar bleiben. Diese Unterbrechung führte dazu, dass vor dem Hintergrund der täglichen Angriffe in den frühen 1990er Jahren viele aus der gerade erwachsen gewordenen zweiten Eingewandertengeneration sich aus einer Position der Selbstverteidigung heraus als "fremd" markierten und in eine Identitätsfalle gingen. Als "Fremd im eigenen Land", wie die Gruppe Advanced Chemistry 1992 rappte, wurden sie zum Gegenpart innerhalb der gesellschaftlichen Spaltung, die sich im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess vertieft hatte.
Andererseits waren die Kinder der ehemaligen Gastarbeiter:innen in den hiesigen Kiezen und Stadtteilen aufgewachsen und fühlten sich auf eine neuartige Weise zugehörig beziehungsweise "behaymatet". Aus der Erfahrung, in der alten Heimat als Deutsche gesehen, in Deutschland aber als "Ausländer" behandelt zu werden, erwuchs eine hybride Position, aus der nach einem Jahrzehnt der Auseinandersetzung um Rassismus, Zugehörigkeit und Identität am Übergang zum neuen Millennium ein neues postmigrantisches Subjekt hervorging. Dieses gehörte nicht zu einer eindeutig anderen Kultur, lehnte aber auch die Vorstellung von Integration als falschem Versprechen ab und nahm bewusst eine dritte Position ein.
Für die neu gestellte Frage der eigenen Verortung begann diese Generation, die historische Zäsur des Mauerfalls zu überwinden und ihre Eltern nach deren Geschichte zu befragen. Diese transgenerationale Auseinandersetzung eröffnete den historischen Blick auf die 1960er bis 1980er Jahre und lieferte der zweiten Generation erstmals eine Vorstellung von frühen Arbeitskämpfen wie den wilden Streiks zwischen 1969 und 1973, von migrantischen Hausbesetzungen und Mietstreiks sowie der Schaffung eigener Kieze in den verfallenen Innenstädten, von Bemühungen um gerechte Bildungschancen für Kinder, um Staatsbürgerrechte wie dem kommunalen Wahlrecht und um das Bleiberecht politischer Flüchtlinge aus der Türkei und Iran sowie von den Kämpfen gegen die systematische Diskriminierung im Rahmen des damals geltenden Ausländerrechts.
Diese kollektive Aufarbeitung füllte das gesellschaftliche Schweigen mit unzähligen unüberhörbaren Stimmen, die Eingang fanden in kulturelle Formate und allmählich die ersten Archive schufen, aus denen sich dieses migrantisch situierte Wissen schließlich auch wissenschaftlich verdichtete. Ende der 1990er Jahre wurde von vielen jungen migrantischen Filmemacher:innen eine neue Standortbestimmung des deutschen Films eingefordert, in der Literatur entwickelte sich eine neue postmigrantische Sprache, und viele Theater wurden zu Laboratorien dieser neuartigen postmigrantischen Kultur, während migrantischer HipHop die Jugendsprache eroberte. Netzwerke wie Kanak Attak verkündeten "No Integration!", beendeten die Dialogkultur mit der Mehrheitsgesellschaft und verfassten 1998 ein Manifest, das vielleicht als erste postmigrantische Selbstverortung gelesen werden kann.
Mit der Ausstellung "Projekt Migration" 2005 in Köln wurden diese frühen Erzählungen systematisiert, und es folgten erste Dissertationen zur Geschichte der Einwanderung und ihrer Kämpfe sowie zu neuen Theoriedebatten um Rassismus und poststrukturalistische und intersektionale Konzepte von Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Debatten um den Begriff "Multitude" lösten homogene Vorstellungen von autochthonen Bevölkerungen und ihrem verworfenen Anderen auf, ebenso monolithische Erzählungen von Herrschaft und Subalternität oder von Zentrum und Peripherie. Einst kleine lokale Archive wie das Kölner DOMiD entwickelten sich zu zentralen Registern der historischen Migrationsforschung und stehen heute kurz davor, als Museen Migrationsgeschichte kanonisch zu machen. Erste Professuren und Forschungsnetzwerke wie Kritnet entstanden. Kurzum: Die unterbrochene Erinnerung an die (post)migrantische Transformationsgeschichte dieses Landes wurde von den Nachkommen der Migrant:innen, von jüngeren Schwarzen Deutschen und von einer jüdischen Post-Wende-Generation in Auseinandersetzung mit ihren Eltern, durch kulturelle Interventionen, durch Sichtbarmachung und Systematisierung und schließlich durch Institutionalisierung fortgeführt und zu einer neuen Vision einer inklusiven Gesellschaft verknüpft.
In Ostdeutschland besaß dieser Prozess der transgenerationalen Weitergabe eine andere Zeitlichkeit, ordnet sich aber ebenfalls in die Überwindung der gewaltvollen Unterbrechung ein, die die ehemaligen Vertragsarbeiter:innen und ihre Nachkommen mit dem Mauerfall erleben mussten. Hier fand die "Entdeckung" der Geschichte der Elterngeneration auf ganz ähnliche Weise statt wie im Westen, allerdings 20 Jahre später. Zwar hatte es mit Polen und Ungarn auch bereits in den 1960er Jahren erste Anwerbeabkommen gegeben, jedoch war die Arbeitsmigration in die DDR im größeren Maße erst ab den 1970er und 1980er Jahren angelaufen, namentlich aus Algerien, Kuba, Mosambik, Vietnam und Angola; hinzu kamen in den 1970er Jahren politische Flüchtlinge vor allem aus Chile. Vor einigen Jahren begannen im Osten die jetzt erwachsen gewordenen Nachkommen der Vertragsarbeiter:innen – aufgrund des verwehrten Familiennachzugs und der erzwungenen Rückkehr oftmals vaterlos aufgewachsene Kinder binationaler Ehen –, die Geschichte ihrer Eltern sichtbar werden zu lassen, nicht zuletzt für sich selbst. Der gegenwärtig zu beobachtende migrationshistorische "Aufbruch Ost" zeugt von einem heterotopischen Begehren, das strukturell der Geburt des Postmigrantischen in Westdeutschland zu Beginn der 2000er Jahre ähnelt.
Migrantischer Perspektivwechsel
Die Aufarbeitung der Vergangenheit und die damit einhergehende Eroberung kultureller wie akademischer Sprechpositionen ab den späten 1990er Jahren schufen allmählich einen Resonanzraum für die Perspektive von Opfern rassistischer Gewalt. Die Transformation zu einer postmigrantischen Gesellschaft fand indes unter den Bedingungen der Kontinuität rassistischer Angriffe und struktureller Entrechtung statt. In dem für demokratisches Gelingen grundlegenden doppelten Axiom von Recht und Repräsentation fand vor allem im Letzteren ein großer Paradigmenwechsel statt, wie sich an allgegenwärtigen Diversity-Kampagnen zeigt. Auf der Ebene der Gleichstellung von Migrant:innen, von Schwarzen Menschen, von Geflüchteten oder von Rom:nja und Sinti:zze ist hingegen wenig geschehen. Angesichts fehlender Rechte von Geflüchteten, ihrer über Jahrzehnte fortgesetzten Unterbringung in menschenunwürdigen Lagern, der Praxis der Abschiebung, der Militarisierung der Grenzregime und dem Sterbenlassen an den europäischen Außengrenzen, angesichts faktischer Segregation im Schulwesen und mangelnder Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, der Persistenz rechter Netzwerke in Ermittlungsbehörden, fehlender Antidiskriminierungsgesetze und juristischer Untätigkeit gegenüber rechten Netzwerken sowie mangelnder politischer Partizipationsmöglichkeiten, etwa durch die Gebundenheit des Wahlrechts an die Staatsbürgerschaft und nicht an den Lebensmittelpunkt, kann von demokratischer Gleichbehandlung der hier lebenden Bevölkerung nicht die Rede sein.
In zivilgesellschaftlicher Hinsicht hat sich in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland allerdings vieles grundlegend verändert und steht in einem zunehmenden Gegensatz zu den behördlichen Beharrungskräften und dem staatlichen Handeln. Rassismus wird mittlerweile auf breiter zivilgesellschaftlicher Ebene thematisiert und bekämpft, wobei den Betroffenen eine zentrale Rolle zugesprochen wird. Dies war bis vor wenigen Jahren undenkbar, trotz des Engagements der Angehörigen.
So nahmen die Familien der Opfer des NSU von Beginn an zahlreiche Anstrengungen auf sich, um die Ermordeten durch öffentliches Gedenken in das gesellschaftliche Gedächtnis einzuschreiben. Auf einer zentralen Demonstration nur wenige Wochen nach den beiden Morden an Mehmet Kubaşık in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel am 4. beziehungsweise 6. April 2006 trugen die Teilnehmenden die Porträts der neun ermordeten Männer an der Spitze des Protestzuges. Sie machten auf das rassistische Motiv hinter der Mordserie aufmerksam, das noch jahrelang von den Behörden, der Politik und den Medien geleugnet werden sollte, und machten mit dem körpernahen Tragen der Fotos zusammen mit der Parole "Wir lassen euch nicht allein!" in türkischer Sprache die Toten als unverbrüchlichen Teil der eigenen Community sichtbar. Im Gegensatz zu dem Aufruf #SayTheirNames, der das Erinnern zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe machte, waren die betroffenen Familien im NSU-Komplex isoliert. Zwar appellierten die Familien Yozgat und Kubaşık an den Staat, die Täter endlich festzunehmen, doch war die Trauer auf die eigene Community beschränkt und wurden alle Hinterbliebenen von den Ermittlungsbehörden und der Presse weitere fünf Jahre als Täter:innen stigmatisiert und kriminalisiert.
Jahre zuvor hatten sich die Überlebenden des Pogroms von Hoyerswerda 1991 organisiert und die Angriffe thematisiert, und wenige Tage nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 hatten die überlebenden Vietnames:innen den Verein Diên Hông gegründet, der bis heute eine maßgebliche Rolle in der Aufarbeitung der Ereignisse spielt. Ebenso erinnert Izabela Tiberiade, Tochter eines überlebenden Rom, an die antiziganistische Dimension der Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen. Ibrahim Arslan, der 1992 als Kind den Brandanschlag in Mölln knapp überlebte, kämpft seit vielen Jahren für das Erinnern an seine ermordete Cousine Ayşe Yilmaz, seine Schwester Yeliz sowie an seine Großmutter Bahide Arslan. Und die 2022 verstorbene Mevlüde Genç hielt über drei Jahrzehnte die Erinnerung an ihre in Solingen ermordeten Töchter Gürsün İnce und Hatice Genç, an ihre Enkeltöchter Hülya und Saime Genç und an ihre Nichte Gülüstan Öztürk wach.
Erst die Erinnerung an die eigene Geschichte machte begreifbar, worauf der Rassismus strukturell, alltäglich oder gar terroristisch zielte, und war deswegen für das Aufarbeiten der erfahrenen Gewalt grundlegend. So bot etwa Mitat Özdemir, Überlebender des Nagelbombenanschlags des NSU auf der Kölner Keupstraße 2004, eine der wenigen Analysen für die umfassende Gewalt des NSU-Komplexes, die mit der Mord- und Anschlagsserie, der behördlichen Opfer-Täter-Umkehr und der medialen Stigmatisierung der Betroffenen die migrantischen Lebensrealitäten in diesem Land über viele Jahre angreifbar machte. Auf dem zivilgesellschaftlichen NSU-Tribunal 2017 in Köln schilderte er die Geschichte des einstigen Arbeiterstadtteils in Köln-Mülheim und speziell der Keupstraße, die ehemalige migrantische Industriearbeiter:innen instandgesetzt und zu einer Laden- und Geschäftszeile entwickelt hatten, die zum Stolz der türkeistämmigen Bevölkerung in ganz Nordrhein-Westfalen geworden war, und wie die Bombe sowie die nachgelagerte behördliche, politische und mediale "Bombe nach der Bombe" die Emanzipationsbewegung und die ökonomische Konsolidierung der einstigen Gastarbeiter:innen destabilisiert und gedroht hatte, aus der Keupstraße ein zu meidendes Getto zu machen – und ihre Bewohner:innen erneut zu Fremden.
Diese Erinnerungen sind nicht nur von multiperspektivischen Geschichten geprägt, sondern auch von vielfältigen und widersprüchlichen Emotionen. Gerade dort aber, wo die Mechanismen von Rassismus, Missachtung und Entrechtung die Erinnerungen an die Vergangenheit unterbrechen, ist auch ihre Verarbeitung strukturell verunmöglicht. Auf der Suche nach Gerechtigkeit und im Kampf um Anerkennung versuchen nachkommende Generationen daher oftmals lebenslang und teilweise unbewusst zu lösen, was für die Eltern- und Großelterngeneration unaussprechbar bleiben musste, weil der gesellschaftliche Raum der Reflexion und Empathie nicht gegeben war. Das transgenerationale Erinnern spielt dabei stets eine doppelte Rolle, da das Wissen um die Kämpfe der Älteren eine gesellschaftliche Neupositionierung der Jüngeren erlaubt, so wie auch die Geschichten der Jüngeren den Älteren ermöglichen, ihr Erlebtes neu zu bearbeiten.
Gerade das offensive Moment in der Erinnerung an die Geschichte rassistischer Gewalt hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert, etwa wenn das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen nicht nur als passiv erlebte Katastrophe erzählt wird, sondern mittlerweile die Gegenwehr der angegriffenen Vietnames:innen hervorgehoben wird. Und auch das Beispiel der Keupstraße zeigt, dass hier keine unerklärliche Gewalt aus dem Nichts eine passive Community getroffen hat, sondern dass die Nagelbombe ein Angriff auf die erkämpfte Zugehörigkeit und die heterogene Prägung unserer Städte bedeutete, in der die Geschichte der Migration eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Multidirektionales Erinnern
Das migrantisch situierte Wissen in der Erinnerungsarbeit verdoppelt sich aber nicht nur transgenerational, sondern übersteigt auch die jeweils partikulare Gruppengeschichte und öffnet sich anderen Erfahrungen. Tatsächlich erinnern seit einigen Jahren viele Betroffene unterschiedlicher kollektiver Gewalterfahrungen gemeinsam an ihre Geschichten beziehungsweise erkennen ihre eigene Geschichte in den Erzählungen anderer. Diese Methode, bei der versucht wird, den Raum der Solidarität im Bewusstsein der Heterogenität in der Gesellschaft zu erweitern und damit offensiv der Gefahr einer Opferkonkurrenz zu begegnen, kann mit dem Literaturwissenschaftler für Holocaust-Studies Michael Rothberg als "multidirektionale Erinnerung" bezeichnet werden.
Das jährliche Gedenkritual der Familie Arslan zum rassistischen Brandanschlag auf ihr Wohnhaus 1992 war hierfür richtungsweisend. Im Rahmen der "Möllner Rede im Exil" teilten 2017 Ibrahim Arslan und die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano ihre Erinnerungen und erzählten, wie sie als Kinder ihre Familien durch die Gewalt von Nazis verloren und selbst knapp überlebten. 2021 wiederholte das Format diese Praxis: Newroz Duman berichtete von ihrer Fluchtgeschichte als Kind, von dem Leben in Lagern, den Abschiebungen von geliebten Menschen, dem alltäglichen Rassismus und schließlich vom Anschlag in Hanau und der unermüdlichen Arbeit, sich mit den Angehörigen und Freund:innen der Ermordeten zu organisieren, und Naomi Henkel-Gümbel wiederum berichtete von ihren Erlebnissen in der Synagoge in Halle während des terroristischen Anschlags an Jom Kippur 2019.
Als weiteres Beispiel mag die diesjährige Ausstellung "3 Doors" dienen, die in Zusammenarbeit der Hanauer Initiative 19. Februar und der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh mit dem Institut Forensic Architecture konzipiert wurde, um die offenen Fragen zur Aufklärung der Morde in Hanau 2020 und zum Tode Jallohs in Polizeigewahrsam in Dessau 2005 zu untersuchen.
Diese Beispiele multidirektionaler Erinnerung, in denen wechselseitig aus so unterschiedlichen Kontexten wie der Gewalterfahrung der Shoah, dem Rassismus in der Gastarbeiter-Ära, den sogenannten Baseballschlägerjahren, der Polizeigewalt gegen Geflüchtete, dem Neonazi-Terrorismus der 2000er Jahre und den Anschlägen von Halle und Hanau gesprochen wurde, waren weder selbstverständlich noch unproblematisch. Alle Betroffenen dieser Gewaltdimensionen waren und sind mit Blick auf staatliche Ressourcenverteilung und mediale Wahrnehmungsökonomien gegeneinander in Konkurrenz gesetzt. Dennoch gingen sie gestärkt aus ihrem gemeinsamen "öffentlichen Aufstand der Trauer" und des Erinnerns hervor.
Die unterschiedlichen Erinnerungen von Geflüchteten, Überlebenden, Opferangehörigen oder von Migrant:innen sowie von Juden und Jüdinnen verdichten sich zu einer Geschichtsschreibung, die nicht exklusiv und hierarchisch ist. In ihrer Singularität haben sie sich zu einem gemeinsamen Narrativ verwoben, das nicht weniger, sondern mehr Aufmerksamkeit für die einzelnen Positionen erzeugen und nicht Konkurrenz, sondern zukunftsorientierte Solidarität hervorrufen konnte. Dieses nicht-identitäre Erinnern ist eine Errungenschaft, die, von den exkludierten Rändern der Gesellschaft ausgehend, das erinnerungspolitische Dispositiv dieses Landes grundlegend verändert hat.
Für diesen Vorgang ließe sich der im Kontext der Holocaust-Forschung entwickelte Begriff "Postmemory" entlehnen. Vgl. Marianne Hirsch, The Generation of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York 2012.
Vgl. Im Jahr 1992 eskalierte die rassistisch motivierte Gewalt, Juli/August 2022, Externer Link: http://www.der-rechte-rand.de/archive/8537.
Vgl. Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, Rechte Brandanschläge, Straflosigkeit und Entschädigung, Pressemitteilung, 30.9.2022, Externer Link: https://verband-brg.de/wp-content/uploads/2022/09/20220930_Pressemitteilung_VBRG_Straflosigkeit_rechte-Brandanschlaege.pdf.
Vgl. Heike Kleffner/Anna Spangenberg (Hrsg.), Generation Hoyerswerda, Berlin 2016.
Vgl. Patrice Poutrus, Fremd im Bruderland. Vertragsarbeit und das Ende des Goldbroilers, in: Lydia Lierke/Massimo Perinelli (Hrsg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020, S. 277–298, hier S. 290.
Eine der wichtigsten historischen Quellen ist der Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls" des türkischen Filmemachers Can Candan von 1991, abrufbar unter Externer Link: http://www.bpb.de/305232.
Vgl. Peggy Piesche (Hrsg.), Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost, Berlin 2019.
Firat Kara/Kristina Kara (Hrsg.), Haymat. Türkisch-deutsche Ansichten, Berlin 2019.
Siehe Externer Link: http://www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html.
Siehe Externer Link: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/bild_und_raum/detail/projekt_migration.html.
Vgl. Lydia Lierke/Jessica Massochua/Cynthia Zimmermann, Ossis of Color. Vom Erzählen (p)ost-migrantischer Geschichten, in: Lierke/Perinelli (Anm. 5), S. 451–467.
Vgl. Ayşe Güleç, Vortrag auf der Soft Solidarity Assembly, 14.11.2020, Externer Link: https://youtu.be/QlhcphuYNbQ.
Siehe Externer Link: http://www.roma-center.de/izabela-tiberiade.
Siehe Externer Link: https://gedenkenmoelln1992.wordpress.com.
Vgl. Nguyen Do Thinh zit. nach Fabian Hillebrand/Vanessa Vu, Das Pogrom und wir, 13.8.2022, Externer Link: http://www.zeit.de/2022/33/rechtsextremismus-rostock-lichtenhagen-1992-pogrom.
Für die Mitschnitte siehe Externer Link: https://youtu.be/QtmmNsA3tN0 und Externer Link: https://youtu.be/327Kb0J4gkU.
Für den Mitschnitt siehe Externer Link: https://youtu.be/39oG_oOPFpk.
Kann man ein gutes Leben im Schlechten führen?, Dankesrede von Judith Butler zur Verleihung des Adorno-Preises, Frankfurt/M., 11.9.2012, Externer Link: http://www.fr.de/-11319646.html.
| Article | Perinelli, Massimo | 2023-07-07T00:00:00 | 2022-11-29T00:00:00 | 2023-07-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/rechte-gewalt-in-den-1990er-jahren-2022/515772/umkaempftes-erinnern/ | Die Perspektive der Betroffenen von rassistischer Gewalt und strukturellem Rassismus blieb im vorherrschenden Narrativ zur deutschen Einheit und im Umgang mit rechter Gewalt lange außen vor. | [
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Vergangenheit im Web 2.0 | Presse | bpb.de | Die Erinnerung an die Vergangenheit ist längst Teil der virtuellen Welt. Auschwitz bei Facebook. Anne Frank auf YouTube. Ein Tweet aus dem Holocaust Museum. Vom 14. bis 16. April findet die internationale Konferenz httpasts://digitalmemoryonthenet zur Erinnerungskultur im Netz in der Deutschen Kinemathek in Berlin statt. Sie wird ausgerichtet von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Kooperation mit der Deutschen Kinemathek und dem Medienpartner 3 Sat Kulturzeit.
Das Internet bietet inzwischen zahlreiche multimediale Angebote zur Geschichte und es werden täglich mehr. Auch in Deutschland wächst die Bedeutung des Internets als Zugang zur Geschichte. Denn wenn sich Jugendliche heute über den Nationalsozialismus oder die DDR/SED-Geschichte informieren, tun sie dies im Netz. Informationen zu "googeln" oder bei Wikipedia nachzulesen, ist selbstverständlich. Das Internet ist die wichtigste Informationsquelle der 14- bis 19-Jährigen.
Neben Kulturwissenschaftler Claus Leggewie diskutieren auf der internationalen bpb-Konferenz in Berlin namhafte Gäste vom Yad Vashem Museum in Jerusalem, dem US-Holocaust Memorial Museum in Washington oder dem Anne Frank House in Amsterdam über die Zukunft des Erinnerns. Digitale Medien prägen nicht nur die heutige gesellschaftliche Kommunikation, sie bestimmen auch zunehmend unser Verständnis der Vergangenheit und schaffen neue Formen des Erinnerns und der Vermittlung von Geschichte.
Die ganze Veranstaltung wird per Livestream übertragen. Auf www.bpb.de/digitalmemoryonthenet sind die Vorträge, Podiumsdiskussionen und Streitgespräche am Computer zu verfolgen. Interessierte können ihre Fragen an die Referenten schon vorab oder während der Konferenz an E-Mail Link: erinnerungskultur@projekt-relations.de senden. Der twitter-Hashtag lautet #digmem.
Weitere Informationen zur Veranstaltung und Anmeldung unter: www.bpb.de/digitalmemoryonthenet per Email an E-Mail Link: Huhtasaari@bpb.bund.deoder telefonisch unter +49 (0)228 99515-226.
httpasts://digitalmemoryonthenet
Zeit
14. April bis 16. April 2011 (die genauen Zeiten entnehmen Sie bitte dem Programm) Ort
Deutsche Kinemathek. Museum für Film und Fernsehen Potsdamer Straße 2 10785 Berlin Veranstalter
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Deutschen Kinemathek, 3 Sat Kulturzeit Livestream
www.bpb.de/digitalmemoryonthenet
Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (121 KB) Organisation
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49885/vergangenheit-im-web-2-0/ | Vom 14. bis 16. April findet in Berlin die internationale Konferenz "httpasts://digitalmemoryonthenet" der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Wandel der Erinnerungskultur im Netz statt. | [
"Unbekannt (5273)"
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Vor 20 Jahren: Zweiter Tschetschenienkrieg | Hintergrund aktuell | bpb.de | Mit dem Interner Link: Zerfall der Sowjetunion verlor die Zentralregierung in Moskau an Macht. Dieses Machtvakuum Interner Link: machten sich einige lokale politische Eliten zunutze – auch in Tschetschenien im Interner Link: Nordkaukasus. Die Unabhängigkeitsbestrebungen in Tschetschenien mündeten in zwei Kriegen mit Russland: dem Interner Link: Ersten Tschetschenienkrieg von 1994-1996 und dem Zweiten Tschetschenienkrieg, der am 1. Oktober 1999 begann und in dessen Verlauf die russischen Truppen wieder die Kontrolle über die Region erlangten. Im Jahr 2009 wurde der Krieg offiziell für beendet erklärt. Beide Konfliktparteien begingen schwere Interner Link: Kriegsverbrechen und Interner Link: Menschenrechtsverletzungen zu Lasten der Zivilbevölkerung.
Die Interner Link: Beziehungen zwischen Tschetschenien und Russland waren in den letzten Jahrhunderten von Unterwerfung und Widerstand bestimmt. Im Herbst 1991 stürzte eine tschetschenische Nationalbewegung um den ehemaligen sowjetischen General Dschochar Dudajew die lokale kommunistische Parteiführung in Grosny und erklärte im November 1991 die Unabhängigkeit der "Tschetschenischen Republik". Die sowjetische Führung und wenig später die Regierung der neuen Interner Link: Russischen Föderation erkannten die Unabhängigkeitserklärung nicht an.
Erster Tschetschenienkrieg
Im Jahr 1992 gab sich die Tschetschenische Republik eine Verfassung als "unabhängiger, demokratischer Staat". Nach drei Jahren anhaltender Spannungen und dem Scheitern formeller und informeller Verhandlungen über die Zukunft Tschetscheniens entschied sich der Sicherheitsrat der Russischen Föderation im November 1994 zur Intervention. Damit begann der Interner Link: Erste Tschetschenienkrieg, der fast zwei Jahre dauerte und zehntausende Zivilistinnen und Zivilisten das Leben kostete. Im August 1996 handelte der russische General Alexander Lebed ein Waffenstillstandsabkommen mit der tschetschenischen Führung aus, das auch den Rückzug der russischen Streitkräfte aus Tschetschenien vorsah. Die Tschetschenische Republik war damit de facto unabhängig.
Freie Präsidentschaftswahlen und islamistische Kräfte
Im Januar 1997 fanden in Tschetschenien Präsidentschaftswahlen statt, die aus Sicht internationaler Wahlbeobachter frei und fair verliefen. Aslan Maschadow, der seit dem Tod von Dudajew die separatistische Bewegung angeführt hatte, ging als Gewinner hervor. Die russische Regierung erkannte die Wahl an, im Mai 1997 unterzeichneten Maschadow und der russische Präsident Boris Jelzin einen Friedensvertrag.
Dem neugewählten Präsidenten Maschadow gelang es allerdings nicht, das staatliche Gewaltmonopol in dem durch den Krieg massiv zerstörten Land durchzusetzen. Maschadow standen islamistische Rebellengruppen unter der Führung von Schamil Bassajew und anderen islamistischen Feldkommandeuren gegenüber. Bassajew verbündete sich mit dem aus Interner Link: Saudi-Arabien stammenden Kämpfer Emir Ibn al-Chattab.
Am 7. August 1999 griffen Einheiten der beiden Islamistenführer die benachbarte russische Teilrepublik Dagestan an und riefen dort eine Islamische Republik aus. Im mehrwöchigen Dagestankrieg (Anfang August bis Mitte September 1999) stießen sie auf erheblichen Widerstand der Zivilbevölkerung und der dort stationierten russischen Truppen. Anfang September 1999 begann eine Anschlagsserie auf zivile Wohnhäuser in Russland, bei der hunderte Menschen starben. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, wer dafür verantwortlich war. Es gab jedoch Hinweise auf eine Verstrickung des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB.
Zweiter Tschetschenienkrieg
Den Dagestankrieg und die Anschläge nahm die russische Regierung unter dem kurz zuvor ernannten Ministerpräsidenten Wladimir Putin zum Anlass für eine militärische Intervention. Ab dem 1. Oktober 1999 marschierte die russische Armee mit rund 100.000 Soldaten in Tschetschenien ein. Offiziell waren die militärischen Aktivitäten als "Anti-Terror-Operation" deklariert. Damit begann der Zweite Tschetschenienkrieg, der in der ersten Kriegsphase bis zum Frühjahr 2000 mit massivem Einsatz von Luftwaffe und Artillerie geführt wurde. Im Februar 2000 nahm die russische Armee die Hauptstadt Grosny ein. Russland ernannt den obersten islamischen Geistlichen von Tschetschenien, Mufti Achmat Kadyrow, zum Verwaltungsleiter. Er stand im Ersten Tschetschenienkrieg noch auf der Seite der Rebellen, hatte nun aber die Seiten gewechselt. Anfang 2001 kontrollierten russische Truppen den Großteil der tschetschenischen Städte und Dörfer.
Die Rebellen setzten zunehmend auf Terror als Mittel der Kriegsführung. Ab 2002 wurden immer mehr Selbstmordattentate verübt, in vielen Fällen auch durch Ehefrauen von gefallenen islamistischen Rebellen. Auf dem Gebiet der Russischen Föderation kam es zu Geiselnahmen, beispielsweise 2002 im Interner Link: Dubrowka-Theater in Moskau und 2004 in einer Schule in Beslan (Nordossetien). Die russischen Truppen waren ihrerseits in zahlreiche Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien verwickelt. Der Interner Link: Europäische Gerichthof für Menschenrechte machte Russland für zahlreiche Fälle von Folter, Hinrichtungen und dem "Verschwindenlassen" von Gefangenen verantwortlich.
Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung verfolgten die Kriegsparteien ökonomische und politische Interessen – und verdienten an illegalen Geschäften wie Menschenhandel und Waffenschieberei. Interner Link: Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verhalf der "Krieg gegen den Terrorismus" zu Popularität, in dem er die Stärke der Regierung in Moskau demonstrieren konnte. Für Moskau fiel auch die geopolitische Bedeutung Tschetscheniens für den Export kaspischer Energierohstoffe über russisches Territorium ins Gewicht.
Tschetschenien in der Russischen Föderation
Erst am 16. April 2009 hob der damalige Präsident Dimitri Medwedew den Anti-Terror-Status für die Region auf und erklärte sie für befriedet. Die Angaben über die Opferzahlen in den beiden Tschetschenienkriegen sind schwer zu beziffern und Externer Link: reichen von 75.000 bis 160.000.
Heute ist die Republik Tschetschenien eine von Interner Link: 85 regionalen Einheiten ("Föderationssubjekte") der Russischen Föderation. Als Republik besitzt Tschetschenien ein gewisses Maß an politischen und wirtschaftlichen Autonomierechten. Tschetschenien gilt als "Staat im Staat" innerhalb Russlands: Zahlreiche Gesetze, die in Russland gelten, haben hier keine Wirkung, Teile der Gesetzgebung entwickeln sich in Richtung einer islamischen Rechtsordnung. Internationale Organisationen üben regelmäßig Kritik an gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien – darunter Entführungen, Folter und Hinrichtungen – und kritisieren die russische Regierung dafür, keine Schritte gegen die Missstände einzuleiten.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-04-04T00:00:00 | 2019-09-27T00:00:00 | 2022-04-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/297700/vor-20-jahren-zweiter-tschetschenienkrieg/ | Am 1. Oktober 1999 begann mit dem Einmarsch russischer Truppen der Zweite Tschetschenienkrieg. Beide Konfliktparteien begingen schwere Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu Lasten der Zivilbevölkerung. | [
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"Menschenrechtsverletzungen",
"Kriegsverbrechen",
"Russische Föderation",
"Rebellen",
"Russische Föderation",
"Russland",
"Tschetschenien"
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Editorial | Extremistische Parteien | bpb.de | Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit. Die prominente Nennung in Artikel 21 GG legt die Hürden für Parteiverbote sehr hoch. Zugleich gebietet das Grundgesetz, dass die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Verfassungswidrig sind Parteien, deren Ziele die freiheitliche demokratische Grundordnung beeinträchtigen oder gar geeignet sind, diese zu beseitigen. Über die Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
In der Politikwissenschaft herrscht keine Einigkeit über die analytische Schärfe des Terminus "Extremismus" bzw. "extremistische Parteien". Manche Beobachter nehmen Berührungspunkte (etwa hinsichtlich der Ablehnung demokratischer Verfahren) zum Anlass, Rechts- und Linksextremisten derselben Parteienfamilie zuzuordnen. Aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich lernen, dass extremistische Parteien umgehend die Abschaffung der Demokratie in Angriff nehmen, sobald sie an die Macht gelangen. In diesem Sinne am "erfolgreichsten" waren KPdSU und NSDAP. In den 1950er Jahren wurden die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei und die linksextreme KPD verboten. Ein Verbotsantrag für die NPD scheiterte vor wenigen Jahren.
Der parlamentarische Prozess in der Bundesrepublik und seine Mechanismen der Machtkontrolle sind geeignet, extremistische Parteien zu "domestizieren" - ein Beleg für die Integrationskraft und die Zukunftsfähigkeit des pluralistischen Systems. Doch Wachsamkeit ist geboten, auch wenn sich Extremisten häufig genug selbst demontieren, sobald sie in Parlamente eingezogen sind. Die Geschichte der bald 60-jährigen Republik legt es indes nahe, extremistischen Parteien mit demokratischem Selbstbewusstsein zu begegnen. | Article | Golz, Hans-Georg | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30837/editorial/ | In der Politikwissenschaft herrscht keine Einigkeit über die analytische Schärfe des Terminus "extremistische Parteien". Der parlamentarische Prozess in der Bundesrepublik ist geeignet, extremistische Parteien zu "domestizieren". | [
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Zum gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie | Corona-Krise | bpb.de | Als Ende Februar 2020 deutlich wurde, dass die Corona-Pandemie auch Deutschland nicht verschonen würde, überschlugen sich alsbald die Ereignisse. Während Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 12. Februar noch geäußert hatte, es sei "noch nicht absehbar, ob sich aus einer regional begrenzten Epidemie in China eine weltweite Pandemie entwickelt oder nicht", wurde am 28. Februar ein gemeinsamer Krisenstab des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) und Bundesinnenministeriums (BMI) eingesetzt, der sich ab dem 3. März zweimal pro Woche traf. Ab dem 16. März wurden von der Bundesregierung und den Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer gemeinsam sukzessive weitreichende Entscheidungen getroffen, die tief in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger eingriffen und weiterhin eingreifen. Großveranstaltungen wurden verboten, öffentliche Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten geschlossen, Auflagen für beziehungsweise Schließungen von Bars, Restaurants, Geschäften, Sportstätten sowie anderen Betrieben angeordnet und sogar die Grenzen zu den Nachbarländern innerhalb der EU geschlossen. Deutschland befand sich im Ausnahmezustand.
Das galt auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Entscheidungsträgerinnen und -träger in Wirtschaft und Politik benötigten dringend wissenschaftliche Erkenntnisse – und zwar nicht nach jahrelanger, sorgfältiger Forschung und Diskussion, sondern unmittelbar. Dies betraf primär die Virologie und Epidemiologie, deren Erkenntnisse die medizinische Bekämpfung des Virus voranbringen und die Verbreitung des Sars-CoV–2-Erregers eindämmen sollten. Aber auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften standen schlagartig im Zentrum der Aufmerksamkeit. Welche Konsequenzen würden die getroffenen Maßnahmen kurz- und langfristig für die Menschen und das Zusammenleben in Deutschland haben?
Belastbare Erkenntnisse in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beruhen oft auf statistischen Auswertungen amtlicher oder wissenschaftlicher Datenerhebungen, deren Verfahren in der Regel nicht für einen kurzfristigen Einsatz genutzt werden können. In der amtlichen Statistik hapert es dabei an der Geschwindigkeit der Meldeverfahren, während wissenschaftliche Datenerhebungen oft auf Umfragen der allgemeinen Bevölkerung beruhen, die über einen mehrmonatigen Zeitraum mittels persönlich-mündlicher Interviews in Haushalten vor Ort geführt werden. Darüber hinaus hat der finanzielle Druck in der Datenindustrie in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer Zweiteilung in der Umfragelandschaft geführt: Schnelle Datenerhebungen basieren heute meist auf nicht-zufälligen Stichproben aus höchst selektiven, kommerziellen Pools von Online-Befragten, die die Bevölkerung nicht akkurat abbilden, während Datenerhebungen, die Rückschlüsse auf die Allgemeinheit erlauben, meist längere Erhebungszeiträume veranschlagen. Neben zeitnahen und akkuraten Daten waren außerdem Vergleichswerte zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgangslage vor der Corona-Krise notwendig: Nur so lässt sich feststellen, was die Ausnahme und was die Regel ist. Zudem wurden regelmäßige, beizeiten gar tägliche Updates der Lage benötigt, um beispielsweise die Auswirkungen und die gesellschaftliche Akzeptanz eingeführter Maßnahmen genau verfolgen zu können.
In dieser Situation entschied sich am 15. März ein Team an der Universität Mannheim, eine tägliche Datenerhebung zur Frage, wie die Corona-Krise das Leben der Menschen in Deutschland beeinflusste, ins Leben zu rufen. Die Erkenntnisse dieser Mannheimer Corona-Studie (MCS) wurden prominent medial aufgegriffen und unter anderem im Krisenstab des BMG und des BMI sowie vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) genutzt. Übersicht zur Methodik
Die Grundlage der MCS bildet das German Internet Panel (GIP), eine langjährige, online durchgeführte wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Befragung, die auf einer Zufallsstichprobe der allgemeinen Erwachsenenbevölkerung in Deutschland basiert. Für die MCS wurde die Stichprobe des GIP in sieben zufällige Substichproben unterteilt, die jeweils einem spezifischen Wochentag zugeordnet wurden.
An jedem Wochentag erhielt eine dieser Substichproben per E-Mail eine Einladung zur Tagesstudie. Die angeschriebenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten dann 48 Stunden Zeit, sich zu beteiligen. Nach einer Woche wurde dies mit denselben Personen wiederholt. Jede Woche wurden so etwa 3600 Personen befragt. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer waren 18 bis 83 Jahre alt. Die Studieninhalte der MCS deckten zentrale Fragestellungen in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Gesellschaft sowie Gesundheit und Gesundheitsverhalten ab. Die erhobenen Daten wurden in einem mehrstufigen Verfahren detailliert gewichtet. Diese Methodik erlaubte der MCS, auf den Tag genau gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland auszuwerten und zu beobachten. Um die interessierte Öffentlichkeit sowie Entscheidungsträgerinnen und -träger zeitnah über die sich verändernden Gegebenheiten zu informieren, erstellte das Team der MCS jeden Werktag einen Tagesbericht mit einer Fortschreibung der Auswertungen, der online frei zur Verfügung gestellt wurde.
Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse der Studie zu den gesellschaftlichen Entwicklungen während der frühen Phase der Corona-Krise in Deutschland erläutert. Die Erkenntnisse über Häufigkeit persönlicher Treffen, Akzeptanz verschiedener Corona-Maßnahmen und Abwägung des wirtschaftlichen Schadens gegen den gesellschaftlichen Nutzen implementierter Maßnahmen reichen von Mitte März 2020 bis in die Wochen der Lockerungen und das Abflauen der Pandemie in Deutschland Anfang Juli. Die entsprechenden Daten wurden vom 20. März bis zum 10. Juli, also über 16 Wochen hinweg, in unveränderter Weise bei denselben Personen erhoben, sodass sie individuelle Verhaltens- und Einstellungsänderungen widerspiegeln. Häufigkeit persönlicher Treffen
Noch vor der Einführung von verbindlichen Vorschriften wurde die Bevölkerung von Politikerinnen und Politikern gebeten, persönliche Kontakte möglichst einzustellen, um die Verbreitung des Virus weitestgehend einzudämmen. In unterschiedlicher Geschwindigkeit wurden in den Bundesländern daraufhin Maßnahmen wie die Schließung von sozialen Begegnungsstätten und das Verbot von Zusammenkünften mit verschiedenen Teilnehmerzahlen implementiert.
Zur Messung der Häufigkeit persönlicher Treffen griff die MCS auf Fragen zur Ermittlung von Sozialkontakten zurück, die in vielen Studien in der Vergangenheit bereits genutzt wurden und somit auch längerfristigere Vergleiche erlauben. In der ersten Teilnahmewoche bekamen alle Befragten zwei Fragen gestellt, "Wie oft haben Sie sich in der Woche vom 2. bis 8. März, also in der Woche, bevor die ersten Corona-Maßnahmen in Kraft traten, mit Freunden, Verwandten oder privat mit Arbeitskollegen getroffen?"; "Und wie oft haben Sie sich in den vergangenen 7 Tagen mit Freunden, Verwandten oder privat mit Arbeitskollegen getroffen?" Ab der zweiten Befragungswoche wurde ausschließlich die letzte Frage gestellt.
Abbildung 1: Häufigkeit von Treffen mit Freunden, Verwandten oder privat mit Arbeitskolleginnen und -kollegen in den sieben Tagen vor dem Befragungstag (© bpb)
Auf diese Weise lässt sich die Entwicklung der persönlichen Kontakte im Vergleich zu der Situation kurz vor dem großflächigen Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland und den damit verbundenen Eindämmungsmaßnahmen nachvollziehen: Vor der Pandemie trafen sich innerhalb einer Woche 15 Prozent der Bevölkerung gar nicht, 31 Prozent einmal, 42 Prozent mehrmals und 12 Prozent täglich mit Freunden, Verwandten oder privat mit Arbeitskolleginnen und -kollegen. Der Höhepunkt der sozialen Einschränkung wurde in der Woche vom 27. März bis zum 2. April erreicht (Abbildung 1). Ab Ostern nahmen die persönlichen Sozialkontakte wieder sukzessive zu, bis sie Ende Mai wieder in etwa das Vor-Corona-Niveau erreichten und dann konstant blieben.
Die Menschen in Deutschland haben also stark reagiert – zunächst freiwillig auf die empfohlenen und dann auch gezwungenermaßen auf die verordneten Einschränkungen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Diskussionen zu den Lockerungen der Maßnahmen, die Osterzeit und dann auch tatsächliche Lockerungen Stück für Stück auf das Verhalten der Menschen ausgewirkt haben. Im Juli 2020 kehrte man, mit entsprechenden Abstandsregeln und der Maskenpflicht, bei der Häufigkeit persönlicher Treffen wieder zu einer Normalsituation zurück, wie man sie aus Zeiten vor der Corona-Pandemie kannte.
In einem MCS-Schwerpunktbericht zum Thema "Social Distancing" werden die Zusammenhänge der sozialen Einschränkungen genauer beleuchtet. Dabei stellen die Autorinnen und Autoren fest, dass über 70 Prozent der Bevölkerung die Häufigkeit ihrer privaten Begegnungen zwischenzeitlich reduziert haben. Die Einschränkungen wurden von allen betrachteten Bevölkerungsgruppen mitgetragen. Insbesondere aber reduzierten Personen, die sich stark vom Virus bedroht fühlen, und Menschen, die in Bayern leben, ihre privaten Begegnungen. Personen, die alleine in einem Haushalt wohnen, hatten im gesamten Zeitraum mehr Sozialkontakte zu Menschen außerhalb ihres Haushalts als diejenigen, die mit anderen zusammenleben. Akzeptanz verschiedener Corona-Maßnahmen
Im Rahmen der MCS wurde auch die gesellschaftliche Akzeptanz verschiedener Maßnahmen, die bereits zum Anfang der Corona-Krise weltweit als Möglichkeit zur Eindämmung der Pandemie zur Diskussion standen, untersucht. Es wurde also sowohl die Zustimmung zu Maßnahmen erfragt, die noch nicht, nicht mehr oder nie in Deutschland implementiert wurden, als auch zu denen, die weiterhin voll oder teilweise in Kraft waren.
Die Akzeptanz verschiedener Maßnahmen, etwa die Schließung öffentlicher Einrichtung und Landesgrenzen, wurde mit der Frage erhoben, "welche der folgenden Maßnahmen" die Befragten "in der heutigen Situation für angemessen" hielten. Mehrfachnennungen waren möglich, und die Befragten konnten außerdem angeben, wenn sie "keine dieser Maßnahmen in der heutigen Situation für angemessen" hielten.
Abbildung 2: Zustimmung zu diskutierten oder in Deutschland umgesetzten Corona-Maßnahmen (© bpb)
Zu Beginn der Corona-Krise fanden die Maßnahmen zur Schließung von Universitäten, Schulen und Kindergärten, zur Schließung der Landesgrenzen und zum Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern überwältigende Unterstützung von über 90 Prozent (Abbildung 2). Danach brach die Akzeptanz der Schließung von Universitäten, Schulen und Kindergärten am schnellsten ein. Zum Ende der Osterferien Mitte April 2020 und den damit einhergehenden, teilweise heftigen Diskussionen in Politik und Medien, schwand die Zustimmung zu diesen Maßnahmen. Dieser Trend hielt auch über den gesamten Mai weiter an und stabilisierte sich ab Anfang Juni bei einer Zustimmungsrate von weniger als 25 Prozent. Auch die Akzeptanz der Grenzschließungen nahm im Zeitverlauf ab, brach aber erst Anfang Mai deutlich ein und stabilisierte sich ab Anfang Juni bei einer Zustimmungsrate von knapp über 25 Prozent. Der Verlauf der eingeschätzten Angemessenheit eines Verbots von Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zeichnet da ein ganz anderes Bild. Zu keinem Zeitpunkt war ein klarer Einbruch der Zustimmung zu verzeichnen, auch Anfang Juli befürworteten noch rund drei Viertel der Menschen in Deutschland diese Maßnahme.
Die weiteren erfragten Maßnahmen, etwa eine allgemeine Ausgangssperre, die Einstellung des Nah- und Fernverkehrs oder die Ortung der Mobiltelefone infizierter Personen ohne Zustimmung der Beteiligten, wurden in Deutschland in dieser Form nie eingeführt. Sie fanden auch bereits zu Beginn der MCS deutlich weniger Zustimmung. Von diesen Maßnahmen fand Ende März die allgemeine Ausgangssperre, wie sie beispielsweise in verschiedenen Regionen Italiens und Spaniens verordnet wurde, den größten Anklang. Rund die Hälfte der Bevölkerung hielt diese Maßnahme in der damaligen Situation für angemessen. Diese Zustimmung nahm allerdings bis Mitte Mai schnell und stetig ab. Die Einstellung des Nah- und Fernverkehrs wurde Ende März immerhin von gut einem Viertel der Bevölkerung befürwortet, doch auch die Angemessenheit einer solchen Maßnahme wurde zunehmend skeptisch betrachtet, bis sie Mitte Mai ebenfalls keinerlei Unterstützung mehr bekam. Interessant ist der Verlauf für die Ortung von Mobiltelefonen. Diese Maßnahme wurde in manchen asiatischen Ländern sehr effektiv zur Eindämmung der Pandemie eingesetzt und fand im liberaleren Deutschland trotz Datenschutzbedenken Ende März immerhin die Zustimmung von 30 Prozent der Erwachsenenbevölkerung. Interessant ist dabei, dass sich die Akzeptanz kaum veränderte und Anfang Juli weiterhin von fast einem Viertel der Menschen befürwortet wurde, Mobiltelefone auch ohne Zustimmung der Beteiligten zur Nachverfolgung der Infektionsketten zu orten.
Das Bild der Akzeptanz verschiedener Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland ist also bunt gemischt. Im Allgemeinen wurden Maßnahmen Ende März und zum Höhepunkt der Infektionszahlen noch für deutlich angemessener gehalten als Anfang Juli, also zu einer Zeit sehr niedriger Verbreitung des neuartigen Corona-Virus. Allerdings ist auch zu sehen, dass die verschiedenen Maßnahmen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten an Zustimmung verloren. Ohne einen definitiven kausalen Zusammenhang feststellen zu wollen, lässt die Betrachtung der politischen Diskussionen zur Zeit der Zustimmungseinbrüche vermuten, dass diese politischen Debatten nicht ganz unabhängig vom Meinungsbild gesehen werden können. Tiefergehende Analysen werden hierzu in den nächsten Monaten und Jahren gewiss weitere Erkenntnisse bringen. Abwägung des wirtschaftlichen Schadens und gesellschaftlichen Nutzens
Die Maßnahmen, die getroffen wurden, um die Corona-Pandemie einzudämmen, greifen tief in die deutsche Wirtschaft ein. Mit zunehmender Dauer der Pandemie drängt sich daher die Frage auf, wie lange die wirtschaftlichen Konsequenzen hinnehmbar sind, um das Virus zu bekämpfen. Dabei wird in den Medien bislang insbesondere die Meinung aus Politik und Wirtschaft wiedergegeben. Die einen warnen vor den möglichen Schäden der Maßnahmen und fordern Lockerungen, die anderen stellen die negativen Konsequenzen einer ungebremsten Ausbreitung des Virus für die Gesundheit der Gesellschaft in den Vordergrund. Mit der MCS lässt sich dieses Bild der Diskussion erweitern und herausfinden, wie die (allgemeine) Bevölkerung in Deutschland die Frage beantworten, ob der "wirtschaftliche Schaden, den die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie anrichten, größer als ihr Nutzen für die Gesellschaft" sei oder umgekehrt.
Während zu Anfang der umfassenden Maßnahmen Ende März beziehungsweise Anfang April lediglich 28 Prozent der Bevölkerung den wirtschaftlichen Schaden höher einschätzten als deren gesellschaftlichen Nutzen, stieg dieser Wert über die nächsten Wochen beständig, bis er Anfang Juni die 50-Prozent-Marke erreichte und seitdem dort in etwa verweilt. Interessant bei dieser Entwicklung ist vor allem, dass sie sich wohl nicht an der Schwere der Maßnahmen und deren tatsächlichen Eingriffen in die Wirtschaft orientiert: In den ersten vier Wochen der MCS waren die angeordneten Maßnahmen wohl am strengsten. Viele Betriebe, Geschäfte und Einrichtungen mussten entsprechend der Corona-Verordnungen im Lockdown die Türen schließen. Folglich war in diesem Zeitraum auch der Schaden für die Wirtschaft am größten. Allerdings waren zu dieser Zeit auch die Infektionszahlen hoch, ebenso wie die damit einhergehenden Sorgen und Ängste in der Bevölkerung. Womöglich schätzte die Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt daher auch den gesellschaftlichen Nutzen der Maßnahmen als sehr hoch ein, weshalb dieser dann im Durchschnitt den wirtschaftlichen Schaden klar in den Schatten stellte. Mit Abnahme der Infektionszahlen nahmen in den darauffolgenden Wochen dann auch die Sorgen und Ängste der Menschen ab. Relativ zum gesellschaftlichen Nutzen gewann in diesen Wochen dann der wirtschaftliche Schaden wieder an Bedeutung. Weitere Erkenntnisse
Neben dem Einfluss und der gesellschaftlichen Akzeptanz der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wurden im Rahmen der MCS auch weitere Aspekte des Umfangs mit der Pandemie analysiert. In einem Schwerpunktberichte der Studie wird beispielsweise aufgezeigt, wie die Bevölkerung die erweiterten Sonderbefugnisse der Bundesregierung zur Bekämpfung der Pandemie wahrnahm: Als sich die Corona-Krise Ende März zuspitzte, befürwortete eine Mehrheit der Menschen die Machtverschiebung zugunsten der Bundesregierung. Nachdem sich aber Bund und Länder am 22. März auf ein gemeinsames Vorgehen einigten und auch Bundestag und Bundesrat im Schnellverfahren entscheidende Gesetzespakete bewilligten, nahm diese Unterstützung der Sonderbefugnisse in der Bevölkerung Schritt für Schritt ab. Interessanterweise hing die Zustimmung zu erweiterten Exekutivrechten dabei nicht damit zusammen, wie zufrieden oder unzufrieden die Menschen jeweils mit der amtierenden Bundesregierung bereits vor der Pandemie waren. Stattdessen waren Menschen, die Pandemie als eine schwerwiegende Bedrohung für sich selbst wahrnahmen, eher bereit, der Bundesregierung weitreichende Befugnisse einzuräumen.
Zudem wird die Entwicklung sozialer Ungleichheiten während der Corona-Krise in Deutschland untersucht. Mit Blick auf Geschlechterunterschiede unter Erwerbstätigen kommen die Autorinnen und Autoren dabei zu dem Schluss, dass vor der Pandemie mehr Männer (23 Prozent) als Frauen (16 Prozent) ab und an im Homeoffice arbeiteten und sich von den nicht im Homeoffice Arbeitenden mehr Frauen (39 Prozent) als Männer (31 Prozent) wünschten, auch von zu Hause arbeiten zu dürfen. Während des Corona-Lockdowns verringerten sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlich auf nur noch 3 Prozentpunkte. Daher lässt sich vermuten, dass die Geschlechterdifferenz in diesem Punkt, bei entsprechendem Willen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, in Teilen überwunden werden konnte. Darüber hinaus weist die Studie die Auswirkungen von Bildungsunterschieden für die Erwerbstätigkeit während der ersten Welle der Corona-Pandemie nach: Je niedriger der Bildungsabschluss, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Person in Kurzarbeit geschickt, mit oder ohne Lohn freigestellt oder seit der Corona-Krise arbeitslos wurde. Der Verlust der Arbeit war dabei für jemanden mit niedrigem oder mittlerem Bildungsabschluss doppelt so wahrscheinlich wie für Menschen mit höherem Bildungsabschluss. Des Weiteren können Vollzeiterwerbstätige mit höherem Bildungsabschluss viermal so häufig im Homeoffice arbeiten als Vollzeiterwerbstätige mit niedrigem Bildungsabschluss. Ausblick
In diesem Beitrag wurden drei zentrale Fragestellungen im Rahmen der eingeführten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus untersucht. Die Analysen legen dar, dass die Bevölkerung im Großen und Ganzen die implementierten Maßnahmen als sinnvoll einschätzte. Verhaltensweisen wurden schnell und drastisch angepasst, wie beispielsweise die Entwicklung der persönlichen Kontakte im Zeitverlauf zeigt. Als sich die Lage jedoch entschärfte, wurden Maßnahmen zunehmend kritisch beäugt, ihr relativer Schaden für die Wirtschaft als höher eingestuft und die Möglichkeit, wieder mehr Sozialkontakte aufzunehmen, zügig aufgegriffen.
Interessant ist in diesem Kontext auch die Rolle der Streitgespräche in der Politik. Diese sind für eine Demokratie unverzichtbar. Allerdings zeigen die Ergebnisse zur rückläufigen Akzeptanz der Maßnahmen auch, dass, gerade in der hektischen Zeit zu Beginn der Corona-Krise, Zerstrittenheit zu zusätzlicher Unsicherheit in der Bevölkerung ob der auferlegten Einschränkungen führen konnte, was wiederum eine Ursache für die schwindende Unterstützung für einzelne Maßnahmen wie beispielsweise die anhaltenden Schulschließungen nach Ostern sein könnte.
So vielfältig die Ergebnisse zu den gesellschaftlichen Implikationen der Corona-Krise auch waren, und so zentral diese auch für Entscheidungsträgerinnen und -träger in der Politik und Wirtschaft sein können, für die an der MCS beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beginnt mit Ende der ersten Phase der Studie erst die wirkliche Forschungsarbeit. In den kommenden Monaten werden Ergebnisse in Bezug zu zeitlichen und räumlichen Daten zum Infektionsgeschehen gestellt, die Veränderung der Gesellschaft vor, während und nach der ersten Phase der Corona-Pandemie untersucht sowie Kausalzusammenhänge erforscht.
Abbildung 1: Häufigkeit von Treffen mit Freunden, Verwandten oder privat mit Arbeitskolleginnen und -kollegen in den sieben Tagen vor dem Befragungstag (© bpb)
Abbildung 2: Zustimmung zu diskutierten oder in Deutschland umgesetzten Corona-Maßnahmen (© bpb)
Zit. nach Bundesministerium für Gesundheit, Coronavirus SARS-CoV–2: Chronik der bisherigen Maßnahmen, 12.2.2020, Externer Link: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus/chronik-coronavirus.html.
Vgl. dass. Krisenstab des BMI und BMG beschließt Maßnahmen zur Gesundheitssicherheit gegen Corona-Infektionen, Pressemitteilung, 28.2.2020, Externer Link: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2020/1-quartal/krisenstab-bmg-bmi.html.
Vgl. Bundesregierung, Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Bundesländer angesichts der Corona-Epidemie in Deutschland, Pressemitteilung, 16.3.2020, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/-1730934.
Vgl. Anne Bohlender/Martin Rathje/Axel Glemser, SOEP-Core – 2018: Report of Survey Methodology and Fieldwork, SOEP Survey Papers Series B – Survey Reports (Methodenberichte), S. 824.
Vgl. Carina Cornesse et al., A Review of Conceptual Approaches and Empirical Evidence on Probability and Nonprobability Sample Survey Research, in: Journal of Survey Statistics and Methodology 1/2020, S. 4–36.
Vgl. Annelies G. Blom et al., High-Frequency and High-Quality Survey Data Collection: The Mannheim Corona Study, in: Survey Research Methods 2/2020, S. 171–178. Mit großem Dank an alle mitwirkenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Carina Cornesse, Marina Fikel, Sabine Friedel, Sebastian Juhl, Ulrich Krieger, Roni Lehrer, Katja Möhring, Elias Naumann, Maximiliane Reifenscheid, Tobias Rettig und Alexander Wenz) und studentischen Hilfskräfte (Nourhan Elsayed, Lisa Jäckel, Julia Kozilek, Elena Madiai, Sabrina Seidl, Marie-Lou Sohnius, Katja Sonntag und Lisa Wellinghoff) für ihren großartigen Einsatz, sowie an den Sonderforschungsbereich 884 "Politische Ökonomie von Reformen" (Projekt: 139943784) der Deutschen Forschungsgemeinschaft und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Projekt: FIS. 00.00185.20) für finanzielle und ideelle Unterstützung.
Für einen Überblick siehe Externer Link: http://www.uni-mannheim.de/gip/presse/das-gip-in-den-medien.
Vgl. Universität Mannheim, Krisenstab und Bundesministerien greifen auf Ergebnisse der Mannheimer Corona-Studie zurück, Pressemitteilung, 16.4.2020, Externer Link: http://www.uni-mannheim.de/newsroom/presse/pressemitteilungen/2020/april/corona-studie-teil-4.
Vgl. Annelies G. Blom/Christina Gathmann/Ulrich Krieger, Setting Up an Online Panel Representative of the General Population: The German Internet Panel, in: Field Methods 4/2020, S. 391–408.
Vgl. Blom et al. (Anm. 6). Zur Gewichtung wurden folgende Merkmale hinzugezogen: Berufstätigkeit und beruflicher Sektor, Alter, Geschlecht, Familienstand und höchster Schulabschluss, Haushaltsgröße und Bundesland.
Vgl. Annelies G. Blom et al., Die Mannheimer Corona-Studie: Das Leben in Deutschland im Ausnahmezustand. Bericht zur Lage vom 20. März bis 9. Juli 2020, 10.7.2020, Externer Link: http://www.uni-mannheim.de/media/Einrichtungen/gip/Corona_Studie/10-07-2020_Mannheimer_Corona-Studie_-_Bericht_zur_Lage_in_den_Tagen_20_Mrz-09_Jul_2020.pdf.
Siehe auch den Beitrag von Nathalie Behnke in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
Siehe auch den Beitrag von Evelyn Moser in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
Vgl. Roni Lehrer et al., Die Mannheimer Corona-Studie: Die vier Phasen des Social Distancing in Deutschland, 27.4.2020, Externer Link: http://www.uni-mannheim.de/media/Einrichtungen/gip/Corona_Studie/Social_Distancing_Schwerpunktbericht_update.pdf.
Vgl. z.B. Sebastian Matthes et al., Wirtschaft fordert einen klaren Exit-Fahrplan von der Regierung, 4.5.2020, Externer Link: http://www.handelsblatt.com/25797478.html.
Vgl. z.B. "Ruf nach weiteren Lockerungen halte ich für völlig falsch". Interview mit Karl Lauterbach, 21.4.2020, Externer Link: http://www.deutschlandfunk.de/diskussion-ueber-corona-massnahmen-ruf-nach-weiteren.694.de.html?dram:article_id=475083.
Vgl. Elias Naumann et al., Die Mannheimer Corona-Studie: Schwerpunktbericht zum Angstempfinden in der Bevölkerung, 15.5.2020, Externer Link: http://www.uni-mannheim.de/media/Einrichtungen/gip/Corona_Studie/Schwerpunktbericht_Angstempfinden_Mannheimer_Corona_Studie.pdf.
Vgl. Sebastian Juhl et al., Die Mannheimer Corona-Studie: Demokratische Kontrolle in der Corona-Krise, 22.4.2020, Externer Link: http://www.uni-mannheim.de/media/Einrichtungen/gip/Corona_Studie/2020-04-22_Schwerpunktbericht_Befugnisse_der_Bundesregierung.pdf.
Vgl. Katja Möhring et al., Inequality in Employment During the Corona Lockdown: Evidence from Germany, 10.7.2020, Externer Link: https://uni-tuebingen.de/en/faculties/faculty-of-economics-and-social-sciences/subjects/department-of-social-sciences/ifp/institute/people/comparative-public-policy-professor-seeleib-kaiser/journal-of-european-social-policy/jesp-european-social-policy-blog/newsfullview-jesp/article/inequality-in-employment-during-the-corona-lockdown-evidence-from-germany.
Für zukünftige Veröffentlichungen siehe Externer Link: http://www.uni-mannheim.de/gip/corona-studie.
| Article | , Annelies G. Blom | 2022-02-09T00:00:00 | 2020-08-20T00:00:00 | 2022-02-09T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/314345/zum-gesellschaftlichen-umgang-mit-der-corona-pandemie/ | Welche Konsequenzen hat die Corona-Krise für das Zusammenleben in Deutschland? Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig, zeigen aber, dass die Bevölkerung die implementierten Maßnahmen gerade zu Beginn der Pandemie im Allgemeinen als sinnvoll ei | [
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"Bildung",
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Literatur | bpb.de | Ali, M. S. (2008): U.S.-China Relations in the “Asia Pacific” Century. Houndmills: Palgrave Macmillan.
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Prezelji, I. (2008): Challenges in Conceptualizing and Providing Human Security. HUMSEC Journal, Nr. 2, S. 1-21.
Steans, J./Pettiford L. (2005): Introduction to International Relations: Perspectives and Themes. 2. Auflage. Harlow: Pearson.
Tageszeitung, Die (2011): Pflicht zum Deutsch-Test wackelt. Abrufbar unter: http://www.taz.de/!81517/ (Zugriff: 24.9.2012)
UNDP (1994a): An Agenda for the Social Summit’, UNDP (Hrsg.): Human Development Report 1994. New York: Oxford University Press. Abrufbar unter: Externer Link: http://hdr.undp.org/en/media/hdr_1994_en_overview.pdf (Zugriff: 5.2.2013)
UNDP (1994b): New Dimensions of Human Security. In: UNDP (Hrsg.): Human Development Report 1994. New York: Oxford University Press. Abrufbar unter: http://hdr. undp.org/en/media/hdr_1994_en_chap2.pdf (Zugriff: 5.2.2013)
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Deutsche im Ausland - Expatriates in Hongkong und Thailand". | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2013-07-08T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/164866/literatur/ | Hier finden Sie Literatur zum Kurzdossier "Deutsche im Ausland - Expatriates in Hongkong und Thailand" von Thorsten Nieberg. | [
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Russland und innerstaatliche Konflikte | Kriege und Konflikte | bpb.de | Die russische Politik im Umgang mit innerstaatlichen Konflikten – Konfliktmanagement als Großmachtprojekt
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Russlands Politik gegenüber innerstaatlichen Konflikten vor allem durch die Erfahrungen mit zahlreichen Sezessionskonflikten im postsowjetischen Raum geprägt (MacFarlane/Schnabel 1995). Nach einer kurzen Phase der Orientierungslosigkeit und des Rückzugs beanspruchte Russland in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zunehmend die Rolle als hegemoniale Ordnungsmacht und als Friedens- und Stabilitätsgarant (Trenin 1996). Interner Link: Von den Vereinten Nationen und dem Westen wurde für die neue Rolle Akzeptanz und Unterstützung erwartet (Lavrov 1996).
Dreh- und Angelpunkt der Politik Moskaus gegenüber innenstaatlichen Konflikten im postsowjetischen Raum ist bis heute das imperiale Selbstverständnis, wonach Russland als regionaler Vormacht ein Recht auf Intervention in die inneren Angelegenheiten seiner Nachbarstaaten zusteht (Allison 2013). Friedenssicherung und Großmachtpolitik sind zwei Seiten einer Medaille. Das russische Vorgehen unterscheidet sich ausdrücklich von internationalen Normen, Standards und Praktiken des Krisen- und Konfliktmanagements (Davies 2020). Trotz vereinzelter konstruktiver Ansätze der Kooperation mit der UNO und der OSZE dominiert ein machtpolitisches und militärisches Verständnis von Friedensschaffung, -sicherung und Konfliktmanagement (Baev 1997), das auf die einseitige Durchsetzung russischer Interessen und Einflussgewinn in der Konfliktregion ausgerichtet ist (Lynch 2000).
Die Angst vor dem Verlust traditioneller Einflusssphären
Die jugoslawischen Nachfolgekriege in den 1990er Jahren und insbesondere das Eingreifen der NATO in den Konflikt rückten zunehmend auch innerstaatliche Konflikte außerhalb des postsowjetischen Raumes in den Fokus der russischen Politik. Der veränderte internationale Kontext sowie die Debatte über humanitäre Interventionen führten seit Anfang der 2000er zu einer Neuausrichtung der russischen Politik. Primär ging es nun darum, die Marginalisierung des eigenen Status‘ und Einflusses im westlichen Balkan und im Kontext der gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitspolitik zu verhindern (Davies 2020/Allison 2013).
Die russische Führung räumt der Wahrung der staatlichen Souveränität und der territorialen Integrität der Konfliktländer ausdrücklich Vorrang gegenüber humanitären Interventionen zur Verhinderung von Menschenrechtsverbrechen und Gewaltanwendungen gegen die Zivilbevölkerung ein. Grundlage dafür war die Erfahrungen in den Tschetschenienkriegen, in denen Russland seine eigene territoriale Integrität in Frage gestellt sah. Außerdem betonte Russland die Notwendigkeit eines Mandats des UN-Sicherheitsrates für humanitäre Interventionen – wohlwissend, dass es mit seinem Vetorecht jeder Zeit unliebsame Initiativen verhindern kann.
Militärische Aufrüstung und Machtdemonstration
Angesichts der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen seit Mitte der 2000er Jahre und der "Farbenrevolutionen" in mehreren Staaten des postsowjetischen Raums nutzte Russland die innerstaatlichen Konflikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft immer rücksichtloser zur Wahrung und Durchsetzung seiner Interessen. So beschränkten sich die russischen Streitkräfte im Georgien-Krieg (August 2008) nicht darauf, den georgischen Angriff auf das abtrünnige Südossetien zurückzuschlagen, sondern besetzten georgisches Territorium und zerstörten große Teile der Infrastruktur. Auch nutzte Moskau den Krieg, um Südossetien und Abchasien noch enger an sich zu binden.
Diese Politik setzte sich 2014 im Ukraine-Konflikt fort. Hier wurde von Russland erstmals ein innerstaatlicher Konflikt geschaffen und gezielt angeheizt, um so eine weitere Annäherung der Ukraine an die EU zu verhindern (Fix/Bakalova). Wie schon gegenüber Georgien rüstete Russland die prorussischen Milizen mit Waffen aus und griff auch mit eigenen Truppen direkt in die Kampfhandlungen ein. Im Rahmen der Politik der "Passportisierung" wurden russischsprachige Ukrainer (wie schon zuvor Osseten und Abchasen) kurzerhand zu russischen Staatsbürgern gemacht, für die Russland nun über seine Grenzen hinweg eine Schutzverantwortung behauptet.
Neubegründung des russischen Weltmachtanspruchs
Seit den 2010er Jahren ist eine Tendenz russischer Machtprojektion in andere Weltregionen zu beobachten. Moskau nutzt seine neu gewonnene Stärke, um seine diplomatische, wirtschaftliche und vor allem militärische Präsenz im Nahen und Mittleren Osten (Syrien, Libyen), im subsaharischen Afrika (Zentralafrikanische Republik) sowie in Lateinamerika (Venezuela) auszubauen. Insbesondere die Konflikte in Libyen und Syrien haben infolge der Einmischung Russlands und anderer externer Mächte inzwischen eine Dimension angenommen, die weit über die innerstaatliche und regionale Ebene hinausreicht. (vgl. Debattenbeiträge Libyen von Interner Link: Reinhard Merkel und Interner Link: Hans-Joachim Heintze)
Ein wichtiges Instrument der Einflussnahme auf innerstaatliche Konflikte ist die Mitgliedschaft Russlands im UN-Sicherheitsrat. Hier nutzt Russland seine Veto-Macht, um die Verurteilung seiner eigenen Politik sowie von Menschenrechtsverletzungen autoritärer Regime zu verhindern. Außerdem blockiert Moskau – meist gemeinsam mit der VR China – Beschlüsse über humanitäre Interventionen zur Befriedung innerstaatlicher Konflikte. Interner Link: So entsteht im UN-Sicherheitsrat immer häufiger eine Blockade, die ein wirksames Handeln gegenüber autoritären Regimen sowie effektive Lösungsschritte verhindert (Remler 2020).
Autoritäres Konfliktmanagement – Interessenslage und Strategie Russlands
Russlands Politik, Konflikte zu managen, unterscheidet sich deutlich von den allgemein anerkannten internationalen Normen und Praktiken der Krisen- und Konfliktbewältigung. In dem von Experten als "zwingende Mediation" ("coercive mediation") oder autoritäres Konfliktmanagement beschriebenen Ansatz sind Verhandlungen und militärische Maßnahmen eng miteinander verschränkt (Lewis 2020; Lewis/Heathershaw/Megoran: 2018). Im Gegensatz zu liberalen Ansätzen der Konfliktlösung, die auf eine neutrale Mediation sowie auf von allen Seiten akzeptierte Friedensgespräche und Kompromisse setzen, sind Verhandlungen in einem autoritären Konfliktmanagement ein hierarchischer, machtpolitischer Prozess, bei dem die stärkere Partei eine Friedensregelung durchsetzt (Lewis: 2020). Die Ursachen des Konflikts sowie die Kosten und Folgen einer solchen meist militärisch flankierten Konfliktbearbeitung bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt.
Das Spektrum der Machtmittel zur Durchsetzung der Interessen und Ziele der von Russland unterstützten Konfliktpartei(en) reicht von direkter militärischer Gewalt und hybrider Kriegführung über Verhandlungen und wirtschaftliche Maßnahmen (Hilfeleistungen oder Sanktionen) bis hin zur Gewährung oder Verweigerung humanitärer Hilfe. Zum machtpolitischen Instrumentenkasten gehört auch die Auslegung des Völkerrechts gemäß den russischen Interessen (Lewis/Heathershaw/Megoran 2018). Konfliktlösung wird hier nicht als gesellschaftliche Transformation verstanden, sondern in erster Linie als Unterstützung russlandfreundlicher Konfliktparteien. Waffenstillstände oder die Eindämmung der Kampfhandlungen sind kein Ziel an sich. Sie werden nur dann angestrebt, wenn sie der von Moskau unterstützten (autoritären) Regierung bzw. Konfliktpartei nützen (Lewis 2000).
Ein wichtiger Eckpfeiler zur Stärkung des russischen Einflusses ist die Involvierung regionaler Mächte und ihrer Stellvertreter in die Konflikte. Ziel ist die Etablierung eines an den russischen Interessen ausgerichteten regionalen Konsenses. Dabei werden gezielt westliche Akteure und Vermittlungsformate ins Abseits gestellt und durch eigene Formate ersetzt. Das Ergebnis ist ein "illiberaler Frieden" (Lewis/Heathershaw/Megoran 2018). Die Kampfhandlungen werden zwar reduziert oder beendet, aber die tieferliegenden politischen und sozialen Ursachen werden nicht adressiert. Da die Konflikte lediglich unterdrückt werden, kommt es zu keiner nachhaltigen Konfliktlösung. Deshalb bleibt das Risiko eines Wiederaufflammens der Gewalt sehr hoch (Fraihat/Issaev 2018).
Die russische Politik – Hintergründe und Beispiele
Der Mangel an Nachhaltigkeit der russischen Strategie wird besonders im Fall des Syrien-Krieges deutlich. Die russische Unterstützung von Präsident Assad und die Etablierung des Astana-Gesprächsformats haben die UNO sowie westliche Akteure an den Rand gedrängt. Zugleich wurde mit der Blockade des UN-Sicherheitsrats durch das russische Veto die Verurteilung des Assad-Regimes für die brutalen Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen verhindert.
Diese Blockadehaltung geht u.a. auf die russischen Erfahrungen mit der Politik westlicher Staaten im Interner Link: Libyen-Konflikt zurück. Die Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 17. März 2011 über das Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft in den Libyen-Konflikt, die u.a. die Einrichtung einer Flugverbotszone, den Schutz der Zivilbevölkerung und die Durchsetzung eines Waffenembargos durch französische, britische und US-amerikanische Marineschiffe vorsah, wurde vom Westen als Mandat für den Sturz Gaddafis interpretiert. Während der Westen die Intervention als Erfolg im Sinne des Konzepts der Schutzverantwortung wertete, sah die russische Regierung darin einen weiteren vom Westen betriebenen Regimewechsel, der von der UN-Resolution in keiner Weise gedeckt war.
Heute sichert sich Russland mit der Unterstützung des Rebellenführers General Haftar eine Rolle im internationalen Konfliktmanagement in Libyen. Das Gleiche gilt für Afghanistan. Neben guten Beziehungen zur Regierung in Kabul setzte die russische Führung schon früh auf direkte Kontakte zu den Taliban und zu Führern der tadschikischen und usbekischen Gemeinschaft im Norden Afghanistans. Ziel war es, den russischen Einfluss auch für den Fall zu erhalten, dass sich die Taliban gegenüber der Zentralregierung durchsetzen (Krivosheev 2021).
In der Zentralafrikanischen Republik verschaffte sich Russland durch eine gemeinsame Initiative mit dem Sudan eine Rolle im Mediationsprozess der Afrikanischen Union (AU) – flankiert vom Einsatz russischer Militärausbilder und Söldner der "Gruppe Wagner". In Venezuela unterstützt Russland das Maduro-Regime und wirft zugleich den USA illegitime Einmischung vor. Vermittlungsversuche durch Norwegen im Jahr 2019 sind mittlerweile gescheitert. Weitere innerstaatliche Krisen mit regionalen Auswirkungen, in denen Russland versucht oder versucht hat, an Einfluss zu gewinnen, sind der Kaschmir-, der Jemen- und der Israel-Palästina-Konflikt.
Der Preis der russischen Politik
Wie aufwändig die Anstrengungen zur Einflusssicherung Russlands allein in seiner unmittelbaren Nachbarschaft sind, verdeutlichen Ereignisse der jüngeren Vergangenheit: die Unterstützung für das Lukaschenko-Regime in Belarus angesichts der Protest seit dem Wahlbetrug im August 2020, die Vermittlung im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien im Bergkarabach-Krieg im Herbst 2020, einschließlich der Stationierung russischer Truppen im Konfliktgebiet, sowie die Eskalation des Ukraine-Konflikts durch russische Truppenstationierungen und Militärmanöver an der ukrainischen Grenze im Frühjahr 2021.
Diese Politik fordert ihren Preis. Russland, das 2020 mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rd. 1,5 Billionen US-Dollar nach Italien, Kanada und Südkorea gerademal auf dem 11. Platz rangierte (USA: rd. 21 Bio., VR China rd. 15 Bio., Deutschland rd. 4 Bio. US-Dollar), muss nicht nur erhebliche wirtschaftliche und militärische Ressourcen aufwenden. Auch gegenüber der russischen Gesellschaft und im globalen Informationsraum sind immer mehr Anstrengungen erforderlich, um die eigene Bevölkerung von der Notwendigkeit eines weltweiten politischen und militärischen Engagements Russlands zu überzeugen und gegen zunehmende antirussische Stimmungen in den Nachbarländern vorzugehen.
Die Kosten-Nutzen-Relation der russischen Politik im Umgang mit innerstaatlichen Konflikten gerät noch aus zwei weiteren Gründen zunehmend unter Druck. Zum einen erfordert die Praxis, Konflikte ständig am Köcheln zu halten oder lediglich mit illiberalen und repressiven Mitteln einzudämmen, einen ständigen Einsatz an Ressourcen. Die russische Präsenz vor Ort muss ebenso finanziert werden wie das Überleben russlandfreundlicher autoritärer Regime. Nachhaltige, selbsttragende Friedensprozesse werden so eher verhindert als gefördert.
Zum anderen befindet sich Russland in Konkurrenz mit anderen Regional- oder Großmächten, wie der Türkei, dem Iran und China. Insbesondere die Spannungen mit der Türkei, z.B. in Syrien, Libyen, im Schwarzmeer-Raum (z.B. Ukraine) und im Südkaukasus (Berg-Karabach), brechen immer wieder auf. Unter dem Strich könnte all dies zu einer erneuten imperialen Überdehnung Russlands führen (Adomeit 2016).
Nicht zuletzt trägt die russische Politik zur Schwächung multilateraler Institutionen auf globaler und regionaler Ebene bei (z.B. UNO, Afrikanische Union, OSZE). Damit geht die Moskau ein hohes Risiko ein. Statt für den Fall einer unkontrollierten Destabilisierung an den russischen Grenzen oder in anderen Konfliktregionen gemeinsame multilaterale Monitoring- und Verhandlungsinstitutionen bereitzuhalten, unterminiert die russische Führung mit ihrer Politik die Fundamente einer über Jahrzehnte gewachsenen regelbasierten regionalen und globalen Ordnung.
Quellen / Literatur
Literatur
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Baev, Pavel (1997): Conflict management in the former Soviet South: The dead‐end of Russian interventions, European Security, Vol. 6, No. 4, S. 111-129.
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Externer Link: Fraihat, Ibrahim/ Issaev, Leonid (2018): Russia Doesn’t Solve Conflicts, It Silences Them.
Externer Link: Krivosheev, Kirill (2021): Why Russia Is Hedging Its Bets in Afghanistan. Carnegie Moscow Center, 15.03.2021.
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Externer Link: Lewis, David/ Heathershaw, John/ Megoran, Nick (2018): Illiberal peace? Authoritarian modes of conflict management.
Externer Link: Lewis, David (2020): Russia as Peacebuilder? Russia’s Coercive Mediation Strategy.
Externer Link: Lynch, Dov (2000): Russian Peacekeeping Strategies in the CIS, The Cases of Moldova, Georgia and Tajikistan.
Externer Link: Minzarari, Dumitru (2020): Russia’s Stake in the Nagorno-Karabakh War: Accident or Design?
Macfarlane, S. Neil / Schnabel, Albrecht (1995): Russia’s Approach to Peacekeeping, in: International Journal, Vol. 50, No. 2, S. 294-324.
Externer Link: Remler, Philip (2000): Russia at the United Nations: Law, Sovereignty, and Legitimacy.
Externer Link: Trenin, Dmitri (1996): Chapter 4 Russia, in: Findlay, Trevor (Hrsg.): Challenges for New Peacekeepers. SIPRI Research Report No. 12.
Links
Externer Link: Berichte und Studien des Carnegie Endowment for International Peace zu Russland.
Externer Link: The Return of Global Russia – interaktives Angebot.
Externer Link: Berichte und Analysen der Jamestown Foundation zu Russland
Literatur
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Links
Externer Link: Berichte und Studien des Carnegie Endowment for International Peace zu Russland.
Externer Link: The Return of Global Russia – interaktives Angebot.
Externer Link: Berichte und Analysen der Jamestown Foundation zu Russland
In der Debatte geht es darum, ob Staaten aus humanitären Gründen militärisch in anderen Staaten eingreifen dürfen, um die Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen (vgl. z.B. Baranovsky 2001).
Externer Link: https://core.ac.uk/download/pdf/33724422.pdf
Die "Rosenrevolution" in Georgien (2003), die "Orangene Revolution" in der Ukraine (2004) und die "Tulpenrevolution" in Kirgisien (2005)
Externer Link: https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019A57/
Externer Link: https://www.un.org/Depts/german/sr/sr_10-11/sr1973.pdf
Externer Link: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157841/umfrage/ranking-der-20-laender-mit-dem-groessten-bruttoinlandsprodukt/. Beim BIP je Einwohner (rd. 147 Mio.) wird die Begrenztheit verfügbarer Ressourcen noch deutlicher: USA: 66.300 US-Dollar, Italien: 44.200 US-Dollar, Russland: 28.200 US-Dollar (13. Rang), Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/wirtschaft-finanzen/_inhalt.html.
| Article | Liana Fix | 2023-06-14T00:00:00 | 2021-09-15T00:00:00 | 2023-06-14T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/340286/russland-und-innerstaatliche-konflikte/ | Russlands Engagement in innerstaatlichen Konflikten reicht weit über den postsowjetischen Raum hinaus. Moskau sieht darin eine Möglichkeit, seine globale Machtposition zu stärken. Deshalb werden v.a. Konfliktparteien unterstützt, die den russischen I | [
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Französische Außenpolitik unter Nicolas Sarkozy | Frankreich | bpb.de | Einleitung
Bruch mit der Vergangenheit und Neuanfang waren die dominierenden Schlagworte in Nicolas Sarkozys Wahlkampf. Der neue französische Staatspräsident, ehemaliger Chef der Volksbewegungsunion UMP (Union pour un mouvement populaire), will die Stagnation beenden, welche die französische Gesellschaft seit Jahrzehnten plagt, und das Land modernisieren. Außenpolitische Themen haben im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt, denn es bestehen zwischen dem sozialistischen und dem konservativen Lager keine fundamentalen Meinungsverschiedenheiten. Schließlich betrifft die vom Staatschef versprochene "Öffnung" seiner Regierung über das eigene konservative Lager hinaus gerade die auswärtigen Dienste. Bernard Kouchner, einst Gesundheitsminister unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand und einer der - nunmehr ehemals - prominentesten Persönlichkeiten des linken Spektrums in Frankreich, ist zum Außenminister ernannt worden. Er hat für die Europäischen Angelegenheiten mit Jean-Pierre Jouyet einen ebenfalls sozialistischen Staatssekretär. Mit der Berufung des bisherigen Fraktionschef der zentristischen UDF im Parlament, Hervé Morin, zum Verteidigungsminister, belohnt Sarkozy dessen Einsatz, mehr als zwei Drittel der UDF-Abgeordneten ins Lager der Regierungsmehrheit gebracht zu haben. In der französischen Außenpolitik dürfte die Sicherung der Interessen Frankreichs oberster Grundsatz bleiben. Wider eine nihilistische Grundatmosphäre in Europa
Wie in der Innenpolitik muss auf europäischer Ebene jetzt gemäß Sarkozy alles sehr schnell gehen. In seiner Ansprache am Wahlabend des 6. Mai 2007 verkündete der neugewählte Präsident: "Frankreich ist in Europa zurück." Nachdem sich in den letzten zwei Jahren die pessimistische Auffassung verbreitet hatte, dass in Europa nichts mehr möglich sei, verbanden die Regierungskanzleien der europäischen Hauptstädte den Aufbruch in Frankreich mit der berechtigten Hoffnung auf einen Auftrieb der Europäischen Union (EU), die seit der französischen Ablehnung der europäischen Verfassung im Referendum vom 29. Mai 2005 praktisch lahmgelegt war. Nicht zufälligerweise wurde vor der Wahl angedeutet, Frankreich müsse nach Jacques Chiracs Ausscheiden wieder eine starke Rolle in Europa spielen: "Sich dem europäischen Engagement Deutschlands mit dem gleichen Pragmatismus und der gleichen Energie anzuschließen - das muss das wichtigste Ziel des nächsten französischen Staatsoberhaupts sein, und zwar sowohl im Interesse Frankreichs als auch im Interesse Europas."
Die Ablehnung des EU-Verfassungstextes durch die Franzosen im Jahre 2005 hatte, ähnlich wie bei der Innenpolitik, eine seit längerer Zeit schwelende Debatte über die "französische Malaise" beschleunigt und verstärkt. Dabei ging es nicht so sehr um den Verlust französischen Einflusses in Europa, die eigentliche Frage hatte viel mit Frankreichs Glaubwürdigkeit zu tun und mit seiner Fähigkeit, eine treibende Kraft innerhalb Europas zu bleiben. Darüber hinaus verhalf das französische "Non" dem Europa-Skeptizismus in anderen Mitgliedsstaaten zu neuer Legitimität. Das Ergebnis der Volksbefragung in Frankreich hatte wiederum die Ängste anderer europäischer Partner verstärkt, sodass jeder Versuch ihrerseits, die EU-Verfassung wieder auf die Tagesordnung zu setzen, ebenfalls an nationalen und europaweiten Widerständen scheitern würde.
Nicolas Sarkozy befürwortete mehrmals nach dem "Nein" einen "Mini-Vertrag" bzw. "vereinfachten Vertrag" (traité simplifié) für Europa zur Überwindung der Verfassungskrise, der sich auf die zentralen Institutionen- und Verfahrensreformen konzentrieren und vom Parlament ratifiziert werden sollte.
Gleich nach seinem Amtsantritt in Paris, am 16. Mai 2007, reiste Staatspräsident Sarkozy zu seinem ersten offiziellen Besuch nach Berlin, wo er sich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über einen reduzierten Verfassungsvertrag einigte, der die Substanz der gescheiterten EU-Verfassung retten und die Institutionen der Union wieder in Schwung bringen sollte. Zwar trägt die EU-Vertragsreform nicht mehr den Namen "Verfassung", doch die 27 EU-Mitgliedstaaten konnten sich am 22. Juni 2007 auf eine Reform de Gemeinschaft verständigen. Ein neuer Grundlagenvertrag soll bis 2009 in Kraft treten. In der zentralen Streitfrage der künftigen Stimmengewichtung drängte Sarkozy Polens Präsident Lech Kaczynski zum Einlenken. Er spielte in der Tat eine herausragende Rolle, indem er die Ratspräsidentin Angela Merkel klar unterstützte und sich als Vermittler zwischen Deutschland und Polen einschaltete.
Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Chirac ist Sarkozy allerdings erklärter Gegner eines EU-Beitritts der Türkei. "Die Türkei hat keinen Platz in Europa", sagte er der Pariser Zeitung Le Figaro. Wie Bundeskanzlerin Merkel plädiert er für eine "privilegierte Partnerschaft" statt einer Vollmitgliedschaft. So wurde am 26. Juni 2007 auf sein Drängen hin das Kapitel über die Teilnahme der Türkei an der Wirtschafts- und Währungsunion bei der nächsten Stufe der Beitrittsverhandlungen gestrichen. Schließlich soll nach dem Willen Sarkozys auf dem EU-Gipfel im Dezember 2007 eine Grundsatzdebatte über die Grenzen der EU - und damit auch über die Türkei-Frage - geführt werden.
Frankreichs Staatspräsident will Europa fit machen für die Zukunft. Doch die grundsätzliche Frage, ob das Europa der Macht (Europe puissance) sich vom Nationalstaat emanzipiert oder nur eine intergouvernementale Verlängerung der französichen Politik mit Unterstützung durch den deutsch-französischen "Motor" und eine Verteidigungskooperation mit den Briten (neben Frankreich die einzige europäische Atommacht) sein soll, bleibt aktuell. Bei einer Analyse der derzeitigen Schwierigkeiten grenzüberschreitender strategischer Industrieprojekte wie Airbus oder Galileo stellt sich die Frage, ob die jetzige Politik wirklich der Schaffung europäischer Champions mit dem Ziel eines gemeinsamen Erfolgs oder einzig und allein der Verteidigung des eigenen nationalen Standorts dient. In Deutschland ist Sarkozy mit der Forderung nach nationalen Champions in der Wirtschaft und der Verhinderung eines Teilerwerbs von Alstom durch Siemens in Erinnerung geblieben. Das neue Staatsoberhaupt ließ auch schon früh durchblicken, dass die Beziehungen zum Nachbarn wohl nicht mehr ganz so herzlich bleiben würden. "Auch wenn die deutsch-französische Entente nach wie vor notwendig ist", schreibt er in seinem politischen Glaubensbekenntnis, "so ist sie, meiner Überzeugung nach, als Motor nicht mehr ausreichend leistungsfähig". Sarkozys wohlwollender Patriotismus
Der französische Präsident ist ein "Pragmatiker, der Frankreichs Interessen sehr hart vertreten wird - auch gerade gegenüber den Brüssler EU-Instanzen" erklärt Max Gallo, Schriftsteller und Historiker, ehemaliger Regierungssprecher unter Präsident François Mitterrand, der den UMP-Kandidaten unterstützt hat. Wenn Sarkozy die Notwendigkeit einer engen deutsch-französischen Zusammenarbeit bewusst ist, "dürfte aber die Romantik, die Sentimentalität in der Beziehung zwischen Paris und Berlin verschwinden". Sarkozy verkörpert eine neue Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde. Für den neuen Staatspräsidenten ist die europäische Einigung und die deutsch-französische Verständigung weniger Herzenssache als Selbstverständlichkeit. So erklärte er mit Blick auf das deutsch-französische Verhältnis am 16. Mai in Berlin nüchtern, dass "nichts diese Freundschaft in Frage stellen wird".
"Die Hoffnung" (L'espoir) titelte die rechte Zeitschrift Valeurs actuelles nach dem Sieg von Nicolas Sarkozy - Hoffnung darauf, dass der neugewählte Präsident die eigenen nationalen Interessen vorantreiben wird. Bereits am Wahlabend des 6. Mai ermahnte Sarkozy seine europäischen Partner, die "Stimme der Völker, die geschützt werden wollen", zu hören und nicht taub zu bleiben gegenüber dem "Zorn der Völker, welche die EU nicht als Schutz empfinden, sondern als trojanisches Pferd für alle Bedrohungen, welche die Umwälzungen der Welt mit sich bringen". Er plädiert für eine Gemeinschaftspräferenz, sieht die EU als Schutzwall gegen eine unfaire, sich auf Sozial- und Umweltdumping stützende Handelskonkurrenz aus China und Indien und möchte dieser mit Schutzzöllen begegnen.
Präsident Sarkozy propagiert zwar einen liberaleren Wirtschaftskurs als seine Vorgänger, aber im Zweifel folgt er der französischen Tradition des Staatsinterventionismus und distanziert sich vom Europa der Eurokraten. Bereits im Wahlkampf machte er die Stärke des Euro für die flauen Exporte in Frankreich verantwortlich und kritisierte dafür die Europäische Zentralbank. Um innenpolitischen Druck abzulassen und die jakobinischen Reflexe seiner Mitbürger zu besänftigen, tritt er gern als Hüter des "ökonomischen Patriotismus" auf, den er als kurzzeitiger Wirtschaftsminister 2004 mit den klassischen Instrumenten staatlicher Industriepolitik bis hin zum Protektionismus schon praktizierte. Sarkozys Auffassungen wurden vom britischen Schatzkanzler Alistair Darling scharf kritisiert : "I do not believe in economic patriotism", sagte er, "I think it is nonsense. Economic patriotism is protectionism and there is no other name for it." Diese Kombination aus starkem Protektionismus und Kritik an den europäischen Institutionen als Ursache für Frankreichs Krisen enthält bereits einiges Konfliktpotenzial, auch für die deutsch-französischen Beziehungen. Heftige Kritik übten auch die Finanzminister der Eurozone in Brüssel am 9. Juli 2007, als Präsident Sarkozy vor ihnen verkündete, er wolle versuchen - wie in der Euro-Runde vereinbart -, bis 2010 einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, doch gleichzeitig zu verstehen gab, dass sein kostspieliges Reformprogramm Priorität genießen werde. Damit wird Frankreich wohl erst bis zum Jahre 2012 den Schuldenberg abbauen können.
Diese "harte" Vertretung nationaler Interessen kommt auch in den transatlantischen Beziehungen zum Vorschein. Bei der das G8-Gipfeltreffen abschließenden Pressekonferenz am 8. Juni 2007 in Heiligendamm sagte der französische Präsident zu seinem amerikanischen Amtskollegen George W. Bush, dass er die "Interessen Frankreichs verteidigen würde, wie Bush die Interessen der Amerikaner verteidigt" und, dass "Gegenseitigkeit gefragt ist". In seinem Buch, das kurz vor seiner Wahl erschienen ist, schreibt Sarkozy, dass "sein Land sich eifrig um das Eintreten für die nationalen Interessen betätigen muss", denn "Unabhängigkeit, ganz zuerst gegenüber Amerika, das ist selbstverständlich der Leitsatz der französischen Diplomatie".
"Sarkozy l'Américain" erwies sich dennoch als Wunschkandidat der US-Neokonservativen, und im Verhältnis Frankreichs zu den Vereinigten Staaten ist seit seiner Wahl in der Tat Entspannung angesagt. Noch als Innenminister hatte Sarkozy, der im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute ein ungestörteres Verhältnis zu den Vereinigten Staaten hat, am 12. September 2006 in Washington die Großsprecherei der französischen Politik im Irak kritisiert. Vor dem US-Präsidenten stellte er der anti-amerikanischen Irak-Politik Jacques Chiracs schlechte Noten aus. Selbst die allseits bewunderte souveräne Rede des damaligen französischen Außenministers Dominique de Villepin, im Februar 2003 vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, bezeichnete er abfällig als sterilen Bombast und versprach, die transatlantische Partnerschaft neu aufzubauen. Allerdings wusste er aber auch, dass in Frankreich als bester Freund der Amerikaner keine Wahlen zu gewinnen sind, und so lobte er doch öfters während des Wahlkampfs die ablehnende Haltung Chiracs zur US-Intervention im Irak. Gleich in seiner ersten Rede nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses forderte er Washington auf, sich nicht länger dem Kampf gegen die Erderwärmung zu entziehen und das Protokoll von Kyoto umzusetzen. Die Vereinigten Staaten könnten sich im Kampf gegen den Klimawandel nicht mehr aus der Verantwortung stehlen. "Wie selbstbewusst die Europäer dabei sind", zeigte er, als er bei der Abschlusspressekonferenz des G8-Gipfeltreffens gefragt wurde, wie er die Vereinbarung zum Klimaschutz bewerte. Er gab sich nicht die geringste Mühe, die Vereinigten Staaten das Gesicht wahren zu lassen: "Bis gestern hatten wir einen amerikanischen Präsidenten, der behauptet: es gibt kein Problem", sagte er. Und wenn es ein Klimaproblem gebe, dann habe das nichts mit den Menschen zu tun, zitierte er Bush weiter. Sarkozy machte eine Pause, und dann kombinierte er sechs Wörter zu einem kargen, maliziösen Satz: "Letzte Nacht ergab sich etwas anderes." Rang auf der Weltbühne wahren
Frankreichs Einfluss in der Welt hat sich natürlich seit dem Ende des Kalten Krieges verändert, Paris wird aber nicht auf internationale Ambitionen verzichten. So wurde unter Führung des Außenministers Kouchner ein Darfur-Gipfel in Paris am 25. Juni 2007 organisiert. In den schwierigen Auswegen, die aus der Krise zu finden sind, wollte er wenigstens eine humanitäre Verbesserung sicherstellen. Gemeinsam mit den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union haben die G8-Länder in Paris den Druck auf Sudans Regierung erhöht, damit die humanitäre Katastrophe in der Dafur-Provinz beendet wird. In diesem Sinne war der Pariser Gipfel ein "Zeichen dafür, dass Frankreich gerade dabei ist, seine Dynamik in der Außenpolitik wiederzufinden".
Mit Sarkozy "bleibt Frankreich eine globale Macht", das Land der Menschenrechte, das mit der Frankophonie im Rücken eine besondere kulturelle Identität verteidigt, die sich von der Globalisierung unter angelsächsischer Führung bzw. zunehmender Anglisierung distanziert. In seinem Buch, das seine wichtigsten Überlegungen zum Wahlkampf zusammenfasst, schreibt Sarkozy, er wolle als Präsident die Frankophonie "an die erste Stelle der diplomatischen Prioritäten setzen". Frankreich ist zudem über seine eigenen Interessen hinaus als willige Feuerwehr tätig, seine Armee verfügt über ein wertvolles Erfahrungskapital, sowohl dank ihrer früheren kolonialen Einsätze als auch dank einer systematischen Ausbildung für Auslandseinsätze. Besonderen Wert misst Frankreich seiner Unabhängigkeit bei, ein Prinzip, das die unter Staatspräsident Charles de Gaulle in den 1960er Jahren eingeleitete Außenpolitik stark geprägt hat. So stellt sich Sarkozy Frankreich als "Macht für die Zukunft" (puissance d'avenir) vor. In L'Ile-Longue, dem französischen Atom-U-Boot-Stützpunkt, erklärte er am 13. Juli 2007, dass er wie seine Vorgänger auf die autonome und glaubwürdige französische nukleare Abschreckung setze, verbunden mit dem Wunsch nach einer Verstärkung der europäischen Verteidigungspolitik. Die Rolle der französischen Armee in der Welt und andere strategische Optionen müssen allerdings diskutiert werden. Sarkozy hatte im Wahlkampf den Bau eines zweiten Flugzeugträgers versprochen. Wenn dieser gebaut wird, müssten allerdings aus Kostengründen andere Programme gestrichen werden. Die Entscheidung darüber wird zwar erst im Frühling 2008 mit der Debatte über das militärische Programmgesetz 2009 - 2013 (Loi de programmation militaire 2009 - 2013) fällig. Doch die "Festlegung von Prioritäten" wird, so Verteidigungsminister Hervé Morin, unausweichlich sein.
Zu den strategischen Interessen Frankreichs gehören selbstverständlich die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die unter Chirac gelitten haben. Auch für eine sich noch so selbstbewusst gebende französische Diplomatie bleibt offensichtlich, dass es für sie außerhalb eines solide geeinten europäischen Pols keine Multipolarität geben kann. Bis auf weiteres ist aber dieser europäische Pol ohne transatlantische Verkettung nicht denkbar. Die Priorität auf der Bildung einer welt- und damit auch verteidigungspolitisch glaubwürdigen EU, also ein international aktionsfähiges Europa, setzt auch für Paris ein ausreichend vertrauensvolles Verhältnis zu den Vereinigten Staaten voraus. In seiner ersten offiziellen außenpolitischen Erklärung stellte Sarkozy fest, dass Frankreich "immer an der Seite der Amerikaner steht, wenn sie es brauchen", was aber auch bedeutet, dass sie "akzeptieren müssen, dass Freunde anders denken können". In seiner Rede am 7. März 2007 in Paris, bei der UMP-Tagung über Sicherheitsfragen, verkündete er, dass die NATO sich auf keinen Fall zu einer Konkurrentin der Vereinten Nationen entwickeln sollte, "wie anscheinend die Vereinigten Staaten es sich wünschen". Im Gegenteil, wie einst sein Vorgänger Präsident Chirac plädierte er für eine NATO, die sich "strikt auf ihre klare geopolitische Verankerung in Europa und ihre militärische Doktrin beschränkt". Sarkozy spricht sich zwar für eine Reform und eine Stärkung der Vereinten Nationen aus und befürwortet einen ständigen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat sowie einen für Japan, Indien und Brasilien, er lehnt aber eine Umwandlung des französischen (und britischen) in einen europäischen Sitz ab.
Die neue Machtelite in Frankreich spricht nicht von einer Sonderstellung des Landes, also der gaullistischen und weltumspannenden Botschaft Frankreichs. Das Wort von der "Grande Nation", das in Deutschland von manchen - und mit ironischem Unterton - zitiert wird, kommt in Frankreich nicht mehr vor, anders das Wort "Rang". Für die politische Elite Frankreichs enthält es nicht in erster Linie eine Forderung an andere, Frankreich einen besonderen Platz einzuräumen, es drückt vielmehr Erwartungen aus, die sie von ihrem Land erfüllt sehen möchte. Sarkozy überschätzt nicht das tatsächliche französische Machtpotenzial, aber er rückt Frankreich international ins Scheinwerferlicht und wertet zusätzlich sein persönliches Prestige auf, sowohl in seinem eigenen Land als auch in bestimmten Regionen der Welt. Eine neue Mittelmeer- und Afrikapolitik?
Seit der Ära von General de Gaulle sind die Grundsätze der französischen Diplomatie konstant geblieben: Machtkonkurrenz gegen Washington, Skepsis bei der Vertiefung der EU und pro-arabische Neigung in Nahost. Auf der diplomatischen Agenda des Staatspräsidenten Sarkozy haben nun die geostrategischen Herausforderungen und Migrationsfragen im Mittelmeerraum und in Afrika höchste Priorität. Der erste offizielle Besuch außerhalb Europas führte Nicolas Sarkozy am 10. und 11. Juli 2007 nach Algerien und Tunesien. Am 25. Juli besuchte er Libyen, das einen Tag vorher die bulgarischen Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt freigelassen hatte, denen man vorwarf, libysche Kinder mit dem HI-Virus infiziert zu haben. Cecilia Sarkozy, die neue "Premiere Dame", begleitete sie medienwirksam nach Bulgarien. Könnte die Zielsetzung, diese Herausforderungen anzunehmen, einen Wandel im Bereich der oft "zynischen" französischen Realpolitk herbeiführen?
Noch am Wahlabend wandte sich Sarkozy auch an die Völker des Mittelmeerraumes, eine Region, der ihm zufolge "eine entscheidende Bedeutung zukommt". Er schlug unter anderem den "Aufbau einer Mittelmeerunion" vor, die "als Verbindung zwischen Europa und Afrika fungieren wird". Was für die Europäische Gemeinschaft vor 60 Jahren getan wurde, sollte, so Sarkozy, "heute für die Einigung des Mittelmeerraums" getan werden. Ein besonders ehrgeiziges Projekt: Frankreich, als maßgebliche Macht im Mittelmeerraum, soll die Initiative ergreifen, um zusammen mit Portugal, Spanien, Italien, Griechenland und Zypern eine Mittelmeerunion mit eigenen Institutionen zu gründen. Er will aber auch die Türkei in diese Union einbeziehen, deren Grundlage unter französischem EU-Vorsitz im zweiten Halbjahr 2008 gelegt werden könnte. In Bezug auf den Nahen Osten vertritt der französische Präsident eine Position, die sich der amerikanischen annähert und die den Kampf gegen den Terrorismus und die Verteidigung Israels in den Vordergrund stellt. Er schlägt eine "privilegierte Partnerschaft" zwischen Europa und den Ländern der Region vor, wobei Israel an erster Stelle stehen soll. Frankreich besitzt zwar keinen bemerkenswerten Einfluss auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Dank seines Rufes einer gewissen Eigenwilligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten wird es jedoch in den verschiedenen Ländern als hinreichend glaubwürdiger Gesprächspartner anerkannt, mit der Möglichkeit, gelegentlich auch amerikanische Thesen oder Pläne sachlich erläutern zu können.
Während Valéry Giscard d'Estaing mit dem Diktator Bédel Bokassa befreundet war, François Mitterrand noch nach dem Mauerfall nach Ostberlin reiste und der DDR-Führung Mut machte, und nicht zuletzt afrikanische und arabische Diktatoren auf Jacques Chiracs Wohlwollen zählen konnten, bekennt sich Nicolas Sarkozy als erster französischer Präsident demonstrativ zu den Menschenrechten, die "kein Detail" seien, sondern für die Idee einer internationalen Gemeinschaft das Fundament überhaupt. So hofft Paris auch mit Moskau eine Debatte über Tschetschenien, die Pressefreiheit und die Menschenrechte führen zu können, als Voraussetzung für eine "echte Partnerschaft des Vertrauens und der Freundschaft" mit Russland. So appellierte Sarkozy direkt nach seiner Wahl "an alle, die auf dieser Welt an die Werte der Toleranz, der Freiheit, der Demokratie und des Humanismus glauben, an alle, die von Tyranneien und Diktaturen verfolgt werden, an alle Kinder und alle Frauen, die geschunden werden, um ihnen zu sagen, dass sie auf Frankreich zählen können".
Bedeutet dies nun ein Ende der französischen Sonderrolle in Afrika, das Ende der Françafrique? Sarkozy hat mehrmals zu verstehen gegeben, dass nach den Gefälligkeiten und den Zweideutigkeiten eine neue Ära zwischen Frankreich und Afrika beginnen muss. Er hat sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf dem internationalen Parkett für eine nachhaltige Entwicklungspolitik eingesetzt. Zudem will er auch gemeinsam mit den afrikanischen Partnern über Einwanderungspolitik entscheiden. Gleichzeitig - und trotz der bitteren Erfahrungen in Rwanda und Burundi - glaubt Frankreich, seine Beistandsverpflichtungen weiterhin erfüllen zu müssen, in der nicht unberechtigten Annahme, dass seine militärischen Interventionen, wie unlängst in der Elfenbeinküste und im Kongo, keinen kolonialistischen und keinen national-egoistischen Verdacht zulassen. Paris akzeptiert auch eine gewisse Multilateralisierung der Beziehungen zu Afrika, insbesondere weil es mit der Verwaltung von Krisenfolgen und humanitären Katastrophen nicht allein gelassen werden möchte. Will Frankreich seine internationale Glaubwürdigkeit nicht gefährden, darf es Afrika nicht im Stich lassen, so Sarkozy in einem Interview. Außenminister Kouchner, ehemals ein hoher Repräsentant der Vereinten Nationen im Kosovo, hat in den 1990er Jahren das Recht auf Einmischung (droit d'ingérence) erfunden, das zum Eingreifen der NATO in Ex-Jugoslawien führte. Und so mischt er sich als "unermüdlicher Flibustier" in seinem langen Kampf für humanitäre Hilfe und Humanität im Allgemeinen noch immer überall ein.
Frankreichs Interessen in Afrika sind leicht zu überblicken, besonders wenn es um Bodenschätze wie Öl geht. Außerdem drängen die Vereinigten Staaten sowie China seit den 1990er Jahren verstärkt auf den Kontinent. Trotz des relativen Niedergangs der französischen Rolle genießt Paris immer noch Großmachtstatus in Afrika. Wird sich Paris nun an seine herkömmliche Machtposition in Afrika klammern? Die Frage, wie sich die französische Afrikapolitik entwickeln wird, bleibt offen, aber radikale Änderungen sind in diesem Falle sicher nicht zu erwarten, eher eine Veränderung im politischen Stil. Überhaupt wird es wohl zu keiner neuen "ideologischen Ausrichtung" der Außenpolitik kommen, sie wird von "Realismus geprägt sein und sich nach den Gegebenheiten vor Ort, den internationalen Beziehungen und wirtschaftlichen Interessen richten". Verstärkte "Präsidialisierung" der Außenpolitik
Dem sozialistischen Realpolitiker Hubert Védrine, ehemaliger Außenminister unter Mitterrand und Premierminister Lionel Jospin, wurde sein früheres Ministerium angeboten. Er lehnte jedoch ab, da er nicht über hinreichende politische Autonomie gegenüber dem neuen Staatsoberhaupt verfügt hätte. Kouchner, der in Sachfragen der internationalen Politik entgegengesetzte Positionen zu denen Védrines vertreten hat, übernahm stattdessen das Amt. Tatsächlich entspricht Kouchners pro-amerikanische und interventionistische Linie eher den Positionen Sarkozys. Nun wird der neue Staatspräsident die Außenpolitik aber weitgehend selbst in die Hand nehmen und nicht dem Minister überlassen. Sie soll zwar nicht wie bisher die "reservierte Domäne" des Präsidenten sein, sondern vom Parlament diskutiert werden. Gemäß der Verfassung ist aber der Präsident Oberbefehlshaber und hat in der Verteidigungs- und Außenpolitik das endgültige Sagen. Die skeptische Haltung Kouchners in der Türkei-Frage wird nicht weiterhelfen: Nach der französischen Verfassung wird der Außenminister mit Sarkozy an einem Strang ziehen oder gehen müssen.
Um das Profil der Außenpolitik zu schärfen, wird Präsident Sarkozy einen politisch-militärischen "Nationalen Sicherheitsrat" gemäß dem US-Vorbild schaffen, der dem Staatsoberhaupt direkt zuarbeiten soll und der übrigen Regierung damit Kompetenzen entziehen wird. Bislang war nur die "afrikanische Zelle" im Elysée-Palast, die für die offene und verdeckte "neokoloniale" Afrikapolitik zuständig ist, unmittelbar dem Präsidenten unterstellt. Zukünftig soll die Zelle für afrikanische Angelegenheiten dem neu zu bildenden Nationalen Sicherheitsrat angegliedert werden. Chefberater des Gremiums soll der diplomatische Berater und Gipfelbeauftragter (Sherpa) des Präsidenten, Jean-David Levitte, werden. Der erfahrene Diplomat, einst Ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen und zuletzt Botschafter in Washington, gilt als Außenminister in spe.
Diese Machtkonzentration der außenpolitischen Aktivitäten in den Händen von Nicolas Sarkozy ist eigentlich keine Besonderheit, denn die Führung der Außen- und Verteidigungspolitik ist in der Fünften Republik die Hauptaufgabe des französischen Präsidenten. Diese Tatsache könnte für die Partner sogar vorteilhaft sein, denn nun hat Frankreich mit Sarkozy wieder einen starken Politiker mit Überzeugungen und Tatendrang an seiner Spitze. Patriotische Egoismusanfälle werden der Harmonie unter anderem in der deutsch-französischen Partnerschaft nicht schaden, solange der Wille zur Zusammenarbeit mit Pragmatismus bestimmend bleibt. So haben sich auch Angela Merkel und Nicolas Sarkozy am 16. Juli 2007 in Toulouse auf die Neuausrichtung des europäischen Luft- und Raumfahrtkonzerns EADS und seiner Tochter Airbus verständigen können. Außerdem haben alle französischen Politiker, die positiv für Europa gewirkt haben, den nationalen Patriotismus mit der europäischen Berufung verbunden. Für Sarkozy legitimiert sich (Außen-)Politik aus einer grundsätzlich patriotischen Gesinnung. Anlass zur Sorge? Für das offizielle französische Präsidentenfoto ist Sarkozy das erste Staatsoberhaupt, das die EU-Fahne neben die französische Tricolore stellen ließ. Das ist keine harmlose Botschaft, wenn man um die Bedeutung der symbolischen Gesten in Frankreich weiß.
Dominique Moïsi, Knigge für die Grande Nation, in: Internationale Politik, 62 (2007) 4, S. 33.
Vgl. Nicolas Sarkozy, EU reform: What we need to do, in: Europe's World, 1 (2006) 4, S. 56 - 63.
Polen sah sich durch das im Verfassungsentwurf vorgesehene Verfahren der doppelten Mehrheit benachteiligt. Danach erfordern Beschlüsse eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedsländer, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen. Warschau schlug dagegen eine Berechnung vor, die Polen und andere Länder mit geringerer Bevölkerungszahl als Deutschland, Großbritannien, Italien oder Frankreich besser stellen solte. Warschau wollte dabei, dass aus der Zahl der Einwohner in einem EU-Land die Quadratwurzel gezogen und dann erst das Stimmengewicht festgelegt wird.
Vgl. Jean-Gabriel Fredet, Sarko. Mecano de l'Europe, in: Le Nouvel Observateur, Nr. 2225 vom 28.6. 2007, S. 40 - 44.
Interview mit Staatspräsident Nicolas Sarkozy, in: Le Figaro vom 7. 6. 2007.
Vgl. Horst Bacia, EU-Beitrittsverhandlungen. Frankreich bremst Türkei-Gespräche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26. 6. 2007.
Nicolas Sarkozy, Témoignage, Paris 2006, S. 72.
Spiegel-Gespräch mit Max Gallo, in: Der Spiegel, Nr. 20 vom 14. 6. 2007, S. 123.
L'espoir (Titelseite), in: Valeurs actuelles, Nr. 3675 vom 8. 5. 2007.
Chris Gilles, Darling on ..., in: Financial Times Deutschland (FTD) vom 4. 7. 2007.
Nikolas Sarkozy, Ensemble, Paris 2007, S. 86 und 91.
Markus Feldenkirchen u.a., Suche nach der Weltformel, in: Der Spiegel, Nr. 24 vom 11. 6. 2007, S. 25.
Pierre Rousselin, Mobilisation pour le Darfour, in: Le Figaro vom 26. 6. 2007.
Frédéric Charillon, Influence: le vrai potential du "soft power" à la française, in: Le Figaro vom 10. 5. 2007.
Als Frankophonie wird die Gesamtheit des französischen Sprachraumes bezeichnet. Rund 500 Millionen Menschen sprechen heute Französisch.
Vgl. N. Sarkozy (Anm. 11), S. 49.
Vgl. Ernst Weisenfeld, Geschichte Frankreichs seit 1945. Von de Gaulle bis zur Gegenwart, München 1997.
Interview mit Nicolas Sarkozy, in: Politique internationale, 29 (2007) 115, S. 143 - 159.
Interview mit Verteidigungminister Hervé Morin, in: Le Figaro vom 30. 6. 2007.
Vgl. N. Sarkozy (Anm. 11), S. 93 - 106.
Vgl. Christian Makarian, Mare Sarkozyum, in: L'Express, Nr. 2915 vom 17. 5. 2007, S. 71.
Vgl. N. Sarkozy (Anm. 7), S. 264.
Natalie Nougayrède, Le nouveau dialogue franco-russe, in: Le Monde vom 6. 6. 2007.
Das Wort Françafrique wurde von dem verstorbenen Schrifsteller François-Xavier Verschave geschaffen, um den Begriff France-Afrique (Félix Houphouët-Boigny, verstorbener Staatspräsident der Elfenbeinküste) zu parodieren. Es bezeichnet die derzeitigen Verhältnisse Frankreichs mit den ehemaligen Kolonien bzw. den verborgenen Teil der französischen Politik in Afrika.
Vgl. Interview mit N. Sarkozy (Anm. 18).
Christophe Barbier, Kouchner infatigable flibustier, in: L'Express, Nr. 2916 vom 24. 5. 2007, S. 42f.
Vgl. Vincent Hugeux, Afrique. L'énigme Sarkozy, in: L'Express, Nr. 2919 vom 14. 6. 2007, S. 76 - 79.
Beatrice Gorawantschy, Präsident Sarkozy. Beginn einer Ära des politischen Umbruchs, in: KAS/Auslands-Informationen, Nr. 6, Juni 2007, S. 26.
Von allen Staatsoberhäuptern der EU hat Frankreichs Präsident die meisten Vollmachten. Er ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Minister. Er ist dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich, kann es aber auflösen und Neuwahlen ausschreiben.
Vgl. Interview mit Bernard Kouchner, in: New York Times vom 19. 5. 2007.
| Article | Martens, Stephan | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30236/franzoesische-aussenpolitik-unter-nicolas-sarkozy/ | Staatspräsident Sarkozy will die Lähmung der EU überwinden und neue Akzente in der Mittelmeer- und Afrikapolitik setzen. Ebenso will er das Land wieder näher an die USA heranführen. | [
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"Räume geben für gemeinsames Tun" | Kulturelle Bildung | bpb.de | Die Gruppe hat sich darauf konzentriert, Kriterien für gemeinsame Projekte der politischen und kulturellen Bildung zu sammeln.
Ausgangspunkt:
müsse eine konkrete Frage, ein Konflikt oder eine Relevanz für eine bestimmte Zielgruppe sein. Wichtig dabei: gesellschaftliche und persönliche Relevanz des Themas Projekt als geschützter Raum
Phasen eines Projekts:
Erhebung Entwicklung Durchführung Reflexion
Transparenz über Interessen:
"Die Teilnehmenden sollen vor den Veranstaltenden geschützt werden", indem man Transparenz herstelle:
Was mache ich? Warum mache ich es? Offenheit für Anpassung Offenheit zu scheitern
Die Institution und auch die veranstaltenden/durchführenden Personen müssten ihre eigene Position stets reflektieren: "Wer verfolgt welche Interessen mit dem Projekt?"
Methoden:
Gesellschaftlicher/historischer Hintergrund Offene Handlungs-/Beteiligungsräume schaffen, Partizipation ermöglichen Symmetrische Kommunikation Gemeinsame Suchbewegung Raum für Ungeplantes, Überraschungen Gruppendynamik Autorität v. Autonomie: Entwicklung von Leitplanken, Setzungen und Zielen vs. offener Prozess Emotionalität vs. Kognition: Reflexion über die jeweiligen Anteile Widerstreitende Interessen und Dissenz als Teil politischer Bildung
Anspruch:
Teilnehmenden verstehen, dass sie die Akteure sind Gemeinsame Entscheidungen Präzision in der Umsetzung Sorgfalt Hohe künstlerische Qualität Selbstwirksamkeit befördern Ausdrucksfähigkeit erhöhen Teilhabe oder Unterstützung bei Selbstermächtigung
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2015-12-15T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/217419/raeume-geben-fuer-gemeinsames-tun/ | In der Kleingruppe "Sofaecke" stand die Suche nach Kriterien für ein gelungenes Projekt im Fokus. Transparenz über die Interessen, die man mit einem Projekt verfolge, (ergebnis-) offene Handlungsräume zu schaffen und Dissenz zuzulassen waren dabei wi | [
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"Nazi-Outing" | Linksextremismus | bpb.de |
Nazi-Outing-Website mit der Aufforderung, die abgebildeten Personen zu benennen. (verfremdeter) Screenshot vom 21.05.2012, https://linksunten.indymedia.org/de/node/6761.
Einleitung
Achtung Neonazi – Nazis raus aus der Anonymität". Diese Aufforderung stand auf einem Flyer, den die Antifa-Gruppe einer Kleinstadt im Norden Deutschlands Anfang 2011 in der Öffentlichkeit verteilte und auch im Internet veröffentlichte. Der offensiven Überschrift folgten der vollständige Name, die Privatadresse, die Handy- und Festnetznummer eines mutmaßlichen Rechtsextremisten aus der Gegend und einige aufklärende Hinweise auf das "moderne Image", das sich "Neonazis" mittlerweile geben. Außerdem zeigte der Flyer Fotos des Angezeigten und Informationen zu einschlägigen Veranstaltungen, die er besucht haben soll.
Für keinen der Passanten dürfte es ein Problem dargestellt haben, sich von der politischen Gesinnung des angeprangerten Jugendlichen ein Bild zu machen. Stieß er sich daran, konnte er den "Neonazi" aufgrund des Flyers aufsuchen. Solch ein Vorgang ist kein Einzelfall. Nur erlangen derartige linksautonome Aktionen, die sich im "analogen Leben" abspielen, nur selten Bekanntheit über die Szene und die direkte Umwelt eines geouteten (vermeintlichen) Rechtsextremisten hinaus. Zu zweifelhafter Prominenz kam das Portal nazi-leaks.net. Bis Ende 2011 konnte sich dort, wer wollte, über tatsächliche und vermeintliche "Neonazis" informieren und selbst Daten einreichen, "eine Art Wikileaks für Antifaschisten".
Definition und Praxis
Worum handelt es sich hierbei? Um persönliche Fehden? Politische Rachefeldzüge? Der von der Antifa verteilte Flyer sowie "nazi-leaks.net" sind Ausdruck eines Phänomens, das sich seit einigen Jahren vermehrter Beliebtheit im politischen Linksextremismus, gerade bei Autonomen erfreut: "Nazi-Outing". Dabei publizieren Sympathisanten und Mitglieder der Antifa private Informationen über einen oder mehrere tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten: Namen, Adressen, Telefonnummern, besuchte Veranstaltungen, schulische Bildung, Fotos, Berufsstand, Arbeitgeber, Partner, Accountdaten zu sozialen Netzwerken, Parteiaffinität usw. Die Geouteten sind zum Teil Jugendliche. Die Kommunikationskanäle reichen vom persönlichen Flyerverteilen und Plakatekleben über "Home-Visits" (Nachbarn werden via Megafon, Transparent und Flugzettel über die politische Gesinnung des/der Rechtsextremisten informiert) und "Besuche" in Vorlesungen bis hin zu einschlägigen Internetseiten (nazi-leaks.net). Angesprochen sind unbeteiligte Dritte, die von der politischen Gesinnung eines ihrer Mitbürger erfahren sollen; tatsächlich aber werden Outings größtenteils in einschlägigen Internetforen, wie "linksunten.indymedia.org", "de.indymedia.org", den Seiten der örtlichen Antifa ebenso in linksautonomen Zeitschriften wie der "Interim" mit Genugtuung erörtert. Weil "Nazi-Outings" meist Mitglieder der in Städten organisierten Antifa durchführen, finden die Aktionen in erster Linie dort statt: in Hamburg, Bremen und Köln zum Beispiel.
"Outing" hat seinen Ursprung in der Schwulen- und Lesbenbewegung der 1980er/1990er Jahre und ist der Szenebegriff für die Benennung prominenter Homosexueller (z. B. Alfred Biolek, Boy George, Hape Kerkeling) durch Dritte, um ihnen ein Bekenntnis zu ihrer sexuellen Orientierung zu entlocken. Damit sollte die gesellschaftliche Akzeptanz von und der offene Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe erzwungen werden. Das jüngere Phänomen des "Nazi-Outings" unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten vom sexuellen Outing:
In die Öffentlichkeit getragen wird nicht die sexuelle, sondern die politische Orientierung. Opfer sind nicht Menschen des übergeordneten öffentlichen Interesses ("Prominente"), sondern in aller Regel Privatpersonen. Auf die Förderung gesellschaftlicher Akzeptanz von Rechtsextremismus zielt keiner der linksextremistischen Outer – mögen ihre Beweggründe noch so uneinheitlich sein.
An beiden Outing-Formen ist wiederum der massive Eingriff in die Freiheitsrechte des Geouteten problematisch, denn er weiß von den Aktionen zuvor nichts.
Die noch recht junge politische Erscheinung blieb vom Fokus der Wissenschaft bislang verschont, wurde allenfalls vereinzelt in der Politik und in den Medien erörtert. Eine erste Analyse der (scheinbaren und tatsächlichen) Ziele und Funktionen des "Nazi-Outings" soll dem Phänomen näherkommen. Außerdem stehen die Wirkungen sowie moralische, rechtliche und demokratietheoretische Bedenken im Vordergrund.
Ziele und Funktionen
Der Antifaschismus steckt schon im Namen der Antifaschistischen Aktion (Antifa), die Beweggründe für ein "Nazi-Outing" gehen in der Szene aber auseinander. Das liegt in erster Linie an den Eigenschaften autonomer Linksextremisten: Sie sind organisations- wie autoritätsscheu und betonen Individualität. Einer unrepräsentativen Stichprobe des Verfassers nach verfolgen "Antifaschist_Innen" verschiedene Ziele, wenn sie "Nazis aus der Anonymität ans Licht der Öffentlichkeit [zerren]". Einige von ihnen fordern die Öffentlichkeit auf, Rechtsextremisten "jeglichen gesellschaftlichen Rückhalt und die Akzeptanz zu entziehen" und "sich gegen Nazis [zu] wehren". Sie zielen mithin auf couragiertes Verhalten gegenüber dem Rechtsextremismus, dessen Repräsentanten sie benennen. Andere wollen schlicht zur "vollständige[n] Enthüllung rechter Zusammenhänge" und zur "Aufklärung der Gesellschaft" beitragen, also informieren.
Diese Motivzuschreibungen beruhen wohlgemerkt auf Eigenangaben der Linksextremisten gegenüber der Öffentlichkeit, beispielsweise in Pressemeldungen. Dass dies die einzigen Ziele sind, muss bezweifelt werden, obwohl sie Ausdruck des Missionierungsbewusstseins linksautonomer Kreise sind. Welche Motive außerdem hinter "Nazi-Outings" stehen, eröffnet sich durch andere Botschaften, die sich auf Flyern und auf Internetseiten finden. In einem Artikel, der Irrtümer bei der Identifikation von "Nazis" erörtert, behaupten die Autoren, Ziel sei es, mit Outings die "Aktivitäten, Strukturen und Vernetzung […] transparent" zu machen. Nur wenige Zeilen später ergänzen sie allerdings, sie beabsichtigten außerdem, Rechtsextremisten "aus der Anonymität zu reißen, ihnen das Leben in ihrem Umfeld zu erschweren". Dies deckt sich mit einer Aussage an anderer Stelle, es gehe darum, Rechtsextremisten "das Leben zur Hölle [zu] machen". Damit ist wohl in erster Linie die solchen Outings folgende soziale Isolation gemeint, der sich die Opfer gegenübersehen und die von Autonomen bewusst ins Auge gefasst wird. Gesellschaftliche Missionierung und der Angriff auf Rechtsextremisten in Form sozialer Vernichtung können bei "Antifaschist_Innen" mithin als zwei Seiten des "Nazi-Outings" gesehen werden.
Beide Handlungsmotive ergeben sich aus dem Feindbild "Faschismus": "Nazis" sind für Autonome keine politischen Gegner, die überzeugt oder mit denen Kompromisse gefunden werden können; sie gelten als Feinde, mit denen gewaltfreie politische Interaktionen schon der "gesunde Menschenverstand" verbietet. Aus der menschenverachtenden Ideologie der Rechtsextremen leiten Autonome die Legitimation ab, "Nazis" fundamentale Menschenrechte abzusprechen. So streiten Linksautonome den Rechtsextremen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ("Neonazis haben kein Recht auf verpixelte Bilder!") ebenso ab wie das Recht auf Privatsphäre ("Keine Ruhe für Neonazis!") – beides Rechte, die das Grundgesetz wie die im Vertrag von Lissabon verbriefte Europäische Menschenrechtecharta aus gutem Grund allen Menschen zubilligen, unabhängig von deren politischen Ansichten. Warum tun dies Linksextremisten? Ihre Abscheu gegenüber der menschenverachtenden Ideologie von "Nazis" speist sich aus Angst und Wut über Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Wie andere Feindbilder auch erfüllt das hinter "Nazi-Outings" stehende Feindbild existenzielle Funktionen für die Szene – mag sie sich darüber im Klaren sein oder nicht: Es hilft ihr,
sich gegen den Mainstream abzugrenzen (Identifikationsfunktion), durch Bedrohungsszenarien das Zusammengehörigkeitsgefühl zu steigern (Integrationsfunktion), die komplexe politische Lage schnell zu strukturieren (Komplexitätsreduktionsfunktion) und – dies wird beim "Nazi-Outing" besonders deutlich – ihre kommunikative Macht und so ihren gesellschaftlichen Einfluss auszubauen (Propaganda- und Rekrutierungsfunktion).
Der "Antifaschismus" von Linksextremisten nimmt also – ebenso wie ihr "Antikapitalismus", ihr "Antirepressionismus" oder ihr "Antiamerikanismus" – eine stabilisierende Funktion für die Szene ein, ist ein instrumentalisiertes Feindbild. "Nazi-Outing" lässt sich am ehesten als das in die Tat umgesetzte Feindbild "Antifaschismus" begreifen. Es ist einerseits Ausdruck der Wut über "Nazis", denn Linksautonome verschaffen ihrem authentischen Hass so einen geeigneten Ausdruck. Andererseits nimmt es die bereits genannten Funktionen eines Feindbildes ein: Die Szene reproduziert ihr extremistisches Denken und ihr Selbstverständnis als Kämpfer für die vermeintlich gute Sache (Identifikationsfunktion). Daneben schaffen derartige Aktionen innerhalb der Antifa-Gruppen ein Zusammengehörigkeitsgefühl: Geplant, durchgeführt und ausgewertet werden können "Nazi-Outings" nur gemeinsam (Integrationsfunktion). Daneben erlauben es das Feindbild "Nazi" und sein Ausdruck "Nazi-Outing" die komplexe und unübersichtliche Realität mit ihren tausendfachen Nuancen und Positionen zu vereinfachen in einen schlichten Kampf von Gut gegen Böse (Komplexitätsreduktionsfunktion). Schließlich finden sich auf Outing-Flyern neben den enthüllenden Informationen häufig Aufrufe zur Beteiligung an "antifaschistischen" Demonstrationen. Es ist leichter, Akzeptanz für eigene Positionen zu finden und jemanden anzuwerben, wenn man gegen den ohnehin gesellschaftlich geächteten Rechtsextremismus tatkräftig zu Felde zieht, anstatt vermummt zu demonstrieren, theorielastige Schriften zu verteilen oder Steine gegen Polizisten zu werfen und Innenstädte zu verwüsten (Rekrutierungsfunktion). Nebenbei gelingt es ihnen, politische Begriffe zu prägen – ganz selbstverständlich sprechen sie synonym von "Nazis", "Schweinen" und "Faschisten" – womit nicht nur Rechtsextremisten gemeint sind, sondern auch Politiker und Polizisten. Probleme und Wirkungen des "Nazi-Outings"
Wer eigenmächtig, zum Teil anonym und ohne rechtliche Bindung Informationen über Dritte ohne deren Einverständnis preisgibt, provoziert Probleme. Die wichtigsten:
Das Problem des Irrtums: In der autonomen Szene werden vor allem zwei Schwächen des "Nazi-Outings" diskutiert, darunter die Fehleranfälligkeit des Verfahrens: Weil jeder Informationswillige Daten melden kann und gewisse Sorgfaltspflichten nicht ernstnimmt, werden Menschen öffentlich bloßgestellt, die sich dem Rechtsextremismus weder zugehörig fühlen noch zugehörig fühlen müssen. Ein solcher Vorfall wird meist als peinlicher Lapsus behandelt: "Jetzt ist es passiert, ausgerechnet 'uns'", heißt es, als die Akteure sich in einer Adresse irren und jemanden öffentlich bloßstellen, der mit Rechtsextremismus nichts zu tun hat. Obwohl sich die Verantwortlichen eigenen Angaben zufolge bei den Betroffenen entschuldigt haben, kann von Einsicht keine Rede sein: "Der Fehler war recht schnell entdeckt und liegt weniger in unserer Arbeit, als mehr in der Kommunikation untereinander." Wer aber ist an der Kommunikation beteiligt, wenn nicht die Autonomen selbst? Derartige "Fehler" sind kein Einzelfall, sondern im Verfahren angelegt. Das moralische Problem: Die Szene befürchtet außerdem, mit den eigenen Maßstäben in Konflikt zu geraten. Sie diskutiert, "ob das zur Schau stellen von 'Nazis' mit hierarchietreuen Methoden in Form von Lästern und Diffamieren eigentlich sogar wieder das Negative an der Gesellschaft hervorbringt die wir doch eigentlich ablehnen und ebenso bekämpfen sollten." Abgesehen von diesem szeneinternen Dilemma steuern Autonome mit "Nazi-Outings" auf ein weiteres moralisches Problem zu, denn sie versuchen mit massiven Eingriffen in die Freiheitsrechte anderer (die eigene) politische Freiheit durchzusetzen. Daher müssen sie sich den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen; ein Vorwurf, der die Szene aufgrund ihres hypermoralischen Gebärdens ins Mark treffen würde. Dieser Vorwurf lässt sich aus ihrer Sicht allerdings vermeiden, indem sie Rechtsextremisten Grund- und Menschenrechte mit der Begründung absprechen, Faschismus sei ein Verbrechen und keine Meinung. Beides schließt sich jedoch nicht aus. Damit taucht das nächste Problem auf. Das rechtliche Problem: Auch wer denkt, Menschenrechte würden – mit welcher Begründung auch immer – nicht für alle gleichermaßen gelten, ist in seinem Handeln an die Regeln des demokratischen Verfassungsstaates gebunden (positives Recht). Nicht zuletzt genießt er selbst diese Rechte unabhängig von seinem Politik- und Gesellschaftsverständnis. Außerdem: Selbst wenn "Nazi-Outings" ein probates Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremismus wären, ist damit eine Grenze überschritten, die die Verfassungsväter und ‑mütter aus gutem Grund zum Schutz des Einzelnen gezogen haben – ganz gleich, wie verabscheuungswürdig dessen Ideologie sein mag (überpositives Recht). Der Zweck heiligt in einem demokratischen Verfassungsstaat eben niemals die Mittel. "Antifaschist_Innen", die nicht bereit sind, diese Prinzipien anzuerkennen, dürfen sich nicht wundern, zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes oder Angeklagte in einem Strafrechtsprozess zu werden. Wohin Selbstjustiz im Namen der vermeintlich guten Sache führen kann, verdeutlichen – wenngleich auf einem anderen qualitativen Niveau – die Morde der RAF. Das demokratietheoretische Problem: Selbst wenn Autonome den "Schlaf der Gerechten" genießen, weil sie sich im moralischen Recht wähnen, kann ihr Verhalten den Rechtsextremismus stärken: Im Gegensatz zu vielen Aussteigerprogrammen geht es ihnen nicht um die Bekämpfung des Rechtsextremismus als Ideologie und um die Rückgewinnung von Rechtsextremisten ins demokratische Lager, sondern um den möglichst hohen Schaden für den Einzelnen.
Damit riskieren sie dreierlei: Wer einzelne Mitglieder einer verschworenen "Nazi"‑Clique öffentlich bloßzustellen versucht, bewegt die anderen Gruppenmitglieder nicht zu Beifall, sondern trägt in der Regel zur Verfestigung der sozialen Strukturen (in rechtsautonomen Kreisen, in nationalistischen Parteien und Kameradschaften) und der menschenverachtenden Ideologie in den Köpfen bei, weil er das Feindbild "Zecke" nährt und so den Gruppenzusammenhalt stärkt. "Schlachten" und "Feinde" schweißen eben nicht nur am linken Rand zusammen.
Daneben mindert ein solches Outing vermutlich die Chancen auf einen Ausstieg des Geouteten aus dem Rechtsextremismus: Dass jemand dem rechten Rand den Rücken zukehrt und sich der demokratischen Mitte nach solch einer Aktion zuwendet, erscheint angesichts der öffentlichen Demütigung, die ihm widerfuhr, unwahrscheinlich. Dass er sich in die Rolle des heroischen Außenseiters im Mainstream ("Fels in der Brandung") einfindet und sich seiner vertrauten Gruppe zuwendet, die ihm Orientierung, Sicherheit und Selbstwertgefühl spendet, mag realistischer sein.
Schließlich provozieren "Nazi-Outings" Akte der Rache. Der Angriff auf "Nazi-leaks.net" von rechten Hackern verdeutlicht die Verhärtung der Fronten im Netz. Zur Deeskalation der Gewalt im "analogen Leben" tragen Outings ebenfalls nicht bei. Wer als selbsternannter Aufklärer einzelne Rechtsextremisten vor seiner Umwelt bloßzustellen versucht, mag sein Ziel erreichen – allerdings zum Preis verstärkter ideologischer Durchdringung am rechten Rand und (vermutlich) steigender Konfrontationsgewalt.
Abschließende Bewertung
Mit Aussagen wie "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen" kann man seine Empörung gegen Rechtsextremismus öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck bringen – hilfreich in seiner Bekämpfung sind sie nicht. Wer "Nazi-Outings" durchführt oder befürwortet, weil sie ihm kurzfristig Genugtuung über die Diffamierung des bloßgestellten "Nazis" verschaffen, verkennt die Probleme und Gefahren: Er sollte sich fragen, wie er reagierte, wenn eine Gruppe "Autonomer Antifaschist_Innen" vor seiner Wohnung oder seinem Arbeitsplatz skandierte, er sei ein "Faschist" oder "Nazi" – weil sie sich in der Adresse geirrt haben oder missliebige politische Positionen dem Faschismus zurechnen.
Die Linksextremisten, die "Nazi-Outings" durchführen, müssen sich dem Vorwurf der Beliebigkeit stellen, denn häufig mangelt es an Belegen für Rechtsextremismus, die Grenze zur Verleumdung wird zum Teil überschritten. Daneben messen sie mit zweierlei Maß: mehr Freiheit für autonome Zentren: ja; persönliche und rechtlich verbriefte Freiheitsrechte für andere: nein. Wer mit der politischen Gesinnung argumentiert, landet schnell bei Rechtfertigungsreden, die der Staatsicherheit in der DDR und dem "Archipel Gulag" in der Sowjetunion Geltung verschafften.
Außerdem scheint "Nazi-Outing" ungeeignet, Rechtsextremismus in der Gesellschaft zu bekämpfen. Wahrscheinlich ziehen sich die Geouteten in ihre Peergroup zurück, die rechtsextremen Gruppierungen rücken – bestärkt in ihrer negativen Erfahrung mit den "Antifaschist_Innen" – näher zusammen und sehen sich in ihrer menschenverachtenden Ideologie bestätigt. Ein Nachlassen der Konfrontationsgewalt zwischen Links und Rechts: unwahrscheinlich. Die Inkaufnahme der Gewalteskalation und einer gruppensozialen wie ideologischen Verfestigung des Rechtsextremismus zugunsten eines selbstgerechten Triumphs über den einen oder anderen bloßgestellten "Nazi" handelt Autonomen den Vorwurf ein, sie seien "gar nicht daran interessiert, dass die andere Variante des Extremismus, die sie bekämpfen, gänzlich von der Bildfläche verschwindet."
Doch selbst wenn "Nazi-Outings" Ausstiege aus dem Rechtsextremismus beförderten: Der Zweck heiligt die Mittel nicht. Der Schutz des Individuums ist – ungeachtet der politischen Orientierung – eine historisch erkämpfte Errungenschaft des demokratischen Verfassungsstaats. "Nazi-Outings" sind Ausdruck eines ideologisch motivierten Hasses und Instrument zur Stabilisierung der linksextremistischen Szene, kein Element der wehrhaften Demokratie.
Nazi-Outing-Website mit der Aufforderung, die abgebildeten Personen zu benennen. (verfremdeter) Screenshot vom 21.05.2012, https://linksunten.indymedia.org/de/node/6761.
Patrick Beuth, Anonymous sammelt Nazi-Daten, in: DIE ZEIT vom 2. Januar 2012.
Siehe Warren Johansson und William A. Percy: Outing: Shattering the Conspiracy of Silence, Harrington Park Press, 1994.
Siehe stellvertretend: Katharina Iskandar, "Nazi-Outing", unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ linksextremismus-nazi-outing-1626811.html, aufgerufen am 4. April 2012.
Siehe hierzu einführend: Armin Pfahl-Traughber (2008), Antifaschismus als Thema linksextremistischer Agitation, Bündnispolitik und Ideologie. Eine Analyse zu ideengeschichtlichen Hintergründen und strategischen Funktionen eines Kampfbegriffs.
Siehe https://linksunten.indymedia.org/de/node/56580, aufgerufen am 4. April 2012.
Siehe http://de.indymedia.org/2012/04/327828.shtml, aufgerufen am 4. April 2012.
Siehe https://linksunten.indymedia.org/de/node/56580, aufgerufen am 4. April 2012.
Siehe http://www.linksnavigator.de/node/2725, aufgerufen am 4. April 2012.
Siehe http://de.indymedia.org/2009/09/260082.shtml, aufgerufen am 4. April 2012.
Siehe http://linksunten.indymedia.org/de/node/56580), aufgerufen am 4. April 2012.
Siehe https://linksunten.indymedia.org/de/node/56955, aufgerufen am 4. April 2012.
Vgl. Eckhard Jesse (2005), Funktionen und Strukturen von Feindbildern im politischen Extremismus, in: Bundesministerium des Innern: Feindbilder und Radikalisierungsprozesse. Elemente und Instrumente im politischen Extremismus (2. Auflage), S. 5-22, hier: S. 13-17.
Der intentionale Aspekt wird hier außer Acht gelassen. Wer ihn hinzuzieht, kann von einer Instrumentalisierung nicht sprechen.
Siehe http://www.linksnavigator.de/node/2725, aufgerufen am 4. April 2012.
Siehe http://al.uni-koeln.de/outings.html, aufgerufen am 4. April 2012.
Eckhard Jesse, Funktionen und Strukturen von Feindbildern im politischen Extremismus, in: Bundesministerium des Innern: Feindbilder und Radikalisierungsprozesse. Elemente und Instrumente im politischen Extremismus, S. 5-22, hier: S. 16.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-05-21T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/linksextremismus/dossier-linksextremismus/136660/nazi-outing/ | "Nazi-Outing" meint das Publizieren privater Informationen von tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsextremisten. Diese Methode des politischen Kampfes vor allem der Antifa ist allerdings höchst problematisch: Das "Meldesystem" ist fehleranfällig, | [
"Linksextremismus",
"Nazi-Outing",
"nazileaks",
"Antifa"
] | 222 |
Analyse: "Weiter so" in Russlands Wirtschaft – bei anschwellenden US-Sanktionsrisiken | Russland-Analysen | bpb.de | Zusammenfassung
Bei gesamtwirtschaftlichen Parametern, in der Wirtschaftspolitik und bei den Wirtschaftssanktionen ist Russland durch eine beachtenswerte Gleichförmigkeit gekennzeichnet. Nach erlangter Stabilität soll so Planungssicherheit – ein vornehmliches wirtschaftspolitisches Ziel auch liberaler Akteure – gesichert werden. Damit schwindet die Aussicht auf entscheidende personelle oder materielle Änderungen. Die wirtschaftspolitische Kontinuität – zu der auch eine zurückgehende internationale Verflechtung gehört – lässt das Risiko harter unilateraler US-Sanktionen steigen. Damit ist die intendierte Planungssicherheit nur partiell gegeben.
Binnenwirtschaftliche Stagnation, Reserveaufbau und höhere Resilienz
Viele realwirtschaftliche Größen in Russlands Wirtschaft verharren im oder in der Nähe des Stagnationsbereichs. Die BIP-Zuwachsraten haben auf Quartals- und Jahressicht die Marke von 1,5–2 Prozent nicht nachhaltig überschritten. Einige Experten hatten in ihren Prognosen für 2018 oder 2019 höhere Zuwachsraten erwartet und mussten ihre Einschätzungen revidieren. Aktuell mehren sich die Anzeichen einer Abkühlung. Auch die Inflation hat ihr Zyklustief erreicht. Angesichts der Rubelabwertung 2018 sowie der 2019 anstehenden Mehrwertsteuererhöhung dürfte die Inflation auf 4–5 Prozent anziehen und das Notenbankziel übertreffen. Der Inflationsanstieg im Zusammenspiel mit Sanktionsrisiken und einem zunehmend fordernden Umfeld für Schwellenländer raubt der achtsam agierenden Notenbank den Zinssenkungsspielraum. Obwohl in der Politik niedrigere Zinsen erwünscht sind, sollte der Leitzins nicht noch weiter fallen. Das Risiko, dass nach der überraschenden Zinserhöhung im September sogar noch weitere Zinserhöhungen im laufenden Jahr folgen, nimmt zu. Am Bankenmarkt steigen die Kreditzinsen bereits. Insofern kann das zweistellige Konsumentenkreditwachstum der letzten 12–18 Monaten nicht fortgeführt werden, zumal einige Indikatoren auf eine Konsumentenkreditblase wie im Jahr 2013 hindeuten.
Die enttäuschende Wirtschaftsentwicklung verwundert, da der Ölpreis sich unverkennbar erholt hat. Dem Wirtschaftskreislauf fließen aber weniger Rohstoffgelder zu. Außerplanmäßige Einkünfte dienen zum Aufbau von (Devisen-)Reserven. Sie kommen nicht in der Realwirtschaft an. So wird die Stabilität der Wirtschaft unabhängig vom Ölpreis gesichert und der Rubel handelt in stärkerem Maße unabhängig vom Ölpreis. Laut aktuellen Haushaltsvorschriften (eingeführt 2017) tauscht das Finanzministerium – unter Rückgriff auf die Notenbank – die über der konservativen Budgetplanung liegenden Rohstofferlöse am Markt in Fremdwährung um. 2017 wurden so ca. 15 Milliarden Euro Reserven aufgebaut; weitere 35–50 Milliarden Euro sind in diesem Jahr möglich. Dem "Nationalen Wohlfahrtsfonds" könnten so noch in diesem Jahr 50–60 Milliarden US-Dollar zugeführt werden. Für 2019 sind bei aktuellem Ölpreis erneut 25–50 Milliarden US-Dollar in Reichweite, im Jahr 2021 soll der "Nationale Wohlfahrtsfonds" wieder mit über 200 Milliarden US-Dollar gefüllt sein. Tendenziell wird durch die Devisentransaktionen der Wechselkurs, der 2017 teils noch auf unerwünscht starken Niveaus notierte, geschwächt. Trotz einer Abwertung von ca. 15 Prozent seit Jahresbeginn notiert der Russische Rubel aber noch nicht auf signifikant schwachen Niveaus. Andere Währungen von Schwellenländern haben in den letzten Monaten ähnlich wie der Rubel an Außenwert verloren – ohne die Zugewinne, wie sie zuvor, im Jahre 2017, der Rubel verzeichnete. Selbst im Kontext der jüngsten US-Sanktionen (April und August 2018) verlor der Rubel (noch) nicht dramatisch an Wert. Die rubelschwächenden Devisenkäufe wurden vorerst nur temporär eingeschränkt.
Der Leistungsbilanzüberschuss (in Prozent des BIP) liegt wieder in der Nähe der Werte aus "Boomzeiten". Somit dürfte selbst bei einem weiteren Abbau von Auslandschulden und einer gewissen Kapitalflucht kein Druck auf die Devisenreserven entstehen. In US-Dollar gerechnet, sollten sie 2018 ihr Niveau von 2012 überschreiten bzw. sich dem (Mindest-)Ziel von 500 Milliarden US-Dollar annähern. Solche Niveaus sind erforderlich, um ein bis zwei heftige Schocks aushalten zu können. Zudem ist die Auslandsverschuldung in den letzten zwei bis drei Jahren von 700 Milliarden US-Dollar auf ca. 500 Milliarden gesunken. Die externe Finanzierungsposition hat sich verbessert, was von internationalen Ratingagenturen honoriert wird. Nach Jahren der Herabstufung Russlands in ihren Länderreinschätzungen vollzogen sie 2017 und 2018 positive Revisionen und goutierten explizit die stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik. Im Februar 2018 kehrte Russland damit in den Klub der "investitionswürdigen" Länder mit "Investment-Grade Rating" zurück. Die Ratingagenturen betonen, dass die westlichen Sanktionen für Russlands Wirtschaft kaum materielle Abwärtsrisiken bergen. Man sieht Russland in der Position, über längere Zeit ein härteres bzw. prohibitives Sanktionsregime aushalten zu können.
Die internationale Entschuldung ist ein zweischneidiges Schwert. So ist das Gewicht Russlands in Emerging Markets-Portfolien bzw. Finanzmarktindizes, die Investoren in Schwellenländern stark beachten, einschneidend zurückgegangen. Vor zehn Jahren kamen russische Emittenten auf Portfoliogewichte von 9–14 Prozent; heute sind es 3–7 Prozent. Vor der globalen Finanzkrise 2008 wurden in manchem Jahr fast 20 Prozent aller internationalen Emerging Markets–Anleihefinanzierungen weltweit aus Russland begeben; heute sind es 2–3 Prozent. Im internationalen Emerging Markets–Bankgeschäft ist der Anteil Russlands im gleichen Zeitraum von 6,5 auf 2,5 Prozent gefallen. Damit sind die internationalen Finanzmarkt- und Bankverflechtungen mit Russland nicht mehr in einer Dimension, so dass im Falle einer weiteren graduellen US-Sanktionsverschärfung schroffste globale Marktverwerfungen drohen. Eine harte Sanktionierung Russlands im Finanzbereich – selbst eine "nur" durch die USA – stellt damit immer weniger ein Systemrisiko oder einen Wettbewerbsnachteil für die USA dar. Damit erhöht sich das Risiko von Sanktionen durch die USA – trotz steigender Resilienz.
Primat der makrofinanziellen Stabilität, Zugeständnisse im Investitionsbereich
Der Aufbau von Reserven und die restriktive Geldpolitik zeigen: Der wirtschaftspolitische Fokus liegt auf Planbarkeit und Sicherung der makrofinanziellen Stabilität. Die Bedeutung dieser Aspekte wurde anlässlich des "Jubiläums" der 1998er Krise medial hervorgehoben. Auch bedeutende und unbeliebte Reformen (Mehrwertsteuer, Pensionen) sind vom Leitmotiv Stabilitätssicherung geprägt. Es ist nur eine marginale Verschiebung bei den Haushaltszielen erkennbar. Die Fiskalstrategie für die Jahre 2019–2021 erlaubt moderate Primärdefizite von 0,5 Prozent. Zuvor hatte das Finanzministerium bis 2019 ein ausgeglichenes Budget angestrebt. In den kommenden Jahren werden leicht (von 14 Prozent auf knapp über 16 Prozent des BIP) steigende Staatsschulden toleriert, um Investitionen zu fördern. Relevante Investitionssummen sollen in den Jahren 2018 bis 2021 auf dem lokalen Finanzmarkt aufgenommen werden.
Gesamtwirtschaftlich sind die veranschlagten Investitionen überschaubar. Von 2018 bis 2024 sollen 250–350 Milliarden Euro für "Nationale Programme" bzw. Investitionsvorhaben bereitgestellt werden. Vordergründig ist die Investitionsbereitschaft gestiegen. Mit ähnlicher Zielsetzung wurden 2012 35–45 Milliarden Euro für die Jahre 2012–2018 bereitgestellt. Auf die Einzeljahre gerechnet, soll die Investitionssumme von 0,2–0,4 Prozent des BIP (2012–2018) auf ca. 3 Prozent (2018–2024) steigen. Zudem sollen 70 Prozent der Gelder in den kommenden drei Jahren – vor der Dumawahl 2021 – investiert werden. Rechnerisch impliziert das Investitionen von 4–6 Prozent des BIP. Im Lichte der praktischen Erfahrungen in Russland ist damit zu rechnen, dass nur 40–50 Prozent der Gelder in der Realwirtschaft ankommen. Angesichts der empirischen Erfahrung mit staatlichen Infrastruktur- und Investitionsprogrammen könnten so Wachstumseffekte von 0,4 bis 0,8 Prozent generiert werden, wodurch maximal ein BIP-Wachstum von knapp über 2 Prozent möglich wäre. Die Mehrwertsteuererhöhung, die absehbare geldpolitische Straffung und die Sanktionsunsicherheit dürften indes kurz- oder mittelfristig wachstumsdämpfend wirken, womit die Investitionsimpulse wohl kompensiert wären. Immerhin gibt es aber eine moderate Verschiebung der Präferenzen in Bezug auf die Staatsausgaben. Im Gegensatz zu vorherigen Investitionsstrategien (2012–2018) ist für die Jahre 2018–2024 eine Verschiebung in die Bereiche Infrastruktur, Bildung und Soziales erkennbar; zuvor hatten die Bereiche Militär, Verteidigung und Soziales dominiert.
Der Bankensektor wird – so weit möglich – fit für Sanktionen gemacht
Zur Absicherung der makrofinanziellen Stabilität wurde die seit Jahren betriebene Sanierung des Bankensektors vorangetrieben. Nach der Schließung kleinerer Banken (die Zahl der Banken hat sich in den letzten 5–6 Jahren auf knapp über 500 halbiert) wurden 2017 auch größere bzw. systemrelevante Privatbanken verstaatlicht ("Otkrytije", "Binbank", "Promswjasbank"). Interessant ist, dass Banken, die stark gewachsen waren, oder Kreditinstitute, die dem Staat oder staatsnahen Firmen in den letzten Jahren indirekt dienlich waren, notverstaatlicht werden mussten. Die Notverstaatlichungen erfolgten unter Ägide der Notenbank, die sich länger zögerlich gezeigt hat. Zudem ist es fraglich, wie systemrelevante Banken unter Notenbankaufsicht in so eine Schieflage kommen können. Den staatlichen Großbanken sollten aber offenbar keine Lasten aufgebürdet werden. Daher musste die Notenbank einschreiten. Nun sollen "Otkrytije" und "Binbank" zusammengelegt und notleidende Finanzierungen im Wert von 20–30 Milliarden Euro auf eine spezialisierte Abbauinstitution übertragen werden. Dadurch würde Spielraum für Neugeschäft bestehen. Die verstaatlichte und schon zuvor auf Firmenkunden spezialisierte "Promswjasbank" soll als ein auf den Rüstungssektor spezialisiertes Kreditinstitut fungieren. Dabei sollen andere Banken ihre Finanzierungen für diesen Sektor an die "Promswjasbank" abtreten, damit sie durch bestehende US-Sanktionsgesetzte nicht zusätzlichen Risiken ausgesetzt werden.
Angesichts der Notverstaatlichungen ist der Marktanteil staatlicher Banken weiter gestiegen (und liegt derzeit bei fast 70 Prozent). Durch die mit den Aufräumarbeiten der letzten Jahre entstehende Konzentration soll der Bankensektor stabiler aufgestellt werden und einfacher zu regulieren sein. Durch den gestiegenen Staatsanteil ist es zudem einfacher möglich, Banken als Abnehmer von Staatsanleihen in Lokalwährung einzusetzen. Durch die ergriffenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Finanzstabilität gerät die russische Zentralbank allerdings zunehmend in Zielkonflikte zwischen klassischer Geldpolitik und Finanzstabilität (so könnten notwendige Zinserhöhungen zu wieder steigenden notleidenden Krediten führen, auch bei notverstaatlichten Banken). Dadurch werden die Freiheitsgrade einer bis dato unabhängig agierenden Institution kleiner. Zudem ist nicht erkennbar, wie der Staatsanteil im Bankensektor wieder absinken soll, auch wenn liberalere Akteure die Notverstaatlichungen noch als "temporäre" Maßnahme sehen.
Finanzmarkt: Normalisierung, Sanktionsrisiken und "neue Nuklearoption"
Interessanterweise erfolgte die Eskalation der US-Finanzsanktionen 2018, nachdem sich am globalen Finanzmarkt ein "russlandpositives" Marktgleichgewicht abzeichnete. Im Jahr 2016 und vor allem 2017 wurden – nach dem Einbruch im Jahr 2015 – beachtliche Summen an internationalen Anleihefinanzierungen aus Russland am globalen Kapitalmarkt bzw. bei internationalen Investoren platziert (15 bzw. 26 Milliarden US-Dollar). Dies sind in etwa die Beträge der in den kommenden Jahren jährlich zu tilgenden internationalen Kapitalmarktfinanzierungen. Die platzierten Summen waren im historischen Vergleich aber so moderat, dass international gehandelte russische Staats- und Firmenanleihen einen "Seltenheitsbonus" am Finanzmarkt genossen. Seit April 2018 (seit den CAATSA-Sanktionen gegen russische Großunternehmen; CAATSA: "Countering America's Adversaries Through Sanctions Act") hat es keine nennenswerten Transaktionen mehr gegeben. So wurden 2018 nur 8 Milliarden US-Dollar an internationalen Anleihen aus Russland platziert. Des Weiteren ist seit April eine Sanktionsprämie am internationalen Markt eingepreist. Im Einklang mit dem skizzierten lange positiven Markttrend bezüglich Veranlagungen aus Russland erhöhten Ausländer seit 2016 ihren Marktanteil in OFS-Rubel-Staatsanleihen (OFS – Obligazij Federalnogo Sajma / "Föderale Schuldanleihen") von damals knapp 20 Prozent kontinuierlich bis auf in der Spitze beachtliche 34 Prozent (März und April 2018). Das Engagement durch Ausländer in diesem Marktsegment erreichte im Frühjahr 2018 einen Rekordstand von ca. 30–35 Milliarden US-Dollar. Angesichts solider Zahlungsfähigkeitsindikatoren – begründet durch die orthodoxe Wirtschaftspolitik – galt Russland unter Investoren in Schwellenländern als "Investorenliebling". Seit April sinkt der Ausländeranteil am OFS-Markt (der derzeit bei 26–27 Prozent liegt), wobei hierfür auch andere Triebkräfte als nur die US-Sanktionen maßgeblich sind (Rubelvolatilität, schwindende Aussicht auf Zinssenkungen, global zunehmende Schwellenländer-Risiken). Auch die grenzüberschreitenden Ausleihungen internationaler Banken nach Russland hatten sich 2017 und zum Jahresanfang 2018 stabilisiert – das könnte sich nun ändern. Zudem nehmen europäische Banken im Gegensatz zu US-Banken bei den grenzüberschreitenden Ausleihungen nach Russland eine immer weiter anwachsende Schlüsselposition ein. Mittlerweile stehen Banken aus Frankreich, Italien und Österreich für knapp über 50 Prozent der Russlandforderungen in internationalen Bankstatistiken (lokale Positionen von russischen Tochterbanken dieser europäischen Bankensektoren plus deren grenzüberschreitendes Geschäft); das sind 15–20 Prozentpunkte mehr als 2012/2013.
Insofern stellen die US-Sanktionsrunden in 2018 unter Umständen bewusst Kapitalmarkttrends der letzten Jahre in Frage. Vor allem im April überraschte man mit harten unilateralen US-Finanzsanktionen (auf Basis der CAATSA-Gesetze) internationale Investoren und russische Oligarchen (Oleg Deripaska). Die Zahlungsfähigkeit und Existenz der "EN+ Gruppe" bzw. von "Rusal" war bedroht, es gab massive Preisverwerfungen an den Rohstoffmärkten. Zudem wurden nicht nur (wie in der Vergangenheit) Neugeschäfte sanktioniert, sondern auch bestehende Geschäftsbeziehungen und Wertpapierpositionen waren (zunächst) betroffen. Das ist eine massive Änderung der bisherigen Sanktionspraxis. Ferner zielen die Sanktionen vom April darauf ab, Eigentumsverhältnisse zu ändern. Einige Marktbeobachter sahen dieses Sanktionspaket – wegen des fassbaren Einflusses auf Finanzmärkte und globale Lieferketten – als wenig durchdacht an. US-Behörden stellten demgegenüber klar, dass dies nicht der Fall sei. Seit April ist EN+/Rusal mit US-Behörden in Bezug auf Änderungen in der Firmen- und Eigentümerstruktur im Gespräch. Angesichts dreimaliger Verlängerung von Sanktionierungsfristen (von April bis zum 5. Juni dann auf den 5. August und jetzt auf den 23. Oktober) signalisierten US-Behörden Gesprächsbereitschaft. Unlängst wurde Geschäftspartnern von Rusal seitens der USA auch erlaubt, die Geschäfte mit Rusal erstmal auf bestehenden Niveaus weiterzuführen, ohne damit gegen US-Sanktionen zu verstoßen. Trotz dieser positiven Signale wird seit den Sommermonaten in den USA aber, als Antwort auf die Skripal-Affäre und wegen der Vorwürfe der Wahleinmischung, in Form von mehreren Gesetzesvorhaben ("Defending American Security from Kremlin Aggression Act" – DASKAA, "Defending Elections from Threads by Establishing Redlines Act" – DETER), eine weitere Sanktionsverschärfung betrieben. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass mit Blick auf die kommenden drei bis neun Monate (aber wohl kaum vor den Zwischenwahlen in den USA) härtere Russlandsanktionen der USA auf den Weg gebracht werden. Die jüngsten Gesetzesvorhaben umfassen neben der vorherigen, von Marktteilnehmern als nuclear option bezeichneten US-Sanktionierung von russischen Staatspapieren sogar eine Steigerung der "Nuklearoptionen". Es stehen umfassende blockierende US-Sanktionen im Raum, die alle Geschäfte von russischen Groß- bzw. Staatsbanken in den USA und auch im US-Dollar-Zahlungsverkehr betreffen könnten. Bisher ist nur eine längerfristige (Re-)Finanzierung sanktionierter russischer Banken untersagt.
Noch ist diese neue "Nuklearoption" vage formuliert, es besteht juristischer Klärungsbedarf. Eine Implementierung im Jahr 2018 oder in den kommenden sechs bis neun Monaten ist kaum denkbar. Diese Maßnahme würde Russland allerdings vor empfindliche Probleme stellen. Einerseits könnten Fremdwährungspositionen zwangskonvertiert werden, oder die Notenbank müsste andererseits in umfangreichem Ausmaß mit Liquidität aushelfen. Zudem erscheint es unwahrscheinlich, dass russische Firmen und westliche Firmen, die in Russland tätig sind, bei solch einem Szenario sämtlichen Zahlungsverkehr mit privaten russischen Banken (lokale Banken plus Töchter von Auslandsbanken) abwickeln können. Substitutionseffekte sind denkbar, allerdings wird in so einem Szenario kaum eine internationale Bank ihr Russlandgeschäft massiv ausweiten. Unklar ist auch, inwiefern die Notenbank zur Zahlungsabwicklung im Auslandsgeschäft eingesetzt werden könnte. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass alle auf der Sanktionsliste geführten Staatsbanken zugleich mit harschen blockierenden US-Sanktionen belegt werden – solange keine russische Einmischung in die US-Zwischenwahlen vorliegt. Eher wäre es im Sanktionsfalle denkbar, dass zunächst ein bis drei weniger bedeutende (Spezial-)Kreditinstitute mit klarem Politikmandat (also nicht unbedingt die "Sberbank" oder VTB) harsch sanktioniert würden. Zudem ist es politisch gesehen durch die Einführung einer neuen "Nuklearoption" wahrscheinlicher, dass zunächst eine größere Palette der bestehenden und teils schwächeren Sanktionsoptionen der bisherigen CAATSA-Gesetze – möglicherweise die Sanktionierung des Neuerwerbs russischer Staatsanleihen für US-Investoren – implementiert werden könnten. Wobei die ca. 30 Milliarden US-Dollar an OFS-Papieren in Ausländerhand ohne größere Verwerfungen lokal kompensiert werden könnten. Zumal auch im Falle einer Sanktionierung des Neuerwerbs durch US-Investoren (ab Sanktionsverabschiedung) nicht alle US- und Auslandsinvestoren zwangsläufig ihre bestehenden OFS-Positionen liquidieren würden. Eine blockierende Sanktionierung der Geschäfte und Zahlungen in US-Dollar aller russischen Staatsbanken auf einen Schlag wäre eine Maßnahme von gravierender Tragweite. Durch eine solche Radikalsanktionierung könnten je nach juristischer Ausgestaltung und de facto-Auslegung russlandbezogene Zahlungsströme und Zahlungsverpflichtungen (Bankforderungen, Exporte und Importe in Dollar, Schuldenrückzahlungen) im Umfang von 200–350 Milliarden US-Dollar direkt oder indirekt von US-Sanktionen betroffen sein; in einer niedrigeren Eskalationsstufe wären maximal 50–60 Milliarden US-Dollar gefährdet.
Auch wenn kurzfristig keine Eskalation bis zum Äußersten zu erwarten ist, sollten sich die im Raum stehenden US-Sanktionsoptionen negativ auf die internationalen Finanzierungsmöglichkeiten russischer Banken, die Kapitalmarktkonditionen und Liquiditätssituation auf dem lokalen Markt (vor allem die Liquidität in US-Dollar) und auf das Geschäftsklima insgesamt auswirken. Zudem haben die mit der Eskalation der US-Sanktionen im Jahr 2018 verbundenen Folgewirkungen vor Augen geführt, wie man in Teilbereichen auf internationale Einbettung angewiesen ist. Zudem scheint es die Stoßrichtung der Vereinigten Staaten zu sein, Russland nachhaltig wirtschaftlich zu begrenzen. Immerhin wird trotz sinkenden Anteilen das Gros des russischen Außenhandels immer noch in US-Dollar abgerechnet. Zuletzt wurden zwar "nur" noch ca. 35 Prozent der russischen Importe in Dollar abgewickelt (im Vergleich zu 40–45 Prozent vor fünf Jahren), im Export dominiert jedoch der US-Dollar. Hier liegt der Dollaranteil bei knapp unter 70 Prozent (gegenüber 80 Prozent vor fünf Jahren).
Sanktionen: Bis in die 2020er Jahre noch selektive internationale Integration am Finanzmarkt
Zunächst mehrten sich 2018 in Russland öffentliche Stellungnahmen, in denen negative Effekte westlicher Sanktionen auf Russlands Wirtschaft thematisiert wurden. Angesichts der jüngsten US-Eskalationen wird von einem "Wirtschaftskrieg" gesprochen. Es deutet viel darauf hin, dass man auf russischer Seite pragmatisch mit der Situation umgeht – ohne Aussicht auf grundsätzliche Entspannung. Die vielfältigen aktuellen (Handels-)Sanktionseskalationen der USA erlauben es der russischen Führung, international nicht als "schwarzes Schaf" dazustehen. Zumal auch eigennutzorientierte bzw. merkantilistische Elemente in den US-Sanktionen gegen Russland erkennbar sind (Rusal ist Konkurrent des US-Konzerns "Alcoa", die "NordStream 2"-Pipeline ist nicht im energiewirtschaftlichen Interesse der USA, eine Dollar-Sanktionierung würde Russlands prominente Exportbranchen Energie und Waffen treffen). Längerfristig deutet derzeit alles darauf hin, dass die westlichen Russlandsanktionen mindestens die Dauer der wenig erfolgreichen (im Sinne der ursprünglichen Ziele) Sanktionsregime des Westens haben könnten. Das wären mindestens acht, vielleicht sogar über zehn Jahre. Zudem lässt das unkoordinierte Auseinanderdriften der Russland-Sanktionen der USA und jener anderer westlicher Staaten einen raschen und abgestimmten Rückbau äußerst unwahrscheinlich erscheinen. Die russische Notenbank rechnet in ihrem Basisszenario bereits mit einem Sanktionsfortbestand bis (mindestens) 2022. Zudem zeigen jüngste Entwicklungen in Bezug auf Iran, dass selbst eine derzeit nicht absehbare Lockerung der Russlandsanktionen durch die Europäer – bei Weiterbestand der US-Sanktionen – kaum Wirkungen entfalten dürfte.
Trotz westlicher Sanktionen möchte man auf russischer Seite – mit Signalwirkung – ein Mindestmaß an internationaler Finanzmarktintegration beibehalten. Der jüngste Verkauf US-amerikanischer Staatsanleihen bedeutete de facto nur eine Umschichtung in andere Vermögenswerte (Gold, teils IWF-Anleihen), die auch am internationalen und vor allem westlich dominierten Finanzmarkt gehandelt werden. Teils wurden US-Staatspapiere "nur" in Offshore-Standorte verschoben. Auch will der russische Staat gemäß aktueller Planung in den kommenden Jahren weiterhin, wie 2018, Staatsanleihen an den internationalen Märkten platzieren. Im Kontext der diplomatischen Spannungen mit Großbritannien emittierte Russland im März 2018 erfolgreich internationale langlaufende Staatspapiere in US-Dollar im Umfang von 4 Milliarden. Interessanterweise hat Russland durch seine internationale Emissionstätigkeit der letzten Jahre die Durchschnittslaufzeit seiner internationalen Staatsanleihen von sechs bis sieben Jahren auf fast zwölf Jahre erhöht. In den kommenden Jahren will das Finanzministerium weiterhin 3 Milliarden US-Dollar pro Jahr am internationalen Markt refinanzieren. Gleichzeitig droht Russland im Falle harscher US-Sanktionen gegen russische Staatsbanken mit massiver Vergeltung. Insofern untergräbt die US-Sanktionseskalation bewusst das Bestreben Russlands, neben der Stabilitätsorientierung Planbarkeit und Verlässlichkeit zu demonstrieren.
Steigende Extremrisiken trotz politischer Konzentration auf Planbarkeit
Insgesamt dominiert in der Wirtschaftspolitik – trotz steigender Unbeliebtheit des aktuellen Politikmix – das Motto "Mehr vom Gleichen". Auch liberal orientierte Akteure – bestärkt durch die jüngste Eskalation der US-Sanktionen – setzen vorrangig auf die Themen Stabilitätsorientierung bzw. Planbarkeit. Angesichts der dadurch limitierten Möglichkeiten, BIP-Zuwachsraten von über 1,5–2 Prozent zu erreichen, steigt so das wirtschaftliche und politische Risiko einer lang anhaltenden Stagnation. Immerhin versuchen liberal orientierte Akteure, ein Mindestmaß an internationaler Einbettung im Wirtschaftsbereich zu bewahren. Derzeit ist aber noch nicht absehbar, ob dieses Kalkül durch harsche US-Sanktionen weiter beeinträchtigt wird. Der deutliche Rückbau an internationaler Finanzmarktintegration der letzten Jahre würde es, v. a. bei einem weiteren graduellen Rückbau, den USA wohl zunehmend einfacher machen, harsche unilaterale US-Finanzsanktionen gegenüber Russland – teils mit exterritorialer Wirkung – durchzusetzen. In so einem Szenario könnten der russische Staat und die Notenbank zu drastischen Schritten gezwungen werden, was den selbst gesteckten Zielen Stabilitätsorientierung und Planbarkeit zuwiderlaufen würde. Interessanterweise bestärkt die schwache Wirtschaftsentwicklung in Russland Hardliner in den USA, die unterstellen, das Land sei nur noch einen Schock (im Kontext einer globalen Wirtschaftskrise oder weiterer US-Sanktionen) von einer tiefschürfenden (Wirtschafts-)Krise entfernt. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2018-09-25T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-359/276476/analyse-weiter-so-in-russlands-wirtschaft-bei-anschwellenden-us-sanktionsrisiken/ | Trotz anhaltender westlicher Wirtschaftssanktionen geht man auf russischer Seite pragmatisch mit der Situation um. Und tatsächlich ist die gesamtwirtschaftliche Lage derzeit zumindest stabil. Doch welche Auswirkungen hätten US-Sanktionen gegen Russla | [
"Wirtschaftssanktionen",
"Russische Wirtschaft",
"Gunter Deuber",
"US-Sanktionen",
"Finanzwirtschaft",
"Russland"
] | 223 |
Finanzierung von Islamismusprävention | Fördermittel und Fundraising für die politische Bildung | bpb.de | Für Maßnahmen der Radikalisierungsprävention der universellen Ebene kommen klassische Förderprogramme und Finanzierungsmodelle der politischen Bildungsarbeit in Betracht. Bei der Arbeit mit Jugendlichen können ggf. auch Mittel der kommunalen Jugendhilfe oder des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Anspruch genommen werden.
Bundesebene
Bundesprogramm Demokratie leben!
Zentral für Projekte der Radikalisierungsprävention ist das Bundesprogramm "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Mittel wurden 2016 und 2017 erheblich aufgestockt und liegen 2017 bei etwa 100 Mio. Euro. Externer Link: www.demokratie-leben.de
Bundesprogramm "Zusammenhalt durch Teilhabe"
Mit dem Programm fördert das Bundesministerium des Innern Projekte für demokratische Teilhabe und gegen Extremismus. Im Mittelpunkt stehen regional verankerte Vereine, Verbände und Multiplikatoren, die in ländlichen und strukturschwachen Regionen wirken und von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen besonders betroffen sind. Der Etat liegt 2017 bei etwa 12 Mio. Euro. Externer Link: www.zusammenhalt-durch-teilhabe.de/
Landesebene
Verschiedene Bundesländer haben Förder- und Beratungsprogramme aufgelegt:
Bayern: Bayern gegen Rechtsextremismus und verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit
Externer Link: www.bayern-gegen-rechtsextremismus.bayern.de
Berliner Landesprogramm Radikalisierungsprävention
Externer Link: www.berlin.de/lb/lkbgg/landesprogramm/ Förderschwerpunkte: Präventionsarbeit an Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Förderung von Projekten zur Vermeidung, Früherkennung und Umkehr von Radikalisierungsprozessen.
Landesprogramm "Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus"
Externer Link: https://hke.hessen.de/f%C3%B6rderung/landesprogramm-hessen-aktiv-f%C3%BCr-demokratie-und-gegen-extremismus Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE), Externer Link: https://hke.hessen.de
Mecklenburg-Vorpommern: Netzwerk für Demokratie und Toleranz
Das Beratungsnetzwerk Demokratie und Toleranz Mecklenburg-Vorpommern unterstützt Personen, Kommunen, Institutionen, Organisationen und Betriebe bei der Stärkung von Demokratie und Toleranz und der Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Externer Link: www.beratungsnetzwerk-mv.de/
Niedersachsen: Demokratie und Toleranz
Das Land Niedersachsen fördert auf der Grundlage der Richtlinie "Demokratie und Toleranz" Maßnahmen, die Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft entgegenwirken. Externer Link: www.soziales.niedersachsen.de/soziales_gesundheit/integration_migration/demokratie_und_toleranz/demokratie-und-toleranz-106701.html
Rheinland-Pfalz: Konzept zur Verhinderung islamistischer Radikalisierung junger Menschen
Externer Link: https://mffjiv.rlp.de/de/service/presse/detail/news/detail/News/spiegel-und-lewentz-stellen-konzept-zur-verhinderung-islamistischer-radikalisierung-junger-menschen/
Sachsen: Weltoffenes Sachsen
Leitziel in der Förderung durch das Programm "Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz" ist, die demokratische Kultur und die freiheitliche demokratische Grundordnung im Freistaat Sachsen zu stärken. Externer Link: www.lpr.sachsen.de/11036.htm
Landesprogramm zur Vorbeugung und Bekämpfung von religiös motiviertem Extremismus in Schleswig-Holstein
Externer Link: www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/K/kriminalpraevention/landesprogrammReligioeserExtremismus.html
Thüringen: Denk bunt - Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit
Externer Link: www.thueringen.de/th2/tmbjs/jugend/landesprogramm/index.aspx.
Kommunale Ebene
Die kommunale Förderung von Aktivitäten und Veranstaltungen ist unterschiedlich organisiert. Hier einige Möglichkeiten zur weiteren Recherche:
Jugendämter, Kulturämter, Sozialämter
Ansprechpartner/-innen für "klassische Förderung" auf kommunaler Ebene sind in der Regel das lokale Jugendamt, das Sozialamt oder das Kulturamt.
Soziale Stadt (Bundesprogramm zur Förderung benachteiligter Stadt- oder Ortsteile):
Externer Link: www.staedtebaufoerderung.info/StBauF/DE/Programm/SozialeStadt/soziale_stadt_node.html.
Jugendringe
Auf Landes-, Kreis- und Stadtebene sind die Träger der Jugendarbeit in entsprechenden "Jugendringen" zusammengeschlossen. Manche Jugendringe finanzieren Projekte oder führen sie in eigener Regie durch. Eine Liste der Landesjugendringe findet sich hier: Externer Link: www.landesjugendring.de/Landesjugendringe_in_Deutschland/LJRe.html.
Stiftungen
Robert Bosch Stiftung: Aktionen für eine offene Gesellschaft
Die Robert Bosch Stiftung hat das Programm "Aktionen für eine Offene Gesellschaft" ins Leben gerufen, um auch kleinere Initiativen, Gruppen und Vereine zu ermutigen, sich mit eigenen Aktivitäten für eine starke Gemeinschaft und für Demokratie, Toleranz und Zusammenhalt einzusetzen. Externer Link: www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/70155.asp
F.C. Flick Stiftung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz
Die Stiftung fördert im Wege der Projektförderung Maßnahmen zum Zweck der Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz. Externer Link: www.stiftung-toleranz.de/foerderung/
Bürgerstiftungen
Bundesweit gibt es mittlerweile ca. 300 Bürgerstiftungen mit einem gesamten Stiftungskapital von über 200 Mio. Euro. Eine Bürgerstiftung ist eine unabhängige Stiftung, die Bürgerinnen und Bürger für ihr Umfeld gestalten. Der Stiftungszweck ist in einem geographisch begrenzten Raum möglichst breit beschrieben. Viele Bürgerstiftungen unterstützen auch Projekte, Initiativen oder Netzwerke für Demokratie und gegen Extremismus. Eine Einführung in die Bürgerstiftungen findet sich hier: Externer Link: www.die-deutschen-buergerstiftungen.de
Stiftungssuche
Stiftungssuche nach Themen/Förderbereichen: Externer Link: www.stiftungen.org/de/service/stiftungssuche.html | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-05-08T00:00:00 | 2017-03-07T00:00:00 | 2023-05-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/foerderung/akquisos/243754/finanzierung-von-islamismuspraevention/ | Übersicht von Förderprogrammen, kommunalen Möglichkeiten und Stiftungen, bei denen Mittel zur Finanzierung von Projekten zur Islamismusprävention beantragt werden können. | [
"Radikalisierungsprävention",
"islamistische Ungleichwertigkeitsideologien"
] | 224 |
Daniel Jonah Goldhagen über Europa und den politischen Islam | Presse | bpb.de | Der US-amerikanische Historiker Prof. Dr. Daniel Jonah Goldhagen aus Boston kommt auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb zu zwei Vortrags- und Diskussionveranstaltungen nach Deutschland. Goldhagen hatte 1996 in Deutschland mit seinem Buch "Hitler's Willing Executioners" ("Hitlers willige Vollstrecker") Furore gemacht und eine internationale Debatte um die Ursachen des Holocaust ausgelöst.
Bei den Veranstaltungen am 20. November in Berlin und am 22. November in München stellt Daniel Jonah Goldhagen seine neuen Thesen über Europa und den politischen Islam zur Diskussion.
Die Angriffe vom 11. September 2001 galten scheinbar vor allem den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Ereignisse neueren Datums zeigen Europa jedoch ebenfalls als Ziel radikaler, islamistischer Kritiker.
Welche Konsequenzen können in Europa aus der Bedrohungen durch den islamischen Fundamentalismus und durch ehrgeizige Waffenprogramme diktatorischer Staaten gezogen werden und welche neuen Verantwortlichkeiten entstehen ? "Der Kampf [...] ist eben kein Kampf der Kulturen mit Muslimen oder Arabern oder muslimischen Ländern. Stattdessen ist es ein Kampf mit dem eliminatorischen und totalitaristischen politischen Islam, seinen politischen Anführern und Staatsregierungen", schrieb Goldhagen in der US-Zeitschrift "The New Republic".
Aber Goldhagen bringt auch eine moralische Dringlichkeit ins Spiel, mit der die demokratischen Gesellschaften ihr eigenes Handeln sowie das Handeln anderer betrachten sollten. "Legitime Beschwerden der Muslime in Europa und von islamischen Völkern in der ganzen Welt müssen gehört werden. Lösungen in gutem Glauben, so mühevoll sie sein mögen, müssen gefunden werden.", so Goldhagen.
Wie könnten solche Lösungen aussehen? Zur Diskussion darüber lädt die bpb ein:
Berlin
Termin: Montag, 20. November 2006 um 20.00 Uhr Einführung: Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Vortrag: Daniel Jonah Goldhagen Kommentar: Cem Özdemir, MdEP Moderation: Anjana Shrivastava (Journalistin) und Claus Christian Malzahn (Journalist) Ort: DBB-Forum-Friedrichstrasse 169/170, 10117 Berlin Der Eintritt ist frei mit bestätigter Anmeldung. Anmeldung Frau Wahl Fax +49 (0) 30 254 504-22 E-Mail: E-Mail Link: wahl@bpb.de Weitere Informationen: Externer Link: www.bpb.de/veranstaltungen München
Termin: Mittwoch, den 22. November 2006 um 19.00 Uhr Einführung: Thomas Krüger, Präsident der bpb Vortrag: Daniel Jonah Goldhagen Moderation: Anjana Shrivastava (Journalistin) und Claus Christian Malzahn (Journalist) Ort: Amerika-Haus, Karolinenplatz 3, 80333 München Eintritt: 6 EUR und 4 EUR Euro (ermäßigt) Anmeldung Tel.: +49 (0) 89 552 53 70 Fax: +49 (0) 89 552 53 737 Auf Wunsch schicken wir Ihnen eine PDF-Datei des Flyers für die Veranstaltung in München zu. Die Konferenzsprache bei beiden Veranstaltungen ist Englisch. Interviewwünsche Anjana Shrivastava i.A. der bpb E-Mail: E-Mail Link: anjana.shrivastava@gmail.com | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50553/daniel-jonah-goldhagen-ueber-europa-und-den-politischen-islam/ | Der Historiker Prof. Dr. Daniel Jonah Goldhagen kommt auf Einladung der bpb zu zwei Vortrags- und Diskussionveranstaltungen nach Deutschland. Er stellt seine neuen Thesen über Europa und den politischen Islam zur Diskussion. | [
"Unbekannt (5273)"
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Schulgeschichte nach 1945: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart | Bildung | bpb.de | Die Schulreformpläne der Alliierten im besetzten Deutschland
Nach der Zerschlagung der Nazi-Diktatur leitete die sowjetische Besatzungsmacht in ihrem Verwaltungsgebiet bereits im Frühsommer 1946 einen radikalen Umbau des Schulsystems ein. Ziel war es, die Überreste schulischer Strukturen zu beseitigen, die als "Keimzellen" imperialistischer und militaristischer Haltungen gesehen und gar für die faschistischen und rassistischen Zivilisationsbrüche des Nationalsozialismus mitverantwortlich gemacht wurden. Mit dem Gesetz zur "Demokratisierung der deutschen Schule" sollte nun das dreigliedrige Weimarer System abgeschafft und durch eine stufenförmig organisierte Interner Link: "demokratische" Einheitsschule ersetzt werden. Getrennte Schulformen, mit dem Gymnasium an der Spitze, sollte es nicht mehr geben.
Auch die Westalliierten wurden in ihren Besatzungszonen schulpolitisch aktiv. Im Jahr 1947 verständigten sich sogar alle vier alliierten Besatzungsmächte in der sogenannten Kontrollratsdirektive 54 darauf, wie die demokratische Umgestaltung des deutschen Bildungswesens konkret aussehen sollte. Grundlage dafür war der Bericht einer pädagogischen Expertenkommission, die der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman eingesetzt hatte. Nach Ansicht der so genannten Zook-Kommission (benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem amerikanischen Bildungsexperten George F. Zook) hatte das tradierte deutsche Schulsystem "bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh" (Bericht der Zook-Kommission, zitiert nach Herrlitz 2005, 159). Als unerlässliche Voraussetzung der gesellschaftlichen Demokratisierung empfahl die Kommission daher eine möglichst lange gemeinsame Beschulung aller Kinder, in einem nach dem Vorbild der US-amerikanischen comprehensive high school gestuften System – also die Abschaffung des in getrennte Bildungsgänge gegliederten Schulsystems (siehe Infobox). Zur Stärkung des demokratischen Bewusstseins sollte zudem eine konsequente schulische Erziehung zu einem "democratic way of life" sowie politische Bildung "zu staatsbürgerlicher Verantwortung" erfolgen.
Quellentext"Kontrollratsdirektive Nr. 54: Grundprinzipien für die Demokratisierung des Bildungswesens in Deutschland (1947)
Der Kontrollrat billigt die folgenden Grundsätze und überweist sie den vier Zonenbefehlshabern und der Alliierten Kommandantur Berlin als Richtlinien:
Es sollten gleiche Bildungsmöglichkeiten für alle gewährleistet sein. In allen Bildungsinstitutionen, die ganz aus öffentlichen Mitteln unterhalten werden und überwiegend Schüler im schulpflichtigen Alter betreuen, sollten Unterricht, Schulbücher und andere notwendige Lehr- und Lernmittel unentgeltlich gewährt werden; außerdem sollten allen, die Unterstützung benötigen, Unterhaltszuschüsse gewährt werden. – In den anderen Bildungseinrichtungen, einschließlich der Universitäten, sollten Unterricht, Lehrbücher und notwendige Materialien zusammen mit Unterhaltsbeihilfen für Unterstützungsbedürftige unentgeltlich gewährt werden. Für alle [Kinder] im Alter von sechs bis mindestens zum fünfzehnten Lebensjahre sollte pflichtmäßiger Vollzeit-Schulbesuch gefordert werden – und für alle Schüler, die nicht Vollzeitschulen besuchen, anschließend wenigstens pflichtmäßiger Teilzeit-Schulbesuch bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Alle Schulen für den Zeitraum der Pflichtschulzeit sollten ein zusammenhängendes Bildungssystem (comprehensive educational system) darstellen. Die Abschnitte der Elementarbildung und der weiterführenden Bildung sollten zwei aufeinanderfolgende Stufen der Unterweisung bilden, nicht zwei Wege oder Abschlüsse der Ausbildung [nebeneinander], die teilweise übereinstimmen. Alle Schulen sollten Nachdruck legen auf die Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung und demokratischen Lebensstil (democratic way of life) vermittelst des Lehrplans, der Lehrbücher und Lehrmittel und der Organisation der Schule selbst. Die Lehrpläne sollten darauf ausgerichtet werden, das Verständnis für andere Völker und die Achtung vor ihnen zu fördern, zu diesem Zweck sollte dem Studium der modernen Fremdsprachen Aufmerksamkeit gewidmet werden, ohne einer den Vorzug geben. Allen Schülern und Studenten sollten Studienhilfen und Berufsberatung gewährt werden (educational and vocational guidance). Für alle Schüler und Studenten sollten Gesundheitsüberwachung und Erziehung zu gesunder Lebensweise vorgesehen, außerdem Unterricht in Hygiene erteilt werden. Die gesamte Lehrerausbildung sollte an einer Universität oder einem Pädagogischen Institut von Universitätsrang erfolgen. Nachdrücklich sollten Bestimmungen getroffen werden, allen Bürgern die wirkungsvolle Teilnahme an der Reform und Organisation des Bildungswesens ebenso wie an seiner Verwaltung zu ermöglichen.
Ausgefertigt in Berlin am 25. Juni 1947. P. Noiret Major General (Frankreich), M. I. Dratvin Lieutenant General (UdSSR), F. A. Keating Major General (U.S.A.), B. H. Robertson Lieutenant General (Großbritannien)
Quelle: Michael, Berthold; Schepp, Heinz-Hermann (Hg.): Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen; Zürich 1993, S. 233f.
Wiederherstellung des gegliederten Schulsystems
Nach ihrer Machtübernahme hatten die Alliierten zunächst den deutschen Kulturföderalismus wiederhergestellt und die Zuständigkeit für das Schulwesen an die Länder zurück übertragen. Die Umsetzung der Kontrollratsdirektive 54 lag somit in der Verantwortung der neu gewählten Landesregierungen und ihrer Kultusministerien, wo sie mit einigen Ausnahmen zurückhaltend oder gar ablehnend aufgenommen wurde. Vor allem gegen die angeordnete Restrukturierung des Schulsystems hatte sich eine breite Gegenbewegung aus konservativen Parteien, Kirchen, Universitäten, Philologen und bildungsbürgerlichen Schichten formiert, die öffentlichkeitswirksam gegen die geplante Reform argumentierten. Die Schule habe in erster Linie pädagogische Aufgaben zu erfüllen und dürfe nicht mit sozialpolitischen Aufgaben überbürdet werden. Demokratische Gleichheitsforderungen dürften jedenfalls nicht auf Kosten einer Absenkung der Leistungsanforderungen in der höheren Bildung verwirklicht werden. Neben diese schon in der Weimarer Zeit (und vorher) gegen die Einheitsschulidee vorgebrachten Einwände trat zudem stärker als bisher eine "begabungstheoretische" Argumentationslinie. So gab etwa der Bayrische Kultusminister Alois Hundthammer, einer der schärfsten Kritiker der Reformpläne der Alliierten, eine durchaus verbreitete Auffassung wieder, als er 1947 in einer ablehnenden Stellungnahme an die Militärregierung auf "biologisch gegebene Ungleichheiten" verwies, die "durch keine zivilisatorischen Maßnahmen beseitigt werden" könnten (siehe Infobox).
QuellentextAuszug aus der Stellungnahme des Bayrischen Kultusministers Hundthammer an die Militärregierung (1947)
"Der Grundsatz der sozialen Gleichberechtigung muß in allen Schulen mit größtem Verantwortungsernst durchgeführt werden. Die Teilnahme an den geistigen Gütern der Menschheit durch Bildung darf nicht das Vorrecht einzelner Stände sein. Deshalb sollen jene Schulen, deren besondere Aufgabe es ist, die von Natur aus hierzu Befähigten zu höheren und höchsten Bildungszielen zu führen, allen wirklich Begabten ohne Unterschied des Standes und Vermögens der Eltern zugänglich gemacht werden. (...) Zwei Tatsachen dürfen freilich in dem berechtigten Ringen um die soziale Gerechtigkeit der Schulverfassung nicht übersehen oder geleugnet werden: einmal die Tatsache, dass die Begabung für höhere Bildungsziele nun einmal nur einem zahlenmäßig begrenzten Personenkreis vorbehalten ist; und sodann die Tatsache, dass diese Begabungen sich zwar auf alle Stände und Klassen der Bevölkerung verteilen, nicht aber so, dass sie prozentual völlig gleichmäßig unter den einzelnen sozialen Schichten verteilt sind. Diese biologische Ungleichheit kann durch keine zivilisatorischen Maßnahmen beseitigt werden, auch nicht durch die Änderung unseres sogenannten zweispurigen Schulsystems zugunsten eines Einheitsschulsystems."
Quelle: Externer Link: http://www.giesecke.uni-goettingen.de/paedil.pdf, S. 60.
In den konservativ regierten Ländern gelang es den Schulverwaltungen mit allerlei Manöver die Umsetzung der von den Alliierten geforderten Reformen hinauszuzögern. In einigen sozialdemokratisch regierten Ländern fielen die schulpolitischen Impulse der Besatzungsmächte zwar auf fruchtbareren Boden, doch Reformen zur Verlängerung der Grundschulzeit, wie sie etwa Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein durchführten, verloren bald an gesellschaftlichem Rückhalt und wurden nach Niederlagen in schulpolitisch aufgeheizten Wahlkämpfen wieder rückgängig gemacht. Unter Verweis auf die Einheitsschule der DDR war die Schulstrukturfrage im heraufziehenden kalten Krieg "zur Systemfrage zwischen ‚Freiheit und Sozialismus’" (Fuchs/Reuter 2000, 44) stilisiert worden. Da die US-Militärregierung davor zurückschreckte ihre Re-education-Politik auf autoritäre Weise durchzusetzen und im sich zuspitzenden Ost-West-Konflikt die Kooperation der konservativen Kräfte benötigte, änderte sie schließlich ihre strategischen Prioritäten und insistierte nicht länger auf die in der Kontrollratsdirektive 54 angeordnete Strukturreform. So wurde 1955 mit dem Düsseldorfer Abkommen am Ende entgegen den ursprünglichen Intentionen der Besatzungsmächte die dreigliedrige Schulstruktur als bundesländerübergreifender Standard der Schulorganisation festgeschrieben.
Bildungspolitische Aufbruchstimmung
Spätestens zu Beginn der 1960er Jahre wurde deutlich, dass das starre Festhalten am dreigliedrigen System vielfältige Probleme nach sich zog. Eine von der OECD initiierte Vergleichsstudie wies deutliche Modernisierungsrückstände sowohl in den Bereichen der Volksschul- als auch der Gymnasialbildung nach. Der Philosoph und Pädagoge Georg Picht warnte 1964 in einem viel beachteten Buch vor der drohenden "deutschen Bildungskatastrophe", weil man sich in der Wiederaufbauphase zu wenig auf die wissenschaftlich-technischen Anforderungen der Gegenwart eingelassen hatte (siehe Infobox)
QuellentextAuszug aus Georg Pichts "Die deutsche Bildungskatastrophe" (1964)
"Der Aufstieg Deutschland in den Kreis der großen Kulturnationen wurde im neunzehnten Jahrhundert durch den Ausbau der Universitäten und der Schulen begründet. Bis zum Ersten Weltkrieg beruhten die politische Stellung Deutschlands, seine wirtschaftliche Blüte und die Entfaltung seiner Industrie auf seinem damals modernen Schulsystem und auf den Leistungen einer Wissenschaft, die Weltgeltung erlangt hatte. Wir zehren bis heute von diesem Kapital. Die wirtschaftliche und politische Führungsschicht, die das sogenannte Wirtschaftswunder ermöglicht hat, ist vor dem Ersten Weltkrieg in die Schule gegangen, die Kräfte die heute Wirtschaft und Gesellschaft tragen, verdanken ihre geistige Formung den Schulen und Universitäten der Weimarer Zeit. Jetzt aber ist das Kapital verbraucht: Die Bundesrepublik steht in der vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der europäischen Länder neben Jugoslawien, Irland und Portugal."
"Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand. Der bisherige wirtschaftliche Aufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem etwas leisten kann. Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht. Aber die politische Führung in Westdeutschland verschließt vor dieser Tatsache beharrlich die Augen und lässt es in dumpfer Lethargie oder in blinder Selbstgefälligkeit geschehen, dass Deutschland hinter der internationalen Entwicklung der wissenschaftlichen Zivilisation immer weiter zurückbleibt."
Quelle: Georg Picht (1964). Die Deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Walter-Verlag, Olten und Freiburg in Breisgau: S. 16-17.
Neben die ökonomischen Argumente traten zudem dezidiert sozialpolitische Erwägungen. So machte etwa der Soziologe Hansgert Peisert auf die massive Unterrepräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen in den höheren Bildungseinrichtungen aufmerksam und brachte mit der Kunstfigur des "katholischen Arbeitermädchens vom Lande" die fortbestehenden Zugangsbeschränkungen und Bildungsbenachteiligungen auf eine einprägsame Formel. Bildung sei in Deutschland noch immer nicht als "Bürgerrecht" verwirklicht, mahnte der Soziologe und spätere FDP-Politiker Ralf Dahrendorf in seinem einflussreichen "Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik" (1965): Die rechtliche Chancengleichheit bleibe Fiktion "wenn Menschen auf Grund ihrer sozialen Verflechtungen und Verpflichtungen nicht in der Lage sind von ihrem Recht Gebrauch zu machen" (ebd., 23). Um das Bürgerrecht auf Bildung zu garantieren, so Dahrendorf, reiche "die beste Verfassung nicht" (ebd., 24), dazu sei Politik nötig.
Modernisierung des Schulwesens: Schulreform mit wissenschaftlicher Expertise
Als 1969 erstmals in der bundesdeutschen Geschichte eine SPD-geführte Koalition die Regierung übernahm, herrschte bildungspolitische Aufbruchstimmung. Eine Grundgesetzänderung verschaffte dem Bund die Möglichkeit gemeinsam mit den Ländern Bildungsplanung zu betreiben, das "Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft", entstand. Im Folgejahr wurde die "Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung" (BLK) eingerichtet und mit der Aufgabe betraut einen langfristigen Plan zur Weiterentwicklung des gesamten Bildungswesens zu entwerfen. Die Leitlinien ihrer Arbeit bildeten zahlreiche Gutachten und Empfehlungen, die der bereits 1953 einberufene "Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen" und seine Nachfolgeorganisation, der 1965 gegründete "Deutsche Bildungsrat" über Jahre hinweg, unter Mitarbeit von Politikern und Experten aus Wissenschaft und Praxis, vorgelegt hatte.
Angestrebt wurde u. a. die Erweiterung und Öffnung der mittleren und höheren Bildungsgänge und eine stärkere Wissenschaftsorientierung auch in der Volksschuloberstufe, die – um ein neuntes Schuljahr verlängert und von der Grundschule getrennt – nun zu einer eigenständigen Schulform, der Hauptschule, wurde. Auch der Unterricht und das Schulleben sollten sich grundlegend wandeln. Das Züchtigungsrecht der Lehrkräfte wurde abgeschafft (siehe Infobox) und neben dem fachlichen auch dem sozialen Lernen mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Um die innerschulischen Teilhabemöglichkeiten der Lernenden zu stärken, wurden Formen der demokratischen Mitbestimmung (wie etwa die Schülervertretung) verankert. Auch methodisch-didaktisch rückten die Lernenden in den Blick. Der Unterricht wurde schüler- und handlungsorientierter, reformpädagogisch geprägte Lehr- und Lernformen gewannen an Bedeutung. Die neuen Bildungsziele, die den klassischen preußischen Sekundärtugendkatalog (Fleiß, Sauberkeit, Ordnungsliebe, Disziplin etc.) außer Kraft setzten, fanden ihren Ausdruck in Begriffen wie Emanzipation, Autonomie und Handlungsfähigkeit.
QuellentextAntwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktionen der SPD und FDP zur Züchtigungsbefugnis (1975)
- Drucksache 7/2937 -
Wie beurteilt die Bundesregierung die körperliche Züchtigung von Schülern in rechtlicher, insbesondere auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht? Die einzelnen Länder haben in weitgehendem Umfang das Recht von Lehrern zur Züchtigung von Schulkindern durch Gesetze oder Verwaltungsvorschriften eingeschränkt. Die strafrechtliche Rechtsprechung hat demgegenüber bei nichtgesetzlicher Regelung allerdings eine Befugnis von Lehrern zu maßvollen Züchtigungsmaßnahmen zum Zwecke der Erziehung gegenüber schulpflichtigen Kindern als Rechtfertigungsgrund anerkannt; diese Befugnis wird aus in einzelnen Ländern oder Landesteilen geformten Gewohnheitsrecht hergeleitet; sie wird allerdings im Hinblick auf Anlaß, Zweck und Arten der Züchtigungsmaßnahmen erheblich eingegrenzt. Soweit es sich beispielsweise um Übergriffe gegenüber älteren Schülern handelt oder um Handlungen, die in keinem Verhältnis zum Anlaß der Züchtigung stehen, die gesundheitsschädigend oder quälerisch sind oder die das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl verletzen, hat die Rechtsprechung auch die strafrechtliche Zulässigkeit von Züchtigungen verneint. Mit der eingeschränkten Anerkennung des Rechtfertigungsgrundes der Züchtigungsbefugnis durch die Rechtsprechung wird im Ergebnis erreicht, daß das Strafrecht nicht zur Entscheidung bestimmter pädagogischer Konfliktfälle herangezogen werden kann. Die Entwicklung wird damit – jedenfalls zunächst – dem Dienst- und Schulverwaltungsrecht überlassen. Die Bundesregierung begrüßt die in den einzelnen Ländern getroffenen Maßnahmen, die schon eine weitgehende Verbannung von Züchtigungsmaßnahmen an Schulen bewirkt haben. Ob dies zu einer Weiterentwicklung der Rechtsprechung, die in ihren Ansätzen für eine Aufnahme neuer pädagogischer Erkenntnisse offen ist, führen wird, bleibt abzuwarten.
Da die Züchtigung einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit darstellt, muß sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen (Gesetzesvorbehalt gemäß Artikel 2 Abs. 2 GG). Auch wenn man mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht der Berufsfreiheit davon ausgeht, daß vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht dem Gesetzesvorbehalt genügt, bestehen gleichwohl verfassungsrechtliche Zweifel, weil jedenfalls heute im Hinblick auf die Rechtspraxis in den Bundesländern von einer gewohnheitsrechtlichen Rechtsüberzeugung hinsichtlich des Bestehens eines Züchtigungsrechts möglicherweise nicht mehr ausgegangen werden kann (vgl. dazu die Ausführungen zu den Fragen 2 und 3). Daß die Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses nach heutigem Verfassungsverständnis als Grundlage für Grundrechtseingriffe nicht mehr in Betracht gezogen werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner zum Strafvollzug ergangenen Entscheidung (BVerfGE 33, 1) klargestellt.
Nicht zuletzt kehrten mit den Entwicklungsplänen der Bund-Länder-Kommission (BLK) Fragen des äußeren Aufbaus des Schulwesens auf die bildungspolitische Agenda zurück, wenn auch mit weniger weitreichenden Zielen als in der Nachkriegszeit: Neben den Schulformen des dreigliedrigen Schulsystems sollte im Rahmen von Schulversuchen eine begrenzte Zahl von "Gesamtschulen" eingerichtet werden. Flankiert von wissenschaftlichen Begleituntersuchungen wollte man so zunächst alternative Modelle der Schulorganisation erproben und die Potenziale einer stärker auf innere Differenzierung setzenden Pädagogik ausloten. Anschließend sollte darüber befunden werden, ob bzw. in welcher Variante die neue Schulform flächendeckend einzuführen sei. Weiterhin sollte durch die Schaffung einer "schulartenunabhängigen Orientierungsstufe" die Selektion in die weiterführenden Schulen um zwei Jahre aufgeschoben und damit auf eine sicherere prognostische Grundlage gestellt werden. Ferner war angedacht die Ausbildung der Lehrkräfte über die verschiedenen Schulformen hinweg einander anzunähern. Doch schon während der Ausarbeitung brachen über diese schulstrukturellen Reforminhalte in der BLK schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten zwischen den parteipolitischen Lagern auf. Am Ende wurden sie in der Abstimmung von den konservativ regierten Ländern blockiert, so dass die schulstrukturellen Neuerungen letztlich nur von einigen sozialdemokratisch regierten Ländern in nennenswertem Umfang verwirklicht wurden.
Das Ende der Reformeuphorie
Bereits Mitte der 1970er Jahre war der Elan des kulturellen Aufbruchs und der politischen Reformen weitestgehend verflogen. Neben die festgefahrene politische Situation war mit der Ölkrise von 1973 eine schwere wirtschaftliche Rezession getreten, welche die Finanzierbarkeit der in Zeiten des Wirtschaftswunders konzipierten Bildungsreform in Frage stellte. Bildungspolitik verlor an Priorität gegenüber anderen drängenden politischen Handlungsfeldern, etwa in der Arbeitsmarkt-, Renten-, Gesundheits-, Umwelt- und Energiepolitik. Auch zogen die "emanzipatorischen" Bildungs- und Erziehungsvorstellungen, die in den 1960er Jahren auch die Programmatik der Bildungsreform beeinflusst hatten, verstärkt Kritik auf sich. Hochangesehene Wissenschaftler und Schriftsteller beklagten den "antiautoritär" motivierten Rückzug der Erwachsenengeneration aus ihrer Erziehungsverantwortung und forderten Eltern und Pädagogen auf, mehr "Mut zur Erziehung" (Wissenschaftszentrum Bonn 1979) zu wagen.
Aber auch unter den Protagonisten der Bildungsreform machte sich Ernüchterung breit. So sprach der Gründungsdirektor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Hellmut Becker (1913-1993), der selbst Mitglied des Bildungsrates gewesen war, von einem drohenden Scheitern der Bildungsreform. Zwar sei die Öffnung der höheren Bildungsgänge nicht mehr rückgängig zu machen, doch habe die an sich begrüßenswerte Entwicklung, dass mehr jungen Menschen der Zugang zu weiterführenden Schulen eröffnet worden sei, eine beklagenswerte Verschärfung von Selektion und Auslese im gesamten Bildungssystem mit sich gebracht. "Lernen, Auslese und Konkurrenz", erklärte er am 16. Januar 1976 den Lesern der Wochenzeitung "Die Zeit", würden durch die Praxis der formalen Notengebung und dem damit ausgelösten Wettbewerb inzwischen "bereits im Kindergarten" beginnen (siehe Infobox).
QuellentextAuszug aus dem Meinungsbeitrag "Was hat die Reform bewirkt" von Hellmut Becker (erschienen in DIE ZEIT, am 16.01.1976)
(...) Das alte Schulsystem traf die Entscheidung über die soziale Zukunft bei den Zehnjährigen. Die Entscheidung verlagerte sich über differenzierten Mittelbau, über Förderstufe und Orientierungsstufe schließlich zum Hauptschul- und zum Realschulabschluß. Wir hatten die Chance ein aufgelockertes System der Förderung und Verteilung zu schaffen. Wir sind dabei, diese Chance zu vertun.
Der Numerus clausus für den Hochschulzugang wirkt nun so nach unten, daß indirekt alle alten Barrieren wieder aufgerichtet werden. Lernen, Auslese und Konkurrenz setzen bereits im Kindergarten ein. Wer beim Numerus clausus abgewiesen wird, gleitet dann notwendigerweise eine soziale Stufe tiefer und verdrängt dort jene, die zuvor auf dieser Ebene Zugangschancen hatten. Der nicht zur Hochschule zugelassene Abiturient bekommt bei einer Verknappung der Lehrstellen eher einen Ausbildungsplatz als der Absolvent einer Hauptschule oder Realschule.
Tatsächlich ist der Numerus clausus nicht nur ein Problem der Hochschule, er ist inzwischen ein Problem aller Ausbildungsstufen geworden. Wir haben nicht genügend Ausbildungsplätze in den Betrieben. Es fehlt an Ausbildungsplätzen in den Betrieben und auf jeder Ebene. Als Lösung ist uns nichts anderes eingefallen als das Schulzeugnis mit seiner Durchschnittsnote (...).
Die Ausrichtung der Schule auf Konkurrenz und die formale Notengebung zerstört die Bildungsmöglichkeiten des Unterrichts. Zensuren sind als Hilfsmittel tragbar. Sie können auch einzelne Hilfen leisten, wenn ihr begrenzter Stellenwert erkannt ist. Wenn man sie jedoch vom Randfaktor zum zentralen Entscheidungsfaktor der Schule macht, zerstören sie auf die Dauer das Bildungssystem. Wir stehen bereits am Anfang dieser Entwicklung.
Quelle: Externer Link: http://www.zeit.de/1976/04/was-hat-die-reform-bewirkt/komplettansicht.
Gesamtschulstreit
Unterricht in einer 6. Klasse in einer Hagener Gesamtschule. 1982 einigten sich die Bundesländer in der Kultusministerkonferenz (KMK) auf eine gegenseitige Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse. Jedoch mussten künftig alle Gesamtschulen nach einem einheitlichen Konzept organisiert werden. (© picture-alliance/dpa)
Nachdem SPD- und CDU-geführte Länder in der Kultusministerkonferenz (KMK) lange darüber gerungen hatten, unter welchen Bedingungen die von Gesamtschulen verliehen Abschlüsse als gleichwertig gelten könnten, ließen sich die CDU-geführten Länder 1982 auf eine gegenseitige Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse ein. Der Preis war aus Sicht vieler Anhänger der Gesamtschulidee allerdings hoch: Bundesweit mussten künftig alle Gesamtschulen nach einem einheitlichen Konzept organisiert werden, das zahlreiche organisatorische Grundsätze festschrieb, darunter nicht zuletzt die verbindliche äußere Fachleistungsdifferenzierung in einigen Fächern (d. h. eine leistungsbasierte Trennung der Schüler in verschiedene Kursniveaus). Dies unterwarf die neue Schulform in einigen zentralen Punkten der selektiven Logik des gegliederten Schulsystems und nahm ihr einen Teil eben jener pädagogischen Handlungsspielräume, in denen viele Gesamtschulbefürworter ihre entscheidenden Vorteile gesehen hatten.
Vor wie nach der Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse kam es zu scharfen parteipolitischen Auseinandersetzungen zwischen SPD und CDU (siehe Infobox). Die Strategie der Sozialdemokraten, zumindest in den von ihr regierten Ländern, die neue Schulform als Regelschule zu etablieren und überall dort Gesamtschulen einzurichten, wo Eltern entsprechende "Bedarfe" anmeldeten, trieb konservative Streiter für die Dreigliedrigkeit auf die Barrikaden. In vielen SPD-regierten Ländern versuchten Reformgegner, im Bündnis mit der oppositionellen CDU, anhand von Mobilisierungskampagnen, Volksbegehren und Klagen den Ausbau bzw. die schulgesetzliche Gleichberechtigung der Gesamtschule zu verhindern; teils mit erheblichem Erfolg. In Nordrhein-Westfalen z. B. stoppte die Regierung 1978 den Ausbau der "kooperativen Gesamtschule" nachdem sich dreieinhalb Millionen Bürgerinnen und Bürger an einem entsprechenden Volksbegehren beteiligt hatten (Rösner 1981). Angesichts des starken Widerstands aus der Bevölkerung sah sich die SPD vielerorts gezwungen, den Ausbau der Gesamtschulen auf ein deutlich niedrigeres Niveau zu reduzieren als ursprünglich geplant.
QuellentextPositionen der CDU und der SPD zur Gesamtschule
Auszug aus einem Beitrag in der CDU-Parteizeitschrift "Union in Deutschland", 1986
"In ideologischer Engstirnigkeit betreibt die SPD eine Politik der Zerschlagung des bewährten gegliederten Schulwesens. An seine Stelle sollen Gesamtschulen und andere integrierte Schulsysteme treten, die in aller Regel formale Abschlüsse nur unter Preisgabe von Qualität vergeben können. Eltern, Lehrer und Gemeinden werden gezwungen, um den Bestand hochqualifizierter Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien zu kämpfen. Höchstrichterliche Urteile mussten erwirkt werden, um das Niveau der Schulbildung nicht allzu kraß absinken zu lassen. Die Schulpolitik in den Ländern Nordrhein-Westfalen, Hessen und Saarland beweist, dass die SPD die ideologischen, gesellschaftsverändernden Ziele der siebziger Jahre offensichtlich wiederbeleben und als Konzept für die neunziger Jahre durchsetzen will: Konzepte, mit denen die SPD schon in der Vergangenheit gescheitert ist." Quelle: Externer Link: http://www.kas.de/wf/doc/kas_26732-544-1-30.pdf?110826092549
Auszug aus einem Beitrag im "Sozialdemokratischen Pressedienst", 1979
Die CDU, die sich andernorts gerne als besonders europäische Partei vorstellt, gerät mit ihren bildungspolitischen Forderungen (...) immer mehr ins provinzielle Abseits: Ist die Gesamtschule in ihren Vorzügen und Erfolgen längst erkannt worden, so stellt sich die CDU/CSU-Opposition immer noch blind und schwingt sich wieder einmal zur Hüterin des veralteten, dreigliedrigen Schulsystems auf. Die dreigliedrige Schule – in vielen Ländern Europas längst abgeschafft – hat die Bildungsbarrieren für bisher benachteiligte Schülerinnen und Schüler zementiert und läuft einer Verstärkung der Chancengleichheit, wie sie nach den Wertvorstellungen des Grundgesetztes und der Verfassung der Bundesländer gefordert ist, zuwider. (...) Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, dass die Ergebnisse der Gesamtschule eine Sprache sprechen, nach der künftig weniger die Gesamtschule als vielmehr das dreigliederige Schulsystem seiner pädagogischen Rechtfertigung bedarf. Quelle: Externer Link: http://library.fes.de/spdpd/1979/790613.pdf
Wiedervereinigung
Vor diesem konfliktbelasteten Hintergrund verlief die Überführung der stufenförmig organisierten DDR-Einheitsschule in das gegliederte System der Bundesrepublik zu Beginn der 1990er Jahre vergleichsweise geräuschlos (siehe Infobox). Während das Gymnasium nach der Wiedervereinigung in allen Neuen Bundesländern flächendeckend eingeführt wurde, verzichtete man – mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern – von Beginn an auf die Einrichtung einer eigenständigen Hauptschule zugunsten einer differenzierten Mittelschule, die als ersetzende Alternative zur westdeutschen Gesamtschule angepriesen und eingerichtet wurde.
QuellentextGemeinsame Bildungskommission BRD/DDR
Empfehlungen für die Zusammenführung beider Bildungssysteme (26. September 1990)
Die Gemeinsame Bildungskommission traf sich am 26. September 1990 im Sekretariat der Kultusministerkonferenz zu ihrer dritten und abschließenden Sitzung. Die Delegation der Deutschen Demokratischen Republik wurde vom Minister für Bildung und Wissenschaft, Herrn Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, die Delegation der Bundesrepublik Deutschland von der Präsidentin der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Frau Ministerin Marianne Tidick, und Herrn Staatssekretär Dr. Fritz Schaumann in Vertretung des Bundesminister für Bildung und Wissenschaft geleitet. […]
Im Bereich der allgemeinen Bildung hat die Bildungskommission Empfehlungen zur Neugestaltung des allgemeinbildenden Schulwesens in den neuen Ländern verabschiedet. Sie stellt darin fest, daß beim Zusammenwachsen der Bildungsbereiche das Prinzip der Kulturhoheit der Länder von grundlegender Bedeutung ist. Die Länder tragen ihren föderalen Rechten und Verpflichtungen im Schulbereich auch dadurch Rechnung, daß sie bei ihren bildungspolitischen Entscheidungen die Sicherung der gebotenen Einheitlichkeit und Chancengleichheit als eine ständige Aufgabe sehen. Durch die Entwicklung einer gemeinsamen und vergleichbaren Grundstruktur für das Schulwesen werden wesentliche Voraussetzungen für eine Freizügigkeit im Bildungswesen geschaffen. Basis dafür sind gemäß Artikel 37 des Einigungsvertrages des "Hamburger Abkommens" der Länder zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens und weitere einschlägige Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz. Quelle: Externer Link: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/docpage.cfm?docpage_id=5144&language=german.
Die Einzelschule rückt in den Fokus: Schulautonomie und Qualitätsentwicklung
Nach fast zwei Jahrzehnten der mühsamen ideologischen Auseinandersetzungen "Gesamtschule versus gegliedertes Schulsystem" wurde die Schulstrukturdebatte in den 1990er Jahren auch innerhalb der SPD zunehmend als unproduktiv angesehen. Dies umso mehr, als sich das mit der Gesamtschule verbundene Ziel einer gerechteren Verteilung von Bildungschancen nicht im erhofften Maße realisiert hatte. Aber auch insgesamt war die Wirkung der groß angelegten Bildungsreform der 1970er Jahre weit hinter ihren Zielen zurückgeblieben. Der allgemeinen Ernüchterung darüber entsprang ein schulpolitischer Paradigmenwechsel: Entscheidend für den Bildungserfolg, so das nunmehr über Parteigrenzen hinweg akzeptierte Mantra, sei weniger die Ausgestaltung des Schulsystems als die Qualität der einzelnen Schule. Qualitätsentwicklung aber sei nicht "von oben" mit den klassischen Mitteln von Politik und Verwaltung – der sogenannten Input-Steuerung über Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und anderes mehr – zu erreichen. Sie erfordere vielmehr eine Aktivierung der Kollegien vor Ort für eine eigenverantwortliche Schulentwicklung "von unten". Denn letztlich wüssten die Schulleitungen und Lehrkräfte am besten, was für die eigene Schülerschaft erfolgversprechend ist.
Diese veränderte Strategie staatlichen Handelns, die unter dem Schlagwort der "Neuen Steuerung" (vgl. Frank Oschmiansky: Interner Link: Neues Steuerungsmodell und Verwaltungsmodernisierung) in den 1990ern auch in anderen Politikbereichen Verbreitung fand, gab den Anstoß dafür den Schulbetrieb zu entbürokratisieren und Entscheidungsbefugnisse verstärkt auf die Ebene der einzelnen Schule zu übertragen. Über alle Bundesländer hinweg erhielten die Schulen im Rahmen der sogenannten Schulautonomie gesetzlich erweiterte Handlungsspielräume, etwa mit Blick auf Personal- und Budgetentscheidungen, Lehrplaninhalte, Unterrichtsformate und anderes mehr. Dies sollte sie in Lage versetzen als "lernende Organisationen" Qualitätsentwicklung in eigener Verantwortung zu betreiben und dabei ihren spezifischen Bedingungen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Als Gegenleistung für die größeren Gestaltungsfreiräume wurden aber auch die Rechenschaftspflichten der Schule erweitert. Um Transparenz darüber herzustellen, inwieweit sie mit den gewählten Mitteln ihre pädagogischen Ziele tatsächlich erreichen, sollten sich die Schulen fortan regelmäßig der externen Evaluation durch verschiedene Formen der Leistungsbewertung stellen (z. B. Schulleistungsuntersuchungen, Vergleichsarbeiten). So erfolgte in einigen Ländern, wie etwa Hamburg und Baden-Württemberg, bereits in den 1990er Jahren der Einstieg in ein kontinuierliches "Interner Link: Bildungsmonitoring", das im Gefolge der ersten PISA-Studie in allen Ländern zur gängigen Praxis wurde (siehe Infobox).
QuellentextGesamtstrategie zum Bildungsmonitoring
Nach der Veröffentlichung einer Reihe von überraschend negativen Ergebnissen nationaler und internationaler Schulleistungsvergleichsuntersuchungen haben sich die Kultusminister aller Bundesländer dazu entschieden, die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems dauerhaft und systematisch zu beobachten und zu verbessern. Zu diesem Zweck wurde die Gesamtstrategie zum Bildungsmonitoring verabschiedet. Sie besteht aus einem Bündel von vier Werkzeugen, mit denen das Bildungssystem fortan beobachtet werden soll. Dazu gehört
die Teilnahme an internationalen Schulleistungsuntersuchungen wie PISA, die Durchführung von nationalen, bundesländervergleichenden Schulleistungsuntersuchungen, die überprüfen, ob in ausgewählten Fächern die sogenannten Bildungsstandards erreicht wurden, inwieweit also bei den Schülerinnen und Schülern einer Klassenstufe die für das jeweilige Fach erwarteten Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse vorliegen, die flächendeckende Durchführung von Vergleichsarbeiten, um mit diesen Ergebnissen die Leistungen einzelner Schulen und Klassen miteinander zu vergleichen und die Veröffentlichung zahlreicher Informationen über den Zustand des Bildungssystems in einem alle zwei Jahre erscheinenden Nationalen Bildungsbericht.
Quelle: Interner Link: www.bpb.de/bildung/208524/bessere-schulen-mit-hilfe-von-daten
Geräuschlose Strukturreformen
Demografisch rückläufige Schülerzahlen, Veränderungen des Schulwahlverhaltens und das unerwartet schlechte Abschneiden Deutschlands in der PISA-Studie brachten in den 2000er Jahren die Frage der Schulstruktur zurück auf die politische Agenda. Diesmal mit weitreichenden Folgen: Fast alle Länder haben mittlerweile Strukturreformen auf den Weg gebracht, die über das in der deutschen Schulgeschichte bis dahin politisch Konsensfähige bei weitem hinaus gehen. Die Hauptschule wird nur noch in wenigen Ländern als eigenständige Schulform geführt. Integrierte Schulen wie die Gemeinschaftsschule, Sekundarschule oder Stadtteilschule sind vielerorts fester Bestandteil der Schullandschaft geworden. Einige Bundesländer haben ihr Schulsystem auf ein "Zwei-Säulen-Modell" umgestellt. Hier gibt es neben dem Gymnasium nur noch eine einzige Schulform, an der alle Abschlüsse einschließlich des Abiturs erworben werden können. Nach Jahrzehnten aufgeheizter Konflikte und gescheiterter Reformversuche ist so in vielen Ländern die Ära der Dreigliedrigkeit zu Ende gegangen, ohne dass dies mit größeren schulpolitischen Auseinandersetzungen verbunden gewesen wäre.
Interner Link: Schulgeschichte bis 1945: Von Preußen bis zum Dritten Reich
Der Kontrollrat billigt die folgenden Grundsätze und überweist sie den vier Zonenbefehlshabern und der Alliierten Kommandantur Berlin als Richtlinien:
Es sollten gleiche Bildungsmöglichkeiten für alle gewährleistet sein. In allen Bildungsinstitutionen, die ganz aus öffentlichen Mitteln unterhalten werden und überwiegend Schüler im schulpflichtigen Alter betreuen, sollten Unterricht, Schulbücher und andere notwendige Lehr- und Lernmittel unentgeltlich gewährt werden; außerdem sollten allen, die Unterstützung benötigen, Unterhaltszuschüsse gewährt werden. – In den anderen Bildungseinrichtungen, einschließlich der Universitäten, sollten Unterricht, Lehrbücher und notwendige Materialien zusammen mit Unterhaltsbeihilfen für Unterstützungsbedürftige unentgeltlich gewährt werden. Für alle [Kinder] im Alter von sechs bis mindestens zum fünfzehnten Lebensjahre sollte pflichtmäßiger Vollzeit-Schulbesuch gefordert werden – und für alle Schüler, die nicht Vollzeitschulen besuchen, anschließend wenigstens pflichtmäßiger Teilzeit-Schulbesuch bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Alle Schulen für den Zeitraum der Pflichtschulzeit sollten ein zusammenhängendes Bildungssystem (comprehensive educational system) darstellen. Die Abschnitte der Elementarbildung und der weiterführenden Bildung sollten zwei aufeinanderfolgende Stufen der Unterweisung bilden, nicht zwei Wege oder Abschlüsse der Ausbildung [nebeneinander], die teilweise übereinstimmen. Alle Schulen sollten Nachdruck legen auf die Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung und demokratischen Lebensstil (democratic way of life) vermittelst des Lehrplans, der Lehrbücher und Lehrmittel und der Organisation der Schule selbst. Die Lehrpläne sollten darauf ausgerichtet werden, das Verständnis für andere Völker und die Achtung vor ihnen zu fördern, zu diesem Zweck sollte dem Studium der modernen Fremdsprachen Aufmerksamkeit gewidmet werden, ohne einer den Vorzug geben. Allen Schülern und Studenten sollten Studienhilfen und Berufsberatung gewährt werden (educational and vocational guidance). Für alle Schüler und Studenten sollten Gesundheitsüberwachung und Erziehung zu gesunder Lebensweise vorgesehen, außerdem Unterricht in Hygiene erteilt werden. Die gesamte Lehrerausbildung sollte an einer Universität oder einem Pädagogischen Institut von Universitätsrang erfolgen. Nachdrücklich sollten Bestimmungen getroffen werden, allen Bürgern die wirkungsvolle Teilnahme an der Reform und Organisation des Bildungswesens ebenso wie an seiner Verwaltung zu ermöglichen.
Ausgefertigt in Berlin am 25. Juni 1947. P. Noiret Major General (Frankreich), M. I. Dratvin Lieutenant General (UdSSR), F. A. Keating Major General (U.S.A.), B. H. Robertson Lieutenant General (Großbritannien)
Quelle: Michael, Berthold; Schepp, Heinz-Hermann (Hg.): Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen; Zürich 1993, S. 233f.
"Der Grundsatz der sozialen Gleichberechtigung muß in allen Schulen mit größtem Verantwortungsernst durchgeführt werden. Die Teilnahme an den geistigen Gütern der Menschheit durch Bildung darf nicht das Vorrecht einzelner Stände sein. Deshalb sollen jene Schulen, deren besondere Aufgabe es ist, die von Natur aus hierzu Befähigten zu höheren und höchsten Bildungszielen zu führen, allen wirklich Begabten ohne Unterschied des Standes und Vermögens der Eltern zugänglich gemacht werden. (...) Zwei Tatsachen dürfen freilich in dem berechtigten Ringen um die soziale Gerechtigkeit der Schulverfassung nicht übersehen oder geleugnet werden: einmal die Tatsache, dass die Begabung für höhere Bildungsziele nun einmal nur einem zahlenmäßig begrenzten Personenkreis vorbehalten ist; und sodann die Tatsache, dass diese Begabungen sich zwar auf alle Stände und Klassen der Bevölkerung verteilen, nicht aber so, dass sie prozentual völlig gleichmäßig unter den einzelnen sozialen Schichten verteilt sind. Diese biologische Ungleichheit kann durch keine zivilisatorischen Maßnahmen beseitigt werden, auch nicht durch die Änderung unseres sogenannten zweispurigen Schulsystems zugunsten eines Einheitsschulsystems."
Quelle: Externer Link: http://www.giesecke.uni-goettingen.de/paedil.pdf, S. 60.
"Der Aufstieg Deutschland in den Kreis der großen Kulturnationen wurde im neunzehnten Jahrhundert durch den Ausbau der Universitäten und der Schulen begründet. Bis zum Ersten Weltkrieg beruhten die politische Stellung Deutschlands, seine wirtschaftliche Blüte und die Entfaltung seiner Industrie auf seinem damals modernen Schulsystem und auf den Leistungen einer Wissenschaft, die Weltgeltung erlangt hatte. Wir zehren bis heute von diesem Kapital. Die wirtschaftliche und politische Führungsschicht, die das sogenannte Wirtschaftswunder ermöglicht hat, ist vor dem Ersten Weltkrieg in die Schule gegangen, die Kräfte die heute Wirtschaft und Gesellschaft tragen, verdanken ihre geistige Formung den Schulen und Universitäten der Weimarer Zeit. Jetzt aber ist das Kapital verbraucht: Die Bundesrepublik steht in der vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der europäischen Länder neben Jugoslawien, Irland und Portugal."
"Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand. Der bisherige wirtschaftliche Aufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem etwas leisten kann. Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht. Aber die politische Führung in Westdeutschland verschließt vor dieser Tatsache beharrlich die Augen und lässt es in dumpfer Lethargie oder in blinder Selbstgefälligkeit geschehen, dass Deutschland hinter der internationalen Entwicklung der wissenschaftlichen Zivilisation immer weiter zurückbleibt."
Quelle: Georg Picht (1964). Die Deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Walter-Verlag, Olten und Freiburg in Breisgau: S. 16-17.
- Drucksache 7/2937 -
Wie beurteilt die Bundesregierung die körperliche Züchtigung von Schülern in rechtlicher, insbesondere auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht? Die einzelnen Länder haben in weitgehendem Umfang das Recht von Lehrern zur Züchtigung von Schulkindern durch Gesetze oder Verwaltungsvorschriften eingeschränkt. Die strafrechtliche Rechtsprechung hat demgegenüber bei nichtgesetzlicher Regelung allerdings eine Befugnis von Lehrern zu maßvollen Züchtigungsmaßnahmen zum Zwecke der Erziehung gegenüber schulpflichtigen Kindern als Rechtfertigungsgrund anerkannt; diese Befugnis wird aus in einzelnen Ländern oder Landesteilen geformten Gewohnheitsrecht hergeleitet; sie wird allerdings im Hinblick auf Anlaß, Zweck und Arten der Züchtigungsmaßnahmen erheblich eingegrenzt. Soweit es sich beispielsweise um Übergriffe gegenüber älteren Schülern handelt oder um Handlungen, die in keinem Verhältnis zum Anlaß der Züchtigung stehen, die gesundheitsschädigend oder quälerisch sind oder die das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl verletzen, hat die Rechtsprechung auch die strafrechtliche Zulässigkeit von Züchtigungen verneint. Mit der eingeschränkten Anerkennung des Rechtfertigungsgrundes der Züchtigungsbefugnis durch die Rechtsprechung wird im Ergebnis erreicht, daß das Strafrecht nicht zur Entscheidung bestimmter pädagogischer Konfliktfälle herangezogen werden kann. Die Entwicklung wird damit – jedenfalls zunächst – dem Dienst- und Schulverwaltungsrecht überlassen. Die Bundesregierung begrüßt die in den einzelnen Ländern getroffenen Maßnahmen, die schon eine weitgehende Verbannung von Züchtigungsmaßnahmen an Schulen bewirkt haben. Ob dies zu einer Weiterentwicklung der Rechtsprechung, die in ihren Ansätzen für eine Aufnahme neuer pädagogischer Erkenntnisse offen ist, führen wird, bleibt abzuwarten.
Da die Züchtigung einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit darstellt, muß sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen (Gesetzesvorbehalt gemäß Artikel 2 Abs. 2 GG). Auch wenn man mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht der Berufsfreiheit davon ausgeht, daß vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht dem Gesetzesvorbehalt genügt, bestehen gleichwohl verfassungsrechtliche Zweifel, weil jedenfalls heute im Hinblick auf die Rechtspraxis in den Bundesländern von einer gewohnheitsrechtlichen Rechtsüberzeugung hinsichtlich des Bestehens eines Züchtigungsrechts möglicherweise nicht mehr ausgegangen werden kann (vgl. dazu die Ausführungen zu den Fragen 2 und 3). Daß die Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses nach heutigem Verfassungsverständnis als Grundlage für Grundrechtseingriffe nicht mehr in Betracht gezogen werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner zum Strafvollzug ergangenen Entscheidung (BVerfGE 33, 1) klargestellt.
(...) Das alte Schulsystem traf die Entscheidung über die soziale Zukunft bei den Zehnjährigen. Die Entscheidung verlagerte sich über differenzierten Mittelbau, über Förderstufe und Orientierungsstufe schließlich zum Hauptschul- und zum Realschulabschluß. Wir hatten die Chance ein aufgelockertes System der Förderung und Verteilung zu schaffen. Wir sind dabei, diese Chance zu vertun.
Der Numerus clausus für den Hochschulzugang wirkt nun so nach unten, daß indirekt alle alten Barrieren wieder aufgerichtet werden. Lernen, Auslese und Konkurrenz setzen bereits im Kindergarten ein. Wer beim Numerus clausus abgewiesen wird, gleitet dann notwendigerweise eine soziale Stufe tiefer und verdrängt dort jene, die zuvor auf dieser Ebene Zugangschancen hatten. Der nicht zur Hochschule zugelassene Abiturient bekommt bei einer Verknappung der Lehrstellen eher einen Ausbildungsplatz als der Absolvent einer Hauptschule oder Realschule.
Tatsächlich ist der Numerus clausus nicht nur ein Problem der Hochschule, er ist inzwischen ein Problem aller Ausbildungsstufen geworden. Wir haben nicht genügend Ausbildungsplätze in den Betrieben. Es fehlt an Ausbildungsplätzen in den Betrieben und auf jeder Ebene. Als Lösung ist uns nichts anderes eingefallen als das Schulzeugnis mit seiner Durchschnittsnote (...).
Die Ausrichtung der Schule auf Konkurrenz und die formale Notengebung zerstört die Bildungsmöglichkeiten des Unterrichts. Zensuren sind als Hilfsmittel tragbar. Sie können auch einzelne Hilfen leisten, wenn ihr begrenzter Stellenwert erkannt ist. Wenn man sie jedoch vom Randfaktor zum zentralen Entscheidungsfaktor der Schule macht, zerstören sie auf die Dauer das Bildungssystem. Wir stehen bereits am Anfang dieser Entwicklung.
Quelle: Externer Link: http://www.zeit.de/1976/04/was-hat-die-reform-bewirkt/komplettansicht.
Unterricht in einer 6. Klasse in einer Hagener Gesamtschule. 1982 einigten sich die Bundesländer in der Kultusministerkonferenz (KMK) auf eine gegenseitige Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse. Jedoch mussten künftig alle Gesamtschulen nach einem einheitlichen Konzept organisiert werden. (© picture-alliance/dpa)
Auszug aus einem Beitrag in der CDU-Parteizeitschrift "Union in Deutschland", 1986
"In ideologischer Engstirnigkeit betreibt die SPD eine Politik der Zerschlagung des bewährten gegliederten Schulwesens. An seine Stelle sollen Gesamtschulen und andere integrierte Schulsysteme treten, die in aller Regel formale Abschlüsse nur unter Preisgabe von Qualität vergeben können. Eltern, Lehrer und Gemeinden werden gezwungen, um den Bestand hochqualifizierter Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien zu kämpfen. Höchstrichterliche Urteile mussten erwirkt werden, um das Niveau der Schulbildung nicht allzu kraß absinken zu lassen. Die Schulpolitik in den Ländern Nordrhein-Westfalen, Hessen und Saarland beweist, dass die SPD die ideologischen, gesellschaftsverändernden Ziele der siebziger Jahre offensichtlich wiederbeleben und als Konzept für die neunziger Jahre durchsetzen will: Konzepte, mit denen die SPD schon in der Vergangenheit gescheitert ist." Quelle: Externer Link: http://www.kas.de/wf/doc/kas_26732-544-1-30.pdf?110826092549
Auszug aus einem Beitrag im "Sozialdemokratischen Pressedienst", 1979
Die CDU, die sich andernorts gerne als besonders europäische Partei vorstellt, gerät mit ihren bildungspolitischen Forderungen (...) immer mehr ins provinzielle Abseits: Ist die Gesamtschule in ihren Vorzügen und Erfolgen längst erkannt worden, so stellt sich die CDU/CSU-Opposition immer noch blind und schwingt sich wieder einmal zur Hüterin des veralteten, dreigliedrigen Schulsystems auf. Die dreigliedrige Schule – in vielen Ländern Europas längst abgeschafft – hat die Bildungsbarrieren für bisher benachteiligte Schülerinnen und Schüler zementiert und läuft einer Verstärkung der Chancengleichheit, wie sie nach den Wertvorstellungen des Grundgesetztes und der Verfassung der Bundesländer gefordert ist, zuwider. (...) Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, dass die Ergebnisse der Gesamtschule eine Sprache sprechen, nach der künftig weniger die Gesamtschule als vielmehr das dreigliederige Schulsystem seiner pädagogischen Rechtfertigung bedarf. Quelle: Externer Link: http://library.fes.de/spdpd/1979/790613.pdf
Empfehlungen für die Zusammenführung beider Bildungssysteme (26. September 1990)
Die Gemeinsame Bildungskommission traf sich am 26. September 1990 im Sekretariat der Kultusministerkonferenz zu ihrer dritten und abschließenden Sitzung. Die Delegation der Deutschen Demokratischen Republik wurde vom Minister für Bildung und Wissenschaft, Herrn Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, die Delegation der Bundesrepublik Deutschland von der Präsidentin der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Frau Ministerin Marianne Tidick, und Herrn Staatssekretär Dr. Fritz Schaumann in Vertretung des Bundesminister für Bildung und Wissenschaft geleitet. […]
Im Bereich der allgemeinen Bildung hat die Bildungskommission Empfehlungen zur Neugestaltung des allgemeinbildenden Schulwesens in den neuen Ländern verabschiedet. Sie stellt darin fest, daß beim Zusammenwachsen der Bildungsbereiche das Prinzip der Kulturhoheit der Länder von grundlegender Bedeutung ist. Die Länder tragen ihren föderalen Rechten und Verpflichtungen im Schulbereich auch dadurch Rechnung, daß sie bei ihren bildungspolitischen Entscheidungen die Sicherung der gebotenen Einheitlichkeit und Chancengleichheit als eine ständige Aufgabe sehen. Durch die Entwicklung einer gemeinsamen und vergleichbaren Grundstruktur für das Schulwesen werden wesentliche Voraussetzungen für eine Freizügigkeit im Bildungswesen geschaffen. Basis dafür sind gemäß Artikel 37 des Einigungsvertrages des "Hamburger Abkommens" der Länder zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens und weitere einschlägige Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz. Quelle: Externer Link: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/docpage.cfm?docpage_id=5144&language=german.
Nach der Veröffentlichung einer Reihe von überraschend negativen Ergebnissen nationaler und internationaler Schulleistungsvergleichsuntersuchungen haben sich die Kultusminister aller Bundesländer dazu entschieden, die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems dauerhaft und systematisch zu beobachten und zu verbessern. Zu diesem Zweck wurde die Gesamtstrategie zum Bildungsmonitoring verabschiedet. Sie besteht aus einem Bündel von vier Werkzeugen, mit denen das Bildungssystem fortan beobachtet werden soll. Dazu gehört
die Teilnahme an internationalen Schulleistungsuntersuchungen wie PISA, die Durchführung von nationalen, bundesländervergleichenden Schulleistungsuntersuchungen, die überprüfen, ob in ausgewählten Fächern die sogenannten Bildungsstandards erreicht wurden, inwieweit also bei den Schülerinnen und Schülern einer Klassenstufe die für das jeweilige Fach erwarteten Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse vorliegen, die flächendeckende Durchführung von Vergleichsarbeiten, um mit diesen Ergebnissen die Leistungen einzelner Schulen und Klassen miteinander zu vergleichen und die Veröffentlichung zahlreicher Informationen über den Zustand des Bildungssystems in einem alle zwei Jahre erscheinenden Nationalen Bildungsbericht.
Quelle: Interner Link: www.bpb.de/bildung/208524/bessere-schulen-mit-hilfe-von-daten
Quellen / Literatur
Dahrendorf, Ralf (1965). Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Nannen-Verlag.
Fuchs, Hans Werner & Reuter, Lutz R. (2000). Bildungspolitik in Deutschland: Entwicklungen - Probleme - Reformbedarf. Opladen: Leske+Budrich.
Herrlitz, Hans-Georg; Hopf, Wulf; Titze, Hartmut und Cloer, Ernst (2005): Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung (5., überarbeitete Auflage). München; Weinheim: Juventa.
Picht, Georg (1964). Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten und Freiburg: Walter.
Rösner, Ernst (1981): Schulpolitik durch Volksbegehehren. Analyse eines gescheiterten Reformversuchs. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Wissenschaftszentrum Bonn (1979): Mut zur Erziehung. Beiträge zu einem Bonner Forum am 9./ 10. Januar 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn - Bad Godesberg. Stuttgart: Klett-Cotta.
Zum Weiterlesen
Detjen, Joachim (2013): Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland (2. Auflage). München: Oldenbourg Verlag.
Friedeburg, Ludwig von (1989): Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Führ, Christoph und Furck, Carl-Ludwig (Hg.) (1998): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte; Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband Bundesrepublik Deutschland. München: Beck.
Herrlitz, Hans-Georg; Hopf, Wulf; Titze, Hartmut und Cloer, Ernst (2005): Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung (5., überarbeitete Auflage). München; Weinheim: Juventa.
Michael, Berthold und Schepp, Heinz-Herrmann (Hg.) (1993): Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen; Zürich: Muster-Schmidt Verlag.
Tenorth, Heinz-Elmar (1988): Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim; München: Juventa Verlag.
Dahrendorf, Ralf (1965). Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Nannen-Verlag.
Fuchs, Hans Werner & Reuter, Lutz R. (2000). Bildungspolitik in Deutschland: Entwicklungen - Probleme - Reformbedarf. Opladen: Leske+Budrich.
Herrlitz, Hans-Georg; Hopf, Wulf; Titze, Hartmut und Cloer, Ernst (2005): Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung (5., überarbeitete Auflage). München; Weinheim: Juventa.
Picht, Georg (1964). Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten und Freiburg: Walter.
Rösner, Ernst (1981): Schulpolitik durch Volksbegehehren. Analyse eines gescheiterten Reformversuchs. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Wissenschaftszentrum Bonn (1979): Mut zur Erziehung. Beiträge zu einem Bonner Forum am 9./ 10. Januar 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn - Bad Godesberg. Stuttgart: Klett-Cotta.
Zum Weiterlesen
Detjen, Joachim (2013): Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland (2. Auflage). München: Oldenbourg Verlag.
Friedeburg, Ludwig von (1989): Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Führ, Christoph und Furck, Carl-Ludwig (Hg.) (1998): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte; Band VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband Bundesrepublik Deutschland. München: Beck.
Herrlitz, Hans-Georg; Hopf, Wulf; Titze, Hartmut und Cloer, Ernst (2005): Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung (5., überarbeitete Auflage). München; Weinheim: Juventa.
Michael, Berthold und Schepp, Heinz-Herrmann (Hg.) (1993): Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen; Zürich: Muster-Schmidt Verlag.
Tenorth, Heinz-Elmar (1988): Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim; München: Juventa Verlag.
Der Bereich der Forschungsförderung kam erst 1975 hinzu.
Zur Kultusministerkonferenz (KMK), vgl. Michael Wrase: Interner Link: Bildungsrecht – wie die Verfassung unser Schulwesen (mit-) gestaltet.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-07-21T00:00:00 | 2016-06-20T00:00:00 | 2023-07-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/229702/schulgeschichte-nach-1945-von-der-nachkriegszeit-bis-zur-gegenwart/ | Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das dreigliedrige Schulsystem der Weimarer Zeit restauriert. Doch in der bildungspolitischen Aufbruchstimmung der 1960er Jahre kehrt die Strukturfrage auf die politische Agenda zurück. Die integrierte Gesamtschule aber | [
"Bildung",
"Zukunft Bildung",
"Dossier Bildung",
"Schule",
"Erziehung",
"Universität",
"Studium",
"Ausbildung",
"Hochschule",
"Schulgeschichte",
"Bildungsreform",
"Gesamtschule",
"Gegliedertes Schulsystem",
"Kultusministerkonferenz",
"Einheitsschule",
"Pisa-Studie",
"Bildungsmonitoring",
"Deutschland"
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Marginalisierung der Sportgeschichte? | Deutschland Archiv | bpb.de | In den kommenden Wochen werden wir auf vielen Wegen und in zahlreichen Medien mit allen unverzichtbaren und lässlichen Details zu den Olympischen Sommerspielen in London versorgt werden. Gewiss werden wir dabei auch – wenn vielleicht auch nur auf Arte – erfahren, dass bereits 1908 und 1948 Olympische Sommerspiele in der englischen Hauptstadt ausgetragen wurden.
Zieleinlauf des ersten Marathon-Olympiasiegers John Haynes bei den Olympischen Sommerspielen in London, 1908. (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library)
In diesem Zusammenhang wird uns vermutlich erklärt werden, warum 1908 die Spiele insgesamt 193 Tage dauerten und die Marathondistanz seitdem exakt 42,195 km beträgt. Auch die Tatsache, dass 1948 bei den ersten Sommerspielen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwar keine deutschen Sportlerinnen und Sportler zugelassen, sehr wohl aber deutsche Sportfunktionäre anwesend waren, dürfte uns näher gebracht werden – eventuell sogar von Menschen, die per Insert als Sporthistorikerin oder Sporthistoriker ausgewiesen werden. Es gibt sie also doch noch, diese rare und flüchtige Spezies von Experten, die sich professionell oder zumindest semi-professionell mit der Entwicklung des Sports und seinen kulturellen, politischen und sozialen Voraussetzungen wie Implikationen im historischen Kontext befasst.
Allein, dass dies an dieser Stelle derart betont werden muss, weist auf Entwicklungen hin, welche noch vor 20 Jahren kaum denkbar schienen: Noch zu Beginn der 1990er-Jahre beklagte zwar die Zunft der Sporthistorikerinnen und -historiker beinahe rituell die defizitäre Wahrnehmung sowie Anerkennung durch die Allgemeingeschichte und litt unter mangelnder öffentlicher Aufmerksamkeit, sie war jedoch universitär vergleichsweise gut etabliert. Heute werden sporthistorische Fragen und Themen dagegen publizistisch und museal in einem weitaus stärkeren Maße aufgegriffen, doch aus den universitären Stellenplänen und Curricula ist die Sportgeschichte mittlerweile beinahe gänzlich eliminiert worden. Und so bewegt sich das Fach momentan im Paradoxon von Entakademisierung und wachsendem öffentlichen Interesse.
Die Entakademisierung der Sportgeschichte
Die Geschichte von Körperkultur und Sport zählte traditionell zu den zentralen Inhalten der Turn- und dann später auch der Sportlehrerausbildung, die zunächst noch im außeruniversitären Raum stattfand. Nach 1945 etablierte sich zuerst an den ostdeutschen Hochschulen, ab den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren dann auch an den Instituten für Sportwissenschaft der westdeutschen Universitäten die Sportgeschichte als eigenständige Disziplin innerhalb der Sportwissenschaften, wenn auch stets mit einer geringeren Wertschätzung als die eher anwendungsorientierten naturwissenschaftlichen Disziplinen Trainings- und Bewegungswissenschaft sowie Sportmedizin und als die Sportpädagogik, der verständlicherweise in der Sportlehrerausbildung ein zentraler Raum gebührt. Dennoch lassen sich die 1970er- und 80er-Jahre als die "goldenen" Jahre der akademischen Disziplin Sportgeschichte zumindest in der Bundesrepublik bezeichnen, in der sie an zahlreichen Universitätsstandorten vertreten und in den Lehrplänen gut verankert war, die Lehrstuhlinhaberinnen und -inhaber bemerkenswerte Forschungsleistungen und Publikationen präsentierten und in den internationalen Fachgremien an führender Stelle tätig waren. Die Disziplin Sportgeschichte profitierte in Westdeutschland dabei auch von der Pluralisierung der Studienabschlüsse mit Diplom, Staatsexamen und vor allem Magister, die nun auch Kombinationen wie Geschichts- und Sportwissenschaft möglich machte und somit vermehrt Impulse von der Allgemeingeschichte bekam und aufnahm.
In diese Zeit fallen auch die Gründung einer eigenen wissenschaftlichen Vertretung, der Sektion Sportgeschichte innerhalb der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs, 1981), die seitdem jährlich Tagungen veranstaltet, und die erstmalige Herausgabe von Fachzeitschriften: "Stadion" (seit 1975) und der "Sozial- und Zeitgeschichte des Sports" (seit 1987), heute "SportZeiten".
Etwaige Hoffnungen, mit der Wiedervereinigung Deutschlands würde die Sportgeschichte als akademische Disziplin ihren Stellenwert sogar noch ausbauen können, weil sie für die wissenschaftshistorische und allgemeine "Aufarbeitung" des Sports in den beiden Teilen Deutschlands benötigt werden würde, wurden schnell enttäuscht. Zwar war Sportgeschichte an allen Instituten für Körpererziehung der Universitäten der DDR und natürlich auch an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig breit gelehrt worden, besaßen einzelne ihrer ostdeutschen Vertreter auch in der Bundesrepublik und international einen guten Ruf, doch war sie vielfach als
"Die 1500 Mitglieder des Übungsverbandes der ASV [Armeesportverein] 'Vorwärts' gestalteten das Abschlußbild ihrer Vorführungen zur Sportschau im Leipziger Zentralstadion unter der Losung 'Stärkt unsere DDR'." (Originaltext ADN), 30. Juli 1977. (© Bundesarchiv, Bild 183-S0730-104; Foto: Peter Koard)
"Legitimationswissenschaft" missbraucht worden und galt aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung auf den Marxismus-Leninismus nun als derart belastet, dass auch aus diesen Gründen entsprechende Lehrstühle "abgewickelt" bzw. nicht wieder mit Sporthistorikern besetzt wurden.
Auch in Westdeutschland wurden seit den 1990er-Jahren Professuren und andere akademische Stellen für Sportgeschichte umgewidmet und zumeist der Sportpädagogik zugeschlagen, sodass es heute in der gesamten bundesdeutschen Universitätslandschaft im Zeichen von verkürzten Studienzeiten, Credit-Points, Bachelor und Master keinen Platz mehr für eine sporthistorische Lehre zu geben scheint und nur noch eine Professur explizit für Sportgeschichte (an der Deutschen Sporthochschule in Köln) denominiert ist. Die akademische Lehre und Forschung in der Sportgeschichte werden daher nun in erster Linie quasi nebenbei von Professorinnen und Professoren sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragen, die schon qua Stellenbeschreibung primär anderen Disziplinen wie der Sportpädagogik verpflichtet sind. Dass dies bei allem Engagement und auch persönlichen Interessen nicht ohne Auswirkungen auf den Umfang und auf die Qualität von Lehre und Forschung in der Sportgeschichte bleiben kann, dass sich auf diese Weise keine kontinuierlich betreuten Forschungsschwerpunkte und vor allem auch kein akademischer Nachwuchs, geschweige denn etwaige "Schulen" in diesem Bereich bilden können, dürfte selbst Bildungs- und Wissenschaftspolitikern einsichtig sein. Innerhalb der Sportwissenschaften ist die Sportgeschichte zunehmend marginalisiert. Ihr langsames Absterben als wissenschaftliche Disziplin wird billigend in Kauf genommen, ohne dass sich dagegen angesichts der Verteilungskämpfe innerhalb der anderen sportwissenschaftlichen Disziplinen ernsthaft Widerstand regen würde.
Sportgeschichte als Thema der Geschichtswissenschaften
Nun ließe sich berechtigt hoffen und erwarten, dass der Sport als Thema und Untersuchungsfeld mit seinen politik-, sozial-, ideen-, kultur-, körper-, geschlechts-, medien- und mentalitätsgeschichtlichen Bezügen längst auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft angekommen wäre und aufgegriffen würde und somit die Entakademisierung der Sportgeschichte innerhalb der Sportwissenschaften ein wenig kompensiert werden könnte. Und natürlich widmen sich einzelne Historikerinnen und Historiker sowie Forschungsprojekte immer mal wieder auch dem Sport, doch von einer breiten Aufnahme und von einem kontinuierlichen Forschungsinteresse kann bislang leider nicht die Rede sein. So offenbart eine Analyse von zeithistorischen Überblicksdarstellungen und einschlägigen Fachzeitschriften eine weitgehende Ignoranz von sporthistorischen Fragestellungen, Themen und Erkenntnissen innerhalb der Geschichtswissenschaften.
In Hans-Ulrich Wehlers fünftem Band der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" beispielsweise, der sich den Jahren 1949–1990 widmet und den "vier Achsen" "Wirtschaft", "Soziale Ungleichheit", "politische Herrschaft" und "Kultur" folgen will, fehlt der Sport völlig, auch wenn einem gerade angesichts der vorgegebenen Strukturierung zahlreiche
Einmarsch der DDR-Mannschaft bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in München, 26. August 1972. (© picture-alliance, dpa-Sportreport)
Bezugspunkte zum Sport in der BRD und der DDR nach 1949 einfallen.
Beinahe noch frappierender ist die Erkenntnis, dass auch in den Darstellungen zur DDR-Geschichte der Sport kaum thematisiert wird, was seinem hohen Stellenwert in Gesellschaft, Kultur und Politik der DDR sicherlich keineswegs entspricht.
Auch die Auswertung von allgemein- und zeithistorischen Zeitschriften bringt hinsichtlich der Berücksichtigung von sporthistorischen Themen aus Sicht der Sportgeschichte wenig Hoffnungsvolles zutage: So sind zum Beispiel in "Geschichte und Gesellschaft" zuletzt drei Schwerpunkt-Hefte mit den Überschriften "Körpergeschichte" (4/2000), "Geschichte der Gefühle" (2/2009) und "Gefühle, Emotionen und visuelle Bilder" (1/2011) erschienen, in denen man spontan auch sporthistorische Aufsätze vermuten würde, doch – Fehlanzeige!
Ein Blick in die Jahresinhaltsverzeichnisse anderer anerkannter geschichtswissenschaftlicher Zeitschriften bestätigt das weitgehende Desinteresse an der Sportgeschichte. Selbst Rezensionen von sporthistorischen Büchern sind hier kaum zu identifizieren. Einzig die "Zeitschrift für Geschichtswissenschaften" widmete sich 2011 in einem eigenen Heft der Debatte um den umstrittenen Sportfunktionär Carl Diem, seiner Rezeption und dem Thema Antisemitismus in der deutschen Turn- und Sportgeschichte.
Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass neben dem "Deutschland Archiv", das sich immer wieder für sporthistorische Themen offen zeigt, lediglich in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift "Damals. Das Magazin für Geschichte und Kultur" eine nennenswerte Anzahl von sporthistorischen Beiträgen festzustellen war. Vor allem die Zeitgeschichte des Sports ist offenbar für die meisten Historikerinnen und Historikern immer noch ein Thema, welches man lieber den Journalisten überlässt, als hierzu selbst seriös zu forschen und zu publizieren.
Von einer "Hinwendung der allgemeinen Geschichte zum Sport" zu sprechen, wie dies der der Sportgeschichte zugetane Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta tut, erscheint in diesem Lichte beinahe auf jeden Fall als beschönigend. Vielmehr herrscht zwischen den Zünften der Geschichtswissenschaftler und der Sporthistoriker – und dieser Befund ist keineswegs neu – immer noch eine weitgehende Kommunikationslosigkeit. Die Historikerinnen und Historiker, die sich der allgemeinen Geschichtswissenschaft zugehörig fühlen, beanstanden die methodische Rückständigkeit und Theorieferne, Innovationsunlust und nationale Begrenzung der bundesdeutschen Sportgeschichtsschreibung. Deren Vertreterinnen und Vertreter wiederum beklagen die mangelnde Anerkennung und Rezeption ihrer Leistungen und Publikationen durch die Geschichtswissenschaften. So "verirrt" sich selten eine Allgemein-Historikerin bzw. ein Allgemein-Historiker auf eine Jahrestagung der dvs-Sektion Sportgeschichte, wenn sie bzw. er nicht gerade als Keynote-Speaker(in) dazu "verhaftet" worden ist. Und Sektionen zu sportgeschichtlich relevanten Themen sind auf den Deutschen Historikertagen eher die Ausnahme als die Regel und werden dann auch wiederum von Vertreterinnen und Vertretern der allgemeinen Geschichtswissenschaft dominiert.
Dabei wähnten sich die deutschen Sporthistorikerinnen und -historiker schon einmal deutlich weiter. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatten sie mit zahlreichen und umfangreichen Veröffentlichungen zur Arbeitersportgeschichte als Teil der Arbeiterkulturbewegung und zur Aufarbeitung der Geschichte des Sports und seiner "Führer" in der Zeit des Nationalsozialismus ihre Anschlussfähigkeit und die ihrer Themen an die Geschichtswissenschaft unter Beweis gestellt. Und als 1999 die Historikerin Christiane Eisenberg ihre vergleichende Habilitation zur Aufnahme und
36. Berlin-Marathon 2009: Läufer passieren das Brandenburger Tor. (© picture-alliance/AP)
Verbreitung des modernen Sports in der englischen und deutschen Gesellschaft veröffentlichte, wurde dies – trotz einiger Kritik im Detail – von der deutschen Sporthistorikerzunft fast schon als "Missing Link" zwischen der allgemeinen und der Sportgeschichtswissenschaft und als Aufnahme in den Schoß der bisherigen Stiefmutter "Geschichtswissenschaft" gefeiert.
Doch haben sich diese Hoffnungen – wie oben schon gezeigt wurde – kaum erfüllt. Mittlerweile arbeiten die Geschichtswissenschaften und die Sportgeschichtswissenschaft mit wenigen Ausnahmen wieder mehr oder weniger nebeneinander her, wobei die Sporthistorikerinnen und Sporthistoriker angesichts der dünnen Stellenausstattung zwangsläufig den schwächeren Part einnehmen müssen. Zwar hat sich auch die deutsche Sporthistoriker-Zunft längst für kulturwissenschaftliche Ansätze geöffnet, doch wird dies in der allgemeinen Geschichtswissenschaft noch nicht so recht honoriert.
Anstöße aus Politik und Gesellschaft
Wichtige Anstöße und dann auch Aufträge sowie Drittmittelfinanzierungen für sporthistorische Projekte, ohne die die sportgeschichtliche Landschaft deutlich ärmer dastehen würde, sind in den letzten 20 Jahren aus Politik und Gesellschaft erwachsen.
Dies begann mit der umfangreichen Untersuchung des Sports und der Sportpolitik in der DDR, die auf eine Empfehlung der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur" und auf Anregungen des Sportausschusses des Deutschen Bundestages zurückging. Die daraus resultierenden Forschungsprojekte wurden vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft, welches dem Bundesinnenministerium unterstellt ist, finanziell gefördert. Mittlerweile sind aus diesen Projekten zahlreiche Aufsätze und Monografien zur Genese und Formierung des DDR-Sports, zu einzelnen Sportarten und Tätigkeitsfeldern, zum Doping, zur Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit, zum Leistungssportsystem, zum Frauensport, ein Quellenband sowie ein Archivfindbuch entstanden. Zahl, Umfang und Inhalt dieser Publikationen nehmen sich imposant aus, haben eine wichtige Forschungsbasis geschaffen und in der Folge auch zahlreiche Qualifizierungsarbeiten nach sich gezogen. Dennoch bleiben in der Erforschung der DDR-Sportgeschichte noch zahlreiche Desiderate, die nach Auslaufen der genannten Drittmittelprojekte und angesichts der oben skizzierten Gesamtsituation der akademischen Disziplin Sportgeschichte auf absehbare Zeit sicherlich nicht beseitigt werden können. Hier offenbaren sich die grundsätzlichen Defizite, die aus der mangelnden universitären Ausstattung der Sporthistoriografie und der nur geringen Rezeption ihrer Ergebnisse resultieren.
Waren bereits die diversen Projekte zur Geschichte des DDR-Sports, die an verschiedenen Hochschulstandorten (unter anderem in Göttingen, Potsdam und Hannover) durchgeführt wurden, in ihrer Ausschreibung, ihren Grundannahmen, Konzeptionen, Durchführungen (Mitarbeiterauswahl, Stellenwert der Zeitzeugen) und Ergebnissen nicht unumstritten, so offenbarte ein weiteres sporthistorisches "Aufarbeitungsprojekt" die grundsätzlichen Wahrnehmungsprobleme einer nicht genuin universitär initiierten Forschung: 2001 beauftragte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) den Bonner Historiker Nils Havemann, die Rolle und Verstrickung des weltweit größten Sportfachverbandes im "Dritten Reich" zu untersuchen. Havemann legte seine Ergebnisse in der 2005 veröffentlichten Monografie "Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz" vor. Seine Schlussfolgerung, Anpassung und "Selbst"-Gleichschaltung des DFB seien keineswegs Ausdruck einer besonderen ideologischen Nähe zum Nationalsozialismus, sondern ökonomisch bzw. aus einem Selbsterhaltungstrieb begründet gewesen, löste einen Fußballhistorikerstreit aus, in dem Kritiker Havemann mehr oder weniger offen vorwarfen, "Auftragsforschung" im Sinne einer Reinwaschung für den DFB betrieben zu haben. Immerhin gelang es auf diese Weise – so möchte man achselzuckend angesichts des zum Teil unsachlich geführten Streits anmerken –, eine breite, nicht nur wissenschaftliche Öffentlichkeit für ein sporthistorisches Thema zu interessieren.
Ebenfalls nahezu einen Sporthistorikerstreit verursachte ein weiteres sportgeschichtliches Projekt, welches von der Deutschen Sporthochschule Köln und dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) in Auftrag gegeben und von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung mitfinanziert wurde: die Erstellung einer methodisch fundierten und quellengestützten Biografie zu "Leben und Werk" des
Carl Diem (r.) zusammen mit dem Staatssekretär Theodor Lewald als Führer der deutschen Olympiamannschaft in St. Moritz, Februar 1928. (© Bundesarchiv, Bild 102-05459; Foto: Georg Pahl)
Sportfunktionärs Carl Diem, der vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik maßgeblich den deutschen Sport geprägt hatte, dessen Rolle aber vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus umstritten war und ist. An letzterem haben auch die mittlerweile vorgelegten vier Teilbiografien als Ergebnisse des Projektes aus der Feder des Münsteraner Historikers Frank Becker wenig geändert. Als besonders problematisch erwies sich hier die Verschränkung von geschichtswissenschaftlichen Intentionen mit geschichtspolitischen Erwartungen, die letztlich nicht miteinander zu versöhnen sind.
Im Überblick erstaunt, wie viel Konfliktpotenzial offenbar in zeithistorischen Projekten des Sports verborgen liegt. Dies verweist meines Erachtens auf zweierlei: zum einen auf die vermeintliche Alltagsnähe und Emotionalität des Sports, zum anderen auf die Tatsache, dass implizit wohl immer noch vielfach angenommen wird, sporthistorische Phänomene ließen sich alltagstheoretisch und ohne die Anwendung geschichtswissenschaftlicher Standards erklären.
Dass auch die beiden momentan laufenden Teilprojekte der Universität Münster und der Humboldt-Universität zu Berlin zum "Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation", wie der sperrige Ausschreibungstitel vollständig heißt, sogar schon vor ihrem Start heftig diskutiert wurden, kann hingegen kaum überraschen. Schließlich soll hier nach der Doping-Geschichte Ost vorrangig nun die Dopingvergangenheit und -gegenwart West- und Gesamtdeutschlands aufgearbeitet werden, womit in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft vielerlei, zum Teil sich gegenseitig widersprechende oder sogar ausschließende Erwartungen verbunden sind. Da das Gesamtprojekt wiederum vom DOSB initiiert und vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft finanziert ist, deren Geschichte in Bezug auf Doping im Zuge des Projektes natürlich auch thematisiert werden muss, werden auch hier Interessenskonflikte vermutet. Bereits die Vorstellung der Zwischenergebnisse sorgte für ein erhebliches Medienecho. Die Endberichte werden für Ende 2012 erwartet.
Weitere größere sporthistorische Projekte, die weitgehend über Drittmittel finanziert werden, sind am Historischen Institut der Universität Stuttgart ("Die Kulturgeschichte der Fußball-Bundesliga" mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung) und am Institut für Sportwissenschaft der Universität Hannover ("Geschichte des jüdischen Sports im nationalsozialistischen Deutschland bis 1938 – unter besonderer Berücksichtigung des heutigen Niedersachsen", gefördert vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und der VolkswagenStiftung) angesiedelt.
Darüber hinaus hat der DFB bereits angekündigt, nun auch die Geschichte des Fußballsports in der DDR wissenschaftlich untersuchen lassen zu wollen.
Mit diesem kurzen Überblick über größere abgeschlossene, laufende oder geplante Projekte mit zeitgeschichtlichen Fragestellungen des Sports sollte gezeigt werden, dass angesichts des zunehmenden Rückbaus der Sportgeschichte als akademische Disziplin derartige Vorhaben mittlerweile fast ausschließlich auf Anstöße und Finanzierung aus dem politischen und verbandlichen Raum angewiesen sind, was wiederum zwangsläufig den Vorwurf der Auftragsforschung impliziert, sofern nicht politisch neutrale Stiftungen in die Bresche springen. Eine weitere Folge ist, dass die Forschungen in diesen Bereichen mit Abgabe der jeweiligen Endberichte – mit Ausnahme weniger nachfolgenden Qualifizierungsarbeiten – quasi zum Erliegen kommen, da keine Lehrstühle vorhanden sind, die sie sinnvoll mit Eigenmitteln weiterführen könnten.
Sporthistorisches Arbeiten im außerakademischen Raum
Oben wurde bereits gesagt, dass das öffentliche Interesse an und das Verständnis für Sportgeschichte in den letzten Jahrzehnten erheblich gewachsen sind. Dies äußert sich unter anderem in populären Sachbüchern vornehmlich zur Fußballgeschichte, in Spiel-, Fernseh- und Dokumentarfilmen, aber auch in großen Ausstellungen wie
"Wir gegen uns: Sport im geteilten Deutschland". Cover des Begleitbuches zur gleichnamigen Ausstellung (© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
"Wir gegen uns. Sport im geteilten Deutschland" im Haus der Geschichte Bonn bzw. Leipzig oder "Auf die Plätze. Sport und Gesellschaft" im Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Die Kuratorinnen und Kuratoren der letztgenannten Ausstellung verzichten jedoch bei Konzeptionierung und Realsierung auf die Expertise von Sporthistorikerinnen und Sporthistorikern, während diese bei der vorgenannten Ausstellung vom Haus der Geschichte ausführlich zu Wort kamen.
Eigene Sportmuseen mit Dauer- und Sonderausstellungen und breitem Sammlungsschwerpunkt existieren mittlerweile in Köln (Deutsches Sport- und Olympiamuseum), Leipzig (Sportmuseum Leipzig) und Berlin (Sportmuseum Berlin). Darüber hinaus sind zahlreiche kleinere Museen entstanden, die sich einzelnen Sportarten, einem spezifischen Raum oder einem bestimmten Verein (zumeist im Fußball) widmen. Daneben ist in den letzten Jahren eine "Hall of Fame des deutschen Sports" aufgebaut worden, die allerdings bislang vornehmlich virtuell unter Externer Link: www.hall-of-fame-sport.de zu besichtigen ist.
Und schließlich haben sich vielerorts professionelle, halb-professionelle und autodidaktische Sporthistorikerinnen und Sporthistoriker zusammengefunden, die in überwiegend ehrenamtlicher Arbeit zumeist in eingetragenen Vereinen wert- und verdienstvolle Leistungen für die Sportgeschichtsschreibung erbringen. Dazu zählen das Niedersächsische Institut für Sportgeschichte (1981 gegründet) und das Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg (gegründet 1993). Beide haben sich der Sammlung, Bewahrung und Dokumentation von sporthistorisch relevanten Materialien verpflichtet. Darüber hinaus unterstützen, schulen und beraten sich Vereinsarchivare und -chronisten bei ihrer Arbeit und der Erstellung von Festschriften und tragen auf diese Weise ein Geschichtsbewusstsein in die Turn- und Sportvereine.
In Berlin ist 2004 das Zentrum für deutsche Sportgeschichte Berlin-Brandenburg e. V. gegründet worden, das vor allem mit zahlreichen Ausstellungen auf sich aufmerksam gemacht hat und für seine Arbeit 2010 mit dem Einheitspreis der Bundeszentrale für politische Bildung ausgezeichnet wurde. Daneben veranstaltet das Zentrum Führungen und Exkursionen im öffentlichen Raum und bemüht sich darum, Sportgeschichte stärker im Geschichtsunterricht an den Schulen zu verankern.
Die außeruniversitären sporthistorischen Einrichtungen und Vereine haben sich mittlerweile in der "Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Sportmuseen, Sportarchive und Sportsammlungen" organisiert, die ebenfalls jährliche Tagungen zu unterschiedlichen Aspekten der Sportgeschichte ausrichtet.
Perspektiven der Sportgeschichtsschreibung
Die Sportgeschichte lebt also noch, und zwar in verschiedenen Bezügen vor allem des außeruniversitären Raums. Eine lebendige Wissenschaft bzw. wissenschaftliche Disziplin benötigt jedoch immer Beides: auf der einen Seite die akademische Verankerung mit ihren Freiheiten und gesicherten Forschungsförderungen, die ein kontinuierliches Arbeiten an einem Thema unter einheitlichen Standards ermöglicht. Dem sollte auf der anderen Seite die gesellschaftliche Rezeption und Öffentlichkeit antworten, die für eine Rückkopplung sorgt und die wissenschaftliche Forschung bereichert, indem sie Bausteine beisteuert und neue Fragen aufwirft. Momentan haben sich für die Sportgeschichte die Gewichte zwangsläufig in Richtung Öffentlichkeit verschoben, da sie als Disziplin der Sportwissenschaften zunehmend aus der akademischen Lehre und Forschung verdrängt wird, ohne dass der Sport als gleichberechtigtes Thema letztlich eine dauerhafte Aufnahme und Berücksichtigung in den Geschichtswissenschaften gefunden hätte.
Ob die rein kulturwissenschaftliche Herangehensweise, wie sie jetzt zum Beispiel dem DFG-Projekt "Sport-Körper-Subjekt" zugrundeliegt, in dem Sportgeschichte vornehmlich als Körpergeschichte verstanden wird und anhand von körperlichen Praktiken und performativen Leistungen Kategorien und Zuschreibungen von "Rasse", "Klasse" und "Geschlecht" erschlossen werden sollen, dazu beitragen wird, der Sportgeschichte wieder zu einem besseren Anschluss innerhalb der Geschichtswissenschaften zu verhelfen, erscheint zumindest zweifelhaft. Zugleich besteht die Gefahr, dass sich in einer derart verstandenen Sportgeschichte der Sport im engeren Sinne gleichsam auflöst und als Thema der historisch orientierten Wissenschaften letztlich verloren geht.
Zieleinlauf des ersten Marathon-Olympiasiegers John Haynes bei den Olympischen Sommerspielen in London, 1908. (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library)
"Die 1500 Mitglieder des Übungsverbandes der ASV [Armeesportverein] 'Vorwärts' gestalteten das Abschlußbild ihrer Vorführungen zur Sportschau im Leipziger Zentralstadion unter der Losung 'Stärkt unsere DDR'." (Originaltext ADN), 30. Juli 1977. (© Bundesarchiv, Bild 183-S0730-104; Foto: Peter Koard)
Einmarsch der DDR-Mannschaft bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in München, 26. August 1972. (© picture-alliance, dpa-Sportreport)
36. Berlin-Marathon 2009: Läufer passieren das Brandenburger Tor. (© picture-alliance/AP)
Carl Diem (r.) zusammen mit dem Staatssekretär Theodor Lewald als Führer der deutschen Olympiamannschaft in St. Moritz, Februar 1928. (© Bundesarchiv, Bild 102-05459; Foto: Georg Pahl)
"Wir gegen uns: Sport im geteilten Deutschland". Cover des Begleitbuches zur gleichnamigen Ausstellung (© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
Hierzu und zum Folgenden ausführlich Michael Krüger, Sportwissenschaft und Schulsport: Trends und Orientierungen (1). Sportgeschichte, in: Sportunterricht, 8/2006, S. 227–234, sowie ders./Hans Langenfeld, Sportgeschichte im Rahmen der deutschen Sportwissenschaft, in: dies. (Hg.), Handbuch Sportgeschichte, Schorndorf 2010, S. 12–19.
Vgl. hierzu neben Krüger (Anm. 1) den Überblick von Hans Langenfeld, Sportgeschichtsschreibung nach 1945, in: Michael Krüger/ders. (Anm. 1), S. 29–37.
Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, Bd. 5, München 2008.
Hierzu auch Hans Joachim Teichler, Sport und Sportpolitik in der DDR, in: Krüger/Langenfeld (Anm. 1), S. 228.
ZfG 59 (2011) 3. Die dort versammelten Beiträge geben allerdings nur einen Ausschnitt aus der bereits seit Jahrzehnten schwelenden Diem-Debatte wieder.
Eine gewisse Ausnahme bildet die Fußballgeschichte, doch ist auch hier das Interesse eher kurzatmig an Jubiläen ausgerichtet.
Wolfram Pyta, Sportgeschichte aus der Sicht des Allgemeinhistorikers. Methodische Zugriffe und Erkenntnispotentiale, in: Andrea Bruns/Wolfgang Buss (Hg.), Sportgeschichte erforschen und vermitteln, Hamburg 2009, S. 9.
Zu diesem und den vorgenannten Kritikpunkten vgl. Olaf Stieglitz u. a., Sportreportage: Sportgeschichte als Kultur- und Sozialgeschichte, Externer Link: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-05-001 [17.4.2012].
Diesen Mangel betont z. B. Uta Andrea Balbier, "Spiel ohne Grenzen". Zu Stand und Perspektiven der deutschen Sportgeschichtsforschung, in: AfS 45 (2005), S. 585–598.
So Michael Krüger, Zehn Thesen zur Entwicklung der deutschen Sportgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) 1, S. 88f. Diesen Eindruck bestätigt auch Christiane Eisenberg vom Großbritannien-Zentrum der HU Berlin als eine der wenigen Allgemein-Historikerinnen, die sich über einen längeren Zeitraum kontinuierlich mit Sportgeschichte beschäftigt hat: dies., Die Entdeckung des Sports durch die moderne Geschichtswissenschaft, in: Historical Social Research 27 (2002) 2/3, S. 4–21.
Vgl. auch folgende Literaturüberblicke, die den Umfang und die jeweiligen Schwerpunkte verdeutlichen: Eike Stiller, Literatur zur Geschichte des Arbeitersports in Deutschland von 1892 bis 2005, Berlin 2006; Lorenz Peiffer, Sport im Nationalsozialismus. Zum aktuellen Stand der sporthistorischen Forschung, Göttingen 2004.
Christiane Eisenberg, "English sports" und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn 1999. Eine Entgegnung aus der Sicht eines Sporthistorikers: Hans Joachim Teichler, in: Sportwissenschaft 31 (2001) 3, S, 334–342.
Vgl. den Überblick bei Michael Thomas, Sportgeschichte und Kulturwissenschaft. Probleme, Konzepte und Perspektiven, in: Bruns/Buss (Anm. 7), S. 35–50.
Wolfgang Buss/Christian Becker (Hg.), Der Sport in der SBZ und in der frühen DDR. Genese – Strukturen – Bedingungen, Schorndorf 2001.
Wolfgang Buss/Christian Becker (Hg.), Aktionsfelder des DDR-Sports in der Frühzeit 1945–1965, Köln 2001.
Giselher Spitzer, Doping in der DDR. Ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis, 2. Aufl., Köln 2000.
Giselher Spitzer, Sicherungsvorgang Sport. Das Ministerium für Staatssicherheit und der DDR-Spitzensport, Schorndorf 2005.
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Hans Joachim Teichler u. a. (Hg.), Archive und Quellen zum Sport in der SBZ/DDR, Köln 2003.
Zuletzt René Wiese, Kaderschmieden des "Sportwunderlandes". Die Kinder- und Jugendsportschulen der DDR, Hildesheim 2012.
Vgl. den Literaturüberblick von Lorenz Peiffer/Matthias Fink, Zum aktuellen Forschungsstand der Geschichte von Körperkultur und Sport, Köln 2003; sowie Hans Joachim Teichler, Sport und Sportpolitik in der DDR, in: Krüger/Langenfeld (Anm. 1), S. 227–240.
Ein Großteil der kritischen Stimmen, aber auch Havemanns eigene Positionen sind versammelt in: Lorenz Peiffer/Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.), Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus, Göttingen 2008.
Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diem, 4 Bde., Duisburg 2009–2011. Zur Diem-Debatte auch das o. a. Schwerpunkt-Heft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (Anm. 5). Mittlerweile ist eine weitere Diem-Biografie erschienen: Ralf Schäfer, Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus: Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich, Berlin 2011.
Aus dem Münsteraner Teilprojekt vgl. in der vorliegenden Ausgabe: Henk Erik Meier u.a., Dopingskandale in der alten Bundesrepublik, Interner Link: http://www.bpb.de/137402/).
Vgl. u. a. Detlef Hacke/Udo Ludwig, "Ich will nur eines: Medaillen". Auch in Westdeutschland gab es vor der Wende offenbar ein staatlich gefördetes Dopingsystem, in: Der Spiegel, 39/2011, S. 120–124.
Aus diesem Projekt ist jüngst erschienen: Lorenz Peiffer/Henry Wahlig, Juden im Sport während des Nationalsozialismus, Göttingen 2012.
Zuletzt der Fernsehfilm "München 72 – Das Attentat", mit anschl. Dokumentation ausgestrahlt im ZDF, 19.3.2012.
Der gleichnamige Begleitband erschien im Primus-Verlag, Darmstadt 2009.
Vgl. Susanne Wernsieg u. a. (Hg.), Auf die Plätze. Sport und Gesellschaft, Göttingen 2011.
Eine erste, allerdings sehr unvollständige Übersicht: Externer Link: http://webmuseen.de/sportmuseen.html sowie Externer Link: http://www.dag-s.de [18.4.2012].
Das Zentrum hat u. a. (Wander-)Ausstellungen zum Fußball im geteilten Deutschland ("Doppelpässe – wie die Deutschen die Mauer umspielten"), zur Sportfotografie ("Ästhetik und Politik. Deutsche Sportfotografie im Kalten Krieg") und zur sog. "Republikflucht" von DDR-Sportlerinnen und -Sportlern ("ZOV Sportverräter. Spitzenathleten auf der Flucht") konzipiert und durchgeführt; z. T. "touren" diese Wanderausstellungen noch. Die Ausstellung "ZOV Sportverräter" (Externer Link: http://www.zov-sportverraeter.de/) ist zzt. bis 1.7.2012 zu sehen in der Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) Leipzig in der "Runden Ecke", Dittrichring 24, 04109 Leipzig (tägl. 10–18 Uhr), die Ausstellung "Doppelpässe" (http:/www.doppelpaesse.de/) bis 27.7.2012 in der Bibliothek der Helmut-Schmidt-Universität, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg (Mo–Fr, 9–16 Uhr); der Eintritt zu beiden Ausstellung ist frei.
Vgl. hierzu: Jutta Braun/Berno Bahro, Sportgeschichte in Museum, Stadtführungen und Schulunterricht. Erfahrungsbericht des Zentrums deutsche Sportgeschichte e. V., in: Bruns/Buss (Anm. 7), S. 75–86.
Davon zeugt auch die wachsende Buchproduktion mit sporthistorischen Inhalten. Das Programm des Göttinger Verlages Die Werkstatt z. B. wird mittlerweile von Fußballvereinschroniken dominiert, an denen auch etablierte Historiker als Autoren beteiligt sind.
Vgl. hierzu den programmatischen Aufsatz von Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz, Sportgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 27.2.2012, Externer Link: https://docupedia.de/zg/Sportgeschichte?oldid=81632 [18.4.2012].
| Article | Christian Becker | 2013-12-03T00:00:00 | 2012-05-03T00:00:00 | 2013-12-03T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/135222/marginalisierung-der-sportgeschichte/ | Die Geschichte des Sports genießt seit einigen Jahren ein wachsendes öffentliches Interesse. Zugleich aber werden die Ausgaben für die akademische Erforschung der Sportgeschichte seit Jahren gekürzt, werden Institutionen zur wissenschaftlichen Ausein | [
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Geschichte des Rassismus | Themen | bpb.de | Den Begriff des Rassismus gibt es erst seit den frühen 1930er Jahren. Er wurde geprägt als übergeordneter Name für jene radikalen Bewegungen und Regime, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Politik nicht mehr nur der Ausgrenzung und Anfeindung, sondern der physischen Vernichtung gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen umsetzten. Besonders in den Blick nahm der Begriff diejenigen Ideologien, in denen die Annahme natürlicher "Rassen", "Rassenunterschiede" und "Rassenkämpfe" im Zentrum stand: also den Interner Link: Imperialismus, den Interner Link: Faschismus, den Interner Link: Antisemitismus und den Interner Link: Nationalsozialismus. Doch wissen wir aus den historischen Epochen davor und danach, dass der Rassismus nicht exklusiv zu rechtskonservativen und rechtsradikalen Politikformen gehört, sondern eine eigenständige ideologische Denk- und Handlungsweise ist, die politisch auch im linken oder liberalen Milieu und sogar ohne dezidierte politische Orientierung existieren kann.
So ist der Rassismus als Phänomen der gruppenbezogenen Ausgrenzung, Anfeindung und Vernichtung sehr viel älter als seine begriffliche Prägung in den 1930er Jahren. Wie alt genau – darüber streiten sich die Experten. Versteht man unter Rassismus jede Form der Ungleichbehandlung, Verfolgung und Entrechtung bestimmter Gruppen, müsste man wohl sagen, dass der Rassismus die Geschichte der Menschheit seit ihrem Anbeginn begleitet. Dann aber wäre der Rassismus kategorial auf der gleichen Ebene angesiedelt wie 'Feindschaft' oder 'Ungleichheit' und damit seine historische Untersuchung gezwungen, stets nur seine Langlebigkeit und fast überzeitliche Geltung festzustellen. Bestimmt man den Rassismus stattdessen danach, wie Ausgrenzung, Ungleichheit und Anfeindung von den Akteuren begründet werden, so liegt ein deutlich konkreteres Phänomen vor, dessen Herkunft, Gegenwart und Zukunft historisch beschreibbar ist. Denn so gesehen ist der Rassismus weder überzeitlich noch ewig, sondern hat als eine spezifische Ideologie benennbare Ursprünge und Entwicklungswege.
Die Frage nach historischen Vorläufern des Rassismus
Was den historischen Beginn des Rassismus angeht, haben wir es mit einer wissenschaftlich umstrittenen Frage zu tun. So gehen manche mit guten Gründen davon aus, dass es Rassismus bereits in der Antike gegeben habe. Schließlich waren die Sklaven in dieser Epoche eine systematisch unterdrückte und aller Freiheitsrechte beraubte Bevölkerungsgruppe, auf deren Zwangsarbeit wiederum die griechische und römische Kultur beruhten. Ist das nicht eindeutig eine rassistische Gesellschaftsordnung? Hier kommt die oben erwähnte Unterscheidung zum Tragen: Versteht man unter Rassismus jede Art der kollektiven Ausgrenzung, Entrechtung, Anfeindung etc., so lag bereits in der Antike ein ausgeprägt rassistisches System vor. Fragt man aber nach dem Rassismus als Begründungsform kollektiver Ausgrenzung, wird es schwierig: Denn die Interner Link: Sklaverei in der Antike wurde (mit nur ganz wenigen Ausnahmen) nicht in Frage gestellt, und daher auch kaum begründet. Und auch wer versklavt wurde, bedurfte keiner Begründung, denn entweder wurde man als Sklave geboren oder man wurde zum Sklaven durch Kriegsgefangenschaft. Die Existenz von Sklaven war in der Antike so normal wie heute die Existenz von Millionen Menschen, die am Existenzminimum leben. Wenn auch formal völlig unterschiedlich, sind beides fundamentale Formen der Ungleichheit, die man mit guten Gründen auch als fundamental ungerecht bezeichnen kann – sie deshalb aber Rassismus zu nennen, verwässert den Begriff. Das ändert allerdings nichts daran, dass nicht wenige der antiken Ideen, Vorstellungen und Handlungsformen etwa im Bereich der Frage politischer, sozialer und kultureller Zugehörigkeit oder im Bereich der Erziehung später durchaus Eingang in den neuzeitlichen Rassismus gefunden haben. Solche Rezeptionen lassen aber noch nicht den Schluss zu, den Rassismus habe es 'schon' in der Antike gegeben.
Auch in der Mittelalterforschung wird beim Blick auf Phänomene wie die Kreuzzüge, antisemitische Pogrome oder etwas später die Hexenverfolgungen bisweilen von Rassismus gesprochen. Doch auch hier ist jeweils zu prüfen, ob die zeitgenössischen Begründungen dieser Gewaltexzesse mit dem neuzeitlichen Rassismus vergleichbar sind und damit zu seiner Vorgeschichte gehören oder nicht. Zumindest ein Phänomen am Ende des Mittelalters bildete in der Tat den Kontext, innerhalb dessen der Begriff der "Rasse" (bis dahin nur in der Pferdezucht gebräuchlich) zum ersten Mal als Kennzeichnung besonderer Menschengruppen auftauchte: am Ende der 'Reconquista', also der endgültigen Rückeroberung im Jahr 1492 des seit dem 8. Jahrhundert multireligiösen, aber muslimisch dominierten heutigen Spaniens und Portugals durch das Christentum. Insofern in diesem sich über Jahrhunderte erstreckenden Prozess viele Muslime wie auch Juden zwar formal, nicht aber in ihrer tatsächlichen Lebensweise zum Christentum konvertiert waren, stellte am Ende das Glaubensbekenntnis kein eindeutiges Zugehörigkeitskriterium mehr dar. Um dennoch die 1492 beschlossene Zwangsbekehrung der gesamten Bevölkerung zu organisieren, erfand man das neue Kriterium der "Blutsreinheit" und teilte die verbliebenen Muslime und Juden in "Rassen" genannte Gruppen, die sich nach Grad und Dauer der Zugehörigkeit zum Christentum unterschieden.
Die Etablierung des Rassenbegriffs
Damit war nicht nur der neuzeitliche Rassenbegriff in der Welt, sondern vor allem jene, für die weitere Geschichte des Rassismus zentrale Idee unterschiedlicher Grade der "rassischen Reinheit". Sie gehört bis heute zu den Kernelementen des Rassismus und war seit dem 16. Jahrhunderts eine vielfach übertragbare Denkfigur. Wo immer es um 'Reinheit' und 'Echtheit' oder eben um eine Abweichung davon ging – ob im religiösen, natürlichen, kulturellen oder sozialen Sinne –, wurden Menschen in "Rassen" unterschieden: von der Unterscheidung zwischen dem 'echten' Bluts- und dem 'unechten' Amts-Adel über die Hierarchisierung der neu entdeckten Völker Amerikas, Asiens und Afrikas, bis zum frühen Interner Link: Nationalismus des 18. Jahrhunderts, als man begann die 'echten' und ursprünglichen Gallier, Germanen und Angelsachsen als die wahren Franzosen, Deutschen und Engländer zu entdecken. Dabei kam es zu einer folgenschweren Fusion der Begriffe "Echtheit" und "Natürlichkeit", aus der das biologische und politische Denken seit der Aufklärung dann eine Ideologie im engeren Sinne machte.
Denn eigentlich war mit dem Universalismus der Aufklärung, mit ihren Freiheits- und Gleichheitsansprüchen, ein Denken entstanden, das die althergebrachten Formen der Ausgrenzung und Entrechtung radikal delegitimierte. Das Konzept der einen und gleichen Menschheit schien zumindest politisch-moralisch das Potenzial zu haben, alle nur denkbaren Ausgrenzungen für illegitim zu erklären. Und dennoch existierten die meisten der konkreten und seit Jahrhunderten betriebenen Praktiken der Ausgrenzung, Ungleichbehandlung und Entrechtung – vom europäischen Kolonialismus über den Sklavenhandel bis zum Antisemitismus – relativ ungestört weiter. Denn das Konzept der "Rasse", mit seiner hierarchischen Semantik, bot einen ideologischen Ausweg. Als natürlich-biologisches Konzept beanspruchte es zunächst einmal das universalistische Ideal der Aufklärung für sich: jeder Mensch ist gleich, insofern jeder Mensch einer natürlichen "Rasse" angehört. "Rassen" aber – so der nächste Schritt dieser rassentheoretischen Logik – unterscheiden sich in ihren natürlichen Entwicklungsgraden. In dieser Logik wurde dann die Ungleichbehandlung einer schwachen, niederen "Rasse" durch eine starke, höhere als notwendiger Teil eines "Zivilisierungsprozesses" gerade im Namen der einen und gleichen Menschheit denkbar.
Diese für die Moderne grundlegende ideologische Funktionsweise des Rassismus basierte anfänglich vor allem auf der Annahme einer natürlichen, biologisch gegebenen und kaum veränderbaren Ungleichheit der Menschenrassen, aus der sich die Dominanz- und Erziehungsansprüche der "Zivilisierten" gegenüber den "Unzivilisierten" ableiteten. Mit dem Evolutionismus aber erlebte der Rassismus im 19. Jahrhundert einen weiteren, folgenreichen Strukturwandel. Denn besonders die Interner Link: Darwin'sche Evolutionstheorie entzog der Annahme natürlich-ewiger Ordnungen jede Grundlage: der Theorie zufolge verändern sich die Arten ständig und diese Veränderung ist Ergebnis der sogenannten natürlichen Auslese. Auch wenn damit gemeint war, dass es die Wahrscheinlichkeit des Überlebens erhöhe, besser an die Umwelt angepasst zu sein als andere bzw. die am besten angepassten Lebewesen einer Art zu sein, entwickelte sich daraus eine Lesart, wonach nur der Stärkste überlebe. Für das Weltbild des Rassismus hatte das fundamentale Auswirkungen, denn damit hatte nicht mehr die angeblich naturgegebene "Rassenordnung" der Welt einen natürlichen Status, sondern die rassistische Praxis der Ausgrenzung selbst. Nicht mehr die Unterschiede zwischen "Rassen", sondern die Bekämpfung des "rassisch Anderen" wurde nun als Naturgesetz postuliert. Das hatte unmittelbar eine Radikalisierung rassistischer Praktiken zur Folge: der Antisemitismus, die Niederschlagung kolonialer Aufstände und sogar der Konflikt der imperialen Großmächte untereinander galten jetzt als Austragungsformen eines globalen "Rassenkampfs" ums Überleben. Und dabei war es keineswegs mehr ausgemacht, dass "der Stärkere" gewinnt. Vielmehr würde sich die Verteilung von Stärke und Schwäche erst im Kampf herausstellen. Damit nahm der Rassismus eine grundlegend paranoide Form an, die nicht mehr primär auf einem Überlegenheitsdünkel, sondern vor allem auf der Angst beruhte, die eigene Dominanz jederzeit verlieren zu können. Umgekehrt implizierte das neue Denken zugleich, dass die erfolgreiche Bekämpfung des "rassisch Anderen" nicht nur ein politischer oder militärischer Sieg war, sondern unmittelbar die Selbststärkung und Selbstverbesserung des "rassisch Eigenen" bedeutete. Das Zusammenwirken dieser Grundannahmen, wie sie sich seit etwa 1850 herausbildeten und den Rassismus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmten, kann man 'Biopolitik' nennen – verstanden als eine Politik, in der nicht nur das (nackte) Leben als solches zum Gegenstand und zur Ressource der Politik wird, sondern im Zuge der rassistischen Radikalisierung auch mit jeder politischen Handlung das Leben und die biologische Existenz selbst auf dem Spiel stehen.
Dieser biopolitische Rassismus prägte und beeinflusste fast jede andere politische Ideologie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere den Imperialismus, den Nationalismus, den Antisemitismus, den Faschismus und vor allem den Nationalsozialismus. Zudem hat er eigene neue ideologische Wissenssysteme wie die Interner Link: Eugenik und Rassenhygiene hervorgebracht, die es sich zur Aufgabe machten, Wissenschaft, Technik und Sozialpolitik in den Dienst einer künstlichen "Rassenverbesserung" zu stellen – entweder durch die Förderung erwünschter oder die Verhinderung unerwünschter Nachkommenschaft. Und selbst der Interner Link: Erste Weltkrieg, in dem nicht wenige der politischen Strukturen und ideologisch-utopischen Hoffnungen des 19. Jahrhunderts heillos untergingen, tat dem rassistischen Denken kaum einen Abbruch. Unter Rassentheoretikern galt er vielmehr als ein finaler Beleg dafür, dass eben nicht Staaten, Gesellschaften und politische Akteure die Geschicke der Völker bestimmen, sondern allein der Kampf der "Rassen" und Bevölkerungen.
Entsprechend unversehrt konnte der Rassismus als eine dominante Ideologie der Moderne aus dem Ersten Weltkrieg hervorgehen und einen zweiten möglich machen. Dabei trugen die Nationalsozialisten nur wenig Eigenes und Neues zur Entwicklungsgeschichte des Rassismus als Ideologie bei. Aber sie schafften es, viele seiner Elemente und viele, sich teils widersprechende Versatzstücke seiner bisherigen Formen unter dem Konzept der "Volksgemeinschaft" zu vereinen. Zudem verwandelten sie den Rassismus in eine Praxis-Ideologie, indem sie auf ein halbwegs kohärentes Weltbild und eine in sich logische Weltauslegung fast gänzlich verzichteten, zugunsten des unablässig wiederholten Aufrufs, die erwünschte "germanisch-rassische Weltordnung" müsse praktisch, und das hieß: durch Gewalt erst hervorgebracht werden. Die Exzessivität und zugleich bürokratische Nüchternheit, mit der die Interner Link: "Endlösung" am Ende umgesetzt wurde, zeugen unter anderem auch davon, wie sehr eine Mehrheit der Deutschen jene biopolitisch-rassistische Auffassung bereits internalisiert hatte, nach der rassistische Ausgrenzung, Anfeindung und Vernichtung wie selbstverständlich zu vollziehen seien.
Das Fortleben des Rassismus
Nach diesem Exzess wurde der Rassismus von der neu gegründeten Weltgemeinschaft der Interner Link: UNO offiziell zu einer illegitimen Ideologie erklärt. Dies beschleunigte in der Tat den Interner Link: Dekolonisierungsprozess und setzte die Restformen rassistischer Unterdrückungssysteme, auch wenn sie keineswegs über Nacht verschwanden, zunehmend unter Druck. In den vorherrschenden Bestimmungen darüber, was der Rassismus als Ideologie genau sei, spielten seine Entwicklungen in den unmittelbar vorangegangenen Jahrzehnten aber kaum eine Rolle. Vielmehr ging man größtenteils davon aus, dass die rassistischen Eskalationen des 20. Jahrhunderts nur eine radikalisierte Variante der rassistischen Ideologie des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Im antirassistischen Konsens der 1950er bis 1970er Jahre galt Rassismus als ein radikalisiertes und biologisiertes Vorurteilsdenken, welches von der Annahme lebte, dass die Verteilung von Höher- und Minderwertigkeit zwischen Menschenrassen eine unveränderbare Naturordnung darstelle. Insbesondere diese Festschreibung von Differenz als 'Natur' wurde in diesem Kontext zum Hauptmerkmal des Rassismus erklärt – seine evolutionistisch-biopolitische Dimension dagegen weitgehend ignoriert.
Erst seit den 1970er Jahren und verstärkt in den 1980er und 1990er Jahren machte die interdisziplinäre Forschung zunehmend darauf aufmerksam, dass der Rassismus in einer solchen Bestimmung nicht aufging. Zwar hatte die politisch-moralische Ächtung des Rassismus durchaus den Effekt, dass sich kollektive Ausgrenzungs- und Anfeindungsformen kaum mehr auf den Rassenbegriff oder auf "natürliche Rasseunterschiede" berufen konnten – doch stellte sich ebenso heraus, dass der Rassismus dieser Bezugnahme auf eine angebliche natürliche "Rassenordnung" keineswegs notwendig bedurfte. Rassistische Anfeindungs- und Bedrohungsszenarien kommen auch ohne die Annahme einer fixen Naturordnung aus. Eben das hatte die Entwicklung des Rassismus seit dem späten 19. Jahrhundert längst vor Augen geführt – wurde nun aber neu entdeckt als eine Eigenschaft des Rassismus nach der Delegitimierung des Rassenbegriffs.
Heute haben wir es daher mit einer höchst komplexen Situation zu tun: Zum einen beobachten wir – etwa im Bereich des Interner Link: Rechtspopulismus oder Interner Link: Rechtsextremismus – eine massive Wiederkehr rassistischer Denkweisen und Praktiken, die von der eugenischen bis zur darwinistischen, von der paranoiden bis zur biopolitischen Logik alle Elemente enthalten, die wir aus der Geschichte des Rassismus zwischen 1850 und 1950 kennen. Dennoch können sich die entsprechenden Protagonisten oft erfolgreich gegen den Rassismus-Vorwurf zur Wehr setzen, indem sie darauf hinweisen, dass sie doch gar nicht von "Rassen" reden, sondern von Bevölkerung, Kultur, Identität oder Heimat. Zum zweiten haben es rassistisch angefeindete Gruppen (Ausländer, Schwarze, Juden, Muslime, Flüchtlinge oder auch Obdachlose) immer noch schwer, die ihnen gegenüber angedrohte oder ausgeübte Gewalt als Rassismus anerkannt und geahndet zu sehen. Über Rassismus wird, zumal in Deutschland, bevorzugt dort geredet, wo es um Alltagsformen, Vorurteile, eine überkommene Sprachkultur oder um Interner Link: Identitätspolitik geht. Wo aber ganze Parteien, Gruppen und Bewegungen zu einer im Kern rassistischen Gewaltpraxis aufrufen, wo diese wie in unzähligen Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte oder wie in Interner Link: Halle 2019 und Interner Link: Hanau 2020 gar ausgeübt wird, ist hierzulande immer noch bevorzugt von Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit oder Neo-Nationalismus die Rede. Denn immer noch herrscht die Überzeugung vor, Interner Link: dass es Rassismus ohne die ausgesprochene Annahme natürlicher "Rassen" und fixer "Rassenunterschiede" nicht geben könne. Dabei lehrt bereits die Geschichte, dass der Rassismus eben dort besonders gewaltträchtig wurde, wo diese Annahme wegfiel.
Betrachtet man die Geschichte des Rassismus in der Gesamtschau, wird vor allem eines deutlich: er ist eine historisch entstandene und sich historisch auch stets verändernde, sich weiter entwickelnde Ideologie, die sich den politisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne in immer neuer Weise anpasst: von der Rechtfertigung von Ungleichheit im Horizont des Universalismus, über seine biopolitische Funktionsweise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu den jüngsten Formen eines Rassismus ohne "Rassen". Gerade im Namen eines effektiven Antirassismus darf diese Verwandlungs- und Anpassungsfähigkeit nicht vergessen oder ignoriert werden. Denn ob zukünftige Formen der Begründung kollektiver Ausgrenzung und Anfeindung 'rassistisch' sind oder nicht, ist weniger eine Frage der korrekten Definition als davon abhängig, ob und in welcher Weise sie die Geschichte rassistischer Ideologiebildung fortsetzen.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-05-05T00:00:00 | 2023-05-04T00:00:00 | 2023-05-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/rassismus-diskriminierung/rassismus/520683/geschichte-des-rassismus/ | Die Idee von "Rassen" ist ein neuzeitliches Konzept. Christian Geulen untersucht in diesem Text, wie sich diese Idee verbreitete und wie sich der Rassismus bis in die Gegenwart entwickelt hat. | [
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6. Mai: EU-Westbalkan-Gipfel | Hintergrund aktuell | bpb.de | Die Beziehungen zu den sogenannten Westbalkanstaaten zu festigen und Beitrittsperspektiven für die Länder der Region zu eröffnen gehört zu den außenpolitischen Prioritäten der Europäischen Union. Interner Link: Albanien, Interner Link: Montenegro, Interner Link: Nordmazedonien und Interner Link: Serbien zählen zu den sogenannten Kandidatenländern der EU, Interner Link: Bosnien-Herzegowina und Interner Link: Kosovo zu den "potenziellen Kandidatenländern". Der Weg zu einer EU-Mitgliedschaft ist für die sechs Länder Externer Link: unterschiedlich weit fortgeschritten. Auch über den Zeithorizont gibt es immer wieder Streit – und manche EU-Mitgliedsländer stehen künftigen Erweiterungsrunden unter den aktuellen Bedingungen grundsätzlich skeptisch gegenüber.
Kurz erklärtWas ist der Westbalkan?
Der "Westbalkan" umfasst laut EU-Definition diejenigen Länder der südosteuropäischen Halbinsel, die noch keine EU-Mitglieder sind. Zu den sogenannten Westbalkanstaaten gehören heute demnach Albanien sowie die jugoslawischen Nachfolgestaaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Kroatien und Slowenien werden seit ihren EU-Beitritten nicht mehr zu der Ländergruppe gezählt. "Westlicher Balkan" ist also kein rein geographischer, sondern ein politischer Begriff.
Schon heute sind die Staaten der Interner Link: Europäischen Union und des westlichen Balkans wirtschaftlich sehr eng verflochten: Rund zwei Drittel der Importe in die sechs Länder kam 2016 aus einem der damals 28 EU-Staaten – und umgekehrt gingen gut vier Fünftel der Exporte der Westbalkanstaaten in die EU. Unternehmen aus der EU waren außerdem mit Abstand die größten Investoren in der Region.
Kroatiens Ratspräsidentschaft und Gipfelkonferenz am 6. Mai
Interner Link: Kroatien, seit 2013 EU-Mitglied, hat im Januar für das erste Halbjahr 2020 die Interner Link: EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Als ehemalige Teilrepublik Interner Link: Jugoslawiens hat sich das Land vorgenommen, die EU-Integration der Nachbarstaaten in der Region voranzutreiben und darauf einen Schwerpunkt seines Ratsvorsitzes zu legen.
Bereits am 16. Februar 2020 kamen die Staats- und Regierungschefs der sechs Westbalkan-Länder unter anderem mit Kommissionspräsidentin Interner Link: Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Interner Link: Charles Michel zu einem Treffen in Brüssel zusammen, um den EU-Westbalkan-Gipfel vorzubereiten. Aufgrund der Interner Link: Corona-Pandemie konnte dieser nicht als persönliches Treffen in der kroatischen Hauptstadt Zagreb stattfinden, wurde nun aber am 6. Mai 2020 als Videokonferenz durchgeführt. Der Gipfel galt für Kroatien als einer der Höhepunkte seiner EU-Ratspräsidentschaft.
Während des Gipfels wurde eine enge Zusammenarbeit der EU und der Westbalkan-Staaten bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie vereinbart. Die Europäische Kommission hat – wie im Vorfeld angekündigt – zugesichert, die Staaten des Westbalkans mit über 3,3 Milliarden Euro zu unterstützen, um den Bedarf im Gesundheitssektor zu decken und die sozioökonomischen Auswirkungen der Krise zu bewältigen. Weitere Schwerpunkte des Gipfels waren die regionale Zusammenarbeit der Staaten in der Region und sicherheitspolitische Fragen. Zudem haben die EU-Mitgliedsstaaten die europäische Perspektive für den Westbalkan erneut bekräftigt, jedoch keine Zeithorizonte für die Beitritte genannt.
Wie wird man EU-Beitrittskandidat?
Laut Interner Link: Vertrag von Lissabon kann grundsätzlich jedes europäische Land, das die demokratischen Werte der EU achtet und sich für sie einsetzt, Mitglied der Staatengemeinschaft werden.
Der Europäische Rat hat sich 1993 in Kopenhagen auf drei zu erfüllende Voraussetzungen für eine Aufnahme in die EU geeinigt. Deshalb werden diese auch als "Interner Link: Kopenhagener Kriterien" bezeichnet:
Politisches Kriterium: Die staatlichen Institutionen des Landes müssen stabil sein und eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung garantieren. Menschenrechte müssen gewahrt und Minderheiten geschützt werden. Wirtschaftliches Kriterium: Der Bewerberstaat muss über eine funktionsfähige Marktwirtschaft verfügen. Diese muss in der Lage sein, dem Wettbewerb innerhalb der EU standzuhalten. Acquis-Kriterium: Ein Land muss über die Fähigkeit verfügen, die zum EU-Recht gehörenden gemeinsamen Regeln wirksam umzusetzen. Das bedeutet, sämtliche EU-Rechtsvorschriften müssen übernommen werden, insofern es national nichts bereits wirkungsvollere Maßnahmen gibt.
Hinzu kommt als weiteres Kriterium, dass die EU – zum Beispiel in finanzieller Hinsicht – überhaupt fähig ist, weitere Staaten aufzunehmen und erfolgreich integrieren zu können.
Mit Staaten, die eine Mitgliedschaft anstreben, schließt die EU individuelle Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ab, in denen die Bedingungen für einen Beitritt festgelegt werden. Für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen muss ein Land grundlegende politische, wirtschaftliche und Reformkriterien erfüllen. Die Staaten des westlichen Balkans hat die EU zusätzlich zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen und regionaler Kooperation verpflichtet.
Wie sieht der weitere Fahrplan zum EU-Beitritt aus?
Sobald einem Staat der Status eines Beitrittskandidaten verliehen wurde, werden die förmlichen Beitrittsverhandlungen mit der EU aufgenommen. Inhalt der Verhandlungen sind die Externer Link: 35 Kapitel des gemeinschaftlichen Besitzstandes ("Interner Link: acquis communautaire"), die verschiedene Politikbereiche abdecken. Die Kommission in Brüssel legt jährlich so genannte Fortschrittsberichte vor. Darin beurteilt sie die politischen und wirtschaftlichen Reformen der Beitrittskandidaten.
Wenn die Verhandlungen und erforderlichen Reformen abgeschlossen sind, wird ein Beitrittsvertrag fertiggestellt. Das Interner Link: Europäische Parlament, die Interner Link: Europäische Kommission und der Interner Link: Europäische Rat müssen dem Beitrittsabkommen zustimmen. Daraufhin wird der Vertrag vom Kandidatenland und den EU-Mitgliedsstaaten unterzeichnet. Schließlich muss der Beitrittsvertrag noch durch die Beitrittskandidaten und alle EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert werden, zum Beispiel durch die nationalen Parlamente oder Referenden.
Der "Westbalkan" umfasst laut EU-Definition diejenigen Länder der südosteuropäischen Halbinsel, die noch keine EU-Mitglieder sind. Zu den sogenannten Westbalkanstaaten gehören heute demnach Albanien sowie die jugoslawischen Nachfolgestaaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Kroatien und Slowenien werden seit ihren EU-Beitritten nicht mehr zu der Ländergruppe gezählt. "Westlicher Balkan" ist also kein rein geographischer, sondern ein politischer Begriff.
Wie steht es um die Beitrittsperspektive der Westbalkanstaaten?
Die Länder des westlichen Balkans sind mit ihren Bemühungen um einen EU-Beitritt unterschiedlich weit fortgeschritten. Vier der Staaten gelten derzeit als Beitrittskandidaten. Mit Montenegro wurden die Beitrittsverhandlungen im Juni 2012 aufgenommen, mit Serbien im Januar 2014. Ende März dieses Jahres haben sich die 27 EU-Mitgliedsstaaten darauf geeinigt, die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufzunehmen. Außerhalb der Region gilt auch die Türkei als offizielle Beitrittskandidatin – die Verhandlungen starteten bereits im Oktober 2005.
Interner Link: Albanien hat im April 2009 seinen EU-Beitrittsantrag eingereicht und gilt seit Juni 2014 als EU-Beitrittskandidat. Die EU-Kommission hat in ihren Fortschrittsberichten 2016, 2018 und 2019 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien empfohlen. Im März 2020 hat der Rat der Europäischen Union beschlossen, die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Auf dem Weg zu einem möglichen EU-Beitritt nennt die EU die Reformen von Justiz und Verwaltung sowie die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität als wichtigste Voraussetzungen.
Interner Link: Montenegro ist Interner Link: seit 2006 unabhängig und hat im Dezember 2008 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU gestellt. Seit Dezember 2010 gilt das Land als Bewerberstaat, seit Juni 2012 laufen die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und Montenegro. Ende 2019 waren 32 von 35 Verhandlungskapiteln eröffnet, von denen drei bereits vorläufig geschlossen wurden. Damit sind die Beitrittsverhandlungen mit Montenegro unter allen Staaten der Region am weitesten fortgeschritten. In ihrer Westbalkan-Strategie von Februar 2018 nennt die EU-Kommission das Jahr 2025 als Zeithorizont für einen möglichen EU-Beitritt des Landes.
Die "Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien" – heute Interner Link: Nordmazedonien – hat sich bereits im März 2004 um einen EU-Beitritt beworben und erhielt im Dezember 2005 den Status eines Beitrittskandidaten. Seit 2009 hat die Europäische Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfohlen, diese verzögerte sich aber aufgrund des Namensstreites mit Griechenland, das seine Zustimmung verweigerte. Nach der Umbenennung des Landes stimmten im März 2020 alle EU-Mitgliedstaaten der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien zu.
Interner Link: Serbien hat im Dezember 2009 einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt und gilt seit März 2012 als offizieller Beitrittskandidat. Seit Januar 2014 laufen die Beitrittsverhandlungen. 17 von insgesamt 35 Verhandlungskapiteln wurden bislang eröffnet, davon zwei vorläufig abgeschlossen. Auch für Serbien hat die EU-Kommission das Jahr 2025 als mögliches Beitrittsdatum genannt. Das Land scheint jedoch noch weit von einer Aufnahme entfernt – als eine wichtige Voraussetzung eines möglichen Beitritts gilt die Normalisierung der Beziehungen zu Kosovo.
Potenzielle Beitrittskandidaten sind Bosnien-Herzegowina und Kosovo. Für beide hat der Europäische Rat die Perspektive eines Beitritts zur EU festgestellt. Sie erfüllen aber die Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen noch nicht.
Mit Interner Link: Bosnien-Herzegowina hat die EU im Juli 2008 ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen geschlossen, das erst im Juni 2015 in Kraft trat. Im Februar 2016 hat das Land einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU gestellt. In einer Stellungnahme zum Beitrittsantrag aus dem Mai 2019 nennt die EU-Kommission unter anderem die Stärkung der Interner Link: Rechtsstaatlichkeit und der Funktionsfähigkeit staatlicher Institutionen als größte Herausforderungen auf dem Weg des Landes in die EU.
Auch Interner Link: Kosovo gilt als potenzieller Beitrittskandidat. Das Land hat Interner Link: im Februar 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Bis heute erkennen nicht alle EU-Staaten die Unabhängigkeit Kosovos an. Interner Link: Das Land gilt als politisch instabil, eine weitere Herausforderung ist die Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Im Juli 2016 ist ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU in Kraft getreten.
Wie geht’s jetzt weiter?
Für Kosovo oder Bosnien-Herzegowina gilt eine Aufnahme in die EU in den nächsten Jahren als sehr unwahrscheinlich. Der mögliche Beitritt der Kandidatenländer Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien trifft hingegen sowohl auf Unterstützung als auch auf Kritik. Deutschland gilt eher als Befürworter des Erweiterungsprozesses, andere Länder wie Frankreich, die Niederlande oder Dänemark stellten sich in der Vergangenheit dagegen quer. Neben der Beitrittsfähigkeit der Kandidatenländer wird diskutiert, ob die EU – gerade vor dem Hintergrund des Brexit, dem Streit um die Verteilung von Flüchtlingen und nun außerdem mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie – derzeit überhaupt in der Lage wäre, neue Mitgliedstaaten zu integrieren. Gegenwärtig versuchen auch andere Akteure, wie zum Beispiel China, Russland oder die Türkei, in der Region politisch und wirtschaftlich verstärkt Fuß zu fassen.
Mehr zum Thema:
Interner Link: Vedran Džihić: Verlorene Strahlkraft? Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens zwischen EU, Russland und Türkei (APuZ 40-41/2017) Interner Link: Marie-Janine Calic: Kroatien und seine Nachbarn (APuZ 17/2013) Interner Link: Vor 15 Jahren: EU-Osterweiterung (Hintergrund aktuell, 30.04.2019)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-08T00:00:00 | 2020-05-04T00:00:00 | 2022-02-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/308668/6-mai-eu-westbalkan-gipfel/ | Am 6. Mai hat die EU mit den Westbalkanstaaten über deren Beitrittsperspektiven beraten – wegen der Corona-Krise per Videokonferenz. Die Bemühungen der sechs Staaten um eine EU-Mitgliedschaft sind unterschiedlich weit fortgeschritten. Ein Überblick. | [
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Hessliche Zustände. Wir müssen reden | bpb.de | In Hessen fühlen sich Menschen weltoffen und sicher. Eine Normalität, in der nicht jede:r lebt. Obwohl Vorfälle rechter und rassistischer Gewalt in fast allen Kommunen Hessens zu berichten sind und sich Skandale bei, in und mit den hessischen Sicherheitsbehörden aneinanderreihen, verändert sich wenig bis nichts. Und so gilt es, die Gemengelage des Nichthandelns, des Gewährenlassens, aber auch der politischen Rückendeckung auf einen Begriff zu bringen: die hesslichen Zustände. Mit impulsiven Reden, historischen Blicken und recherchierten Zusammenhängen wollen wir damit beginnen. Was heißt es wirklich, "aus Hanau zu lernen", und wie fangen wir endlich damit an?
Diskussionsrunde mit: Tobias Singelnstein - Polizeiforscher und Kriminologe, Goethe Universität Frankfurt Matti Traußneck - Rassismus- und Antisemitismusforscher:in und Aktivist:in, Universität Marburg Sascha Schmidt - Politikwissenschaftler, Buchautor und regelmäßiger Autor in Der rechte Rand Weitere Stimmen von verschiedenen Initiativen der Erinnerungsarbeit und Selbstorganisierung, von Kunstkollektiven und Bildungsarbeiter:innen u.a.: Initiative 19. Februar, Hanau 6. April, Kassel Initiative Copwatch Moderation: Karin Zennig
Weitere Informationen
Eintritt: 5 Euro
Veranstaltet von: Initiative hessliche Zustände auflösen Organisation: Karin Zennig | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-09-25T00:00:00 | 2022-07-01T00:00:00 | 2022-09-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/pift2022/rahmenprogramm/510108/hessliche-zustaende-wir-muessen-reden/ | In Hessen fühlen sich Menschen weltoffen und sicher. Eine Normalität, in der nicht jede:r lebt. | [
"Macht der Staatsgewalt",
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Militärische Interventionen als Mittel zur Eindämmung und Bearbeitung innerstaatlicher Konflikte | Kriege und Konflikte | bpb.de | Bis heute greifen externe Mächte und internationale Organisationen militärisch in innerstaatliche Konflikte ein. Durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt versuchen sie, den Verlauf und Ausgang des Konflikts in ihrem Sinne zu beeinflussen und im günstigsten Fall die kriegerischen Auseinandersetzungen und die damit einhergehenden Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen zu stoppen. Militärische Interventionen sind wahrscheinlich das heikelste Instrument im Werkzeugkasten der internationalen Staatengemeinschaft zur Bearbeitung und Beilegung innerstaatlicher und regionaler Konflikte.
Herausforderungen und Kosten militärischer Interventionen
Wie u.a. die Erfahrungen in Somalia, im ehemaligen Jugoslawien, in der Sahel-Zone und zuletzt in Afghanistan zeigen, bringen innerstaatliche Konflikte für von außen eingreifende Akteure andere Herausforderungen mit sich als Konflikte zwischen souveränen Staaten. So ist in der Regel die Zahl der beteiligten Akteure bei innerstaatlichen Konflikten deutlich höher. Zudem sind für die meisten innerstaatlichen Auseinandersetzungen ethnische, religiöse oder historische Divergenzen charakteristisch. In solchen unübersichtlichen Konstellationen laufen internationale Akteure schnell Gefahr, von Konfliktparteien vereinnahmt und manipuliert zu werden. Auch ist es für sie oft schwierig, die richtigen Ansprechpartner zu finden, Verbündete und Gegner zu unterscheiden und eine nachhaltige Lösung für alle Parteien zu erreichen.
Innerstaatliche Akteure können den Mangel an Wissen seitens der "Internationalen" über die örtlichen Gegebenheiten ausnutzen, um etwaige Konkurrenten und Gegner zu bekämpfen. So mussten die US-Streitkräfte während ihrer Anfangszeit in Afghanistan mangels eigener Fachexpertise auf Ortskräfte und andere lokale Expertise setzen. Das nutzten etwa lokale Berater, um US-Drohnenangriffe gegen rivalisierende Clans zu richten (Baczko/Dorronsorro: 2021). Irrtümlich Angriffe gegen lokale Verbündete, Dörfer, Menschenansammlungen und Hochzeitsfeiern können auf lokaler Ebene Ablehnung und Feindschaft gegenüber den ausländischen Streitkräften auslösen und bei wiederholten Fällen zum Scheitern der gesamten Mission führen.
Nach den Zählungen des Costs of War Project der Brown-University Maryland starben von 2001 bis 2021 über 240.000 Menschen im direkten Zusammenhang mit dem Einsatz, darunter etwa 71.000 Zivilisten. Dies wirft die Frage auf, ob die Opfer und Kosten für die Zivilbevölkerung durch bessere kulturell-ethnische, sozio-politische und Vor-Ort-Kenntnisse, restriktive Einsatzregeln der internationalen Streitkräfte und einen besser abgestimmten und gezielteren Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln hätten verhindert oder zumindest signifikant verringert werden können.
Wie zuletzt die NATO-Mission in Afghanistan gezeigt hat, ist das nur sehr begrenzt möglich. Bemühungen der USA und der NATO mit einer angepassten Aufstandsbekämpfungsstrategie, Zivilisten konsequenter zu schützen, wurden aufgrund der stärkeren Gefährdung der eigenen Soldaten bald wieder aufgeben. Versuche, die Taliban aus immer mehr Gebieten zu vertreiben ("clear-hold-build") und ihre Anführer gezielt zu töten, veranlassten die Aufständischen dazu, noch rücksichtsloser zur asymmetrischen Kriegsführung, insbesondere gegen Zivilisten, zu greifen. Auch die Übertragung von mehr Verantwortung an afghanische Sicherheitskräfte führte zu einer Zunahme ziviler Opfer (Bell/Friesendorf 2014).
Risiken resultieren auch aus der zunehmenden Inter- und Transnationalisierung von Bürgerkriegen. In dem Maße, wie innerstaatliche Konflikte zum Schauplatz geopolitischer Rivalitäten regionaler und globaler Mächte werden, können militärische Interventionen innerstaatliche Konflikte eher anheizen, als zu ihrer Einhegung und Lösung beizutragen. Eine zusätzliche Gefahr geht von grenzüberschreitend agierenden dschihadistischen und kriminellen Netzwerken aus, die das Machtvakuum nutzen, um sich in "Räumen begrenzter Staatlichkeit" festzusetzen. Dadurch werden weitere Staaten in die Auseinandersetzungen hineingezogen und destabilisiert. Ein Beispiel hierfür ist der Libanon, welcher in Folge des Syrienkriegs über 1,2 Mio. Geflüchtete aufnehmen musste und inzwischen Interner Link: selber von bürgerkriegsähnlichen Zuständen betroffen ist.
Wenn es nicht gelingt, die Kampfhandlungen im Zielland schnell und wirksam zu stoppen, droht eine Eskalation der Gewalt mit dramatischen Folgen. Statt Entwicklungsprojekte zu unterstützen, fließt immer mehr Geld in die Kriegsführung. Viele Entwicklungsanstrengungen werden durch Krieg und Gewalt zunichte gemacht. Das gilt auch für Afghanistan. Nach dem Rückzug der westlichen Alliierten liegt die Wirtschaft am Boden und ist von externen Hilfeleistungen abhängig. Zuletzt wurde das afghanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu 43 % aus Hilfsgeldern der USA und anderer internationaler Geldgeber finanziert.
Hinzu kommen die gesellschaftlichen und humanitären Kosten des Krieges. Heute ist Afghanistan ein zwischen den ethnischen und religiösen Gemeinschaften zerrissenes und tief verfeindetes Land. Viele Menschen sind von Gewalterfahrungen traumatisiert. Wegen der Kriegsfolgen und der langanhaltenden Dürre wird die diesjährige Ernte gering ausfallen. Laut der Welthungerhilfe sind rund 18 Mio. der ca. 32 Mio. Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Über 4 Mio. Menschen sind Flüchtlinge im eigenen Land. Sie leben oft unter desaströsen Bedingungen in provisorischen Lagern.
Militärische Interventionen sind nicht nur auf der Seite der umkämpften Gebiete mit immensen Belastungen verbunden. So sind im Irak und Afghanistan vergleichsweise weniger ausländische Soldaten gefallen als in früheren Konflikten. Doch mehr als die Hälfte der Rückkehrer leidet unter psychischen und physischen Folgen. Alleine in den USA kommen auf jeden gefallenen US-Soldaten vier Suizide von Veteranen.
Grundlagen, Rahmenbedingungen und Regeln militärischer Interventionen in innerstaatliche Konflikte
Als Quintessenz der Debatte über Pro und Contra militärischer Interventionen in innerstaatliche Konflikte hat die Internationale Kommission zu Intervention und Staatensouveränität (ICISS) im Jahr 2001 fünf Kriterien formuliert, die bei einer rechtlich abgesicherten militärischen Intervention erfüllt sein müssen: (1) Legitimierung der Mission durch den UN-Sicherheitsrat, die UN-Vollversammlung oder regionale Organisationen gemäß Kap. VIII der UN-Charta, (2) das Motiv der Wahrung der Menschenrechte, (3) die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel, (4) die Aussicht auf einen Erfolg der Mission und schließlich (5) der Einsatz militärischer Mittel als letzte Handlungsoption (ultima ratio). Dies bedeutet, dass vorher wirklich alle diplomatischen und politischen Möglichkeiten ausgeschöpft sein müssen (ICISS 2001: XII f.).
Zu den hohen Hürden, die das Völkerrecht für die Anwendung militärischer Gewalt im Allgemeinen und für militärische Interventionen in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten im Besonderen errichtet, kommt der Menschenrechtsschutz. Er leitet sich im Wesentlichen aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN-Generalversammlung 1948) ab. Interner Link: Weitere Grundlagen sind die neun zentralen UN-Menschenrechtsverträge und die regionalen Menschenrechtsabkommen, wie die Europäische Menschenrechtskonvention und die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker.
Das humanitäre Völkerrecht schreibt die Grundrechte für Einzelpersonen und Gruppen fest, die Staaten respektieren, schützen und erfüllen müssen. Sie gelten in Friedenszeiten und während bewaffneter Konflikte. Daran müssen Staaten und organisierte nichtstaatliche bewaffnete Gruppen ihr Handeln ausrichten, die an einem bewaffneten Konflikt beteiligt sind. Dies gilt auch für den Schutz von Personen, die nicht an Feindseligkeiten teilnehmen.
Schließlich ermöglicht das Völkerstrafrecht auf der Grundlage des Römischen Statuts die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten einzelner Täter, etwa politischer und militärischer Verantwortungsträger, nach dem Völkerstrafrecht. Zuständig ist der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag. Rechtsgrundlage sind insbesondere die ius cogens-Normen, die von Staaten zwingend akzeptiert und eingehalten werden müssen. Sie betreffen insbesondere das Verbot von Aggression, Folter, Sklaverei, Rassendiskriminierung, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (United Nations/World Bank 2018: 233/234).
Um die Regierungen stärker zur Achtung und Umsetzung der Menschenrechte in ihrem Hoheitsgebiet zu verpflichten, wurde in den frühen 2000er Jahren begonnen, eine neue Rechtsgrundlage zu erarbeiten: die sogenannte Schutzverantwortung (Responsibility to Protect – R2P). Kann oder will ein Staat den Schutz seiner Bürger nicht gewährleisten, geht die Verantwortung dafür an die internationale Gemeinschaft über. Sie ist dann verpflichtet, geeignete Maßnahmen bis hin zur militärischen Intervention zu ergreifen. Die Schutzverantwortung wurde auf dem Gipfeltreffen der Vereinten Nationen 2005 von nahezu allen Staaten anerkannt und fand seitdem bei diversen Missionen Anwendung. Die R2P umfasst drei Säulen: 1. Pflicht zur Prävention, 2. Pflicht zur Reaktion und 3. Pflicht zum Wiederaufbau.
Formen militärischer Intervention in innerstaatliche Konflikte
Entsendung militärischer Beobachter und Kontrolleure/Monitore Verhängung von Waffenembargos Absicherung und Erzwingung von Sanktionen Androhung militärischer Gewalt Einrichtung von Verbotszonen für militärische Bewegungen (z.B. von Kriegsschiffen und Militärflugzeugen) präventive Stationierung Absicherung und Schutz humanitärer Operationen militärische Evakuierung der eigenen Staatsbürger und weiterer gefährdeter Personen aus dem Konfliktland Stationierung von Interdispositionsstreitkräften Einrichtung von Schutzzonen Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen gewaltsame Trennung von bewaffneten/ kriegerischen Konfliktparteien Übernahme von Polizeiaufgaben/ Wiederherstellung von Recht und Ordnung Räumung von Minen und anderen Sprengmitteln Überwachung der Einhaltung von Feuerpausen und Waffenstillständen Überwachung und Unterstützung der Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kombattanten Absicherung von Übergangsprozessen und Wahlen Unterstützung des Nation- und Statebuilding
Quelle: https://www.bundesheer.at/pdf_pool/publikationen/ihmf_26011_lampl.pdf
Formen militärischer Interventionen
Wie vielgestaltig militärische Interventionen sein können, zeigt ein Blick auf die Bemühungen der Staatengemeinschaft, die Zerfallskrise der Jugoslawischen Föderation zu managen. Hier reichte das Spektrum von niedrigschwelligen Maßnahmen, wie der Androhung einer militärischen Intervention, bis hin zum massiven Einsatz militärischer Mittel:
Verhängung eines Waffenembargos:
Die Resolution 713 vom 25. September 1991 war der erste Beschluss des UN-Sicherheitsrates zur Jugoslawien-Krise. Darin wurden die Konfliktparteien zur Einhaltung des Waffenstillstands aufgefordert und gemäß Kapitel VII der UN-Charta ein Waffenembargo gegen Belgrad und alle Nachfolgestaaten verhängt.
Einrichtung einer Flugverbotszone:
Am 9. Oktober 1992 beschloss der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 781 das Verbot militärischer Flüge über Bosnien-Herzegowina. Am 16. Oktober 1992 begann die Operation Sky Monitor der NATO, die die Einhaltung des Flugverbots kontrollierte. Sie wurde am 12. April 1993 von der erweiterten NATO-Operation Deny Flight abgelöst.
Stationierung einer UN-Friedensmission:
Mit der Resolution 743 des UN-Sicherheitsrates vom 21. Februar 1992 beschloss der Sicherheitsrat die Entsendung einer Friedensmission zur Überwachung des Waffenstillstands und zur Unterstützung einer Friedenslösung in der Region. Die United Nations Protection Force (UNPROFOR), deren Mandat von März 1992 bis Dezember 2005 dauerte, umfasste bis zu 32.480 Militärs, 684 Militärbeobachter, 803 Polizisten, 2.017 zivile Berater sowie 2.615 Ortsansässige.
Präventive Stationierung:
Um ein Überschwappen des bewaffneten Konflikts vom Kosovo auf die seit 1991 unabhängige Republik Mazedonien zu verhindern, entschied der damalige US-Präsident Bill Clinton im Sommer 1993 die Stationierung von 330 US-Soldaten in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik (Carpenter 1994). Wie ein "Stolperdraht" sollten sie die jugoslawische Armee davon abhalten, die mazedonische Grenze zu überschreiten.
Einrichtung von Schutzzonen:
Im Zuge der Umsetzung der Resolution 743 wurden ab Frühjahr 1992 mehrere Schutzzonen in Ost- und Westslawonien und in der Krajina geschaffen. Aus diesen Gebieten sollte sich die jugoslawische Armee zurückziehen, paramilitärische Truppen sollten entwaffnet werden und UN-Blauhelme die Zivilbevölkerung schützen. Mit der Resolution 824 vom 7. Mai 1993 wurden weitere "safe areas" in Bosnien-Herzegowina beschlossen.
Friedenerzwingende militärische Intervention:
Nachdem im März 1999 die Verhandlungen in Rambouillet über die Beendigung des Kosovo-Krieges gescheitert waren, bombardierten NATO-Kampfflugzeuge im Rahmen der Operation Allied Force Stellungen der serbischen Armee. Die massiven Bombardements, hauptsächlich durch Kräfte der US-Airforce, erzwangen den Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte aus dem Kosovo. Das war der erste Einsatz von NATO-Truppen, der ohne direkten Bündnisfall und ohne ausdrückliches UNO-Mandat durchgeführt wurde.
Unterstützung der Staats- und Nationenbildung:
Auf der Grundlage der Resolution 1244 des Sicherheitsrats vom 10. Juni 1999 wurde im Kosovo eine zivile Verwaltung der UNO eingerichtet (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo – UNMIK). Die militärische Absicherung übernahm die NATO-geführte KFOR (Haynes 2001: 91 ff.). Der UN-Verwaltung und der KFOR-Mission kamen eine neuartige Rolle im Sinne des State-Buildings zu. Sie war einer der ersten Missionen, die nicht nur den Frieden sichern, sondern auch zur Errichtung eines funktionierenden Staates beitragen sollte. Dazu gehörte u.a. die Überwachung humanitärer Projekte, die Demokratieförderung und die Begleitung von Ausbildungsmaßnahmen im öffentlichen Sektor.
Nach Afghanistan: Antworten auf neue Gegebenheiten
Verlauf und Scheitern des Einsatzes in Afghanistan belegen, wie wichtig die Einhaltung menschen- und völkerrechtlicher Normen mit Blick auf den Einsatz militärischer Mittel zur Beilegung innerstaatlicher Konflikte ist. Dass die Standards und Regeln künftig strikter eingehalten werden, ist angesichts der zunehmenden Autoritätsverlustes internationaler Institutionen und der Fragmentierung der internationalen Ordnung jedoch keineswegs selbstverständlich.
Bei externen militärischen Interventionen in innerstaatliche Konflikte geht es immer weniger um die Unterstützung einer stabilen Friedenslösung. Stattdessen rücken die Macht- und Gewinninteressen nationaler Eliten sowie regionaler und globaler Mächte in den Vordergrund. Insbesondere Russland und China unterstützen autoritäre Regierungen und andere Konfliktparteien in Krisen- und Konfliktländern, um diese an sich zu binden. Dafür werden sogar humanitäre Hilfsleistungen instrumentalisiert (Wieland 2021: 33 ff.).
Zu beobachten ist eine schleichende Veränderung der Geschäftsgrundlage der internationalen Politik – von der Stärke des Rechts zum Recht des Stärkeren. In der Folge werden innerstaatliche Konflikte wieder zunehmend zu Schauplätzen von Stellvertreterkriegen rivalisierender Regional- und Weltmächte. Das humanitäre Völkerrecht bleibt dabei auf der Strecke. Gleichzeitig werden wegen der Blockade des UN-Sicherheitsrats multilaterale Friedenseinsätze zunehmend unwahrscheinlicher. Wie diese Entwicklungen eingedämmt werden können, ist bislang völlig offen.
Entsendung militärischer Beobachter und Kontrolleure/Monitore Verhängung von Waffenembargos Absicherung und Erzwingung von Sanktionen Androhung militärischer Gewalt Einrichtung von Verbotszonen für militärische Bewegungen (z.B. von Kriegsschiffen und Militärflugzeugen) präventive Stationierung Absicherung und Schutz humanitärer Operationen militärische Evakuierung der eigenen Staatsbürger und weiterer gefährdeter Personen aus dem Konfliktland Stationierung von Interdispositionsstreitkräften Einrichtung von Schutzzonen Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen gewaltsame Trennung von bewaffneten/ kriegerischen Konfliktparteien Übernahme von Polizeiaufgaben/ Wiederherstellung von Recht und Ordnung Räumung von Minen und anderen Sprengmitteln Überwachung der Einhaltung von Feuerpausen und Waffenstillständen Überwachung und Unterstützung der Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kombattanten Absicherung von Übergangsprozessen und Wahlen Unterstützung des Nation- und Statebuilding
Quelle: https://www.bundesheer.at/pdf_pool/publikationen/ihmf_26011_lampl.pdf
Quellen / Literatur
Baczko, Adam/ Dorronsorro, Gilles (2021): Taliban – der unbekannte Feind, in: Le Monde diplomatique, 9/2021, S. 6-7.
Bell, Arvid/ Friesendorf, Cornelius (2014): Ziel verfehlt. Die Mitverantwortung der NATO für zivile Opfer in Afghanistan. HSFK-Standpunkt 6/2014, Frankfurt/M.: Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. Externer Link: https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_downloads/standpunkt0614.pdf.
Carpenter, Ted Galen (1994): U.S.-Troops in Macedonia: Backdoor to war? Foreign Policy, März 1994. Externer Link: https://www.bits.de/public/documents/mazedonien/fpb-030.html.
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Grimm, Sonja (2015): Militärische Intervention, in: Kollmorgen, Raj/ Merkel, Wolfgang Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch Transformationsforschung, S. 624-633, Wiesbaden: Springer VS. Externer Link: https://www.researchgate.net/publication/283209879_Militarische_Intervention
Haynes, Lukas (2001): Die humanitäre Dimension der Kosovo-Krise: Wie effektiv reagierte die Völkergemeinschaft? In: Kosovo: Humanitäre Intervention und kooperative Sicherheit in Europa, Wiesbaden.
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Seybolt, Taylor B. (2008): Humanitarian Military Intervention. The Conditions for Success and Failure, Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Externer Link: https://www.sipri.org/sites/default/files/2018-10/sipri08seybolt.pdf
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Links
Deutsche Welle: Berichte und Reportagen zu Afghanistan. Externer Link: https://www.dw.com/search/de?searchNavigationId=9077&languageCode=de&origin=gN&item=Afghanistan
Dokumentation und Übersicht zu international anerkannten Einsätzen und Friedensmissionen lassen sich auf der Seite Zentrums für Internationale Friedenseinsätze. Externer Link: https://www.missionsandmandates.org/
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Costs of War Project der Brown-University Maryland, August 2021, Externer Link: https://watson.brown.edu/costsofwar/figures/2021/human-and-budgetary-costs-date-us-war-afghanistan-2001-2022.
Nach Recherchen der US-amerikanischen NGO Airwars sind von 2001 bis 2021 zwischen 4.800 und 6.800 Zivilisten allein durch amerikanische Luft- und Drohnenangriffe ums Leben gekommen, Externer Link: https://docs.google.com/spreadsheets/d/1wX5x-Cb0HQS_EwZ24iDjWKcMZHiaM8wJ6PU0YPd3EQg/edit#gid=542451357.
Geht den Taliban das Geld aus? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.08.2021, Externer Link: https://www.faz.net/aktuell/finanzen/afghanistan-geht-den-taliban-das-geld-aus-17491821.html.
Externer Link: https://www.dw.com/de/die-not-der-afghanischen-fl%C3%BCchtlinge/a-59485172
Auf jeden gefallenen US-Soldaten kommen vier Suizide: Warum gerade Afghanistan- und Irak-Veteranen an psychischen Erkrankungen leiden, Neuer Zürcher Zeitung, 14.09.2021, Externer Link: https://www.nzz.ch/wissenschaft/nach-20-jahren-kampf-gegen-terror-leiden-tausende-veteranen-an-den-folgen-des-krieges-ld.1644469?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE.
Vgl. Charta der Vereinten Nationen, Kap. VII, abgerufen am 30.10.2012, Externer Link: https://unric.org/de/charta/#kapitel7
The Responsibility to Protect, ICISS, Ottawa 2001, Externer Link: https://web.archive.org/web/20160109160225/http://www.responsibilitytoprotect.org/ICISS%20Report.pdf.
Lateinisch: zwingendes Recht
Vgl. Bericht des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon vom Januar 2009: Externer Link: https://www.un.org/ruleoflaw/files/SG_reportA_63_677_en.pdf.
Externer Link: https://digitallibrary.un.org/record/126827
Externer Link: https://digitallibrary.un.org/record/151454
SR-Resolution 816 vom 31.03.1993, Externer Link: https://digitallibrary.un.org/record/164634
UN-Doc, Resolution 743, 21.02.1992, Externer Link: http://unscr.com/en/resolutions/743.
Externer Link: https://peacekeeping.un.org/mission/past/unprof_b.htm
Zu den Grenzen und Verfehlungen des UN-Engagements siehe z.B.: Vor 25 Jahren: UN-Sicherheitsrat beschließt Friedensmission UNPROFOR für Kroatien und Bosnien-Herzegowina, in: bpb – Hintergrund aktuell, 20.02.2017, Interner Link: https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/242979/1992-unprofor-mission.
Externer Link: https://www.un.org/depts/german/sr/sr_99/sr1244.pdf
Externer Link: https://jfcnaples.nato.int/kfor
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-21T00:00:00 | 2022-02-21T00:00:00 | 2022-02-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/504950/militaerische-interventionen-als-mittel-zur-eindaemmung-und-bearbeitung-innerstaatlicher-konflikte/ | Das Scheitern des Einsatzes in Afghanistan hat mit neuer Dringlichkeit gezeigt, dass die Anwendung militärischer Mittel mit hohen Kosten und Risiken verbunden ist. Nicht nur deshalb sollten bei militärischen Interventionen in innerstaatliche Konflikt | [
"Innerstaatliche Konflikte",
"Militärische Interventionen",
"militärische Intervention",
"internationale Konflikte"
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Das alte China | China | bpb.de |
Darstellung eines bewachten Tors aus dem 9. Jh. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)
Als kulturelle Keimzelle Chinas wird traditionell das Lößgebiet am Unterlauf des Huanghe betrachtet. Diese Deutung ist jedoch heute nicht mehr haltbar. Archäologische Funde aus vermeintlich peripheren Regionen belegen nämlich, dass in weiten Teilen des Landes höchst eigenständige Traditionen gepflegt wurden, deren materielle und geistige Impulse langfristig ebenfalls zur Herausbildung jener Charakteristika beitrugen, die wir heute mit dem Land und seinen Bewohnern verbinden.
Allerdings reicht die Verwendung von Schrift nur in Zentralchina bis in das zweite Jahrtausend v. Chr. zurück. Zunächst exklusiv für rituelle Zwecke genutzt, bildete sie später die Voraussetzung für die dort entstehende Historiografie, die für die Könige der aufeinanderfolgenden Herrscherhäuser Xia, Shang und Zhou eine kontinuierliche Legitimationskette schuf. Zudem vermittelte die Geschichtsschreibung das Bild einer kulturellen Überlegenheit, der die benachbarten "Barbaren" nichts entgegenzusetzen hatten.
Kampf um die Vorherrschaft
Immerhin sorgten die vermeintlich unzivilisierten Horden jedoch 771 v. Chr. dafür, dass die Zhou-Hauptstadt nach Osten verlegt werden musste. Damit verlor die Dynastie den größten Teil ihrer Kronlande und damit das Fundament ihrer politischen Macht. Die Folge war eine durch die Etikette nur notdürftig vertuschte Zersplitterung Chinas in zahlreiche aus den einstigen Lehensterritorien hervorgegangene Einzelstaaten, zu denen sich an der Peripherie eine Reihe neu formierter Fürstentümer gesellte. Das anschließende Wechselspiel zwischen Krieg und Frieden, Annexion und Allianz endete mit einem Sieg des Herrscherhauses von Qin, dessen Oberhaupt die Konkurrenten um die Hegemonie nacheinander besiegte und die von ihnen regierten Staaten 221 v. Chr. zu einem Imperium einte, dem es den Namen seiner Herkunftsregion gab.
Die Reichseinigung
Um seinen umfassenden Machtanspruch zu unterstreichen, nahm der Reichsgründer den neugeschaffenen Titel Kaiser (huangdi: "Göttlich Erhabener") an. Zudem begab er sich zwei Jahre später auf eine Inspektionstour in die eroberten Gebiete, bei der er mehrere Berge bestieg und Steinstelen errichten ließ, die den Anbruch eines neuen Zeitalters verkündeten:
Tonfigur eines Beamten aus dem 7. Jh. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)
"Als der Kaiser sein Amt antrat, erließ er Vorschriften und Gesetze, und die Beamten erhielten ihre Insignien und Befehle. Im 26. Jahr [seiner Herrschaft über das ursprüngliche Territorium von Qin] einte er [die Gebiete] unter dem Himmel, und alle erwiesen ihm Respekt und Gehorsam. [...] Seine brillanten Vorgaben [setzen den Maßstab für] kommende Generationen, welche diese gehorsam und unverändert zu übernehmen haben. Der Kaiser, ein wahrer Weiser, hat seine Regierungspflichten nie vernachlässigt, seit er [die Gebiete] unter dem Himmel einte. [...] Seine Weisungen erreichen jeden, so daß Nah und Fern gleichermaßen wohlgeordnet sind."
Qin Shihuangdi (dem "Ersten Kaiser der Qin") verblieb nur ein gutes Jahrzehnt, um seine Vorstellungen vom Einheitsstaat umzusetzen. Viele Reformen kamen daher über den Ansatz kaum hinaus. Obgleich die Dynastie schon kurz nach seinem Tod zusammenbrach, war es ihm aber gelungen, politische Grundlagen zu hinterlassen, von denen sich – entgegen der offiziellen Sprachregelung – auch das Herrscherhaus der Han nicht lösen konnte, das in den folgenden vier Jahrhunderten die Geschicke des Landes bestimmen sollte.
Fremdherrschaft
Einen ähnlich bedeutsamen Einschnitt in die Geschichte stellt die Eroberung durch die Mongolen dar, in deren Verlauf erstmals das gesamte Land unter die Herrschaft von Fremden gelangte. Die damit markierte Zäsur wurde nicht zuletzt durch die Namenswahl der ab 1280 regierenden Dynastie Yuan ("Anfang") unterstrichen. Ihr Begründer, Kublai Khan, hatte allerdings schon zwei Jahrzehnte zuvor den Willen bekundet, eine neue Ära einzuleiten:
"Einst eroberten unsere Ahnen durch Überlegenheit und Tapferkeit die Welt. Zwar regierten sie mit Aufrichtigkeit und Tugend über ihre Untertanen, doch fanden sie zunächst keine Muße für eine verfeinerte Kultur. Im Zuge der politischen Veränderungen sind nunmehr freilich geregelte Beziehungen entstanden, so daß wir nicht nur die Tradition fortführen, sondern auch neue Pläne vorantreiben können. [...] Daher werden unsere erhabenen Ziele in hellem Glanz erstrahlen und sich die Segnungen einer geordneten Regierung entsprechend manifestieren. Es wird eine neue Ära anbrechen."
Dieses Edikt wurde – das zeigt schon die Rhetorik – von chinesischen Beratern entworfen, und die darin enthaltenen Versprechungen ließen sich nur sehr bedingt einhalten. Auch lässt sich trefflich darüber streiten, welcher Aspekt in der Folgezeit stärker zum Tragen kam: die Einverleibung in das mongolische Weltreich oder die Sinisierung der Fremdherrscher? Somit brachte das Ende der Song-Dynastie im Jahre 1279 zwar keinen völligen Bruch mit der Tradition, aber doch einen wichtigen Wendepunkt, der von einer ganzen Reihe von Historikern zur Epochenabgrenzung herangezogen wurde. Im Übrigen kam es auch erst danach zur ersten direkten Begegnung mit Europäern, von denen manche – wie Marco Polo (1251-1324) – ihre Reiseeindrücke einer erstaunten Öffentlichkeit präsentierten. Die mit fantastischen Elementen angereicherte Kunde von einem Riesenreich im fernen Osten fand freilich nur begrenzte Resonanz, und erst den christlichen Missionaren, die unter den Dynastien Ming und Qing in China wirkten, sollte es gelingen, ein ernsthaftes Interesse an dem Land zu wecken. Epochen des Niedergangs
Zwischen Gründung des Imperiums und der erfolgreichen Revolution von 1911 lagen mehr als 2.300 Jahre, in denen nicht nur Giganten an der Macht waren. Ein Großteil dieser Zeit ist durch die Aufsplitterung in kleinere Staatswesen gekennzeichnet. Kurzlebige Dynastien lösten einander oft in rascher Folge ab, und die "Einheit unter dem Himmel" geriet zur Fiktion. Auch die von den Historiografen postulierte Kontinuität hatte nur begrenzten Realitätsbezug. Das gilt sogar für die mehrere Jahrhunderte währenden Dynastien Han, Tang und Song, deren Endphasen durch einen rapiden Autoritätsverlust gekennzeichnet waren. Aber nicht nur das. Sowohl die Han- als auch die Tang-Zeit wurden zudem durch ein Interregnum unterbrochen: durch die Dynastie Xin des reformorientierten Usurpators Wang Mang und die Dynastie Zhou der Wu Zetian, der einzigen Kaiserin in der chinesischen Geschichte. Beiden Regenten entzogen die Chronisten jedoch im Nachhinein ebenso die Legitimation wie manchem fremdstämmigen Herrscherhaus.
Vergoldeter Bronzeleuchter in Gestalt einer Dienerin aus dem 2. Jh. v. Chr. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)
Der Sohn des Himmels
Zwar wurde die politische Ordnung gerne als Abbild der patrilinearen Verwandtschaftsstruktur betrachtet, doch galt dies nur mit einer wichtigen Einschränkung: Der Kaiser war von seinen Untertanen weitaus deutlicher abgehoben als das Familienoberhaupt von seinen Angehörigen. Schließlich verstand er sich nicht nur als Gebieter über das Reich, sondern auch als Mittler zwischen Menschheit und Kosmos. Allerdings konnten insbesondere Naturkatastrophen, unglückverheißende Vorzeichen, Aufstände und das Ausbleiben von Tribut anzeigen, dass der Kaiser sein Mandat verwirkt hatte. Schließlich oblag ihm, die Harmonie zwischen der Menschheit und dem Kosmos aufrechtzuerhalten: ein Auftrag, den der Himmel ihm – und seiner Dynastie – jederzeit wieder entziehen konnte:
"Von oben empfängt der Herrscher demütig den Willen des Himmels und leistet den Weisungen Folge. Nach unten hin leitet er das Volk an, [bewirkt] dessen Wandel und führt es in seinem Wesen zur Vervollkommnung. [...] Naturkatastrophen sind Vorhaltungen des Himmels, [unglückverheißende] Vorzeichen Ausdruck seiner Macht. [...] Nur [wenn es] Verfehlungen im Reich zu ahnden [gilt], veranlaßt der Himmel Heimsuchungen."
Zumindest die Kaiser der Han-Zeit verstanden sich nicht nur als symbolische Vermittler zwischen den Sphären, sondern auch als höchste religiöse Instanz. Nur sie waren berechtigt, die Riten zur Verehrung des Himmels zu vollziehen, und als Priester standen sie den Opferhandlungen vor, die der Erde, den Bergen und Flüssen sowie verschiedenen Gottheiten dargebracht wurden. Darüber hinaus gehörte zu ihren Aufgaben die Kommunikation mit den Ahnen, deren Meinung sie durch die Befragung des Orakels einholten.
Schließlich waren die Herrscher auch Oberbefehlshaber über die Truppen und höchste Richter; ihr Urteil war, so unangemessen es auch sein mochte, unumstößlich. Im Prinzip kannte ihre Autorität keine Grenzen. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Zumindest nominell beanspruchten sie, gegebenenfalls ohne Rücksicht auf staatliche Demarkationslinien, die Unterordnung aller zivilisierten Menschen; durch die Kontrolle des Kalenders vermittelten sie zudem den Eindruck, über die Zeit zu gebieten.
Die Untertanen
So wollte es zumindest die Staatsdoktrin, welche überdies die Bevölkerung – genauso apodiktisch – in vier Schichten untergliederte (von oben nach unten): Gelehrte, Bauern, Handwerker und Kaufleute. Erdacht wurde dieses Gesellschaftsmodell offenkundig von den Angehörigen der Bildungselite, die sich von Zeit zu Zeit genötigt sahen, ihre eigene Stellung in den Vordergrund zu rücken. In Wirklichkeit waren die gesellschaftlichen Trennlinien hingegen selten so scharf, und Beamte, Offiziere, Großgrundbesitzer und Unternehmer bildeten oft genug Allianzen. Noch einflussreicher waren in manchen Epochen jedoch die Eunuchen und die affinalen Verwandten des Kaisers. Die Privilegierten bildeten aber nur eine winzige Minderheit. Das zeigt zum Beispiel schon die Tatsache, dass die Zahl der Beamten stets weit unter einem Prozent der Gesamtbevölkerung lag. Umgekehrt war das Heer der Analphabeten riesig.
Die ältesten demografischen Daten, denen ein Mindestmaß an Zuverlässigkeit beigemessen wird, gehen auf das Jahr Zwei zurück, als man etwas weniger als 60 Millionen Einwohner zählte. Für die folgenden Jahrhunderte zeigen die Statistiken dann einen deutlichen Schwund an, doch ist nicht immer klar, ob dies auf einen tatsächlichen Rückgang oder unzulängliche Erhebungen zurückzuführen ist. Ein massiver Anstieg lässt sich erst von den Melderegistern des 11. Jahrhunderts ableiten, und der größte Bevölkerungsschub ist für das 18. und 19. Jahrhundert belegt, als die Einwohnerzahl die 400-Millionen-Grenze überschritt. Auch die Schätzungen der Stadtbevölkerung sind nicht frei von Unwägbarkeiten, doch kann man wohl davon ausgehen, dass in Xi'an, Kaifeng und Hangzhou, wo vom 7. bis zum 13. Jahrhundert die Kaiser residierten, jeweils bereits über eine Million Menschen lebte: also weit mehr als in jeder europäischen Metropole.
Dynastienübersicht
Xia 21. Jh.-16. Jh. v. Chr. Shang 16. Jh.-11. Jh. v. Chr. Zhou Westliche Zhou 11. Jh. -771 v. Chr. Östliche Zhou 771-221 v. Chr. Qin 221-207 v. Chr. Han Frühere Han 207 v. Chr. -9 n. Chr. 9-23 Interregnum des Wang Mang: Xin Spätere Han 24-220 Drei Reiche Wei 220-265 Shu 221-263 Wu 222-280 Jin Frühere Jin 265-316 304-433 Verschiedene Fremddynastien im Norden Spätere Jin 317-420 Südliche und nördliche Dynastien Südliche Dynastien: Song 420-479 Qi 479-502 Liang 502-557 Chen 557-589 Nördliche Dynastien: Nördliche Wei 386-534 Östliche Wei 534-550 Westliche Wei 535-557 Nördliche Qi 550-577 Nördliche Zhou 557-580 Sui 581-618 Tang 618-907 690-705 Interregnum der Wu Zetian: Zhou Fünf Dynastien Spätere Liang 907-923 904-979 Zehn Reiche im Süden Spätere Tang 923-936 Spätere Jin 936-947 Spätere Han 947-950 Spätere Zhou 950-960 Song Nördliche Song 960-1127 Südliche Song 1127-1279 Yuan (Mongolen) Ming 1368-1644 Qing (Mandschuren) 1644-1911
Darstellung eines bewachten Tors aus dem 9. Jh. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)
Tonfigur eines Beamten aus dem 7. Jh. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)
Vergoldeter Bronzeleuchter in Gestalt einer Dienerin aus dem 2. Jh. v. Chr. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)
| Article | Thomas O. Höllmann | 2022-01-21T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2022-01-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/asien/china/44248/das-alte-china/ | Die Wurzeln der chinesischen Geschichte reichen 5.000 Jahre zurück. Im Laufe dieser Zeit bildeten sich Dynastien, die durch ein Wechselspiel von Krieg und Frieden, Annexion und Allianz geprägt waren. | [
"China",
"altes China",
"Kulturgeschichte",
"Altertum"
] | 232 |
Workshop 4: Konfessionelle /religiöse Aspekte der Integration: Ein Gespräch mit Vertretern katholischer, evangelischer, freikirchlicher, russisch-orthodoxer und jüdischer Gemeinden | Aussiedlung – Beheimatung – Politische Teilhabe | bpb.de | Panelteilnehmer*Innen
Josef Messmer, Referent der Diözese Augsburg im Fachbereich Spätaussiedlerseelsorge Edgar Born, Aussiedlerbeauftragter der Evangelischen Landeskirche, Schwerte Johannes Dyck, Institut für Theologie und Geschichte, Bibelseminar Bonn Alex Bondarenko, M.A. Sozialökomon, Leiter des Jüdischen Studentenverbandes Nordrhein
Moderation: Dr. Sabine Arnold, SinN-Stiftung des Evang.-Luth. Dekanats, Nürnberg Workshop IV, der von Dr. Sabine Arnold (SinN-Stiftung Nürnberg) moderiert wurde, zählte rund 20 Besucher/-innen und widmete sich insbesondere den vergleichbaren bzw. differenten Erfahrungen, die integrative Einrichtungen aus den o.g. Religionsgemeinschaften bei der Aufnahme, Betreuung/Integration und Mobilisierung (Empowerment) jeweiliger russischsprachiger Migranten(ziel-)gruppen bisher gemacht haben. Für die Freikirchen/Mennoniten nahm an diesem Workshop Johannes Dyck (Bonn) teil, für die katholische Kirche Josef Messmer (Augsburg), für die Evangelische Kirche Edgar Born (Schwerte) und für die jüdische Gemeinschaft Alex Bondarenko (Düsseldorf). Ein Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche in Deutschland konnte leider nicht gewonnen werden. Die Besucher des Workshops bildeten ebenfalls eine äußerst heterogene Gruppe, darunter Wissenschaftler/-innen, Mitarbeiter/-innen von integrativen Einrichtungen der Kirchen und der jüdischen Gemeinschaft, Vertreter von Stiftungsinitiativen, Museum Detmold, BpP und Bundesinnenministerium. Auch ein muslimischer Besucher hatte sich dem Workshop angeschlossen und diskutierte die aufgeworfenen Fragen mit.
Den Eingangsstatements aller vier Panelisten (Dyck, Messmer, Bondarenko und Born) war zu entnehmen, dass in den jeweils von ihnen geleiteten bzw. mit-betreuten Einrichtungen russischsprachige Migranten Anschluss gefunden haben, denen beides wichtig war: sowohl Impulse für ihren jeweiligen religiösen Glauben zu erhalten, wie auch ihre allgemeine Integration in die Gesellschaft (auch und gerade über die Religionsgemeinschaften) zu beschleunigen. Johannes Dyck und Josef Messmer konnten berichten, dass baptistische/mennonitische wie auch katholische Migranten aus der früheren Sowjetunion mit einer vergleichsweise starken religiösen Motivation nach Deutschland kamen (und daher auch relativ nahtlos an das lokale Gemeindeleben anschließen konnten, selbst in Bezug auf Liturgie, Gebet etc.), Edgar Born und Alex Bondarenko wussten hingegen zu berichten, dass viele der russischsprachigen Migranten mit protestantischem bzw. jüdischem Hintergrund sich zunächst erst ein Stück religiös (neu) orientieren mussten. Auch Sabine Arnold (Nürnberg) pflichtete bei, dass die (religiöse) Integration in den (evangelischen) Gemeinden anfänglich eher schwierig war und erst gemeinsame Strategien mit den Spätaussiedlern entwickelt werden mussten. Pfarrer Edgar Born, der seit 25 Jahren in der Arbeit mit Aussiedlern tätig ist, betonte, dass eine Kombination von religiösen Angeboten und auch ganz praktischer Unterstützung bei der Begleitung in die Aufnahmegesellschaft unverzichtbar war. "Wir haben mit den neu Angekommenen gemeinsam geschaut, wo sie ihren Glauben verankern wollen, was ihre Seelen bewegt, aber auch, wo Integration gleich in ganz praktische Formen gegossen werden konnte. Und wir haben, soweit das möglich war, unseren Aussiedlern auch Arbeit geben können – als Hausmeister, Krankenschwester oder auch Religionslehrer. Das hat das Vertrauen gestärkt, hat den Zusammenhalt gefördert, und die Leute wollten zusehends auch eigene Verantwortung übernehmen."
Am entschiedensten von allen vier Panelisten hat Edgar Born auch betont, dass Religion nicht nur ein wichtiger, stabilisierender Identitätsfaktor für die nach Deutschland gekommenen Aussiedler sein könnte, sondern auch eine Antriebsfeder für politisches Handeln. Dass Staat und Religion hierzulande getrennt aufgestellt seien, fände er sehr in Ordnung, doch gebe es durchaus auch Herausforderungen, bei denen Theologie, Religion und entschiedenes politisches Handeln durchaus eng zusammen gehören würden: "Wir haben die von uns angebotenen Bildungsprogramme für die neu Angekommenen oft damit kombiniert, dass wir in bestimmte Städte Ostdeutschlands gefahren sind, beispielsweise nach Weimar. Und dort haben wir dann die Plätze von Goethe und Schiller besucht, aber auch das NS-Konzentrationslager auf dem Ettersberg. Die Menschen sollen, wenn sie in die neue Gesellschaft reinkommen, ja auch historische Narrative verstehen lernen. Sie sollen ein Gefühl dafür bekommen, wie vielfältig, aber auch gebrochen die deutsche Geschichte", so Edgar Born.
Alex Bondarenko, ein ausgebildeter Sozialökonom, der den Jüdischen Studentenverband Nordrhein leitet, auf Bundesebene aber auch verantwortliche Aufgaben im Sportverband "Maccabi" wahrnimmt, erläuterte u.a. Besonderheiten, die sich bei der Aufnahme und Integration von russischsprachigen jüdischen Zuwanderern aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion ergeben haben. Viele von ihnen hätten sich ihr religiöses Judentum erst wieder ein Stück erschließen müssen. Gleichzeitig habe sich in den vergangenen 25 Jahren aber wieder eine erstaunliche Vielfalt im jüdischen Gemeinschaftsleben in Deutschland ergeben, die von orthodox über konservativ bis liberal reiche. Diese Vielfalt wird durchaus als Stärke empfunden. Alex Bondarenko räumte ein, dass die unerwartet schwierige Integration vieler hochqualifizierter russischsprachiger Juden der ersten Generation (noch ausgebildet in der UdSSR) am deutschen Arbeitsmarkt viel Frustration erzeugt habe, auch die Gemeinden hätten das zu spüren bekommen. Er selbst, Jahrgang 1981, bezeichnete sich als Teil der so genannten 1.5-Generation (auch: "die Mitgenommenen"). Junge Juden und Jüdinnen der zweiten Generation, die bereits in Deutschland aufgewachsen seien, hätten aber so gut wie keine Probleme im Umfeld und würden sich hier bereits richtig "zu Hause, d.h. beheimatet" fühlen.
Johannes Dyck, der das Institut für Theologie und Geschichte beim Bibelseminar Bonn leitet, beschrieb seinerseits ausführlich die Anstrengungen der mennonitischen Brüdergemeinden, auch hier die zweite Generation zu erreichen. "Selbstverständlich weiß auch die zweite Generation um den Wert der religiösen Freiheit", so der langjährig tätige Theologe, "aber manchmal konstatieren wir gerade bei jungen Leuten auch eine 'gewisse konfessionelle Verschwommenheit'".
Josef Messmer betonte seinerseits, dass die religiösen Angebote in der Diözese Augsburg auch für Zuwanderer offen seien, die einer anderen Konfession oder gar Religion angehören würden: "Bewährt hat sich beispielsweise ein Grundkurs 'Einführung in die Religion unter besonderer Beachtung christlicher Traditionen' – und die Resonanz darauf ist allgemein sehr gut."
Moderatorin Sabine Arnold war es im zweiten Teil des Workshops wichtig, gemeinsam mit den Panelisten und dem Publikum zusammenzutragen, welche Strategien und Potentiale bedeutsam seien, um auch in Zukunft eine erfolgreiche Integrationsarbeit zumindest mit einem Teil der russischsprachigen Menschen auch über die Religionsgemeinschaften in Deutschland realisieren zu können. Hier wurde unter anderem betont, dass es besonders wichtig sei, die Unterstützung für Ehrenamtliche und Multiplikatoren auszubauen, den interreligiösen Austausch voranzutreiben (u.a. mit Projektmodellen wie dem "Café Abraham", das es mittlerweile in verschiedenen Städten – wie Berlin und Düsseldorf – gibt und bei dem christliche, jüdische und muslimische Student/-innen in lockerer Weise zu bestimmten Themen zusammenkommen), gemeinsam Solidarität für Flüchtlinge zu zeigen und die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Akademien (religiöser Bildungsträger) zu verbessern.
Am Ende der Diskussion meldeten sich noch einmal verstärkt Frauen und Männer aus dem Publikum zu Wort, die von solchen Bildungsträgern und Integrationseinrichtungen kamen, welche insbesondere mit Spätaussiedlern in den alten Bundesländern arbeiten. Dabei wurde den Spätaussiedlern, die Anschluss an religiöse Einrichtungen gefunden haben, eine hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement bescheinigt, zugleich aber darauf verwiesen, dass ein Teil von ihnen noch eine spürbare Scheu zeige, mit eigenen Projekten aktiv in die Öffentlichkeit zu gehen. Auch dies dürfte eine wichtige Herausforderung für die Zukunft sein. | Article | Dr. Olaf Glöckner | 2021-06-23T00:00:00 | 2017-04-25T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/inklusion-teilhabe/247085/workshop-4-konfessionelle-religioese-aspekte-der-integration-ein-gespraech-mit-vertretern-katholischer-evangelischer-freikirchlicher-russisch-orthodoxer-und-juedischer-gemeinden/ | Workshop IV, der von Dr. Sabine Arnold (SinN-Stiftung Nürnberg) moderiert wurde, zählte rund 20 Besucher/-innen und widmete sich insbesondere den vergleichbaren bzw. differenten Erfahrungen, die integrative Einrichtungen aus den o.g. Religionsgemeins | [
"Aussiedlung",
"Beheimatung",
"Politische Teilhabe"
] | 233 |
Erlaß zur Ergänzung des Erlasses über die Errichtung der Bundeszentrale für Heimatdienst vom 25. November 1952 | Geschichte der Bundeszentrale für politische Bildung | bpb.de | § 5 Abs. 1 des vorstehenden Erlasses wird für die Dauer der 2. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wie folgt ergänzt:
Der Stellenanteil der Fraktionen im Kuratorium wird nach dem Verfahren d'Hondt berechnet; des weiteren entsenden die hiernach nicht vertretenen Fraktionen des GB/BHE und der DP je ein Mitglied in das Kuratorium. Bonn, den 12. Januar 1954 - 1610 - 0 - B 21/54 Der Bundesminister des Innern Dr. Schröder 27.Februar 1963
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-09T00:00:00 | 2013-01-10T00:00:00 | 2021-12-09T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/geschichte-der-bpb/152789/erlass-zur-ergaenzung-des-erlasses-ueber-die-errichtung-der-bundeszentrale-fuer-heimatdienst-vom-25-november-1952/ | Erlass vom 12. Januar 1954 | [
"Erlass",
"Bundeszentrale für politische Bildung",
"Bundeszentrale für Heimatdienst"
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Abschlusspanel: Jun. Prof. Dr. Ulaş Aktaş, Kunstakademie Düsseldorf, im Gespräch mit Dr. Sabine Dengel (Bundeszentrale für politische Bildung/bpb ) | Fachtagung: "Streiten lernen. Wer streitet mit wem und wie?" | bpb.de | Im Abschlusspanel analysierte Ulaş Aktaş, Jun. Professor für Pädagogik an der Kunstakademie in Düsseldorf, das Tagungsthema "Streiten lernen" aus einer migrationspädagogischen Perspektive. Zu Beginn seines Vortrags vertrat Aktaş die auf Pierre Bourdieu zurückgehende These, dass das moderne demokratische Bildungssystem bestehende Ungleichheiten reproduziere. Das deutsche Bildungssystem bilde da keine Ausnahme. Zu beobachten seien sowohl Kompetenzunterschiede zwischen Schüler/-innen mit und ohne Migrationshintergrund, die soziokulturell bedingt seien, als auch die Tatsache, dass Jugendliche mit Migrationserfahrung seltener ein Studium beginnen. So würden in Hamburg 21,9 Prozent der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund Abitur machen, während es in Sachsen-Anhalt nur 1 Prozent sei. Aktaş‘ zufolge lasse das darauf schließen, dass ein struktureller Zusammenhang zwischen Migrationserfahrungen und sozialer Ungleichheit bestehe, der sich seit den 1970er Jahren beobachten ließe.
Problem der Reproduktion von kultureller Dominanz
In diesem Zusammenhang sprach Aktaş vom Problem der Reproduktion kultureller Dominanz, das er am Beispiel der Auseinandersetzung mit Gangsta-Rap rekonstruierte. Aktaş vertrat die These, dass durch die bürgerliche Kritik an sexistischen, rassistischen und diskrimi-nierenden Rap-Texten sich die kulturelle Mittelschichtsdominanz reproduziere.
Zwar sei es angemessen und notwendig, verletzende Rede in Rap-Texten zu kritisieren, allerdings versuchte Aktaş dafür zu sensibilisieren, aus welcher Position diese Kritik erfolge. Den Teilnehmenden entgegnete er: "Spiegelt sich in dieser Kritik nicht eine gewisse Überheblichkeit?" Schließlich sei es ziemlich einfach als weißer akademischer Mitteleuropäer migrantische kulturelle Identitätspraktiken als rassistisch, sexistisch etc. zu verurteilen.
Kulturelle Muster des Scheiterns
Aktaş griff in diesem Zusammenhang Spielhaus‘ These auf, dass in liberalen Demokratien viele migrantische Gruppen bisher gar nicht oder zu wenig eingeladen waren, über kulturelle Praktiken und Identitäten mit zu streiten und dass man daraus ein kulturelles Muster des Scheiterns schlussfolgern könne. Dazu gehöre beispielsweise das Stereotyp des sexistischen aggressiven Schülers mit meist muslimischem Migrationshintergrund, das Aktaş im Folgenden analysierte.
Diese Jugendlichen seien nicht marginalisiert, weil sie aggressiv seien. Vielmehr müsse ihr undiszipliniertes Verhalten in der Schule als Reaktion auf die strukturelle Ungleichheit und Ausgrenzung in der Gesellschaft verstanden werden. Es gehe darum, dieses oppositionelle Verhalten aus einer migrationspädagogischen Perspektive zu untersuchen. In liberalen Gesellschaften gebe es immer einen beträchtlichen Anteil von Abwesenden – also von sozialen Gruppen, deren Stimmen nicht gehört werde. Der äußerst geringe Anteil von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund an katholischen Grundschulen in NRW sei hier nur ein Beispiel. Angesichts dieser strukturellen Defizite stehe die Demokratiepädagogik Aktaş zufolge hier vor einer großen Herausforderung.
Pädagogische Verhältnisse sind Machtverhältnisse
Unter Bezugnahme auf Habermas‘ vieldiskutierte deliberative Demokratietheorie bekräftigte Aktaş, dass pädagogische Verhältnisse mehr bräuchten als nur Raum für freie Äußerungen, weil viele marginalisierte Jugendliche gar nicht über die angemessenen Worte verfügten, ihre Positionen klar vor Erwachsenen und Institutionen zu vertreten.
Wer sinnvoll Demokratiepädagogik betreiben wolle, müsse begreifen, dass pädagogische Verhältnisse Machtverhältnisse seien. Aktaş kritisierte, dass demokratische Institutionen wie die Schule eine Verselbständigung von ausgrenzenden Strukturen begünstigen. Solange Institutionen diesem Defizit nicht selbstkritisch begegnen, indem sie beispielsweise die Frage nach institutionellem Rassismus stellen, würden Schüler/-innen mit Migrationshintergrund ihr Scheitern nur vor dem Horizont des eigenen kulturellen Hintergrunds bewerten können. Damit einher gehe die Gefahr, dass die kulturellen Muster hinter diesem Scheitern aus dem pädagogischen Blick und damit aus der gesellschaftlichen Verantwortung gerieten. Im Gespräch mit Sabine Dengel und den Teilnehmenden bekräftigte Aktaş deshalb, dass es im demokratischen, pädagogischen Streiten nicht darum gehe solle, neue Sprechverbote und Tabus zu installieren. Konstruktiver sei es, die Perspektive, aus der ich oder mein Gegenüber spricht, transparent zu machen. Dabei nahm er einen Gedanken Dörings auf, indem er zeigte, dass man in einer Diskussion über das demokratische Streiten auch die Frage nach zweiten und dritten Interessen stellen müsse, die teilweise unbewusst durch Emotionen evoziert werden.
Mit Blick auf die Sprecherpositionen im demokratischen Streiten forderte ein Teilnehmer zum Abschluss der Fachtagung eine intensive interkulturelle Sensibilisierung in den Schulen: Das Bewusstsein für Differenz und den demokratischen Umgang mit ihr müsse man schließlich gesellschaftlich trainieren, damit ein Streiten, zu dem alle eingeladen sind, nachhaltig gelinge.
von Niko Gäb | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-08-28T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/295885/abschlusspanel-jun-prof-dr-ulas-aktas-kunstakademie-duesseldorf-im-gespraech-mit-dr-sabine-dengel-bundeszentrale-fuer-politische-bildung-bpb/ | Im Gespräch mit Sabine Dengel (bpb) und den Teilnehmenden kommentierte Ulaş Aktaş, Professor für Pädagogik, die Tagungsbeiträge und analysierte sie aus einer migrationspädagogischen Perspektive. | [
"Streiten lernen",
"Jun. Prof. Dr. Ulaş Aktaş",
"Dr. Sabine Dengel",
"Migrationspädagogie",
"Deutschland"
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Newsflash - mit verpixelten Plattencovern, verunsicherten Freifunkern und Verhandlungen zur Netzneutralität | Wer regiert das Netz? | bpb.de | Verpixelt: Google zensiert Albencover
Das waren noch Zeiten, als besorgte Väter die unsittlichen Seiten aus der Bravo wahlweise entfernten oder zusammenklebten, um die Sprösslinge wenigstens noch ein paar Jahre vor den nackten Tatsachen des Lebens zu bewahren. Google setzt da heute ganz andere Maßstäbe. Das Unternehmen aus Palo Alto, Kalifornien, forderte jüngst den englischen Musikblog ‚Drowned in Sound’ dazu auf, nicht ‚jugendfreie’ Plattencover zu verpixeln. Sollte der Blog der Forderung nicht nachkommen, sähe man sich gezwungen seine Werbung bei Google hauseigener Online-Werbeplattform 'Adwords' zu entfernen. Da der Blog seine Serverkosten mit den Gewinnen aus den bei Google geschalteten Werbeinhalten finanziert, sah man sich gezwungen der Forderung nachzukommen. Was dabei heraus kam, sieht ungefähr so aus:
Der Fall berührt gleich einige der grundlegenden Fragen rund um die oft sehr diffuse Rechtslage im Internet. Darf ein Unternehmen seine Vormachtsstellung so gnadenlos ausspielen? Gelten hier die Geschäftsbedingungen mehr, als beispielsweise das Recht auf künstlerische Freiheit? Aufgrund ihrer Abhängigkeit von Googles dominanter Reichweite sehen sich viele Anbieter gezwungen, sich den Vorgaben des Internetriesen zu beugen. Selbst wenn dabei Werte und Regeln, die außerhalb des Internets allgemeingütig sind, außer Kraft gesetzt werden.
Mehr zum Thema Governance und der Rolle großer Unternehmen in der Regulierung des Internets:
Interner Link: Jeanette Hofmann erklärt das 1x1 der Regulierung
Interner Link: Martin Rotert im Interview über die 'Internet-Governance' und was dahinter steckt
via Externer Link: heise.de
Mitgehangen, mitgefangen? Freifunker wehren sich gegen Störerhaftung.
Ralf Gerlich und Bianco Veigel vom Berliner Freifunk e.V., einem Verein für freie WLAN Netzwerke, haben vor den Amtsgerichten in Neukölln und Lichtenberg Klage erhoben. Die beiden wehren sich dagegen, dass die Freifunker als s.g. ‚Nebenbei-Provider’ vom Providerprivileg ausgeschlossen sind. Das Providerprivileg besagt u.a., dass man als Betreiber eines Funknetzes nicht für mutmaßliches, illegales Filesharing unbekannter Nutzer/-innen im Netzwerk belangt werden kann. So kann z.B. die Telekom nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn jemand über einen ihrer Hotspots illegale Inhalte bezieht, oder sich anderweitig im Netz strafbar macht. Da die Freifunker mit ihren kostenlosen, offenen Netzwerken in Berlin prinzipiell jedermann Zugang zum Internet gewähren, ist diese Regelung natürlich besonders wichtig für den Verein. Um nun ein für alle mal rechtlich festzuhalten, dass auch die Freifunker vom Externer Link: § 8 Abs. 1 des Telemediengesetzes geschützt sind, haben die beiden eine Klage eingereicht. Bisweilen ist in Deutschland ungeklärt, inwiefern eben auch ‚Nebenbei-Provider’ rechtlich vor der Störerhaftung geschützt sind.
via Externer Link: Netzpolitik.org
Mehr zu den Freifunkern gibt es Externer Link: hier und bald auch auf netzdebatte!
Was ist Netzneutralität und wenn ja, wieviele? BMWi richtet 5. Fachdialog zum Thema Netzneutralität aus
Ein Internet mit vielen verschiedenen Geschwindigkeiten. An der Netzneutralität scheiden sich nach wie vor die Geister. (CC, Campact)
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, kurz BMWi, hat zum fünften Mal Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zum gemeinsamen Gespräch über das Thema Netzneutralität eingeladen. Die Vertreter aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft haben darüber diskutiert, wie das Thema Netzneutralität nach dem Entschluss des EU-Parlaments im April in Deutschland verhandelt werden soll.
Dabei musste sich zunächst darauf geeinigt werden, was man denn überhaupt meint, wenn man von Netzneutralität spricht. Hier gehen die Meinungen unterschiedlicher Interessenvertreter stark auseinander, gleiches gilt für die umstrittenen Spezialdienste. Dass diese in der einen oder anderen Form erlaubt werden sollen, war Konsens. Nicht klar war, was als Spezialdienst gilt und was nicht.
Weiterhin diskutierte man darüber, warum es überhaupt sinnvoll ist eine Regelung wie die Netzneutralität auf europäischer Ebene zu regeln und was eine einheitliche Regulierung für den deutschen Markt bedeutet. Auch hier gingen die Meinungen und Vorstellungen der Akteure stark auseinander.
Audiomittschnitte zum Nachhören gibt es Externer Link: hier
Ein Internet mit vielen verschiedenen Geschwindigkeiten. An der Netzneutralität scheiden sich nach wie vor die Geister. (CC, Campact)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-07T00:00:00 | 2014-07-14T00:00:00 | 2022-02-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/188060/newsflash-mit-verpixelten-plattencovern-verunsicherten-freifunkern-und-verhandlungen-zur-netzneutralitaet/ | Der Newsflash: drei wichtige Meldungen aus der Netzwelt und Umgebung von der Netzdebatte-Redaktion zusammengefasst und erklärt. | [
"Google",
"Zensur",
"Netzneutralität",
"Internetregulierung"
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Der NPD-Verbots-Check | Presse | bpb.de | "Im Kampf gegen Rechtsextremismus ist mehr Bildungs- und Aufklärungsarbeit besser als ein NPD-Verbot“ oder „Die Parteienfreiheit darf nicht für verfassungsfeindliche Parteien gelten“. Zwei von insgesamt 12 Thesen, zu denen sich die Nutzer im neuen Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb positionieren müssen. Auf Interner Link: www.bpb.de/NPD-Verbot-Test steht zur Debatte: die NPD verbieten oder nicht.
Welche Gründe sprechen für, welche gegen ein Verbot der NPD? Mit dem interaktiven Meinungstest der Bundeszentrale für politische Bildung können sich auf Interner Link: www.bpb.de/NPD-Verbot-Test Internet-Nutzer einen direkten Überblick über die wichtigsten Argumente verschaffen, die bei der Debatte um ein NPD-Verbot eine Rolle spielen – und sich selbst eine Meinung bilden. Nach der Beantwortung der 12 Thesen wird dem Nutzer, ähnlich wie beim Wahl-O-Mat, angezeigt, wie stark die eigene Position mit der eines Befürworters oder Gegners übereinstimmt. Das Ergebnis kann – selbstverständlich anonym - gepostet werden und so entsteht eine – nichtrepräsentative – Übersicht über die Ergebnisse der bisherigen Nutzer.
Ergänzt wird der interaktive Test im Online-Dossier „Rechtsextremismus“ durch multimediale Informationsangebote des Themenschwerpunktes Interner Link: www.bpb.de/NPD-Verbot. Pro- und Contra-Texte, Video-Statements aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft oder O-Töne. Außerdem bieten ein interaktiver Webtalk und eine Bildergalerie Orientierung beim Themenkomplex NPD-Verbot und liefern Antworten für Fragen zu Parteienverboten im Allgemeinen.
„Der NPD-Verbots-Check versucht ein ernstes Thema mit den spielerischen Möglichkeiten des Web 2.0 für die politische Bildung und insbesondere für jüngere Nutzer aufzubereiten“, so Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Krüger wünscht sich eine „möglichst lebhafte Diskussion über das NPD-Verbot“. Nicht nur im Web.
Der NPD-Verbots-Test online: Interner Link: www.bpb.de/NPD-Verbot-Test
Interner Link: Pressemitteilung als PDF.
Wir freuen uns auf Ihr Kommen! Mit freundlichen Grüßen Daniel Kraft - Pressesprecher - Pressekontakt bpb:
Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel: +49 (0)228 99515-200 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2013-11-22T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/173324/der-npd-verbots-check/ | „Ein Parteiverbot nützt nichts. Wir brauchen mehr Bildungs- und Aufklärungsarbeit gegen Rechtsextremismus“ oder „Die Parteienfreiheit darf nicht für verfassungsfeindliche Parteien gelten“. | [
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100 Jahre Frauenalltag | AV-Medienkatalog | bpb.de | Produktion: Ideeratio Produktionen O. und G. von Slatow, Bundesrepublik Deutschland 1982 Format: 30 Min. - VHS-Video - farbig Stichworte: Bildung - Erziehung - Familie - Frauen - Geschichte FSK: 12 Jahre Kategorie: Fotofilm
Inhalt: Im historischen Museum der Stadt Frankfurt fand eine Ausstellung zum Thema "Frau in der Geschichte - vom Kaiserreich bis heute" statt. Von dieser Ausstellung wurde eine Multivisionsshow hergestellt, die hier als Video-Aufzeichnung vorliegt. Das Video gliedert sich in vier Zeitabschnitte: 1880 - 1918 Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1919 - 1933 Die Weimarer Republik 1933 - 1945 "Drittes Reich" und Zweiter Weltkrieg 1945 - heute Nachkriegszeit, Wiederaufbau, Bundesrepublik Deutschland. Die vier Abschnitte bilden den jeweiligen Rahmen für die thematische Gliederung. Diese umfaßt die Stellung der Frau im Beruf, in der Familie, in Erziehung und Bildung, in Liebe und Erotik und die Frauenbewegung. Das Video zeigt in dokumentarischer Form Entwicklungen und Tendenzen auf, wie sich der Alltag der Frau in den letzten 100 Jahren verändert hat und damit auch ihre Stellung im unmittelbaren sozialen Umfeld und in der Gesellschaft. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-10-17T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146416/100-jahre-frauenalltag/ | Im historischen Museum der Stadt Frankfurt fand eine Ausstellung zum Thema "Frau in der Geschichte - vom Kaiserreich bis heute" statt. Von dieser Ausstellung wurde eine Multivisionsshow hergestellt, die hier als Video-Aufzeichnung vorliegt. Das Video | [
"Bildung",
"Erziehung",
"Familie",
"Frauen",
"Geschichte"
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Filmästhetische Besonderheiten des Science-Fiction-Films | Klassiker sehen – Filme verstehen | bpb.de | Musik und Ton
Wie klingt die Zukunft? Gibt es Geräusche im Weltraum? Der Ton ist ein besonders wichtiges Element des Science-Fiction-Films. Dabei war die eigentliche Filmmusik in den meisten früheren Filmen wenig innovativ. Weitestgehend klassisch orchestriert, unterschied sie sich nicht von der anderer Genres wie Western oder Melodram. Das gilt selbst für 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM (1968), in dem Regisseur Stanley Kubrick klassische Walzermotive von Johann Strauss ("An der schönen blauen Donau") äußerst effektvoll einsetzte. Eine Ausnahme bildeten der komplett elektronische Score von ALARM IM WELTALL (1956) und einzelne Pionierleistungen. Seit seinem erstmaligen Einsatz in RAKETE MOND STARTET (1950) verkündet der unwirkliche Klang des Theremins selbst Science-Fiction-Laien die Präsenz von Außerirdischen.
Eine besondere Schwierigkeit des Tons ist die physikalisch unzweifelhafte Lautlosigkeit des Weltraums. Das Mondfahrtabenteuer ENDSTATION MOND (1950), um äußersten Realismus bemüht, behalf sich mit musikalischen Effekten, indem etwa das Zischen entweichender Luft durch einen Tusch markiert wird. In ALIEN (1979), der mit dem Claim "Im Weltall hört dich niemand schreien" beworben wurde, ist gerade der Kontrast von Geräuschen innerhalb des Raumschiffs und der totalen Stille des Weltalls besonders unheimlich. Meist jedoch werden die physikalischen Gegebenheiten ignoriert. Dröhnende Raumschiffgeräusche bilden ebenso wie das Zischen von Lichtschwertern und automatischen Türen oder das Fiepen von Computern akustische Konventionen des Science-Fiction-Films. Eine weitere ist das – aus subjektiver Perspektive erklärbare – Schnaufen des Astronauten im Raumanzug.
Das Ziel solcher Töne ist es, Vertrautheit herzustellen und allzu lange tonlose Passagen zu vermeiden. Die individuellen Ausdrucksformen von Robotern oder Außerirdischen sind besonders bemerkenswert. So wird für nichtmenschliche Akteure wie das Fellwesen Chewbacca in KRIEG DER STERNE oft eine Mischung aus Tierstimmen verwendet. Für den stolzen Bordcomputer HAL 9000 in 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM wurde nach langem Zögern eine besonders warme, menschliche Stimme ausgewählt – deren "Vertrautheit" allerdings besonders unheimlich wirkt. Eine die Spannung steigernde Verunsicherung des Publikums durch fremde Klänge lässt sich in den meisten neueren Filmen bemerken: In immer komplexeren "Sound Designs" verweben sich die Geräusche der Handlung mit meist elektronischer Musik zu einem ununterscheidbaren Klangteppich. Im Unterschied zur klassischen, die Handlung untermalenden (nicht-diegetischen) Filmmusik sind zahlreiche Geräusche zwar im Bild zu verorten (diegetisch), aber nicht erklärbar.
Special Effects
Kein anderes Genre hat die Entwicklung von Spezialeffekten so vorangetrieben wie Science-Fiction-Filme. Sie bringen visionäre Welten, Monster, Raumschiffe und Explosionen auf die große Leinwand. Ihr Ziel ist es, eine realistische Illusion zu schaffen und gleichzeitig zu verblüffen. Über besonders spektakuläre Spezialeffekte, auch im Deutschen oft mit dem englischen Begriff "Special Effects" bezeichnet, kann die Handlung ganz in den Hintergrund treten. Zu unterscheiden sind zunächst die klassischen Special Effects, die direkt am Drehort bei der Produktion erstellt werden, sowie die Visuellen Effekte/Visual Effects, die erst in der Postproduktion anfallen. In beiden Prozessen gibt es zudem unsichtbare und sichtbare Effekte. Unsichtbare Spezialeffekte wie Schnitt, Kostüme und Kulissen gehören zum filmischen Prozess jeden Genres und werden als Effekt gar nicht wahrgenommen. Gerade in der Science-Fiction sind sie jedoch besonders wichtig. So ist die riesige Wolkenkratzerstadt von METROPOLIS (1927) eine technische Meisterleistung, die auf Miniaturmodellen unterschiedlicher Größe beruht. Über komplexe Spiegelvorrichtungen ("Schüfftan-Verfahren", benannt nach dem Filmarchitekten Eugen Schüfftan) konnte die Kamera Kulissen und Darsteller/innen kombinieren. In Jack Arnolds Filmklassiker THE INCREDIBLE SHRINKING MAN (DIE UNGLAUBLICHE GESCHICHTE DES MR. C, USA 1957) wird umgekehrt verfahren: Für die Geschichte eines Mannes, der nach einer radioaktiven Strahlung schrumpft und im eigenen Haus langsam verschwindet, fertigte die Requisite riesige Möbel, Haushaltsgegenstände sowie eine übermannsgroße Mausefalle an. Zu den verdeckten Spezialeffekten gehören auch die unsichtbaren Seile, an denen Superhelden durch die Luft fliegen.
Tatsächlich ist die Unterscheidung schwierig, da sie stark von der Wahrnehmung des Publikums abhängt. Die per Stop-Motion-Technik, also Bild für Bild aufgenommenen Monsteranimationen von KING KONG (KING KONG UND DIE WEISSE FRAU, USA 1933, R: Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack) erkennt das heutige Publikum mühelos als Trick und zweifelt an der Glaubwürdigkeit. In jüngeren Animationsfilmen wie ANOMALISA (USA 2015, R: Charlie Kaufman) erzeugt dieselbe, aber fortentwickelte Technik jedoch erneut die perfekte Illusion.
Demselben Prozess sind auch die sichtbaren Special Effects und Visual Effects unterworfen, die die Aufmerksamkeit gewollt auf sich ziehen. Zu ihnen gehören größere Explosionen, das Beamen, Morphing und Raumschiffe – Dinge, von denen wir wissen, dass sie nicht existieren. Bereits beim Dreh von KAMPF DER WELTEN (1953) wurden für solche Effekte zwei Drittel des gesamten Budgets ausgegeben. Neue Maßstäbe setzte insbesondere 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM (1968) mit der Darstellung riesiger Raumschiffe, für die Regisseur Kubrick bis zu 20 Meter große Modelle anfertigen ließ. Innovativ war auch die berühmte Sternentor-Sequenz mit ihren psychedelischen Lichteffekten – von der Kamera durch ein geschlitztes schwarzes Papier (Slit-Screen-Technik) aufgenommen.
Vor allem solche sichtbaren Special Effects werden heute fast gänzlich von den Visual Effects in der Postproduktion übernommen, die früher nur eine geringe Rolle spielte. Grundlegend wurde hier der Siegeszug der digitalen Computeranimation, maßgeblich vorangetrieben durch die von George Lucas zur Produktion von KRIEG DER STERNE gegründete Firma ILM (Industrial Light & Magic). Für TERMINATOR 2: JUDGEMENT DAY (TERMINATOR 2 – TAG DER ABRECHNUNG, USA 1991, R: James Cameron) schuf sie die erste überzeugende Morphing-Sequenz der Filmgeschichte, in der der metallene Roboter T1000 willkürlich seine Gestalt ändert. Zum Durchbruch der Computer Generated Imagery (CGI) verhalf Steven Spielbergs Dinosaurier-Spektakel JURASSIC PARK (USA 1993), mitproduziert von ILM. Für die Darstellung der Dinosaurier wurden echte, gebaute animatronische Modelle und CGI kombiniert. Die Sensation: Der Unterschied war nicht mehr sichtbar.
Die geringe Unterscheidbarkeit wird von Kritikern und Kritikerinnen inzwischen durchaus auch bemängelt. Aus finanziellen Gründen wird etwa die seit den 1940er-Jahren gebräuchliche Blue- oder Green-Screen-Technik, bei der Darsteller/innen vor einer monochromen Leinwand gefilmt und nachträglich mit dem Rest des Films kombiniert werden, oft auch für ganz gewöhnliche Szenen verwendet. Damit schwinde der Wahrheitsanspruch des Kinos, im analogen Verfahren durch die fotografische Wiedergabe gewährleistet, insgesamt. Das Filmbild, so der seinerseits umstrittene Vorwurf, werde zur beliebigen Ansammlung von Pixeln.
Den Traum jedes Science-Fiction-Fans, die Herstellung einer komplett künstlichen Welt, erschuf James Cameron, zehn Jahre nach MATRIX, in AVATAR (AVATAR – AUFBRUCH NACH PANDORA, USA 2009). Der wundersame Dschungelplanet Pandora, bewohnt vom blauhäutigen Waldvolk der Na’vi, besteht ausschließlich aus Pixeln. Die Darsteller/innen sind durch das neuartige Motion-Capture-Verfahren, die digitale Aufnahme von Körper- und Gesichtsbewegungen, in glaubwürdige 3D-Charaktere verwandelt. Pandora ist bedroht von Menschen, die wie so oft in der Science-Fiction in die Natur eingreifen wollen. Doch der für das Genre typische Widerspruch von inhaltlicher Technikskepsis und der visuellen Überwältigung durch Technik wird problemlos aufgelöst – natürlich durch das Wunder der visuellen Effekte. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-25T00:00:00 | 2020-02-05T00:00:00 | 2022-02-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/304726/filmaesthetische-besonderheiten-des-science-fiction-films/ | Wie klingt die Zukunft? Auf diese Frage hat das Genre ganz unterschiedliche Antworten. Visuelle und Special Effekte genauso wie Sounddesign sind mit der Inszenierung einer Zukunftswelt verknüpft. | [
"Filmbildung",
"Klassiker sehen – Filme verstehen",
"Science Fiction",
"Keep watching the Skies!",
"Filmästhetische Besonderheiten des Science-Fiction-Films",
"Filmgeschichte"
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"Politische Bildung – notwendiger denn je" | Presse | bpb.de | Sehr geehrte Damen und Herren,
in seinem Song „Clint Eastwood“ spielt der Münchner Rapper Fatoni auf den Film „Gran Torino“ und die Hauptfigur Walt Kowalski an. Ein rassistischer alter Kautz, der sich mit einer Schrotflinte in der Hand auf seiner Veranda über eine Umwelt ärgert, die er weder versteht noch wirklich daran teilhaben kann. Genauso mürrisch beklagt Fatoni die Oberflächlichkeit der neuen Deutschrap-Szene und rappt also Zeilen wie diese: Ich hasse mich für diese Aussage, doch der momentane Zeitgeist „Versace, Versace, Versace“ ist gar nicht mal so geistreich. Sie reden nur noch von Klamotten, Klamotten, Klamotten, Klamotten, Klamotten und Drogen und Drogen und Drogen und dann gehen sie shoppen und shoppen und shoppen. Ich würde das so gerne fühlen, aber ich finde das alles so dumm." Und während Fatoni im Video in Anlehnung an die Kult-Sitcom „King of Queens“ Pakete an einige bekannte Gesichter der deutschen Rapszene ausliefert, wird klar, dass es mit bloßer Kritik dann doch nicht getan ist: Wie oft habe ich gedacht, es wird alles schlimmer. Doch dann sah ich ihn wieder, diesen Mann im Spiegel. Und mir fiel auf: Ich werde auch nicht jünger. Könnte ja vielleicht auch daran liegen.
Warum zeige ich Ihnen dieses Video? Was hat die Rapszene-Bewertung Fatonis mit politischer Bildung zu tun? Die Botschaft hinter dem Lied ist so einfach wie selbstverständlich: Es gilt, den eigenen Standpunkt und die eigenen Annahmen wie Erwartungshaltungen zu hinterfragen, um vorschnellen Beurteilungen und Einordnungen entgegenwirken zu können. Nur auf diesem Wege ist eine offene Haltung, Toleranz und Akzeptanz gegenüber anderen Meinungen und Herangehensweisen sowie gegenüber Veränderungen möglich – nur so können wir letztlich zu differenzierten Urteilen kommen. Und genau das lässt sich als eine der zentralen Kernbotschaften politischer Bildung geltend machen.
Für die politische Bildung ist es unabdingbar, die eigene Arbeit vor der Schablone gesellschaftlicher Zustände und Debatten zu betrachten. Drei gesellschaftliche Entwicklungen bestimmen derzeit auch die Belange unserer Profession: die Renaissance des Nationalen, die Durchdigitalisierung der Lebensbereiche und die Unterrepräsentation bestimmter Gruppen der Bevölkerung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Über Nationalismus und Populismus sowie die Digitalisierung wurde im Zusammenhang mit der politischen Bildung bereits ausführlich besprochen, und diese Themenkomplexe bleiben unsere zentralen Herausforderungen. In diesem Vortrag möchte ich mich aber auf den dritten Punkt konzentrieren, der zur Zeit vor allem unter der Chiffre „Identitätspolitik“ diskutiert wird. Die Soziologin Cornelia Koppetsch führt aus: „Aktuell beobachten wir einen generellen politischen Klimawandel. Nach zwei Jahrzehnten einer Konsenskultur der Mitte erleben wir heute das Gegenteil, nämlich eine Eskalation von ideologischen und politischen Auseinandersetzungen: links gegen rechts, der linke Rand gegen den linksliberalen Mainstream, Muslime gegen Juden, Inländer gegen Ausländer, Frauen gegen Männer, Männer gegen Frauen. Der Ton wird schärfer, und Identitätsprobleme sind virulent wie nie zuvor.“
Dabei scheint derzeit vor allem die Kritik an der Identitätspolitik immer lauter zu werden, die um die Probleme der Linken und ihre vermeintliche Verantwortung für den Erfolg der Neuen Rechte kreist. Der Hauptvorwurf: Identitätspolitik vertrete die Partikularinteressen von Minderheiten zulasten einer Allgemeinheit. Durch das kürzlich erschienene Buch „Identität“ des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama bekamen die Diskussionen nochmal Auftrieb. Neben Globalisierung, Digitalisierung und der zunehmenden Komplexität nennt Fukuyama vor allem den Aufstieg von „Identitätspolitik“ als Gefahr für die liberalen Demokratien. „Das Problem entsteht, wenn man Individuen in Identitätsgruppen zusammenfasst: die Frauen, die Schwarzen, die Transmenschen. Wenn sich linke Politik nur noch darauf verlegt, das Streben nach Würde für diese Gruppen durchzusetzen, gibt es andere, die sich vernachlässigt fühlen. Das gefährdet die Demokratie. […] Es geht darum, größere und integrativere nationale Identitäten zu definieren, die der faktischen Vielfalt liberal-demokratischer Rechnung tragen.“
Während Fukuyama ein staatsbürgerliches Kollektiv ins Zentrum rückt, ist es bei anderen die Klasse. So erhebt der Dramaturg Bernd Stegemann den Vorwurf, dass die Klassenfrage auch zu einer identitätspolitischen gemacht werden würde: „Von der identitätspolitischen Seite wird gesagt, dass die beiden Merkmale ‚Gender‘ und ‚Race‘ zentral wären für alle Formen von emanzipatorischer Politik. Der dritte Aspekt, die ‚Klasse‘, sei zu vernachlässigen, da sich dahinter in Wirklichkeit nur die Dominanz des weißen, heterosexuellen, patriarchalischen Arbeiters verberge.“
In den Diskussionen rund um Identitätspolitiken lassen sich zahlreiche Standpunkte wiederfinden, wobei die Auseinandersetzungen inzwischen sehr häufig mit vorschnellen Vorverurteilungen und teils dogmatischer Härte geführt werden, die zu selten Raum für Zwischentöne lassen und zu selten einzubeziehen scheinen, wer von welchem Standpunkt mit welcher Intention wie argumentiert.
Es macht selbstverständlich einen Unterschied, ob jemand Identitätspolitiken dahingehend kritisiert, dass „sie sich für den Horizont des ‚Gemeinsamen‘ nicht (mehr interessieren), sozioökonomische Ungleichheiten ausblenden und in immer kleineren Verästelungen Differenzen individualisieren […] oder ob sie willkommener Anlass sind, um emanzipatorische ‚Zumutungen‘ in toto diskreditieren zu können“, wie es die Soziologin Silke van Dyk beschreibt.
Auch hat sich die Debatte inzwischen derart auf die Gegenüberstellung von Klasse und Identität versteift, dass übersehen wird, dass zum Beispiel die englische Arbeiterbewegung auch eine identitätspolitische Bewegung war, der es neben höheren Löhnen auch um Anerkennung und kollektive Selbstbestimmung ging. [Nachzulesen bei dem Historiker Edward Palmer Thompson „The Making of the English Working Class“.]
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch – es geht nicht darum, in einer Gesellschaft der Eindeutigkeiten und des permanenten Konsens zu leben. Kann und darf es auch nicht: Dissens, gesellschaftliche Antagonismen sind unabdingbarer Teil einer funktionierenden Gesellschaft. Wenn der Dissens jedoch zum Selbstzweck und zur Selbstvergewisserung verkommt, wird eine sachliche Auseinandersetzung verhindert.
Der Feminismus beispielsweise wird derzeit vor allem bezüglich seiner Spaltung, die besonders rund um die Silvester-Ereignisse in Köln 2016 ihren Ausdruck fand, zum Thema gemacht. Immer und immer wieder wird in feministischen Kreisen wie auch Medien die Seite der Feministinnen, die in den Reaktionen Rassismen ausmachte, gegen die Seite, die die kulturellen Prägungen der Täter in den Vordergrund rückten, gestellt. Eine derartige Überbetonung der verschiedenen Positionierungen kann jedoch den Blick auf gemeinsame Anliegen, zum Beispiel mehr Plätze in Frauenhäusern oder die Abschaffung des Ehegattensplittings, verstellen und letztlich die Allianzbildung verhindern. Die diskursive Auseinandersetzung auf Augenhöhe und der Kompromiss sind nicht unbedingt immer Sache der Identitätspolitik, wie sie sich uns heute vielfach präsentiert.
In der Fixierung auf vermeintlich klare Standpunkte und Konfliktlinien werden allzu oft die feinen Nuancen und Widersprüche übersehen. Das gilt jedoch nicht nur für Identitätspolitiken im eigentlichen wörtlichen Sinne, sondern auch für verschiedene Gegensätze, die sich innerhalb des Kaleidoskops unseres vielfältigen Miteinanders herauskristallisieren. Lassen Sie mich dies an einem Beispiel verdeutlichen. In den aktuellen gesellschaftlichen Debatten wird immer wieder auf die Konfliktlinie zwischen so genannten Kommunitaristen und Kosmopoliten verwiesen. Der Sozialwissenschaftler Michael Zürn beschreibt die Kosmopoliten ideologisch betrachtet als Gruppe, „die sich in der Tendenz eher für offene Grenzen sowohl für Menschen als auch für Kapital und Güter einsetzen, die für universell gültige Individualrechte eintreten und den Transfer politischer Kompetenzen auf die europäische und globale Ebene befürworten. […] Menschen, die besser verdienen und gebildet sind, [...] eine internationale Orientierung aufweisen – also über sehr viel transnationales Sozialkapital verfügen.“
Kommunitaristen würden hingegen eher die Notwendigkeit von nationalen Grenzen sehen, um überhaupt Demokratie und Gerechtigkeit realisieren zu können, die eigene Kultur würde im Zweifel höher bewertet als universelle Individualrechte. „Es sind Menschen, die sich eher als Globalisierungsverlierer betrachten – mit weniger transnationalem Sozialkapital.“ Diese Gegenüberstellung suggeriert homogene Kollektive, die keine inhärenten Widersprüche aufweist – was aber eben nicht der Fall ist: Widersprüche entstehen längst nicht nur in dem Clash divergenter Interessen, sondern sind Bestandteil innerhalb der vermeintlich homogenen Gruppen selbst. So merkt die bereits zitierte Soziologin Cornelia Koppetsch an, dass auch die Gruppe der Kosmopoliten Möglichkeiten der Abschottung nutzt. Zwar postulierten sie Weltoffenheit und Toleranz, aber ihre kulturelle Offenheit wird kompensiert „durch ein hochgradig effektives Grenzregime, das über Immobilienpreise und Mieten, über ein sozial und ethnisch hoch selektives Bildungswesen sowie über den Zugang zu exklusiven Freizeiteinrichtungen und Clubs gesteuert wird. Die Abgrenzung erfolgt nicht nach außen, denn hoch qualifizierte MigrantInnen sind hier selbstverständlich willkommen, sondern nach unten.“
Ohnehin sollte in diesem Zusammenhang nicht nur auf kulturelle Einstellungsmuster – Weltoffenheit versus Abschottung – geschaut werden. Es sollte auch gefragt werden, wer von der Globalisierung der vergangenen Jahre profitierte und wer in erster Linie ihre Schattenseiten zu spüren bekam. Wer die Globalisierung im Gewand eines Scharfrichters über den eigenen Arbeitsplatz erfährt – so ließe sich die Schließung und Verlagerung des eigenen Werks aufgrund günstigerer Produktionsbedingungen im Ausland auch interpretieren –, wird freilich zu anderen Schlüssen kommen, als diejenigen, die die Entgrenzung als Inspiration und Wachstum erfahren konnten.
In einer Welt vermeintlich voller Komplexität und Paradoxien lassen sich selbstverständlich schwerlich kohärente Antworten und Positionen finden. Die pluralistische Demokratie ist anstrengend und erfordert immer wieder aufs Neue Aushandlungsprozesse. Unabdingbar hierfür ist jedoch ein gewisses Maß an Offenheit und im konstruktiven Sinne, die Bereitschaft, sich auch auf die Suche nach Gemeinsamkeiten zu begeben. Es scheinen mir zwei Seiten einer Medaille zu sein, die sich gegenseitig immer weiter befeuern. Je tiefer die vermeintlichen Gräben sind, desto lauter wird der Ruf nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und je mehr dieser Zusammenhalt heraufbeschworen wird, desto mehr scheinen die Überzeugungen vom eigenen Standpunkt wichtiger zu werden. In der Mitte dieses Gefüges sehe ich die politische Bildung. Wir müssen helfen, Bindekräfte zu vermitteln, die über das eigene Sozialmilieu hinausreichen. Denn – wie wir gesehen haben – reicht ein vermeintlich bindendes „Wir“ in Momenten wie der Aufnahmekrise Geflüchteter als Kitt für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht aus. Den offensichtlichen Spaltungen und Gräben unserer Gesellschaft, die zwischen sozialen Schichten verlaufen, werden sich allein durch die Beschwörung eines demokratischen Minimalkonsens nicht überbrücken lassen. Was können wir in der politischen Bildung also tun?
Wir sind Platzhalter für kontroverse Aushandlungsprozesse, für die es selbstverständlich Differenzen und Heterogenität braucht. Die aber auch auf die Bereitschaft angewiesen sind, dass eigene Standpunkte gegebenenfalls mal aufgegeben oder überdacht, mindestens jedoch bedacht werden. Ohne einen offenen Diskurs können keine Resonanzräume entstehen und Blickwinkel erweitert werden. Bei alldem ist nicht zu vernachlässigen, dass der Mensch ein zoon politikon, ein soziales und politisches Wesen ist, das danach trachtet, sich mit anderen Menschen in Gemeinschaften zusammenzuschließen, um sich besser zu verwirklichen. Solidarität und Verständnis sind auf Räume angewiesen, in denen sie entstehen und sich entwickeln können. Dafür scheinen zunächst natürlich überschaubare Erfahrungsräume, zum Beispiel im Lokalen, sehr geeignet zu sein.
Ein Ergebnis des diesjährigen Vielfaltsbarometers der Robert Bosch Stiftung ist, dass die Ablehnung gegenüber Vielfaltsgruppen wie z. B. LGBT, in der Nachbarschaft meist geringer ist als dies die allgemeine Einstellung widerspiegelt. Sandra Breka, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung, führt dazu aus: „In der Nachbarschaft ist die Bereitschaft am größten, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die anders sind als man selbst.“ Dies korreliert mit der Einsicht, dass es produktiven Streit auch zwischen sozialen Milieus und nicht nur innerhalb dieser braucht.
Nicht zuletzt aus diesen Gründen sollte sich die politische Bildung neue Lernsettings und Räume, auch im geografischen Sinne, erschließen. Menschen sind auf Orte angewiesen, in denen sie sich bewusst mit ihrem Umfeld auseinandersetzen können und sie wirkungsmächtig sein können. Dies gilt besonders für Menschen in nicht-urbanen Räumen, die vom Wegfall institutioneller Strukturen betroffen sind. Und diese sollten bei ihnen direkt vor der Haustür liegen. So stellt die Studie „Mobilität im ländlichen Raum sichern“ der Friedrich-Ebert-Stiftung heraus, dass die regionale Identität eine Stärke ländlicher Räume sei. Es gelte daher dafür Sorge zu tragen, dass sich die Menschen in ihrer Region gut verankert fühlen und sie in ihrem Engagement für die Gemeinschaft gesehen, vor allem aber wertgeschätzt werden.
Vor dem Hintergrund einer globalisierten Welt, in der das Gefühl vermittelt wird, die eigene Gestaltungsmacht spiele keine Rolle mehr, ist es angezeigt, Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen und Handlungskompetenzen auszubauen. Die Menschen sollten wieder das Gefühl vermittelt bekommen, dass Demokratie von ihrer Beteiligung lebt und sie einen aktiven Beitrag zur Gesellschaft leisten können. Mehr noch als um das Gefühl geht es auch darum, ihnen die Strukturen transparent deutlich zu machen und aufzuzeigen, wo sie sie wie an demokratischen Entscheidungs- und Verhandlungsprozessen beteiligen können. Auch das ist Aufgabe politischer Bildung. Menschen, denen wir uns zuwenden müssen, sollten diejenigen sein, denen objektiv schlechtere Ausgangs- bzw. Zugangsvoraussetzungen haben. Um möglichst viele Menschen erreichen zu können, muss sich die politische Bildung hinausbewegen und neue Aktionsräume erschließen. Dies gilt für Menschen in strukturschwachen Regionen ebenso wie für Menschen in sogenannten abgehängten Stadtteilen, für reale Umgebungen ebenso wie für die virtuellen Weiten im Netz.
Dies bedeutet auch, dass Arenen für politische Aushandlungsprozesse erzeugt werden müssen, in denen Menschen sich mit ihren Positionen einbringen und auch im Ringen um Deutungshoheiten und Lösungswege durchsetzen können. Dies setzt Anerkennung und Umsetzung des gleichberechtigten Zugangs zu politischen und gesellschaftlichen Strukturen voraus und darf nicht auf der Ebene des Anhörens verbleiben, sondern muss Menschen als Akteure und politische, handlungsfähige Subjekte betrachten.
Unsere Profession muss die angestammten Pfade einer Wissensvermittlung verlassen, die nur in eine Richtung verläuft. Wir sollten nicht von Rezipienten, vielleicht nicht einmal von Zielgruppen politischer Bildung sprechen – vielmehr von Koproduzenten. Um jeden Preis gilt es den Eindruck zu vermeiden, dass politische Bildung von oben herab kommt. Allein schon aufgrund der zunehmenden Skepsis weiter Teile der Bevölkerung gegenüber staatlicher Institutionen tun wir gut daran, den Menschen auf Augenhöge und mit offenem Ohr zu begegnen. Eine wesentliche Rolle kommt dabei unseren Allianzpartnern zu. Erst diese Akteurinnen und Akteure einer nach wie vor quicklebendigen Zivilgesellschaft – ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von Brückenmenschen – erst diese Aktiven öffnen Räume für die Ansprache breiter gesellschaftlicher Felder. Es ist gut, dass das Konzept der aufsuchenden politischen Bildung mittlerweile nicht bloß Lippenbekenntnis ist, sondern alltägliche Praxis unserer Arbeit.
Das Potential in die Lebenswelten der Menschen einwirken zu können, bringen aus Sicht der bpb auch Vermittlungsansätze der kulturellen Bildung mit sich. Das Mittel dabei sind emotional-künstlerisch-ästhetische Ansprachen – oder noch besser: Spielarten. Sie initiieren Kommunikationspraktiken, die rein kognitive Bildungsprozesse überschreiten. Emotionen in öffentlichen Diskursen stellen also nicht nur eine der größten Herausforderungen für unsere Bildungsarbeit dar. Sie sind ebenso Werkzeug, deren Nutzung aber noch erlernt werden muss. Offen dabei ist aber die Fragestellung, inwieweit dieser Ansatz das Überwältigungsverbot verletzt oder ob wir diesen Teil des Beutelsbacher Konsens vielleicht ein wenig umdeuten müssen.
Ein vielfältiger Methodenkasten ist das Eine. Ich werde aber nicht müde zu betonen, dass die Verantwortung der Profession noch weiter geht. Hier sind wir wieder bei unserem Rapper Fatoni, der seine Rolle im Hiphop-Business reflektiert. Nichts weniger als das Hinterfragen des eigenen Selbstverständnis ist die Grundlage für eine Bildungsarbeit, die dem Zeitgeist gerecht wird. Wollen wir die Menschen dazu befähigen Kontroversen auszuhalten und Resilienzen gegenüber ihnen möglicherweise widerstrebender Lebensformen zu entwickeln, so sind wir in der Pflicht auch unsere eigene Rolle als politische Bildnerinnen und Bildner in gesellschaftlichen Systemen zu reflektieren.
Als Bildungsinstitution ist auch die bpb Bestandteil einer hegemonialen Apparatur, die als Deutungsort nicht nur Wissen, sondern auch Gewissheiten produziert. Dabei stellt sich auch uns die Frage: Auf welchem ideellen und erkenntnistheoretischen Fundament bauen wir unsere Bildungsangebote auf? Die epistemologischen Grundpfeiler, die unsere Gesellschaft im Inneren über Jahrhunderte zusammengehalten haben, befinden sich in einem Auflösungsprozess, der über eine einfache Gegenüberstellung verschiedener, teilweise miteinander konkurrierender Identitätspolitiken weit hinausgeht. Die zentrifugalen Kräfte eines sich beschleunigten Pluralismus hat längst die Mitte der Gesellschaft erreicht.
Erst vor etwa zwei Wochen hat Spiegel-Kolumnist und Netzaktivist Sascha Lobo bei der jüngsten re;publica in Berlin den Zustand der vermeintlichen Wissensgesellschaft, in der wir leben, skizziert. Für die Irritation der westlichen Welt vor allem als Folge der Globalisierung und der damit einhergehenden Anfechtung eines eurozentristischen Weltbilds hat Lobo einen interessanten Begriff gewählt: Realitätsschock. In seiner Darstellung sei unsere Gesellschaft über das gesamte 20. Jahrhundert in der Illusion eines umfassenden Wissens gefangen gewesen, in einer Filterblase, die vor allem zur Vereinfachung und Einengung von Sachverhalten mit Blick auf unsere Rolle in der globalen Gemeinschaft einhergegangen ist. Es ließe sich über die machtpolitischen Interessen hinter einem solchen selbst auferlegten Weltbild sprechen. Entscheidend für unseren Diskurs ist aber das höchst produktive Moment dieses Realitätsschocks:
Die politische Bildung kann das Mittel der Wahl sein, wenn es etwa darum geht, das postkoloniale Erbe Deutschlands zu beleuchten und Stimmen in die Diskussion zu integrieren, die über Jahrzehnte unterdrückt worden sind. Sie schafft Diskussionsräume, wenn es darum geht, die Geschichte und die Folgen des DDR kritisch zu diskutieren ohne dabei im gängigen Modus der Aufarbeitung von Opfer gegen Schuld zu verharren und stattdessen Bezüge zur Gegenwart herzustellen. Weiteres einschlägiges Beispiel ist die Debatte um Fragen der Geschlechter und Machtverhältnisse. „Gender“ ist zwar auch eines jener Themen, das die Gesellschaft in identitätspolitische Lager spaltet. Diskursanalytisch ist jedoch festzustellen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und differenzierte Analysen innerhalb der Debatte von einem breiten Teil der Öffentlichkeit nicht akzeptiert werden.
Diese drei Diskurse machen die Notwendigkeit für die Bildungsarbeit deutlich, tradierte Vorstellungen, vermeintliche Selbstverständlichkeiten und bloßes Schwarz-weiß-Denken zu hinterfragen und dem Realitätsschock in einem nuancenreichen Austausch von Perspektiven, Interessen und Meinungen zu begegnen. Die Offenlegung transnationaler Verflechtungen in der Vergangenheit und Gegenwart ist elementarer Bestandteil von Debatten rund um die Themen Nationalität und Identität. Das schließt die selbstkritische Reflexion über asymmetrische Beziehungen im Inneren und Äußeren mit ein und tangiert nicht zuletzt die Bildungslandschaft, die sich ihrer eigenen Diskriminierungstendenzen bewusst werden muss.
Statt vorgefertigte Antworten zu präsentieren stellt die politische Bildung Fragen, mit denen sich die Profession mitunter aus der eignen „Comfort Zone“ herausbewegen muss: Was gilt warum und wo als Wissen? Wer hat Zugang zu welchen Wissensbeständen? Wem nutzen die vielfältigen Bildungspolitiken, wer fällt dabei aus dem Raster? Wessen Perspektiven finden Gehör und wessen nicht? Diese Fragen und die Antworten darauf zeigen blinde Flecken der Wissensproduktionen auf, der Vorwurf der Ignoranz darf folglich nicht auf Abwehrhaltungen und Ausflüchte stoßen, sondern muss einen Erkenntnisprozess in Gang setzen, bei dem Desiderate unserer eigenen Arbeit offen adressiert werden: Was fehlt? Was erzählen wir nicht? Wo neigen wir dazu, Vorurteile zu reproduzieren?
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
welche Kraft entfaltet werden kann, sobald Selbstwirksamkeit und Gestaltungsmöglichkeiten sowie kritisches Denken nicht bloß als abstrakte Ideale verstanden werden, erleben wir derzeit jeden Freitag in Städten überall in Europa und als Meta-Diskurs in nahezu jeder Publikation, die sich mit politischen Themen beschäftigt. Was hat die „Fridays for Future“-Bewegung mit unserem Thema zu tun? Nun, nach meinem Dafürhalten, kanalisiert sich in solchen so genannten New-Power-Movements der klassische Dreiklang der politischen Bildung: Wissen vermitteln, Urteilsbildung ermöglichen, zur Mitwirkung anregen. In dem Protest wird eine Erwartungshaltung deutlich, die dem lange Zeit gängigen Bild einer politisch uninteressierten Jugend widerspricht. Ist es nicht der Anspruch auf Beteiligung und auf das Gehört-Werden, den die politische Bildung seit jeher als Kern aller Maßnahmen betrachtet und sich nun in den Protesten materialisiert?
Höchst interessant in dem Zusammenhang ist der Schulterschluss der Protestierenden und weiter Teile der Wissenschaft, die sich mit dem Klimawandel beschäftigt. Die Emanzipation der Schülerinnen und Schüler vom Umgang mit dem Problem der Erderwärmung durch die Politik und weiter Teile der Gesellschaft vollzieht sich nicht etwa in einem rein impulsiven Akt der Rebellion, wie das bei anderen Protestbewegungen oft zu beobachten ist, sondern qua Aneignung komplexer Wissensbestände, die zudem durch die körperliche Präsenz der jungen Menschen in den öffentlichen Raum mit maximaler Aufmerksamkeit überführt werden. Die Botschaft dahinter: Seht her, das ist unser Blick auf das Thema, das ist unser Wissen, auch wenn Ihr Politikerinnen und Politiker dem indifferent gegenübersteht. Hört uns zu und unternehmt endlich etwas!
Bei allem Konfliktpotential, die die Proteste mit sich bringen, regt die Friday-For-Future-Bewegung zur Kooperation statt zur Konkurrenz an. Im Umfeld von Identitätspolitiken und fragmentierter Interessenslagen haben Bewegungen dieser Art das Potential, ein Gegengewicht gegenüber partikularen Artikulationen zu schaffen und einigende Momente herbeizuführen. Gesamtgesellschaftlich wäre das zu begrüßen. Die Profession der politischen Bildung sollte die Protestbewegungen – zu nennen wären hier beispielsweise auch der Einsatz um den Hambacher Forst sowie die beiden Hashtag-Initiativen #meetoo (mit Doppel-O) und #metwo, das die hybride ethnische Zugehörigkeit von Menschen in Deutschland thematisiert hat – als ein Spannungsfeld begreifen, bei dem trotz ihrem aufklärerischen Anspruch der politische Aktivismus eine entscheidende Rolle spielt. Eine nüchterne Haltung demgegenüber ist notwendig, allein schon um die Unabhängigkeit der politischen Bildung zu wahren. Denn mit politischem Engagement und Aktivismus bewegt man sich niemals im luftleeren Raum: Es ist wichtig, dass die Engagierten, auf der einen Seite nicht entmutigt und sie durchaus auch unterstützt werden, diese eigene Erfahrung zu machen – aber eben auch den Kontext darstellt, die Konsequenzen und die Grenzen der politischen Aktion.
Zum Schluss möchte ich noch einmal näher auf Identitätspolitiken als solche eingehen. Die Kritikerinnen und Kritiker weisen mit einigem Recht auf den desintegrativen Charakter bestimmter Praktiken einzelner Gruppen hin. Erlaubt sei jedenfalls die Frage, wo bestimmte Repräsentationsansprüche an ihre Grenzen mit Blick auf gesamtgesellschaftliche Interessen stoßen. Die Antwort auf diese Frage darf aber genauso wenig in einer pauschalen Ablehnung singulärer, zumal durch marginalisierte Positionen vorgetragene, Anliegen münden.
Entscheidend für die politische Bildung ist vor allem, dass sich eine produktive Praxis im Sinne eines demokratischen Miteinanders ableiten lässt. Unbestritten sind Kategorien wie Nation, Identität oder Heimat derzeit auch im Wettbewerb um geltende Narrative und (Geschichts-)Politiken Gegenstand kontrovers geführter politischer Debatten in Deutschland, Europa und vielen anderen Ländern. Sie stellen insbesondere die Akteure in den Feldern der Bildung vor gar nicht mehr so neue, aber bisher eher wenig ernst genommene Herausforderungen. „Die Kämpfe um die Formulierung und Festlegung der Identität und die Frage, welche Schlüsse daraus für das soziale und politische Leben gezogen werden können“, so schreibt es der Augsburger Politikwissenschaftler Marcus Llanque, „stellen Vorgänge dar, die in vielen Fällen Lernprozesse initiieren, die geeignet sind, die demokratische Praxis gleichsam am eigenen Leibe kennen zu lernen und zu verstehen.“ Denn es gehe dabei um die Verallgemeinerung partikularer Interessen – gerade auch durch Minderheiten im Verhältnis zu Hegemonien einer Mehrheitsgesellschaft. Diese Wendung ist gewissermaßen die Antithese zu der ablehnenden Haltung gegenüber den vielfältigen Ausprägungen von Identitätspolitik, auf die ich zu Beginn des Vortrags eingegangen bin.
Meine Synthese dieser dialektischen Gegenüberstellung ist die politische Bildung selbst – innerhalb eines inklusiven Gemeinwesens. Sie arbeitet an und auf Basis von einem „common ground“: dem Grundgesetz. Sie stellt Instrumente, Räume und Ansätze zur Verfügung, die nicht zuletzt auch bei der Aushandlung von Fragen der Zugehörigkeit zum Einsatz kommen. Sie hegt dabei extreme Positionen durch das immanente Moment der Multiperspektivität ein und verschafft Geltung all jenen minoritären Stimmen, die im Chor der Mehrheit zu leise scheinen. Die geschilderten Diskussionen zeigen, dass die Frage relevant ist, ob und in welcher Form Identitätspolitik ein berechtigtes Anliegen vorbringt, – und an welchen Stellen sie zur Vertiefung von gesellschaftlichen Gräben führen kann statt sie zu schließen. Es dürfte dabei vollkommen unstrittig sein, dass es auch im Sinne einer gleichberechtigten Teilhabe Orte der Anerkennung und Befähigung für Menschen braucht, die von Diskriminierungen betroffen sind. Das Gegeneinander verschiedener Identitätspolitiken ist vielleicht der Lackmustest für den Zustand der politischen Öffentlichkeit. Gerade im Jubiläumsjahr unseres Grundgesetzes erlaube ich mir aber die Einschätzung, dass unser demokratisches Gemeinwesen und unsere Zivilgesellschaft viel widerstandsfähiger und anpassungsfähiger sind, als Verfechter verschiedener Untergangsszenarien es uns glauben machen wollen.
Nicht Krisendiskurse sind Antreiber unserer Arbeit, sondern auf Zukunft gerichtete Handlungsspielräume, die sowohl vor der Folie pessimistischer Szenarien als auch mit Blick auf Utopien ausdekliniert werden müssen. Die politische Bildung ist nicht das Sprachrohr der Mächtigen und wir sind nicht Clint Eastwood, der verzweifelt mit einer Flinte seine kleine Welt gegen den großen Wandel verteidigt. Wir sind auch keine Kulturpessimisten, wie sich der Rapper Fatoni im eingangs erwähnten Rapsong selbst bezeichnet. Die politische Bildung ist am Zug! Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
- Es gilt das gesprochene Wort - | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-05-27T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/291890/politische-bildung-notwendiger-denn-je/ | Bei den Jahresgesprächen Politische Bildung handelt es sich um eine Veranstaltung des Landesnetzwerks Politische Bildung Baden-Württemberg in Kooperation mit dem StadtPalais – Museum für Stuttgart. Thomas Krüger sprach dort zum Thema: „Politische Bil | [
"Rede Krüger",
"politische Bildung",
"Jahresgespräche politische Bildung"
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Die überwachte Stadt | Stadt und Gesellschaft | bpb.de | Historiker_innen zufolge wies Köln im Mittelalter die gleiche Rate an Gewalt auf wie die New Yorker South Bronx Ende der 1980er Jahre. Galt Köln jedoch als Ort des Friedens, so war die Bronx der Inbegriff des gefährlichen Underclass-Ghettos. Erklären lässt sich diese vermeintliche Paradoxie zum einen durch den Vergleichsmaßstab: Im Mittelalter waren die befestigten Städte im Vergleich zum Land, auf dem neben marodierenden Raubrittern gar der Teufel vermutet wurde, sicherere Orte. Zum anderen durch eine zunehmende Sensibilität: Der von dem Soziologen Norbert Elias beschriebene „Prozeß der Zivilisation“ hat nicht nur eine langfristige Abnahme interpersoneller Gewalt mit sich gebracht, sondern auch eine entsprechende Empfindlichkeit. Gesellschaften scheinen heute immer weniger bereit zu sein, Handlungen, die Individualität einschränken, zu akzeptieren.
Die anonyme Großstadt
Die objektivierbaren Merkmale, anhand derer Großstädte definiert werden – Größe, Dichte, Heterogenität, Arbeitsteilung –, deuten bereits ein grundlegendes Dilemma und eine Ambivalenz an. Großstädte sind sowohl durch strukturell bedingte Fremdheit und Anonymität als auch durch ein enormes Maß an wechselseitiger Abhängigkeit einander fremder Menschen gekennzeichnet. Die Stadt ist dadurch ein Ort der Produktivität, der Innovation, der Chance auf sozialen Fortschritt und der Befreiung der Individuen von den engen Zwängen dörflicher Gemeinschaften. Sie schafft die Freiheit zur Abweichung von einem Handeln- und „Denken-wie-üblich“. Die anonyme Großstadt stellt die Nischen bereit, um sich von der dominanten moralischen Ordnung zu emanzipieren. Es ist eine „Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist“. Die sozialen Bezugssysteme sind nicht mehr vordefiniert, und dies erlaubt es erst, dass sich Individuen als Individualitäten begegnen.
Die Konfrontation mit sozial ungleichen und kulturell unterschiedlichen Menschen bedeutet aber auch eine permanente Krise. Fremdheit und Anonymität verunsichern: Der Fremde als Prototyp des Großstädters, weil er durch seine Position als außenstehender Beobachter die scheinbar selbstverständlichen Zivilisationsmuster hinterfragt und die Konfrontation mit anderen symbolischen Welten grundsätzliche Verunsicherungen mit sich bringt; die Anonymität, weil sie nicht nur eine negative Voraussetzung für Individualisierung ist, sondern auch mit Vereinzelung und einem Kontrolldefizit assoziiert wird. Die Ausdifferenzierung sozialer Milieus, Migration und Individualisierung überhöhen nun sowohl die produktiven und reizvollen als auch die verunsichernden Elemente von Großstädten.
QuellentextAmbivalenz und großstädtische Fremdheit
Die Stadt ist der Ort von Lust und Gefahr, von Chance und Bedrohung. Sie zieht an und stößt ab und kann das eine nicht ohne das andere.
Quelle: Zygmunt Bauman 1997
Kontrolle in der Großstadt bedeutet damit in erster Linie Selbstkontrolle. Sie zeichnet sich in einem wechselseitig distanzierten Umgang mit Fremden aus: „Der urbane Mensch setzt in jedem Falle voraus, dass der andere – mag dessen Verhalten noch so sonderbar sein – eine Individualität ist, von der her sein Verhalten sinnvoll sein kann. (...) Das Verhalten ist geprägt durch resignierende Humanität, die die Individualität des anderen auch dann respektiert, wenn keine Hoffnung besteht, sie zu verstehen.“
Voraussetzung für die auf Differenz beruhende Kultur der Stadt und damit ihr freiheitliches, produktives und emanzipatorisches Potential ist eine prekäre Balance sozialer Kontrolle: Kontrolle tritt nur dann in Erscheinung, wenn die Individualität des einen die des anderen einzuschränken droht.
Bedrohte Urbanität
Diese Balance wird derzeit von zwei Seiten als gefährdet angesehen: Durch zunehmende Kriminalität, Anschläge und eine Informalisierung von Verhaltensstandards einerseits sowie durch neue Formen der Überwachung, die disziplinierende und räumlich exkludierende Effekte zeitigen sollen, andererseits.
Neue Formen von Kontrolle werden mit vermeintlich vermehrten oder neuen Bedrohungen begründet. Straßenkriminalität und Bombenanschläge in Städten sind solche Bedrohungen, die sich eignen, aus politischem Kalkül (Wahlkämpfe), aus ökonomischen Überlegungen (Sicherheit als Wachstumsmarkt und Sicherheitsgefühle als Standortfaktor) oder aus arbeitsmarktpolitischen Erwägungen (Arbeitsplätze bei Polizei, Sicherheitsgewerbe etc.) instrumentalisiert zu werden. Betrachtet man jedoch die in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Häufigkeitsziffern, so zeigt sich, dass die registrierte Straßenkriminalität zwischen 1994 und 2014 nahezu kontinuierlich abgenommen hat: von 2.744 Fällen pro 100.000 Einwohner_innen auf 1.663. Die Anzahl der Fälle vollendeter Morde und Totschlagsdelikte verringerte sich in Deutschland im selben Zeitraum in absoluten Zahlen sogar um mehr als die Hälfte: von 1.480 auf 642.
Zu bedenken ist zudem, dass die besonders beunruhigenden Handlungen, sexualisierte Gewalt sowie Tötungsdelikte, Delikte sind, die ganz überwiegend im privaten Nahbereich stattfinden – Opfer und Täter kennen sich meist. Es sind also Bedrohungen, die gerade nicht mit der Anonymität der Großstadt in Zusammenhang stehen. Der Fremde im öffentlichen Raum als sozialer Typus ist verunsichernd, aber relativ selten Quelle von Gefahren für Leib und Leben.
Soziales Handeln erhält zudem seine Qualität erst durch intersubjektiv hergestellte Bedeutungen. Kriminalität ist nichts Dingliches; eine Handlung wird erst dazu, indem sie von Instanzen soziale Kontrolle (Polizei bzw. letztendlich Gerichte) so bezeichnet wird. Die Thematisierung von Kriminalität in Großstädten ist mithin Ausdruck der erwähnten Sensibilisierung und davon, dass rigidere Ordnungsvorstellungen aus kriminal- und stadtpolitischen sowie ökonomischen Erwägungen wieder an Gewicht gewinnen. Auch alltagsprachlich werden mehr Handlungen als Kriminalität oder zumindest als vermeintliche Vorstufe dazu bezeichnet. Dies zeigt sich bei so genannten „social and physical disorder“, unter die etwa Graffiti, Müll auf der Straße, öffentliches Urinieren oder auch Betteln, das noch in den 1970er Jahren explizit als „gemeinverträglich“ aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, subsumiert werden. Mit der „Broken Windows Theorie“ wird angenommen, solche „Unordnung“ verstärke Unsicherheitsgefühle und zöge „echte“ Kriminalität nach sich.
Nicht zuletzt der Kriminologe Sampson verweist jedoch darauf, dass Zusammenhänge zwischen Unordnung und Kriminalität größtenteils Scheinkorrelationen sind, und daran anknüpfende Kriminalpolitiken gerade in so genannten Brennpunkten kontraproduktiv erscheinen.
Mit neuen kommunalen Sicherheits- und Ordnungsgesetzen wird aber der definitorische Übergang fließend: „Any activity or behaviour containing an element of the unknown, a dimension of uncertainty, can be translated as being anti-social“. Dies gilt gerade auch für eigentumsrechtlich privatisierte Räume, wenn etwa Shopping-Center in Hausordnungen „angemessene Kleidung“ vorschreiben oder Musikhören und das Verteilen von Flugblättern verbieten. Das von der lokalen Normalität abweichende Fremde wird als konsumstörend definiert und damit assoziierte Personen aus den Räumlichkeiten ausgeschlossen – eine verbreitete Sanktionsmöglichkeit gegenüber unerwünschtem Verhalten.
Vier Dimensionen sozialer Kontrolle
Damit ist die erste Dimension neuer Formen sozialer Kontrolle in Städten angesprochen: eine zunehmende Verrechtlichung von urbanen Verhaltensweisen und Räumen – denn viele Bestimmungen gelten lediglich an bestimmten Orten: Fußgängerzonen, Parks, ...
Unmittelbar im Zusammenhang damit stehen Neuerungen auf der organisatorischen Ebene (zweite Dimension). Hierzu gehört der vermehrte Einsatz kommerzieller Sicherheitsdienste. Bewachten sie früher als Werkschutz die privaten Areale der Industriebetriebe, so schützen sie heute die Partikularnormen der Eigentümer_innen de jure privater, aber überwiegend allgemein zugänglicher Räume der Dienstleistungsstadt: Einkaufszentren, Bahnhöfe, Passagen etc. Zunehmend sind sie aber auch im eigentumsrechtlich öffentlichen Raum und im Auftrag der Kommunen oder von Nachbarschaftsorganisationen tätig. Gerade letzteres deutet darauf hin, dass Sicherheit zu einer Dimension sozialer Ungleichheit in Städten wird: Sie wird zu einem Gut für diejenigen, die es sich leisten können.
Des Weiteren verfügt auch die Polizei über neue Handlungsspielräume. Sie vermag Platzverweise und teilweise Monate andauernde Aufenthaltsverbote auszusprechen sowie an von ihr selbst definierten „gefährlichen Orten“ verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen. Sie setzt somit die für Rechtsstaaten konstitutive Unschuldsvermutung lokal außer Kraft. Gleichermaßen räumlich ausgerichtet sind jüngere Konzepte polizeilichen Handelns, die mit unterschiedlichen Ausprägungen sowohl in den Quartieren unterer sozialer Schichten wie in den Quartieren der Besserverdienenden praktiziert werden. Gelten erstere entgegen empirisch und theoretisch begründeten Zweifeln als Orte, an denen Kriminalität entsteht, geht es bei letzteren um die Abgrenzung nach Außen: Die Strategie der Null-Toleranz, bereits gegen die erwähnten Formen von „disorder“ offensiv vorzugehen, widerspricht bereits in ihrer Begrifflichkeit Vorstellungen von Urbanität.
In Verbindung mit „racial profiling“ – als einer nach Hautfarbe und Ethnizität selektiven polizeilichen Kontrollpraxis – gilt sie sogar als eine der Ursachen für die Riots in den französischen Banlieues 2005, in London 2011 oder in Ferguson 2014. Aber auch die weniger repressiv ausgerichteten Ansätze des „Community Policings“ oder die Aktionen „wachsamer Nachbar“ können als anti-urban angesehen werden: Nachbarn und lokale Institutionen sollen Probleme artikulieren, selbst als Kontrolleure agieren und Sicherheit soll als Vehikel der Vergemeinschaftung fungieren.
Vergemeinschaftung steht jedoch Vergesellschaftung als Merkmal und Prinzip des Städtischen entgegen, und entsprechende Programme unterliegen der Gefahr, alles (Orts-)Fremde als Problem zu definieren. Abgrenzende sowie „problemverlagernde“ Praktiken überhöhen Segregation und unterminieren zudem den produktiven Austausch zwischen unterschiedlichen Stadtteilen und ihren Bewohner_innen. Eine solche auf Abgrenzung und Ausgrenzung verweisende Orientierung zeigt sich auch in einer dritten Dimension der Kontrolle: bauliche und gestalterische Änderungen.
Die Stadt ist der Ort von Lust und Gefahr, von Chance und Bedrohung. Sie zieht an und stößt ab und kann das eine nicht ohne das andere.
Quelle: Zygmunt Bauman 1997
„Crime Prevention Through Environmental Design“ (Kriminalitätsprävention durch Umweltgestaltung) setzt neben situativer Kriminalprävention ebenfalls bei Vergemeinschaftung an. Territoriale Verantwortungen und nachbarschaftliche Beziehungen sollen durch bauliche Eingrenzungen gestärkt werden und Gemeinschaften definieren sich vor allem durch Abgrenzung nach außen. Die symbolische Schließung oder eine Ästhetisierung von Raum soll eine selektive Zugangsbereitschaft bewirken. Sie kann Exklusion bedeuten, ohne dass Polizei oder Sicherheitsdienste Platzverweise oder Hausverbote aussprechen. Öffentliche Räume verlieren dadurch ihren Charakter allgemeiner Zugänglichkeit: Der Einsatz von Luxus suggerierendem Marmor oder Granit kann in Innenstädten genauso als „sozialer Filter“ wirken wie Graffiti, die in den USA Territorien von Gangs anzeigen sollen, oder wie symbolische Zufahrtsbeschränkungen in Nachbarschaften – lediglich die Adressat_innen der Symbole variieren. Baulich-gestalterische Änderungen sind oft auch Voraussetzungen für den Einsatz von Kameras, denn Raum muss dafür einsehbar sein.
Überwachte Stadt
Insbesondere die vierte Dimension von Kontrolle – Technik – rechtfertigt es, von Überwachung zu sprechen. Videokameras sind derzeit die entscheidende Ausprägung. Sie sind das Symbol der überwachten Stadt. Bereits 2004 wurde für London deren Zahl auf vier Millionen geschätzt, und jede_r Einwohner_in wurde dort durchschnittlich etwa 300mal am Tag von Kameras erfasst. 2016 boomt die (Diskussion um) polizeiliche Videoüberwachung auch in deutschen Städten (wieder) – auch wenn die absoluten Zahlen an Kameras nach wie vor deutlich niedriger sind als in London.
Wirkungen von Videoüberwachung sind umstritten. Eindeutig ist lediglich, dass Aussagen, die nur auf der polizeilichen Kriminalstatistik beruhen, nicht haltbar sind. Methodisch aufwändigen Studien im Auftrag des Britischen Innenministeriums aus den Jahren 2002 und 2005 zufolge wirken Kameras bei Diebstählen von und aus Kraftfahrzeugen präventiv. Andere Diebstahlsdelikte reduzieren sie nur minimal, und auf Gewalthandlungen im öffentlichen Raum haben sie gar keinen Einfluss. Kameras als Disziplinarinstrumente können nur auf rationales, nicht auf emotionales Handeln zielen, und selbst dann – das zeigen etwa Videoaufnahmen von Anschlägen nachdrücklich – sind präventive Effekte offenbar begrenzt.
Die Idee des Benthamschen Panopticons – bei dem sich Menschen bereits aufgrund vermuteter Beobachtung normkonform verhalten, selbst wenn sie gar nicht beobachtet werden – greift in der Stadt nicht, weil die Überwachungssituationen in der Reizüberflutung der Großstadt kaum wahrgenommen werden (können) und (bislang) nicht per se von dauerhafter Beobachtung überall ausgegangen werden kann. Studien, inwiefern Kamerabilder zur Aufklärung von Straftaten dienen, fehlen bislang.
Nach wie vor in den Kinderschuhen steckende Versuche, in Datenbanken gespeicherte Personen oder typisierte Verhaltensweisen automatisch zu identifizieren, verweisen gleichwohl auf eine neue Dimension der Überwachung. Datenbanken mit digitalisierten Passfotos bieten die Basis dafür, alle Menschen oder selektiv bestimmte Gruppen permanent zu überwachen. Die Anonymität, die es einem erlaubt, Rollen zu wechseln und Stigmatisierungen zu umgehen würde unterminiert – und damit auch die Freiheit der Großstadt, sich unerkannt für politisch marginale Positionen zu engagieren, Sexshops oder soziale Beratungsstellen aufzusuchen. Die Verbindung von Datamining – also dem „Aufspüren“ statistischer Auffälligkeiten in großen Datensätzen (etwa Handydaten, facebook-Einträgen oder Daten zum Kaufverhalten) – mit biometrischer Gesichtserkennung und Kamerabildern verweist auf neue Dystopien des Großstädtischen, bei denen Orwellsche Thesen des „Big Brother“ mit privatwirtschaftlichen Interessen Synergien eingehen. „Google Glass“ – eine Brille, bei der in das Blickfeld weitere Daten eingeblendet und mit der die jeweiligen Gegenüber automatisch identifiziert werden sollen – würde zudem den zentralen großstätischen Integrationsmodus „Indifferenz“ unterminieren.
Der mit unterschiedlichen Schwerpunkten von den Soziologen Simmel, Goffman und Bahrdt beschriebene Modus basiert darauf, dass die jeweils anderen eben nur mit einem Ausschnitt ihrer Persönlichkeit sichtbar und bekannt sind. Somit können sich die Menschen mental distanziert und gleich-gültig begegnen, also wechselseitige Freiheit ermöglichen. Eine ubiquitäre Nutzung der Brille dagegen – so muss man aktuell zumindest annehmen – würde die Großstädter_innen überfordern und zu Krisen und Konflikten im öffentlichen Raum führen. Die über die sichtbare Verbindung verschiedenster Daten entstehende Verhaltenstransparenz würde zudem zum Zusammenbruch des Normensystems führen.
Neben dieser Entwicklung und in Verbindung damit gewinnt für die Diagnose „überwachte Stadt“ aktuell ein zweiter Trend an Bedeutung: „Geopolicing“ sowie „predictive policing“ sind die dazugehörigen Stichworte. Über die Geocodierung von Daten der Sozialstruktur, der Gebäude- und Infrastruktur sowie von Ereignisdaten sollen Interventionen von Instanzen sozialer Kontrolle ortsspezifischer als bisher erfolgen sowie auf statistischer Basis ermöglichen können, „kriminelle“ Ereignisse vorherzusehen. Entsprechende Software wird 2016 unter anderem in Bayern und Nordrhein-Westfalen erprobt. Ob im Zuge solcher technisierter und automatisierter Überwachung der Besuch einer Schwulenbar, einer Synagoge, einer Moschee oder die Haut- oder Haarfarbe verdachtsleitend ist oder vielleicht das längere Stehen an einer bestimmten Stelle, ist gleichwohl immer noch eine Frage von Zuschreibungen und Machtverhältnissen, sei es ex ante bei der Softwareprogrammierung oder ex post bei der Sichtung der Daten.
Wie auch immer definiert: Umfassende Sicherheit kann es in Großstädten nie geben, und bereits Emilé Durkheim wies mit seiner Klostermetapher darauf hin, dass es ebenso wenig eine Gesellschaft ohne Kriminalität geben kann. Aber selbst hinsichtlich Sicherheitsgefühlen gelten neuere Kontrollansätze als ambivalent: Kameras und Mauern erinnern permanent an Gefahren, und seien sie nur auf der anderen Seite der Mauer vermutet wie im mittelalterlichen Köln.
Quellen / Literatur
Bahrdt, Hans-Paul (1998) [1961]: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Opladen.
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Durkheim, Émile (1974) [1895]: Kriminalität als normales Phänomen, in: Sack, Fritz/König, René (Hg.): Kriminalsoziologie, Frankfurt/Main.
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Elias 1989
vgl. Schütz 1972
Simmel 1992: 458
Bahrdt 1998: 164
vgl. Kelling/Wilson 1982
vgl. Sampson 2004
Bannister et al. 2006: 929 – „Jede Aktivität oder jegliches Verhalten, das ein Element des Unbekannten oder eine Dimension des Ungewissen enthält, kann als unsozial oder gesellschaftsfeindlich übersetzt werden“ (Übersetzung JW).
vgl. Popitz 1968
Wehrheim 2012
vgl. Frers et al. 2013
vgl. Wehrheim 2014
vgl. Durkheim 1974
| Article | Jan Wehrheim | 2022-02-04T00:00:00 | 2015-12-04T00:00:00 | 2022-02-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/stadt-land/stadt-und-gesellschaft/216874/die-ueberwachte-stadt/ | Rechtfertigen die aktuellen Formen und Techniken sozialer Kontrolle, von überwachten Städten zu sprechen? Eine kritische Betrachtung von Sicherheit und Freiheit in der Großstadt. | [
"Versicherheitlichung",
"öffentlicher Raum",
"Stadtentwicklung",
"Privatisierung",
"Überwachung"
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Der Antisemitismus im heutigen Rechtsextremismus | Rechtsextremismus | bpb.de | Antisemitismus gehört zu den weltanschaulichen Grundüberzeugungen des Rechtsextremismus und ist in fast allen rechtsextremen Organisationen präsent. Die Feindschaft gegen Juden wird sowohl offen zum Ausdruck gebracht als auch verklausuliert in Form antiisraelischer oder antizionistischer Positionen (also Positionen, die sich gegen die Politik oder die pure Existenz des Staates Israels richten). Im Rechtsextremismus finden sich sowohl religiöse als auch kulturelle oder rassistische Begründungsmuster für Antisemitismus. Oft korrespondieren sie mit verschwörungstheoretischen Ansätzen. Sie zeugen von ideologischer Nähe zum historischen Nationalsozialismus und treten meist in Verbindung mit revisionistischen Positionen auf.
Rechtsextreme Ideologen befinden sich in einem argumentativen Dilemma. Sich offen auf die entmenschlichende Weltanschauung des Nationalsozialismus zu beziehen, ist in der deutschen Gesellschaft und Politik wegen der Erinnerung an den Holocaust mit einem moralischen Tabu belegt. Rechtsextremisten bemühen sich deshalb um eine historische Gegenerzählung. Sie bestreiten die Verbrechen des Nationalsozialismus oder relativieren sie durch Vergleiche und greifen dabei häufig auf eine pseudowissenschaftliche Argumentationsweise zurück. Die seit 1985 in § 130 des Strafgesetzbuches verankerte Strafbarkeit der Holocaust-Leugnung hat Konsequenzen für das taktische Verhalten von Rechtsextremisten. Um eine mögliche Bestrafung zu vermeiden, bedienen sie sich verklausulierter Argumentationsmuster. Eine solche taktische Vorgehensweise ist vor allem für rechtsextreme Parteien wie die NPD charakteristisch.
Rechtsextremer Geschichtsrevisionismus
Nur bei wenigen Zusammenschlüssen und Protagonisten der Szene sind Interner Link: antisemitische Positionen prägend oder treten in Form der offenen Leugnung des Völkermords an den Juden in Erscheinung. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreiten des Holocaust Verfolgten (VRBHV), das Collegium Humanum, beide 2008 verboten, die Europäische Aktion und Personen wie Horst Mahler, Ursula Haverbeck-Wetzel und Rigolf Hennig.
In der 2010 gegründeten Europäischen Aktion spielen Personen aus dem Kreis der verbotenen VRBHV eine entscheidende Rolle. Rigolf Hennig (geb. 1935) fungiert als Gebietsleiter Deutschland und als Schatzmeister der Organisation. Das für die Europäische Aktion charakteristische antisemitische Verschwörungsdenken brachte die Organisation im November 2016 auf ihrer Internet-Seite zum Ausdruck:
"Eine kleine, aber scheinbar allmächtige Handvoll Menschen strebt nach der Weltherrschaft. Unter dem Begriff 'Globalismus' wollen 'Jene', die im Zionismus festzumachen sind, uneingeschränkt über die Reichtümer der Welt, die Bodenschätze, die Nahrungsquellen und Schlüsselstellungen der Macht verfügen."
Mit der Europäischen Aktion eng verbunden ist Ursula Haverbeck-Wetzel (geb. 1928), Vorsitzende des Collegium Humanum und stellvertretende Leiterin der VRBHV. Haverbeck-Wetzel wurde wegen Holocaust-Leugnung mehrfach strafrechtlich belangt und zuletzt im November 2016 wegen Volksverhetzung gemäß § 130 StGB zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Sie hatte in mehreren Beiträgen für die von Hennig herausgegebene antisemitische Publikation Stimme des Reiches die massenhafte Ermordung von Juden in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern geleugnet. So behauptete sie, dass "das Konzentrationslager Auschwitz kein Vernichtungslager, sondern ein Arbeitslager gewesen" sei. Auch forderte sie u. a. in zwei offenen Briefen dazu auf, "forensische und nachprüfbare Beweise für die Vergasung der sechs Millionen Juden in Auschwitz vorzulegen" und zu erklären, „… wo und wann … die sechs Millionen Juden mit Zyklon-B vergast (wurden).“
Der ideologische Einfluss von Haverbeck-Wetzel und Hennig innerhalb der neonazistischen Szene darf trotz ihres hohen Alters nicht unterschätzt werden. Beide werden von neonazistischen Organisationen regelmäßig zu Vorträgen eingeladen und geben ihre antisemitische Ideologie auf diese Weise als Autoritäten an jüngere rechtsextreme Generationen weiter. Von der Verehrung, die insbesondere Haverbeck-Wetzel entgegengebracht wird, zeugen zahlreiche Solidaritätsveranstaltungen zu ihren Gunsten.
Einen ähnlichen Märtyrerstatus genießt Horst Mahler (geb. 1936), der 2009 wegen wiederholter Volksverhetzung zu mehr als zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Seine sehr spezielle antisemitische Ideologie, die in Anlehnung an die Dialektik des Philosophen Hegel ein judaistisches und ein antijudaistisches Prinzip im Kampf miteinander sieht, ist in der Szene allerdings nur schwer vermittelbar. Auf der Internetseite des von ihm mitgegründeten Deutschen Kollegs führte er mit Datum vom 25.3.2001 unter der makabren Überschrift "Endlösung der Judenfrage" aus:
"Der Kulturkampf gegen den Judaismus ist das Mittelpunktgeschehen, das der Welt eine neue Gestalt gibt. Äußeres Zeichen der Unterjochung der Völker ist das von den jüdischen Organisationen fast weltweit durchgesetzte Verbot, die im Jahr 1896 aufgetauchten ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ zu verbreiten."
Die von Mahler während seiner Haftzeit verfasste antisemitische Schrift „Das Ende der Wanderschaft. Gedanken über Gilad Atzmon und die Judenheit“, die den Interner Link: Protokollen der Weisen von Zion ein eigenes Kapitel widmet, knüpft an dieses antisemitische Theoriekonstrukt an.
Mahler wurde im September 2015 nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Haftstrafe entlassen und die Reststrafe auf Bewährung angesetzt. Das Oberlandesgericht Potsdam hob diese Bewährung allerdings wieder auf; dem Absitzen seiner Reststrafe entzog sich Mahler im April 2017 zunächst durch Flucht nach Ungarn, bevor er von der dortigen Polizei festgenommen wurde. Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen von rechtsextremen Parteien und neonazistischen Gruppierungen können auch als Beleg für die die hohe Identifikation der rechtsextremistischen Szene mit Mahlers antisemitischen Positionen betrachtet werden.
Antisemitismus in der rechtsextremen Musik
Die Interner Link: rechtsextreme Musikszene hat sich seit den 1980er Jahre als eigenständiger Bereich des Rechtsextremismus etabliert. Antisemitische Texte gehören seit Beginn zum Genre. Der über das suggestiv wirkende Medium Musik transportierte Antisemitismus entfaltet gerade bei jüngeren Rechtsextremen eine besondere Wirkung. Die Bandbreite reicht von Vernichtungsfantasien bis hin zu subtileren Formen des Antisemitismus.
Weil die Produzenten rechtsextremer CDs die Werke vor der Veröffentlichung üblicherweise von Rechtsanwälten überprüfen lassen, sind offen volksverhetzende Produktionen mittlerweile relativ selten. Für einen eliminatorischen Antisemitismus stehen beispielsweise ältere Produktionen der Gruppen Zillertaler Türkenjäger und Kommando Freisler in den 1990er Jahren. Eine neuere CD der Gruppe Erschießungskommando aus dem Jahr 2016 lässt Vernichtungsfantasien freien Lauf. In dem Stück mit dem bezeichnenden Titel "Ab in den Ofen" werden Juden als "Ratten", "Abschaum", "Seuche" und "Pest" bezeichnet. Die Zeilen des Refrains sind als Aufruf zur Tötung von Juden zu bewerten:
"Jude, ab, ab in den Ofen. Jude wir werden dich ersaufen"
Häufiger als solche die Opfer des Holocaust verhöhnenden, gewaltverherrlichenden Lieder sind Produktionen mit einem israelbezogenen Antisemitismus und Titel, die mit geschichtsrevisionistischer Stoßrichtung einen angeblichen Schuldkult beklagen. Die Gruppe D.S.T (die Abkürzung steht für "Deutsch Stolz Treue") beispielsweise intoniert 2015 im Titel "Free Palestine" folgende Liedzeilen:
"Wer wirft Bomben auf Frauen und Kinder? ISRAEL Wer ist der Völker größter Schwindler? ISRAEL Wer schießt Raketen auf volle Schulen? ISRAEL Und wer hat den Deutschen den Stolz gestohlen? ISRAEL"
Die in der Szene kultisch verehrte Band Stahlgewitter ist auf revisionistische Inhalte spezialisiert. Der Titel "Tätervolk-City" aus dem Jahr 2006 bezieht sich mit den folgenden Zeilen auf das Holocaust-Mahnmal in Berlin:
"Ihr riesiges Wahnmal, nicht zu übersehen, so können sie jetzt täglich nach Canossa gehen. Sie kriechen wie Würmer, grüßen in Demut den zu Stein gewordenen Geßler-Hut. Tausende Stelen stehen sinnbildhaft Für ein Volk in moralischer Sippenhaft."
Die Reihe der Beispiele ließe sich mit zahlreichen weiteren Liedtexten fortsetzen. Die Musik ist innerhalb des Rechtsextremismus eines der wirksamsten Mittel zur Verbreitung antisemitischer Hetze. Ihr kann im Zeitalter des Internets mit dessen unkontrollierbaren Verbreitungsmöglichkeiten kaum Einhalt geboten werden. Gerichtliche Einziehungsbeschlüsse oder Indizierungen durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) erschweren lediglich das kommerzielle Geschäft mit rechtsextremer Musik.
Antisemitische Positionen der NPD
In einem Leitfaden für Funktionäre gibt die Parteiführung der NPD Sprachregelungen für den Fall vor, dass Parteivertreter, z. B. an Infotischen in Wahlkämpfen, mit dem Vorwurf konfrontiert werden, die NPD sei eine antisemitische Partei. Die vorgeschriebene Antwort ist aufschlussreich, denn sie dokumentiert Positionen des sekundären Antisemitismus als offizielle Parteilinie:
"… Selbstverständlich nehmen wir uns das Recht heraus, die Großmäuligkeit und die ewigen Finanzforderungen des Zentralrates der Juden in Deutschland zu kritisieren. Juden unterliegen keinem Kritikverbot. Wir lassen uns von der Holocaust-Industrie, ein Wort des Juden Norman Finkelstein, sechzig Jahre nach Kriegsende moralisch nicht erpressen, politisch nicht bevormunden und finanziell nicht auspressen. (…) Selbstverständlich darf man auch Juden kritisieren. Der von jüdischer Seite seit sechzig Jahren betriebene Schuldkult und die ewige jüdische Opfertümelei muss sich kein Deutscher gefallen lassen. Es muss endlich Schluss sein mit der psychologischen Kriegsführung jüdischer Machtgruppen gegen unser Volk."
Die Ausführungen enthalten die für die NPD charakteristischen, stereotyp wiederholten antisemitischen Argumentationsmuster. Juden im Allgemeinen und der Staat Israel im Besonderen werden als Profiteure eines angeblich von ihnen inszenierten "Holocaust-Kults" dargestellt. Wiederkehrende Elemente antisemitischer Argumentationsmuster der NPD sind ferner das Betreiben von Schuldumkehr (aus Opfern des Holocaust werden Deutschland ausbeutende Täter) und die verschwörungstheoretische Behauptung einer omnipotenten Einflussnahme von nicht näher bezeichneten jüdischen Machtgruppen. Ein weiteres Stereotyp, die Dichotomie Juden versus deutsches Volk, ist rassistisch konnotiert und gleichbedeutend mit der Ausgrenzung von Menschen jüdischen Glaubens aus der deutschen Gesellschaft. In der von der NPD als Ziel angestrebten ethnisch homogenen Volksgemeinschaft haben Juden keinen Platz, Deutsche jüdischen Glaubens scheint es für die NPD nicht geben zu können.
Zahlreiche konkrete Beispiele für die dargelegten antisemitischen Stereotype finden sich in der Deutschen Stimme, dem monatlich erscheinenden Parteiorgan der NPD. Allgemein lässt sich feststellen, dass antisemitische Aussagen keinen Schwerpunkt der Berichterstattung bilden. Das verwundert wegen des von der Parteiführung verordneten taktischen Verhaltens nicht. Andererseits gibt es aber auch kaum eine Ausgabe, die nicht zumindest implizit antisemitische oder israelfeindliche Stereotype enthält. Durch die permanente Wiederholung demaskiert sich die NPD als antisemitische Partei.
Viele Artikel der Deutschen Stimme widmen sich der israelischen Außenpolitik. Jüdischer Einfluss, so suggerieren sie, dominiere auch die die amerikanische Außenpolitik. Die USA führten im Interesse Israels Kriege in der Nahost-Region. Israel und die USA, jedoch nicht Russland oder arabische Staaten, seien die Kriegstreiber im Mittleren Osten.
Das von der NPD häufig verwendete Kunstwort "USrael" soll den die US-Politik angeblich beherrschenden jüdischen Einfluss polemisch zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne lässt die Deutsche Stimme den US-amerikanischen Psychologen Kevin MacDonald, der unter Fachkollegen als Außenseiter gilt, als scheinbar objektiven Wissenschaftler zu Wort kommen:
"Das Problem mit dem Zionismus (…) ist in erster Linie die Tatsache, dass die zionistischen Netzwerke die Außenpolitik dominieren, ganz besonders in Amerika, mit dem Ergebnis, dass der Westen in kostspielige und unnötige Kriege im mittleren Osten hineingezogen wird."
Kritik an Israel oder allgemeiner den Juden, so lautet ein weiteres Stereotyp, dürfe nicht geübt werden, denn "da es auch in einer durchweg bösen Welt irgendetwas Gutes geben muss, wurde für das Publikum im 1945 installierten Welttheater diese Rolle an die Juden vergeben".
Prägend für die Berichterstattung der Deutschen Stimme sind Artikel mit zynischen Passagen über den Holocaust. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren: Einem Artikel mit der Überschrift "Das Eigene erhalten [sic!] das Andere achten" wurde ein Foto des Holocaust-Mahnmals in Berlin mit dem Untertext "Dieser Erinnerungskult gehört nicht zur deutschen Identität" beigefügt. Im Artikel selbst wird ausgeführt:
"Selbst wenn das antisemitische Schreckgespenst nicht in der Nähe ist, muss es neu erfunden werden, um dem liberalen System Glaubwürdigkeit zu verleihen. Immer und immer wieder. Der Holocaust ist zu einer essentiellen Komponente der Identität der westlichen Welt geworden, die einen neuen quasi religiösen Symbolismus benötigt, den Holocaust-Kult."
Wenn die NPD auf das Erinnern an den Holocaust eingeht, verwendet sie in der Regel den pejorativen Begriff "Holocaust-Kult". Er soll sich im Sinne des von der NPD verfochtenen "Kampfes um die Köpfe" durch ständige Wiederholung einprägen und einen Schlussstrich unter die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ziehen.
In einem Text mit dem Titel "Der Holocaust vor dem 'Holocaust'" wurde der Völkermord an den Juden auf infame Weise relativiert: durch einen Vergleich mit dem Genozid an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich. Dieser, so die Deutsche Stimme, könne als "eigentlicher" Holocaust bezeichnend werden, weil Armenier bei lebendigem Leib verbrannt worden seien, während den Verbrennungen von Juden der Tod in Gaskammern vorangegangen sei. Die Perfidie der Argumentation setzt sich fort mit der Behauptung,
"dass die Armenier im Gegensatz zu den Juden nicht die Möglichkeit hatten, vor Beginn der Gräueltaten das Land zu verlassen".
In ähnlich niederträchtiger Weise kommentierte die Deutsche Stimme 2013 den Tod des Literaturkritikers und Intellektuellen Marcel Reich-Ranicki. Kein Wort über das Schicksal seiner Familie unter den Nationalsozialisten (Reich-Ranicki überlebte das Warschauer Ghetto, seine Eltern und sein Bruder wurden ermordet). Stattdessen schürt das NPD-Blatt den Verdacht, Reich-Ranicki selbst habe womöglich Verbrechen "an den Deutschen" begangen:
"Wir wollen nicht vergessen, dass Reich-Ranicki nach dem Krieg eine Karriere beim polnischen Geheimdienst hinlegte, unter anderem der polnischen Militärmission in Berlin angehörte und Leiter der operativen Abteilung des polnischen Geheimdienstes im oberschlesischen Kattowitz war. Ob und in welchem Ausmaß der später gefeierte Literaturkritiker damals an Massenmorden an Deutschen beteiligt war, bleibt ein Geheimnis, das Reich-Ranicki mit ins Grab genommen hat."
Bleibt noch anzufügen, dass sich die antisemitische Haltung der Deutschen Stimme auch in der Symbolsprache offenbart. Beispielsweise wurde auf dem Titelblatt der Ausgabe 12/2010 das Stereotyp des geldgierigen Juden heraufbeschworen, indem ein Stapel Geldscheine mit dem Davidsstern abgebildet wurde.
In ihrer Kontinuität weisen die Artikel der Deutschen Stimme die NPD als eine Partei aus, die von einem antisemitischen Grundkonsens ihrer Mitglieder getragen wird. In der zynischen, Individualrechte negierenden Berichterstattung dominiert die Sprache des Inhumanen. Ein Wort des Mitgefühls für die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen sucht der Leser vergebens. Doch so deutlich die antisemitische Grundhaltung der NPD bei näherem Betrachten hervortritt, so wenig bestimmt der Antisemitismus aus wahltaktischen Gründen die Kampagnenfelder der Partei. Von islamfeindlichen Kampagnen und der Agitation gegen Asylbewerber zum Beispiel verspricht sich die NPD offensichtlich eine größere Anschlussfähigkeit bei den Wählern.
Antisemitismus in anderen rechtsextremen Parteien
Die erst seit wenigen Jahren existierenden Parteien Die Rechte und Der Dritte Weg rekrutieren ihre Mitglieder zu einem großen Teil aus verbotenen neonazistischen Personenzusammenschlüssen. Im Vergleich zur NPD ist ihr öffentliches Auftreten in geringerem Maße wahltaktisch motiviert. Sie bekennen sich unverstellt zu einer an den historischen Nationalsozialismus angelehnten ideologischen Ausrichtung. Dies schließt einen antisemitischen Grundkonsens ein.
Verschwörungstheoretisch begründete Forderungen nach Abschaffung des Zentralrats der Juden auf der Facebook-Seite des Kreisverbandes Braunschweiger-Land der Partei Die Rechte oder die antizionistische Propaganda im Zusammenhang mit dem Palästinakonflikt auf der Homepage des Dritten Wegs, verbunden mit der Forderung, keine Produkte aus Israel zu kaufen, dokumentieren den antisemitischen Charakter der beiden Parteien. Dieser zeigt sich bisweilen auch in konkreten politischen Initiativen. So stellte der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende der Partei Die Rechte, Dennis Giemsch, im Rat der Stadt Dortmund eine Anfrage nach der Anzahl der in Dortmund lebenden Juden und den von ihnen bewohnten Stadtteilen. Ein Freundschaftsspiel einer israelischen Jugendmannschaft in Dortmund begleiteten Parteifunktionäre mit antisemitischen Rufen.
Fazit
Die Feststellungen für die beiden neonazistischen Parteien gelten für das neonazistische Spektrum insgesamt. Anstelle von Veranstaltungen mit historischem Bezug zum Nationalsozialismus oder zum Zweiten Weltkrieg dominieren im öffentlichen Auftreten Kampagnen, die Ressentiments gegen Asylbewerber und Muslime schüren oder das Szenario vom angeblichen Aussterben des deutschen Volkes ausmalen (Volkstodkampagne). In diese Kampagnen mischen sich zwar auch antisemitische verschwörungstheoretische Ansätze, aber sie sind nicht bestimmend. Gleichwohl ist der Antisemitismus ein ideologischer Kernbestandteil des Neonazismus. Belege hierfür sind der Erfolg antisemitischer Titel der rechtsextremen Musik, der große Verbreitungsgrad revisionistischer Publikationen, Solidarisierungsaktionen mit offen antisemitisch in Erscheinung tretenden Personen wie Mahler, Hennig und Haverbeck-Wetzel oder die Fähigkeit von Szeneangehörigen, verklausulierte antisemitische Äußerungen zu verstehen und sich ihnen anzuschließen.
Bei der Auseinandersetzung mit den beschriebenen Formen des Antisemitismus muss bedacht werden, dass Indizierungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen durch die Verbreitung des Internets an Wirkkraft verloren haben. Die inhaltliche Auseinandersetzung steht vor dem Problem, dass gegen die im Internet kursierenden Verschwörungstheorien ähnlich wie im Falle von Mythen schwer rational argumentiert werden kann, weil ihnen keine sozialen Erfahrungen zugrunde liegen. Umso wichtiger ist es, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten und hieran anknüpfend pädagogische Gegenstrategien zu entwickeln.
Internetseite der EA, "Rück- und Ausblick", Teil 1-3, November 2016
Stimme des Reiches, Nr. 4, 2014, Seite 8 ("An den Zentralrat der Juden in Berlin").
Stimme des Reiches, Nr. 4, 2014, Seite 9 ("An den Generalbundesanwalt in Leipzig").
www.deutsches-kolleg.org/erklärungen/judenfrage.shtml, abgerufen am 11.10.02
Angehörige verschiedener rechtsextremer Organisationen (darunter NPD, JN, Die Rechte) führten am 28.05. im Rahmen eines bundesweiten Aktionstages Solidaritätskundgebungen für Mahler vor der ungarischen Botschaft in Berlin und vor den ungarischen Konsulaten in Düsseldorf, Erfurt und München durch. Bereits einen Tag zuvor hatten deutsche Rechtsextremisten vor der deutschen Botschaft in Budapest gegen die Festnahme Mahlers protestiert.
In Anlehnung an Daniel Goldhagen ein Denken, das auf die Vernichtung von Juden zielt.
Der Titel wurde 2016 auf der CD "Sieg oder Tod" veröffentlicht, die noch im selben Jahr von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert und auf die Liste B gesetzt wurde. Die Bandmitglieder stammen aus der Schweiz und Thüringen. Das Lied war bereits auf der CD "Herrenrasse" der Gruppe "Macht und Ehre" enthalten (Beschlagnahme- und Einziehungsbeschluss 1997).
Die Band D.S.T stammt aus Berlin. Zwei Bandmitglieder wurden 2009 u. a. wegen Volksverhetzung zu Bewährungstrafen verurteilt. Der Titel wurde auf der 2015 erschienenen CD "Wehret den Anfängen" veröffentlicht. Die Indizierung (Liste A) erfolgte im September 2015.
Der Titel wurde auf der CD "Auftrag Deutsches Reich" veröffentlicht (indiziert nach Liste B). Die Gruppe Stahlgewitter um den Sänger Daniel GIESE findet großen Zuspruch in der rechtsextremistischen Szene. 2017 stand die Band im Mittelpunkt von zwei Konzerten in der Schweiz und in Thüringen. Die Konzerte wurden von 5000 bzw. 6000 Rechtsextremisten besucht.
Eine Form des Antisemitismus, die Judenfeindschaft nicht unmittelbar, sondern indirekt zum Ausdruck bringt, etwa durch die Relativierung des Holocausts.
NPD-Parteivorstand (V.i.S.d.P. Jens Pühse; Verfasser: Jürgen Gansel), Wortgewandt: Argumente für Mandats- und Funktionsträger, Berlin 2012, S. 16 f.
Deutsche Stimme, Juni 2013, S. 3.
Deutsche Stimme, Mai 2012, S. 4.
Deutsche Stimme, Februar 2013, S. 20f.
Deutsche Stimme, Februar 2012, S. 24.
Deutsche Stimme, Oktober 2013, S. 5.
Niedersächsischer Verfassungsschutzbericht 2014, S. 98.
Vgl. Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2014, S. 61.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-31T00:00:00 | 2017-12-08T00:00:00 | 2022-01-31T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/261322/der-antisemitismus-im-heutigen-rechtsextremismus/ | Die Feindschaft gegen Juden ist nach wie vor ein zentrales Thema für Rechtsextreme jeglicher Couleur – er findet sich in Parteien ebenso wie in der subkulturellen Musikszene oder bei Holocaust-Leugnern. Allerdings tritt der Antisemitismus sehr unters | [
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"rechtsextreme Musik",
"Judenfeindlichkeit",
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Jugendliche im Fokus der Online-Rekrutierung für den militanten Jihad | Presse | bpb.de | Sehr geehrte Damen und Herren,
die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb fördert seit 2014 das Projekt „Islamismus im Internet“. Der Projektpartner jugendschutz.net arbeitet online im Umfeld radikalisierungsgefährdeter Jugendlicher und junger Erwachsener, durchsucht das deutschsprachige Internet nach jugendgefährdenden islamistischen Inhalten, informiert gegebenenfalls die Provider und arbeitet die Erkenntnisse zur Verwendung in der politischen Bildung und zur Entwicklung nachhaltiger Gegenstrategien auf.
Für Sie als Journalistinnen und Journalisten sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus den Bereichen politische Bildung, Jugendarbeit, Schule, Muslimische Gemeinden, Verwaltung, Sicherheitsbehörden und Medien stehen die ersten Zwischenberichte nun online zur Verfügung:
Islamisten stacheln online zu Judenhass an - Antisemitische Hetze im Social Web, Jugendliche übernehmen Parolen Externer Link: http://hass-im-netz.info/s/islamismus-antisemitismus Islamistische Propagandavideos im Netz - Jugendliche im Fokus der Online-Rekrutierung für den militanten Jihad Externer Link: http://hass-im-netz.info/s/islamismus-videos Darstellungen von Gewalt, Leid und Opfern - Empfehlungen für die Berichterstattung und den Umgang in sozialen Netzwerken Externer Link: http://hass-im-netz.info/s/islamismus-gewalt Kontakte für inhaltliche Rückfragen: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Hanne Wurzel Adenauerallee 86, 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-530 E-Mail Link: hanne.wurzel@bpb.de
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Mit freundlichen Grüßen
Daniel Kraft - Leiter Stabsstelle Kommunikation-
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Pressekontakt:
Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-11-28T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/197059/jugendliche-im-fokus-der-online-rekrutierung-fuer-den-militanten-jihad/ | Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb fördert seit 2014 das Projekt „Islamismus im Internet“. Der Projektpartner jugendschutz.net arbeitet online im Umfeld radikalisierungsgefährdeter Jugendlicher und junger Erwachsener, durchsucht das deutsc | [
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Kubanische Metamorphosen | Lateinamerika | bpb.de |
Taxifahrer vor seinem historischen Fahrzeug in der Altstadt von Havanna, Kuba im Juni 2001. (© AP)
"Alle wollen weg aus Cuba, einer zog hin", titelte "Die Woche 1995. Der eine war ich. Der vor kurzem als Zahlungsmittel wieder zugelassene Dollar kostete auf der Straße 150 kubanische Pesos. Die Stromausfälle wurden zur Geißel der Insel. Manche gaben Castro noch zehn Tage, andere, unverbesserliche Optimisten aus der linken Szene, gönnten ihm einen weiteren Monat. Kaum einer zweifelte nach Auflösung der Sowjetunion und dem weltweiten Verlust der Import- und Exportmärkte Kubas daran, dass nun auch diese Utopie gescheitert war. Nur wenige setzten sich wie ich eine rosarote Brille auf. Nur wenige hofften noch, dass die Insel mit ihrem manchmal bizarren, aber immer tropikalen Sozialismus der Rache des Kapitals trotzen könne. Ich nistete mich in Havanna ein, als gäbe es überhaupt nichts zu befürchten. Ich ließ mich als Journalist akkreditieren und schrieb über alles, was die große Presse gründlich übersah. Zum Beispiel über die Nächte in Havanna.
Der "periodo especial", die besondere Zeit mit ihrer Kriegswirtschaft in Friedenszeiten brachte ja nicht nur Hunger, leere Läden und lichtlose nächtliche Straßen mit sich. Der Wille vor allem junger Frauen, das Leben zu leben, koste es, was es wolle, brach sich seine Bahn. Die Dollar-Bars in der Altstadt Havannas blieben bis in den frühen Morgen hinein geöffnet. Die Touristen, die Vorhut des erhofften und ein paar Jahre später Wirklichkeit gewordenen Booms, tanzten mit den Mädchen zur mitreißenden Salsamusik der Band in der Ecke. Die nächtliche Fröhlichkeit breitete sich aus wie ein Pilz, wie eine besondere Hefe, die außer der Lust des Augenblicks nichts gelten ließ. Wer Glück hatte, bekam einen dollarschweren Ausländer ab, der alle Sorgen aus der Welt schaffte. Selten wurden in Cuba so viele kranke Großmütter geheilt, wie in diesen Jahren auf dem Tiefpunkt der Krise, denn die Touristen brachten nicht nur ihre Dollars unter die Leute, sie hatten auch Medikamente im Gepäck und so vieles andere, was auf der Insel einfach nicht mehr aufzutreiben war. Aber außerhalb der Dollar-Bars und weg von den Stränden fragten sich die mager gewordenen Kubaner weiterhin, wie lange das alles noch so weitergehen könne.
Neugier hatte mich hergetragen. Auch ich fragte mich, wie lange noch, was wird Castro einfallen, um mit seiner Revolution die Kurve zu kriegen, jetzt, da ihm keiner mehr hilft. Ich forschte in den Gesichtern der Menschen, starken, ausdrucksvollen Gesichtern aller Hautfarben unter Turbans, Baseballkappen, Hüten, Kopftüchern, Spiegelbilder ihrer Gesellschaft, aber gezeichnet vom Hunger, von der Hydra der Probleme im Alltag, von der Abwesenheit auch nur des Gedankens an irgendeine Zukunft. "Patria o Muerte", sagte der Chef, "Socialismo o Muerte", sagte der Chef, "Venceremos!" ("Wir werden siegen!").
Und dann machte sich Kuba auf den langen, mühsamen Marsch aus der totalen Krise. Alles begann mit einer Zahl. Das Bruttosozialprodukt war 1994 zum ersten Mal wieder gewachsen, um sage und schreibe 0,2 Prozent. Aber 0,2 Prozent von was? Alles war geschrumpft in diesen Jahren. 0,2 Prozent Wirtschaftswachstum bedeutete 0,2 Prozent von nichts. Aber trotzdem: Es ging nicht mehr nach unten mit Kuba, zumindest konnte man sich das einbilden, wenn man wie ich der Insel die Daumen drückte. Zumindest fand ein klitzekleines Pflänzchen Hoffnung, ein Eckchen mit Humus, auf dem es wachsen konnte.
Die Regierung ergriff Maßnahmen und erklärte ihre Maßnahmen dem Volk. Das Volk billigte die Maßnahmen seiner Regierung. Schließlich lebte man in einem sozialistischen System. Dass der Dollar endlich wieder ein legales Zahlungsmittel war, hat in vielen Kubanern einen lange nicht gekannten Optimismus geweckt. Denn ein Großteil von ihnen lebte von dem Geld, das die ausgewanderten Verwandten schickten. Und wer über dieses Geld verfügte, stand jetzt nicht mehr mit einem Fuß im Gefängnis. Jetzt stand dafür wieder die Klassengesellschaft vor der Tür. Wer Dollars hatte, war fein raus, die anderen blickten in die Röhre. Aber in den Dollar-Läden begannen sich die Regale wieder zu füllen. Im Dollar-Diplomaten-Großmarkt schoben sie Einkaufswagen voller Schätze hinaus zu ihren Autos. Die anderen bewachten die Parkplätze und sammelten Groschen.
Die Regierung ergriff weitere Maßnahmen, denen der Ruch des Kapitalismus anhaftete. Joint Ventures entstanden, und die beteiligten Ausländer durften ihre Gewinne abzugsfrei nach Hause verfrachten. Der Staat stampfte Freihandelszonen aus dem Boden, Mercedes, aus Furcht vor dem US-Helms-Burton-Act als Zweigstelle der Niederlassung in Kairo angetreten, verkaufte die ersten Limousinen. Selbst für die Mittelschicht fiel etwas ab. Plötzlich war es Privatpersonen erlaubt, mit dem staatlichen Ernährungsmonopol zu konkurrieren. Die Paladare, Kleinrestaurants mit weniger als 13 Sitzplätzen, betrieben ausschließlich von Familienmitgliedern, wurden zu Eckpfeilern der Hoffnung auf ein Leben, in dem man mit ehrlicher Arbeit ehrliches Geld verdienen konnte.
Am deutlichsten zeigte sich die Trendwende in der Altstadt Havannas. Die hatte die Revolution gründlich vernachlässigt, um die schon viel länger darbenden Provinzen zu unterstützen. Eusebio Leal, der Stadthistoriker, nahm die Sache in seine energischen Hände. Haus für Haus, Kolonialpalast für Kolonialpalast, Straßenzug für Straßenzug begann Leal mit der Wiederherstellung dieses Kulturguts der Menschheit, eine Sisyphusarbeit angesichts der Tatsache, dass diese verkommene, hochgradig baufällige Altstadt von mehr als 100.000 Menschen bewohnt wird.
Viele der Maßnahmen der Regierung griffen, aber häufig nahmen "die da oben" mit der Linken zurück, was sie mit der Rechten eher unfreiwillig hergegeben hatten. Am schlimmsten kam es für die Besitzer der Paladare. Der Staat schickte unablässig seine Kontrolleure und verhängte gigantische Bußgelder, oft ohne jeden Grund. Viele hielten trotzdem durch, da erhöhte der Staat drastisch die Steuern und die Abgaben für die Betriebsgenehmigungen. Nur wenige überlebten, weil die Touristen dem Märchen aufsaßen, in einem Paladar esse man besonders billig. Das Gegenteil war der Fall. Nur noch eine Handvoll dieser Restaurants retteten sich in Havanna.
Auch im Straßenverkehr bestätigte sich die Trendwende. Bis Mitte der Neunzigerjahre bestimmten ihn Ladas und alte Ami-Schlitten. Die waren zwar in jämmerlichem Zustand, aber als Taxis eingesetzt, ernährten sie auch nach Abzug der hohen Kosten für die Lizenz ihren Mann. Und langsam, erst hie und da, dann immer häufiger, wurden sie wieder zu richtigen Autos. Die Chevy-Motoren wichen Lada-Ersatzteilen (der Fantasie des Kubaners sind keine Grenzen gesetzt), Lack fand erneut einen Markt, und inzwischen gibt es auch wieder Luxusausführungen, für die reiche Kubaner bis zu 15.000 US-Dollar hinblättern. Nur die immer noch überfüllten Kamele, Riesenbusse für mehr als 200 Fahrgäste weisen noch darauf hin, dass Kubas Verkehrsprobleme keinesfalls gelöst sind.
Francisco Repilado, bekannt als Compay Segundo (* 18. November 1907 in Siboney bei Santiago de Cuba; 14. Juli 2003 in Havanna), hier auf einem Bild aus dem Jahr 2001, war Mitglied des Buena Vista Social Clubs. (Bild: ap)
Dass da auf diese und jene vertrackte Art ein neues Lebensgefühl entsteht, zeigt sich auch auf dem Musikmarkt, Buena Vista Social Club und die Salsa sind bei den jungen Kubanern ins Glied zurückgetreten. Ihre Plätze nehmen jetzt Hiphop, Rap und Reggaeton ein, eine Revolution innerhalb der Revolution, die vielen Älteren die Haare zu Berge stehen lässt.
Und die Zukunft? Die ewige kubanische Frage findet weiterhin keine Antwort. Immerhin steht der Dollar jetzt auf 24 Pesos der Landeswährung, und als Zahlungsmittel hat er bereits wieder ausgedient. Castro hat ihn einfach abgewertet. Jetzt suchen die Kubaner Euros.
Sodom und Gomorrah dagegen haben keine Ähnlichkeit mehr mit dem nächtlichen Havanna. Sich mit einem Ausländer zu zeigen, ist für junge Frauen zu einer erneuten Art russischen Rouletts geworden. Die Polizei greift sie und arbeitet dabei ziemlich effektiv, wenn auch nicht immer auf der Basis der Legalität. Und jetzt ist in Havanna nach neun Uhr abends wieder Schluss mit lustig.
Schade drum. Meine Neugier hat sich trotzdem gehalten, wenn sie auch ein vernünftiges Maß geschrumpft ist. Ganz nebenbei: Inzwischen hat die Regierung mir Betriebsverbot erteilt.
Taxifahrer vor seinem historischen Fahrzeug in der Altstadt von Havanna, Kuba im Juni 2001. (© AP)
Francisco Repilado, bekannt als Compay Segundo (* 18. November 1907 in Siboney bei Santiago de Cuba; 14. Juli 2003 in Havanna), hier auf einem Bild aus dem Jahr 2001, war Mitglied des Buena Vista Social Clubs. (Bild: ap)
| Article | Henky Hentschel | 2022-02-02T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2022-02-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/mittel-suedamerika/lateinamerika/44785/kubanische-metamorphosen/ | Für einen US-Dollar musste man 1995 in Havanna 150 kubanische Pesos bezahlen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem wichtigsten Wirtschaftsmarkt, zweifelte kaum jemand daran, dass Fidel Castros Utopie endgültig gescheitert war. Nur wenige setzt | [
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Teilhabe von Migranten an gesellschaftlichen Aktivitäten | 12. Bundeskongress Politische Bildung | bpb.de |
Mit Externer Link: Dr. Andreas Wojcik, Externer Link: Forum der Brückenbauer, sprach das Team von Externer Link: werkstatt.bpb.de über die Teilhabe von Migranten an gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten. Selbstorganisation, Vernetzung und Engagement in politischen Parteien – im Falle Wojciks der CDU, in der er eine regionale Arbeitsgruppe von Migranten in der Union ins Leben gerufen hat – sind für ihn Wege, um Sichtbarkeit und Partizipation zu steigern. (Hinweis auf Sektion 7 des Bundeskongresses: Externer Link: "Mitwirkung für Alle? Inklusion und Exklusion") | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-11-12T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/194945/teilhabe-von-migranten-an-gesellschaftlichen-aktivitaeten/ | Mit Dr. Andreas Wojcik, Forum der Brückenbauer, sprach das Team von werkstatt.bpb.de über die Teilhabe von Migranten an gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten. Selbstorganisation, Vernetzung und Engagement in politischen Parteien sind für ihn | [
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Buko-Referenten äußern sich zu PEGIDA | 13. Bundeskongress Politische Bildung – Ungleichheiten in der Demokratie | bpb.de | Oliver Nachtwey und Klaus-Peter Hufer, die auch beim Bundeskongress als Referenten dabei sein werden, haben sich in den letzten Tagen zu PEGIDA geäußert. Hier finden Sie ihre Beiträge:
Externer Link: 13.1.2015 Oliver Nachtwey im zdf heute.de Interview zu PEGIDA
Externer Link: und im Interview am 14.1.2015 mit radioeins rbb
Externer Link: 12.1.2015 Klaus-Peter Hufer zu PEGIDA in der Westdeutschen Zeitung
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2015-01-15T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/13-bundeskongress-politische-bildung-ungleichheiten-in-der-demokratie/199134/buko-referenten-aeussern-sich-zu-pegida/ | Oliver Nachtwey und Klaus-Peter Hufer, die auch beim Bundeskongress als Referenten dabei sein werden, haben sich in den letzten Tagen zu PEGIDA geäußert. | [
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Nach dem Nato-Gipfel | Hintergrund aktuell | bpb.de | Am Montagabend (21. Mai) ist der diesjährige Nato-Gipfel in Chicago zu Ende gegangen. Zentrales Thema war der für Ende 2014 geplante Abzug der Nato-Kontingente aus Afghanistan, an dem die 28 Mitglieder des Bündnisses festhalten wollen. Ab 2015 sollen die Nato-Staaten dann nur noch für die Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte zuständig sein - der genaue Umfang des künftigen Engagements der Nato im Land ist allerdings noch nicht vollständig geregelt.
Frankreich zieht ISAF-Kontingente bis Ende des Jahres ab
Frankreichs neuer Staatspräsident François Hollande setzte auf dem Gipfel durch, dass die französischen Truppen bereits Ende dieses Jahres Afghanistan verlassen werden. Ab 2013 sollen demnach nur Soldaten für die Ausbildung der afghanischen Polizei und Armee im Rahmen der Nato-geführten Schutztruppe ISAF im Land verbleiben.
Derzeit sind etwa 130.000 Soldaten aus 50 Ländern als Teil der ISAF-Truppe in Afghanistan im Einsatz. Die deutsche Bundeswehr ist mit circa 4.800 Soldaten im Norden Afghanistans stationiert. Zuletzt hatte der afghanische Präsident Hamid Karzai einen zügigen Abzug der ausländischen Truppen gefordert - obwohl die Sicherheitslage im Land angespannt bleibt.
Sparprogramm "Smart Defense"
Angesichts ihrer schrumpfenden Militärbudgets sollen sich die Nato-Mitglieder künftig stärker über den Einsatz ihrer Budgets abstimmen. "Smart Defense", kluge Verteidigung, nennt Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen das Konzept.
Raketenabwehrsystem soll gebaut werden
Die Nato will das Projekt eines Raketenabwehrsystems weiter vorantreiben. Damit soll Europa vor einer möglichen Bedrohung durch Mittelstreckenraketen - etwa aus Iran - geschützt werden. Laut Nato hat das Bündnis bis dato grundlegende Kommando- und Kontrollstrukturen geschaffen. Geplant ist ein System aus Satelliten, Schiffen, Radaranlagen und Abfangraketen mehrerer Nato-Länder, das bis 2020 einsatzbereit sein soll. Das Projekt hatte immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Russland geführt. Moskau sieht sich durch die Pläne bedroht und hat massive Vorbehalte geäußert.
Zentrales Rüstungsprojekt: "Alliance Ground Surveillance"
Auch bei weiteren Rüstungsvorhaben wollen die 28 Nato-Staaten künftig enger zusammenarbeiten. Insgesamt wurden auf dem Gipfel rund 20 Projekte angeschoben. Eines davon ist das gemeinsame Drohnenprojekt "Alliance Ground Surveillance". Die Kosten von bis zu 1,5 Milliarden Euro teilen sich 13 Nato-Länder, darunter auch Deutschland.
Mehr zum Thema
Interner Link: Russland und die NATO: Grenzen der Gemeinsamkeit Interner Link: Auf dem Weg zum Weltpolizisten? Interner Link: Entwicklungslinien des Atlantischen Bündnisses
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-26T00:00:00 | 2012-05-21T00:00:00 | 2022-01-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/136750/nach-dem-nato-gipfel/ | Frankreich zieht seine Kampftruppen bereits Ende des Jahres aus Afghanistan ab, die Nato-Mitgliedstaaten wollen in Zeiten knapper Verteidigungsbudgets enger zusammenarbeiten und der Aufbau des Raketenabwehrsystems in Europa soll beginnen - das sind d | [
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Urbanization, Migration Systems within Bangladesh and Translocal Social Spaces | Bangladesh | bpb.de |
Dhaka, the capital of Bangladesh, is a megacity of contrasts. The city's biggest slum (Karail) is located directly opposite Gulshan, the district of business and diplomats. (© Benjamin Etzold)
In 2015, Bangladesh had an estimated population of 161 million people. Two thirds of the population still lives in rural areas; one third resides in urban areas (see Table 6). But due to prevailing poverty and food insecurity in some parts of the country, regular disruptions of rural livelihoods by natural hazards such as cyclones and floods, more economic opportunities in cities, centralistic educational structures, and improved transportation networks, more and more Bangladeshis have become mobile. The 2011 population census revealed that 13.5 million people have left the administrative district in which they were born, which is ten percent of the population. Most movements take place within the country and over shorter distances. 44 percent of these 13.5 million internal migrants have moved from rural to urban areas, another 43 percent from rural to rural areas, nine percent from one city to another, and only four percent from urban to rural areas. Internal migration is thus an everyday practice in Bangladesh. Nonetheless, nine out of ten people have not (yet) been mobile themselves.
Dhaka, the capital of Bangladesh, is a megacity of contrasts. The city's biggest slum (Karail) is located directly opposite Gulshan, the district of business and diplomats. (© Benjamin Etzold)
The growth of the garments industry triggered rising internal migration to Bangladesh’s large cities. The production and export of textiles started in the early 1980s, which gradually changed Bangladesh’s role in the global economy fundamentally. In 1985, roughly 120,000 people worked in 380 garment factories, while it was around 1.6 million workers in 3,200 factories in 2000, and even four million workers in 4,200 factories in 2014. This industrial boom also led to social transformations as young rural women, who did not migrate in large numbers before, gained access to livelihood opportunities in the urban factories. The garment factories are predominantly situated in and around the capital city, which fueled the growth of Dhaka’s economy and population (see Table 6). Other major cities could not compete with Dhaka’s extensive population growth. Chittagong, for instance, once the major harbor city of Bangladesh, not only lost economic weight, its share of the total urban population also decreased significantly.
Table 6: Population and city development in Bangladesh (in thousand people)
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Bangladesh (total population)37,895 49,537 66,309 82,498 107,386 132,383 151,152 169,566 Urban population1,6232,5445,03512,25221,27531,23046,03564,480 % of the total population4%5%8%15%20%24%31%38% Dhaka 336 508 1,374 3,266 6,621 10,285 14,731 20,989 % of the total population1%1%2%4%6%8%10%12% % of the urban population21%20%27%27%31%33%32%33% Chittagong 289 360 723 1,340 2,023 3,308 4,106 5,155 % of the urban population18%14%14%11%10%11%9%8% Khulna 61 123 310 627 985 1,247 1,098 1,039 % of the urban population4%5%6%5%5%4%2%2% Rajshahi 39 56 105 238 521 678 786 943 % of the urban population2%2%2%2%2%2%2%2%
Source: UN (2014), World Urbanization Prospects, the 2014 Revision, New York: United Nations Department of Economic and Social Affairs, Population Division, Externer Link: http://esa.un.org/unpd/wup/ (accessed: 2-4-2015).
Inside Bangladesh, migrants move in order to earn extra cash-income that is needed for their family’s daily consumption, to overcome livelihood crises such as hunger during the annual lean season, to diversify risks and buffer shocks such as failed harvests, or to invest in their own future through better education or better jobs. Several migration systems coexist: permanent rural-urban and urban-urban migration, temporary migration to cities, and seasonal labor migration to agricultural regions. People’s access to migration opportunities and their choice of destinations reflects existing patterns of social inequality: Members from more affluent households move to urban destinations for secure employment in the formal economy or for higher education. The rural "middle class" (and "lower class") either goes to cities like Dhaka to work in the garments industries, the construction sector or the informal economy, or temporarily moves to other rural regions in order to work as agricultural laborers during the harvest seasons. The poorest people often cannot afford the initial investments needed for migration, nor do they have access to necessary networks or even the physical capability to migrate at all. They remain locally "trapped" in poverty.
Garments made in Bangladesh are exported all over the world in containers (in the background of the image). Still, 20 per cent of the population live in great poverty. The image shows homeless people sleeping on the roof of the city's central train station. (© Benjamin Etzold)
Bangladeshi families who have migrants among their members nowadays organize their livelihoods dynamically across different places. Their life is characterized through their experience of migration, their social networks across and their "simultaneous embeddedness" in specific places. They are living translocal lives and those who have migrated internationally have built "transnational social spaces". The translocal or transnational relations between migrants and those that are left at home are carefully maintained through money transfers, regular mobile phone or skype calls as well as facebook and other social media. The home village is visited regularly, in particular for traditional festivities that play an important cultural role for a community and for family life, for instance marriages, funerals or Eid-ul-Fitr at the end of the Ramadan.
This article is part of the Interner Link: country profile Bangladesh.
Garments made in Bangladesh are exported all over the world in containers (in the background of the image). Still, 20 per cent of the population live in great poverty. The image shows homeless people sleeping on the roof of the city's central train station. (© Benjamin Etzold)
BBS (2012), p. 322.
According to the data provided by the Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association, Externer Link: http://www.bgmea.com.bd/home/pages/TradeInformation#.Uo2-I-Ly-no (accessed: 3-21-2015).
Afsar (2005); World Bank (2007); Siddiqui et al. (2010).
See Afsar (2005), Etzold et al. (2014), and Peth/Birtel (2015) for more insights into the relation between social inequality and (seasonal) labor migration.
See, for instance, Steinbrink (2009), Brickel/Datta (2011) or Greiner/Sakdapolrak (2013) for an introduction to the academic literature on transnationalism, translocality and translocal livelihoods.
See Gardner (1995), Danneker (2005), and Zeitlyn (2012) for vivid descriptions of Bangladeshi international migrants and the diaspora’s transnational lives, and Etzold (2014), Peth/Birtel (2015), and Sterly (2015) for explorations into the translocal lives of internal migrants and seasonal workers.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-18T00:00:00 | 2015-11-23T00:00:00 | 2022-01-18T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/216108/urbanization-migration-systems-within-bangladesh-and-translocal-social-spaces/ | Mobility marks the daily life of many people in Bangladesh. It is a strategy to secure their livelihoods. Annually, hundreds of thousands of Bangladeshis leave to work abroad, but internal migration has also been on the rise in recent years against t | [
"urbanization",
"Migration",
"Bangladesh",
"Bangladesch",
"Verstädterung"
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M 07.13 Das kannst du tun! - Aktionsmöglichkeiten für den Klimaschutz | Umweltbewusstsein und Klimaschutz | bpb.de | Einkaufen
Regionale Produkte kaufen Kaufen Sie regionale Produkte – das spart überflüssige Transportwege und -kosten (Unterstützung der regionalen Landwirtschaft).
Weniger Tierprodukte konsumieren Täglich wird Regenwald abgeholzt, um Platz für neue Soja-Plantagen und Rinderweiden zu schaffen. Die Soja dient vorwiegend den Tieren als Futter. Ein Teufelskreis, denn bei der Entwaldung wird Kohlendioxid freigesetzt und die Rinder stoßen eine nicht unbeträchtliche Menge Methan aus. Versuchen Sie sich daher, beim Fleisch- und Milchproduktkonsum etwas einzuschränken. Gesund ist der Genuss von 600 Gramm Fleisch pro Woche, was von den meisten Deutschen bei weitem überschritten wird.
Produkte aus Bio-Anbau kaufen Bio-Landwirtschaft greift im Vergleich zu herkömmlicher Landwirtschaft nur auf ein Drittel soviel fossile Energieträger zurück, verwendet weniger Kunstdünger und verzichtet auf Spritzmittel.
Recyclingpapier kaufen Für die Herstellung von Recyclingpapier werden weniger Energie und Wasser benötigt.
Nachfüllpacks bevorzugen Bevorzugen Sie beim Einkauf Nachfüllpacks, um überflüssigen Müll zu vermeiden.
Getränke in größeren Flaschen einkaufen Ziehen Sie beim Einkauf 1,5 Liter-Flaschen den kleineren Flaschen vor. Bei deren Herstellung wird im Vergleich weniger Material und damit auch weniger Energie benötigt.
Mehrwegtasche verwenden Kaufen Sie keine Plastiktüten, sondern benutzen Sie lieber eigene Taschen, Stofftaschen oder Einkaufskörbe. [...]
Heizung
Türen und Fenster abdichten Das Abdichten von Fenstern und Türen verhindert, dass Wärme unkontrolliert nach außen entweicht und mehr geheizt werden muss.
Heizung nachts runterdrehen Die Heizung sollte nachts reduziert werden (Nachtabsenkung), aber auch nicht ausgeschaltet sein. Sie benötigt sonst am nächsten Tag viel Energie, um die Temperatur wieder herzustellen.
Heizung nicht voll aufdrehen Vermeiden Sie es, die Heizung auf vollen Touren laufen zu lassen. Schon mit am besten einem Grad weniger Raumtemperatur verringern Sie Heizkosten und Energieverbrauch stark (durch Thermostate steuern!).
Heizkörper nicht verdecken Stellen Sie keine Möbel vor die Heizkörper und verdecken Sie diese nicht mit Vorhängen. Diese Barrieren verhindern den Wärmefluss in den Raum und erhöhen so die Heizkosten.
Stoßlüften Im Winter sollten Sie lieber nicht die Fenster kippen oder gar auf Dauerlüftung stellen. Öffnen Sie die Fenster stattdessen wenige Minuten komplett. So vermeiden Sie, dass die Wände auskühlen und zuviel Wärme entweicht. [...]
Nachts Rollläden und Vorhänge schließen Bei den tiefen Außentemperaturen in der Nacht geht die meiste Wärme über die Fenster verloren. Wenn Sie Rollläden, Vorhänge und Klappläden schließen, können Sie diesen Wärmeverlust bereits um einige Prozent eindämmen. Noch besser: Wärmeisolierte Fenster einbauen (lassen).
Thermostatventile Schon eine um ein Grad Celsius höhere Raumtemperatur lässt den Energieverbrauch einer Heizung um fünf bis sechs Prozent steigen. Thermostatventile, die die Heizung bei Erreichen der gewünschten Raumtemperatur automatisch drosseln, sollten deshalb an keinem Heizkörper fehlen. Noch besser, weil genauer, sind programmierbare elektronische Thermostatventile. Damit kann man auch als Mieter Nebenkosten sparen. So lässt sich zum Beispiel die Raumtemperatur werktags, wenn alle bei der Arbeit oder in der Schule sind, oder auch nachts automatisch senken. Und zum Feierabend, zum Schulschluss oder morgens beim Aufstehen ist es dann wieder angenehm warm in der Wohnung. Das Austauschen der Ventile ist ganz leicht: einfach die alten Thermostatventile abschrauben und die neuen aufschrauben. Bei einem Umzug können Sie die neuen Ventile wieder gegen die alten austauschen und mitnehmen. [...]
Dach isolieren Den Hausbesitzern mitteilen, dass man eine Energiebilanz zum Haus/zur Wohnung erstellen kann. Bei schlechter Dachisolierung entweicht viel Wärme. Durch Verbesserung kann viel Energie (und Geld) gespart werden (Dachdecker fragen!).
Kühlen
Kühlschrank am richtigen Ort aufstellen Der Kühlschrank gehört zu den größten Stromfressern im Haushalt. Auch hier lassen sich Strom und Kosten sparen, wenn das Gerät an einem kühlen Ort aufgestellt wird und Luftzirkulation über das Kühlgitter läuft.
Kühlschrank nicht unnötig lange öffnen Das Gerät braucht weniger Strom, wenn die Türen nicht länger als notwendig geöffnet werden. Am meisten Energie verbraucht der Kühlschrank nach dem Einkauf, wenn das Gerät die frisch eingeräumten Lebensmittel herunterkühlen muss.
Lebensmittel abkühlen lassen, bevor sie in den Kühlschrank kommen Lassen Sie noch heiße Gerichte erst auf Raumtemperatur abkühlen, bevor Sie diese in den Kühlschrank stellen. Das Gerät braucht so weniger Energie, um die Nahrungsmittel herunterzukühlen.
Kühlschrank bei Vereisung abtauen Wenn sich im Tiefkühlfach Ihres Kühlschranks eine Eisschicht gebildet hat, sollten Sie diesen abtauen, denn diese verringert die Kühlwirkung und erhöht den Stromverbrauch.
Kühlschrank bei längerer Abwesenheit abschalten Wenn Sie mehrere Wochen nicht zuhause sind, sollten Sie den Kühlschrank ganz abschalten. Vergessen Sie nicht, die Tür offen stehen lassen, um Schimmelbildung zu vermeiden.
Lebensmittel im Kühlschrank gut verpacken Legen Sie die Lebensmittel im Kühlschrank am besten in Dosen und verpacken Sie auch die Nahrungsmittel im Gefrierfach gut (einfache Handhabung).
Auf Gefrierschrank verzichten Wenn möglich, sollten Sie auf einen Gefrierschrank oder eine Gefriertruhe verzichten, denn diese sind wahre Stromfresser. Meist tut es auch schon ein kleines Gefrierfach im Kühlschrank.
Kochen
Mikrowelle seltener benutzen Die Mikrowelle hat einen hohen Stromverbrauch. Nutzen Sie das Gerät für kurze Wärmzeiten und kleines Gargut.
Gefrorene Lebensmittel rechtzeitig auftauen Lassen Sie gefrorene Lebensmittel rechtzeitig im Raum auftauen, um hierfür nicht die Mikrowelle einsetzen zu müssen.
Kochen mit Deckel Schließen Sie beim Kochen den Kochtopf. Ein offener Topf erhöht den Energieverbrauch.
Kochtopf mit richtiger Größe Stellen Sie auf die Herdplatten nur Kochtöpfe der richtigen Größe. Wenn der Topf über die Platte hinausragt, verlängert das die Kochzeit. Ist sein Durchmesser dagegen zu klein, geht Energie ungenützt verloren.
Schnellkochplatte benutzen Setzen Sie die Schnellkochplatte ebenso ein wie Schnellkochtöpfe, um die Kochzeit zu verringern.
Energiesparend kochen Kochen Sie mit einer möglichst geringen Menge Wasser und schalten Sie die Kochplatte rechtzeitig aus, um die Nachhitze zu nutzen.
Wasserkocher statt Herd nutzen Wenn sie Wasser für Tee oder ähnliche Getränke erhitzen, nutzen Sie lieber den Wasserkocher statt der Herdplatte.
Nicht mehr Wasser als benötigt kochen Füllen Sie in den Wasserkocher nur soviel, wie Sie auch wirklich benötigen. Mehr Wasser bedeutet mehr Stromverbrauch, zudem braucht der Wasserkocher dann länger.
Mit Gas kochen Wegen der höheren Energieeffizienz sollten Sie - wenn möglich - wie die Profis mit Gas und nicht mit Strom kochen.
Bad
Duschen statt Baden Ziehen Sie eine Dusche dem Vollbad vor und duschen Sie nicht länger als nötig (Kaltduschen härtet ab).
Niederdruck-Brausekopf installieren Wenn Sie einen Niederdruck-Brausekopf in Ihre Dusche einbauen, sparen Sie mehr als die Hälfte der Wassermenge und Energie.
Wasserhahn zudrehen Drehen Sie den Wasserhahn zu, während Sie sich beispielsweise die Zähne putzen. Außerdem sollten Sie tropfende Hähne reparieren. [...]
Spülstopptaste für die Toilette Nutzen Sie eine Spülstopp- bzw. Spartaste.
Energieverbrauch im Haushalt allgemein
Den Stromanbieter wechseln Es gibt vier größere bundesweite Anbieter von Ökostrom: greenpeace energy, Lichtblick, Elektritzitätswerke Schönau (EWS) und Naturstrom AG. Der NABU empfiehlt diese mit seiner Beteiligung an der Kampagne, um möglichst viele Leute bundesweit zu einem Anbieterwechsel zu motivieren. Auf der Website stellen wir unsere Mindestkriterien und die Anbieter kurz vor. Unter Externer Link: https://www.verivox.de findet sich ein Ökostromrechner, der auch einen Preisvergleich mit regionalen und konventionellen Stromanbietern ermöglicht. Wenn ein Anbieter beim Grünen Strom Label zertifiziert ist, wird sowohl die Herkunft des Stroms aus Erneuerbaren Energien wie auch ein zusätzlicher Förderbeitrag zum Neubau von zusätzlichen Anlagen garantiert. Mit dem Wechsel zu einem Ökostromanbieter leisten Sie ihren individuellen Beitrag zum zukunftsfähigen Umbau unserer Energieversorgung.
Energiesparlampen Glühbirnen mit Wolframfaden als Leuchtmittel verbrauchen bei gleicher Helligkeit fünfmal soviel Strom wie Energiesparlampen. Der flächendeckende Einsatz von Sparlampen bietet also enormes Potenzial zur Steigerung der Energieeffizienz und Minderung des Kohlendioxid-Ausstoßes. Die Verbraucher könnten außerdem viel Geld sparen. Zwischen 5000 und 15.000 Stunden reicht das Leben einer Energiesparlampe gegenüber nur 1000 bei der Glühbirne. Trotz des zunächst höheren Anschaffungspreises rechnet sich der Kauf.
Überflüssige Lampen ausschalten Oft brennt mehr Licht als notwendig. Schalten Sie einfach mal ab.
Elektrogeräte abschalten Fernseh-, DVD- und ähnliche Geräte sollten Sie besser nicht nur per Fernbedienung, sondern ganz ausschalten. Im Stand-by-Modus verbrauchen sie sonst weiter Strom. Am besten kaufen Sie eine abschaltbare Steckdosenleiste – so können Sie sichergehen, dass die Geräte nicht unnötig Energie verbrauchen.
Akkus leeren Bevor Sie akkubetriebene Geräte wie Handys oder elektrische Zahnbürsten aufladen, sollten diese fast leer sein. Denn auch wenn Sie diese mit vollem Akku ans Netz anschließen, ziehen sie kontinuierlich Strom.
Akkus statt Batterien kaufen Kaufen Sie statt Batterien lieber Akkus, die Sie mit einem Ladegerät wieder aufladen können.
Geschirrspüler nur gut gefüllt anschalten Ebenso wie die Waschmaschine sollten Sie auch den Geschirrspüler erst anschalten, wenn er richtig voll ist.
Geschirrspüler im Energiesparmodus laufen lassen Lassen Sie den Geschirrspüler im Energiesparmodus laufen, ist der Verbrauch wesentlich geringer.
Bei Gartenarbeit auf elektrische oder motorbetriebene Geräte verzichten Verzichten Sie bei der Gartenarbeit auf unnötige Geräte, die häufig nicht nur Lärm verursachen, sondern bei Benzinbetrieb auch Schadstoffe ausstoßen.
Recycling Recycling ist nach wie vor ein wichtiges Thema. Durch das Recycling von Rohstoffen wird Energie eingespart. Darum: Müll trennen! (Müll vermeiden!)
Büro
Desktop-PC gegen Notebook vertauschen Hier kommt es darauf an, wofür Sie den PC benutzen. Notebooks sind oft schon genauso leistungsfähig wie große Rechner und dabei wesentlich energieeffizienter.
Monitor ausschalten Schalten Sie den Monitor aus, wenn Sie ihn nicht benötigen, statt den Bildschirmschoner laufen zu lassen.
Drucker und Scanner ausschalten Schalten Sie auch Drucker und Scanner aus, wenn Sie die Geräte nicht benötigen. Gerade Laserdrucker können sonst im Stand-by-Modus unbemerkt Strom fressen.
Papierverbrauch einschränken Überlegen Sie sich vor dem Ausdrucken von Dokumenten, ob dies wirklich nötig ist (Benutzte Papierbögen haben auch noch eine brauchbare Rückseite).
Verkehr
Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel nutzen Auch die bewusste Wahl der Verkehrsmittel trägt zum Klimaschutz bei: Für kurze Strecken mal das Auto stehen lassen und auf Fahrrad oder öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, für weitere Entfernungen innerhalb Deutschlands die Angebote im Nah- und Fernverkehr der Bahn prüfen.
Flüge vermeiden Nach wie vor stoßen Flugzeuge eine hohe Menge an Schadstoffen aus. Gerade Innlandsflüge lassen sich oft vermeiden. Aber auch bei Fernreisen sind die Bahn und sogar Reisebusse die umweltfreundlichere Wahl.
Bei unvermeidlichen Flügen: Atmosfair Bei unvermeidbaren Flügen gibt es unter Externer Link: http://www.atmosfair.de die Möglichkeit, die entstandenen Emissionen berechnen und ausgleichen zu lassen. Sie zahlen freiwillig für die durch Ihren Flug verursachten Treibhausgase. Das Geld wird zum Beispiel in Solar-, Wasserkraft-, Biomasse- oder Energiesparprojekte in Entwicklungsländern investiert, um dort eine Menge Treibhausgase einzusparen, die eine vergleichbare Klimawirkung haben wie die Emissionen aus dem Flugzeug. Ihr Geld trägt dazu bei, diese Projekte zu ermöglichen.
Richtige Wahl beim Autokauf Achten Sie beim Kauf eines Neuwagens auf Spritverbrauch und Emissionswerte und beziehen Sie Ihre Lebensumstände mit ein. Wenn Sie in der Stadt wohnen und häufig kurze Strecken fahren, eignet sich für Sie ein anderes Fahrzeug als für Langstreckenfahrer. Für Familien lohnen sich Erdgasfahrzeuge, die besonders günstig im Verbrauch sind und weniger Schadstoffe ausstoßen. Eine sinnvolle Kaufempfehlung finden Sie unter Externer Link: http://www.besser-autokaufen.de. Es gibt auch Stadtteil-Autos zu mieten. Vielleicht ist es günstiger, auf ein eigenes Auto zu verzichten und die öffentlichen Verkehrsmittel inklusive Taxi zu nutzen.
Niedrigtourig fahren Fahren Sie stets im höchstmöglichen Gang. In der Regel können Sie bei Tempo 30 den dritten, bei 40 den vierten und bei 50 den fünften Gang einlegen. Niedertouriges Fahren schadet dem Motor keineswegs, im Gegenteil, der Verschleiß reduziert sich.
Motor nicht warm laufen lassen Lassen Sie Ihren Motor nicht warm laufen - fahren Sie direkt nach dem Starten los, schalten Sie bereits nach einer Wagenlänge in den zweiten Gang und beschleunigen Sie mäßig.
Frühzeitig schalten Ziehen Sie beim Beschleunigen die Gänge nicht hoch. Schalten Sie frühzeitig und geben Sie dafür mehr Gas.
Nicht rasen Rasen Sie nicht auf der Autobahn - bei einer Geschwindigkeit über 100 Stundenkilometer steigt der Spritverbrauch überproportional an. Ein gleichmäßiges Reisetempo zwischen 100 und 130 Stundenkilometer vermeidet zudem häufiges Bremsen und Beschleunigen und spart so doppelt (schont die Nerven).
Bergab vom Gas gehen Gehen Sie bergab vom Gas. Werden Sie aufgrund der Bremswirkung des Motors zu langsam, schalten Sie in den nächsten Gang und nutzen Sie den Schwung so lange es geht.
Motor abschalten Schalten Sie nicht nur an Bahnübergängen, sondern auch bei längeren Wartezeiten an der Ampel den Motor ab. Damit sparen Sie spätestens ab 30 Sekunden Sprit ein. (Achtung: Auf keinen Fall während der Fahrt den Motor abstellen!)
Stromfresser maßvoll einsetzen Je stärker die Lichtmaschine durch elektrische Verbraucher belastet wird, desto höher ist der Kraftstoffverbrauch. Einer der größten Energiefresser ist die Klimaanlage, die den Verbrauch um bis zu zwei Liter je 100 Kilometer erhöht. Vergessen wird oft die Heckscheibenheizung. Die "verbraucht" pro Stunde rund 0,1 Liter Sprit. Umgerechnet auf den Stadtverkehr sind das 0,3 bis 0,4 Liter pro 100 Kilometer.
Gewicht verringern Entrümpeln Sie Ihren Kofferraum und werfen Sie überflüssiges Gewicht ab.
Reifendruck prüfen Überprüfen Sie regelmäßig Ihren Reifendruck. Orientieren Sie sich am empfohlenen Druck für volle Beladung.
Leichtlauföl und -reifen benutzen Verwenden Sie beim nächsten Ölwechsel synthetisches Leichtlauföl, beim nächsten Reifenwechsel Leichtlaufreifen. [...]
Nach: NABU, Klimaschutz beginnt im Haushalt, ergänzt durch eigene Vorschläge von Wolfgang Sander. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-04-30T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/umweltbewusstsein/134998/m-07-13-das-kannst-du-tun-aktionsmoeglichkeiten-fuer-den-klimaschutz/ | Eine lange Liste mit Beispielen, wo man in den Bereichen Einkaufen, Heizung, Kühlen, Kochen, Bad, Haushalt, Büro und Verkehr Energie und Geld sparen kann. | [
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Podcast: Netz aus Lügen – Die Zeitenwende (8/8) | Digitale Desinformation | bpb.de |
Interner Link: 00:00 – Es ist wieder Krieg in Europa Interner Link: 02:22 – Um was geht es in der letzten Folge? Interner Link: 03:22 – Russische Desinformationskampagnen und welche Erklärungen dahinterstecken Interner Link: 14:46 – Was kann ich gegen Desinformation tun? Der analoge Ansatz. Interner Link: 21:00 – Der digitale Ansatz: Die Open-Source-Detektive rund um das Netzwerk Bellingcat Interner Link: 27:54 – Der Ukrainekrieg auf TikTok Interner Link: 32:58 – Ausblick
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[00:00] ZSP Selenskij
"Man sagt Ihnen, wir seien Nazis. Aber könne man wirklich ein Volk Nazis nennen, das mehr als acht Millionen Opfer erbracht hat, um den Nationalsozialismus zu besiegen?" ZSP Scholz
"Wir erleben eine Zeitenwende, und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor."
ZSP Putin
"Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.
ZSP Selenskij
"Wer wird darunter leiden? Menschen! Wer will das nicht – mehr als irgendetwas? Menschen! Wer kann das verhindern? Menschen! Gibt es solche Menschen unter Ihnen – ich bin davon überzeugt."
PAUSE
Das sind O-Töne aus den letzten Wochen. Seit dem Angriff Putins auf die Ukraine am 24. Februar frühmorgens, ist nichts mehr wie zuvor. Die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik hat in nur 72 Stunden eine 180-Grad-Wende gemacht.
Waffenlieferungen in die Ukraine, eine teilweise Entkopplung Russlands vom globalen Bankensystem SWIFT und eine Aufstockung des eigenen Verteidigungsetats um 100 Milliarden Euro. Deutsche Medien berichten teilweise nicht mehr aus Moskau, mehrere unabhängige russische Fernsehsender mussten den Betrieb einstellen , Facebook und Twitter sind aus Russland nicht mehr zu erreichen.
Und auch bei dem Thema "Desinformation” gelten nun andere Regeln.
ZSP Von der Leyen
"Die Europäische Union wird in einem weiteren beispiellosen Schritt die Medienmaschine des Kremls verbieten. Die staatlichen Organisationen Russia Today und Sputnik - sowie ihre Tochtergesellschaften - werden nicht weiter Lügen verbreiten können, um Putins Krieg zu rechtfertigen und unsere Union zu entzweien."
OPENER
Netz aus Lügen - die globale Macht von Desinformation. Ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Folge 8: Die Zeitenwende
[02:22] Hallo, mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker und eigentlich… ja, eigentlich hatten wir diese letzte Folge ganz anders geplant. Wie schon in der letzten Folge angekündigt, wollten wir in einem Zweiteiler nach Auswegen aus der Welt der Desinformation schauen. Und werden doch von der Wirklichkeit wieder eingeholt. Denn der Krieg gegen die Ukraine, er ist auch ein Krieg der Bilder und der Lügen.
Also besteht diese Folge aus zwei Teilen - ein letztes Mal beschäftigen wir uns mit den Auswirkungen von Desinformation, also dem gezielten Streuen von Falschinformationen, die anderen schaden können.
Bevor wir zu möglichen Auswegen kommen, damit umzugehen, wollen wir uns das, was die letzten Tage und Wochen passiert ist durch drei Linsen anschauen. 1. Welche Desinformationsoperationen sehen wir ganz aktuell? 2. Was ist von dem vorgeschobenen Kriegsgrund der "Entnazifizierung der Ukraine” zu halten? und 3. Wie bestimmt Putins Weltsicht diesen Krieg? Ein Krieg, der ja eigentlich schon seit 2014 läuft und jetzt eine neue Eskalationsstufe erreicht.
Ok, lasst uns anfangen. Wir arbeiten jetzt schon mehr als ein halbes Jahr an diesem Podcast und in den vergangenen Tagen sehen wir, wie aktuell viele Dinge sind, über die wir gesprochen haben.
Das fängt schon in Folge 1 an, da ging es um die Operation Ghostwriter. Wir erinnern uns: Das ist die Operation, in der die Konten von Persönlichkeiten und Institutionen gehackt wurden, um von dort aus authentisch aussehende Desinformation zu verbreiten. In einem Blogeintrag vom 27. Februar schreibt Meta, der Konzern, der bis vor kurzem Facebook hieß:
ZSP Meta
"In den vergangenen Tagen haben wir bemerkt, dass Ghostwriter sich zunehmend Ziele in der Ukraine vorgenommen hat, einschließlich dem ukrainischen Militär und Personen der Öffentlichkeit des Landes."
Parallel melden deutsche Tageszeitungen wie die Frankfurter Rundschau, dass ihre Kommentarbereiche überlaufen. Zahlreiche Kommentare mit teilweise wortgleichen Pro-Putin-Botschaften musste die Zeitung zu Beginn des Krieges bearbeiten. Sogar die Kommentarfunktion auf Facebook musste zwischenzeitlich eingeschränkt werden: Facebook hat ein Limit von 10.000 Kommentaren, die pro Tag gelöscht werden können - das Limit war durch die Vielzahl der Kommentare erreicht.
PAUSE
[03:22] An vielen Stellen bedient sich die pro-russische Seite klassischer Desinformation. In der Woche vor dem Angriff ging zum Beispiel ein Video durchs Netz, das beweisen soll, wie pro-ukrainische Saboteure einen Chlorgasbehälter in Donezk, in der Ostukraine, sprengen wollten.
ZSP Video
Auch die staatliche Nachrichtenagentur Russlands TASS berichtete über den Vorfall. Das investigative Recherchenetzwerk Bellingcat konnten aber nachweisen, dass das Video gefälscht war. Immerhin hört man dort eine Explosion, die genau dieselbe Audiospur hat, wie ein Video aus Finnland. Das wurde schon im Jahr 2010 auf Youtube hochgeladen.
Aber all das verblasst hinsichtlich der großen Lüge, die der Invasion zugrunde liegt. Die Ukraine sei regiert von Neonazis, eine drogenabhängige Bande rund um Präsident Wolodymyr Selenskij.
ZSP Putin
"Ich appelliere noch einmal an die Soldaten der Ukraine! Lasst nicht Neo-Nazis und Nationalisten eure Kinder, Frauen und alten Menschen als menschliche Schutzschilde benutzen. Ihre Väter, Großväter und Urgroßväter haben nicht gegen die Nazis gekämpft, um unser gemeinsames Vaterland zu verteidigen, damit die heutigen Neonazis die Macht in der Ukraine übernehmen können."
ZSP Behrends
"Putin hat ja schon 2014 mit diesem Narrativ gearbeitet, dass die Ukrainer Nazis seien und dass man deswegen auf der Krim eingreifen müsse und die russische Bevölkerung zu schützen und auch im Donbas. Das ist natürlich Unsinn."
Das ist der Historiker Jan Claas Behrends, der an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder unterrichtet. Ihn haben wir in Folge 3 schon gehört.
ZSP Behrends
"Insofern, als dass der jetzige Präsident der Ukraine beispielsweise, Herr Silensky, ja Jude ist und sozusagen eines der wenigen Länder außerhalb von Israel, wo Juden in hohen Positionen sind die Ukraine ist. Insofern ist es mit der Entnazifizierung natürlich ein vorgeschobenes Propaganda Argument. Es macht aber insofern Sinn für Putin, weil er natürlich anschließt an diesen Diskurs des Zweiten Weltkriegs oder wie man Russland sagt, des Großen Vaterländischen Krieges, wo ja der Kampf gegen die Nazis und gegen den Faschismus geführt wird. Und er versucht sich eben in diese Tradition von 1941 bis 45 zu stellen und damit sozusagen natürlich auch zu betonen, dass das moralische Recht auf Russlands Seite sei."
Putin verkauft seiner Bevölkerung den Krieg als Befreiungskrieg. Obwohl, das ist das falsche Wort: im offiziellen Sprech des Kremls heißt es "Sondermilitäroperation”. Das Wort "Krieg” ist in russischen Medien faktisch verboten. Auch "Angriff” oder "Invasion” darf man nicht sagen. Die russische Regierung behauptet, es gäbe in der östlichen Ukraine, und zwar genauer: in den Gebieten Luhansk und Donezk einen Genozid an der dortigen russischen Bevölkerung. Beweise dafür gibt es keine.
ZSP Gumenyuk
"Was während der Revolution der Würde und der Annexion der Krim passiert ist, das war nicht einfach nur die politische Verzerrung."
Das ist die ukrainische Journalistin Natalia Gumenyuk. Sie haben wir im letzten Herbst auf einer Tagung in Tutzing zu Desinformation getroffen. Sie beschrieb uns schon damals, wie die russischen Medien eine komplett neue Realität erfinden.
ZSP Gumenyuk
"Es war die komplette Neuerfindung einer anderen Realität. Die russischen Medien haben ausgedachte Falschmeldungen verbreitet. Unglücklicherweise haben wir international, nicht nur in der Ukraine unglaublich viel Zeit damit verbracht das zu erklären. Ich hatte ewige Gespräche mit auswärtigen Journalistinnen und Journalisten, die einfach nicht einsehen wollten, dass russische Medien sich tatsächlich Geschichten ausdachten, einfach lügten."
Aber wozu die ganze Geschichte? Wozu die Lügen? In Putins Reden aus der Woche des Kriegsbeginns gibt es viele Verweise auf die Geschichte der Ukraine. Putin spricht davon, dass Lenin 1917 einen großen Fehler begangen habe, als er die Ukraine als eigenständiges Land organisierte. Das russische Zarenreich, das durch die Oktoberrevolution sein Ende fand, bestand damals aus drei großen Gebieten, die heute grob den Grenzen Russlands, Belarus und der Ukraine zuzuschreiben sind. Das Ziel Putins scheint zu sein: das Zarenreich mit allen Mitteln wieder zu vereinen. Historiker Jan Claas Behrends:
ZSP Behrends
"Putin idealisiert ja mehr und mehr anscheinend das russische Zarenreich auch gar nicht mal so sehr die Sowjetunion als das Zarenreich, was da die Ukraine sozusagen als einen Teil vereinnahmt hatte. (...) Und er sieht sich sozusagen in dieser historischen Mission gewisser Weise notfalls auch mit Gewalt. Diese drei früheren Teile des russischen Reiches sozusagen wieder zusammen zu führen, um Russland dann auch wieder zu größerer Bedeutung und letztendlich eben auch imperialer Größe zu verhelfen."
PAUSE
Dass diese Großmachtansprüche wirklich ein Grund für den Krieg sind, zeigt auch ein versehentlich veröffentlichter Artikel der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Novosti. Er war vermutlich vor dem Krieg schon geschrieben worden und feierte zwei Tage nach Kriegsbeginn eine Eroberung Kiews, die so nicht stattgefunden hat. "Eine neue Welt wurde geboren”, heißt es dort. Die Ukraine wird als "Kleinrussland” referenziert. Und in Richtung Westen heißt es: "Russland hat den Westen nicht nur herausgefordert, sondern ihm auch gezeigt, dass die Ära der westlichen globalen Dominanz endgültig vorbei ist”.
Die Frage, die sich alle natürlich gerade stellen: Wie sieht das die russische Bevölkerung? Hängt die auch den Großmachtfantasien eines russischen Zarenreichs in den Grenzen von 1917 an - oder ist das eine Privatfantasie Vladimir Putins? Historiker Jan Claas Behrends:
ZSP Behrends
"Dieses Großmachtdenken ist zumindest in den Eliten natürlich sehr weit verbreitet. Dass Russland sich schon als Großmacht definiert im osteuropäischen Raum und auch eine grundsätzlich andere Herangehensweise hat an die Souveränität seiner Nachbarn. Schon unter Jelzin war klar, dass Russland eigentlich sozusagen die Souveränität von kleineren Staaten wie Estland, Lettland und Litauen nur bedingt anerkennt, dass ein viel aus russischer Sicht dann sozusagen Staaten minderen Ranges ist, die eigentlich sozusagen ihre Politik mit Moskau abstimmen sollten. Das ganze Ausmaß der Kämpfe des Sterbens, auch letztendlich dieses militärischen Einsatzes wird ja gar nicht im russischen Fernsehen gezeigt, sondern wird den Leuten vorenthalten."
PAUSE
Über das russische Fernsehen haben wir in Folge 3 unseres Podcasts schon viel erzählt. Russland ist ein großes Land, in manchen Teilen des Landes ist die Internetverbindung nicht stabil. Aber…
ZSP Gaufman
"Aber da hat man Fernsehen, also besonders die ersten zwei Kanäle Perwy kanal, man kann auch Rossija 1, das ist so eine. Also die beiden sind unter gewissen Kontrolle der russischen Regierung."
Elizaveta Gaufman ist Professorin für Russischen Diskurs und Politik an der Universität Groningen. Auch mit ihr haben wir für die Folge 3 gesprochen, in der es um russische Desinformationskampagnen geht.
ZSP Gaufman
"Man kann da keine direkte Anti-Putin Narrative sehen. Und z.B. als Nawalny. Alexej Nawalny im Krankenhaus in Russland war, als er vergiftet wurde. Da gab's eine, eine brillante Vorstellung von Ivan Urgent im ersten Kanal. Er hat kein Wort über alle gesagt, aber er hat diese einfachen Nachrichten aus ganz Russland so dargestellt, dass alle feststellen konnten, dass er eigentlich über Nawalny redet, obwohl er das Wort noch nicht einmal gesagt hat."
Iwan Urgant macht in Russland eine populäre Comedyshow. Gaufman meint: Künstler wie er schaffen es, Kritik an der Regierung auch im Staatsfernsehen unterzubringen. Man muss nur zwischen den Zeilen lesen können.
ZSP Gaufman
"Eigentlich glauben nicht alle Russen an das, was sie im Fernsehen hören. Sie sagen, sie wissen alle, dass es von der Regierung gesteuert wird und aber trotzdem, das hat einen Effekt. Und besonders während der Krise in der Ukraine haben auch die Leute, die früher komplett antisowjetisch waren, waren plötzlich auf der Seite der Regierung. Und da fragt man, Ja okay, aber das glaubst du jetzt, du hast doch auch keine sowjetischen Zeitungen geglaubt. Warum glaubst du dem Fernsehen jetzt plötzlich? Es gibt auch so eine Art Sprichwort in Russland. Du musst keine sowjetischen Zeitung vor dem Frühstück lesen. Und das, das wiederholt jetzt auch du. Du musst kein Fernsehen vor dem Frühstück schauen. Da gibt's keine Wahrheit. Sowieso."
Der Komiker Iwan Urgant hat sich übrigens für Frieden in der Ukraine stark gemacht. Seine Comedy-Show wurde zumindest vorerst abgesetzt. Genau wie weitere TV-Sender Russlands, die am 1. März ihre Sendeerlaubnis verloren haben.
Wir wissen, die Situation gerade kann ganz schön hilflos machen. Gerade auch, wenn wir über Desinformation sprechen. Wir erinnern uns nochmal, was uns der Chef des Thüringischen Verfassungschutzes Stephan Kramer in der ersten Folge dieses Podcasts gesagt hat:
ZSP Kramer
"Ich will es nochmal deutlich sagen, das sind nicht irgendwelche Verrückten, die sich ausgedacht haben, sowas zu tun, sondern es sind in der Regel staatliche Institutionen dieser Länder, die diese Maßnahmen ganz gezielt einsetzen, um damit auch eine politische, militärische oder andere Strategie zu verfolgen. Also wir sollen nicht so naiv sein zu glauben hachja, die können ja gar nichts dafür, sondern das sind irgendwelche Leute, die sich das ausgedacht haben, irgendwelche Gangster, die damit nur irgendetwas erringen wollen, sondern das sind ganz gezielte Maßnahmen, die ihr in ihrer Art und Umfang auch nur durch staatliche und mit staatlicher Unterstützung eingesetzt werden können. In einer neuen Form von Krieg, der geführt wird. Also hier geht es gar nicht mal mehr darum, dass Soldatinnen und Soldaten auf dem Schlachtfeld mit dem Gewehr rumlaufen, sondern hier wird eine Form von Kriegsführung genutzt, um andere Gesellschaften zu destabilisieren, um politische Systeme umzuwälzen, um z.B. internationale Allianzen aufzubrechen."
[14:46] Was wollen wir als einzelne dagegen ausrichten? Es gibt tatsächlich jede Menge, was wir tun können. Deshalb erzählen wir in der zweiten Hälfte der Folge jetzt zwei Geschichten von Menschen, die sich seit Jahren gegen Desinformation wehren. Denn, wenn die letzten Wochen eines gezeigt haben: wir haben als Individuen viel mehr Macht als wir denken. Schauen wir noch einmal nach Taiwan. Ein Land, das - wie wir letzte Folge schon gehört haben - seit Jahren gegen Desinformation kämpft. Und jetzt nach dem Überfall auf die Ukraine ohnehin sorgenvoll auf die Weltpolitik schaut. Denn China erkennt den Staat Taiwan nicht an und sieht den praktisch unabhängigen und selbstregierten Inselstaat als Teil seines Territoriums.
In Taiwan sitzen Menschen, die vor ein paar Jahren beschlossen haben: Uns reicht es jetzt mit Desinformation!
ZSP Mumu und Shuhuai
Mumu: "Hi, also ich bin Mumu, und der andere hier ist Shuhuai." Shuhuai: "Hi!" Mumu: "Er ist schon seit dem Anfang dabei und ist der Vorsitzende unseres Boards." Shuhuai: "So ein bisschen das Mädchen für alles." Mumu: "Ich bin als einzige Person Vollzeit bei Fake News Cleaner, die anderen Mitglieder sind alle Freiwillige - ohne sie würden wir niemals so viel schaffen."
"Fake News Cleaner” wurde 2018 in der Stadt Taichung an der Westküste von Taiwan gegründet. Die Gründerinnen und Gründer machten sich Sorgen wegen der vielen Falschinformationen, die ihnen im Netz und in ihrem Bekanntenkreis begegneten.
Ein kurzer Begriffscheck: Während wir zuvor von Desinformation gesprochen haben, also Informationen, die aus böswilligen Absichten geteilt und verbreitet werden und irgendeine Art von Schaden verursachen, verwenden Mumu und Shuhuai den chinesischen Begriff (假訊息), der wörtlich übersetzt Falschinformationen heißt - auch weil die Intention hinter der Verbreitung oft nicht eindeutig ist.
ZSP Mumu
"Damals gab es viele Leute, die sich Sorgen wegen Falschinformationen machten, die den Menschen auf verschiedene Art schaden könnten –sei es wirtschaftlicher Schaden, gesundheitlicher Schaden, oder Schaden für kommende Generationen. Schon damals gab es viele, die versuchten, das mit Sharepics und Richtigstellungen zu bekämpfen, aber damit konnte man nur sehr schwer mit den Menschen ins Gespräch kommen, die man erreichen wollte. Meist hielt dann jede Seite an ihrer Meinung fest und glaubte am Ende weiter diesen Kram. Deswegen sind wir in die Fußgängerzonen gegangen, um direkt und persönlich mit den Leuten zu reden, so face to face. Wir haben versucht, die Situation der Leute zu verstehen, die diese falschen Informationen glauben, und uns dann eine einfache Methode überlegt, um mit ihnen darüber zu sprechen."
Für diese Aktionen haben die Teams große Plakate gebastelt, auf denen bekannte Falschinformationen stehen, mit denen sie mit den Passantinnen und Passanten ins Gespräch kommen könnten: Haben Sie so etwas schon einmal gehört? Glauben Sie, dass es stimmt? Wenn ja, warum glauben Sie, dass es stimmt - oder eben nicht?
Anhand von konkreten Beispielen erklären sie ihren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, wie Falschinformationen Menschen schaden können - ihnen selber, den Freundinnen, Freunden und Familienmitgliedern, denen sie sie weiterleiten, oder anderen Menschen, die sie gar nicht kennen. So wollen sie ein Bewusstsein dafür schärfen, wie wichtig es ist, nicht alles zu glauben - und zu teilen.
ZSP Mumu
"Wir geben ihnen drei einfache Schritte, die sie nutzen können, wenn sie Informationen erhalten: Zunächst kann man gucken, was in der Überschrift und in dem Inhalt steht: Löst es Gefühle in dir aus? Macht es dich wütend oder sorgt dafür, dass du dir Sorgen machst, damit du es liest oder teilst? Danach sollte man sich die Quelle anschauen und wer es geschrieben hat: Steht da ein Name dran? Gibt es jemanden, der Verantwortung für diese Informationen übernimmt?"
Hier spielt Mumu auf die Content Farms an, von denen uns der Kriminologe Puma Shen vom DoubleThink Lab in der letzten Folge erzählt hat. Wir erinnern uns: Content Farms verdienen ihr Geld damit, dass sie Artikel von irgendwelchen Quellen kopieren, leicht verändern und über ihre eigenen Webseiten verbreiten. Da steht meistens keine Autorin oder kein Autor dran.
ZSP Mumu
"Wenn die Leute nach diesem ersten Schritt Zweifel haben, ermutigen wir sie, einfach nachzufragen - zum Beispiel ihre Kinder anzurufen, die sich vielleicht im Internet besser auskennen und ihnen dabei helfen können, etwas zu verifizieren. Oder die FactChecking Tools auf der Messenger-Plattform Line zu nutzen, da zeigen wir ihnen dann auch, wie sie die benutzen können. Der letzte Schritt ist sehr wichtig: Nachdem ihr eine Nachricht überprüft habt, fragt euch, ob ihr diese Nachrichten weiterleiten wollt. Die falschen Informationen sollte man nicht weiterleiten, aber wenn sie gelernt haben, wie sie Informationen verifizieren, wollen sie vielleicht den Fact Check weiterleiten."
Auch hier appellieren die Fake News Cleaner immer wieder an das Verantwortungsbewusstsein ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner, denn sie sind überzeugt, dass die meisten Menschen Falschmeldungen mit eigentlich guten Absichten weiterleiten. Insgesamt sind die Leute, mit denen sie sprechen, auch höflich. Wenn es bei Aktionen auf der Straße zu Meinungsverschiedenheiten kommt, könne es schon mal vorkommen, dass Leute weggehen, aber von gewaltsamen Reaktionen hat Mumu noch nie gehört.
ZSP Mumu
"Wir halten sie auch dazu an, zu überlegen, ob eine Nachricht gut für die Gesellschaft ist, wenn sie weitergeleitet wird: Als Beispiel benutzen wir oft so sensationalistische Nachrichten wie 'Pflegerin schlägt Patientin' oder 'Pflegerin schlägt Patienten'". Das ist noch nicht oft in Taiwan passiert, aber weil es hier viele Altenpflegerinnen und -pfleger aus Südostasien gibt, denken viele, bei so etwas sofort daran. Wenn so ein Video in Taiwan viral geht, kann das zu noch mehr Diskriminierung und Vorurteilen gegenüber Arbeitskräften aus Südostasien führen."
Abgesehen von den Aktionen auf der Straße gibt die Gruppe auch zweistündige Workshops, in denen sie mit ihren Teilnehmenden noch weiter in die Tiefe gehen. Die Zielgruppen und die Organisationen, die einladen, variieren stark, das reicht von Schulklassen, zu denen die Lehrerinnen und Lehrer sie einladen, über Workshops in Tempeln bis hin zu taiwanesischen Lokalpolitikerinnen und -politiker, die sie zu Workshops in ihren Wahlkreisen einladen. Insgesamt hat die Gruppe nach eigenen Angaben mehr als 160 freiwillige Mitglieder, die seit 2018 in ganz Taiwan in ihrer Freizeit mehr als 400 Workshops und Straßenaktionen durchgeführt und mit mehr als 10.000 Menschen gesprochen haben.
PAUSE
Direkte Kommunikation. Klar, verständlich, in den Fußgängerzonen, weit abseits aller digitalen Missverstehensräume. Das ist das Erfolgsgeheimnis der Fake News Cleaner aus Taiwan.
[21:00] Wem das alles zu analog ist, der kann vielleicht noch einen anderen Weg gehen um mit falschen oder aus dem Kontext gerissenen Informationen umzugehen.
ZSP Higgins
"So I'm Elliot Higgins. I'm the founder of Bellingcat and I'm currently the executive director of Bellingcat.”
Von Bellingcat haben wir eben schon gehört, aber ohne dass es vielleicht allen klar war. Bellingcat ist eine Open Source Ermittlungs-Organisation.
ZSP Higgins
"Das bedeutet, dass wir mit öffentlich zugänglichem Material aus allen möglichen Quellen arbeiten. Von Satellitenbildern auf Google Earth bis zu Social Media, zum Beispiel Videos auf Twitter und Youtube. Damit untersuchen wir eine Vielzahl von Vorfällen. Die meisten kennen uns wahrscheinlich durch unsere Recherchen über den Abschuss des Fluges MH17 oder durch unsere Ermittlungen zu russischen Attentaten. Das hat die russischen Behörden auf uns aufmerksam gemacht und machte uns auch zum Ziel von Desinformation."
Mit Elliot Higgins haben wir übrigens auch letztes Jahr gesprochen - bevor Russland in der Ukraine einmarschiert ist. Die Arbeit, die er und sein Team machen, kann man sehr gut anhand des Videos, das wir eben gehört haben, verdeutlichen. Bellingcat versuchen mithilfe von öffentlich zugänglichen Informationen Dinge herauszufinden. Dinge wie: gab es wirklich eine versuchte Sabotage auf den Chlorgasbehälter in Donezk?
Wie eben schon gesagt, haben sie beim vermeintlichen Sabotage-Video herausgefunden, dass hier eine Tonspur läuft, die aus einem mehr als zehn Jahre alten Youtube-Video stammt. Aber wie findet man so etwas raus? Die Open-Source-Detektive und -Detektivinnen scannen dafür die Meta-Daten des Original-Videos und haben hier einen Verweis auf das alte Youtube-Video gefunden.
Heutzutage ist Bellingcat eine riesige Community an Ermittlerinnen und Ermittlern. Das war aber nicht immer so:
ZSP Higgins
"Ich wollte eine Seite bauen, auf der Leute zusammen kommen, wo sie lernen wie man Open-Source-Ermittlungen durchführt und wo sie dann ihre Ergebnisse veröffentlichen können. Das Ganze ist aber so explodiert, hat sich in etwas viel, viel Größeres entwickelt. Jetzt arbeiten wir mit Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zusammen, schauen uns an wie Open-Source-Beweise in diesem Setting benutzt werden können und sind an verschiedenen Themen dran."
Und es steckt im Begriff "Open Source Investigation” schon drin. Es geht hier nicht um geheime Dokumente, sondern um eine schlaue Verbindung von Daten, die ohnehin schon im Netz stehen und öffentlich verfügbar sind. Eine Arbeit, die theoretisch jeder und jede machen kann, um Desinformation an der Quelle zu factchecken.
Die größte Ermittlung, die Higgins und sein Team durchgeführt haben, ist der Absturz des Flugs MH17 am 17. Juli 2014 über der Ostukraine. Alle 298 Menschen, die in dem Flugzeug von Amsterdam nach Kuala Lumpur saßen, starben. Hier konnte Bellingcat nachweisen, dass das Flugzeug von einer russischen Buk-Rakete getroffen wurde. Die russische Regierung streitet bis heute jede Verwicklung ab, vor Gericht stehen pro-russische Separatisten. Drei von vier Angeklagten sind russische Staatsbürger. Higgins erzählt uns, wie sie sich dem Problem genähert haben.
ZSP Higgins
"Einer der wichtigsten Fähigkeiten, die wir Menschen beibringen, ist etwas, das sich Geolokalisierung nennt. Nehmen wir an, wir haben ein Video und wollen nachweisen, wo das gedreht wurde. Auf Social Media bekommt man in der Regel wenige Metadaten, wenn überhaupt. Und selbst dann muss man hier nochmal genau alles überprüfen. Also nutzen wir Elemente des Videobilds an sich und versuchen damit herauszufinden, wo das gedreht wurde. In dem Fall MH17 hatten wir ein Foto, das von einer Garageneinfahrt aus aufgenommen wurde und einen Buk-Raketenwerfer auf der Straße zeigte. Im Hintergrund ist ein Laden und ein paar andere Gebäude. Es wurde behauptet, dass es an einem von zwei Orten, die in Frage kamen, aufgenommen wurde. Wir wollten es aber genau wissen. Da war dieses Laden-Schild im Hintergrund. Das haben wir gegoogelt - ein sehr einfaches Werkzeug. Wir haben herausgefunden, dass es diesen Laden nur an einem der möglichen Orte gibt. Aber durch diese Suche haben wir die vollständige Adresse herausgefunden. Mit dieser Adresse konnte man dann die Satellitendaten abfragen. Nachprüfen, ob die Position der Gebäude und anderer Details, die man im Hintergrund gesehen hat, stimmen. Darüber sind wir dann aber noch auf einen Youtubekanal gestoßen, auf dem jemand Videoaufnahmen dieser Orte gemacht hat. Dadurch hatten wir plötzlich ein weiteres Vergleichsbild von vor Ort und konnten beweisen, wo das Bild mit der Buk-Rakete entstanden ist."
Diese Art der Arbeit… man muss es gar nicht besonders betonen, ist natürlich sehr mühsam. Im gerade laufenden Ukraine-Krieg hängt die OSINT-Community - OSINT für Open Source Intelligence - in schnell gegründeten Chat-Servern bei Discord ab, schaut sich Truppenbewegungen bei Google Maps an und prüft viele Videos auf ihren Wahrheitsgehalt. Bellingcat ist hier eine von vielen Organisationen, die versuchen die Wahrheit herauszufinden.
Dennoch hat Higgins und sein Team eine exponierte Stellung nach den Enthüllungen zu MH17 inne. Der Kreml ging auf Konfrontationskurs. Erst im letzten Jahr wurde die Organisation als "ausländischer Agent” gelabelt.
ZSP Higgins
"Naja. Das ist über die Jahre ganz schön eskaliert. Ich mein: Das hat 2015 angefangen, als wir Russland mit dem Abschuss von Flug MH17 in Verbindung gebracht haben. Der Gegenwind kam dann aus den pro-russischen Medien. Sputnik und Russia Today waren kritisch uns gegenüber, haben uns Amateure genannt. So was eben. Später wurde es dann immer mehr und immer zielgerichteter. In einem Jahr sind zum Beispiel 50 Artikel über mich persönlich erschienen in all diesen russischen Blogs und Webseiten. Wir wussten, dass die Hälfte davon mit russischen Trollfabriken zusammenhängt - besonders weil sie alle meinen Namen auf dieselbe Art falsch geschrieben haben. Und dann wurden wir noch durch diversen Cyber-Attacken angegriffen."
Higgins sagt im Interview, dass er sehr vorsichtig geworden ist, gerade nach der Vergiftung Nawalnys. Wir erinnern uns: Der russischen Oppositionspolitiker Alexey Nawalny wurde im August 2020 mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet. Das Gift wurde von den Attentätern auf den Saum von Nawalnys Unterhose aufgetragen. Seitdem ist auch Higgins vorsichtig geworden.
In Hotels bestellt er keinen Zimmer-Service mehr. In Flugzeuge, die über russischen oder belarussischen Luftraum fliegen, steigt er nicht.
PAUSE
Wir haben jetzt zwei Geschichten gehört, wie normale Bürgerinnen und Bürger versuchen etwas gegen Desinformation zu tun. Einmal indem sie den Kampf aktiv ins Analoge verlegen. Menschen vor Ort ansprechen. Und einmal indem sie genau das Gegenteil tun. Nicht weniger Digitalität, sondern MEHR. Mehr Metadaten, mehr Quellen miteinander in Beziehung bringen, mehr Fakten.
[27:54] Während in den Fernsehnachrichten am Morgen des ersten Kriegstages Korrespondenten und Korrespondentinnen zu sehen sind, die über erste Explosionen und Grenzübertritte berichten, sehen viele Userinnen auf Tiktok dieses Video.
Es zeigt, wie ein russisch sprechender Fallschirmjäger freudestrahlend über einen kargen Landstrich fliegt. In den Kommentaren liest man: "Das ist der erste Krieg, den ich auf TikTok verfolge.”
Die Pointe daran: Das Video ist mehrere Jahre alt und zeigt gar keinen Kriegseinsatz in der Ukraine, sondern eine Übung aus dem Jahr 2015.
Aber an dem Grundgefühl könnte etwas dran sein. Hochauflösende Kameras sind an jedem Handy, die Ukraine hat - Stand jetzt - eine weitgehend stabile und schnelle Internetverbindung. Nie war es einfacher, auch die kleinen Momente eines Krieges viral gehen zu lassen.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen um ihr Leben. Und produzieren dabei Videos, die hoffentlich auch im Westen und in Russland gesehen werden.
Allen voran Präsident Wolodymyr Selenskyj
Ein eindringlicher Appell des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er und sein Kabinett stehen mitten in Kiew, Selenskyj sagt: Der Fraktionsführer ist hier, der Premierminister ist hier, der Leiter des Präsidialamtes ist hier, ich bin hier. Wir sind alle hier.
Der frühere Fernsehstar Selenskyj weiß genau, wie mächtig Bilder sein können - gerade jetzt. Putin sieht man nur noch an großen Tischen, Meterweit entfernt von seinem Kabinett. Selenskyj gibt sich als nahbar, kollegial.
Es ist eine Botschaft, die nicht nur dem eigenen Volk gilt, sondern auch Russland. Denn die Ukrainer wissen genau, dass sie ihre Hoffnung nicht in Vladimir Putin, sondern in die russische Bevölkerung setzen müssen. So ist natürlich auch die jetzt schon viel zitierte Rede von Selenskij zu Beginn des Krieges zu verstehen. Diese hielt er bewusst auf Russisch.
ZSP Selenskij
"Worauf wollt ihr schießen? Donezk? Wo ich schon dutzende Male war? Ich habe ihre Augen und Gesichter gesehen. Im Donbas? Wo ich mit den Ortsansässigen mitgefiebert hab, als wir in der Europameisterschaft gespielt haben? Luhansk? Die Heimat der Mutter meines besten Freundes? Der Ort, wo sein Vater begraben ist? Ich spreche zwar Russisch, aber niemand in Russland weiß, was diese Namen, diese Straßen, diese Dinge bedeuten. Das hier ist unser Land. Unsere Geschichte."
In einer vernetzen Welt setzt Selenskij darauf, dass seine Bilder in Russland ankommen. Im Staatsfernsehen werden sie wohl nicht zu sehen sein. Aber vielleicht ja in den sozialen Netzwerken? Historiker Jan Claas Behrends darüber, wie realistisch das ist:
ZSP Behrends
"Das muss man wirklich differenziert betrachten, insofern, als man dann hinschauen muss. Unterschiedliche Generationen, nicht die ältere Generation, das weiß man ganz gut aus soziologischen Studien auch die schaut mehr dieses staatliche Fernsehen. Das heißt, sie klebt dann auch vielleicht ein bisschen enger an den Putin Narrativen und dann Provinz oder oder Hauptstädte, Petersburg, Moskau oder weit abgelegene Gebiete nicht. In Petersburg und Moskau haben viele Leute Freunde im Westen. (..) Aber letztlich kann man, glaube ich, schon im Großen und Ganzen sagen, dass also selbst für die Armee und die Soldaten jeder hat heute ein Smartphone oder die Familien haben zumindest Smartphones. Natürlich diese digitale Welt, auch diese digitale Vernetzung gegen Putin ein Stück weit arbeitet nicht. Und man sieht das jetzt ja auch in den letzten Tagen, dass man von Moskauer Seite sehr stark versucht, sozusagen die Nutzung auch dieser westlichen Medien einzuschränken. Also man hat ja versucht, Facebook jetzt zu blockieren. Das hat wohl nicht ganz funktioniert, auch Twitter aus Russland raus zu drängen. Wenn man nicht glauben würde, dass das viel Einfluss hätte auf die eigene Bevölkerung, würde man das ja nicht machen."
[32:58] Wir nehmen diese Folge am 14.03.2022 auf und wissen genau: Wenn sie rauskommt, wird sie vermutlich schon wieder veraltet sein. Neue Eilmeldungen sind auf unseren Smartphones aufgeschlagen, neue Dinge erschienen, die ganz dringend unsere Aufmerksamkeit benötigen. Nach acht Folgen dieses Podcasts kommen wir nicht umhin uns zu wünschen, dass es ja vielleicht auch anders sein könnte. Dass nicht der oder die Lauteste das Rennen im Internet macht, sondern diejenigen, die verlässliche Informationen liefern.
ZSP Lorenz-Spreen
"Ich denke, wenn wir das, wenn wir sozusagen uns als mündige Bürger ernst nehmen und auch von der Annahme ausgehen, dass soziale und digitale Medien eine wichtige Rolle spielen in unserem gesellschaftlichen Entscheidungsfindung, dann müssen wir ja irgendwie auch uns als einigermaßen optimistisch rational sehen."
Das ist Philipp Lorenz-Spreen, er forscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
ZSP Lorenz-Spreen
"Das Problem ist, wir haben sozusagen die Alternative von den sozialen Medien noch nicht ausprobiert, und zwar soziale Medien, die es gut meinen mit uns und die eben nicht nur darauf optimiert sind, Klicks zu generieren."
In der fünften Folge sind wir ausführlich darauf eingegangen, wie Soziale Netzwerke funktionieren, welche Logiken hinter Plattformen wie Facebook, YouTube oder Amazon stecken und warum diese Logiken so ausschlaggebend für die Verbreitung von Desinformation sind. Soziale Netzwerke sind momentan hauptsächlich so gebaut, dass wir möglichst viel Aufmerksamkeit darauf verwenden, Dinge zu teilen, lange dort zu verweilen, und nicht so, dass wir dort auch funktionierende Diskussionen führen könnten.
Soziale Netzwerke, die es gut mit uns meinen - wie könnten die aussehen? Gar nicht so leicht rauszufinden, meint Lorenz-Spreen, denn der Forschung fehlt es an dem Zugang zu Daten. Die großen Plattformen, die wir alle tagtäglich verwenden, wollen sich nicht in die Karten schauen lassen, wollen nicht preisgeben, welche Mechanismen wie genau wirken. Gäbe es eine Art Extrazugang für Forschende - dann würde man hier wahrscheinlich echte Fortschritte machen.
Aber das ist nicht alles:
ZSP Lorenz-Spreen
"Ich denke im Prinzip und es wird vielleicht noch radikaleres Umdenken benötigen, aber im Prinzip diese Vernetzung und diese demokratisierenden Möglichkeiten, die vor allem am Anfang des Internets ganz klar im Vordergrund waren, die Hoffnung. Die sind ja eigentlich noch valide und real. Nur wurden die von diesen kommerziellen großen Plattformen glaube ich so ein bisschen platt gemacht und die haben das vereinnahmt. Und wenn man sich davon wieder was zurückholen kann, dann glaube ich, gibt es ja auch große Chancen für digitale Demokratie und kollektive Intelligenz, sozusagen wie wir, wie wir vielleicht auf Lösungen und Entscheidungen kommen."
PAUSE
Aufmerksamkeit - der Begriff, der die Algorithmen aller Sozialen Netzwerke mitbestimmt, er könnte eigentlich auch über unserer gesamten Reihe stehen. Denn in einem Netz aus Lügen wird nicht auf die Story geklickt, die am meisten gefact-checkt ist, sondern auf die, die am meisten Neugierde weckt.
Welchen Nachrichten schenken wir unsere Aufmerksamkeit? Wieso?
Dazu gehört vielleicht, nicht immer alles sofort zu wissen. In einer unübersichtlichen Nachrichtenlage nicht gleich den Twitter-Livefeed zu verfolgen, sondern einfach am nächsten Tag die Zusammenfassung.
Oder ihr hört einfach einen guten Podcast, der alles noch mal in der Tiefe zusammenfasst.
PAUSE
Das war Netz aus Lügen.
Diese Folge wurde geschrieben von Christian Alt, Katharin Tai und Lena Puttfarcken, Übersetzung: Katharin Tai. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Sebastian Dressel. Fact-Checking: Karolin Schwarz.
"Netz aus Lügen - die globale Macht von Desinformation" ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Produktionsjahr 2022. Die Folgen stehen unter der Creative Commons Lizenz und dürfen unter Nennung der Herausgeberin zu nichtkommerziellen Zwecken weiterverbreitet werden. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback zu dieser Folge habt, schreibt uns doch unter E-Mail Link: podcast@bpb.de. Tschüss! | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-01-24T00:00:00 | 2022-02-23T00:00:00 | 2023-01-24T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/desinformation-der-globale-blick/505506/podcast-netz-aus-luegen-die-zeitenwende-8-8/ | Seit 24. Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. In der letzten Folge schauen wir noch einmal auf russische Desinformationskampagnen – aber auch darauf, was man gegen sie tun kann. | [
"Podcast Netz aus Lügen",
"Desinformation",
"Taiwan",
"Fake News"
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Glossar | Der Mauerfall und ich | bpb.de | Von ADN über SED bis Westfernsehen – kurze Erklärungen zu wichtigen Begriffen, Institutionen und Personen in der Geschichte "Der Mauerfall und ich". Das Glossar wird fortlaufend aktualisiert.
Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN)
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die einzige zentrale Nachrichten- und Fotoagentur der Interner Link: DDR und war für die Bereitstellung der Nachrichten für Presse, Rundfunk und Fernsehen im Inland und für das Ausland zuständig. Gegründet wurde der ADN 1946.
Mehr dazu: Interner Link: Zeitungen in der DDR (bpb.de)
Ausreiseantrag
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Wer nicht mehr in der Interner Link: DDR leben wollte, stellte einen "Antrag auf Ausreise aus der DDR" in die Bundesrepublik. Von Mitte der 1970er Jahre bis Oktober 1989 stellten mehrere hunderttausend Menschen einen solchen Ausreiseantrag. Ausreiseanträge wurden als rechtswidrig angesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Ausreiseantrag (jugendopposition.de)
Bornholmer Brücke
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Der Grenzübergang Bornholmer Straße, auch "Bornholmer Brücke" genannt, verband während der Teilung Berlins die Stadtteile Interner Link: Prenzlauer Berg und Wedding. Am 9. November 1989 war die Bornholmer Brücke der erste Grenzübergang an der Interner Link: Berliner Mauer, an dem gegen 23.30 Uhr die Grenze halbständig geöffnet wurde. Die DDR-Grenzpolizisten gaben dem Druck der Menschenmassen nach.
Interner Link: 9. November, 23 Uhr – Filmaufnahmen von der Bornholmer Straße und dem Brandenburger Tor
Mehr dazu: Externer Link: Bornholmer Brücke (jugendopposition.de)
Bundesrepublik Deutschland (BRD)
Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ging 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg aus den drei westlichen Besatzungszonen hervor.
Mehr dazu: Teilung Deutschlands (bpb.de)
CSSR / Tschechoslowakei
Die Tschechoslowakei (Abkürzung CSSR) gehörte zu den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Seit dem 1.1.1993 ist sie in die eigenständigen Staaten Tschechien und Slowakei geteilt.
Mehr dazu: Externer Link: CSSR / Tschechoslowakei (jugendopposition.de)
Demokratischer Aufbruch (DA)
Der Demokratische Aufbruch (DA) entstand im Herbst 1989 als Bürgerbewegung der Interner Link: DDR. Hauptziele der Vereinigung waren zunächst die Reformierung und Demokratisierung des Landes. Im Dezember 1989 formierte sich der DA als Partei und gliederte sich im August 1990 der CDU an.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratischer Aufbruch (jugendopposition.de)
Deutsche Demokratische Republik (DDR)
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstand 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone und entwickelte sich zu einer von der Interner Link: Sowjetunion abhängigen Diktatur. Sie umfasste das Gebiet der heutigen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und Ost-Berlin. Am 3. Oktober 1990 treten die neuen Länder der BRD bei (Wiedervereinigung).
Mehr dazu: DDR (bpb.de)
Demokratie Jetzt (DJ)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Demokratie Jetzt (DJ) war eine im Herbst 1989 entstehende Bürgerbewegung, deren erklärtes Ziel die Demokratisierung der DDR war. 1991 löste sich DJ auf, um im September mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und Teilen des Interner Link: Neuen Forums die Partei Bündnis 90 zu gründen.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratie Jetzt (jugendopposition.de)
Demonstrieren in der DDR
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
In der Interner Link: DDR waren Demonstrationen fast immer verboten. 1989 versammelten sich trotzdem immer mehr Unzufriedene und Oppositionelle zu friedlichen Demonstrationen und erhöhten so den Druck auf die DDR-Regierung.
Mehr dazu: Externer Link: Demonstrationen in der ganzen DDR (jugendopposition.de)
Ebert, Frank
Frank Ebert gehörte zur letzten Generation der Jugendopposition in der Interner Link: DDR, bevor der Staat aufhörte zu existieren. Er war unter anderem an den Protesten gegen den Wahlbetrug beteiligt und bei den Interner Link: Demonstrationen in Ost-Berlin im Oktober 1989 dabei.
Mehr dazu: Externer Link: Frank Ebert (jugendopposition.de)
Friedensgebet in der Nikolaikirche
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Mitglieder der Arbeitsgruppe Friedensdienste und kirchliche Mitarbeiter/-innen luden ab 1982 wöchentlich in die Leipziger Nikolaikirche zu Friedensgebeten ein. Im November 1983 wurde zum ersten Mal nach dem Friedensgebet vor der Interner Link: Kirche gegen die Militarisierung der Gesellschaft demonstriert. Mit der Interner Link: Demonstration im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 begannen die Interner Link: Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten.
Mehr dazu: Externer Link: Friedensgebet in der Nikolaikirche (jugendopposition.de)
Kampfgruppen
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die Kampfgruppen waren paramilitärische Formationen in der Interner Link: DDR, die vor allem zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen vorgesehen waren. Bei einer Großübung der Kampfgruppen in Sachsen Anfang April 1989 wurde der Interner Link: SED-Führung deutlich, dass ihr diese im Ernstfall den Gehorsam verweigern könnten. Dennoch hat die SED ihren Einsatz gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten im Herbst 1989 vorgesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Kampfgruppen (jugendopposition.de)
Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU)
Die KPdSU war die Kommunistische Partei der Interner Link: Sowjetunion. Die Partei trug diesen Namen zwischen 1952 und 1991, existierte aber bereits seit 1918. Zwischen 1918 und 1991 beherrschte die KPdSU das gesamte gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion.
Mehr dazu: Externer Link: Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) (jugendopposition.de)
Kirche in der DDR
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Die Evangelische Kirche bildete in vielerlei Hinsicht die Basis der Oppositionsarbeit in der Interner Link: DDR, da sie die einzige vom Staat unabhängige Organisationsstruktur bot, die landesweit präsent war. In der Revolutionszeit 1989 fungierten Kirchen im ganzen Land als Basislager vieler Interner Link: Demonstrationen.
Mehr dazu: Externer Link: Kirche in der DDR (jugendopposition.de)
Kulturopposition in Ost-Berlin
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Der Kulturopposition in Ost-Berlin werden jene Künstler/-innen zugerechnet, die jenseits der offiziellen Kulturpolitik der Interner Link: SED versuchten, eine eigene Kulturszene zu etablieren. Sie gerieten damit fast automatisch in Konflikt mit dem politischen System der DDR. Dies förderte ihre Bereitschaft, Kontakt mit der politischen Opposition aufzunehmen.
Mehr dazu: Externer Link: Kulturopposition in Ost-Berlin (jugendopposition.de)
Ministerium für Staatssicherheit (MfS)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich Stasi) wurde per Gesetz am 8. Februar 1950 gegründet und war der Geheimdienst der Interner Link: DDR. Die Stasi war zugleich politische Geheimpolizei und für strafrechtliche Untersuchungen gegen von ihr ausgemachte politische Gegnerinnen und Gegner zuständig.
Mehr dazu: Externer Link: Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (jugendopposition.de)
Montagsdemonstration
In Leipzig fanden ab Anfang der 1980er Jahre jeweils montags Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche statt. Am 4. September 1989 gingen anschließend Bürgerrechtler/-innen mit Plakaten vor die Interner Link: Kirche und forderten Interner Link: Reisefreiheit. In den folgenden Wochen vergrößerte sich der Kreis der Teilnehmenden sehr schnell. Am 9. Oktober 1989 Interner Link: demonstrierten ungefähr 70.000 Personen.
Mehr dazu: Externer Link: Montagsdemonstration (jugendopposition.de)
Nationale Front
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der Interner Link: DDR. Sie war eine scheindemokratische Einrichtung, mit der die Interner Link: SED versuchte, ihre Vormachtstellung unter dem Deckmantel der demokratischen Struktur zu festigen.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Front (jugendopposition.de)
Nationale Volksarmee (NVA)
Die offizielle Armee der Interner Link: DDR wurde am 1. März 1956 gegründet. Durch die "Politische Hauptverwaltung" sicherte sich die Interner Link: SED innerhalb der NVA einen bestimmenden Einfluss auf die Armee. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate, auf Druck der Interner Link: Kirchen gab es ab 1964 die Bausoldaten, die ihren Wehrdienst ohne Waffe in Baueinheiten ableisten konnten.
1990 wurde die NVA aufgelöst, ihre Bestände und Standorte wurden der Bundeswehr übergeben.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Volksarmee (jugendopposition.de)
Neues Forum
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Das Neue Forum war die mit Abstand zulaufstärkste Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Sie forderten Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Die Interner Link: DDR-Behörden stuften das Neue Forum als "verfassungsfeindlich" ein.
Mehr dazu: Externer Link: Neues Forum (jugendopposition.de)
Notaufnahmeverfahren
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
Die große Zahl an Flüchtlingen aus der Interner Link: DDR machte es für die Interner Link: BRD erforderlich, ein geregeltes Aufnahmeverfahren zu entwickeln. Jeder Flüchtling, sofern er auf staatliche Hilfen angewiesen war und nicht von Freunden oder Familie unterstützt wurde, musste ein im Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 geregeltes Verfahren zur rechtlichen und sozialen Eingliederung durchlaufen.
Mehr dazu: Externer Link: Notaufnahmeverfahren (jugendopposition.de)
Paneuropäisches Picknick
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Am 19. August 1989 luden ungarische oppositionelle Gruppen um das Ungarische Demokratische Forum und die Interner Link: Paneuropa-Union zum "Paneuropäischen Picknick" ein – bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dabei sollte ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor symbolisch für einige Stunden geöffnet werden. Dabei gelang etwa 700 Interner Link: DDR-Bürger/-innen die Flucht nach Österreich. Das "Paneuropäische Picknick" steht symbolisch für den Riss im Eisernen Vorhang.
Mehr dazu: Externer Link: Paneuropäisches Picknick (jugendopposition.de)
Paneuropa-Union
Die Paneuropa-Union wurde 1925 durch den Österreicher Richard N. Coudenhove-Kalergi gegründet. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Rolle in der Welt zu stärken. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen.
Mehr dazu: Interner Link: Paneuropa-Union (bpb.de)
Politbüro
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Das Politbüro bezeichnete das Führungsgremium und Herrschaftszentrum der Interner Link: SED und der Interner Link: DDR. An der Spitze stand der Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der SED. Die Aufgabe des Politbüros bestand laut Parteistatut darin, die Arbeit der Partei zwischen den Plenartagungen des ZK zu leiten.
Mehr dazu: Externer Link: Politbüro (jugendopposition.de)
Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
Viele Interner Link: DDR-Bürger/-innen suchten im Sommer 1989 Zuflucht in der Botschaft der Interner Link: BRD in Prag und hofften, auf diesem Weg in den Westen ausreisen zu können. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 die Zustimmung zur Ausreise von Tausenden Flüchtlingen, die in Sonderzügen durch die DDR in die BRD gebracht wurden.
Mehr dazu: Externer Link: Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag (hdg.de)
Reisefreiheit
In der Interner Link: DDR gab es keine Reisefreiheit. Die Reise in Länder außerhalb des sogenannten Ostblocks gestatteten die Behörden im Regelfall nicht. Das Recht auf Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989.
Mehr dazu: Externer Link: Reisefreiheit (jugendopposition.de)
RIAS
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Der in West-Berlin beheimatete Sender RIAS unterstand der United States Information Agency und strahlte ab 1946 sein Programm aus. Die Mischung aus Unterhaltung, Musik und Information richtete sich vornehmlich an Interner Link: DDR-Bürger/-innen, die das Programm in der gesamten DDR verfolgen konnten – trotz vielfacher Störaktionen gegen den "Feindsender" (wie die Parteiführung ihn nannte).
Mehr dazu: Externer Link: RIAS (jugendopposition.de)
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sozialistische Einheitspartei (SED) entstand 1946 unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht durch die Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone. Sie war seit der Gründung der Interner Link: DDR am 7. Oktober 1949 bis zur Revolution von 1989 die herrschende Partei.
Mehr dazu: Externer Link: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (jugendopposition.de)
Sowjetunion
Die Sowjetunion wurde nach dem Ende des russischen Reichs (1917) im Dezember 1922 (Unionsvertrag, erste Verfassung 1924) gegründet und war bis zu ihrem endgültigen Zerfall 1991 das politische Zentrum des sogenannten Ostblocks.
Mehr dazu: Externer Link: Sowjetunion (jugendopposition.de)
Staatsrat
In der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatte der Staatsrat die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Er wurde im September 1960 nach dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der Interner Link: DDR, Wilhelm Pieck, gebildet. Erster Staatsratsvorsitzende wurde Walter Ulbricht; 1976 übernahm Erich Honecker dieses höchste staatliche Amt.
Mehr dazu: Externer Link: Staatsrat (jugendopposition.de)
Ständige Vertretungen der BRD und der DDR
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 vereinbarten die Interner Link: BRD und die Interner Link: DDR, "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander" zu entwickeln. In diesem Vertrag wurde auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in der DDR und der BRD beschlossen. Sie befanden sich in Ost-Berlin und in Bonn.
Mehr dazu: Externer Link: Ständige Vertretungen der BRD und der DDR (hdg.de)
Studieren in der DDR
In der Interner Link: DDR durfte nicht jede/-r studieren. Bei der Auswahl spielte die soziale Herkunft und die politische Einstellung eine große Rolle. Die Hochschulpolitik des SED-Regimes verfolgte das Ziel, parteiloyale Bürger/-innen auszubilden und die junge Generation zu disziplinieren.
Mehr dazu: Interner Link: Studieren in der DDR (bpb.de)
Ungarn
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Viele Ostdeutsche sind von der Interner Link: DDR nach Ungarn gereist, um von dort aus in den Westen zu fliehen. Im Mai 1989 begann Ungarn, die Grenzanlage zu Österreich abzubauen. Am 10. September 1989 wurde die Grenze zum Westen für die DDR-Flüchtlinge halbständig geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: Ungarn (jugendopposition.de)
Vogel, Wolfgang
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Wolfgang Vogel war ein Rechtsanwalt in der Interner Link: DDR, der auf das Freikaufen von Häftlingen und den Austausch von Agenten spezialisiert war. Er soll an der Freilassung von 150 Agenten aus dem DDR-Gewahrsam, der Ausreise von ca. 250.000 DDR-Bürger/-innen und dem Freikaufen von mehr als 30.000 Häftlingen beteiligt gewesen sein.
Mehr dazu: Externer Link: Wolfgang Vogel (jugendopposition.de)
Volkskammer
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer war das Parlament der Interner Link: DDR. Faktisch hatte die Volkskammer bis zur Friedlichen Revolution kein politisches Gewicht. Auf administrativer Ebene standen ihr die politisch wichtigeren Gremien (Ministerrat, Interner Link: Staatsrat und Nationaler Verteidigungsrat) gegenüber.
Mehr dazu: Externer Link: Volkskammer (jugendopposition.de)
Volkspolizei (VP)
Die Volkspolizei (Vopo) wurde im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Sie bestand bis zum Ende der Interner Link: DDR.
Mehr dazu: Externer Link: Volkspolizei (jugendopposition.de)
Wahlbetrug
Am 7. Mai 1989 fanden in der Interner Link: DDR die Kommunalwahlen statt. Bei dieser Wahl stand nur die Interner Link: Nationale Front zur Auswahl – also der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen. Unabhängige Wahlbeobachter/-innen aus der Bevölkerung konnten bei der Stimmenauswertung deutlich mehr Nein-Stimmen zählen, als am späten Abend des 7. Mai 1989 öffentlich bekannt gegeben wurden.
Mehr dazu: Interner Link: Wahlbetrug (bpb.de)
Westfernsehen
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Das Schauen von Sendungen des Westfernsehens war in der Interner Link: DDR nicht gesetzlich verboten und wurde geduldet. Durch das Errichten von Antennen- und Kabelgemeinschaften wurde der Empfang von Westprogrammen in den 1980er Jahren verbessert.
Mehr dazu: Interner Link: Westfernsehen (bpb.de)
Einkaufen in der DDR
Einkaufen ging man in der Interner Link: DDR z.B. in der "HO" (Handelsorganisation) oder im "Konsum". Waren des täglichen Grundbedarfs gab es dort besonders günstig zu kaufen, weil sie staatlich subventioniert wurden. Allerdings kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, vor allem bei technischen Geräten oder Importwaren wie Orangen oder Kaffee. Die Versorgungslage war regional stark unterschiedlich. Wer über D-Mark verfügte, konnte in sogenannten Intershops einkaufen, die ein breites Angebot an westlichen Waren anboten.
Mehr Informationen dazu: Konsum (Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit) (bpb.de)
Datsche
Als Datsche bezeichnet man kleine Gartenhäuser, die oft in Kleingartenanlagen zu finden sind. In der Interner Link: DDR dienten sie vielen als Rückzugsort vom Leben im Wohnblock. Viele bauten in den Gärten ihrer Datschen Obst und Gemüse an, das zum Eigenbedarf verbraucht oder an staatliche Annahmestellen verkauft wurde.
Biermann, Wolf
Wolf Biermann (*1936 in Hamburg) ist ein Liedermacher und Schriftsteller. 1953 siedelte er in die Interner Link: DDR über. Er geriet wegen seiner Werke immer mehr mit der DDR-Führung in Konflikt, die ihm ab 1965 ein Auftrittsverbot und Berufsverbot erteilte. Während einer Konzertreise 1976 in der Bundesrepublik Deutschland entzog die DDR-Führung Biermann die Staatsbürgerschaft. Biermann musste daraufhin in Westdeutschland bleiben.
Mehr dazu: Externer Link: Wolf Biermann (jugendopposition.de)
Subbotnik
Vom russischen Wort "Subbota" (Samstag) abgeleitetes Wort für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Die Nichtteilnahme galt als unkollegiale und negative Einstellung zum sozialistischen Staat.
Wohnungspolitik
Die Wohnungsvergabe wurde in der Interner Link: DDR vom Staat geregelt. Um den Wohnraummangel zu bekämpfen, wurde 1973 ein Wohnungsbauprogramm beschlossen. Es wurden große Plattenbausiedlungen errichtet, die für viele Menschen Platz boten. Wollte man in eine der begehrten Neubauwohnungen umziehen, musste man einen Antrag stellen und oft mehrere Jahre warten.
Pankow (Rockband)
Die Rockband Pankow wurde 1981 gegründet. Aufgrund ihrer provokanten Texte und Auftritte geriet sie immer wieder mit der Interner Link: DDR-Führung in Konflikt. Die Musiker von Pankow gehörten im September 1989 zu den Unterzeichnern der "Resolution von Rockmusikern und Liedermachern", die Reformen in der DDR forderten.
Wahlen
Am 15. Oktober 1950 fanden in der DDR erstmals Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen statt. Zur Abstimmung stand eine Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front. Entweder stimmte der Wähler / die Wählerin der gesamten Liste zu, oder er/sie lehnte sie ab. Es war nicht möglich, einzelne Abgeordnete zu wählen. Mehr dazu: Externer Link: Keine Wahl (jugendopposition.de)
Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Demnach hat jeder Mensch das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild öffentlich zu äußern. Niemand darf – sofern er nicht gegen geltendes Recht verstößt – aufgrund seiner Meinung verfolgt werden. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 garantierten dieses Grundrecht formal ebenfalls. In der Praxis wurden aber nicht nur kritische öffentliche Äußerungen, sondern auch private strafrechtlich verfolgt. Mehr dazu: Externer Link: Recht auf freie Meinungsäußerung (jugendopposition.de)
Braunkohle
Braunkohle war der wichtigste Energieträger in der Interner Link: DDR. Für die intensive Nutzung wurden seit 1949 mehr als 80.000 Menschen umgesiedelt und zahlreiche Dörfer abgebaggert. 1985 stammten rund 30 Prozent der weltweiten Braunkohle-Produktion aus der DDR. Der Tagebau schaffte viele Arbeitsplätze, führte aber gleichzeitig zu einer hohen Luftverschmutzung, besonders in industriellen Zentren wie Leipzig.
Autos in der DDR
In der DDR waren viele Konsumgüter, etwa Kleidung oder technische Waren, sehr teuer und knapp. Für den Kauf eines Autos musste man beim IFA-Autohandel den Kauf eines PKW beantragen – und dann oft zehn, manchmal auch über 15 Jahre warten. Neben den DDR-Fabrikaten "Trabant" und "Wartburg" wurden auch Importwagen vertrieben, zum Beispiel von Skoda oder Lada.
Bildung in der DDR
Das Bildungssystem der DDR hatte neben der Wissensvermittlung auch zum Ziel, junge Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen. Der Zugang zu höherer Bildung sollte nicht von bürgerlichen Privilegien abhängen, sondern auch Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien offen stehen. Eine neue Elite entstand dennoch: Kinder hochrangiger Funktionäre oder Interner Link: SED-naher Eltern wurden z.B. im Bildungssystem bevorzugt. Mehr dazu: Interner Link: Bildung in der DDR (Dossier Bildung) (bpb.de)
Schwarzwohnen
In der DDR standen viele Wohnungen und Häuser – vor allem Altbauten – leer, weil notwendige Renovierungsarbeiten aufgrund zu niedriger Mieteinnahmen, fehlender Fachkräfte oder Materialen nicht durchgeführt werden konnten. Einige Menschen umgingen die staatliche Wohnungszuweisung und nutzten diesen Wohnraum illegal, indem sie dort heimlich einzogen. Mehr dazu: Interner Link: Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis (bpb.de)
Umweltbewegung
Während die SED-Führung die existierenden Umweltprobleme leugnete, formierte sich innerhalb der Kirche eine eigenständige Umweltbewegung. Sie organisierte u.a. Demonstrationen und Baumpflanzaktionen, um die Bürger/-innen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch der Kampf gegen die Atomkraft war ein zentrales Anliegen der Naturschützer/-innen. Mehr dazu: Externer Link: Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung (jugendopposition.de)
Gefängnis Rummelsburg
Zu Zeiten der DDR diente das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg als Haftanstalt der Volkspolizei in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Gefängnis für Männer, in dem auch politische Häftlinge einsaßen. Auch Demonstranten wurden immer wieder in Rummelsburg festgehalten.
Umweltbibliothek
Die Umweltbibliothek wurde im September 1986 im Keller der Ost-Berliner Zionsgemeinde gegründet. Die Mitglieder befassten sich nicht nur mit dem Thema Umwelt , sondern auch mit weltanschaulichen und politischen Fragestellungen. Sie druckten und verbreiteten eine Reihe von oppositionellen Publikationen und systemkritischen Informationsblättern. Mehr dazu: Externer Link: Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek (jugendopposition.de)
Alexanderplatz
Der Alexanderplatz in Ost-Berlin war ein wichtiger Schauplatz für Demonstrationen gegen das SED-Regime. Ab Sommer 1989 wurde er zu einem regelmäßigen Treffpunkt der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration gegen das politische System der DDR statt.
Arnold, Michael
Michael Arnold (*1964 in Meißen) wurde 1987 als Medizinstudent Mitglied der "Initiativgruppe Leben". Er war Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums und organisierte 1988/89 mehrere öffentliche Protestaktionen in Leipzig, weshalb er kurzzeitig inhaftiert und exmatrikuliert wurde. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags. Mehr dazu: Externer Link: Michael Arnold (jugendopposition.de)
Genscher, Hans-Dietrich
Hans-Dietrich Genscher (*1927 in Reideburg bei Halle) war ein deutscher Politiker (FDP) und insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister sowie Vizekanzler der BRD. Am 30. September 1989 verkündigte er vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer/-innen. Als Außenminister setzte sich Genscher für die Wiedervereinigung Deutschlands ein.
Junge Welt (Zeitung)
Die Zeitung "Junge Welt" (JW) wurde erstmals am 12. Februar 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben, zunächst wöchentlich, ab März 1950 täglich. Ab dem 12. November 1947 fungierte sie als Organ des Zentralrats der SED-Jugendorganisation FDJ . Mit 1,4 Millionen Exemplaren war sie die Tageszeitung mit der höchsten Auflage in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: Junge Welt (JW) (jugendopposition.de)
Neues Deutschland (Zeitung)
Das "Neue Deutschland" (ND) war eine Tageszeitung und das Zentralorgan der SED. Die Zeitung erschien erstmals am 23. April 1946. Viele Artikel wurden bis Dezember 1989 von sämtlichen anderen Tageszeitungen der DDR aus dem ND übernommen. Mehr dazu: Externer Link: Neues Deutschland (ND) (jugendopposition.de)
Freie Deutsche Jugend (FDJ)
Die FDJ war die Jugendorganisation der SED. Fast alle Schüler/-innen folgten dem parallel zum Schulsystem angelegten Modell der Mitgliedschaft: erst Jungpionier, dann Thälmannpionier, mit 14 folgte der Beitritt zur FDJ. Wer nicht Mitglied war, musste mit Nachteilen rechnen – etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Mehr dazu: Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ) (jugendopposition.de)
Proteste gegen den Wahlbetrug am 7.9.1989
Nach dem Bekanntwerden des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fanden monatliche Proteste auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Am 7. September 1989 brachten die Demonstranten ihre Verärgerung über das SED-Regime mit Trillerpfeifen zum Ausdruck, gemäß dem Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug". Mehr dazu: Externer Link: Proteste gegen den Wahlbetrug (jugendopposition.de)
Umweltpolitik in der DDR
Der Schutz der Natur stand bereits seit 1968 in der Verfassung der DDR. Die fortschreitende Industrialisierung führte jedoch zu massiven ökologischen Problemen, insbesondere in den großen Industriezentren – zum Beispiel durch die Gewinnung von Braunkohle und die Chemie-Industrie. Innerhalb der Kirche formierte sich eine Umweltbewegung, die die Umweltzerstörung in der DDR anprangerte. Mehr dazu: Externer Link: Umweltzerstörung (hdg.de/lemo)
Arbeitsgruppe Umweltschutz
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Umwelt. Mehr dazu: Externer Link: Arbeitsgruppe Umweltschutz (jugendopposition.de)
Westpaket
Als "Westpakete" bezeichnete man Postsendungen, die Leute aus der BRD an Freunde und Verwandte in der DDR schickten. Sie enthielten Geschenke wie Kleidung, Süßigkeiten oder Kaffee. Handelsware oder Geld durfte nicht verschickt werden. Auch Tonträger, Bücher oder Zeitschriften zu verschicken war verboten. Die "Westpakete“ sind zwar bekannter, aber Geschenke wurden auch in die andere Richtung – von Ost nach West – verschickt. Und auch die BRD kontrollierte die Post teilweise. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html
Schundliteratur
Als "Schmutz- und Schundliteratur" galten in der DDR pornografische Inhalte, vermeintliche Kriegsverherrlichung oder Texte, die die DDR oder den Sozialismus verunglimpften. Das heimliche Lesen oder der Schmuggel der verbotenen Literatur wurde teilweise mit Gefängnisstrafen geahndet. Auch in der BRD gab es seit 1953 ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.
Sozialismus
Der Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sind. Der Sozialismus gilt als eine Vorstufe zum Interner Link: Kommunismus. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148315
Kommunismus
Der Kommunismus ist eine politische Weltanschauung, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Grundlegend dafür ist die Abschaffung des privaten Eigentums. Auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte als Vorstufe der Interner Link: Sozialismus verwirklicht werden. Mehr dazu: https://www.bpb.de/161319
Artikel 28
(1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur ungehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet.
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Artikel 29
"Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen."
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Verfassung der DDR
Die Interner Link: DDR hatte während ihres Bestehens drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich eng an die der Weimarer Reichsverfassung an und enthielt umfangreiche Grundrechte. Die Verfassung von 1968 verankerte den Sozialismus als Grundsatz und garantierte weiterhin viele Grundrechte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht und das Verbot einer Pressezensur. Mit den Änderungen von 1974 wurde die Freundschaft zur Sowjetunion betont. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
ML-Ausbildung
Unabhängig vom Interner Link: Studienfach mussten alle Studierenden in der Interner Link: DDR ein "Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" in Interner Link: Marxismus-Leninismus absolvieren. Politische Propaganda und wissenschaftliche Pflichtlektüre wurden miteinander verbunden. Zu Beginn jedes Semesters gab es die sogenannte "Rote Woche", in der Studierende mit Veranstaltungen zum Marxismus-Leninismus politisch indoktriniert werden sollten.
Marxismus-Leninismus
Der "Marxismus-Leninismus" war die Staatsideologie der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Staaten wie der Interner Link: DDR. Im Zentrum stand die Annahme, dass auf den Kapitalismus notwendig der Interner Link: Sozialismus und Interner Link: Kommunismus folgen müssen, um die Arbeiterklasse zu befreien. In der DDR war Interner Link: ML ein verbindliches Interner Link: Studienfach. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148578
Junge Pioniere (JP)
Die JP, eigentlich "Pionierorganisation Ernst Thälmann" war in der Interner Link: DDR die staatliche Massenorganisation für Kinder. Sie diente als ideologische Kaderschmiede, in der Kinder im Sinne der Interner Link: SED erzogen wurden. Fast alle Schüler/-innen gehörten ihr an. Die Pioniere waren unterteilt in die Jungpioniere und Thälmannpioniere. Ab dem 14. Lebensjahr folgte der Beitritt zur Interner Link: FDJ.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Kapitalismus
Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Fabriken, Geld) überproportionale Bedeutung hat. Grundlegend dafür sind der Schutz von Privateigentum sowie ein von staatlichen Eingriffen weitgehend freies Wirtschaftssystem. Der Markt wird demnach durch Angebot und Nachfrage gesteuert.
Mehr dazu: Interner Link: http://m.bpb.de
Neues Forum: Ablehnung des Antrags auf Zulassung
Am 19. September 1989 beantragte das Neue Forum die Zulassung als Vereinigung. Das Interner Link: DDR-Innenministerium lehnte den Antrag zwei Tage später ab und bezeichnete die Bewegung als "staatsfeindliche Plattform". Mit einem Handzettel forderten die Initiatoren (darunter Michael Interner Link: Arnold) die Bevölkerung zur Solidarität auf.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/kathrin2209
AG Umweltschutz
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Interner Link: Umwelt.
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148350
Führer, Christian
Christian Führer (1943-2014) war ein evangelischer Pfarrer und Mitbegründer der Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148050
Moritzbastei
Die Moritzbastei ist eine historische Befestigungsanlage in Interner Link: Leipzig. Zwischen 1974 und 1982 wurde sie in über 150.000 Arbeitsstunden von Studierenden zu einem Studentenklub ausgebaut. In den 1980er Jahren wurde sie von der Interner Link: FDJ betrieben. Auch heute ist sie ein Kulturzentrum.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/m6b
Merkel, Angela
Angela Dorothea Kasner heißt heute Angela Merkel und ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie Physik in Leipzig, bevor sie für ihre Promotion nach Ost-Berlin zog. Sie war aktives Mitglied der Interner Link: FDJ. 1989 trat sie der Partei Interner Link: Demokratischer Aufbruch bei, deren Pressesprecherin sie 1990 wurde.
Mehr zu Angela Merkels Biografie: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/biografie/angela-merkel.html
Leipzig 1989
Leipzig wurde im Herbst 1989 zu einer der wichtigsten Städte für die friedliche Revolution. Hier begannen die Interner Link: Friedensgebete und die Interner Link: Montagsdemonstrationen. Außerdem formierten sich hier Bürgerrechtsbewegungen wie das Interner Link: Neue Forum.
Mehr über wichtige Orte der DDR-Opposition erfährst du hier: Externer Link: www.jugendopposition.de/Orte/
Honecker, Erich
Erich Honecker (1912-1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der Interner Link: SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrats.
Honecker war ab 1930 Mitglied der KPD und leistete Widerstand im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er die Jugendorganisation Interner Link: FDJ auf. Nach der Wiedervereinigung wurden Ermittlungen gegen Honecker aufgenommen, die 1993 eingestellt wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148080
Zuführung
Bei den sogenannten Zuführungen wurden Personen ohne weitere Begründung (und ohne Rechtsgrundlage) festgenommen. Nach einigen Stunden Verhören oder kurzen Belehrungen endeten sie in der Regel mit der Freilassung. Sie konnten aber auch in einer formellen Interner Link: Verhaftung münden.
Mehr dazu: Externer Link: http://www.jugendopposition.de
Politische Haft
Das SED-Regime verfolgte politische Oppositionelle wegen vermeintlicher Widerstandshandlungen, Fluchtversuchen oder Fluchthilfe. Für die DDR-Regierung waren diese Personen Kriminelle, die sich gegen die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung richteten. Schätzungen nach waren etwa 200.000 bis 250.000 Personen in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Tausende Häftlinge wurden zwischen 1963 und 1989 von der Bundesrepublik freigekauft – die Gefangenen durften ausreisen, im Gegenzug erhielt die Interner Link: DDR Warenlieferungen im Wert von mehr als drei Milliarden DM.
Nationalhymne der DDR
Für die Interner Link: DDR wurde 1949 mit "Auferstanden aus Ruinen" eine Nationalhymne geschaffen. Ein Auszug aus der Nationalhymne:
"Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint."
Wegen der Textzeile "Deutschland, einig Vaterland" wurde bei offiziellen Anlässen seit Anfang der 1970er Jahre nur noch deren Melodie gespielt.
Mehr Infos dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-nationalhymne-der-ddr.html
Internationale (Arbeiterlied)
"Die Internationale" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung und nahm in der DDR und anderen sozialistischen Staaten einen wichtigen Platz neben der Interner Link: Nationalhymne ein. Im Refrain heißt es:
"Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Tag der Republik
Am 7. Oktober 1989 wurde mit großen Festumzügen, Aufmärschen und Volksfesten das 40-jährige Bestehen der Interner Link: DDR gefeiert. Staatsgäste aus aller Welt, u.a. Michail Interner Link: Gorbatschow, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die politische Krise im Land wurde ausgeblendet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145459
Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde am 1. Januar 1919 als Zusammenschluss mehrerer linksrevolutionärer Gruppierungen unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründet. 1946 erfolgte in der Sowjetischen Besatzungszone (Interner Link: SBZ) die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur Interner Link: SED. In der Bundesrepublik wurde die KPD 1956 verboten.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148456
Gorbatschow, Michail
Michail Sergejewitsch Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Interner Link: Sowjetunion (KPdSU) und stieß 1985 umfassende politische und wirtschaftliche Interner Link: Reformen an. Gorbatschows Außenpolitik war geprägt von einer Taktik der Abrüstung und Annäherung an den Westen. 1990 stimmte er der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Quelle/Link: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148055/
Glasnost und Perestroika
Unter den Schlagworten "Glasnost" (Öffentlichkeit/Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) leitete Michail Interner Link: Gorbatschow 1985 politische und wirtschaftliche Reformen in der Interner Link: Sowjetunion ein. Die Gesellschaft sollte unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und unter Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion modernisiert werden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148407
Zentralkomitee der SED (ZK)
Das Zentralkomitee war das oberste Gremium der Interner Link: SED. Es wurde auf den SED-Parteitagen gewählt. Die Sekretäre des ZK betreuten etwa 40 verschiedene Abteilungen und konnten auch den Mitgliedern des Ministerrats Befehle erteilen – sie kontrollierten also sowohl die Partei als auch die Regierung. Das ZK wählte auch die oberste Führungsriege der DDR, das Interner Link: Politbüro. Der Erste Sekretär war bis zum Oktober 1989 Interner Link: Erich Honecker. Auf ihn folgte Egon Krenz.
Mehr dazu: Interner Link: http://www.bpb.de/18500/zentralkomitee-zk
Tian’anmen-Massaker
In der Nacht zum 4. Juni 1989 wurden politische und soziale Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian An Men) in Peking von der chinesischen Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen. In der Folge protestierten Menschen weltweit gegen das Massaker. Bis heute ist nicht geklärt, ob mehrere Hundert oder einige Tausend Menschen getötet wurden.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/185616
Ministerrat
Der Ministerrat war formal laut DDR-Verfassung die Regierung der Interner Link: DDR und bestand 1989 aus 39 Mitgliedern (Ministern), die alle der Interner Link: SED angehörten.Die eigentliche Macht hatte in der DDR aber das Interner Link: Politbüro des Interner Link: Zentralkomitees der SED inne, denn die Sekretäre konnten den Ministern Befehle erteilen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148601
Schefke, Siegbert
Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler. Als Journalist und Kameramann dokumentierte er Ende der 1980er Jahre die Umweltzerstörung in der Interner Link: DDR. Im Herbst 1989 lieferte er gemeinsam mit Aram Radomski die ersten Fernsehbilder der Montagsdemonstrationen in Interner Link: Leipzig, die im Anschluss in der Interner Link: Tagesschau übertragen wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148159/
Dietrich, Mike
Mike Dietrich ist ein DJ, Produzent und Musiker aus Leipzig. Ende der 1980er Jahre gründete er in Leipzig das Hiphop-Projekt B-Side the Norm.
Hip-Hop in der DDR
Inspiriert vom amerikanischen HipHop entwickelte sich in der DDR in den 1980er Jahren eine kleine Szene aus Breakdancern, Rappern, Graffitikünstlern und DJs. HipHop war nicht verboten, zum Teil wurde die Jugendkultur aber vom Staat kontrolliert.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145417
Beat Street
Der Film "Beat Street" läuft 1985 in den Kinos der DDR. Für viele Jugendliche in der DDR ist es der Startschuss, sich mit Grafitti und Breakdance zu beschäftigen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/hip-hop-in-der-ddr100.html
Silly (Band)
Die Rockband "Silly" wurde 1978 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Frontfrau, Tamara Danz, war eine der berühmtesten Sängerinnen der DDR. 1985 verboten die DDR-Zensoren das Album "Zwischen unbefahrenen Gleisen", welches später in bereinigter Version erschien. Trotz Zensur versuchte die Band immer wieder, politische Andeutungen in ihren Texten unterzubringen.
Karat (Band)
1975 in Ost-Berlin gegründet, gehörte "Karat" zu den erfolgreichsten Rockbands in der DDR. Ihre Musik bewegte sich zwischen Progressive-Rock, Pop und Schlager. Ihr bekanntestes Lied ist "Über sieben Brücken musst du gehen". Zuerst waren die Texte noch komödiantisch, später wandte sich die Band ernsteren Texten zu. Trotz Vorwürfen, politisch konform zu sein, enthielten einige Songs auch kritische Passagen, z.B. der Song "Albatros" (1979).
Komitee für Unterhaltungskunst
Das 1973 gegründete kulturpolitische Kontrollgremium der DDR-Regierung überwachte die Einhaltung von politischen Richtlinien in der Unterhaltungskunst. Kritische Stimmen wurden unterdrückt, politisch konforme Künstlerinnen und Künstler bevorzugt. Das von der SED eingesetzte Komitee entschied unter anderem, wer zu Veranstaltungen und Tourneen ins westliche Ausland fahren durfte.
Krenz, Egon
Egon Krenz (*1937 in Kolberg/Pommern), ehemaliger SED-Politiker, löste am 18.10.1989 Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und als Vorsitzender des Staatsrates ab. Am 3.12.1989 trat schließlich das gesamte ZK mit Krenz als Generalsekretär zurück. 1995 wurde er wegen der Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.
7./8. Oktober
Zum 40. Jahrestag der Interner Link: DDR demonstrierten Tausende Berliner/innen gegen das Interner Link: SED-Regime. Die Interner Link: Volkspolizei und Spezialeinheiten der Interner Link: Stasi gingen brutal gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten vor. Männer und Frauen wurden verprügelt, LKW transportierten Interner Link: Verhaftete ab, die Volkspolizei setzte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge ein. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zog weitere Demonstrationen und Mahnwachen für die Verhafteten in der ganzen DDR nach sich.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145462
Schabowski, Günter
Günter Schabowski war Interner Link: SED-Funktionär und Mitglied im Interner Link: Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Interner Link: DDR. Am Abend des 9. November 1989 verkündete er im Rahmen einer Pressekonferenz (nicht ganz halbständig) eine neue Ausreise-Regelung für DDR-Bürger/-innen. Daraufhin strömten tausende Ost-Berliner/-innen an die Grenze. Noch in derselben Nacht wurden alle Grenzübergänge geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148156
Masur, Kurt
Kurt Masur (1927-2015) war Dirigent und Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Interner Link: Leipzig. Als einer der Interner Link: Leipziger Sechs veröffentlichte er am 9. Oktober 1989 einen Aufruf zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen.
Stadtfunk Leipzig
Der Leipziger Stadtfunk war ein Netz von Lautsprecheranlagen, die zwischen 1945 und 1998 an öffentlichen Gebäuden und Plätzen in Leipzig installiert waren. Genutzt wurde er vor allem für Propaganda und Information. Am 9. Oktober 1989 wurde der Aufruf der Interner Link: Leipziger Sechs über den Stadtfunk verbreitet. Nach der Wiedervereinigung übernahm Radio Leipzig das Programm.
Leipziger Sechs
Die Leipziger Sechs waren eine Gruppe von sechs Männern, die am 9. Oktober gemeinsam einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Interner Link: Stadtfunk verbreiteten. Darunter waren Kulturschaffende sowie Mitglieder der SED-Bezirksleitung. Sie forderten beide Seiten – Interner Link: Demonstranten und Interner Link: Volkspolizei - zur Besonnenheit auf. Der Aufruf soll maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen friedlich verliefen.
Reformbestrebungen
Im Sommer und Herbst 1989 formierten sich in der DDR zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die das Ziel hatten, demokratische Reformen in der DDR anzustoßen. Sie forderten die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen. Im Rahmen z.B. der Montagsdemonstration versammelten sich die verschiedenen Oppositionsgruppen und verliehen ihren Forderungen Nachdruck.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/295940
Nationaler Verteidigungsrat
Der Nationale Verteidigungsrat (NVR) der Interner Link: DDR wurde im Jahr 1960 gegründet und war das wichtigste Organ für sicherheitspolitische Fragen. Die Personalunion an der Spitze von Interner Link: Politbüro, Interner Link: Staatsrat und Verteidigungsrat hob die theoretische Trennung der Entscheidungsgremien in der Praxis weitgehend auf.
Mehr Infos: Externer Link: https://www.bstu.de/mfs-lexikon
Telefonieren in der DDR
Das Telefonnetz der Interner Link: DDR war schlecht ausgebaut. Nicht einmal 15 Prozent der privaten Haushalte hatten einen Telefonanschluss. Viele nutzten deshalb Telefonzellen oder öffentliche Telefone in den Postämtern. In der Stadt – insbesondere in Ost-Berlin – war es leichter, einen Telefonanschluss zu bekommen. Telefongespräche aus der DDR in die Interner Link: BRD mussten angemeldet werden.
Der Morgen (Zeitung)
"Der Morgen" war eine Tageszeitung in der Interner Link: DDR und das Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (Interner Link: LDPD). Als erste Zeitung der DDR druckte "Der Morgen" 1989 Beiträge und Leserbriefe, die sich kritisch mit dem Interner Link: SED-Regime auseinandersetzten.
Liberal-Demokratische Partei Deutschlands
Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) wurde 1945 gegründet. Ab 1949 war sie in die Nationale Interner Link: Front eingebunden. Zentralorgan der LDPD war die Tageszeitung "Der Interner Link: Morgen".
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148413
Henrich, Rolf
Rolf Henrich ist Jurist und Schriftsteller. Ab 1964 war er Mitglied der Interner Link: SED, setzte sich später aber zunehmend kritisch mit der Partei und dem Interner Link: Sozialismus auseinander. 1989 veröffentlichte er das Buch "Der vormundschaftliche Staat", weshalb er aus dem Anwaltskollegium und der SED ausgeschlossen wurde. Er war Mitbegründer des Interner Link: Neuen Forums und trat 1990 in die SPD ein.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Rausch, Friedhelm
Friedhelm Rausch war von 1986 bis 1989 Präsident der Interner Link: Volkspolizei Berlin und damit unter anderem verantwortlich für die Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober gegen Demonstranten. Beim ersten sogenannten "Sonntagsgespräch" vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, am 29.10.1989, entschuldigte er sich dafür.
Eppelmann, Rainer
Rainer Eppelmann ist ein evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler. Von 1979 bis 1987 organisierte er Interner Link: Bluesmessen in Berlin. Er stand unter permanentem Druck der Interner Link: Stasi. Er war Mitbegründer und später Vorsitzender des Interner Link: DA, Abgeordneter der Interner Link: Volkskammer und später des Deutschen Bundestages. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Bluesmessen
Die Bluesmessen in Berlin wurden von Interner Link: Rainer Eppelmann initiiert und von 1979 bis 1987 in Interner Link: Kirchen veranstaltet. Als Gottesdienste unterlagen sie nicht der staatlichen Anmeldepflicht. Sie entwickelten sich zu wichtigen Orten für oppositionelle Jugendliche in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Aktuelle Kamera
Die abendliche DDR-TV-Nachrichtensendung ist das Sprachrohr der Interner Link: SED. Über was wie berichtet wird, bestimmt die Partei. Mitte Oktober 1989 beginnt die Aktuelle Kamera aber unabhängig und kritisch zu berichten und lässt auch Bürgerrechtler und Demonstrierende zu Wort kommen.
Mehr dazu: Externer Link: www.mdr.de/zeitreise/aktuelle-kamera-nachrichten-im-ddr-fernsehen-100.html
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)
Der FDGB war der Dachverband der Gewerkschaften in der Interner Link: DDR. Wie alle Massenorganisationen in der DDR war auch der FDGB zentralistisch von der Interner Link: Partei aus organisiert. 1989 hatte der FDGB ungefähr 9,5 Millionen Mitglieder.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
National-Demokratische Partei Deutschland (NDPD)
Die NDPD war eine der Interner Link: Blockparteien in der Interner Link: DDR. Sie wurde 1948 mit dem Ziel gegründet, ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP in das staatssozialistische System der DDR zu integrieren Nach 1990 ging die NDPD in die FDP über.
Mehr dazu: Externer Link: www.bpb.de/
Tisch, Harry
Harry Tisch war ein SED-Funktionär mit hohen Rang. Bereits 1963 wurde er Mitglied des Interner Link: ZK und 1975 Mitglied des Interner Link: Politbüros der Interner Link: SED. Von 1975 bis 1989 war er Vorsitzender des Interner Link: FDGB. Im November 1989 trat er als Vorsitzender des FDGB zurück und schied aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aus. Ende des Jahres 1989 wurde er aus der SED und dem FDGB ausgeschlossen.
CDU in der DDR
Die Christlich-Demokratische Union (CDU) wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei gegründet. In der Interner Link: DDR wurde die Ost-CDU zu einer Blockpartei innerhalb der SED-dominierten Interner Link: Nationalen Front.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148367
Transitstrecke
Transitstrecken waren die Straßen, die durch das Gebiet der Interner Link: DDR führten. Neben der Verbindung zwischen der BRD und West-Berlin durfte auch der Transitverkehr nach Polen und Tschechoslowakei nur über diese wenigen Strecken erfolgen.
Berliner Mauer
Die Berliner Mauer war die Sperranlage, die zwischen 1961 und 1989 West- und Ostberlin trennte. Sie war 156,40 km lang und bestand aus mehreren Teilen: zwischen zwei Mauern befanden sich u. a. ein 15 bis 150 Meter breiter "Todesstreifen" und ein Sperrgraben. Zur Bewachung waren Beobachtungstürme und eine Lichttrasse installiert. Mindestens 140 Menschen kamen an der Berliner Mauer oder im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die Mauer wurde zum Symbol für die deutsche Teilung.
Eine Karte und Fotos des Grenzverlaufs: Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/166398
Einreise nach Ost-Berlin
Seit 1972 benötigten BRD-Bürger mit Wohnsitz in Westberlin einen "Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums der DDR", um als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt einzureisen. BRD-Bürger, die nicht in West-Berlin lebten, konnten direkt an den Grenzübergangsstellen ein Tagesvisum beantragen. Mehrtagesaufenthalte waren nur in besonderen Fällen möglich. Für DDR-Bürger (und damit auch Ost-Berliner) gab es kaum eine Möglichkeit, in den Westen zu reisen.
Prenzlauer Berg
Der Prenzlauer Berg in Ostberlin entwickelte sich in den 1970 und 1980er Jahren zu einem Zentrum der oppositionellen Szene, die sich zum Beispiel in Wohnungen oder Kirchengemeinden traf. Als Ort der DDR-Opposition und wegen seiner Nähe zur Interner Link: Mauer zu Westberlin war die Überwachungsdichte der Stasi im Prenzlauer Berg besonders hoch.
Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten im Prenzlauer Berg: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/stasiopposition/
Umweltblätter / Telegraph
Die Informationszeitschrift der Umweltbibliothek erschien seit 1987 alle ein bis zwei Monate und behandelte Themen wie Umweltschutz, Menschen- und Bürgerrechte, die Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. 1989 wurde aus den Umweltblättern der telegraph, in dem über Friedliche Revolution berichtet wurde. Mehr Infos: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145467
Kühn, Fritz
Fritz Kühn war Mitglied der Interner Link: Umweltbibliothek (UB) und betreute dort die Druckmaschinen. In den Kellerräumen der UB druckte er die Dokumentation "Wahlfall", in der erstmals die Fälschung der Interner Link: Kommunalwahlen in der Interner Link: DDR dokumentiert und nachgewiesen werden konnte.
Ihlow, Uta
Die Bibliotheksfacharbeiterin war am Aufbau und der Betreuung der Interner Link: Umweltbibliothek beteiligt, in der unter anderem in der Interner Link: DDR verbotene Literatur gesammelt wurde. Mehr zur Person: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145511
Pressekonferenz
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Am 9. November 1989 verlas Günter Interner Link: Schabowski, Mitglied des Interner Link: Politbüros, um 18 Uhr im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen könnten, antwortete Schabowski vorschnell "Sofort, unverzüglich". Die Regelung sollte eigentlich erst am 10. November in Kraft treten.
Die Pressekonferenz wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Im Laufe des Abends stürmten tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen und forderten die sofortige Öffnung.
Die Pressekonferenz zum Nachschauen: Externer Link: http://kurz.bpb.de/schabowski
Wolf, Christa
Christa Wolf (1929-2011) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie trat 1949 in die Interner Link: SED ein und studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED, schied aber nach einer kritischen Rede aus dem Gremium aus. 1989 trat sie aus der Partei aus und forderte demokratische Reformen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148211
Ventillösung
Nach der Pressekonferenz von Günter Interner Link: Schabowski versammelten sich am 9. November 1989 tausende DDR-Bürger am Grenzübergang Interner Link: Bornholmer Straße, um nach West-Berlin auszureisen. Ab 21:30 Uhr wurden einigen besonders auffälligen DDR-Bürgern die Ausreise gewährt. Ihre Ausweise wurden dabei unbemerkt ungültig gestempelt, um ihnen eine spätere Wiedereinreise zu verwehren.
Brandenburger Tor
Die drei Meter hohe und breite Mauer am Brandenburger Tor sollte die Endgültigkeit der deutschen Teilung symbolisieren. Am Abend des 9. November 1989 wurde sie dagegen zum Symbol für die Überwindung dieser Teilung. In der Nacht und in den folgenden Tagen feierten Tausende Berliner/-innen den Fall der Berliner Mauer.
Grenzposten
Die Berliner Interner Link: Mauer (Gesamtlänge 156, 4 km) bestand im Jahr 1989 aus einem zwischen 15 und mehr als 150 Meter breiten Todesstreifen mit einer zwei bis drei Meter hohen "Hinterlandmauer" oder einem "Hinterlandsperrzaun". An mehreren Kontrollposten waren Grenztruppen stationiert, um die Anlage zu überwachen und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Mauerspechte
Schon kurz nach Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen am Abend des 9. November 1989 begannen Menschen, Teile aus der Berliner Interner Link: Mauer herausklopfen und einzelne Stücke mitzunehmen. Man bezeichnet sie als "Mauerspechte".
Dickel, Friedrich
Friedrich Dickel (1913-1993) war von 1963 bis 1989 Innenminister der Interner Link: DDR und damit auch Chef der Interner Link: Volkspolizei.
Kohl, Helmut
Helmut Kohl (1930-2017) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weil die Wiedervereinigung der Interner Link: BRD und Interner Link: DDR in seine Amtszeit fiel, wird er häufig als "Kanzler der Einheit" bezeichnet.
Brandt, Willy
Willy Brandt (1913-1992) war ein deutscher Politiker (SPD) und von 1969-1974 Bundeskanzler der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland. Mit einer "neuen Ostpolitik" setzte er sich für den Dialog mit den Staaten des sogenannten Ostblocks ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis.
Momper, Walter
Walter Momper (geboren 1945) ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister in Berlin (West) und von 2001 bis 2011 Präsident des Abgeordnetenhauses in Berlin.
Sperrgebiet
Das Sperrgebiet war von 1954 bis 1989 ein etwa 500 Meter breiter Streifen entlang der innerdeutschen Grenze. Die etwa 200.000 Menschen, die in dieser Sperrzone lebten, brauchten Sonderausweise und waren im Alltag enorm eingeschränkt. Andere DDR-Bürger hatten keinen Zutritt. Direkt an der Grenze befand sich der sogenannte "Todesstreifen", der mit Schussanlagen gesichert und vermint war. Offiziell aufgehoben wurden alle Sperrgebiete an der Grenze am 12. November 1989.
Begrüßungsgeld
Schon ab 1970 zahlte die Bundesrepublik Besuchern aus der Interner Link: DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld. Noch in der Nacht zum 10. November 1989 ordnete der West-Berliner Bürgermeister Walter Interner Link: Momper die Auszahlung von 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger durch Banken und Sparkassen an. Die Regelung wurde in den darauffolgenden Tagen in der gesamten Interner Link: Bundesrepublik übernommen.
Oberbaumbrücke
Die Oberbaumbrücke führt über die Spree und verbindet die Berliner Stadtteile Kreuzberg (bis 1990 West-Berlin) und Friedrichshain (bis 1990 Ost-Berlin). Heute beginnt dort die East-Side-Gallery.
Kurfürstendamm
Der Kurfürstendamm, umgangssprachlich auch Ku’damm genannt, gehört zu den Haupteinkaufsstraßen in Berlin. Am 9. und 10. November trafen sich Zehntausende Ost- und West-Berliner auf dem Ku’damm.
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die einzige zentrale Nachrichten- und Fotoagentur der Interner Link: DDR und war für die Bereitstellung der Nachrichten für Presse, Rundfunk und Fernsehen im Inland und für das Ausland zuständig. Gegründet wurde der ADN 1946.
Mehr dazu: Interner Link: Zeitungen in der DDR (bpb.de)
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Wer nicht mehr in der Interner Link: DDR leben wollte, stellte einen "Antrag auf Ausreise aus der DDR" in die Bundesrepublik. Von Mitte der 1970er Jahre bis Oktober 1989 stellten mehrere hunderttausend Menschen einen solchen Ausreiseantrag. Ausreiseanträge wurden als rechtswidrig angesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Ausreiseantrag (jugendopposition.de)
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Der Grenzübergang Bornholmer Straße, auch "Bornholmer Brücke" genannt, verband während der Teilung Berlins die Stadtteile Interner Link: Prenzlauer Berg und Wedding. Am 9. November 1989 war die Bornholmer Brücke der erste Grenzübergang an der Interner Link: Berliner Mauer, an dem gegen 23.30 Uhr die Grenze halbständig geöffnet wurde. Die DDR-Grenzpolizisten gaben dem Druck der Menschenmassen nach.
Interner Link: 9. November, 23 Uhr – Filmaufnahmen von der Bornholmer Straße und dem Brandenburger Tor
Mehr dazu: Externer Link: Bornholmer Brücke (jugendopposition.de)
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ging 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg aus den drei westlichen Besatzungszonen hervor.
Mehr dazu: Teilung Deutschlands (bpb.de)
Die Tschechoslowakei (Abkürzung CSSR) gehörte zu den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Seit dem 1.1.1993 ist sie in die eigenständigen Staaten Tschechien und Slowakei geteilt.
Mehr dazu: Externer Link: CSSR / Tschechoslowakei (jugendopposition.de)
Der Demokratische Aufbruch (DA) entstand im Herbst 1989 als Bürgerbewegung der Interner Link: DDR. Hauptziele der Vereinigung waren zunächst die Reformierung und Demokratisierung des Landes. Im Dezember 1989 formierte sich der DA als Partei und gliederte sich im August 1990 der CDU an.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratischer Aufbruch (jugendopposition.de)
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstand 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone und entwickelte sich zu einer von der Interner Link: Sowjetunion abhängigen Diktatur. Sie umfasste das Gebiet der heutigen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und Ost-Berlin. Am 3. Oktober 1990 treten die neuen Länder der BRD bei (Wiedervereinigung).
Mehr dazu: DDR (bpb.de)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Demokratie Jetzt (DJ) war eine im Herbst 1989 entstehende Bürgerbewegung, deren erklärtes Ziel die Demokratisierung der DDR war. 1991 löste sich DJ auf, um im September mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und Teilen des Interner Link: Neuen Forums die Partei Bündnis 90 zu gründen.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratie Jetzt (jugendopposition.de)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
In der Interner Link: DDR waren Demonstrationen fast immer verboten. 1989 versammelten sich trotzdem immer mehr Unzufriedene und Oppositionelle zu friedlichen Demonstrationen und erhöhten so den Druck auf die DDR-Regierung.
Mehr dazu: Externer Link: Demonstrationen in der ganzen DDR (jugendopposition.de)
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Frank Ebert gehörte zur letzten Generation der Jugendopposition in der Interner Link: DDR, bevor der Staat aufhörte zu existieren. Er war unter anderem an den Protesten gegen den Wahlbetrug beteiligt und bei den Interner Link: Demonstrationen in Ost-Berlin im Oktober 1989 dabei.
Mehr dazu: Externer Link: Frank Ebert (jugendopposition.de)
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Mitglieder der Arbeitsgruppe Friedensdienste und kirchliche Mitarbeiter/-innen luden ab 1982 wöchentlich in die Leipziger Nikolaikirche zu Friedensgebeten ein. Im November 1983 wurde zum ersten Mal nach dem Friedensgebet vor der Interner Link: Kirche gegen die Militarisierung der Gesellschaft demonstriert. Mit der Interner Link: Demonstration im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 begannen die Interner Link: Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten.
Mehr dazu: Externer Link: Friedensgebet in der Nikolaikirche (jugendopposition.de)
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die Kampfgruppen waren paramilitärische Formationen in der Interner Link: DDR, die vor allem zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen vorgesehen waren. Bei einer Großübung der Kampfgruppen in Sachsen Anfang April 1989 wurde der Interner Link: SED-Führung deutlich, dass ihr diese im Ernstfall den Gehorsam verweigern könnten. Dennoch hat die SED ihren Einsatz gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten im Herbst 1989 vorgesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Kampfgruppen (jugendopposition.de)
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die KPdSU war die Kommunistische Partei der Interner Link: Sowjetunion. Die Partei trug diesen Namen zwischen 1952 und 1991, existierte aber bereits seit 1918. Zwischen 1918 und 1991 beherrschte die KPdSU das gesamte gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion.
Mehr dazu: Externer Link: Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) (jugendopposition.de)
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Die Evangelische Kirche bildete in vielerlei Hinsicht die Basis der Oppositionsarbeit in der Interner Link: DDR, da sie die einzige vom Staat unabhängige Organisationsstruktur bot, die landesweit präsent war. In der Revolutionszeit 1989 fungierten Kirchen im ganzen Land als Basislager vieler Interner Link: Demonstrationen.
Mehr dazu: Externer Link: Kirche in der DDR (jugendopposition.de)
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Der Kulturopposition in Ost-Berlin werden jene Künstler/-innen zugerechnet, die jenseits der offiziellen Kulturpolitik der Interner Link: SED versuchten, eine eigene Kulturszene zu etablieren. Sie gerieten damit fast automatisch in Konflikt mit dem politischen System der DDR. Dies förderte ihre Bereitschaft, Kontakt mit der politischen Opposition aufzunehmen.
Mehr dazu: Externer Link: Kulturopposition in Ost-Berlin (jugendopposition.de)
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich Stasi) wurde per Gesetz am 8. Februar 1950 gegründet und war der Geheimdienst der Interner Link: DDR. Die Stasi war zugleich politische Geheimpolizei und für strafrechtliche Untersuchungen gegen von ihr ausgemachte politische Gegnerinnen und Gegner zuständig.
Mehr dazu: Externer Link: Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (jugendopposition.de)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
In Leipzig fanden ab Anfang der 1980er Jahre jeweils montags Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche statt. Am 4. September 1989 gingen anschließend Bürgerrechtler/-innen mit Plakaten vor die Interner Link: Kirche und forderten Interner Link: Reisefreiheit. In den folgenden Wochen vergrößerte sich der Kreis der Teilnehmenden sehr schnell. Am 9. Oktober 1989 Interner Link: demonstrierten ungefähr 70.000 Personen.
Mehr dazu: Externer Link: Montagsdemonstration (jugendopposition.de)
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der Interner Link: DDR. Sie war eine scheindemokratische Einrichtung, mit der die Interner Link: SED versuchte, ihre Vormachtstellung unter dem Deckmantel der demokratischen Struktur zu festigen.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Front (jugendopposition.de)
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die offizielle Armee der Interner Link: DDR wurde am 1. März 1956 gegründet. Durch die "Politische Hauptverwaltung" sicherte sich die Interner Link: SED innerhalb der NVA einen bestimmenden Einfluss auf die Armee. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate, auf Druck der Interner Link: Kirchen gab es ab 1964 die Bausoldaten, die ihren Wehrdienst ohne Waffe in Baueinheiten ableisten konnten.
1990 wurde die NVA aufgelöst, ihre Bestände und Standorte wurden der Bundeswehr übergeben.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Volksarmee (jugendopposition.de)
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Das Neue Forum war die mit Abstand zulaufstärkste Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Sie forderten Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Die Interner Link: DDR-Behörden stuften das Neue Forum als "verfassungsfeindlich" ein.
Mehr dazu: Externer Link: Neues Forum (jugendopposition.de)
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
Die große Zahl an Flüchtlingen aus der Interner Link: DDR machte es für die Interner Link: BRD erforderlich, ein geregeltes Aufnahmeverfahren zu entwickeln. Jeder Flüchtling, sofern er auf staatliche Hilfen angewiesen war und nicht von Freunden oder Familie unterstützt wurde, musste ein im Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 geregeltes Verfahren zur rechtlichen und sozialen Eingliederung durchlaufen.
Mehr dazu: Externer Link: Notaufnahmeverfahren (jugendopposition.de)
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Am 19. August 1989 luden ungarische oppositionelle Gruppen um das Ungarische Demokratische Forum und die Interner Link: Paneuropa-Union zum "Paneuropäischen Picknick" ein – bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dabei sollte ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor symbolisch für einige Stunden geöffnet werden. Dabei gelang etwa 700 Interner Link: DDR-Bürger/-innen die Flucht nach Österreich. Das "Paneuropäische Picknick" steht symbolisch für den Riss im Eisernen Vorhang.
Mehr dazu: Externer Link: Paneuropäisches Picknick (jugendopposition.de)
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Die Paneuropa-Union wurde 1925 durch den Österreicher Richard N. Coudenhove-Kalergi gegründet. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Rolle in der Welt zu stärken. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen.
Mehr dazu: Interner Link: Paneuropa-Union (bpb.de)
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Das Politbüro bezeichnete das Führungsgremium und Herrschaftszentrum der Interner Link: SED und der Interner Link: DDR. An der Spitze stand der Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der SED. Die Aufgabe des Politbüros bestand laut Parteistatut darin, die Arbeit der Partei zwischen den Plenartagungen des ZK zu leiten.
Mehr dazu: Externer Link: Politbüro (jugendopposition.de)
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
Viele Interner Link: DDR-Bürger/-innen suchten im Sommer 1989 Zuflucht in der Botschaft der Interner Link: BRD in Prag und hofften, auf diesem Weg in den Westen ausreisen zu können. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 die Zustimmung zur Ausreise von Tausenden Flüchtlingen, die in Sonderzügen durch die DDR in die BRD gebracht wurden.
Mehr dazu: Externer Link: Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag (hdg.de)
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
In der Interner Link: DDR gab es keine Reisefreiheit. Die Reise in Länder außerhalb des sogenannten Ostblocks gestatteten die Behörden im Regelfall nicht. Das Recht auf Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989.
Mehr dazu: Externer Link: Reisefreiheit (jugendopposition.de)
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Der in West-Berlin beheimatete Sender RIAS unterstand der United States Information Agency und strahlte ab 1946 sein Programm aus. Die Mischung aus Unterhaltung, Musik und Information richtete sich vornehmlich an Interner Link: DDR-Bürger/-innen, die das Programm in der gesamten DDR verfolgen konnten – trotz vielfacher Störaktionen gegen den "Feindsender" (wie die Parteiführung ihn nannte).
Mehr dazu: Externer Link: RIAS (jugendopposition.de)
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sozialistische Einheitspartei (SED) entstand 1946 unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht durch die Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone. Sie war seit der Gründung der Interner Link: DDR am 7. Oktober 1949 bis zur Revolution von 1989 die herrschende Partei.
Mehr dazu: Externer Link: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (jugendopposition.de)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sowjetunion wurde nach dem Ende des russischen Reichs (1917) im Dezember 1922 (Unionsvertrag, erste Verfassung 1924) gegründet und war bis zu ihrem endgültigen Zerfall 1991 das politische Zentrum des sogenannten Ostblocks.
Mehr dazu: Externer Link: Sowjetunion (jugendopposition.de)
In der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatte der Staatsrat die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Er wurde im September 1960 nach dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der Interner Link: DDR, Wilhelm Pieck, gebildet. Erster Staatsratsvorsitzende wurde Walter Ulbricht; 1976 übernahm Erich Honecker dieses höchste staatliche Amt.
Mehr dazu: Externer Link: Staatsrat (jugendopposition.de)
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 vereinbarten die Interner Link: BRD und die Interner Link: DDR, "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander" zu entwickeln. In diesem Vertrag wurde auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in der DDR und der BRD beschlossen. Sie befanden sich in Ost-Berlin und in Bonn.
Mehr dazu: Externer Link: Ständige Vertretungen der BRD und der DDR (hdg.de)
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
In der Interner Link: DDR durfte nicht jede/-r studieren. Bei der Auswahl spielte die soziale Herkunft und die politische Einstellung eine große Rolle. Die Hochschulpolitik des SED-Regimes verfolgte das Ziel, parteiloyale Bürger/-innen auszubilden und die junge Generation zu disziplinieren.
Mehr dazu: Interner Link: Studieren in der DDR (bpb.de)
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Viele Ostdeutsche sind von der Interner Link: DDR nach Ungarn gereist, um von dort aus in den Westen zu fliehen. Im Mai 1989 begann Ungarn, die Grenzanlage zu Österreich abzubauen. Am 10. September 1989 wurde die Grenze zum Westen für die DDR-Flüchtlinge halbständig geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: Ungarn (jugendopposition.de)
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Wolfgang Vogel war ein Rechtsanwalt in der Interner Link: DDR, der auf das Freikaufen von Häftlingen und den Austausch von Agenten spezialisiert war. Er soll an der Freilassung von 150 Agenten aus dem DDR-Gewahrsam, der Ausreise von ca. 250.000 DDR-Bürger/-innen und dem Freikaufen von mehr als 30.000 Häftlingen beteiligt gewesen sein.
Mehr dazu: Externer Link: Wolfgang Vogel (jugendopposition.de)
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer war das Parlament der Interner Link: DDR. Faktisch hatte die Volkskammer bis zur Friedlichen Revolution kein politisches Gewicht. Auf administrativer Ebene standen ihr die politisch wichtigeren Gremien (Ministerrat, Interner Link: Staatsrat und Nationaler Verteidigungsrat) gegenüber.
Mehr dazu: Externer Link: Volkskammer (jugendopposition.de)
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkspolizei (Vopo) wurde im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Sie bestand bis zum Ende der Interner Link: DDR.
Mehr dazu: Externer Link: Volkspolizei (jugendopposition.de)
Am 7. Mai 1989 fanden in der Interner Link: DDR die Kommunalwahlen statt. Bei dieser Wahl stand nur die Interner Link: Nationale Front zur Auswahl – also der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen. Unabhängige Wahlbeobachter/-innen aus der Bevölkerung konnten bei der Stimmenauswertung deutlich mehr Nein-Stimmen zählen, als am späten Abend des 7. Mai 1989 öffentlich bekannt gegeben wurden.
Mehr dazu: Interner Link: Wahlbetrug (bpb.de)
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Das Schauen von Sendungen des Westfernsehens war in der Interner Link: DDR nicht gesetzlich verboten und wurde geduldet. Durch das Errichten von Antennen- und Kabelgemeinschaften wurde der Empfang von Westprogrammen in den 1980er Jahren verbessert.
Mehr dazu: Interner Link: Westfernsehen (bpb.de)
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Einkaufen ging man in der Interner Link: DDR z.B. in der "HO" (Handelsorganisation) oder im "Konsum". Waren des täglichen Grundbedarfs gab es dort besonders günstig zu kaufen, weil sie staatlich subventioniert wurden. Allerdings kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, vor allem bei technischen Geräten oder Importwaren wie Orangen oder Kaffee. Die Versorgungslage war regional stark unterschiedlich. Wer über D-Mark verfügte, konnte in sogenannten Intershops einkaufen, die ein breites Angebot an westlichen Waren anboten.
Mehr Informationen dazu: Konsum (Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit) (bpb.de)
Als Datsche bezeichnet man kleine Gartenhäuser, die oft in Kleingartenanlagen zu finden sind. In der Interner Link: DDR dienten sie vielen als Rückzugsort vom Leben im Wohnblock. Viele bauten in den Gärten ihrer Datschen Obst und Gemüse an, das zum Eigenbedarf verbraucht oder an staatliche Annahmestellen verkauft wurde.
Wolf Biermann (*1936 in Hamburg) ist ein Liedermacher und Schriftsteller. 1953 siedelte er in die Interner Link: DDR über. Er geriet wegen seiner Werke immer mehr mit der DDR-Führung in Konflikt, die ihm ab 1965 ein Auftrittsverbot und Berufsverbot erteilte. Während einer Konzertreise 1976 in der Bundesrepublik Deutschland entzog die DDR-Führung Biermann die Staatsbürgerschaft. Biermann musste daraufhin in Westdeutschland bleiben.
Mehr dazu: Externer Link: Wolf Biermann (jugendopposition.de)
Vom russischen Wort "Subbota" (Samstag) abgeleitetes Wort für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Die Nichtteilnahme galt als unkollegiale und negative Einstellung zum sozialistischen Staat.
Die Wohnungsvergabe wurde in der Interner Link: DDR vom Staat geregelt. Um den Wohnraummangel zu bekämpfen, wurde 1973 ein Wohnungsbauprogramm beschlossen. Es wurden große Plattenbausiedlungen errichtet, die für viele Menschen Platz boten. Wollte man in eine der begehrten Neubauwohnungen umziehen, musste man einen Antrag stellen und oft mehrere Jahre warten.
Die Rockband Pankow wurde 1981 gegründet. Aufgrund ihrer provokanten Texte und Auftritte geriet sie immer wieder mit der Interner Link: DDR-Führung in Konflikt. Die Musiker von Pankow gehörten im September 1989 zu den Unterzeichnern der "Resolution von Rockmusikern und Liedermachern", die Reformen in der DDR forderten.
Am 15. Oktober 1950 fanden in der DDR erstmals Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen statt. Zur Abstimmung stand eine Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front. Entweder stimmte der Wähler / die Wählerin der gesamten Liste zu, oder er/sie lehnte sie ab. Es war nicht möglich, einzelne Abgeordnete zu wählen. Mehr dazu: Externer Link: Keine Wahl (jugendopposition.de)
Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Demnach hat jeder Mensch das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild öffentlich zu äußern. Niemand darf – sofern er nicht gegen geltendes Recht verstößt – aufgrund seiner Meinung verfolgt werden. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 garantierten dieses Grundrecht formal ebenfalls. In der Praxis wurden aber nicht nur kritische öffentliche Äußerungen, sondern auch private strafrechtlich verfolgt. Mehr dazu: Externer Link: Recht auf freie Meinungsäußerung (jugendopposition.de)
Braunkohle war der wichtigste Energieträger in der Interner Link: DDR. Für die intensive Nutzung wurden seit 1949 mehr als 80.000 Menschen umgesiedelt und zahlreiche Dörfer abgebaggert. 1985 stammten rund 30 Prozent der weltweiten Braunkohle-Produktion aus der DDR. Der Tagebau schaffte viele Arbeitsplätze, führte aber gleichzeitig zu einer hohen Luftverschmutzung, besonders in industriellen Zentren wie Leipzig.
In der DDR waren viele Konsumgüter, etwa Kleidung oder technische Waren, sehr teuer und knapp. Für den Kauf eines Autos musste man beim IFA-Autohandel den Kauf eines PKW beantragen – und dann oft zehn, manchmal auch über 15 Jahre warten. Neben den DDR-Fabrikaten "Trabant" und "Wartburg" wurden auch Importwagen vertrieben, zum Beispiel von Skoda oder Lada.
Das Bildungssystem der DDR hatte neben der Wissensvermittlung auch zum Ziel, junge Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen. Der Zugang zu höherer Bildung sollte nicht von bürgerlichen Privilegien abhängen, sondern auch Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien offen stehen. Eine neue Elite entstand dennoch: Kinder hochrangiger Funktionäre oder Interner Link: SED-naher Eltern wurden z.B. im Bildungssystem bevorzugt. Mehr dazu: Interner Link: Bildung in der DDR (Dossier Bildung) (bpb.de)
In der DDR standen viele Wohnungen und Häuser – vor allem Altbauten – leer, weil notwendige Renovierungsarbeiten aufgrund zu niedriger Mieteinnahmen, fehlender Fachkräfte oder Materialen nicht durchgeführt werden konnten. Einige Menschen umgingen die staatliche Wohnungszuweisung und nutzten diesen Wohnraum illegal, indem sie dort heimlich einzogen. Mehr dazu: Interner Link: Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis (bpb.de)
Während die SED-Führung die existierenden Umweltprobleme leugnete, formierte sich innerhalb der Kirche eine eigenständige Umweltbewegung. Sie organisierte u.a. Demonstrationen und Baumpflanzaktionen, um die Bürger/-innen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch der Kampf gegen die Atomkraft war ein zentrales Anliegen der Naturschützer/-innen. Mehr dazu: Externer Link: Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung (jugendopposition.de)
Zu Zeiten der DDR diente das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg als Haftanstalt der Volkspolizei in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Gefängnis für Männer, in dem auch politische Häftlinge einsaßen. Auch Demonstranten wurden immer wieder in Rummelsburg festgehalten.
Die Umweltbibliothek wurde im September 1986 im Keller der Ost-Berliner Zionsgemeinde gegründet. Die Mitglieder befassten sich nicht nur mit dem Thema Umwelt , sondern auch mit weltanschaulichen und politischen Fragestellungen. Sie druckten und verbreiteten eine Reihe von oppositionellen Publikationen und systemkritischen Informationsblättern. Mehr dazu: Externer Link: Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek (jugendopposition.de)
Der Alexanderplatz in Ost-Berlin war ein wichtiger Schauplatz für Demonstrationen gegen das SED-Regime. Ab Sommer 1989 wurde er zu einem regelmäßigen Treffpunkt der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration gegen das politische System der DDR statt.
Michael Arnold (*1964 in Meißen) wurde 1987 als Medizinstudent Mitglied der "Initiativgruppe Leben". Er war Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums und organisierte 1988/89 mehrere öffentliche Protestaktionen in Leipzig, weshalb er kurzzeitig inhaftiert und exmatrikuliert wurde. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags. Mehr dazu: Externer Link: Michael Arnold (jugendopposition.de)
Hans-Dietrich Genscher (*1927 in Reideburg bei Halle) war ein deutscher Politiker (FDP) und insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister sowie Vizekanzler der BRD. Am 30. September 1989 verkündigte er vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer/-innen. Als Außenminister setzte sich Genscher für die Wiedervereinigung Deutschlands ein.
Die Zeitung "Junge Welt" (JW) wurde erstmals am 12. Februar 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben, zunächst wöchentlich, ab März 1950 täglich. Ab dem 12. November 1947 fungierte sie als Organ des Zentralrats der SED-Jugendorganisation FDJ . Mit 1,4 Millionen Exemplaren war sie die Tageszeitung mit der höchsten Auflage in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: Junge Welt (JW) (jugendopposition.de)
Das "Neue Deutschland" (ND) war eine Tageszeitung und das Zentralorgan der SED. Die Zeitung erschien erstmals am 23. April 1946. Viele Artikel wurden bis Dezember 1989 von sämtlichen anderen Tageszeitungen der DDR aus dem ND übernommen. Mehr dazu: Externer Link: Neues Deutschland (ND) (jugendopposition.de)
Die FDJ war die Jugendorganisation der SED. Fast alle Schüler/-innen folgten dem parallel zum Schulsystem angelegten Modell der Mitgliedschaft: erst Jungpionier, dann Thälmannpionier, mit 14 folgte der Beitritt zur FDJ. Wer nicht Mitglied war, musste mit Nachteilen rechnen – etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Mehr dazu: Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ) (jugendopposition.de)
Nach dem Bekanntwerden des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fanden monatliche Proteste auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Am 7. September 1989 brachten die Demonstranten ihre Verärgerung über das SED-Regime mit Trillerpfeifen zum Ausdruck, gemäß dem Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug". Mehr dazu: Externer Link: Proteste gegen den Wahlbetrug (jugendopposition.de)
Der Schutz der Natur stand bereits seit 1968 in der Verfassung der DDR. Die fortschreitende Industrialisierung führte jedoch zu massiven ökologischen Problemen, insbesondere in den großen Industriezentren – zum Beispiel durch die Gewinnung von Braunkohle und die Chemie-Industrie. Innerhalb der Kirche formierte sich eine Umweltbewegung, die die Umweltzerstörung in der DDR anprangerte. Mehr dazu: Externer Link: Umweltzerstörung (hdg.de/lemo)
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Umwelt. Mehr dazu: Externer Link: Arbeitsgruppe Umweltschutz (jugendopposition.de)
Als "Westpakete" bezeichnete man Postsendungen, die Leute aus der BRD an Freunde und Verwandte in der DDR schickten. Sie enthielten Geschenke wie Kleidung, Süßigkeiten oder Kaffee. Handelsware oder Geld durfte nicht verschickt werden. Auch Tonträger, Bücher oder Zeitschriften zu verschicken war verboten. Die "Westpakete“ sind zwar bekannter, aber Geschenke wurden auch in die andere Richtung – von Ost nach West – verschickt. Und auch die BRD kontrollierte die Post teilweise. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html
Als "Schmutz- und Schundliteratur" galten in der DDR pornografische Inhalte, vermeintliche Kriegsverherrlichung oder Texte, die die DDR oder den Sozialismus verunglimpften. Das heimliche Lesen oder der Schmuggel der verbotenen Literatur wurde teilweise mit Gefängnisstrafen geahndet. Auch in der BRD gab es seit 1953 ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.
Der Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sind. Der Sozialismus gilt als eine Vorstufe zum Interner Link: Kommunismus. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148315
Der Kommunismus ist eine politische Weltanschauung, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Grundlegend dafür ist die Abschaffung des privaten Eigentums. Auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte als Vorstufe der Interner Link: Sozialismus verwirklicht werden. Mehr dazu: https://www.bpb.de/161319
(1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur ungehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet.
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
"Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen."
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Die Interner Link: DDR hatte während ihres Bestehens drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich eng an die der Weimarer Reichsverfassung an und enthielt umfangreiche Grundrechte. Die Verfassung von 1968 verankerte den Sozialismus als Grundsatz und garantierte weiterhin viele Grundrechte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht und das Verbot einer Pressezensur. Mit den Änderungen von 1974 wurde die Freundschaft zur Sowjetunion betont. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Unabhängig vom Interner Link: Studienfach mussten alle Studierenden in der Interner Link: DDR ein "Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" in Interner Link: Marxismus-Leninismus absolvieren. Politische Propaganda und wissenschaftliche Pflichtlektüre wurden miteinander verbunden. Zu Beginn jedes Semesters gab es die sogenannte "Rote Woche", in der Studierende mit Veranstaltungen zum Marxismus-Leninismus politisch indoktriniert werden sollten.
Der "Marxismus-Leninismus" war die Staatsideologie der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Staaten wie der Interner Link: DDR. Im Zentrum stand die Annahme, dass auf den Kapitalismus notwendig der Interner Link: Sozialismus und Interner Link: Kommunismus folgen müssen, um die Arbeiterklasse zu befreien. In der DDR war Interner Link: ML ein verbindliches Interner Link: Studienfach. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148578
Die JP, eigentlich "Pionierorganisation Ernst Thälmann" war in der Interner Link: DDR die staatliche Massenorganisation für Kinder. Sie diente als ideologische Kaderschmiede, in der Kinder im Sinne der Interner Link: SED erzogen wurden. Fast alle Schüler/-innen gehörten ihr an. Die Pioniere waren unterteilt in die Jungpioniere und Thälmannpioniere. Ab dem 14. Lebensjahr folgte der Beitritt zur Interner Link: FDJ.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Fabriken, Geld) überproportionale Bedeutung hat. Grundlegend dafür sind der Schutz von Privateigentum sowie ein von staatlichen Eingriffen weitgehend freies Wirtschaftssystem. Der Markt wird demnach durch Angebot und Nachfrage gesteuert.
Mehr dazu: Interner Link: http://m.bpb.de
Am 19. September 1989 beantragte das Neue Forum die Zulassung als Vereinigung. Das Interner Link: DDR-Innenministerium lehnte den Antrag zwei Tage später ab und bezeichnete die Bewegung als "staatsfeindliche Plattform". Mit einem Handzettel forderten die Initiatoren (darunter Michael Interner Link: Arnold) die Bevölkerung zur Solidarität auf.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/kathrin2209
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Interner Link: Umwelt.
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148350
Christian Führer (1943-2014) war ein evangelischer Pfarrer und Mitbegründer der Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148050
Die Moritzbastei ist eine historische Befestigungsanlage in Interner Link: Leipzig. Zwischen 1974 und 1982 wurde sie in über 150.000 Arbeitsstunden von Studierenden zu einem Studentenklub ausgebaut. In den 1980er Jahren wurde sie von der Interner Link: FDJ betrieben. Auch heute ist sie ein Kulturzentrum.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/m6b
Angela Dorothea Kasner heißt heute Angela Merkel und ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie Physik in Leipzig, bevor sie für ihre Promotion nach Ost-Berlin zog. Sie war aktives Mitglied der Interner Link: FDJ. 1989 trat sie der Partei Interner Link: Demokratischer Aufbruch bei, deren Pressesprecherin sie 1990 wurde.
Mehr zu Angela Merkels Biografie: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/biografie/angela-merkel.html
Leipzig wurde im Herbst 1989 zu einer der wichtigsten Städte für die friedliche Revolution. Hier begannen die Interner Link: Friedensgebete und die Interner Link: Montagsdemonstrationen. Außerdem formierten sich hier Bürgerrechtsbewegungen wie das Interner Link: Neue Forum.
Mehr über wichtige Orte der DDR-Opposition erfährst du hier: Externer Link: www.jugendopposition.de/Orte/
Erich Honecker (1912-1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der Interner Link: SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrats.
Honecker war ab 1930 Mitglied der KPD und leistete Widerstand im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er die Jugendorganisation Interner Link: FDJ auf. Nach der Wiedervereinigung wurden Ermittlungen gegen Honecker aufgenommen, die 1993 eingestellt wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148080
Bei den sogenannten Zuführungen wurden Personen ohne weitere Begründung (und ohne Rechtsgrundlage) festgenommen. Nach einigen Stunden Verhören oder kurzen Belehrungen endeten sie in der Regel mit der Freilassung. Sie konnten aber auch in einer formellen Interner Link: Verhaftung münden.
Mehr dazu: Externer Link: http://www.jugendopposition.de
Das SED-Regime verfolgte politische Oppositionelle wegen vermeintlicher Widerstandshandlungen, Fluchtversuchen oder Fluchthilfe. Für die DDR-Regierung waren diese Personen Kriminelle, die sich gegen die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung richteten. Schätzungen nach waren etwa 200.000 bis 250.000 Personen in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Tausende Häftlinge wurden zwischen 1963 und 1989 von der Bundesrepublik freigekauft – die Gefangenen durften ausreisen, im Gegenzug erhielt die Interner Link: DDR Warenlieferungen im Wert von mehr als drei Milliarden DM.
Für die Interner Link: DDR wurde 1949 mit "Auferstanden aus Ruinen" eine Nationalhymne geschaffen. Ein Auszug aus der Nationalhymne:
"Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint."
Wegen der Textzeile "Deutschland, einig Vaterland" wurde bei offiziellen Anlässen seit Anfang der 1970er Jahre nur noch deren Melodie gespielt.
Mehr Infos dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-nationalhymne-der-ddr.html
"Die Internationale" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung und nahm in der DDR und anderen sozialistischen Staaten einen wichtigen Platz neben der Interner Link: Nationalhymne ein. Im Refrain heißt es:
"Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Am 7. Oktober 1989 wurde mit großen Festumzügen, Aufmärschen und Volksfesten das 40-jährige Bestehen der Interner Link: DDR gefeiert. Staatsgäste aus aller Welt, u.a. Michail Interner Link: Gorbatschow, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die politische Krise im Land wurde ausgeblendet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145459
Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde am 1. Januar 1919 als Zusammenschluss mehrerer linksrevolutionärer Gruppierungen unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründet. 1946 erfolgte in der Sowjetischen Besatzungszone (Interner Link: SBZ) die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur Interner Link: SED. In der Bundesrepublik wurde die KPD 1956 verboten.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148456
Michail Sergejewitsch Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Interner Link: Sowjetunion (KPdSU) und stieß 1985 umfassende politische und wirtschaftliche Interner Link: Reformen an. Gorbatschows Außenpolitik war geprägt von einer Taktik der Abrüstung und Annäherung an den Westen. 1990 stimmte er der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Quelle/Link: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148055/
Unter den Schlagworten "Glasnost" (Öffentlichkeit/Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) leitete Michail Interner Link: Gorbatschow 1985 politische und wirtschaftliche Reformen in der Interner Link: Sowjetunion ein. Die Gesellschaft sollte unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und unter Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion modernisiert werden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148407
Das Zentralkomitee war das oberste Gremium der Interner Link: SED. Es wurde auf den SED-Parteitagen gewählt. Die Sekretäre des ZK betreuten etwa 40 verschiedene Abteilungen und konnten auch den Mitgliedern des Ministerrats Befehle erteilen – sie kontrollierten also sowohl die Partei als auch die Regierung. Das ZK wählte auch die oberste Führungsriege der DDR, das Interner Link: Politbüro. Der Erste Sekretär war bis zum Oktober 1989 Interner Link: Erich Honecker. Auf ihn folgte Egon Krenz.
Mehr dazu: Interner Link: http://www.bpb.de/18500/zentralkomitee-zk
In der Nacht zum 4. Juni 1989 wurden politische und soziale Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian An Men) in Peking von der chinesischen Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen. In der Folge protestierten Menschen weltweit gegen das Massaker. Bis heute ist nicht geklärt, ob mehrere Hundert oder einige Tausend Menschen getötet wurden.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/185616
Der Ministerrat war formal laut DDR-Verfassung die Regierung der Interner Link: DDR und bestand 1989 aus 39 Mitgliedern (Ministern), die alle der Interner Link: SED angehörten.Die eigentliche Macht hatte in der DDR aber das Interner Link: Politbüro des Interner Link: Zentralkomitees der SED inne, denn die Sekretäre konnten den Ministern Befehle erteilen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148601
Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler. Als Journalist und Kameramann dokumentierte er Ende der 1980er Jahre die Umweltzerstörung in der Interner Link: DDR. Im Herbst 1989 lieferte er gemeinsam mit Aram Radomski die ersten Fernsehbilder der Montagsdemonstrationen in Interner Link: Leipzig, die im Anschluss in der Interner Link: Tagesschau übertragen wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148159/
Mike Dietrich ist ein DJ, Produzent und Musiker aus Leipzig. Ende der 1980er Jahre gründete er in Leipzig das Hiphop-Projekt B-Side the Norm.
Inspiriert vom amerikanischen HipHop entwickelte sich in der DDR in den 1980er Jahren eine kleine Szene aus Breakdancern, Rappern, Graffitikünstlern und DJs. HipHop war nicht verboten, zum Teil wurde die Jugendkultur aber vom Staat kontrolliert.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145417
Der Film "Beat Street" läuft 1985 in den Kinos der DDR. Für viele Jugendliche in der DDR ist es der Startschuss, sich mit Grafitti und Breakdance zu beschäftigen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/hip-hop-in-der-ddr100.html
Die Rockband "Silly" wurde 1978 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Frontfrau, Tamara Danz, war eine der berühmtesten Sängerinnen der DDR. 1985 verboten die DDR-Zensoren das Album "Zwischen unbefahrenen Gleisen", welches später in bereinigter Version erschien. Trotz Zensur versuchte die Band immer wieder, politische Andeutungen in ihren Texten unterzubringen.
1975 in Ost-Berlin gegründet, gehörte "Karat" zu den erfolgreichsten Rockbands in der DDR. Ihre Musik bewegte sich zwischen Progressive-Rock, Pop und Schlager. Ihr bekanntestes Lied ist "Über sieben Brücken musst du gehen". Zuerst waren die Texte noch komödiantisch, später wandte sich die Band ernsteren Texten zu. Trotz Vorwürfen, politisch konform zu sein, enthielten einige Songs auch kritische Passagen, z.B. der Song "Albatros" (1979).
Das 1973 gegründete kulturpolitische Kontrollgremium der DDR-Regierung überwachte die Einhaltung von politischen Richtlinien in der Unterhaltungskunst. Kritische Stimmen wurden unterdrückt, politisch konforme Künstlerinnen und Künstler bevorzugt. Das von der SED eingesetzte Komitee entschied unter anderem, wer zu Veranstaltungen und Tourneen ins westliche Ausland fahren durfte.
Egon Krenz (*1937 in Kolberg/Pommern), ehemaliger SED-Politiker, löste am 18.10.1989 Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und als Vorsitzender des Staatsrates ab. Am 3.12.1989 trat schließlich das gesamte ZK mit Krenz als Generalsekretär zurück. 1995 wurde er wegen der Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.
Zum 40. Jahrestag der Interner Link: DDR demonstrierten Tausende Berliner/innen gegen das Interner Link: SED-Regime. Die Interner Link: Volkspolizei und Spezialeinheiten der Interner Link: Stasi gingen brutal gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten vor. Männer und Frauen wurden verprügelt, LKW transportierten Interner Link: Verhaftete ab, die Volkspolizei setzte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge ein. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zog weitere Demonstrationen und Mahnwachen für die Verhafteten in der ganzen DDR nach sich.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145462
Günter Schabowski war Interner Link: SED-Funktionär und Mitglied im Interner Link: Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Interner Link: DDR. Am Abend des 9. November 1989 verkündete er im Rahmen einer Pressekonferenz (nicht ganz halbständig) eine neue Ausreise-Regelung für DDR-Bürger/-innen. Daraufhin strömten tausende Ost-Berliner/-innen an die Grenze. Noch in derselben Nacht wurden alle Grenzübergänge geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148156
Kurt Masur (1927-2015) war Dirigent und Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Interner Link: Leipzig. Als einer der Interner Link: Leipziger Sechs veröffentlichte er am 9. Oktober 1989 einen Aufruf zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen.
Der Leipziger Stadtfunk war ein Netz von Lautsprecheranlagen, die zwischen 1945 und 1998 an öffentlichen Gebäuden und Plätzen in Leipzig installiert waren. Genutzt wurde er vor allem für Propaganda und Information. Am 9. Oktober 1989 wurde der Aufruf der Interner Link: Leipziger Sechs über den Stadtfunk verbreitet. Nach der Wiedervereinigung übernahm Radio Leipzig das Programm.
Die Leipziger Sechs waren eine Gruppe von sechs Männern, die am 9. Oktober gemeinsam einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Interner Link: Stadtfunk verbreiteten. Darunter waren Kulturschaffende sowie Mitglieder der SED-Bezirksleitung. Sie forderten beide Seiten – Interner Link: Demonstranten und Interner Link: Volkspolizei - zur Besonnenheit auf. Der Aufruf soll maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen friedlich verliefen.
Im Sommer und Herbst 1989 formierten sich in der DDR zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die das Ziel hatten, demokratische Reformen in der DDR anzustoßen. Sie forderten die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen. Im Rahmen z.B. der Montagsdemonstration versammelten sich die verschiedenen Oppositionsgruppen und verliehen ihren Forderungen Nachdruck.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/295940
Der Nationale Verteidigungsrat (NVR) der Interner Link: DDR wurde im Jahr 1960 gegründet und war das wichtigste Organ für sicherheitspolitische Fragen. Die Personalunion an der Spitze von Interner Link: Politbüro, Interner Link: Staatsrat und Verteidigungsrat hob die theoretische Trennung der Entscheidungsgremien in der Praxis weitgehend auf.
Mehr Infos: Externer Link: https://www.bstu.de/mfs-lexikon
Das Telefonnetz der Interner Link: DDR war schlecht ausgebaut. Nicht einmal 15 Prozent der privaten Haushalte hatten einen Telefonanschluss. Viele nutzten deshalb Telefonzellen oder öffentliche Telefone in den Postämtern. In der Stadt – insbesondere in Ost-Berlin – war es leichter, einen Telefonanschluss zu bekommen. Telefongespräche aus der DDR in die Interner Link: BRD mussten angemeldet werden.
"Der Morgen" war eine Tageszeitung in der Interner Link: DDR und das Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (Interner Link: LDPD). Als erste Zeitung der DDR druckte "Der Morgen" 1989 Beiträge und Leserbriefe, die sich kritisch mit dem Interner Link: SED-Regime auseinandersetzten.
Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) wurde 1945 gegründet. Ab 1949 war sie in die Nationale Interner Link: Front eingebunden. Zentralorgan der LDPD war die Tageszeitung "Der Interner Link: Morgen".
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148413
Rolf Henrich ist Jurist und Schriftsteller. Ab 1964 war er Mitglied der Interner Link: SED, setzte sich später aber zunehmend kritisch mit der Partei und dem Interner Link: Sozialismus auseinander. 1989 veröffentlichte er das Buch "Der vormundschaftliche Staat", weshalb er aus dem Anwaltskollegium und der SED ausgeschlossen wurde. Er war Mitbegründer des Interner Link: Neuen Forums und trat 1990 in die SPD ein.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Friedhelm Rausch war von 1986 bis 1989 Präsident der Interner Link: Volkspolizei Berlin und damit unter anderem verantwortlich für die Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober gegen Demonstranten. Beim ersten sogenannten "Sonntagsgespräch" vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, am 29.10.1989, entschuldigte er sich dafür.
Rainer Eppelmann ist ein evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler. Von 1979 bis 1987 organisierte er Interner Link: Bluesmessen in Berlin. Er stand unter permanentem Druck der Interner Link: Stasi. Er war Mitbegründer und später Vorsitzender des Interner Link: DA, Abgeordneter der Interner Link: Volkskammer und später des Deutschen Bundestages. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die Bluesmessen in Berlin wurden von Interner Link: Rainer Eppelmann initiiert und von 1979 bis 1987 in Interner Link: Kirchen veranstaltet. Als Gottesdienste unterlagen sie nicht der staatlichen Anmeldepflicht. Sie entwickelten sich zu wichtigen Orten für oppositionelle Jugendliche in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die abendliche DDR-TV-Nachrichtensendung ist das Sprachrohr der Interner Link: SED. Über was wie berichtet wird, bestimmt die Partei. Mitte Oktober 1989 beginnt die Aktuelle Kamera aber unabhängig und kritisch zu berichten und lässt auch Bürgerrechtler und Demonstrierende zu Wort kommen.
Mehr dazu: Externer Link: www.mdr.de/zeitreise/aktuelle-kamera-nachrichten-im-ddr-fernsehen-100.html
Der FDGB war der Dachverband der Gewerkschaften in der Interner Link: DDR. Wie alle Massenorganisationen in der DDR war auch der FDGB zentralistisch von der Interner Link: Partei aus organisiert. 1989 hatte der FDGB ungefähr 9,5 Millionen Mitglieder.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die NDPD war eine der Interner Link: Blockparteien in der Interner Link: DDR. Sie wurde 1948 mit dem Ziel gegründet, ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP in das staatssozialistische System der DDR zu integrieren Nach 1990 ging die NDPD in die FDP über.
Mehr dazu: Externer Link: www.bpb.de/
Harry Tisch war ein SED-Funktionär mit hohen Rang. Bereits 1963 wurde er Mitglied des Interner Link: ZK und 1975 Mitglied des Interner Link: Politbüros der Interner Link: SED. Von 1975 bis 1989 war er Vorsitzender des Interner Link: FDGB. Im November 1989 trat er als Vorsitzender des FDGB zurück und schied aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aus. Ende des Jahres 1989 wurde er aus der SED und dem FDGB ausgeschlossen.
Die Christlich-Demokratische Union (CDU) wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei gegründet. In der Interner Link: DDR wurde die Ost-CDU zu einer Blockpartei innerhalb der SED-dominierten Interner Link: Nationalen Front.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148367
Transitstrecken waren die Straßen, die durch das Gebiet der Interner Link: DDR führten. Neben der Verbindung zwischen der BRD und West-Berlin durfte auch der Transitverkehr nach Polen und Tschechoslowakei nur über diese wenigen Strecken erfolgen.
Die Berliner Mauer war die Sperranlage, die zwischen 1961 und 1989 West- und Ostberlin trennte. Sie war 156,40 km lang und bestand aus mehreren Teilen: zwischen zwei Mauern befanden sich u. a. ein 15 bis 150 Meter breiter "Todesstreifen" und ein Sperrgraben. Zur Bewachung waren Beobachtungstürme und eine Lichttrasse installiert. Mindestens 140 Menschen kamen an der Berliner Mauer oder im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die Mauer wurde zum Symbol für die deutsche Teilung.
Eine Karte und Fotos des Grenzverlaufs: Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/166398
Seit 1972 benötigten BRD-Bürger mit Wohnsitz in Westberlin einen "Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums der DDR", um als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt einzureisen. BRD-Bürger, die nicht in West-Berlin lebten, konnten direkt an den Grenzübergangsstellen ein Tagesvisum beantragen. Mehrtagesaufenthalte waren nur in besonderen Fällen möglich. Für DDR-Bürger (und damit auch Ost-Berliner) gab es kaum eine Möglichkeit, in den Westen zu reisen.
Der Prenzlauer Berg in Ostberlin entwickelte sich in den 1970 und 1980er Jahren zu einem Zentrum der oppositionellen Szene, die sich zum Beispiel in Wohnungen oder Kirchengemeinden traf. Als Ort der DDR-Opposition und wegen seiner Nähe zur Interner Link: Mauer zu Westberlin war die Überwachungsdichte der Stasi im Prenzlauer Berg besonders hoch.
Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten im Prenzlauer Berg: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/stasiopposition/
Die Informationszeitschrift der Umweltbibliothek erschien seit 1987 alle ein bis zwei Monate und behandelte Themen wie Umweltschutz, Menschen- und Bürgerrechte, die Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. 1989 wurde aus den Umweltblättern der telegraph, in dem über Friedliche Revolution berichtet wurde. Mehr Infos: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145467
Fritz Kühn war Mitglied der Interner Link: Umweltbibliothek (UB) und betreute dort die Druckmaschinen. In den Kellerräumen der UB druckte er die Dokumentation "Wahlfall", in der erstmals die Fälschung der Interner Link: Kommunalwahlen in der Interner Link: DDR dokumentiert und nachgewiesen werden konnte.
Die Bibliotheksfacharbeiterin war am Aufbau und der Betreuung der Interner Link: Umweltbibliothek beteiligt, in der unter anderem in der Interner Link: DDR verbotene Literatur gesammelt wurde. Mehr zur Person: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145511
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Am 9. November 1989 verlas Günter Interner Link: Schabowski, Mitglied des Interner Link: Politbüros, um 18 Uhr im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen könnten, antwortete Schabowski vorschnell "Sofort, unverzüglich". Die Regelung sollte eigentlich erst am 10. November in Kraft treten.
Die Pressekonferenz wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Im Laufe des Abends stürmten tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen und forderten die sofortige Öffnung.
Die Pressekonferenz zum Nachschauen: Externer Link: http://kurz.bpb.de/schabowski
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Christa Wolf (1929-2011) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie trat 1949 in die Interner Link: SED ein und studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED, schied aber nach einer kritischen Rede aus dem Gremium aus. 1989 trat sie aus der Partei aus und forderte demokratische Reformen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148211
Nach der Pressekonferenz von Günter Interner Link: Schabowski versammelten sich am 9. November 1989 tausende DDR-Bürger am Grenzübergang Interner Link: Bornholmer Straße, um nach West-Berlin auszureisen. Ab 21:30 Uhr wurden einigen besonders auffälligen DDR-Bürgern die Ausreise gewährt. Ihre Ausweise wurden dabei unbemerkt ungültig gestempelt, um ihnen eine spätere Wiedereinreise zu verwehren.
Die drei Meter hohe und breite Mauer am Brandenburger Tor sollte die Endgültigkeit der deutschen Teilung symbolisieren. Am Abend des 9. November 1989 wurde sie dagegen zum Symbol für die Überwindung dieser Teilung. In der Nacht und in den folgenden Tagen feierten Tausende Berliner/-innen den Fall der Berliner Mauer.
Die Berliner Interner Link: Mauer (Gesamtlänge 156, 4 km) bestand im Jahr 1989 aus einem zwischen 15 und mehr als 150 Meter breiten Todesstreifen mit einer zwei bis drei Meter hohen "Hinterlandmauer" oder einem "Hinterlandsperrzaun". An mehreren Kontrollposten waren Grenztruppen stationiert, um die Anlage zu überwachen und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Schon kurz nach Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen am Abend des 9. November 1989 begannen Menschen, Teile aus der Berliner Interner Link: Mauer herausklopfen und einzelne Stücke mitzunehmen. Man bezeichnet sie als "Mauerspechte".
Friedrich Dickel (1913-1993) war von 1963 bis 1989 Innenminister der Interner Link: DDR und damit auch Chef der Interner Link: Volkspolizei.
Helmut Kohl (1930-2017) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weil die Wiedervereinigung der Interner Link: BRD und Interner Link: DDR in seine Amtszeit fiel, wird er häufig als "Kanzler der Einheit" bezeichnet.
Willy Brandt (1913-1992) war ein deutscher Politiker (SPD) und von 1969-1974 Bundeskanzler der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland. Mit einer "neuen Ostpolitik" setzte er sich für den Dialog mit den Staaten des sogenannten Ostblocks ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis.
Walter Momper (geboren 1945) ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister in Berlin (West) und von 2001 bis 2011 Präsident des Abgeordnetenhauses in Berlin.
Das Sperrgebiet war von 1954 bis 1989 ein etwa 500 Meter breiter Streifen entlang der innerdeutschen Grenze. Die etwa 200.000 Menschen, die in dieser Sperrzone lebten, brauchten Sonderausweise und waren im Alltag enorm eingeschränkt. Andere DDR-Bürger hatten keinen Zutritt. Direkt an der Grenze befand sich der sogenannte "Todesstreifen", der mit Schussanlagen gesichert und vermint war. Offiziell aufgehoben wurden alle Sperrgebiete an der Grenze am 12. November 1989.
Schon ab 1970 zahlte die Bundesrepublik Besuchern aus der Interner Link: DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld. Noch in der Nacht zum 10. November 1989 ordnete der West-Berliner Bürgermeister Walter Interner Link: Momper die Auszahlung von 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger durch Banken und Sparkassen an. Die Regelung wurde in den darauffolgenden Tagen in der gesamten Interner Link: Bundesrepublik übernommen.
Die Oberbaumbrücke führt über die Spree und verbindet die Berliner Stadtteile Kreuzberg (bis 1990 West-Berlin) und Friedrichshain (bis 1990 Ost-Berlin). Heute beginnt dort die East-Side-Gallery.
Der Kurfürstendamm, umgangssprachlich auch Ku’damm genannt, gehört zu den Haupteinkaufsstraßen in Berlin. Am 9. und 10. November trafen sich Zehntausende Ost- und West-Berliner auf dem Ku’damm.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-25T00:00:00 | 2019-08-12T00:00:00 | 2022-01-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/mauerfall-und-ich/295115/glossar/ | Von ADN über SED bis Westfernsehen – kurze Erklärungen zu wichtigen Begriffen, Institutionen und Personen in der Geschichte "Der Mauerfall und ich". | [
"Die Mauer und ich",
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Der Infodienst Radikalisierungsprävention startet eine neue Publikationsreihe. Im Infodienst Journal werden wir für Sie ausgewählte Infodienst-Beiträge zu einem Schwerpunktthema zusammenstellen und grafisch übersichtlich aufbereiten. Sie können die PDF-Publikation herunterladen und offline auf Ihrem Gerät lesen oder auch ausdrucken – falls Ihnen die Papierform lieber ist.
Warum bietet die Infodienst-Redaktion bereits veröffentlichte Artikel nun noch einmal in einem anderen Format an? Unsere Online-Plattform versammelt zahlreiche Beiträge zum Themenfeld Islamismus, Radikalisierung und Prävention – und ständig kommen neue hinzu. Angesichts der Fülle ist es manchmal gar nicht so einfach, alle relevanten Beiträge zu einem bestimmten Thema zu finden.
Ältere, aber inhaltlich immer noch bedeutsame, Beiträge können leicht übersehen werden, wenn sie auf den Online-Übersichtsseiten nach unten rutschen. Wir möchten daher für Sie ausgewählte „Schätze“ zu einzelnen Themenschwerpunkten „heben“ und sie im Infodienst-Journal bündeln.
In der ersten Journal-Ausgabe geht es um die islamistische Szene in Deutschland. Neben Überblicksbeiträgen über Mitgliederzahlen, Strömungen und aktuelle Entwicklungen werden einzelne islamistische Gruppierungen genauer in den Blick genommen. Ein Fokus liegt dabei auf dem Spektrum des sogenannten legalistischen Islamismus.
Das Journal enthält die folgenden Beiträge:
Zahlen zur islamistischen Szene (Redaktion Infodienst Radikalisierungsprävention) Ausdifferenzierung der islamistischen Szene (Dr. Götz Nordbruch) Die salafistisch-dschihadistische Szene im Umbruch (Heiner Vogel) Legalistischer Islamismus (Dr. Thomas Schmidinger) Die Hizb ut-Tahrir in Deutschland (Hanna Baron) Die Furkan-Gemeinschaft (Interview mit Adem Bayaral)
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-06-28T00:00:00 | 2023-06-05T00:00:00 | 2023-06-28T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/521674/islamistische-szene-in-deutschland/ | In der ersten Ausgabe des Journals geht es um die islamistische Szene. Neben Überblicksbeiträgen über Mitgliederzahlen und aktuelle Entwicklungen werden einzelne Gruppierungen in den Blick genommen. | [
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Alternative für Deutschland | Bundestagswahl 2021 | bpb.de |
Gründungsjahr Bundesverband 2013* Mitgliederzahl in Deutschland 31.790* Bundesvorsitz Prof. Dr. Jörg Meuthen, Tino Chrupalla* Wahlergebnis 2017 12,6 Prozent *nach Angaben der Partei
Die "Alternative für Deutschland" (AfD) wurde im Februar 2013 vorwiegend aus dem Protest gegen die Finanzhilfen für wirtschaftlich strauchelnde Mitgliedsländer der EU gegründet. Die Partei scheiterte bei der Bundestagswahl 2013 knapp an der Fünfprozenthürde, gelangte aber 2014 in das Europäische Parlament. Sie zog 2017 als drittstärkste Partei in den Bundestag ein und ist seit 2018 in allen 16 Landtagen vertreten.
Die wirtschaftspolitischen Positionen der AfD waren zunächst äußerst marktliberal, später kam eine spezifische soziale Komponente hinzu. Gesellschaftspolitisch reicht die Bandbreite von rechtskonservativen bis hin zu völkisch-nationalistischen und damit rechtsextremistischen Positionen. Ab 2015/2016 bildete die Ablehnung der aus Sicht der AfD zu liberalen Migrationspolitik das Hauptthema der Partei, zudem positionierte sich die Partei in den vergangenen Jahren als Sprachrohr derjenigen, die die mehrheitlich vertretene Sichtweise eines überwiegend menschengemachten Klimawandels kritisieren. Seit Beginn der Corona-Pandemie übt die AfD Fundamentalkritik an den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und verabschiedete Mitte April 2021 eine Resolution, in der gefordert wird, es solle "den mündigen Bürgern überlassen bleiben", in "welchem Maße sie sich selbst schützen möchten".
Im März 2020 stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz die innerparteiliche Strömung "Der Flügel" als "erwiesen rechtsextremistische Bestrebung" ein. Dieser sei laut Verfassungsschutzbericht 2020 auf "Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von insbesondere Migranten und Muslimen gerichtet." Im April 2020 wurde der "Flügel" auf Betreiben des AfD-Bundesvorstands aufgelöst. Seine Anhänger haben jedoch weiterhin großen Einfluss auf die personellen und inhaltlichen Entscheidungen der Partei. Die AfD-Jugendorganisation wird vom Verfassungsschutz als "Verdachtsfall für rechtsextremistische Bestrebungen" eingestuft.
Im Programm zur Bundestagswahl betont die AfD stark das Nationale. Auf EU-Ebene müsse Deutschland die "Transferunion aufkündigen und den Euroraum verlassen". Sollte eine Rückbesinnung auf ein "Europa der Vaterländer" innerhalb der EU nicht möglich sein, hält die AfD zudem einen EU-Austritt für notwendig. Außenpolitisch fordert die Partei, sich ausschließlich an deutschen Interessen auszurichten, wozu eine "Entspannung im Verhältnis zu Russland" gehöre. In der Migrationspolitik setzt sie sich dafür ein, "ausschließlich qualifizierte Einwanderung" zuzulassen. Jeglicher Familiennachzug für Flüchtlinge wird abgelehnt, abgelehnte Asylbewerberinnen und Asylbewerber sollen umgehend in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. Gesellschaftspolitisch bekennt sich die AfD zur "deutschen Leitkultur", wendet sich gegen den "Multikulturalismus" und die "Gender-Ideologie" und richtet ihre Familienpolitik am traditionellen Familienbild mit Vater, Mutter und Kindern aus. Energie- und verkehrspolitisch lehnt die Partei die komplette Umstellung auf erneuerbare Energien ab, setzt auf absehbare Zeit auf Kernkraft sowie Gas- und Kohlekraftwerke, will den "motorisierten Individualverkehr schützen" und stellt sich gegen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen. Im ökonomischen Bereich will sie – u.a. durch eine grundlegende Steuerreform – den Staat verschlanken und effizienter machen.
Die AfD geht mit einem Spitzenduo aus der Co-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und dem Co-Parteivorsitzenden Tino Chrupalla in den Bundestagswahlkampf.
Gründungsjahr Bundesverband 2013* Mitgliederzahl in Deutschland 31.790* Bundesvorsitz Prof. Dr. Jörg Meuthen, Tino Chrupalla* Wahlergebnis 2017 12,6 Prozent *nach Angaben der Partei
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-09-02T00:00:00 | 2021-08-23T00:00:00 | 2021-09-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/bundestagswahl-2021/338930/alternative-fuer-deutschland/ | Die AfD entstand 2013 aus Protest gegen Finanzhilfen für wirtschaftlich strauchelnde EU-Mitgliedsländer. Über Kritik an der Asyl- und Flüchtlingspolitik hat sie sich zunehmend als rechtspopulistische Protestpartei profiliert. Sie ist in allen deutsch | [
"AfD",
"Parteiprofil",
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Interaktiver Webtalk "Der rechte Weg?" | Rechtsextremismus | bpb.de | Spricht man von Rechtsextremen wird oft das gleiche Bild gezeichnet: männlich, ohne Schulabschluss und Job und aus schwierigen familiären Verhältnissen stammend. Die Forschung sagt etwas anderes. Gibt es eine typische rechtsextreme Biografie? Wie und durch welche Faktoren begünstigt findet rechte Radikalisierung statt und welche Schlüsse lassen sich daraus für die politische Bildung ziehen? Darüber diskutierten der Psychologe Siegfried Preiser und Fabian Wichmann von dem Aussteigerprogramm EXIT-Deutschland mit der Moderatorin Diane Hielscher in einem interaktiven Webtalk.
Der Talk in den Räumlichkeiten der Kurt-Schwitters-Schule in Berlin fand am 24. November von 14:15 bis 15:45 Uhr live hier und auf Facebook statt. Jeder konnte sich dazuschalten und via Twitter (#wirgegenrex), Facebook oder E-Mail (wirgegenrex@bpb.de) an der Debatte teilnehmen.
QuellentextTranskript
Transkript und Fragen zum Webtalk am 24.11.2016: Der rechte Weg? Welche Faktoren begünstigen eine rechtsextreme Radikalisierung und was kann man dagegen tun?
[Moderation] Herzlich willkommen zum interaktiven Webtalk der Bundeszentrale für politische Bildung. Heute sind wir zu Gast in der Kurt-Schwitters-Oberschule in Berlin. Ein ganz herzliches Willkommen daher euch allen. Hallo, schön, dass ihr da seid, herzlich willkommen. Mein Name ist Diane Hielscher und unser Thema heute ist: Der rechte Weg – welche Faktoren begünstigen eine rechtsextreme Radikalisierung und was kann man vor allem auch dagegen tun. Und hier sitzen zwei Schulklassen im Publikum, einmal die 10-5 und der Geschichtskurs der 12. Klasse, die zu diesem Thema schon gearbeitet haben, sich darüber im Unterricht unterhalten haben und wir werden auch gleich noch mal mehr von euch hören dazu, zu diesem Thema. Außerdem werden wir mit den beiden Experten sprechen, die hier sind. Ich freue mich sehr, sie vorstellen zu können, herzlichen – Glückwunsch hätte ich fast gesagt – herzlich willkommen meine ich natürlich. Einmal haben wir Fabian Wichmann von der ZDK, Gesellschaft Demokratische Kultur, er ist auch von EXIT-Deutschland, Deutschlands bekanntestem Aussteiger-Programm für Rechtsextreme, außerdem Initiator der vielfach ausgezeichneten Initiative Rechts gegen Rechts und #hasshilft, die nämlich für jeden menschenverachtenden Kommentar im Internet einen Euro Spende für Flüchtlingsprojekte der Aktion Deutschland Hilft und EXIT-Deutschland sammelt. Sehr schöne Idee, die ging auch sehr viral im Netz, nicht? Außerdem bei uns Prof. Dr. Siegfried Preiser, er ist Psychologe und seit 2010 Rektor der Psychologischen Hochschule Berlin, Professor für die Psychologie lebenslangen Lernens. Und er ist Vorstandsmitglied der Sektion Politische Psychologie und Koordinator des Expertenbeirats Prävention von Gewalt, Rechtsextremismus und Interkulturellen Konflikten. Herzlich willkommen. Ich bin die Moderatorin, mein Name ist Diane Hielscher, ich mache solche Sachen sehr gerne und häufig und bin ansonsten im Radio zu hören bei DRadio Wissen. Und bevor es losgeht, möchte ich euch alle einladen, und zwar die Menschen natürlich, die hier sind, die Schüler und Schülerinnen, aber auch ihr, die ihr jetzt gerade am Rechner sitzt. Macht mit, schreibt uns, zum Beispiel unter dem Hashtag bei Twitter #wirgegenrex, mit X, genau, am Ende oder bei Facebook. Wenn ihr Fragen habt, wenn ihr Anmerkungen habt, wenn ihr auch an die Experten irgendwas richten möchtet, macht einfach mit, ich werde das dann erfahren, ich hab hier ein iPad auf dem Schoß und da wird das dann alles stehen, es wird bei uns ankommen, will ich damit sagen. Ihr könnt auch auf der Seite der Bundeszentrale einfach direkt mitmachen, da gibt es dann auch eine Umfrage bzw. zwei sogar, die wir im Laufe der Veranstaltung noch besprechen werden und natürlich auch die Ergebnisse klären dazu. Und dann fangen wir einfach mal an. Wer sind eigentlich diese Rechtsextreme, also, Herr Preiser, von wem sprechen wir denn eigentlich, was bedeutet 'rechtsextrem'?
[Siegfried Preiser] Es gibt inzwischen glaube ich hunderte von Definitionsversuchen und Abgrenzungsversuchen und alternativen Begriffen, die man verwenden kann, aber traditionell werden eigentlich zwei Kriterien herausgestellt. Das eine ist eine Ideologie, also ein Glaubenssystem von Ungleichwertigkeit der Menschen, das sich in der Regel zur Abgrenzung gegenüber als weniger wertvoll geachteten Menschen eben herangezogen wird, beispielsweise gegen Ausländer, gegen Behinderte, oft auch gegen Frauen, Flüchtlinge und so weiter. Und das zweite Kriterium, das aus einer rechten Einstellung eine rechtsextremistische oder rechtsextreme Einstellung macht, ist die Gewaltbereitschaft, nämlich die Bereitschaft, seine Überzeugung von der Überlegenheit bestimmter Rassen, bestimmter Ethnien oder bestimmter Persönlichkeits – Führerpersönlichkeiten beispielsweise gegenüber den anderen notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Das fängt an in der Mitte der Gesellschaft mit der stillschweigenden Akzeptanz von gewalttätigen Übergriffen, geht hin bis zur Propagierung von Gewalt und letztendlich zur faktischen Umsetzung, etwa gegen Flüchtlingsunterkünfte.
[M] Also man ist nicht rechtsextrem, nur wenn man Gewalt ausübt?
[SP] Die Ausübung von Gewalt ist etwas, was wir bei ganz vielen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sehen, was mit diesem rechten Menschenbild, das diese Ungleichwertigkeit von Menschen beinhaltet, nicht zwangsweise etwas zu tun hat. Die meisten rechtsextremen, die wegen Gewalttätigkeiten massiv aufgefallen sind, waren auch schon vor ihrer rechten Ideologisierung gewaltbereit und kommen aus gewaltbereiten Haushalten.
[M] Herr Wichmann, wie sieht es denn aus mit den Zahlen? Wie haben sich zum Beispiel die Zahlen entwickelt in den letzten Jahren? Gibt es mehr, gibt es weniger? Man hat ja immer so ein Gefühl, oh jetzt ist es wieder stark gestiegen, die Zahlen, ist das tatsächlich so? Wie sieht es da aus?
[Fabian Wichmann] Grundsätzlich gilt erst mal zu unterscheiden, dass wir Einstellungen haben und Verhalten. Wenn wir uns die Einstellungsmuster anschauen, dann sehen wir schon, dass wir da einen Anstieg haben, und kontinuierlichen Anstieg haben, und im Bereich des Verhaltens, also wir haben jetzt aktuell immer so zwischen 20 000 bis 23 000 organisierte Neonazis in Deutschland, davon um die Hälfte herum dazu noch gewaltbereit, militant. Das unterscheidet sich immer von Jahr zu Jahr etwas, aber ist eigentlich relativ konstant über die Jahre. Man sieht aber, dass dieser Bereich von diesen militanten Neonazis über die Jahre etwas abgenommen hat in den gewalttätigen Aktionen. Also seit 2008 waren zunehmend weniger Straftaten, die verzeichnet worden sind. Dieser Anstieg ist aber spätestens seit 2014 rückläufig, also stärker werdend, wir haben jetzt seit 2014, 2015 und auch in diesem Jahr werden die Zahlen eher so sein, dass sie dramatisch ansteigen. Also, wir sprechen da von bis zu 30 Prozent mehr Straftaten, politisch motiviert rechte Straftaten im Gegensatz zum Jahr davor.
[M] Gibt es dazu vielleicht direkt Fragen hier? Wenn ihr irgendwie was sagen wollt oder Fragen habt, dann meldet euch einfach, ich sehe euch dann schon. Nein? Ansonsten auch im Netz, wie gesagt, twittert uns an, #wirgegenrex oder schreibt uns unter Facebook Kommentare oder Anmerkungen vielleicht auch, dafür sind wir ja heute da. Ansonsten ist es auch in dem Zusammenhang spannend natürlich zu wissen, wie und warum radikalisieren sich Menschen und vielleicht sogar auch, wann. Also, man hat ja ganz oft diese Klischees, die vielleicht auch von den Medien kolportiert werden oder die jetzt schon seit Jahren im Raum stehen, also, der Rechtsextreme, der hat keinen Schulabschluss, der ist meistens männlich, der kommt wahrscheinlich aus schwierigen familiären Verhältnissen, das hatten wir, vielleicht gibt es da Gewalt in der Familie, Alkoholmissbrauch spielt oft eine Rolle, er wird dann manchmal, also in irgendwelchen sagen wir mal Artikeln oder Expertenrunden, Mike dann genannt und so weiter, und der hat jetzt eben diese Biografie und darüber wollen wir auch sprechen. Ist das tatsächlich so, sind das Klischees oder gibt es da irgendwelche Zahlen und Fakten dazu? Und deswegen wollen wir von euch wissen, was glaubt ihr, woher kommt Mike, woher kommt dieses Klischee, also wir wollen euch im Netz fragen und natürlich auch hier. Wir haben hier lustige bunte Zettel verteilt auf euren Stühlen und die wollen wir jetzt zum Einsatz bringen. Ihr könnt auch auf der Seite der Bundeszentrale im Netz mitmachen, da gibt es kleine Pünktchen, die man anklicken kann. Vergleich Ost-West, wo sind die neuesten – Leipziger Mitte-Studie, derzufolge ausländerfeindliche Einstellungen bei den 14- bis 30-Jährigen häufiger zu finden sind. Und das ist jetzt eben die Frage an euch: a) in Westdeutschland, das ist dann die blaue Karte, die ihr in der Hand habt. Oder b) in Ostdeutschland, das wäre dann die gelbe Karte. Haltet mal hoch, wir wollen mal gucken. Hundert Prozent! Wirklich, keine blaue, keine einzige? Eine blaue da hinten! Doch nicht. OK, gelbe Karte: 100 Prozent im Raum sagen, die meisten Rechtsextremen sind in Ostdeutschland zu finden. Und die Antwort ist auch tatsächlich b) also gelbe Karte, die rechtsextremen Einstellungen kommen der letzten Mitte-Studie zufolge häufiger bei Personen vor, die in Ostdeutschland leben, im Osten stimmen 23,7 Prozent dieser Altersgruppe ausländerfeindlichen Aussagen zu, nur um mal so eine grobe Zahl zu haben, im Westen sind es 13,7 Prozent. Und ich hatte ja eingangs schon erwähnt, ihr habt zu diesem Thema auch euch im Unterricht befasst, ihr habt darüber gesprochen, ihr habt Filme gesehen, ihr habt diskutiert. Und die Elena aus der 10-5 wird uns jetzt nochmal kurz zusammenfassen, was habt ihr da besprochen? Worum ging es da?
[Elena] Also, wir haben Filmausschnitte geguckt und darüber dann diskutiert und wir haben festgestellt, also, die Meinung von unserer Klasse ist, dass es dieses Klischee vom Neonazi immer noch gibt, aber dass es sich jetzt sehr stark aufteilt und dass es immer mehr Abweichungen gibt davon und dass dieses Klischee vom Neonazi immer noch da ist, aber dass es nicht mehr so – dass es jetzt nicht nur diesen einen Neonazi gibt.
[M] OK, also ihr habt darüber gesprochen, dass es überall letztlich welche gibt, und dass das Klischee aufgeweicht wurde in den letzten Jahren oder ...?
[E] Ja, also über – dass es früher glaub ich viel mehr dieses Klischee gab und dass jetzt mittlerweile ja auch – nicht nur dass die Eltern jetzt arm sind, sondern dass auch von sozial stärkeren Familien es Neonazis gibt.
[M] Im Netz ist das ähnlich gewesen übrigens, das Ergebnis von der Umfrage, da haben die meisten eben auch gesagt: in Ostdeutschland. 85 Prozent der Leute, die mitgemacht haben im Netz. Herr Wichmann, wie sind denn die Erfahrungen da aus der Praxis? Weil, Zahlen sind ja die eine Sache und Ihre Arbeit die andere.
[FW] Also, wir haben ja – an uns wenden sich Leute, die aussteigen wollen, deswegen haben wir da einen gewissen selektiven Blick auf die Situation, wir können halt nicht das Gros der Rechtsextremen betrachten. Also sehen wir, wir haben unterschiedliche Gruppen, wir haben unterschiedliche Stereotype, die uns in der Arbeit begegnen. Wir haben dieses Klischee-Bild, aber auch nicht so häufig, wie man vielleicht annimmt. Wir haben auch häufig Leute, die studiert haben, die studieren, Rechtsanwälte, gut integrierte, eben nicht bildungsferne oder arbeitende oder einfach in der Gesellschaft eigentlich eingebundene Leute ...
[M] … nichtsdestotrotz aber extrem sind.
[FW] Die aber dennoch die rechtsextremen Einstellungen teilen und auch nicht nur die Einstellungen teilen, sondern auch diese Einstellung in Verhalten umsetzen. Also Kameradschaftsführer, organisierte Neonazis, von denen sprechen wir da. Also, mit dieser Matrix ranzugehen, dass man da mit Menschen zu tun hat, die eigentlich den gesellschaftlichen Rand abbilden, die es im Leben zu nichts gebracht haben, da verkürzt man das Problem und wird es auch auf lange Sicht banalisieren, weil wenn es so wäre, hätten wir wahrscheinlich schon jetzt nicht mehr das Problem, sondern er rekrutiert sich ja immer wieder neu, dieser Rechtsextremismus, und das funktioniert über Leute, die charismatisch sind, die intellektuell auch in der Lage sind, so was zu machen, und eben nicht über den dumpfen, grölenden Neonazi.
[M] Herr Preiser, wie findet denn politische Sozialisierung statt?
[SP] Ich fang mal mit was Positivem an. Jugendliche, die in die Pubertät kommen, entwickeln in der Regel eine höhere geistige Komplexität, das heißt, sie können größere Zusammenhänge erfassen, sie können verschiedene Dinge gleichzeitig berücksichtigen, sie können Widersprüche aushalten und irgendwann auflösen. Und diese erhöhte geistige Komplexität wird in der Regel verbunden mit der verstärkten Suche nach einer persönlichen Identität. Das ist normale, günstige, wünschenswerte Sozialisation, das ist eine Entwicklungsaufgabe, sich eine eigene Identität zu entwickeln. Und das führt dazu, dass Jugendliche auch für politische Themen – die ja nun eine gewisse Komplexität haben – für politische Themen aufgeschlossener sind und damit einerseits überhaupt politisch motiviert und gebildet werden können und andererseits aber eben auch verführbar sind von extremistischen Positionen. Das heißt, die Entwicklung, die geistige Entwicklung und die moralische Entwicklung und die Identitätsentwicklung zusammen bilden den Nährboden dafür, dass man politisch aktiv werden kann und ich habe mich mehr mit positivem politischen Engagement beschäftigt und bin dann zwangsweise nur auch zu den negativen Rändern gekommen bei meinen Untersuchungen. Diese positive wünschenswerte politische Sozialisation beginnt also etwa im Jugendalter und führt eben zu einem Weltbild, und die Defizite, die viele Menschen erleben in dieser Sozialisation, die machen dann besonders verführbar für extremistische Parteien. Das ist die eine Seite. Also die politische Ideologie sozusagen. Und die andere Seite ist ja die Gewaltbereitschaft. Und die beginnt also wesentlich früher, also auch für politische Haltungen gibt es so was wie eine latente Sozialisation, also eine schon in der Kindheit beginnende Erfahrung, wie gehe ich mit Macht um, wie werden Widersprüche ausgehandelt, wie wird argumentiert, wie ist es mit Toleranz. Aber die Gewalterfahrungen sind etwas, was Menschen über viele Jahre hinweg kumuliert, immer wieder begegnet, und wenn das in der Familie schon so ist, und dann in der Schule fortgesetzt wird, dass man auch mit Gewalt Erfolg hat, Ansehen gewinnt und Anerkennung durch die anderen, dann kann das dazu führen, dass neben der politischen Entwicklung eben auch die Gewaltentwicklung sich fortsetzt und das führt in der Regel in dieser Kombination dann zu einer besonderen Anfälligkeit gegenüber Rechtsextremismus, sofern es keine Gegenkräfte gibt.
[FW] Ich will noch mal ergänzen, zumal – diese richtig beschriebenen Punkte, aber der Rechtsextremismus als Ideologie hat auch gewalttätiges Handeln als politisches Instrument. Also, Gewalt ist ein legitimes Mittel, um politische Prozesse und politischen Willen durchzusetzen. Das ist ein Merkmal, das ihn unterscheidet von anderen politischen Richtungen und diese Gewalt ist ein fester Bestandteil, der wird als Straßenkampf, als Terror gegen Andersdenkende, gegen Geflüchtete oder andere Feind- oder Opfergruppen gezielt eingesetzt, um letztendlich ihre Umwelt, um ihre Situation zu gestalten. Deswegen ist Gewalt in der Sozialisation ein Bestandteil, aber er ist auch ein fester Bestandteil der politischen Ideologie und wird damit konsequent umgesetzt.
[M] Jetzt ist es ja oft so, dass in Talkshows und Radiosendungen und so oft über die Jugendlichen gesprochen wird und wir wollen ja mit euch reden, deswegen vielleicht auch mal die Frage an euch, habt ihr dazu noch was zu sagen, wie sieht es bei euch im Alltag aus, habt ihr schon – also, weil wir haben ja eben davon gesprochen, wie funktioniert das mit der Radikalisierung usw., habt ihr irgendwas mitbekommen, Nachbarn, Freunde, Bekannte, irgendwas vielleicht – wie hat auch die Arbeit zu diesem Thema – Elena vielleicht nochmal – in euren Alltag mit reingespielt, habt ihr irgendwie Sachen anders gesehen, nachdem ihr das im Unterricht besprochen habt?
[E] Also, es ist ja jetzt noch nicht so lange her und ich kann ja nur für mich sprechen, ich denke, ich hab mich schon davor mit dem Thema befasst und für mich hat sich jetzt nicht stark was geändert. Klar hat man dann nochmal den Tag darüber nachgedacht und ich finde es auch sehr gut, dass wir das im Unterricht besprochen haben, aber ich würde jetzt nicht sagen, dass meine Meinung – oder dass sich was stark verändert hat.
[M] Aber hast du Verständnis dafür, dass junge Leute sagen, hey, ich höre jetzt rechte Musik, ich bin gerade auf dem Weg in die Radikalisierung, aus welchen Gründen auch immer?
[E] Äh, Verständnis schon, also ich kann es verstehen, warum jemand sich dort angesprochen fühlt, rechtsextrem wird, aber ich denke nicht, dass das bei mir so ist, also ich denke, dass junge Menschen sich für so was – so was gut finden, kann ich nachvollziehen, ja...
[M] Und hast du Beispiele vielleicht aus deinem Alltag irgendwie, Bekanntenkreis, Freundeskreis, irgendwas?
[E] Nein.
[M] Nein. OK. Herr Wichmann, jetzt beschreiben Sie doch mal für uns, wie eben dieses Abrutschen quasi aussehen kann, also wie kommt man in Berührung, was sind so die ersten Punkte quasi?
[FW] Das können verschiedene sein. Also, ich kann ja vielleicht mal an zwei, drei Ideen oder Biografien so ein paar Punkte beschreiben.
[M] Ja.
[FW] Das kann wegen meiner ein Mädchen sein, jetzt mal so als Beispiel, ein Mädchen, das halt in der Schule vielleicht nicht die Anerkennung findet, die sie bräuchte oder sucht und vielleicht auch bei den Eltern nicht die Anerkennung findet, dann in dem Fall über eine Freundin in eine Gruppe kommt, und das erste, was man dort bekommt, ist eine Aufgabe von dieser Kameradschaft, und in dem konkreten Fall war es dann halt zum Beispiel das Heraussuchen von Fahrplänen zu Demonstrationen, das Vorbereiten von irgendeinem Kameradschaftsabend, da gab es dann Anerkennung für, das war dann ein klar strukturiertes Element der Anerkennung, um diese Gruppenstabilität zu erreichen.
[M] Verantwortung, Team-Geist...
[FW] Genau. Das hat in dem Fall auch funktioniert, sie fühlte sich anerkannt und stärker anerkannt als vielleicht in der Schule und zu Hause. Ein anderer Fall, der mir so beschrieben war, war einfach eine Person, die jetzt so was wie biografische Erfahrungen hatte, getrenntes Elternhaus, vielleicht noch so ein paar andere Punkte, die in der aktuellen politischen Situation störten und die ihn halt darüber nachdenken ließen, und an diesem Punkt kam dann halt so was wie ein politisches Versprechen. Also, da war dann jemand und sagte, all die Probleme, die du siehst, die können wir lösen, und zwar über die Politik, die wir verfolgen. Und das war für ihn so was wie eine Prophezeiung, eine Verheißung, wo er sagte, OK, genau, und das will ich auch, und meine Probleme, meine Erfahrungen, die ich habe, die werden durch euch kompensiert, durch euch gelöst, und damit hat er sich da hingewandt. Also, es sind unterschiedliche Faktoren auf der biografischen, auf der psychologischen, auf der sozialen, auf der ökonomischen – auf verschiedenen Ebenen, die aber alle dann letztendlich versehen werden mit so was wie einem Versprechen der Lösung dieser Probleme. Und das ist ganz wichtig, und das ist eine politische Lösung, die da angeboten wird, und die letztendlich diese politische Hinwendung quasi komplettiert erst. Wie der Prozess genau verschalten ist, das würde ich auch gerne wissen, das wäre dann mein Buch oder so, aber ich habe es auch nicht ...
[M] ... das dann demnächst erscheint...
[FW] … das dann demnächst erscheint, aber ich habe es auch nicht, von daher, es ist so ein bisschen wie eine Black Box, man kennt die Einflüsse, man kennt die Faktoren und man kennt auch das Produkt, aber man weiß nicht …
[M] … aber man hat auch den Eindruck, dass die Rechtsextremen eben tatsächlich sehr erfolgreich arbeiten bei dem, was sie tun.
[FW] Ja, man muss aber auch glaube ich schauen, dass auch viele andere Sachen erfolgreich arbeiten, man muss sie nicht auch noch überhöhen in manchen Fällen …
[M] … nein, um Gottes Willen...
[FW] … wir sehen aber, dass sie bestimmte Sachen erfolgreich machen und dass sie bestimmte Anerkennungsmechanismen offensichtlich kennen und die umsetzen und da auch entsprechend Jugendliche adäquat ansprechen. Aber ich denke, das können auch andere Maßnahmen, andere Projekte besser, mindestens gleich gut.
[M] Herr Preiser, wir haben ja schon über Faktoren gesprochen, die eben anfällig für so eine rechte Radikalisierung machen, also wenn man zum Beispiel im Elternhaus nicht genug Halt hat, was kann denn da noch mit reinspielen?
[SP] Also, ich sehe wieder zwei Grundmotive, zwei menschliche Grundmotive, die eigentlich notwendig, wichtig und nahezu universell sind, die alle Jugendlichen haben und alle Erwachsenen, eigentlich jeder. Das erste ist, irgendwo einen Sinn zu sehen, irgendwo sich aufgehoben zu fühlen, irgendwo Anerkennung zu finden. Zusammenfassend kann man den etwas antiquierten Begriff Geborgenheitssuche – also man sucht Verlässlichkeit, man sucht zuverlässige Nachrichten und letztendlich auch ein Weltbild, an dem man sich orientieren kann, was dann also beim Rechtsextremen in der Regel zu einem sehr geschlossenen Weltbild wird, das sich abkapselt. Das ist der eine Wunsch. Der zweite Wunsch ist, mitzugestalten, mitzuwirken, Kontrolle auszuüben über – also selbst kontrollieren zu können, was mit einem passiert, wie die Zukunft aussieht, wohin man sich entwickelt, etwas bewegen können. Und bei diesen beiden Bedürfnissen gibt es bei vielen Jugendlichen Defizite, sie haben keine Chance, wirklich mitzumischen, mit zu entscheiden, mit zu gestalten, und sie haben keine Orientierung in einer Gemeinschaft, die ihnen Halt, Orientierung oder zumindest Möglichkeiten gibt. Und wenn dann eine Gruppierung, eine rechtsextreme Gruppierung kommt, die genau das bietet und das auch noch verbindet mit einem intellektuell überhöhten politischen Szenario, wir haben das Weltbild, wo das alles dann reinpasst, aber wir haben ab dem ersten Tag, wie Herr Wichmann das gerade beschrieben hat, ab dem ersten Tag die Möglichkeit, mitzugestalten, Verantwortung zu übernehmen und dafür Anerkennung zu bekommen, aufgehoben zu sein. Wenn das der Fall ist, dann sind diese Jugendlichen, die diese massiven Defizite haben – dann auch noch mit fehlender Zukunftsperspektive, die dann plötzlich eine im politischen Bereich ist – dann sind die anfällig dafür. Gerade in solchen Situationen, wo man besonders diese Defizite fühlt, sich besonders ausgeschlossen fühlt und dann der Kontakt kommt, auch wie Elena das geschildert hat, was sie da gesehen hat, dann ist die Anfälligkeit gegeben.
[M] Ich muss nochmal tatsächlich auch auf dieses Klischee zurückkommen. Da komm ich nicht so schnell von weg. Herr Wichmann, haben denn Menschen – Sie haben gesagt, es gibt rechtsextreme Rechtsanwälte – aber haben Menschen mit einer geringen formalen Bildung öfter eine rechtsextreme Einstellung oder nicht?
[FW] Ich würde es jetzt nicht so pauschal sagen, es ist auch die Frage – wenn man jetzt auf der Einstellungsebene schaut, wird man da feststellen, dass es da relativ diffus ist von den Zuordnungen. Auf der Ebene von Gruppenzugehörigkeit wird es dann schon etwas konkreter, aber da muss man auch schauen, welche Gruppen sind das da, auch innerhalb der rechtsextremen Szene finden wir jetzt nicht nur die klassischen Schlägertypen, die man so kennt, also diese Klischeebilder, wir finden auch durchaus andere Kreise, die publizieren, die Artikel verfassen, die Zeitungen haben, die Bücher herausgeben. Also wir finden da auch einen Bereich von Rechtsextremismus, der halt durchaus fähig ist, eben sich abzuheben von diesem dumpfen, gewaltbereiten Bereich. Dieser beschriebene Bereich ist eher so dieser – diese Gruppen, die sich auf dem Straßenkampf-Milieu bewegen, die so die Fußtruppen darstellen. Und der wirklich gefährlichere ist quasi auf lange Sicht eigentlich der intellektuelle Bereich, weil der wird immer wieder versuchen, letztendlich zu rekrutieren und Gesellschaftsmodelle anzubieten, die Antworten auf zeitaktuelle Fragen bieten. Der Schläger auf der Straße hat die nicht. Und da wird man sich auch schneller abgrenzen von. Aber die Ideen, die letztendlich dann eher aus den intellektuellen Kreisen kommen, die finden ja viel schneller Anklang in gesellschaftlichen Diskussionen und verändern Klima.
[M] Was mich da immer wieder interessiert, ist – die rechtsextreme Ideologie ist ja eine menschenfeindliche Ideologie, die da drüben, wir hier, wir gegen die, die gegen uns usw. Also, es ist ja relativ empathielos oft, wie geht das zusammen?
[FW] Wenn man dann Aussteiger fragt, der mir dann beschrieb, er sagte, er war konkret davon überzeugt, dass wenn alle seine politische Einstellung teilen, dann wird es allen besser gehen. Da gibt es so einen Slogan: nach unserm Sieg nie wieder Krieg. Das bedeutet, wenn die Welt nach meiner, also nach der Vorstellung des Neonazis, nach dieser Vorstellung gestaltet ist, dann sind alle glücklich und zufrieden, zumindest aus seiner Perspektive, und damit wäre wiederum Frieden. Das heißt aber, dass dann halt die Grenzen ausgeweitet würden, dass halt Völker, bestimmte Nationalitäten, aufgrund von Herkünften sortiert werden müssten, also dieser Prozess dahin wäre kein Frieden und auch danach wäre kein Frieden. Aber er war fest davon überzeugt, und das war ein Antrieb für ihn.
[SP] Ich hab mich auch mit der Frage beschäftigt, warum intellektuell differenzierte Menschen einem solchen einfachen geschlossenen Weltbild anhängen können und kam auf einen Aspekt, der zunächst mal sehr überraschend erscheint. Viele Menschen sind überzeugt, dass es letztendlich auf der Welt gerecht zugeht. Das heißt, dass jeder das verdient, was er auch verdient hat und dass jeder bestraft wird für das, was er Schlechtes tut. Menschen, die diesem Weltbild – sind in der Regel konservative Menschen, die dieses wirklich glauben, dass die Welt eigentlich im Grunde gerecht ist. Werden ja ständig, jeden Tag mit Ungerechtigkeit, mit Ungleichheit konfrontiert. Und dann gibt es zwei Möglichkeiten, um damit intellektuell fertig zu werden. Die eine ist, ich tue was gegen die Ungerechtigkeit, ich engagiere mich für Arbeitslose, für bildungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche usw., ich versuche einen Ausgleich für diese Ungerechtigkeit oder Ungleichheit, die auf dieser Welt existiert. Und die andere Möglichkeit ist, diese Ungleichheit zu rechtfertigen und zu sagen, aber die sind doch auch selber Schuld und dann ist es plötzlich wieder gerecht. Also, aus meinem Fragebogen eine typische Frage: Es ist gerecht, Arbeitslosen das Arbeitslosengeld zu kürzen, denn sie arbeiten ja auch weniger, sie müssen sich ja auch weniger anstrengen. Also, das ist so eine Rechtfertigung, die ich übrigens nicht nur bei Rechtsextremem, sondern, ja, bei fast allen, auch bei Studierenden sehr breit verteilt finde. Also natürlich manche, die das strikt ablehnen, aber auch viele, die sagen, na, da ist was dran. Also, diese Rechtfertigung von Ungleichheit kann auch so was sein wie ein moralischer – also Ergebnis eines moralischen Verarbeitungsprozesses, dass man sonst die Ungerechtigkeit, die in dieser Welt existiert, gar nicht aushalten könnte. Und was ich dann aber feststelle, und damit kommen wir schon zu der Frage, was kann man denn dagegen machen – also der Glaube an Gerechtigkeit ist ja eigentlich was Schönes, will ich den kaputt machen? Ich hab ein zweites Konzept mit untersucht, und das nenne ich: Ich glaube an die Möglichkeit von Gerechtigkeit. Also beispielsweise, ich halte es für möglich, eine Weltordnung, eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, die mehr Gerechtigkeit für alle Menschen bringt. Und die Menschen, die das glauben, es ist möglich, und nicht unbedingt, wir haben schon alles, wir brauchen gar nichts mehr tun, die sind tatsächlich auch eher bereit, Ungerechtigkeit wahrzunehmen einerseits und nicht die Benachteiligten auch noch zu verurteilen, wenn sie ja selber schuld sind, und die sind auch eher bereit, sich zu engagieren für Initiativen, also positives politisches Engagement. Also den Glauben, es wäre schon alles gerecht, umwandeln in die Überzeugung, Gerechtigkeit ist möglich, aber man muss was tun. Und damit bin ich dann gefordert und damit kann ich dann auch dieses Dilemma in mir etwas auflösen.
[M] Aber etwas tun ist wahrscheinlich auch der steinigere Weg.
[SP] Ja, genau, das muss dann sein, sonst stecke ich wieder im schlechten Gewissen und versuch mir das irgendwie zu rechtfertigen. Wenn ich sage, man müsste eigentlich, aber es geschieht nichts und ich tue nichts.
[M] Wir haben eine Frage über Facebook reinbekommen: Wie gefährlich ist es, Rechtsextreme als dumm abzustempeln? Wir haben darüber eben schon gesprochen. Was – also vielleicht können Sie das auch nochmal zusammenfassen, was das auch für uns als Gesellschaft bedeutet.
[SP] Also, das bedeutet ja, dass man einerseits die intellektuell hochstehenden differenzierten Vertreter rechter Ideologien gar nicht so in den Blick nimmt und sagt, das ist was anderes, das ist ja Bildungsbürgertum usw. Genau, Herr Wichmann hat gesagt, das sind eigentlich die gefährlicheren, die entweder aus Machtgründen oder auch um eines einheitlichen Weltbildes willen rechte Ideologien dann eben auch auf differenziertem Niveau vertreten und ja, andererseits ist es eben auch eine weitere Ausgrenzung der, jetzt sage ich mal, der wenig gebildeten Rechtsextremen, die also diesem Klischee entsprechen, wenn wir sie einfach nur als dumm und primitiv abtun. Also, das sind ja Menschen, die auch Entwicklungspotential haben, die hätten bloß irgendwo eine andere Förderung bekommen müssen. Das ist ja die Gesellschaft, die ihnen diese Chance – oder die Familie, die ihnen diese Chance nicht gegeben hat, die hat ja dazu beigetragen, nicht die Böswilligkeit der Person. Und die nochmal abzustempeln treibt sie ja eigentlich noch mehr in die Enge. Das haben wir bei allen Extremisten, je weniger die Möglichkeit für einen Exit besteht, desto eher werden sie eigentlich an die Gruppe geschweißt und auch dann an die Ideologie der Gruppe geschweißt und wenn es Alternativen gibt, die letztendlich attraktiv erscheinen, nämlich in der Gesellschaft Anerkennung zu finden, und nicht bloß in gewalttätigen Gruppen, dann ist auch die Chance größer, da wieder herauszufinden.
[M] Aber das ist ja genau die Frage, die jetzt gerade aktuell überall diskutiert wird, in Social Media rauf und runter: nicht abstempeln, was bedeutet das konkret, also wie geht man damit um, also, weil es heißt ja auch, die einen leben in ihrer Blase, reden nicht mit den andern, wie kann man da in Dialog kommen?
[SP] Also, es gibt ja seit den 90er Jahren das Konzept der akzeptierenden Sozialarbeit, dass also Sozialarbeiter in diese Treffpunkte – natürlich nicht in die geschlossenen Gruppierungen der Kameradschaften, aber in die Treffpunkte rechter Jugendlicher gehen, auf der Straße, und mit denen ins Gespräch kommen und nicht sagen, ihr seid böse und ich sag euch, wie es richtig ist, sondern erst mal zuhören. Und durchaus mit der eigenen Meinung nicht dagegen halten, sondern seine eigene Meinung dazu sagen, aber das passiert natürlich nur, wenn man im Gespräch ist, und nicht, wenn man von außen belehrend kommt, oder moralisierend gar kommt. Das heißt, die Jugendlichen, die auf dem Weg sind in Gruppierungen, denen zu sagen, es gibt Menschen, die euch zuhören, die euch ernst nehmen, die mit euch darüber reden, was ihr für Perspektiven habt und wodurch ihr so – ja, eigentlich enttäuscht seid von dieser Gesellschaft, die können gegebenenfalls auch die Jugendlichen dazu bringen, das Bild etwas zu differenzieren. Ich kenne so einige Studien, wo man den Erfolg solcher Maßnahmen kontrolliert, die verbalen Äußerungen der Jugendlichen, die waren nicht weniger krass als vorher, aber die Gewaltbereitschaft, die Bereitschaft, daraus jetzt wirklich, ja, in Gewaltakte abzugleiten usw., die hat sich offensichtlich gemildert dadurch, dass der Betreffende plötzlich eben diese, ich sage wieder mal, Geborgenheit, also diese Akzeptanz in einer Gruppierung gefunden hat oder im Dialog mit Menschen, die ihn nicht abstempeln.
[M] Jetzt ist ja auch gerade im Netz die Diskussion, dass man in seiner eigenen Filterbubble ist, wenn man auf Facebook irgendwas geliked hat, kriegt man immer nur Sachen, die man sowieso mag und die quasi die eigene Meinung bestärken. Hat das irgendwie auch nochmal ein bisschen Einfluss auf die aktuelle Entwicklung?
[FW] In jedem Fall. Also, wenn man sich die Diskussion im Netz anschaut, man kriegt die Informationen, die man sich quasi personalisiert hat über vorhergehende Likes, über Artikel, die man gelesen hat, über Kreise, in denen man sich bewegt. Das heißt, dass da völlig unterschiedliche Nachrichtenräume bestehen, also meine Filterblase bei Facebook ist eine komplett andere als die von jemandem, der in der Kameradschaftsszene ist. Ich hab mal einen Test gemacht, ich hatte einen – ich habe einen Facebook-Account, den man nicht haben darf, aber der ist nicht echt. Und dieser Account hat dann halt mal jemandem gratuliert, der eindeutig der rechtsextremen Szene zuzuordnen war und binnen von 48 Stunden hatte ich irgendwie 150 Freunde, etwas später dann 240. Und diese Timeline, noch etwas gefüttert mit einschlägigen Gruppen, die ist schon recht düster. Also, da ist eigentlich schon eher Weltuntergang. Und wenn man diese Sachen dort immer wieder redundant liest, dann sieht man sich schnell in einer Situation, wo man sagt, OK, ich muss jetzt Notwehr – eine Notwehrsituation, ich muss mich jetzt verteidigen, ich muss auf die Straße. Also, der Schritt hin zu einer Radikalisierung durch soziale Netzwerke, nicht nur über, sondern durch, als Bestandteil von einer Radikalisierung, der ist schon deutlich. Deswegen wäre ich aber auch vorsichtig, jetzt halt die Verantwortung allzu schnell an die, wohl richtig, aber an die Jugendarbeit abzugeben oder an Konzerne wie Facebook abzugeben, sondern das ist ein gesellschaftliches Problem, eine gesellschaftliche Herausforderung und gleichzeitig sind da Probleme, die die Gesellschaft nicht per se lösen kann, sondern das sind politische Prozesse, politische Probleme und da müssen Antworten, auch politische Antworten her, und das wird man auf lange Sicht nicht nur über Sozialarbeit oder über bestimmte Social Media Aktivitäten oder im schlimmsten Fall das Löschen von Beiträgen regulieren können. Aber klar, diese Filterblasen und diese, sagen wir mal auch Filterblasen in der Realität, also Gruppen in bestimmten Räumen, die verstärken natürlich, die beschleunigen Radikalisierung enorm.
[SP] Da stimme ich natürlich voll zu. Also, das sind gesellschaftliche Probleme, die gelöst werden müssen. Die objektive Ungerechtigkeit, die existiert, an die muss man gehen und das offensichtliche Abhängen von bestimmten Jugendlichen, die, weil sie in der Schule Schwierigkeiten haben oder gemacht haben, dann einfach keine weitere Entwicklungschance bekommt. Also, genau das zu verhindern, dass Menschen in diese Sinnleere und in diese Kontaktleere, also im gesellschaftlichen Kontakt oder im Kontakt mit anderen anerkannten Gruppierungen kommen. Genau daran muss man arbeiten. Und das andere, also auch die Sozialarbeit ist natürlich Korrekturarbeit, und ist nicht wirklich gesellschaftliche Entwicklung.
[M] Jetzt gibt es ja wahrscheinlich noch tausend andere Möglichkeiten, eben Jugendliche zu erreichen und da noch mal die Frage hier an euch: Habt ihr vielleicht auch im Unterricht darüber gesprochen, wie man eben diesen enttäuschten Jugendlichen, über den wir gerade gesprochen haben, erreichen kann. Also, wenn jemand sagt, ich fühle mich weder zu Hause noch in der Schule irgendwie angesprochen und irgendwie keiner hört auf meine Stimme, ich hab nicht das Gefühl, irgendwas erreichen zu können und ich werde auch eigentlich nicht richtig beachtet. Habt ihr vielleicht auch besprochen, wie kann man eben Jugendliche auch erreichen? Also, war das auch Thema im Unterricht? Keiner will antworten? Elena vielleicht nochmal?
[Schülerin] Ich denke ein bisschen, dass das was mit Möglichkeiten zu tun hat, mit Gruppen, in denen man sich bewegt, dass man halt die Möglichkeit hat, sich entweder irgend so einer Nazigruppe anzuschließen, in der man dann halt sofort 240 gefühlte Freunde hat oder ob es halt auch eine andere Gruppe gibt. Ich denke, oftmals hat man das Problem auch einfach in Regionen, in denen es vielleicht nicht unbedingt so viel gibt, was man als Jugendlicher machen kann oder wo man sich als Jugendlicher so fühlt, als ob es nicht so viel gibt, was man machen kann. Also, ich denke, dass das ein ganz großes Infrastruktur-Problem ist teilweise auch.
[M] Also, du sagst, das hat zum Beispiel auch viel mit Langeweile zu tun? Wenn ich nicht weiß, was ich machen soll, dann werde ich eben rechtsextrem.
[Schülerin] Mehr oder weniger, ja.
[M] Okay, das ist auch interessant.
[Schülerin] Nazi aus Langeweile klingt ein bisschen doof, aber ich glaube tatsächlich, dass es so eine Sache von Verzweiflung tatsächlich ein bisschen ist. Von wegen, ich bin hier und ich komm hier nicht weg und überhaupt gibt es jetzt halt hier die NPD, die da ganz tolle Veranstaltungen macht, und keine Ahnung, die Identitäre Bewegung, die ich sowieso ganz toll finde, oder so was, keine Ahnung was, und was anderes gibt es nicht und deswegen mach ich jetzt halt das, so von wegen, kann ich mir vorstellen, dass es manchmal so läuft.
[M] Wollen Sie vielleicht direkt darauf reagieren auch? Nazi aus Langeweile, um das jetzt mal so zugespitzt zu formulieren.
[FW] Ja, ich glaube, das beschreibt auch bestimmte Räume, also man kann jetzt nicht generell sagen, dieser Weg ist es, weil in Berlin ist es anders als vielleicht in Mecklenburg-Vorpommern, aber wie du gerade sagst, die Infrastruktur in bestimmten Räumen, in abgehängten Gegenden, ländlichen Regionen, wo halt sämtliche Infrastrukturen fehlen, wo der Jugendclub schon – da muss man nicht darüber nachdenken, ob man Sozialarbeiter anstellt, weil der Jugendclub schon lange nicht mehr da ist. Und in solchen Regionen ist natürlich dann a) der Bedarf da, was haben zu wollen und man sieht, dass die politischen Möglichkeiten offensichtlich nicht ausreichen, um das zu bekommen, ob es der Jugendclub ist oder die Anbindung oder die Infrastruktur generell. Und dann kommt halt eben eine Partei und sagt, ja, das sind die Probleme, die wir sehen und wir lösen die. Und da kommt wieder dieses politische Versprechen. Ob man es nun einhalten kann auf lange Sicht, ist für eine Oppositionspartei relativ leicht zu konkretisieren, zu sagen, na ja, wir machen das alles, ob es dann so wird, ist eine andere Sache. Aber es ist natürlich ein Angebot. Und dann gleichzeitig noch verbunden mit der Idee, aber jetzt seht ihr mal, für euch wird gar nichts gemacht, für die anderen, insbesondere dann vielleicht Flüchtlinge, für die wird so viel gemacht, und ihr seid die Abgehängten und wir interessieren uns für diese Interessen, die anderen nicht. Und schon hat man halt so eine Aus- und Abgrenzung von bestimmten Bevölkerungsgruppen, eine Bestärkung und eine Aufwertung der „Deutschen“ in dem Fall dann da. Und das sind dann Prozesse, die halt so eine Radikalisierung, Hinwendung zu solchen Parteien massiv beschleunigen und bestärken letztlich.
[M] Herr Preiser, um nochmal das Thema Langeweile aufzugreifen, oft ist es ja auch so, die Jugendzeit ist die Zeit der Rebellion, ich will anders sein als meine Eltern, ich will auf jeden Fall einer anderen Kultur angehören und ich will mich absetzen vielleicht auch durch Anziehsachen, durch Musik, durch meine Freunde, ich will Sachen machen, die meinen Eltern vielleicht explizit nicht gefallen. Kann es auch sein, dass es manchmal so eine Phase ist, die dann wieder vorbeigeht, wenn man irgendwie zuerst mit denen abgehangen hat und Bier getrunken hat und dann gemerkt hat, ach nee, ist doch nicht so meins?
[SP] Es gibt natürlich immer auch die Aussteiger in der Anfangsphase. Also die noch nicht kriminell geworden sind, die noch nicht massiv gewalttätig geworden sind, die dann nach einer gewissen Zeit merken, ach hier hat immer nur der Boss das Sagen, der Führer in der Gruppierung, in der Kameradschaft, und ich werde hier letztendlich nur für Hilfsdienste herangezogen, also ich finde hier auch nicht meine Anerkennung. Also, das gibt es natürlich. Die gefährliche Sache ist eben die, dass Jugendliche, die sich absetzen wollen und dann merken, ja, jetzt provoziere ich mit meinem Outfit, mit meiner Musik, die ich zu Hause ganz laut höre und wo die Eltern schon Angst vor den Nachbarn haben, dass wenn die das hören oder wenn die das sehen – das ist natürlich auch ein Beitrag zu einer ich sag jetzt mal simulierten Identitätsbildung. Also letztendlich ist es ja keine Identitätsbildung, wenn man sich einer uniformen Gruppe, also einer einheitlichen Ideologie anschließt, sondern es ist eine Unterordnung unter eine weitere Ideologie, die aber in vielen Fällen, diese Rigorosität im Jugendalter, durchaus ein wichtiger Schritt ist, um erst mal zu sagen, was will ich nicht, ich will nicht so sein wie die Eltern, ich will nicht die gleiche Musik hören, ich will nicht die gleichen kulturellen Angebote haben usw. ,sich erst mal absetzen, kontrastieren, um dann seinen eigenen Stil zu finden. Also von daher, die Möglichkeit gibt es natürlich, aber wieder die Gefahr, Jugendliche, denen so was wie ein Orientierungsrahmen sonst nicht angeboten wird und denen sonst keine Gemeinschaft angeboten sind, die stehen in der Versuchung dann eben, einer großen Versuchung, dort zu bleiben, wo sie erstmals, vielleicht seit vielen Jahren, ernst genommen wurden und akzeptiert wurden. Also, es fällt mir gerade ein, eines der Interviews von den im Gefängnis sitzenden – wegen rechtsextremistischer Gewaltdelikte im Gefängnis sitzenden Jugendlichen war: in dieser Gruppierung bin ich erstmals akzeptiert worden so wie ich bin und hab dort tatsächlich erstmals was Sinnvolles, also aus Sicht der Gruppe dann Sinnvolles, machen können. Und genau wenn das der Fall ist, dann ist es sehr schwer, die da raus zu holen.
[M] Aber es gibt diese Fälle schon auch, aber sie sind eher, Sie würden sagen...
[SP] Es gibt dieses Ausprobieren von Stilrichtungen, von Moderichtungen usw., das gibt es und das ist, denke ich, auch wichtig und legitim, um seinen eigenen Stil zu finden. Nur wenn man diese Suche abbricht, um sich irgendwo zuzuordnen und zu sagen, jetzt bin ich so und das ist jetzt meines und jetzt glaub ich alles, was dort gesagt wird, in dem Moment ist die Identitätsbildung eben auch verloren, also man spricht dann von übernommener Identität statt von erarbeiteter Identität. Erarbeitung heißt immer, sich abgrenzen, abwägen und zu gucken, was passt zu mir und wo will ich hin und wie will ich sein und das ist die Aufgabe des Jugendalters. Und die wird teilweise eben durch solche pauschalisierten Angebote kaputt gemacht.
[M] Kommen wir noch ein Mal ganz kurz zurück zum Klischee, und zwar Klischee Ostdeutschland, das wird ja auch viel diskutiert. Nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern hieß es, ich will nicht mehr nach Rügen fahren, dann, nach Dresden kann man ja jetzt auch nicht mehr und da läuft Pegida ständig usw. Aber ist es nicht genau auch die gleiche Geschichte, die passiert, wenn man sagt, ja, du bist dumm, du bist rechtsextrem, mit dir will ich gar nicht groß reden, wenn man sagt, der Osten, der Osten, der Osten?
[FW] Ja, es ist ein zwieschneidiges Schwert. Man kann auf der einen Seite nicht sagen, ja man spricht nicht mehr darüber, weil man dann halt den Osten stigmatisiert. Man muss ja darüber sprechen, wenn die Erscheinungen da sind. Gleichzeitig muss man natürlich auch schauen, dass man dann entsprechend anderen Entwicklungen im Land Gehör verschafft und halt zeigt, dass halt der Osten auch anders sein kann.
[M] Richtig. Würden Sie sagen, das wird zu wenig gemacht? Weil, die Bilder, die wir haben sind ja eher negativ tatsächlich. Und wenn ich jetzt 16 Jahre alt bin und in Dresden lebe, dann möchte ich vielleicht nicht immer die gleichen Bilder sehen.
[FW] Na, ich glaube schon, dass es auch schwer ist für die Dresdner oder die Leute aus Mecklenburg-Vorpommern, halt immer mit denselben Vorurteilen konfrontiert zu werden, im schlimmsten Fall wird es irgendwann so was wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, dass man halt sagt, na ja, wenn ihr denkt, dass wir so sind, dann sind wir halt so für euch.
[M] Ja, genau.
[FW] Nee, deswegen ist es wichtig, auch die anderen Bilder zu zeigen, und mich hat es auch – jetzt zwar ein bisschen anders, aber diese Demonstrationen von Pegida in Dresden, das war erst mal eine geringe Anzahl von Leuten, die dort eine sehr starke Stimmung gegen die Leute gemacht haben, die zu dieser Gedenkfeier wollten, das waren vielleicht 400 Leute. Dem gegenüber standen aber Zehntausende, die dort dem Tag der Deutschen Einheit gedacht haben und dort ihre Meinung quasi demonstriert haben, positiv. Aber dominiert haben letztendlich die 400 die 10 000 wiederum.
[M] Ja, schade.
[FW] Schade. Und deswegen, da müsste man auch gucken, wo wird der Fokus dann gelegt, gleichzeitig aber auch klar sagen, wenn man dort rechtsextreme Erscheinungen hat und Gewalt und andere Formen, dann muss man darüber sprechen. Und dann ist es auch egal, ob es in Ost- oder Westdeutschland ist. Dann ist es ein Problem. Aber diese Stigmatisierung von bestimmten Räumen bringt glaube ich auf lange Sicht nichts, zumal man dann auch vielleicht Entwicklungen in Westdeutschland vernachlässigt, Dortmund – dort haben wir eine sehr militante gewaltbereite rechtsextreme Szene, und das schon über Jahre. Und Dortmund liegt ja nun nicht in Mecklenburg-Vorpommern.
[M] Ja. Dann haben wir vom Klischee Mike gesprochen. Mike ist männlich. Ist es denn tatsächlich so, dass wirklich die Rechtsextremen Männer sind, oder häufiger? Und auch dazu wollen wir eure Meinung haben. Ihr habt hoffentlich noch nicht irgendwelche Falter gebaut aus euren Zetteln, die wir jetzt nochmal bemühen, und natürlich auch am Rechner, es gibt wie gesagt auf der Homepage der Bundeszentrale diese kleinen Pünktchen, die kann man anklicken, also macht einfach mit bei der Umfrage. Wer stimmt eurer Meinung nach häufiger rechtsextremen Aussagen zu, Männer oder Frauen? Also, bei uns sind die Männer die blaue Karte und die Frauen die gelbe Karte. Im Netz, wie gesagt, einfach anklicken. Und wenn ihr sagt, es sind genau gleich viele, dann hebt ihr am besten einfach beide Karten hoch. Deswegen – geht’s jetzt los. Ich bin sehr gespannt. Blau – ich sehe ein Meer von blauen Karten, ein bisschen gleich viel, niemand sagt Frauen. Niemand sagt Frauen! Okay, das ist auch interessant. Und die Antwort – oh, was haben wir hier, im Netz sagen: Männer 70 Prozent, 5 Prozent gleich viele, nee 26 gleich viele und 5 Prozent Frauen. Also so ähnlich wie hier im Raum tatsächlich im Netz auch. Also es ist ganz gleich, die Zahlen, das ist lustig. Es gibt kaum größere Unterschiede tatsächlich bei der Zustimmung zum Rechtsextremismus nach Geschlecht. Also die, die beide Karten in die Luft gehalten haben, haben hier recht. Einzig die Ausländerfeindlichkeit ist – Achtung – bei wem häufiger? Bei Frauen. Abgefahren, oder. Die ist signifikant häufiger als bei Männern. Bei Frauen sind es, auch nur nochmal so für den Hinterkopf, 10,6 Prozent und bei den Männern 6,8 laut der Leipziger Mitte-Studie. Das ist tatsächlich überraschend. Also, hier im Raum und auch im Internet.
[FW] Ist jetzt auch halt eher eine Entwicklung, die man sieht, also bei den Einstellungsmustern hat man da halt eben ähnliche Einstellungsmuster bei Männern und Frauen, bei dem Verhalten wiederum nicht. Wenn wir uns so die Kameradschaftsszene in Deutschland anschauen, dann haben wir da wohl Frauen und auch spätestens seit dem Nationalsozialistischen Untergrund und dem Prozess in München jetzt um Frau Zschäpe diskutiert man die Rolle der Frau innerhalb der Kameradschaftsszene. Aber das ist jetzt keine neues Thema, wir haben eigentlich schon beständig immer wieder um die 15, also so ein Drittel Frauen innerhalb der Szene und zwei Drittel Männer. Verändert hat sich eigentlich bloß die Rolle der Frau innerhalb dieser Strukturen.
[M] Aha. Sie ist jetzt nicht mehr die Neonazi-Braut, sondern ist selber Rädelsführerin geworden, oder …?
[FW] Genau, sie kann letztendlich verschiedene Rollen haben. Also, sie kann jetzt klassisch eher so die Rolle der Frau verkörpern, die den Nachwuchs heranzieht, die die Sicherstellung der Familie und all diesen Haus und Hof Gedanken quasi pflegt, aber sie kann durchaus auch politisch aktiv werden, sie kann auch entsprechend Demonstrationen anmelden, sie kann Kameradschaftsgrüppchen leiten, sie kann andere Rollen haben so wie auch Frau Zschäpe Bestandteil einer rechtsextremen terroristischen Organisation sein kann, so wie man jetzt ja annehmen kann laut den Entwicklungen dort. Aber es ist halt nicht mehr so getrennt, aber dennoch ist halt die Dominanz von Männern in dieser Szene deutlich.
[M] Herr Preiser, wie kommt das, dass die Rolle der Frau sich gewandelt hat bei den Rechtsextremen?
[SP] Ich denke, es hängt damit zusammen, dass auch insgesamt in der Gesellschaft die Akzeptanz von rechten, von ausländerfeindlichen, von abgrenzenden Haltungen gestiegen ist, die Akzeptanz, also man spricht ja auch seit den 90er Jahren schon davon, dass rechte Einstellungen, nicht die rechtsextremistische und nicht die Gewalteinstellung, aber rechte Einstellungen, abgrenzende, abwertende Einstellungen gegenüber Minderheiten und Ausländern in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Und bei allen Parteien. Also bei Sympathisanten oder sogar Mitgliedern aller Parteien. Das heißt – und so was drückt sich auch in den Medien, in Leserbriefen usw. und auch in den Netzen aus, also, das kriegt man mit oder wird eben signalisiert, wenn man etwas sagt, also man gewinnt den Eindruck, man darf es jetzt sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob tatsächlich die Fremdenfeindlichkeit oder Ausländerfeindlichkeit oder die gruppenbezogene Gewaltbereitschaft zugenommen hat, aber die Bereitschaft, bei Umfragen zuzugeben, dass man das hält, die ist auf jeden Fall gestiegen und damit eben auch die Bereitschaft, in Gesprächen, mit Nachbarn usw. zu sagen: aber eigentlich, und dass die Flüchtlinge alle ein iPad geschenkt kriegen von unserer Regierung, weil die haben ja alle eins, also irgendjemand muss es ihnen ja geschenkt haben, also, solche Aussagen werden dann unwidersprochen erst mal zur Kenntnis genommen und damit ist die Bereitschaft Abgrenzung, Mensch und ich krieg keins, ich hab immer noch das von vor 12 Jahren oder so …
[M] Da spielen dann auch wieder die sozialen Medien eine Rolle …
[SP] Ja, und mit dieser – dadurch dass das also in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist, die Akzeptanz solcher zwar etwas verharmlosender rechter Einstellungen, dadurch sind natürlich auch die Frauen gleichermaßen dann beteiligt daran und finden dann möglicherweise eben auch den Weg hinein und für manche Frauen in der rechten Szene ist das tatsächlich auch ein Weg der Emanzipation, obwohl ja dort in der Regel Ideologien vorherrschen, die die Frauen eher auf eine dienende oder untergeordnete Rolle festlegen – nicht überall, aber in manchen Gruppierungen – es ist plötzlich eine Gruppierung, in der sie trotzdem anerkannt haben, was zu sagen haben und in manchen Gruppierungen eben dann auch wirklich führende Positionen bekommen können. Und dann plötzlich ist das für sie tatsächlich Emanzipation.
[M] Das Wort Anerkennung ist sehr oft gefallen heute bis jetzt schon. Aber kann man denn sagen, dass die Hinwendung zu rechtsextremen Ideen immer aus einer wirklich komplett individuellen Problemerfahrung heraus kommt? Also, es ist ja nicht so, dass ich morgens aufwache und denke, Mensch, heute schreibe ich eine Mathearbeit, ansonsten geht es mir ganz gut, werde ich mal rechtsextrem. Also, ist es wirklich ganz individuell?
[FW] Es ist ein individuelles Bündel. Also, es sind halt mehrere Faktoren, also der eine Faktor, jetzt die Mathearbeit oder das fehlende Auto oder der fehlende Job, der wird es nicht sein.
[M] Nur die Langeweile...
[FW] … Langeweile. Nee, es sind mehrere Ursachen, die letztendlich dazu führen, dass man bestimmte Missstände wahrnimmt, objektive hat wegen meiner und bestimmte Missstände wahrnimmt und dann nach einer politischen Lösung sucht, nach einer gesellschaftlichen Lösung. Dann muss man wiederum aber auf eine entsprechende Gruppe treffen oder auf ein Angebot im Internet treffen, das das letztendlich bestätigt, was man dort sucht. Diese Faktoren, die müssen zusammenkommen. Dann ist es aber immer noch nicht so, dass man damit eine klare politische Haltung, einen Aktivismus und eine Zugehörigkeit zu einer Kameradschaft entwickelt hat, sondern auch da sind dann mehrere Stufen der Entscheidung, dort mitzulaufen, dabei zu sein, möglicherweise Straftaten in Kauf zu nehmen, sich bestimmten Strukturen unterzuordnen oder beziehungsweise bestimmte Aktionen zu machen und umzusetzen, das sind immer wieder Entscheidungen, die letztendlich abgewogen werden müssen und damit auch teilweise sehr bewusste Entscheidungen, also, diese Verantwortungsentnahme, zu sagen, so na ja, man ist da so rein gerutscht quasi wie so mit Schlittschuhen, das finde ich ein untreffendes Bild, weil es immer wieder Entscheidungen sind, ob man sich der Tragweite immer bewusst ist, ist eine andere Frage, aber es sind Entscheidungen, die immer wieder getroffen werden und die auch immer wieder eine Auswirkung, eine Konsequenz aufs Leben haben.
[M] Aber es ist eben nicht so einfach, diese Entscheidung zu revidieren, deswegen gibt es ja auch EXIT, also man wacht ja wiederum nicht an einem anderen Tag auf und sagt, so, jetzt möchte ich doch nicht rechtsextrem sein, ich hab's mir überlegt. Das ist ja auch wiederum ein langer Prozess.
[FW] Genau, das ist ein Stück weit vergleichbar, wenn man mit Aussteigern spricht, werden die immer sagen, na ja, da gab es dann den einen Moment, den Schlüsselmoment, der letztendlich vielleicht diesen Ausstieg angefangen hat. Aber wenn man sich länger unterhält, wird man feststellen, dass davor eigentlich ein viel größerer Zeitraum war, wo schon Zweifel bestanden, wo schon so was wie eine Öffnung da war, um letztendlich diesen einen Moment, der dann später kam, das kann ein irritierender Kontakt gewesen sein, dass kann eine Krise, das kann eine sehr persönliche Erfahrung gewesen sein, der aber erst diese Öffnung möglich gemacht hat, da neu über sein Leben nachzudenken. Und davor waren dann meistens Prozesse – oder sind meistens Prozesse, die teilweise unbewusst oder nicht so bewusst wahrgenommen werden, wo man sich schon mit bestimmten Sachen im Zweifel sieht, ob die Ideologie noch richtig ist, ob diese Idee noch richtig ist oder ob die Struktur, die man dort vorfindet, die ist, die man eigentlich will. Und dann kommt halt dieser eine Moment, und der ist dann der, der dann meistens in Erinnerung bleibt.
[M] Herr Preiser, jetzt haben wir viele Faktoren besprochen. Wie wichtig ist denn der Faktor Angst? Weil, in den Medien, egal was für eine Nachrichtensendung man guckt oder was man auch so anklickt, es ist immer – überall sind Kriege und Krisen und es wird viel Angst geschürt, ob nun mit Absicht oder nicht mit Absicht, lass ich jetzt mal hier offen an dieser Stelle, aber wie wichtig ist Angst, auch bei der effektiven Entscheidung, rechtsextrem sich zu verhalten oder zu sein?
[SP] Ich glaube, für die letztendliche Entscheidung, rechtsextrem zu werden, sind tatsächlich eher solche Gelegenheiten, Anlässe, Kontakte und Berührungen eine Rolle. Aber was man weiß ist, dass Angst – das gilt übrigens auch für Klassenarbeiten und nicht nur im politischen, im gesellschaftlichen Bereich – Angst engt immer ein, engt die Aufmerksamkeit ein und verringert damit die Komplexität, mit der man ein Problem durchdenken kann. Und in Zeiten großer Verunsicherung, ob nun wirtschaftlicher Art oder politischer Art oder die Angst vor Terrorismus, also, da gilt das ganz genauso – in solchen Zeiten greift man gerne nach Lösungen, die überschaubar sind, wo man nicht zu viel abwägen muss, weil das macht wieder Angst. Wenn man eine Lösung sucht, wie kann ich mich schützen, wie kann ich – unsere Gesellschaft, wie kann die sich weiterentwickeln oder wie kann ich wirtschaftlich überleben in einer Krisensituation, diese Angst engt ein, und wenn ich dann abwägen muss, dann macht das nochmal Unruhe und Unsicherheit und da ist die Anfälligkeit für die einfachen Lösungen auf jeden Fall erhöht, weil die das überschaubare, eindeutige Weltbild eben mir liefern und insofern, wenn dann der Kontakt zu rechten Ideologien oder zu anderen Ideologien auftritt, bei manchen ist es auch dann eine ideologische religiöse Orientierung, in solchen Situationen bin ich dafür empfänglich.
[M] Also, lasst euch nicht zu viel Angst machen. Aber wie ist denn das, wir haben eben darüber gesprochen, dass wir...
[SP] Darf ich dazu noch was sagen, genau da liegt die Aufgabe der Politik auch – also zu warnen, dass jetzt auch in der Uckermark Terroranschläge passieren können, wobei das ja nur beispielhaft gemeint war, hat sicherlich zur Verunsicherung beigetragen. Die ganzen Terrorwarnungen erzeugen dann diesen Druck und diese Abwehr auch gegenüber Fremden, wenn keine Lösungen erkennbar sind, das heißt, wenn die Politik auf Probleme hinweist – das sollte sie auch, nicht unter den Tisch kehren – dann sollten damit aber gleichzeitig über das 'Wir schaffen das' hinaus Lösungsansätze vermittelt werden, so dass der Bürger eben auch sagt, die tun was. Und die tun ja tatsächlich was und auch die Bayerische Verwaltung und die Bayerische Bevölkerung hat wahnsinnig viel geleistet, geschafft, als der Flüchtlingsansturm erst mal über Bayern ging. Und wenn da der Ministerpräsident gesagt hätte, ja offensichtlich schaffen wir das, wäre es glaubwürdiger gewesen, als zu sagen, wir schaffen es nicht.
[M] Ja. Beziehungsweise: wir brauchen Geld, wir brauchen Geld. Jetzt seid ihr auch wieder dran, immer her mit euren Fragen, egal ob auf Facebook oder eben auf Twitter, #wirgegenrex ist da das Hashtag. Schreibt uns eure Fragen, ihr könnt die ganze Zeit was sagen, auch Anmerkungen, was auch immer euch einfällt, her damit. Jetzt gehen wir noch den Schritt weiter, was kann die Gesellschaft tun, wir haben es eben schon mal kurz angesprochen und über Sozialarbeit gesprochen, da wollen wir jetzt noch ein bisschen konkreter darüber sprechen. Herr Wichmann, wie funktioniert denn Arbeit gegen Rechts bis jetzt? Also, was gibt es?
[FW] Es gibt da, ja, seit den 90ern schon viele Ansätze, die erprobt worden sind, viele, die verworfen worden sind auch. Generell kann man sagen, dass man in verschiedenen Bereichen – man versucht offline, man versucht online Angebote zu schaffen. Die reichen von Ansprachen, von direkten Diskussionen bis hin zu Gruppenmaßnahmen. Man hat demokratiefördernde Projekte, man hat interventive Projekte, eher präventive Projekte mit Schulen, also man hat da eigentlich ein großes Setting an Möglichkeiten, das man auch ausschöpft, aber ich glaube, dass auch einige Projekte nicht mehr immer die Zielgruppe erreichen und dass auch relativ wenig Projekte sich auf diese konkrete Zielgruppe von rechtsextremen orientieren. Man hat da vereinzelt Angebote der spezifischen Jugendarbeit, aber wo auch fraglich ist, ob man da wirklich noch dieselbe Sprache spricht eigentlich wie die Jugendlichen, die man erreichen will. Daran zu arbeiten, wäre eine große Herausforderung, weil vielleicht bestimmte Konzepte überarbeitet werden müssen und auch einfach vielleicht überkonzeptioniert sind und einfach damit nicht mehr die Zielgruppen erreichen, die man eigentlich will.
[M] Wo sich auch wieder der Kreis schließt zur Langeweile und dem Spaßfaktor usw. wahrscheinlich.
[FW] Ja, und man beschäftigt sich auch viel mit, ja, 12. Klasse, Abitur und das sind aber eigentlich nicht die Zielgruppen, die sind ja die, die dann sagen, ja, wir müssen was machen und die auch schon aktiv sind. Und die Zielgruppen, die letztendlich anfällig sind, die vernachlässigt man dann schnell, weil es auch ein bisschen anstrengender ist, mit denen zu arbeiten als mit der, Entschuldigung, 12. Klasse hier in der Schule.
[M] Und ihr habt euch eben auch genau damit beschäftigt. Der Geschichtskurs nämlich der 12. Klasse hat sich mit Rechtsextremismus-Prävention auseinandergesetzt und da wollen wir wissen – Tim, du erzählst uns, was ihr gemacht habt, was ihr besprochen habt. Wie würdet ihr denn Rechtsextremismus-Prävention machen, selber auch als Schüler?
[Tim] Ja, also, ich bin der Tim. Wir haben bei uns im Geschichtskurs darüber geredet, was man am besten machen könnte gegen Rechts, präventive Maßnahmen. Uns ist aufgefallen, dass ganz oft in der Schule darüber geredet wird, also man sieht im Unterricht, der Geschichtslehrer redet darüber, aber es ist ganz oft nicht greifbar für einen Schüler. Also, bei uns ist es so, wenn sich Erwachsene in Schüler versetzen, reinversetzen müssen, ist es oft schwer, aber es geht einfach darum, dass Schüler am besten interaktiv lernen. Wir hatten da zum Beispiel so ein Beispiel, wie das – dass man zum Beispiel einen Geflüchteten oder tatsächlich einen Rechtsextremisten zum Beispiel in die Schule einlädt, und mal wirklich in den Kontakt mit ihm kommt. Und es wurde auch schon angesprochen, dass Kommunikation ein wirklich wichtiger Faktor ist, um dagegen vorzugehen. Also, wenn man immer nur was davon hört, dann lernt man darüber nichts. Und das war wirklich unsere – die Erkenntnis, zu der wir gekommen sind, dass wir in Kommunikation kommen müssen mit denen. Was uns aber auch noch eingefallen ist, dass man grundlegend eigentlich das – also ich muss mich nochmal kurz sammeln – dass man eigentlich schon von Anfang an, zum Beispiel im Kindergarten oder in der Schule, dieses Denken von Toleranz mit einbinden könnte. Zum Beispiel in der Schule direkt dieses Thema mit Rechtsextremismus in den Lehrplan mit einschließt und das nicht einfach nur so ein Punkt ist, der wird einmal besprochen, und dann geht es weiter. Es ist ja bekanntlich ein Thema, das uns allgegenwärtig betrifft und es reicht einfach nicht, wenn man das einmal kurz bespricht in der Schule und dann unter den Tisch fallen lässt. Also, genau, das war unsere Erkenntnis.
[M] Interessanter Punkt. Wird das zu wenig gemacht tatsächlich? Weil, wenn du jetzt sagst, es wird einmal besprochen und dann ist wieder vorbei, ist das auch Ihre Erfahrung aus der Praxis?
[FW] Ja, ich finde es spannend, weil, es wäre auch so ein Punkt gewesen, Demokratie-Ambulanz – da kommt dann mal jemand in die Schule, macht einen Workshop, die Lehrer sind froh, da hat man mal wieder zwei Stunden überbrückt, und im besten Fall hat der Referent auch noch ein Video dabei und dann ist es halbwegs interessant, und dann gehen alle raus, unterhalten sich noch nett und sagen, schön war's. Das ist aber eigentlich keine Erziehung zur Demokratie, sondern das ist einfach ein bisschen Demokratie-Entertainment oder so. Das ist ein wirkliches Problem, dass man da viel mehr auf die Strukturen eigentlich eingehen muss und die Strukturen einbeziehen muss und Schule wäre da ein Raum, der da einfach viel mehr machen muss, zeitgemäßes Lernen. Und der andere Punkt, der ist auch sehr spannend, also die Koppelung von Geschichte und der Gegenwart war dein erster Punkt. Auch da ist eine Riesenlücke zwischen dem, was vermittelt werden soll, geschichtliche Prozesse, und dem, was auf der Straße passiert. Der Klassiker ist dann, na ja, das war doch '33, damit habe ich doch heute nichts mehr zu tun. Ich lebe doch hier und ich hab da nicht gelebt und meine Eltern auch nicht und was soll das überhaupt. Aber diese Verbindung zu schaffen zwischen den Prozessen im Nationalsozialismus ins Jetzt und in die Verantwortung, also die Verantwortung der Schüler, und der Menschen jetzt zu zeigen, das ist eigentlich die Herausforderung und da müssen wahrscheinlich auch Lehrpläne und Lehrweisen etwas überdacht werden, weil die da ebenfalls, meiner Warte nach, nicht mehr zeitgemäß sind.
[M] Herr Preiser, sagen Sie auch, das wird alles zu wenig vermittelt? Also, dass man wirklich von Kindergarten an die ganze Zeit, in jedem Fach, also genau Toleranz und Akzeptanz und – fällt das ein bisschen unter den Tisch? Wie kommt das?
[SP] Also, in meiner eigenen Schulklasse, in der 12. oder 13., weiß ich nicht mehr genau, da hatten wir einen Tag Vorurteile. Ja, Antirassismus. War ein Tag, war allerdings vorbereitet durch Schüler, aber es war sehr punktuell. Inzwischen gibt es Beispiele, die sind auch veröffentlicht, Beispiele für Konzepte, wie man im Kindergarten arbeiten kann, es gibt Grundschulbeispiele und es gibt Programme, die unter dem Stichwort 'Demokratie lernen' ein ganzes Schuljahr begleitende Aktivitäten in der Grundschule und dann wieder aufgegriffen in der 6. und 7. oder 7. und 8. Klasse macht. Also die Konzepte gibt es und Modellversuche gibt es und von dem ich jetzt gerade sprach, diesem übergreifenden, in Hessen haben da 100 Schulen mitgemacht bei diesem Konzept. Also, es gibt es schon, die Erkenntnis ist da, die Umsetzung – ja, es gibt ganz viele Gewalt-Präventions-Projekte oder sonstige Projekte und alles kann die Schule nicht gleichermaßen machen und sie muss als erstes mal gucken, wo ist denn der größte Bedarf, das größte Anliegen in unserer Region und in unserer Schulgemeinde. Und dann aber tatsächlich zu sagen, das ist nichts, was ein Lehrer oder ein externer Referent mal an einem Vormittag macht, sondern etwas, was begleitend laufen muss. Das ist der Bildungsaspekt. Der andere Aspekt, den Tim gesagt hat, der erscheint mir mindestens genauso wichtig, nämlich Erfahrungen schaffen, Kontakte schaffen, und eben auch Kontakte zu eher rechten Ideologien. Mir hat ein Pfarrer erzählt, dass da ein verschüchterter junger Mann zu ihm gekommen ist, in die kirchliche Jugendgruppe, und hat gesagt, darf ich denn hier mitkommen mit meiner Freundin, dann sagte er, natürlich darfst du, warum fragst du denn? Na ja, ich bin ein Rechter. Ja, also diese Selbstklassifikation, die dann auch zur Abgrenzung führt, dass er sagt, da trau ich mich dann nicht hin, das ist ja was ganz anderes, ja, eine Einladung zu kriegen und erzähl doch mal, was – erzähl von deinen Überzeugungen und nicht dann gleich mit der Moralkeule kommen, sondern ihn reden lassen, und wenn es gelingt, ihn dann tatsächlich auch mit einem Geflüchteten in Kontakt treten zu lassen und im Dialog, dann kann daraus für die ganze Schulklasse oder die Arbeitsgruppe etwas Sinnvolles werden, aber vielleicht auch für den Betreffenden, der sagt, na ja, alle sind ja nicht so, wie ich geglaubt habe. Und auch der Rechte ist nicht nur böse, sondern er hat halt ein böses Weltbild sage ich mal, ein für mich nicht akzeptables. Und wenn ich dann den Begriff 'böse' auch noch vermeiden kann, umso besser. Ein Weltbild, das ich so nicht akzeptieren kann, weil das für mich nicht gleiche Menschenwürde für alle beinhaltet.
[FW] Wo man da auch glaube ich gucken muss, dass man da nicht den Geflüchteten zum Versuchstierchen macht und dann guckt, was da passiert eigentlich. Grundsätzlich ja, also Begegnung, Austausch, aber ich glaube, man muss da wirklich vorsichtig sein, wie man damit letztlich umgeht und inwiefern man dort Opferrollen quasi verdreht, sondern dass man da die Rollen klar auch noch im Blick hat. Und bei der Frage von der Schule, denke ich auch, dass auch Schulen da überfrachtet werden mit Angeboten, deswegen – umso wichtiger wäre es eigentlich, dass man das nicht zu einem Bestandteil von so einer Demokratie-Ambulanz macht, dass man mal schnell da irgendwas macht oder vielleicht mal drei, vier Mal was macht, sondern dass es eher eigentlich ein Bestandteil von Schule als Lebens- und Lernraum ist. Und damit jetzt nicht vielleicht hervorgehoben, wir haben heute das Demokratie-Fach, sondern vielleicht einfach dass Demokratie als Prozess in der Wahrnehmung ein fester Bestandteil des Schulalltag werden muss und dass man dran verstärkt arbeitet.
[SP] Das ist der eine Punkt, der andere Punkt, der entscheidend ist, ob solche Präventions-Projekte wirksam sind, ist die Vernetzung. Also nicht nur die Schule, sondern dann auch gemeinsam mit den örtlichen Sportverbänden oder in vielen Orten gibt es einen Runden Tisch der Prävention, der Gewaltprävention, und der natürlich dann auch die Rechtsextremismus-Prävention beinhaltet.
[M] In dem Zusammenhang wollte ich den Tim tatsächlich auch nochmal ansprechen, weil, du hattest ja eben auch gesagt, einen Rechtsextremen einladen. Und wir haben ja eben schon gesprochen, rechtes Gedankengut kommt immer mehr in die Mitte der Gesellschaft, in die so genannte, immer mehr zu Leuten, die bis vor kurzem sich nicht selbst als irgendwie rechts gesehen hätten. Kennst du Leute mit rechtem Gedankengut oder rechtsextremem, kennst du Leute, die sagen, na man wird doch wohl nochmal sagen dürfen. Weil, es wirkte eben, als du davon erzählt hast, sehr fern von dir.
[Tim] Also, ich persönlich hab tatsächlich eine Erfahrung damit. Das bezieht sich jetzt zwar nicht direkt auf Deutschland, es spielt sich in Amerika ab. Es ist auch komplett egal, um wen es sich dreht, es ist einfach so, dass diese Person in der Schule ganz oft leise war oder sich zu diesem Thema nicht geäußert hat, und dann in dem Moment, wo sie weg ist, von allen – denken die sich, dass sie so jetzt endlich sagen können, was sie meinen. Also, sie können irgendwie, davor wurden sie immer ein bisschen unterdrückt vielleicht und jetzt haben sie endlich die Möglichkeit, sich dazu zu äußern. Also das ist meine Erfahrung. Tatsächlich hier in der Schule eher selten.
[M] Und draußen irgendwie, Freunde, Nachbarn, Sportverein?
[Tim] Also, es gibt im Verein usw. eher weniger, vor allem hier im Prenzlberg, muss man so sagen, es ist tatsächlich eher selten. Eher in der Familie ab und zu mal, eher rechtes Gedankengut, überhaupt nicht Neonazi-mäßig, es ist eher rechtes Gedankengut, also das ist allgegenwärtig.
[M] Also, allgegenwärtig sagst du, auch in Social Media, Facebook ...
[Tim] … auf jeden Fall.
[M] ... twitterst du, kriegst du das mit, was kann man da machen?
[Tim] Auf jeden Fall. Also, was man dagegen machen kann – ich finde diese Aktion supercool, da wurde vorher nur kurz darauf eingegangen von Ihnen, Hass gegen Hass hieß das glaube ich, so welche Aktionen, die sich hauptsächlich über das Internet abspielen, die sind extrem wichtig, die sind essentiell. Es spielt sich die meiste Zeit alles nur noch im Internet ab, wenig nur noch öffentlich oder auf anderen Plattformen, vieles im Internet. Und da ist auch der deutsche Staat meiner Meinung nach viel zu wenig präsent im Internet.
[M] Mhm. Da hinten gibt es auch noch eine Wortmeldung.
[Schüler] Ja, ich kenne jedenfalls auch Leute aus meinem Umfeld, die zum Beispiel extrem gegen Serben sind, also, ich bin ja Kroate und wir hatten vor 20 Jahren Krieg dort, und ja, es gibt da jetzt so eine Bewegung, Spremni za dom, die wird jetzt gerade richtig groß in Kroatien. Die rechte Partei bei uns ist jetzt auch stimmenstark wieder, was vor ein paar Jahren nicht zutreffend war. Ja, und ich kenne schon recht viele Leute.
[M] Hast du irgendwelche Ideen, was man dagegen machen kann? So generell im Netz? Also, Kontra geben oder einfach ignorieren?
[Schüler] Keine Ahnung, weil – ich bin ja jedes Jahr unten und ich merk das auch, die Stimmung, die dort ist, also, es ist gerade in der Politik wieder sehr angeheizt. Und fast jeder unten ist so bisschen gegen die Serben und ist auch von der anderen Seite uns gegenüber so teils, das merkt man schon. Und ja, ich habe jetzt keine Idee, was man dagegen tun kann.
[M] Also, Ratlosigkeit eigentlich an vielen Ecken auch zu dem Thema. Würden Sie denn sagen, die politische Bildung hat teilweise auch versagt? Weil, Sie haben ja eben auch schon sehr emotional gesagt, es muss eine ganzheitliche politische und demokratische Bildung sein.
[FW] Ich würde jetzt nicht sagen, dass sie versagt hat, aber ich glaube, dass sie manchmal an den falschen Stellschrauben oder an den falschen Punkten angesetzt hat und ein Stück weit auch davon ausgegangen ist, dass man Demokratie und demokratische Bildung quasi einfach mitbekommt.
[M] Die ist halt gegeben, die ist halt da.
[FW] Die ist da, die muss nicht erarbeitet werden, die ist da und alle finden es schön und irgendwann wird alles besser. Und das ist glaube ich nicht so, Demokratie ist Konflikt, Demokratie sind Aushandlungsprozesse, die sind schwierig, die ist zäh und langwierig zuweilen und das muss man vermitteln. Und da muss man auch Möglichkeiten, Ideen entwickeln, wie man das vermitteln kann und wie man die Werthaftigkeit von dem, von der Demokratie, die man da hat, herausstellt, und nicht nur sagt, Demokratie ist gut, sondern erklärt, warum eigentlich, wo sind die Vorzüge.
[M] Also die Demokratie an sich ist so ein bisschen vernachlässigt worden quasi, weil sie als gegeben angesehen wurde?
[FW] Genau, das Wort ist nicht vernachlässigt worden, aber die Demokratie als Idee.
[M] Lässt sich denn aber demokratisch-politisches Denken lernen? Also, kann ich vermitteln, so geht es?
[SP] Das sind zweierlei Dinge. Das Vermitteln, also der Bildungsprozess, der politische Bildungsprozess, der muss sein, man muss was wissen über die demokratischen Strukturen, Prozesse usw., man muss die Formalia kennen, das ist das, was in der Regel wahrscheinlich doch vollständig im politischen Unterricht oder Gesellschaftskunde oder wie das unterschiedlich heißt, vermittelt wird als Information. Aber das ist noch nicht politisches Lernen. Politisches Lernen heißt, das ist ein aktiver Prozess der Jugendlichen, der Schülerinnen und Schüler, das muss aufgenommen werden, verarbeitet werden, und da kommt zu der Information einfach die Erfahrung dazu. Das heißt also, man braucht Erfahrung in beispielsweise konstruktiven Dialogen, wie redet man miteinander, wie kann man unterschiedliche Meinungen aushandeln, ohne den anderen zu verletzen. Wie kann man argumentativ in Konfliktsituationen, in Dilemmata argumentieren, also beispielsweise die Frage, die in diesem Begriff, die in diesem Fernsehstück Terror deutlich gemacht wurde, kann man, darf man ein Flugzeug abschießen, um damit das Menschenleben von vielen anderen zu retten, die sonst das Ziel wären. Über solche Dilemmata zu reden, die also relativ nah sind an Szenen, die man sich vorstellen kann, das muss auf jeden Fall mit dazu. Und das dritte ist eben das, worüber wir am Anfang gesprochen haben, die Lebensumstände müssen so sein, dass man überhaupt offen ist für Angebote in dieser Gesellschaft, mit diesen Medien, die hier da sind und nicht von vornherein irgendwo sich ausgegrenzt fühlt. Zu der Frage, was kann dazu beitragen, Vorurteile oder Abgrenzung zwischen Menschen zu reduzieren, da gibt es ja sehr lange Erfahrungen, beispielsweise aus den Zeiten der Rassendiskriminierung, aus den massiven Zeiten der Rassendiskriminierung in den USA, die gibt es ja auch jetzt noch, Kontakt erzwingen. Aber Kontakt, der erzwungen wird mit einer positiven Perspektive, das heißt, es muss Spaß machen oder man muss etwas erreichen können dadurch. Und genau so etwas gibt es aktuell, beispielsweise Initiativen, die Ferienlager für kroatische, serbische und bosnische Jugendliche machen. Oder Ferienlager mit Israelis und Palästinensern. Und die gemeinsam dann beispielsweise ein Theaterstück erarbeiten, die aber vorher natürlich erst mal mit ihren ganzen Vorbehalten, in vielen Fällen berechtigten Vorbehalten ...
[M] … Erfahrungen, Menschen treffen, rausgehen. Es hat aber tatsächlich auch noch eine Wortmeldung gegeben von euch. Wer hatte sich eben noch gemeldet?
[Schülerin] Ich wollte nur dazu sagen, dass, was mir manchmal auffällt, was so ein bisschen fehlt, glaube ich, erstens die Fähigkeit ist, Informationen zu hinterfragen, was glaube ich auch so ein bisschen damit zu tun hat, dass man das nicht unbedingt beigebracht kriegt. Also Beispiel, ab einem bestimmten Punkt wird in der Schule Internet-Recherche vorausgesetzt als Fähigkeit. Es wird nicht vermittelt. Also, wurde bei mir zumindest jetzt nicht. Dann hat man Leute, die halt einfach aus irgendwelchen Blogs raus zitieren munter lustig, und nicht halt hinterfragen, ob das, was da auf meiner Internetseite, die ich gerade als Quelle angebe, auch – wer das schreibt. Und dass nicht nur bei Wikipedia jeder alles reinschreiben kann, sondern dass auch andere Quellen nicht unbedingt zuverlässig sind. Und die zweite Sache: dass die Leute manchmal nicht Muster übertragen können auf andere Situationen. Also dass zum Beispiel – dass es funktioniert zu sagen, ey wir sind doch gar nicht rechts, wir haben sogar einen Schwarzen in der Partei, so wie jetzt bei, keine Ahnung, Pro Deutschland. Und das die Leute nicht verstehen, dass es halt eigentlich immer das gleiche Muster ist, so, dass es egal ist, ob es jetzt Antisemitismus ist oder Antiziganismus oder was auch immer. Also, genau, dass man dieses – einerseits das Hinterfragen und andererseits das Auf-eigene-Situationen-Beziehen irgendwie nicht gegeben ist, glaube ich, teilweise. Das auch einfach so ein Schutzreflex ist von wegen so, nee, mit der Nazizeit hat das bei uns gar nichts zu tun, weil das war ja mal viel zu krass, das gibt es gar nicht.
[M] Also, das Hinterfragen und eben tatsächlich auch das Lernen vom Hinterfragen, das einfach zu lernen und tatsächlich zum daily business zu machen und nicht irgendwie nur einmal bei einer Internet-Recherche, selbst dann zu vergessen, sondern wirklich, das ist eine Lebenseinstellung, ich denke nach und nehme nicht alles auf, was mir serviert wird. In diesem Zusammenhang wäre die Frage nochmal an Sie, was wünschen Sie sich denn von der Rechtsextremismus-Prävention, wenn jetzt eine Fee kommen würde und sagen würde, Sie haben drei Wünsche frei. Also, was fehlt, was muss jetzt wirklich noch passieren?
[FW] Ach, ein Buffet. Also, ich glaube, dass halt ein abgestimmter Maßnahmenplan entwickelt werden muss, der spezielle Zielgruppen im Blick hat, der eine breite Möglichkeit an Prävention schafft, der gleichzeitig aber auch die, sagen wir mal, Umstände der Träger, die diese Projekte dann umsetzen sollen, abgestimmt ist, der bürokratiearm ist, eine gewisse Flexibilität aufweist, um halt die Bedarfe und die Projekte und Prozesse anzustoßen, die man irgendwie braucht. Und der größte Wunsch ist eigentlich, dass man es halt nicht verlagert auf spezielle dafür Berufszuständige, sondern dass man es als gesamtgesellschaftliche, politische, gesellschaftliche und dann die Berufsbetroffenen – als Herausforderung für all diese Gruppen erkennt und dann zusammen da eine Lösung erarbeitet.
[M] Also als Gesellschaft.
[FW] Genau.
[M] Überall. Bei Facebook, beim Dönerladen, egal wo ich bin.
[FW] Ja. Ja. Das ist die Utopie.
[M] Alles klar.
[SP] Ja, also diese Vernetzung ist natürlich auch das, was ich als das Notwendige und Hilfreiche ansehe und die Vernetzung einerseits natürlich auf der großen Ebene, dass also die Verbände und die Regierungs- und die Bildungsinstitutionen versuchen, Konzepte zu entwickeln, aber die Vernetzung und die Umsetzung muss vor Ort geschehen. Und die ist natürlich im Schwalm-Eder-Kreis, das ist irgendwo in Hessen, anders als in der Uckermark oder eben in einer Großstadt wie Berlin oder Dortmund. Also, überall sind die Bedingungen anders, die Ängste anders und damit der Umgang damit. Ich würde zum Schluss gerne noch etwas hinweisen, was mich selbst sehr enttäuscht hat, als ich mir angeguckt habe, welche Maßnahmen gegen Vorurteile – und das ist ja bei uns auch mit ein Thema, das ist nicht der ganze Rechtsextremismus, aber es gehört mit dazu – welche Maßnahmen sind denn wirksam. Und die Bildungsmaßnahmen kamen in dem 10-Punkte-Katalog bei sieben oder acht. Was am wirksamsten war, waren Gesetze, die diskriminierendes Verhalten unter Strafe stellen. Und das ist das, was bei uns in der Wirtschaft, in der deutschen Wirtschaft am effektivsten war, das Antidiskriminierungsgesetz, das Firmen massive Geldstrafen androht und Entschädigungszahlungen, wenn sie nachweisbar diskriminierende Personalentscheidungen treffen. Das führt natürlich in erster Linie dazu, dass die verdeckt werden, dass sie unter den Teppich gekehrt werden und so getan wird, als gäbe es die nicht, aber man ist vorsichtiger geworden. Und das wiederum schafft ein neues gesellschaftliches Klima, auf das kommt es letztendlich an, nicht auf die Strafverfolgung und die Geldstrafen, sondern auf das Klima, dass inzwischen jeder weiß, wenn ich Frauen gegenüber Männern benachteilige oder wenn ich Menschen mit ausländisch klingendem Namen schon bei der Auswahl der Bewerbung benachteilige, kann mir eine Unterlassungsklage oder eben tatsächlich eine Schadenersatzklage drohen, und dieses Klima 'Aufpassen' und wirklich alle Menschen gleich welcher Rasse, Ethnie, Hautfarbe, Konfession und sexueller Orientierung als gleichwertig anzusehen – nicht als gleich, aber als gleichwertig – diese Haltung muss sich verbreiten in der Welt als gesellschaftlicher Konsens.
[M] Und da sind wir ja dann eben auch jeden Tag gefragt, deswegen ist es tatsächlich auch interessant, das Hinterfragen muss vermittelt werden, aber wir müssen ja jeden Tag auch überlegen, warum wir manche Sachen nicht hinterfragen usw. Vielleicht hast du auch nochmal eine Idee genau dazu, wie das denn funktionieren könnte?
[Schülerin] Was mir dazu ein bisschen aufgefallen ist, ist, dass glaube ich auch dieses Nicht-Hinterfragen teilweise sogar ein bisschen anerzogen wird. Nämlich dass zum Beispiel der Lehrer halt Sachen sagt im Unterricht und diese Sachen, diese Informationen, die der Lehrer weitergibt, die werden einfach nicht hinterfragt. So. Dadurch dass es halt auch nicht – dass dadurch dieses Prinzip 'Informationen kommen von oben', kommen von einer Person, die ich als sage ich mal in diesem Gebiet bewandert ansehe, nicht hinterfragt werden, und dass dieses System dann übertragen wird auf andere Leute, die man denkt, die dann halt irgendwie in einer Lehrer-Situation sind und die dann halt teilweise halt auch irgendwie rechtes Gedankengut transportieren. Also jetzt nicht unbedingt Lehrer, sondern halt, keine Ahnung, der was auch immer für ein Gruppenleiter.
[M] Okay. Also du fühlst dich tatsächlich eher so, als solltest du eben genau nicht widersprechen besonders viel oder …
[Schülerin] Es wird nicht unbedingt dazu angeregt, sage ich nur. Ich glaube, dass dieses 'Es wird nicht dazu angeregt' teilweise schon ausreicht, dass man einfach nicht von alleine sag ich mal auf die Idee kommt, dass dieses Grundprinzip schon – genau schon genug ist. Es muss nicht unbedingt – es ist jetzt natürlich nicht so, dass ich wenn ich mich melde im Unterricht und sage, Entschuldigung, ich finde das anders oder so, oder, stimmt das gerade wirklich so …
[M] … dann musst du rausgehen …
[Schülerin] … dass ich dann – werde ich auch nicht in die Ecke gestellt, ist schon klar. Aber es ist doch tatsächlich unglaublich selten, dass ein Schüler das macht, glaube ich. Also tatsächlich – die Informationen, nicht unbedingt Meinungen, bei Meinung ist noch häufiger, wenn es jetzt um Diskussionen oder so geht, aber bei puren Informationen ist es selten, dass tatsächlich wir irgendwie dazu angeregt werden, zu hinterfragen oder uns selber zu informieren.
[M] Es gibt da viele Stellschrauben noch tatsächlich. Also, es ist ja auch interessant, die Wahrnehmung, dass es so ist und so, aber da werden Sie wahrscheinlich auch irgendwie schon Gespräche geführt haben.
[FW] Aber ist schon ein interessanter Aspekt halt die kritische Analyse von Informationen im Unterricht, aber auch gleichzeitig im Netz, also, es steht ja bei Facebook, also muss es wahr sein, so in die Richtung, so verbreiten sich ja die abstrusesten Ideen, Hauptsache es ist ein Bildchen und ein Text da drüber und schon muss es ja irgendwie einen Wahrheitsgehalt haben. Und da fehlt doch viel an Medienkompetenz, um diese, ja, Fake-Meldungen zu dekodieren und diese kritische Analyse, die kann man in der Schule lernen, klar, und das muss auch ein Bestandteil sein und das wird auch zukünftig eine Herausforderung sein, weil es betrifft ja nicht nur das Thema Rechtsextremismus, das ist ja viel weiter, also diese kritische Analyse von Sachbeständen und von Tatsachen, das ist eigentlich eine Grundvoraussetzung für eine kritische und reflexive und demokratisch orientierte Lebensführung.
[M] Und deswegen sind wir heute hier gewesen, wir sind immer noch hier, aber wir sind jetzt fertig, es gibt übrigens auch natürlich fantastische Materialien auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung, wenn man recherchieren möchte und es gibt super Bücher, die immer interessant auch sind und toll und man kann gut recherchieren da. Ich will mich bedanken bei allen, die jetzt im Netz uns zugeschaut haben. Und ja, wir haben gelernt, der Mike, den gibt es so erst mal nicht, es gibt nicht nur Mike, sagen wir mal so, es gibt nicht die rechtsextreme Biografie, es kann unterschiedliche Faktoren geben, wir haben Möglichkeiten der Prävention durchgesprochen, Sachen, die gut funktionieren, Sachen, die noch nicht so gut funktionieren, wo man noch dran arbeiten kann. Und vielen Dank auf jeden Fall für eure Mitarbeit auch an dieser Diskussion, vielen Dank fürs Hiersein. Und ja, ansonsten würde ich sagen, wenn ihr zu spät zugeschaltet habt und jetzt sagt, huch, jetzt habe ich alles verpasst, nein nein, man kann sich das Ganze nochmal anschauen und dann auch teilen. Ihr findet den Stream dann bald vollständig im Netz auf der Seite auch der Bundeszentrale und, ja, wir bedanken uns bei den beiden Experten, vielen vielen Dank fürs Hiersein und vielen Dank fürs Zuschauen und bis zum nächsten Mal.
Fragen aus sozialen Netzwerken oder per E-Mail:
1. Welche Faktoren begünstigen Entwicklung der Sozialen und interkulturellen Kompetenz? 2. Was versteht jeder einzelne unter diesen Begriffen? Wie wird dieses im tagtäglichen Leben umgesetzt / gelebt? Besonders interessant empfinde ich dies in Bereichen: Bildung und soziale Arbeit als große und wichtige Säulen des gesellschaftlichen Lebens. 3. Worin besteht der Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz? 4. Wie wird der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes verstanden und gelebt 5. Wie wird gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch die tatsächliche Verantwortungsübernahme für getroffene Entscheidungen gelebt? Und schließlich: 6. wie entsteht Radikalismus (jeglichen Art)? Wofür kann dieser missbraucht werden? Von wem, weshalb und wofür? Danke!
Mein persönliches und somit subjektives empfinden: diese Fragen ähneln den Knoten eines roten Pfandes, der zur Klärung der Ursachen führen kann, könnte, dürfte. Mich würde interessieren, inwieweit Radikalisierung und Devianzerfahrungen zusammenhängen. Ist das wirklich ein Automatismus, wie es manchmal suggeriert wird? Ist es nicht vllt nachvollziehbar, dass sich die Abneigung von Menschen gegen eben genau gegen die richtet für die alle um Toleranz werben, weil sie sich lange Zeit für Minderheiten stark gemacht haben und nun selber leiden, jedoch kein Gehör finden weil sie zu keiner "Trendminderheit" gehören?
Nehmt den Leuten die Würde, nehmt ihnen das letzte Geld (HartzIV-Sanktionen) und bezahlt sie mies (Leiharbeit, Werksverträge) und erzählt ihnen dann jahrelang, das sei alternativlos. => Nutzerthese zur Radikalisierung. Was ist da dran?
Freiheit, Heimat und Identität: Welche Zusammenhänge zwischen diese 3 Begriffe gibt es? Eine ganze Menge wenn man es mit der Bindungstheorie (z.B. bei Karl-Heinz Britsch) in der Entwicklungspsychologie beleuchtet.
Genauso wie GMF ein Schutzmechanismus ist gegenüber seiner eigene Selbstunsicherheit ist.
Wie gefährlich ist es, Rechtsextreme als "dumm" abzustempeln? Guter Topic für die Schule: Was sind Vorurteile, wie wirkt es im Gehirn, woher kommt es. Ist ein ganz normaler Prozess der Jugend.
Die leute sitzen so lange auf ihrem popo bis sie kein Geld mehr Haben und dann bin ich gespannt? Im Angesicht des um sich greifenden Populismus in Deutschland: Hat die politische Bildung der Vergangenheit versagt?
Was kann man machen wenn Freunde anfangen rechtspopulistische Dinge auf Facebook zu posten?
Änderung soll schon im Elternhaus stattfinden, was gibt man die Jugendliche zuhause mit? Kennt man die deutsche Geschichte? Hat man mal einen KZ Lager besucht und gesehen was passiert ist?
Einer der besten Präventionen gegen Rassismus ist die Aufklärung der Kinder und Jugendlichen in der Schule. Hier geht es nicht nur um unsere Geschichte, sondern auch um das vergangene mit dem heute zu Verknüpfen.
1x pro Monat, Demokratie & Geschichte auf dem Lehrplan als zurückkehrendes Element. Wenn eins meiner 5 Kinder je zuviel rechts liken würde, nehme ich sie mit nach Auschwitz und wir werden es da anschauen und diskutieren wie es so weit kommen konnte. Danach einen Plan machen was denn im Alltag fehlt das man so denkt, warum zu so einer Gruppe gehören zu wollen und was eine positive Alternative wäre anstatt destruktives Denken…
Änderung soll schon im Elternhaus stattfinden, was gibt man die Jugendliche zuhause mit? Kennt man die deutsche Geschichte? Hat man mal einen KZ Lager besucht und gesehen was passiert ist?
Was kann man machen wenn Freunde anfangen rechtspopulistische Dinge auf Facebook zu posten?
Mich würde interessieren, ob Sie die Arbeit mit Fallbeispielen von (ehemals) rechtsextremen Jugendlichen als geeignet erachten, um sich die Ursachen von rechtsextremen Einstellungen und Verhalten zu erschließen.
Denkanstöße und einen ersten Einblick in das Themenfeld gewährt der Interner Link: Text von Eva Eggers.
Fragen für den Einstieg:
Transkript und Fragen zum Webtalk am 24.11.2016: Der rechte Weg? Welche Faktoren begünstigen eine rechtsextreme Radikalisierung und was kann man dagegen tun?
[Moderation] Herzlich willkommen zum interaktiven Webtalk der Bundeszentrale für politische Bildung. Heute sind wir zu Gast in der Kurt-Schwitters-Oberschule in Berlin. Ein ganz herzliches Willkommen daher euch allen. Hallo, schön, dass ihr da seid, herzlich willkommen. Mein Name ist Diane Hielscher und unser Thema heute ist: Der rechte Weg – welche Faktoren begünstigen eine rechtsextreme Radikalisierung und was kann man vor allem auch dagegen tun. Und hier sitzen zwei Schulklassen im Publikum, einmal die 10-5 und der Geschichtskurs der 12. Klasse, die zu diesem Thema schon gearbeitet haben, sich darüber im Unterricht unterhalten haben und wir werden auch gleich noch mal mehr von euch hören dazu, zu diesem Thema. Außerdem werden wir mit den beiden Experten sprechen, die hier sind. Ich freue mich sehr, sie vorstellen zu können, herzlichen – Glückwunsch hätte ich fast gesagt – herzlich willkommen meine ich natürlich. Einmal haben wir Fabian Wichmann von der ZDK, Gesellschaft Demokratische Kultur, er ist auch von EXIT-Deutschland, Deutschlands bekanntestem Aussteiger-Programm für Rechtsextreme, außerdem Initiator der vielfach ausgezeichneten Initiative Rechts gegen Rechts und #hasshilft, die nämlich für jeden menschenverachtenden Kommentar im Internet einen Euro Spende für Flüchtlingsprojekte der Aktion Deutschland Hilft und EXIT-Deutschland sammelt. Sehr schöne Idee, die ging auch sehr viral im Netz, nicht? Außerdem bei uns Prof. Dr. Siegfried Preiser, er ist Psychologe und seit 2010 Rektor der Psychologischen Hochschule Berlin, Professor für die Psychologie lebenslangen Lernens. Und er ist Vorstandsmitglied der Sektion Politische Psychologie und Koordinator des Expertenbeirats Prävention von Gewalt, Rechtsextremismus und Interkulturellen Konflikten. Herzlich willkommen. Ich bin die Moderatorin, mein Name ist Diane Hielscher, ich mache solche Sachen sehr gerne und häufig und bin ansonsten im Radio zu hören bei DRadio Wissen. Und bevor es losgeht, möchte ich euch alle einladen, und zwar die Menschen natürlich, die hier sind, die Schüler und Schülerinnen, aber auch ihr, die ihr jetzt gerade am Rechner sitzt. Macht mit, schreibt uns, zum Beispiel unter dem Hashtag bei Twitter #wirgegenrex, mit X, genau, am Ende oder bei Facebook. Wenn ihr Fragen habt, wenn ihr Anmerkungen habt, wenn ihr auch an die Experten irgendwas richten möchtet, macht einfach mit, ich werde das dann erfahren, ich hab hier ein iPad auf dem Schoß und da wird das dann alles stehen, es wird bei uns ankommen, will ich damit sagen. Ihr könnt auch auf der Seite der Bundeszentrale einfach direkt mitmachen, da gibt es dann auch eine Umfrage bzw. zwei sogar, die wir im Laufe der Veranstaltung noch besprechen werden und natürlich auch die Ergebnisse klären dazu. Und dann fangen wir einfach mal an. Wer sind eigentlich diese Rechtsextreme, also, Herr Preiser, von wem sprechen wir denn eigentlich, was bedeutet 'rechtsextrem'?
[Siegfried Preiser] Es gibt inzwischen glaube ich hunderte von Definitionsversuchen und Abgrenzungsversuchen und alternativen Begriffen, die man verwenden kann, aber traditionell werden eigentlich zwei Kriterien herausgestellt. Das eine ist eine Ideologie, also ein Glaubenssystem von Ungleichwertigkeit der Menschen, das sich in der Regel zur Abgrenzung gegenüber als weniger wertvoll geachteten Menschen eben herangezogen wird, beispielsweise gegen Ausländer, gegen Behinderte, oft auch gegen Frauen, Flüchtlinge und so weiter. Und das zweite Kriterium, das aus einer rechten Einstellung eine rechtsextremistische oder rechtsextreme Einstellung macht, ist die Gewaltbereitschaft, nämlich die Bereitschaft, seine Überzeugung von der Überlegenheit bestimmter Rassen, bestimmter Ethnien oder bestimmter Persönlichkeits – Führerpersönlichkeiten beispielsweise gegenüber den anderen notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Das fängt an in der Mitte der Gesellschaft mit der stillschweigenden Akzeptanz von gewalttätigen Übergriffen, geht hin bis zur Propagierung von Gewalt und letztendlich zur faktischen Umsetzung, etwa gegen Flüchtlingsunterkünfte.
[M] Also man ist nicht rechtsextrem, nur wenn man Gewalt ausübt?
[SP] Die Ausübung von Gewalt ist etwas, was wir bei ganz vielen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sehen, was mit diesem rechten Menschenbild, das diese Ungleichwertigkeit von Menschen beinhaltet, nicht zwangsweise etwas zu tun hat. Die meisten rechtsextremen, die wegen Gewalttätigkeiten massiv aufgefallen sind, waren auch schon vor ihrer rechten Ideologisierung gewaltbereit und kommen aus gewaltbereiten Haushalten.
[M] Herr Wichmann, wie sieht es denn aus mit den Zahlen? Wie haben sich zum Beispiel die Zahlen entwickelt in den letzten Jahren? Gibt es mehr, gibt es weniger? Man hat ja immer so ein Gefühl, oh jetzt ist es wieder stark gestiegen, die Zahlen, ist das tatsächlich so? Wie sieht es da aus?
[Fabian Wichmann] Grundsätzlich gilt erst mal zu unterscheiden, dass wir Einstellungen haben und Verhalten. Wenn wir uns die Einstellungsmuster anschauen, dann sehen wir schon, dass wir da einen Anstieg haben, und kontinuierlichen Anstieg haben, und im Bereich des Verhaltens, also wir haben jetzt aktuell immer so zwischen 20 000 bis 23 000 organisierte Neonazis in Deutschland, davon um die Hälfte herum dazu noch gewaltbereit, militant. Das unterscheidet sich immer von Jahr zu Jahr etwas, aber ist eigentlich relativ konstant über die Jahre. Man sieht aber, dass dieser Bereich von diesen militanten Neonazis über die Jahre etwas abgenommen hat in den gewalttätigen Aktionen. Also seit 2008 waren zunehmend weniger Straftaten, die verzeichnet worden sind. Dieser Anstieg ist aber spätestens seit 2014 rückläufig, also stärker werdend, wir haben jetzt seit 2014, 2015 und auch in diesem Jahr werden die Zahlen eher so sein, dass sie dramatisch ansteigen. Also, wir sprechen da von bis zu 30 Prozent mehr Straftaten, politisch motiviert rechte Straftaten im Gegensatz zum Jahr davor.
[M] Gibt es dazu vielleicht direkt Fragen hier? Wenn ihr irgendwie was sagen wollt oder Fragen habt, dann meldet euch einfach, ich sehe euch dann schon. Nein? Ansonsten auch im Netz, wie gesagt, twittert uns an, #wirgegenrex oder schreibt uns unter Facebook Kommentare oder Anmerkungen vielleicht auch, dafür sind wir ja heute da. Ansonsten ist es auch in dem Zusammenhang spannend natürlich zu wissen, wie und warum radikalisieren sich Menschen und vielleicht sogar auch, wann. Also, man hat ja ganz oft diese Klischees, die vielleicht auch von den Medien kolportiert werden oder die jetzt schon seit Jahren im Raum stehen, also, der Rechtsextreme, der hat keinen Schulabschluss, der ist meistens männlich, der kommt wahrscheinlich aus schwierigen familiären Verhältnissen, das hatten wir, vielleicht gibt es da Gewalt in der Familie, Alkoholmissbrauch spielt oft eine Rolle, er wird dann manchmal, also in irgendwelchen sagen wir mal Artikeln oder Expertenrunden, Mike dann genannt und so weiter, und der hat jetzt eben diese Biografie und darüber wollen wir auch sprechen. Ist das tatsächlich so, sind das Klischees oder gibt es da irgendwelche Zahlen und Fakten dazu? Und deswegen wollen wir von euch wissen, was glaubt ihr, woher kommt Mike, woher kommt dieses Klischee, also wir wollen euch im Netz fragen und natürlich auch hier. Wir haben hier lustige bunte Zettel verteilt auf euren Stühlen und die wollen wir jetzt zum Einsatz bringen. Ihr könnt auch auf der Seite der Bundeszentrale im Netz mitmachen, da gibt es kleine Pünktchen, die man anklicken kann. Vergleich Ost-West, wo sind die neuesten – Leipziger Mitte-Studie, derzufolge ausländerfeindliche Einstellungen bei den 14- bis 30-Jährigen häufiger zu finden sind. Und das ist jetzt eben die Frage an euch: a) in Westdeutschland, das ist dann die blaue Karte, die ihr in der Hand habt. Oder b) in Ostdeutschland, das wäre dann die gelbe Karte. Haltet mal hoch, wir wollen mal gucken. Hundert Prozent! Wirklich, keine blaue, keine einzige? Eine blaue da hinten! Doch nicht. OK, gelbe Karte: 100 Prozent im Raum sagen, die meisten Rechtsextremen sind in Ostdeutschland zu finden. Und die Antwort ist auch tatsächlich b) also gelbe Karte, die rechtsextremen Einstellungen kommen der letzten Mitte-Studie zufolge häufiger bei Personen vor, die in Ostdeutschland leben, im Osten stimmen 23,7 Prozent dieser Altersgruppe ausländerfeindlichen Aussagen zu, nur um mal so eine grobe Zahl zu haben, im Westen sind es 13,7 Prozent. Und ich hatte ja eingangs schon erwähnt, ihr habt zu diesem Thema auch euch im Unterricht befasst, ihr habt darüber gesprochen, ihr habt Filme gesehen, ihr habt diskutiert. Und die Elena aus der 10-5 wird uns jetzt nochmal kurz zusammenfassen, was habt ihr da besprochen? Worum ging es da?
[Elena] Also, wir haben Filmausschnitte geguckt und darüber dann diskutiert und wir haben festgestellt, also, die Meinung von unserer Klasse ist, dass es dieses Klischee vom Neonazi immer noch gibt, aber dass es sich jetzt sehr stark aufteilt und dass es immer mehr Abweichungen gibt davon und dass dieses Klischee vom Neonazi immer noch da ist, aber dass es nicht mehr so – dass es jetzt nicht nur diesen einen Neonazi gibt.
[M] OK, also ihr habt darüber gesprochen, dass es überall letztlich welche gibt, und dass das Klischee aufgeweicht wurde in den letzten Jahren oder ...?
[E] Ja, also über – dass es früher glaub ich viel mehr dieses Klischee gab und dass jetzt mittlerweile ja auch – nicht nur dass die Eltern jetzt arm sind, sondern dass auch von sozial stärkeren Familien es Neonazis gibt.
[M] Im Netz ist das ähnlich gewesen übrigens, das Ergebnis von der Umfrage, da haben die meisten eben auch gesagt: in Ostdeutschland. 85 Prozent der Leute, die mitgemacht haben im Netz. Herr Wichmann, wie sind denn die Erfahrungen da aus der Praxis? Weil, Zahlen sind ja die eine Sache und Ihre Arbeit die andere.
[FW] Also, wir haben ja – an uns wenden sich Leute, die aussteigen wollen, deswegen haben wir da einen gewissen selektiven Blick auf die Situation, wir können halt nicht das Gros der Rechtsextremen betrachten. Also sehen wir, wir haben unterschiedliche Gruppen, wir haben unterschiedliche Stereotype, die uns in der Arbeit begegnen. Wir haben dieses Klischee-Bild, aber auch nicht so häufig, wie man vielleicht annimmt. Wir haben auch häufig Leute, die studiert haben, die studieren, Rechtsanwälte, gut integrierte, eben nicht bildungsferne oder arbeitende oder einfach in der Gesellschaft eigentlich eingebundene Leute ...
[M] … nichtsdestotrotz aber extrem sind.
[FW] Die aber dennoch die rechtsextremen Einstellungen teilen und auch nicht nur die Einstellungen teilen, sondern auch diese Einstellung in Verhalten umsetzen. Also Kameradschaftsführer, organisierte Neonazis, von denen sprechen wir da. Also, mit dieser Matrix ranzugehen, dass man da mit Menschen zu tun hat, die eigentlich den gesellschaftlichen Rand abbilden, die es im Leben zu nichts gebracht haben, da verkürzt man das Problem und wird es auch auf lange Sicht banalisieren, weil wenn es so wäre, hätten wir wahrscheinlich schon jetzt nicht mehr das Problem, sondern er rekrutiert sich ja immer wieder neu, dieser Rechtsextremismus, und das funktioniert über Leute, die charismatisch sind, die intellektuell auch in der Lage sind, so was zu machen, und eben nicht über den dumpfen, grölenden Neonazi.
[M] Herr Preiser, wie findet denn politische Sozialisierung statt?
[SP] Ich fang mal mit was Positivem an. Jugendliche, die in die Pubertät kommen, entwickeln in der Regel eine höhere geistige Komplexität, das heißt, sie können größere Zusammenhänge erfassen, sie können verschiedene Dinge gleichzeitig berücksichtigen, sie können Widersprüche aushalten und irgendwann auflösen. Und diese erhöhte geistige Komplexität wird in der Regel verbunden mit der verstärkten Suche nach einer persönlichen Identität. Das ist normale, günstige, wünschenswerte Sozialisation, das ist eine Entwicklungsaufgabe, sich eine eigene Identität zu entwickeln. Und das führt dazu, dass Jugendliche auch für politische Themen – die ja nun eine gewisse Komplexität haben – für politische Themen aufgeschlossener sind und damit einerseits überhaupt politisch motiviert und gebildet werden können und andererseits aber eben auch verführbar sind von extremistischen Positionen. Das heißt, die Entwicklung, die geistige Entwicklung und die moralische Entwicklung und die Identitätsentwicklung zusammen bilden den Nährboden dafür, dass man politisch aktiv werden kann und ich habe mich mehr mit positivem politischen Engagement beschäftigt und bin dann zwangsweise nur auch zu den negativen Rändern gekommen bei meinen Untersuchungen. Diese positive wünschenswerte politische Sozialisation beginnt also etwa im Jugendalter und führt eben zu einem Weltbild, und die Defizite, die viele Menschen erleben in dieser Sozialisation, die machen dann besonders verführbar für extremistische Parteien. Das ist die eine Seite. Also die politische Ideologie sozusagen. Und die andere Seite ist ja die Gewaltbereitschaft. Und die beginnt also wesentlich früher, also auch für politische Haltungen gibt es so was wie eine latente Sozialisation, also eine schon in der Kindheit beginnende Erfahrung, wie gehe ich mit Macht um, wie werden Widersprüche ausgehandelt, wie wird argumentiert, wie ist es mit Toleranz. Aber die Gewalterfahrungen sind etwas, was Menschen über viele Jahre hinweg kumuliert, immer wieder begegnet, und wenn das in der Familie schon so ist, und dann in der Schule fortgesetzt wird, dass man auch mit Gewalt Erfolg hat, Ansehen gewinnt und Anerkennung durch die anderen, dann kann das dazu führen, dass neben der politischen Entwicklung eben auch die Gewaltentwicklung sich fortsetzt und das führt in der Regel in dieser Kombination dann zu einer besonderen Anfälligkeit gegenüber Rechtsextremismus, sofern es keine Gegenkräfte gibt.
[FW] Ich will noch mal ergänzen, zumal – diese richtig beschriebenen Punkte, aber der Rechtsextremismus als Ideologie hat auch gewalttätiges Handeln als politisches Instrument. Also, Gewalt ist ein legitimes Mittel, um politische Prozesse und politischen Willen durchzusetzen. Das ist ein Merkmal, das ihn unterscheidet von anderen politischen Richtungen und diese Gewalt ist ein fester Bestandteil, der wird als Straßenkampf, als Terror gegen Andersdenkende, gegen Geflüchtete oder andere Feind- oder Opfergruppen gezielt eingesetzt, um letztendlich ihre Umwelt, um ihre Situation zu gestalten. Deswegen ist Gewalt in der Sozialisation ein Bestandteil, aber er ist auch ein fester Bestandteil der politischen Ideologie und wird damit konsequent umgesetzt.
[M] Jetzt ist es ja oft so, dass in Talkshows und Radiosendungen und so oft über die Jugendlichen gesprochen wird und wir wollen ja mit euch reden, deswegen vielleicht auch mal die Frage an euch, habt ihr dazu noch was zu sagen, wie sieht es bei euch im Alltag aus, habt ihr schon – also, weil wir haben ja eben davon gesprochen, wie funktioniert das mit der Radikalisierung usw., habt ihr irgendwas mitbekommen, Nachbarn, Freunde, Bekannte, irgendwas vielleicht – wie hat auch die Arbeit zu diesem Thema – Elena vielleicht nochmal – in euren Alltag mit reingespielt, habt ihr irgendwie Sachen anders gesehen, nachdem ihr das im Unterricht besprochen habt?
[E] Also, es ist ja jetzt noch nicht so lange her und ich kann ja nur für mich sprechen, ich denke, ich hab mich schon davor mit dem Thema befasst und für mich hat sich jetzt nicht stark was geändert. Klar hat man dann nochmal den Tag darüber nachgedacht und ich finde es auch sehr gut, dass wir das im Unterricht besprochen haben, aber ich würde jetzt nicht sagen, dass meine Meinung – oder dass sich was stark verändert hat.
[M] Aber hast du Verständnis dafür, dass junge Leute sagen, hey, ich höre jetzt rechte Musik, ich bin gerade auf dem Weg in die Radikalisierung, aus welchen Gründen auch immer?
[E] Äh, Verständnis schon, also ich kann es verstehen, warum jemand sich dort angesprochen fühlt, rechtsextrem wird, aber ich denke nicht, dass das bei mir so ist, also ich denke, dass junge Menschen sich für so was – so was gut finden, kann ich nachvollziehen, ja...
[M] Und hast du Beispiele vielleicht aus deinem Alltag irgendwie, Bekanntenkreis, Freundeskreis, irgendwas?
[E] Nein.
[M] Nein. OK. Herr Wichmann, jetzt beschreiben Sie doch mal für uns, wie eben dieses Abrutschen quasi aussehen kann, also wie kommt man in Berührung, was sind so die ersten Punkte quasi?
[FW] Das können verschiedene sein. Also, ich kann ja vielleicht mal an zwei, drei Ideen oder Biografien so ein paar Punkte beschreiben.
[M] Ja.
[FW] Das kann wegen meiner ein Mädchen sein, jetzt mal so als Beispiel, ein Mädchen, das halt in der Schule vielleicht nicht die Anerkennung findet, die sie bräuchte oder sucht und vielleicht auch bei den Eltern nicht die Anerkennung findet, dann in dem Fall über eine Freundin in eine Gruppe kommt, und das erste, was man dort bekommt, ist eine Aufgabe von dieser Kameradschaft, und in dem konkreten Fall war es dann halt zum Beispiel das Heraussuchen von Fahrplänen zu Demonstrationen, das Vorbereiten von irgendeinem Kameradschaftsabend, da gab es dann Anerkennung für, das war dann ein klar strukturiertes Element der Anerkennung, um diese Gruppenstabilität zu erreichen.
[M] Verantwortung, Team-Geist...
[FW] Genau. Das hat in dem Fall auch funktioniert, sie fühlte sich anerkannt und stärker anerkannt als vielleicht in der Schule und zu Hause. Ein anderer Fall, der mir so beschrieben war, war einfach eine Person, die jetzt so was wie biografische Erfahrungen hatte, getrenntes Elternhaus, vielleicht noch so ein paar andere Punkte, die in der aktuellen politischen Situation störten und die ihn halt darüber nachdenken ließen, und an diesem Punkt kam dann halt so was wie ein politisches Versprechen. Also, da war dann jemand und sagte, all die Probleme, die du siehst, die können wir lösen, und zwar über die Politik, die wir verfolgen. Und das war für ihn so was wie eine Prophezeiung, eine Verheißung, wo er sagte, OK, genau, und das will ich auch, und meine Probleme, meine Erfahrungen, die ich habe, die werden durch euch kompensiert, durch euch gelöst, und damit hat er sich da hingewandt. Also, es sind unterschiedliche Faktoren auf der biografischen, auf der psychologischen, auf der sozialen, auf der ökonomischen – auf verschiedenen Ebenen, die aber alle dann letztendlich versehen werden mit so was wie einem Versprechen der Lösung dieser Probleme. Und das ist ganz wichtig, und das ist eine politische Lösung, die da angeboten wird, und die letztendlich diese politische Hinwendung quasi komplettiert erst. Wie der Prozess genau verschalten ist, das würde ich auch gerne wissen, das wäre dann mein Buch oder so, aber ich habe es auch nicht ...
[M] ... das dann demnächst erscheint...
[FW] … das dann demnächst erscheint, aber ich habe es auch nicht, von daher, es ist so ein bisschen wie eine Black Box, man kennt die Einflüsse, man kennt die Faktoren und man kennt auch das Produkt, aber man weiß nicht …
[M] … aber man hat auch den Eindruck, dass die Rechtsextremen eben tatsächlich sehr erfolgreich arbeiten bei dem, was sie tun.
[FW] Ja, man muss aber auch glaube ich schauen, dass auch viele andere Sachen erfolgreich arbeiten, man muss sie nicht auch noch überhöhen in manchen Fällen …
[M] … nein, um Gottes Willen...
[FW] … wir sehen aber, dass sie bestimmte Sachen erfolgreich machen und dass sie bestimmte Anerkennungsmechanismen offensichtlich kennen und die umsetzen und da auch entsprechend Jugendliche adäquat ansprechen. Aber ich denke, das können auch andere Maßnahmen, andere Projekte besser, mindestens gleich gut.
[M] Herr Preiser, wir haben ja schon über Faktoren gesprochen, die eben anfällig für so eine rechte Radikalisierung machen, also wenn man zum Beispiel im Elternhaus nicht genug Halt hat, was kann denn da noch mit reinspielen?
[SP] Also, ich sehe wieder zwei Grundmotive, zwei menschliche Grundmotive, die eigentlich notwendig, wichtig und nahezu universell sind, die alle Jugendlichen haben und alle Erwachsenen, eigentlich jeder. Das erste ist, irgendwo einen Sinn zu sehen, irgendwo sich aufgehoben zu fühlen, irgendwo Anerkennung zu finden. Zusammenfassend kann man den etwas antiquierten Begriff Geborgenheitssuche – also man sucht Verlässlichkeit, man sucht zuverlässige Nachrichten und letztendlich auch ein Weltbild, an dem man sich orientieren kann, was dann also beim Rechtsextremen in der Regel zu einem sehr geschlossenen Weltbild wird, das sich abkapselt. Das ist der eine Wunsch. Der zweite Wunsch ist, mitzugestalten, mitzuwirken, Kontrolle auszuüben über – also selbst kontrollieren zu können, was mit einem passiert, wie die Zukunft aussieht, wohin man sich entwickelt, etwas bewegen können. Und bei diesen beiden Bedürfnissen gibt es bei vielen Jugendlichen Defizite, sie haben keine Chance, wirklich mitzumischen, mit zu entscheiden, mit zu gestalten, und sie haben keine Orientierung in einer Gemeinschaft, die ihnen Halt, Orientierung oder zumindest Möglichkeiten gibt. Und wenn dann eine Gruppierung, eine rechtsextreme Gruppierung kommt, die genau das bietet und das auch noch verbindet mit einem intellektuell überhöhten politischen Szenario, wir haben das Weltbild, wo das alles dann reinpasst, aber wir haben ab dem ersten Tag, wie Herr Wichmann das gerade beschrieben hat, ab dem ersten Tag die Möglichkeit, mitzugestalten, Verantwortung zu übernehmen und dafür Anerkennung zu bekommen, aufgehoben zu sein. Wenn das der Fall ist, dann sind diese Jugendlichen, die diese massiven Defizite haben – dann auch noch mit fehlender Zukunftsperspektive, die dann plötzlich eine im politischen Bereich ist – dann sind die anfällig dafür. Gerade in solchen Situationen, wo man besonders diese Defizite fühlt, sich besonders ausgeschlossen fühlt und dann der Kontakt kommt, auch wie Elena das geschildert hat, was sie da gesehen hat, dann ist die Anfälligkeit gegeben.
[M] Ich muss nochmal tatsächlich auch auf dieses Klischee zurückkommen. Da komm ich nicht so schnell von weg. Herr Wichmann, haben denn Menschen – Sie haben gesagt, es gibt rechtsextreme Rechtsanwälte – aber haben Menschen mit einer geringen formalen Bildung öfter eine rechtsextreme Einstellung oder nicht?
[FW] Ich würde es jetzt nicht so pauschal sagen, es ist auch die Frage – wenn man jetzt auf der Einstellungsebene schaut, wird man da feststellen, dass es da relativ diffus ist von den Zuordnungen. Auf der Ebene von Gruppenzugehörigkeit wird es dann schon etwas konkreter, aber da muss man auch schauen, welche Gruppen sind das da, auch innerhalb der rechtsextremen Szene finden wir jetzt nicht nur die klassischen Schlägertypen, die man so kennt, also diese Klischeebilder, wir finden auch durchaus andere Kreise, die publizieren, die Artikel verfassen, die Zeitungen haben, die Bücher herausgeben. Also wir finden da auch einen Bereich von Rechtsextremismus, der halt durchaus fähig ist, eben sich abzuheben von diesem dumpfen, gewaltbereiten Bereich. Dieser beschriebene Bereich ist eher so dieser – diese Gruppen, die sich auf dem Straßenkampf-Milieu bewegen, die so die Fußtruppen darstellen. Und der wirklich gefährlichere ist quasi auf lange Sicht eigentlich der intellektuelle Bereich, weil der wird immer wieder versuchen, letztendlich zu rekrutieren und Gesellschaftsmodelle anzubieten, die Antworten auf zeitaktuelle Fragen bieten. Der Schläger auf der Straße hat die nicht. Und da wird man sich auch schneller abgrenzen von. Aber die Ideen, die letztendlich dann eher aus den intellektuellen Kreisen kommen, die finden ja viel schneller Anklang in gesellschaftlichen Diskussionen und verändern Klima.
[M] Was mich da immer wieder interessiert, ist – die rechtsextreme Ideologie ist ja eine menschenfeindliche Ideologie, die da drüben, wir hier, wir gegen die, die gegen uns usw. Also, es ist ja relativ empathielos oft, wie geht das zusammen?
[FW] Wenn man dann Aussteiger fragt, der mir dann beschrieb, er sagte, er war konkret davon überzeugt, dass wenn alle seine politische Einstellung teilen, dann wird es allen besser gehen. Da gibt es so einen Slogan: nach unserm Sieg nie wieder Krieg. Das bedeutet, wenn die Welt nach meiner, also nach der Vorstellung des Neonazis, nach dieser Vorstellung gestaltet ist, dann sind alle glücklich und zufrieden, zumindest aus seiner Perspektive, und damit wäre wiederum Frieden. Das heißt aber, dass dann halt die Grenzen ausgeweitet würden, dass halt Völker, bestimmte Nationalitäten, aufgrund von Herkünften sortiert werden müssten, also dieser Prozess dahin wäre kein Frieden und auch danach wäre kein Frieden. Aber er war fest davon überzeugt, und das war ein Antrieb für ihn.
[SP] Ich hab mich auch mit der Frage beschäftigt, warum intellektuell differenzierte Menschen einem solchen einfachen geschlossenen Weltbild anhängen können und kam auf einen Aspekt, der zunächst mal sehr überraschend erscheint. Viele Menschen sind überzeugt, dass es letztendlich auf der Welt gerecht zugeht. Das heißt, dass jeder das verdient, was er auch verdient hat und dass jeder bestraft wird für das, was er Schlechtes tut. Menschen, die diesem Weltbild – sind in der Regel konservative Menschen, die dieses wirklich glauben, dass die Welt eigentlich im Grunde gerecht ist. Werden ja ständig, jeden Tag mit Ungerechtigkeit, mit Ungleichheit konfrontiert. Und dann gibt es zwei Möglichkeiten, um damit intellektuell fertig zu werden. Die eine ist, ich tue was gegen die Ungerechtigkeit, ich engagiere mich für Arbeitslose, für bildungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche usw., ich versuche einen Ausgleich für diese Ungerechtigkeit oder Ungleichheit, die auf dieser Welt existiert. Und die andere Möglichkeit ist, diese Ungleichheit zu rechtfertigen und zu sagen, aber die sind doch auch selber Schuld und dann ist es plötzlich wieder gerecht. Also, aus meinem Fragebogen eine typische Frage: Es ist gerecht, Arbeitslosen das Arbeitslosengeld zu kürzen, denn sie arbeiten ja auch weniger, sie müssen sich ja auch weniger anstrengen. Also, das ist so eine Rechtfertigung, die ich übrigens nicht nur bei Rechtsextremem, sondern, ja, bei fast allen, auch bei Studierenden sehr breit verteilt finde. Also natürlich manche, die das strikt ablehnen, aber auch viele, die sagen, na, da ist was dran. Also, diese Rechtfertigung von Ungleichheit kann auch so was sein wie ein moralischer – also Ergebnis eines moralischen Verarbeitungsprozesses, dass man sonst die Ungerechtigkeit, die in dieser Welt existiert, gar nicht aushalten könnte. Und was ich dann aber feststelle, und damit kommen wir schon zu der Frage, was kann man denn dagegen machen – also der Glaube an Gerechtigkeit ist ja eigentlich was Schönes, will ich den kaputt machen? Ich hab ein zweites Konzept mit untersucht, und das nenne ich: Ich glaube an die Möglichkeit von Gerechtigkeit. Also beispielsweise, ich halte es für möglich, eine Weltordnung, eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, die mehr Gerechtigkeit für alle Menschen bringt. Und die Menschen, die das glauben, es ist möglich, und nicht unbedingt, wir haben schon alles, wir brauchen gar nichts mehr tun, die sind tatsächlich auch eher bereit, Ungerechtigkeit wahrzunehmen einerseits und nicht die Benachteiligten auch noch zu verurteilen, wenn sie ja selber schuld sind, und die sind auch eher bereit, sich zu engagieren für Initiativen, also positives politisches Engagement. Also den Glauben, es wäre schon alles gerecht, umwandeln in die Überzeugung, Gerechtigkeit ist möglich, aber man muss was tun. Und damit bin ich dann gefordert und damit kann ich dann auch dieses Dilemma in mir etwas auflösen.
[M] Aber etwas tun ist wahrscheinlich auch der steinigere Weg.
[SP] Ja, genau, das muss dann sein, sonst stecke ich wieder im schlechten Gewissen und versuch mir das irgendwie zu rechtfertigen. Wenn ich sage, man müsste eigentlich, aber es geschieht nichts und ich tue nichts.
[M] Wir haben eine Frage über Facebook reinbekommen: Wie gefährlich ist es, Rechtsextreme als dumm abzustempeln? Wir haben darüber eben schon gesprochen. Was – also vielleicht können Sie das auch nochmal zusammenfassen, was das auch für uns als Gesellschaft bedeutet.
[SP] Also, das bedeutet ja, dass man einerseits die intellektuell hochstehenden differenzierten Vertreter rechter Ideologien gar nicht so in den Blick nimmt und sagt, das ist was anderes, das ist ja Bildungsbürgertum usw. Genau, Herr Wichmann hat gesagt, das sind eigentlich die gefährlicheren, die entweder aus Machtgründen oder auch um eines einheitlichen Weltbildes willen rechte Ideologien dann eben auch auf differenziertem Niveau vertreten und ja, andererseits ist es eben auch eine weitere Ausgrenzung der, jetzt sage ich mal, der wenig gebildeten Rechtsextremen, die also diesem Klischee entsprechen, wenn wir sie einfach nur als dumm und primitiv abtun. Also, das sind ja Menschen, die auch Entwicklungspotential haben, die hätten bloß irgendwo eine andere Förderung bekommen müssen. Das ist ja die Gesellschaft, die ihnen diese Chance – oder die Familie, die ihnen diese Chance nicht gegeben hat, die hat ja dazu beigetragen, nicht die Böswilligkeit der Person. Und die nochmal abzustempeln treibt sie ja eigentlich noch mehr in die Enge. Das haben wir bei allen Extremisten, je weniger die Möglichkeit für einen Exit besteht, desto eher werden sie eigentlich an die Gruppe geschweißt und auch dann an die Ideologie der Gruppe geschweißt und wenn es Alternativen gibt, die letztendlich attraktiv erscheinen, nämlich in der Gesellschaft Anerkennung zu finden, und nicht bloß in gewalttätigen Gruppen, dann ist auch die Chance größer, da wieder herauszufinden.
[M] Aber das ist ja genau die Frage, die jetzt gerade aktuell überall diskutiert wird, in Social Media rauf und runter: nicht abstempeln, was bedeutet das konkret, also wie geht man damit um, also, weil es heißt ja auch, die einen leben in ihrer Blase, reden nicht mit den andern, wie kann man da in Dialog kommen?
[SP] Also, es gibt ja seit den 90er Jahren das Konzept der akzeptierenden Sozialarbeit, dass also Sozialarbeiter in diese Treffpunkte – natürlich nicht in die geschlossenen Gruppierungen der Kameradschaften, aber in die Treffpunkte rechter Jugendlicher gehen, auf der Straße, und mit denen ins Gespräch kommen und nicht sagen, ihr seid böse und ich sag euch, wie es richtig ist, sondern erst mal zuhören. Und durchaus mit der eigenen Meinung nicht dagegen halten, sondern seine eigene Meinung dazu sagen, aber das passiert natürlich nur, wenn man im Gespräch ist, und nicht, wenn man von außen belehrend kommt, oder moralisierend gar kommt. Das heißt, die Jugendlichen, die auf dem Weg sind in Gruppierungen, denen zu sagen, es gibt Menschen, die euch zuhören, die euch ernst nehmen, die mit euch darüber reden, was ihr für Perspektiven habt und wodurch ihr so – ja, eigentlich enttäuscht seid von dieser Gesellschaft, die können gegebenenfalls auch die Jugendlichen dazu bringen, das Bild etwas zu differenzieren. Ich kenne so einige Studien, wo man den Erfolg solcher Maßnahmen kontrolliert, die verbalen Äußerungen der Jugendlichen, die waren nicht weniger krass als vorher, aber die Gewaltbereitschaft, die Bereitschaft, daraus jetzt wirklich, ja, in Gewaltakte abzugleiten usw., die hat sich offensichtlich gemildert dadurch, dass der Betreffende plötzlich eben diese, ich sage wieder mal, Geborgenheit, also diese Akzeptanz in einer Gruppierung gefunden hat oder im Dialog mit Menschen, die ihn nicht abstempeln.
[M] Jetzt ist ja auch gerade im Netz die Diskussion, dass man in seiner eigenen Filterbubble ist, wenn man auf Facebook irgendwas geliked hat, kriegt man immer nur Sachen, die man sowieso mag und die quasi die eigene Meinung bestärken. Hat das irgendwie auch nochmal ein bisschen Einfluss auf die aktuelle Entwicklung?
[FW] In jedem Fall. Also, wenn man sich die Diskussion im Netz anschaut, man kriegt die Informationen, die man sich quasi personalisiert hat über vorhergehende Likes, über Artikel, die man gelesen hat, über Kreise, in denen man sich bewegt. Das heißt, dass da völlig unterschiedliche Nachrichtenräume bestehen, also meine Filterblase bei Facebook ist eine komplett andere als die von jemandem, der in der Kameradschaftsszene ist. Ich hab mal einen Test gemacht, ich hatte einen – ich habe einen Facebook-Account, den man nicht haben darf, aber der ist nicht echt. Und dieser Account hat dann halt mal jemandem gratuliert, der eindeutig der rechtsextremen Szene zuzuordnen war und binnen von 48 Stunden hatte ich irgendwie 150 Freunde, etwas später dann 240. Und diese Timeline, noch etwas gefüttert mit einschlägigen Gruppen, die ist schon recht düster. Also, da ist eigentlich schon eher Weltuntergang. Und wenn man diese Sachen dort immer wieder redundant liest, dann sieht man sich schnell in einer Situation, wo man sagt, OK, ich muss jetzt Notwehr – eine Notwehrsituation, ich muss mich jetzt verteidigen, ich muss auf die Straße. Also, der Schritt hin zu einer Radikalisierung durch soziale Netzwerke, nicht nur über, sondern durch, als Bestandteil von einer Radikalisierung, der ist schon deutlich. Deswegen wäre ich aber auch vorsichtig, jetzt halt die Verantwortung allzu schnell an die, wohl richtig, aber an die Jugendarbeit abzugeben oder an Konzerne wie Facebook abzugeben, sondern das ist ein gesellschaftliches Problem, eine gesellschaftliche Herausforderung und gleichzeitig sind da Probleme, die die Gesellschaft nicht per se lösen kann, sondern das sind politische Prozesse, politische Probleme und da müssen Antworten, auch politische Antworten her, und das wird man auf lange Sicht nicht nur über Sozialarbeit oder über bestimmte Social Media Aktivitäten oder im schlimmsten Fall das Löschen von Beiträgen regulieren können. Aber klar, diese Filterblasen und diese, sagen wir mal auch Filterblasen in der Realität, also Gruppen in bestimmten Räumen, die verstärken natürlich, die beschleunigen Radikalisierung enorm.
[SP] Da stimme ich natürlich voll zu. Also, das sind gesellschaftliche Probleme, die gelöst werden müssen. Die objektive Ungerechtigkeit, die existiert, an die muss man gehen und das offensichtliche Abhängen von bestimmten Jugendlichen, die, weil sie in der Schule Schwierigkeiten haben oder gemacht haben, dann einfach keine weitere Entwicklungschance bekommt. Also, genau das zu verhindern, dass Menschen in diese Sinnleere und in diese Kontaktleere, also im gesellschaftlichen Kontakt oder im Kontakt mit anderen anerkannten Gruppierungen kommen. Genau daran muss man arbeiten. Und das andere, also auch die Sozialarbeit ist natürlich Korrekturarbeit, und ist nicht wirklich gesellschaftliche Entwicklung.
[M] Jetzt gibt es ja wahrscheinlich noch tausend andere Möglichkeiten, eben Jugendliche zu erreichen und da noch mal die Frage hier an euch: Habt ihr vielleicht auch im Unterricht darüber gesprochen, wie man eben diesen enttäuschten Jugendlichen, über den wir gerade gesprochen haben, erreichen kann. Also, wenn jemand sagt, ich fühle mich weder zu Hause noch in der Schule irgendwie angesprochen und irgendwie keiner hört auf meine Stimme, ich hab nicht das Gefühl, irgendwas erreichen zu können und ich werde auch eigentlich nicht richtig beachtet. Habt ihr vielleicht auch besprochen, wie kann man eben Jugendliche auch erreichen? Also, war das auch Thema im Unterricht? Keiner will antworten? Elena vielleicht nochmal?
[Schülerin] Ich denke ein bisschen, dass das was mit Möglichkeiten zu tun hat, mit Gruppen, in denen man sich bewegt, dass man halt die Möglichkeit hat, sich entweder irgend so einer Nazigruppe anzuschließen, in der man dann halt sofort 240 gefühlte Freunde hat oder ob es halt auch eine andere Gruppe gibt. Ich denke, oftmals hat man das Problem auch einfach in Regionen, in denen es vielleicht nicht unbedingt so viel gibt, was man als Jugendlicher machen kann oder wo man sich als Jugendlicher so fühlt, als ob es nicht so viel gibt, was man machen kann. Also, ich denke, dass das ein ganz großes Infrastruktur-Problem ist teilweise auch.
[M] Also, du sagst, das hat zum Beispiel auch viel mit Langeweile zu tun? Wenn ich nicht weiß, was ich machen soll, dann werde ich eben rechtsextrem.
[Schülerin] Mehr oder weniger, ja.
[M] Okay, das ist auch interessant.
[Schülerin] Nazi aus Langeweile klingt ein bisschen doof, aber ich glaube tatsächlich, dass es so eine Sache von Verzweiflung tatsächlich ein bisschen ist. Von wegen, ich bin hier und ich komm hier nicht weg und überhaupt gibt es jetzt halt hier die NPD, die da ganz tolle Veranstaltungen macht, und keine Ahnung, die Identitäre Bewegung, die ich sowieso ganz toll finde, oder so was, keine Ahnung was, und was anderes gibt es nicht und deswegen mach ich jetzt halt das, so von wegen, kann ich mir vorstellen, dass es manchmal so läuft.
[M] Wollen Sie vielleicht direkt darauf reagieren auch? Nazi aus Langeweile, um das jetzt mal so zugespitzt zu formulieren.
[FW] Ja, ich glaube, das beschreibt auch bestimmte Räume, also man kann jetzt nicht generell sagen, dieser Weg ist es, weil in Berlin ist es anders als vielleicht in Mecklenburg-Vorpommern, aber wie du gerade sagst, die Infrastruktur in bestimmten Räumen, in abgehängten Gegenden, ländlichen Regionen, wo halt sämtliche Infrastrukturen fehlen, wo der Jugendclub schon – da muss man nicht darüber nachdenken, ob man Sozialarbeiter anstellt, weil der Jugendclub schon lange nicht mehr da ist. Und in solchen Regionen ist natürlich dann a) der Bedarf da, was haben zu wollen und man sieht, dass die politischen Möglichkeiten offensichtlich nicht ausreichen, um das zu bekommen, ob es der Jugendclub ist oder die Anbindung oder die Infrastruktur generell. Und dann kommt halt eben eine Partei und sagt, ja, das sind die Probleme, die wir sehen und wir lösen die. Und da kommt wieder dieses politische Versprechen. Ob man es nun einhalten kann auf lange Sicht, ist für eine Oppositionspartei relativ leicht zu konkretisieren, zu sagen, na ja, wir machen das alles, ob es dann so wird, ist eine andere Sache. Aber es ist natürlich ein Angebot. Und dann gleichzeitig noch verbunden mit der Idee, aber jetzt seht ihr mal, für euch wird gar nichts gemacht, für die anderen, insbesondere dann vielleicht Flüchtlinge, für die wird so viel gemacht, und ihr seid die Abgehängten und wir interessieren uns für diese Interessen, die anderen nicht. Und schon hat man halt so eine Aus- und Abgrenzung von bestimmten Bevölkerungsgruppen, eine Bestärkung und eine Aufwertung der „Deutschen“ in dem Fall dann da. Und das sind dann Prozesse, die halt so eine Radikalisierung, Hinwendung zu solchen Parteien massiv beschleunigen und bestärken letztlich.
[M] Herr Preiser, um nochmal das Thema Langeweile aufzugreifen, oft ist es ja auch so, die Jugendzeit ist die Zeit der Rebellion, ich will anders sein als meine Eltern, ich will auf jeden Fall einer anderen Kultur angehören und ich will mich absetzen vielleicht auch durch Anziehsachen, durch Musik, durch meine Freunde, ich will Sachen machen, die meinen Eltern vielleicht explizit nicht gefallen. Kann es auch sein, dass es manchmal so eine Phase ist, die dann wieder vorbeigeht, wenn man irgendwie zuerst mit denen abgehangen hat und Bier getrunken hat und dann gemerkt hat, ach nee, ist doch nicht so meins?
[SP] Es gibt natürlich immer auch die Aussteiger in der Anfangsphase. Also die noch nicht kriminell geworden sind, die noch nicht massiv gewalttätig geworden sind, die dann nach einer gewissen Zeit merken, ach hier hat immer nur der Boss das Sagen, der Führer in der Gruppierung, in der Kameradschaft, und ich werde hier letztendlich nur für Hilfsdienste herangezogen, also ich finde hier auch nicht meine Anerkennung. Also, das gibt es natürlich. Die gefährliche Sache ist eben die, dass Jugendliche, die sich absetzen wollen und dann merken, ja, jetzt provoziere ich mit meinem Outfit, mit meiner Musik, die ich zu Hause ganz laut höre und wo die Eltern schon Angst vor den Nachbarn haben, dass wenn die das hören oder wenn die das sehen – das ist natürlich auch ein Beitrag zu einer ich sag jetzt mal simulierten Identitätsbildung. Also letztendlich ist es ja keine Identitätsbildung, wenn man sich einer uniformen Gruppe, also einer einheitlichen Ideologie anschließt, sondern es ist eine Unterordnung unter eine weitere Ideologie, die aber in vielen Fällen, diese Rigorosität im Jugendalter, durchaus ein wichtiger Schritt ist, um erst mal zu sagen, was will ich nicht, ich will nicht so sein wie die Eltern, ich will nicht die gleiche Musik hören, ich will nicht die gleichen kulturellen Angebote haben usw. ,sich erst mal absetzen, kontrastieren, um dann seinen eigenen Stil zu finden. Also von daher, die Möglichkeit gibt es natürlich, aber wieder die Gefahr, Jugendliche, denen so was wie ein Orientierungsrahmen sonst nicht angeboten wird und denen sonst keine Gemeinschaft angeboten sind, die stehen in der Versuchung dann eben, einer großen Versuchung, dort zu bleiben, wo sie erstmals, vielleicht seit vielen Jahren, ernst genommen wurden und akzeptiert wurden. Also, es fällt mir gerade ein, eines der Interviews von den im Gefängnis sitzenden – wegen rechtsextremistischer Gewaltdelikte im Gefängnis sitzenden Jugendlichen war: in dieser Gruppierung bin ich erstmals akzeptiert worden so wie ich bin und hab dort tatsächlich erstmals was Sinnvolles, also aus Sicht der Gruppe dann Sinnvolles, machen können. Und genau wenn das der Fall ist, dann ist es sehr schwer, die da raus zu holen.
[M] Aber es gibt diese Fälle schon auch, aber sie sind eher, Sie würden sagen...
[SP] Es gibt dieses Ausprobieren von Stilrichtungen, von Moderichtungen usw., das gibt es und das ist, denke ich, auch wichtig und legitim, um seinen eigenen Stil zu finden. Nur wenn man diese Suche abbricht, um sich irgendwo zuzuordnen und zu sagen, jetzt bin ich so und das ist jetzt meines und jetzt glaub ich alles, was dort gesagt wird, in dem Moment ist die Identitätsbildung eben auch verloren, also man spricht dann von übernommener Identität statt von erarbeiteter Identität. Erarbeitung heißt immer, sich abgrenzen, abwägen und zu gucken, was passt zu mir und wo will ich hin und wie will ich sein und das ist die Aufgabe des Jugendalters. Und die wird teilweise eben durch solche pauschalisierten Angebote kaputt gemacht.
[M] Kommen wir noch ein Mal ganz kurz zurück zum Klischee, und zwar Klischee Ostdeutschland, das wird ja auch viel diskutiert. Nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern hieß es, ich will nicht mehr nach Rügen fahren, dann, nach Dresden kann man ja jetzt auch nicht mehr und da läuft Pegida ständig usw. Aber ist es nicht genau auch die gleiche Geschichte, die passiert, wenn man sagt, ja, du bist dumm, du bist rechtsextrem, mit dir will ich gar nicht groß reden, wenn man sagt, der Osten, der Osten, der Osten?
[FW] Ja, es ist ein zwieschneidiges Schwert. Man kann auf der einen Seite nicht sagen, ja man spricht nicht mehr darüber, weil man dann halt den Osten stigmatisiert. Man muss ja darüber sprechen, wenn die Erscheinungen da sind. Gleichzeitig muss man natürlich auch schauen, dass man dann entsprechend anderen Entwicklungen im Land Gehör verschafft und halt zeigt, dass halt der Osten auch anders sein kann.
[M] Richtig. Würden Sie sagen, das wird zu wenig gemacht? Weil, die Bilder, die wir haben sind ja eher negativ tatsächlich. Und wenn ich jetzt 16 Jahre alt bin und in Dresden lebe, dann möchte ich vielleicht nicht immer die gleichen Bilder sehen.
[FW] Na, ich glaube schon, dass es auch schwer ist für die Dresdner oder die Leute aus Mecklenburg-Vorpommern, halt immer mit denselben Vorurteilen konfrontiert zu werden, im schlimmsten Fall wird es irgendwann so was wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, dass man halt sagt, na ja, wenn ihr denkt, dass wir so sind, dann sind wir halt so für euch.
[M] Ja, genau.
[FW] Nee, deswegen ist es wichtig, auch die anderen Bilder zu zeigen, und mich hat es auch – jetzt zwar ein bisschen anders, aber diese Demonstrationen von Pegida in Dresden, das war erst mal eine geringe Anzahl von Leuten, die dort eine sehr starke Stimmung gegen die Leute gemacht haben, die zu dieser Gedenkfeier wollten, das waren vielleicht 400 Leute. Dem gegenüber standen aber Zehntausende, die dort dem Tag der Deutschen Einheit gedacht haben und dort ihre Meinung quasi demonstriert haben, positiv. Aber dominiert haben letztendlich die 400 die 10 000 wiederum.
[M] Ja, schade.
[FW] Schade. Und deswegen, da müsste man auch gucken, wo wird der Fokus dann gelegt, gleichzeitig aber auch klar sagen, wenn man dort rechtsextreme Erscheinungen hat und Gewalt und andere Formen, dann muss man darüber sprechen. Und dann ist es auch egal, ob es in Ost- oder Westdeutschland ist. Dann ist es ein Problem. Aber diese Stigmatisierung von bestimmten Räumen bringt glaube ich auf lange Sicht nichts, zumal man dann auch vielleicht Entwicklungen in Westdeutschland vernachlässigt, Dortmund – dort haben wir eine sehr militante gewaltbereite rechtsextreme Szene, und das schon über Jahre. Und Dortmund liegt ja nun nicht in Mecklenburg-Vorpommern.
[M] Ja. Dann haben wir vom Klischee Mike gesprochen. Mike ist männlich. Ist es denn tatsächlich so, dass wirklich die Rechtsextremen Männer sind, oder häufiger? Und auch dazu wollen wir eure Meinung haben. Ihr habt hoffentlich noch nicht irgendwelche Falter gebaut aus euren Zetteln, die wir jetzt nochmal bemühen, und natürlich auch am Rechner, es gibt wie gesagt auf der Homepage der Bundeszentrale diese kleinen Pünktchen, die kann man anklicken, also macht einfach mit bei der Umfrage. Wer stimmt eurer Meinung nach häufiger rechtsextremen Aussagen zu, Männer oder Frauen? Also, bei uns sind die Männer die blaue Karte und die Frauen die gelbe Karte. Im Netz, wie gesagt, einfach anklicken. Und wenn ihr sagt, es sind genau gleich viele, dann hebt ihr am besten einfach beide Karten hoch. Deswegen – geht’s jetzt los. Ich bin sehr gespannt. Blau – ich sehe ein Meer von blauen Karten, ein bisschen gleich viel, niemand sagt Frauen. Niemand sagt Frauen! Okay, das ist auch interessant. Und die Antwort – oh, was haben wir hier, im Netz sagen: Männer 70 Prozent, 5 Prozent gleich viele, nee 26 gleich viele und 5 Prozent Frauen. Also so ähnlich wie hier im Raum tatsächlich im Netz auch. Also es ist ganz gleich, die Zahlen, das ist lustig. Es gibt kaum größere Unterschiede tatsächlich bei der Zustimmung zum Rechtsextremismus nach Geschlecht. Also die, die beide Karten in die Luft gehalten haben, haben hier recht. Einzig die Ausländerfeindlichkeit ist – Achtung – bei wem häufiger? Bei Frauen. Abgefahren, oder. Die ist signifikant häufiger als bei Männern. Bei Frauen sind es, auch nur nochmal so für den Hinterkopf, 10,6 Prozent und bei den Männern 6,8 laut der Leipziger Mitte-Studie. Das ist tatsächlich überraschend. Also, hier im Raum und auch im Internet.
[FW] Ist jetzt auch halt eher eine Entwicklung, die man sieht, also bei den Einstellungsmustern hat man da halt eben ähnliche Einstellungsmuster bei Männern und Frauen, bei dem Verhalten wiederum nicht. Wenn wir uns so die Kameradschaftsszene in Deutschland anschauen, dann haben wir da wohl Frauen und auch spätestens seit dem Nationalsozialistischen Untergrund und dem Prozess in München jetzt um Frau Zschäpe diskutiert man die Rolle der Frau innerhalb der Kameradschaftsszene. Aber das ist jetzt keine neues Thema, wir haben eigentlich schon beständig immer wieder um die 15, also so ein Drittel Frauen innerhalb der Szene und zwei Drittel Männer. Verändert hat sich eigentlich bloß die Rolle der Frau innerhalb dieser Strukturen.
[M] Aha. Sie ist jetzt nicht mehr die Neonazi-Braut, sondern ist selber Rädelsführerin geworden, oder …?
[FW] Genau, sie kann letztendlich verschiedene Rollen haben. Also, sie kann jetzt klassisch eher so die Rolle der Frau verkörpern, die den Nachwuchs heranzieht, die die Sicherstellung der Familie und all diesen Haus und Hof Gedanken quasi pflegt, aber sie kann durchaus auch politisch aktiv werden, sie kann auch entsprechend Demonstrationen anmelden, sie kann Kameradschaftsgrüppchen leiten, sie kann andere Rollen haben so wie auch Frau Zschäpe Bestandteil einer rechtsextremen terroristischen Organisation sein kann, so wie man jetzt ja annehmen kann laut den Entwicklungen dort. Aber es ist halt nicht mehr so getrennt, aber dennoch ist halt die Dominanz von Männern in dieser Szene deutlich.
[M] Herr Preiser, wie kommt das, dass die Rolle der Frau sich gewandelt hat bei den Rechtsextremen?
[SP] Ich denke, es hängt damit zusammen, dass auch insgesamt in der Gesellschaft die Akzeptanz von rechten, von ausländerfeindlichen, von abgrenzenden Haltungen gestiegen ist, die Akzeptanz, also man spricht ja auch seit den 90er Jahren schon davon, dass rechte Einstellungen, nicht die rechtsextremistische und nicht die Gewalteinstellung, aber rechte Einstellungen, abgrenzende, abwertende Einstellungen gegenüber Minderheiten und Ausländern in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Und bei allen Parteien. Also bei Sympathisanten oder sogar Mitgliedern aller Parteien. Das heißt – und so was drückt sich auch in den Medien, in Leserbriefen usw. und auch in den Netzen aus, also, das kriegt man mit oder wird eben signalisiert, wenn man etwas sagt, also man gewinnt den Eindruck, man darf es jetzt sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob tatsächlich die Fremdenfeindlichkeit oder Ausländerfeindlichkeit oder die gruppenbezogene Gewaltbereitschaft zugenommen hat, aber die Bereitschaft, bei Umfragen zuzugeben, dass man das hält, die ist auf jeden Fall gestiegen und damit eben auch die Bereitschaft, in Gesprächen, mit Nachbarn usw. zu sagen: aber eigentlich, und dass die Flüchtlinge alle ein iPad geschenkt kriegen von unserer Regierung, weil die haben ja alle eins, also irgendjemand muss es ihnen ja geschenkt haben, also, solche Aussagen werden dann unwidersprochen erst mal zur Kenntnis genommen und damit ist die Bereitschaft Abgrenzung, Mensch und ich krieg keins, ich hab immer noch das von vor 12 Jahren oder so …
[M] Da spielen dann auch wieder die sozialen Medien eine Rolle …
[SP] Ja, und mit dieser – dadurch dass das also in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist, die Akzeptanz solcher zwar etwas verharmlosender rechter Einstellungen, dadurch sind natürlich auch die Frauen gleichermaßen dann beteiligt daran und finden dann möglicherweise eben auch den Weg hinein und für manche Frauen in der rechten Szene ist das tatsächlich auch ein Weg der Emanzipation, obwohl ja dort in der Regel Ideologien vorherrschen, die die Frauen eher auf eine dienende oder untergeordnete Rolle festlegen – nicht überall, aber in manchen Gruppierungen – es ist plötzlich eine Gruppierung, in der sie trotzdem anerkannt haben, was zu sagen haben und in manchen Gruppierungen eben dann auch wirklich führende Positionen bekommen können. Und dann plötzlich ist das für sie tatsächlich Emanzipation.
[M] Das Wort Anerkennung ist sehr oft gefallen heute bis jetzt schon. Aber kann man denn sagen, dass die Hinwendung zu rechtsextremen Ideen immer aus einer wirklich komplett individuellen Problemerfahrung heraus kommt? Also, es ist ja nicht so, dass ich morgens aufwache und denke, Mensch, heute schreibe ich eine Mathearbeit, ansonsten geht es mir ganz gut, werde ich mal rechtsextrem. Also, ist es wirklich ganz individuell?
[FW] Es ist ein individuelles Bündel. Also, es sind halt mehrere Faktoren, also der eine Faktor, jetzt die Mathearbeit oder das fehlende Auto oder der fehlende Job, der wird es nicht sein.
[M] Nur die Langeweile...
[FW] … Langeweile. Nee, es sind mehrere Ursachen, die letztendlich dazu führen, dass man bestimmte Missstände wahrnimmt, objektive hat wegen meiner und bestimmte Missstände wahrnimmt und dann nach einer politischen Lösung sucht, nach einer gesellschaftlichen Lösung. Dann muss man wiederum aber auf eine entsprechende Gruppe treffen oder auf ein Angebot im Internet treffen, das das letztendlich bestätigt, was man dort sucht. Diese Faktoren, die müssen zusammenkommen. Dann ist es aber immer noch nicht so, dass man damit eine klare politische Haltung, einen Aktivismus und eine Zugehörigkeit zu einer Kameradschaft entwickelt hat, sondern auch da sind dann mehrere Stufen der Entscheidung, dort mitzulaufen, dabei zu sein, möglicherweise Straftaten in Kauf zu nehmen, sich bestimmten Strukturen unterzuordnen oder beziehungsweise bestimmte Aktionen zu machen und umzusetzen, das sind immer wieder Entscheidungen, die letztendlich abgewogen werden müssen und damit auch teilweise sehr bewusste Entscheidungen, also, diese Verantwortungsentnahme, zu sagen, so na ja, man ist da so rein gerutscht quasi wie so mit Schlittschuhen, das finde ich ein untreffendes Bild, weil es immer wieder Entscheidungen sind, ob man sich der Tragweite immer bewusst ist, ist eine andere Frage, aber es sind Entscheidungen, die immer wieder getroffen werden und die auch immer wieder eine Auswirkung, eine Konsequenz aufs Leben haben.
[M] Aber es ist eben nicht so einfach, diese Entscheidung zu revidieren, deswegen gibt es ja auch EXIT, also man wacht ja wiederum nicht an einem anderen Tag auf und sagt, so, jetzt möchte ich doch nicht rechtsextrem sein, ich hab's mir überlegt. Das ist ja auch wiederum ein langer Prozess.
[FW] Genau, das ist ein Stück weit vergleichbar, wenn man mit Aussteigern spricht, werden die immer sagen, na ja, da gab es dann den einen Moment, den Schlüsselmoment, der letztendlich vielleicht diesen Ausstieg angefangen hat. Aber wenn man sich länger unterhält, wird man feststellen, dass davor eigentlich ein viel größerer Zeitraum war, wo schon Zweifel bestanden, wo schon so was wie eine Öffnung da war, um letztendlich diesen einen Moment, der dann später kam, das kann ein irritierender Kontakt gewesen sein, dass kann eine Krise, das kann eine sehr persönliche Erfahrung gewesen sein, der aber erst diese Öffnung möglich gemacht hat, da neu über sein Leben nachzudenken. Und davor waren dann meistens Prozesse – oder sind meistens Prozesse, die teilweise unbewusst oder nicht so bewusst wahrgenommen werden, wo man sich schon mit bestimmten Sachen im Zweifel sieht, ob die Ideologie noch richtig ist, ob diese Idee noch richtig ist oder ob die Struktur, die man dort vorfindet, die ist, die man eigentlich will. Und dann kommt halt dieser eine Moment, und der ist dann der, der dann meistens in Erinnerung bleibt.
[M] Herr Preiser, jetzt haben wir viele Faktoren besprochen. Wie wichtig ist denn der Faktor Angst? Weil, in den Medien, egal was für eine Nachrichtensendung man guckt oder was man auch so anklickt, es ist immer – überall sind Kriege und Krisen und es wird viel Angst geschürt, ob nun mit Absicht oder nicht mit Absicht, lass ich jetzt mal hier offen an dieser Stelle, aber wie wichtig ist Angst, auch bei der effektiven Entscheidung, rechtsextrem sich zu verhalten oder zu sein?
[SP] Ich glaube, für die letztendliche Entscheidung, rechtsextrem zu werden, sind tatsächlich eher solche Gelegenheiten, Anlässe, Kontakte und Berührungen eine Rolle. Aber was man weiß ist, dass Angst – das gilt übrigens auch für Klassenarbeiten und nicht nur im politischen, im gesellschaftlichen Bereich – Angst engt immer ein, engt die Aufmerksamkeit ein und verringert damit die Komplexität, mit der man ein Problem durchdenken kann. Und in Zeiten großer Verunsicherung, ob nun wirtschaftlicher Art oder politischer Art oder die Angst vor Terrorismus, also, da gilt das ganz genauso – in solchen Zeiten greift man gerne nach Lösungen, die überschaubar sind, wo man nicht zu viel abwägen muss, weil das macht wieder Angst. Wenn man eine Lösung sucht, wie kann ich mich schützen, wie kann ich – unsere Gesellschaft, wie kann die sich weiterentwickeln oder wie kann ich wirtschaftlich überleben in einer Krisensituation, diese Angst engt ein, und wenn ich dann abwägen muss, dann macht das nochmal Unruhe und Unsicherheit und da ist die Anfälligkeit für die einfachen Lösungen auf jeden Fall erhöht, weil die das überschaubare, eindeutige Weltbild eben mir liefern und insofern, wenn dann der Kontakt zu rechten Ideologien oder zu anderen Ideologien auftritt, bei manchen ist es auch dann eine ideologische religiöse Orientierung, in solchen Situationen bin ich dafür empfänglich.
[M] Also, lasst euch nicht zu viel Angst machen. Aber wie ist denn das, wir haben eben darüber gesprochen, dass wir...
[SP] Darf ich dazu noch was sagen, genau da liegt die Aufgabe der Politik auch – also zu warnen, dass jetzt auch in der Uckermark Terroranschläge passieren können, wobei das ja nur beispielhaft gemeint war, hat sicherlich zur Verunsicherung beigetragen. Die ganzen Terrorwarnungen erzeugen dann diesen Druck und diese Abwehr auch gegenüber Fremden, wenn keine Lösungen erkennbar sind, das heißt, wenn die Politik auf Probleme hinweist – das sollte sie auch, nicht unter den Tisch kehren – dann sollten damit aber gleichzeitig über das 'Wir schaffen das' hinaus Lösungsansätze vermittelt werden, so dass der Bürger eben auch sagt, die tun was. Und die tun ja tatsächlich was und auch die Bayerische Verwaltung und die Bayerische Bevölkerung hat wahnsinnig viel geleistet, geschafft, als der Flüchtlingsansturm erst mal über Bayern ging. Und wenn da der Ministerpräsident gesagt hätte, ja offensichtlich schaffen wir das, wäre es glaubwürdiger gewesen, als zu sagen, wir schaffen es nicht.
[M] Ja. Beziehungsweise: wir brauchen Geld, wir brauchen Geld. Jetzt seid ihr auch wieder dran, immer her mit euren Fragen, egal ob auf Facebook oder eben auf Twitter, #wirgegenrex ist da das Hashtag. Schreibt uns eure Fragen, ihr könnt die ganze Zeit was sagen, auch Anmerkungen, was auch immer euch einfällt, her damit. Jetzt gehen wir noch den Schritt weiter, was kann die Gesellschaft tun, wir haben es eben schon mal kurz angesprochen und über Sozialarbeit gesprochen, da wollen wir jetzt noch ein bisschen konkreter darüber sprechen. Herr Wichmann, wie funktioniert denn Arbeit gegen Rechts bis jetzt? Also, was gibt es?
[FW] Es gibt da, ja, seit den 90ern schon viele Ansätze, die erprobt worden sind, viele, die verworfen worden sind auch. Generell kann man sagen, dass man in verschiedenen Bereichen – man versucht offline, man versucht online Angebote zu schaffen. Die reichen von Ansprachen, von direkten Diskussionen bis hin zu Gruppenmaßnahmen. Man hat demokratiefördernde Projekte, man hat interventive Projekte, eher präventive Projekte mit Schulen, also man hat da eigentlich ein großes Setting an Möglichkeiten, das man auch ausschöpft, aber ich glaube, dass auch einige Projekte nicht mehr immer die Zielgruppe erreichen und dass auch relativ wenig Projekte sich auf diese konkrete Zielgruppe von rechtsextremen orientieren. Man hat da vereinzelt Angebote der spezifischen Jugendarbeit, aber wo auch fraglich ist, ob man da wirklich noch dieselbe Sprache spricht eigentlich wie die Jugendlichen, die man erreichen will. Daran zu arbeiten, wäre eine große Herausforderung, weil vielleicht bestimmte Konzepte überarbeitet werden müssen und auch einfach vielleicht überkonzeptioniert sind und einfach damit nicht mehr die Zielgruppen erreichen, die man eigentlich will.
[M] Wo sich auch wieder der Kreis schließt zur Langeweile und dem Spaßfaktor usw. wahrscheinlich.
[FW] Ja, und man beschäftigt sich auch viel mit, ja, 12. Klasse, Abitur und das sind aber eigentlich nicht die Zielgruppen, die sind ja die, die dann sagen, ja, wir müssen was machen und die auch schon aktiv sind. Und die Zielgruppen, die letztendlich anfällig sind, die vernachlässigt man dann schnell, weil es auch ein bisschen anstrengender ist, mit denen zu arbeiten als mit der, Entschuldigung, 12. Klasse hier in der Schule.
[M] Und ihr habt euch eben auch genau damit beschäftigt. Der Geschichtskurs nämlich der 12. Klasse hat sich mit Rechtsextremismus-Prävention auseinandergesetzt und da wollen wir wissen – Tim, du erzählst uns, was ihr gemacht habt, was ihr besprochen habt. Wie würdet ihr denn Rechtsextremismus-Prävention machen, selber auch als Schüler?
[Tim] Ja, also, ich bin der Tim. Wir haben bei uns im Geschichtskurs darüber geredet, was man am besten machen könnte gegen Rechts, präventive Maßnahmen. Uns ist aufgefallen, dass ganz oft in der Schule darüber geredet wird, also man sieht im Unterricht, der Geschichtslehrer redet darüber, aber es ist ganz oft nicht greifbar für einen Schüler. Also, bei uns ist es so, wenn sich Erwachsene in Schüler versetzen, reinversetzen müssen, ist es oft schwer, aber es geht einfach darum, dass Schüler am besten interaktiv lernen. Wir hatten da zum Beispiel so ein Beispiel, wie das – dass man zum Beispiel einen Geflüchteten oder tatsächlich einen Rechtsextremisten zum Beispiel in die Schule einlädt, und mal wirklich in den Kontakt mit ihm kommt. Und es wurde auch schon angesprochen, dass Kommunikation ein wirklich wichtiger Faktor ist, um dagegen vorzugehen. Also, wenn man immer nur was davon hört, dann lernt man darüber nichts. Und das war wirklich unsere – die Erkenntnis, zu der wir gekommen sind, dass wir in Kommunikation kommen müssen mit denen. Was uns aber auch noch eingefallen ist, dass man grundlegend eigentlich das – also ich muss mich nochmal kurz sammeln – dass man eigentlich schon von Anfang an, zum Beispiel im Kindergarten oder in der Schule, dieses Denken von Toleranz mit einbinden könnte. Zum Beispiel in der Schule direkt dieses Thema mit Rechtsextremismus in den Lehrplan mit einschließt und das nicht einfach nur so ein Punkt ist, der wird einmal besprochen, und dann geht es weiter. Es ist ja bekanntlich ein Thema, das uns allgegenwärtig betrifft und es reicht einfach nicht, wenn man das einmal kurz bespricht in der Schule und dann unter den Tisch fallen lässt. Also, genau, das war unsere Erkenntnis.
[M] Interessanter Punkt. Wird das zu wenig gemacht tatsächlich? Weil, wenn du jetzt sagst, es wird einmal besprochen und dann ist wieder vorbei, ist das auch Ihre Erfahrung aus der Praxis?
[FW] Ja, ich finde es spannend, weil, es wäre auch so ein Punkt gewesen, Demokratie-Ambulanz – da kommt dann mal jemand in die Schule, macht einen Workshop, die Lehrer sind froh, da hat man mal wieder zwei Stunden überbrückt, und im besten Fall hat der Referent auch noch ein Video dabei und dann ist es halbwegs interessant, und dann gehen alle raus, unterhalten sich noch nett und sagen, schön war's. Das ist aber eigentlich keine Erziehung zur Demokratie, sondern das ist einfach ein bisschen Demokratie-Entertainment oder so. Das ist ein wirkliches Problem, dass man da viel mehr auf die Strukturen eigentlich eingehen muss und die Strukturen einbeziehen muss und Schule wäre da ein Raum, der da einfach viel mehr machen muss, zeitgemäßes Lernen. Und der andere Punkt, der ist auch sehr spannend, also die Koppelung von Geschichte und der Gegenwart war dein erster Punkt. Auch da ist eine Riesenlücke zwischen dem, was vermittelt werden soll, geschichtliche Prozesse, und dem, was auf der Straße passiert. Der Klassiker ist dann, na ja, das war doch '33, damit habe ich doch heute nichts mehr zu tun. Ich lebe doch hier und ich hab da nicht gelebt und meine Eltern auch nicht und was soll das überhaupt. Aber diese Verbindung zu schaffen zwischen den Prozessen im Nationalsozialismus ins Jetzt und in die Verantwortung, also die Verantwortung der Schüler, und der Menschen jetzt zu zeigen, das ist eigentlich die Herausforderung und da müssen wahrscheinlich auch Lehrpläne und Lehrweisen etwas überdacht werden, weil die da ebenfalls, meiner Warte nach, nicht mehr zeitgemäß sind.
[M] Herr Preiser, sagen Sie auch, das wird alles zu wenig vermittelt? Also, dass man wirklich von Kindergarten an die ganze Zeit, in jedem Fach, also genau Toleranz und Akzeptanz und – fällt das ein bisschen unter den Tisch? Wie kommt das?
[SP] Also, in meiner eigenen Schulklasse, in der 12. oder 13., weiß ich nicht mehr genau, da hatten wir einen Tag Vorurteile. Ja, Antirassismus. War ein Tag, war allerdings vorbereitet durch Schüler, aber es war sehr punktuell. Inzwischen gibt es Beispiele, die sind auch veröffentlicht, Beispiele für Konzepte, wie man im Kindergarten arbeiten kann, es gibt Grundschulbeispiele und es gibt Programme, die unter dem Stichwort 'Demokratie lernen' ein ganzes Schuljahr begleitende Aktivitäten in der Grundschule und dann wieder aufgegriffen in der 6. und 7. oder 7. und 8. Klasse macht. Also die Konzepte gibt es und Modellversuche gibt es und von dem ich jetzt gerade sprach, diesem übergreifenden, in Hessen haben da 100 Schulen mitgemacht bei diesem Konzept. Also, es gibt es schon, die Erkenntnis ist da, die Umsetzung – ja, es gibt ganz viele Gewalt-Präventions-Projekte oder sonstige Projekte und alles kann die Schule nicht gleichermaßen machen und sie muss als erstes mal gucken, wo ist denn der größte Bedarf, das größte Anliegen in unserer Region und in unserer Schulgemeinde. Und dann aber tatsächlich zu sagen, das ist nichts, was ein Lehrer oder ein externer Referent mal an einem Vormittag macht, sondern etwas, was begleitend laufen muss. Das ist der Bildungsaspekt. Der andere Aspekt, den Tim gesagt hat, der erscheint mir mindestens genauso wichtig, nämlich Erfahrungen schaffen, Kontakte schaffen, und eben auch Kontakte zu eher rechten Ideologien. Mir hat ein Pfarrer erzählt, dass da ein verschüchterter junger Mann zu ihm gekommen ist, in die kirchliche Jugendgruppe, und hat gesagt, darf ich denn hier mitkommen mit meiner Freundin, dann sagte er, natürlich darfst du, warum fragst du denn? Na ja, ich bin ein Rechter. Ja, also diese Selbstklassifikation, die dann auch zur Abgrenzung führt, dass er sagt, da trau ich mich dann nicht hin, das ist ja was ganz anderes, ja, eine Einladung zu kriegen und erzähl doch mal, was – erzähl von deinen Überzeugungen und nicht dann gleich mit der Moralkeule kommen, sondern ihn reden lassen, und wenn es gelingt, ihn dann tatsächlich auch mit einem Geflüchteten in Kontakt treten zu lassen und im Dialog, dann kann daraus für die ganze Schulklasse oder die Arbeitsgruppe etwas Sinnvolles werden, aber vielleicht auch für den Betreffenden, der sagt, na ja, alle sind ja nicht so, wie ich geglaubt habe. Und auch der Rechte ist nicht nur böse, sondern er hat halt ein böses Weltbild sage ich mal, ein für mich nicht akzeptables. Und wenn ich dann den Begriff 'böse' auch noch vermeiden kann, umso besser. Ein Weltbild, das ich so nicht akzeptieren kann, weil das für mich nicht gleiche Menschenwürde für alle beinhaltet.
[FW] Wo man da auch glaube ich gucken muss, dass man da nicht den Geflüchteten zum Versuchstierchen macht und dann guckt, was da passiert eigentlich. Grundsätzlich ja, also Begegnung, Austausch, aber ich glaube, man muss da wirklich vorsichtig sein, wie man damit letztlich umgeht und inwiefern man dort Opferrollen quasi verdreht, sondern dass man da die Rollen klar auch noch im Blick hat. Und bei der Frage von der Schule, denke ich auch, dass auch Schulen da überfrachtet werden mit Angeboten, deswegen – umso wichtiger wäre es eigentlich, dass man das nicht zu einem Bestandteil von so einer Demokratie-Ambulanz macht, dass man mal schnell da irgendwas macht oder vielleicht mal drei, vier Mal was macht, sondern dass es eher eigentlich ein Bestandteil von Schule als Lebens- und Lernraum ist. Und damit jetzt nicht vielleicht hervorgehoben, wir haben heute das Demokratie-Fach, sondern vielleicht einfach dass Demokratie als Prozess in der Wahrnehmung ein fester Bestandteil des Schulalltag werden muss und dass man dran verstärkt arbeitet.
[SP] Das ist der eine Punkt, der andere Punkt, der entscheidend ist, ob solche Präventions-Projekte wirksam sind, ist die Vernetzung. Also nicht nur die Schule, sondern dann auch gemeinsam mit den örtlichen Sportverbänden oder in vielen Orten gibt es einen Runden Tisch der Prävention, der Gewaltprävention, und der natürlich dann auch die Rechtsextremismus-Prävention beinhaltet.
[M] In dem Zusammenhang wollte ich den Tim tatsächlich auch nochmal ansprechen, weil, du hattest ja eben auch gesagt, einen Rechtsextremen einladen. Und wir haben ja eben schon gesprochen, rechtes Gedankengut kommt immer mehr in die Mitte der Gesellschaft, in die so genannte, immer mehr zu Leuten, die bis vor kurzem sich nicht selbst als irgendwie rechts gesehen hätten. Kennst du Leute mit rechtem Gedankengut oder rechtsextremem, kennst du Leute, die sagen, na man wird doch wohl nochmal sagen dürfen. Weil, es wirkte eben, als du davon erzählt hast, sehr fern von dir.
[Tim] Also, ich persönlich hab tatsächlich eine Erfahrung damit. Das bezieht sich jetzt zwar nicht direkt auf Deutschland, es spielt sich in Amerika ab. Es ist auch komplett egal, um wen es sich dreht, es ist einfach so, dass diese Person in der Schule ganz oft leise war oder sich zu diesem Thema nicht geäußert hat, und dann in dem Moment, wo sie weg ist, von allen – denken die sich, dass sie so jetzt endlich sagen können, was sie meinen. Also, sie können irgendwie, davor wurden sie immer ein bisschen unterdrückt vielleicht und jetzt haben sie endlich die Möglichkeit, sich dazu zu äußern. Also das ist meine Erfahrung. Tatsächlich hier in der Schule eher selten.
[M] Und draußen irgendwie, Freunde, Nachbarn, Sportverein?
[Tim] Also, es gibt im Verein usw. eher weniger, vor allem hier im Prenzlberg, muss man so sagen, es ist tatsächlich eher selten. Eher in der Familie ab und zu mal, eher rechtes Gedankengut, überhaupt nicht Neonazi-mäßig, es ist eher rechtes Gedankengut, also das ist allgegenwärtig.
[M] Also, allgegenwärtig sagst du, auch in Social Media, Facebook ...
[Tim] … auf jeden Fall.
[M] ... twitterst du, kriegst du das mit, was kann man da machen?
[Tim] Auf jeden Fall. Also, was man dagegen machen kann – ich finde diese Aktion supercool, da wurde vorher nur kurz darauf eingegangen von Ihnen, Hass gegen Hass hieß das glaube ich, so welche Aktionen, die sich hauptsächlich über das Internet abspielen, die sind extrem wichtig, die sind essentiell. Es spielt sich die meiste Zeit alles nur noch im Internet ab, wenig nur noch öffentlich oder auf anderen Plattformen, vieles im Internet. Und da ist auch der deutsche Staat meiner Meinung nach viel zu wenig präsent im Internet.
[M] Mhm. Da hinten gibt es auch noch eine Wortmeldung.
[Schüler] Ja, ich kenne jedenfalls auch Leute aus meinem Umfeld, die zum Beispiel extrem gegen Serben sind, also, ich bin ja Kroate und wir hatten vor 20 Jahren Krieg dort, und ja, es gibt da jetzt so eine Bewegung, Spremni za dom, die wird jetzt gerade richtig groß in Kroatien. Die rechte Partei bei uns ist jetzt auch stimmenstark wieder, was vor ein paar Jahren nicht zutreffend war. Ja, und ich kenne schon recht viele Leute.
[M] Hast du irgendwelche Ideen, was man dagegen machen kann? So generell im Netz? Also, Kontra geben oder einfach ignorieren?
[Schüler] Keine Ahnung, weil – ich bin ja jedes Jahr unten und ich merk das auch, die Stimmung, die dort ist, also, es ist gerade in der Politik wieder sehr angeheizt. Und fast jeder unten ist so bisschen gegen die Serben und ist auch von der anderen Seite uns gegenüber so teils, das merkt man schon. Und ja, ich habe jetzt keine Idee, was man dagegen tun kann.
[M] Also, Ratlosigkeit eigentlich an vielen Ecken auch zu dem Thema. Würden Sie denn sagen, die politische Bildung hat teilweise auch versagt? Weil, Sie haben ja eben auch schon sehr emotional gesagt, es muss eine ganzheitliche politische und demokratische Bildung sein.
[FW] Ich würde jetzt nicht sagen, dass sie versagt hat, aber ich glaube, dass sie manchmal an den falschen Stellschrauben oder an den falschen Punkten angesetzt hat und ein Stück weit auch davon ausgegangen ist, dass man Demokratie und demokratische Bildung quasi einfach mitbekommt.
[M] Die ist halt gegeben, die ist halt da.
[FW] Die ist da, die muss nicht erarbeitet werden, die ist da und alle finden es schön und irgendwann wird alles besser. Und das ist glaube ich nicht so, Demokratie ist Konflikt, Demokratie sind Aushandlungsprozesse, die sind schwierig, die ist zäh und langwierig zuweilen und das muss man vermitteln. Und da muss man auch Möglichkeiten, Ideen entwickeln, wie man das vermitteln kann und wie man die Werthaftigkeit von dem, von der Demokratie, die man da hat, herausstellt, und nicht nur sagt, Demokratie ist gut, sondern erklärt, warum eigentlich, wo sind die Vorzüge.
[M] Also die Demokratie an sich ist so ein bisschen vernachlässigt worden quasi, weil sie als gegeben angesehen wurde?
[FW] Genau, das Wort ist nicht vernachlässigt worden, aber die Demokratie als Idee.
[M] Lässt sich denn aber demokratisch-politisches Denken lernen? Also, kann ich vermitteln, so geht es?
[SP] Das sind zweierlei Dinge. Das Vermitteln, also der Bildungsprozess, der politische Bildungsprozess, der muss sein, man muss was wissen über die demokratischen Strukturen, Prozesse usw., man muss die Formalia kennen, das ist das, was in der Regel wahrscheinlich doch vollständig im politischen Unterricht oder Gesellschaftskunde oder wie das unterschiedlich heißt, vermittelt wird als Information. Aber das ist noch nicht politisches Lernen. Politisches Lernen heißt, das ist ein aktiver Prozess der Jugendlichen, der Schülerinnen und Schüler, das muss aufgenommen werden, verarbeitet werden, und da kommt zu der Information einfach die Erfahrung dazu. Das heißt also, man braucht Erfahrung in beispielsweise konstruktiven Dialogen, wie redet man miteinander, wie kann man unterschiedliche Meinungen aushandeln, ohne den anderen zu verletzen. Wie kann man argumentativ in Konfliktsituationen, in Dilemmata argumentieren, also beispielsweise die Frage, die in diesem Begriff, die in diesem Fernsehstück Terror deutlich gemacht wurde, kann man, darf man ein Flugzeug abschießen, um damit das Menschenleben von vielen anderen zu retten, die sonst das Ziel wären. Über solche Dilemmata zu reden, die also relativ nah sind an Szenen, die man sich vorstellen kann, das muss auf jeden Fall mit dazu. Und das dritte ist eben das, worüber wir am Anfang gesprochen haben, die Lebensumstände müssen so sein, dass man überhaupt offen ist für Angebote in dieser Gesellschaft, mit diesen Medien, die hier da sind und nicht von vornherein irgendwo sich ausgegrenzt fühlt. Zu der Frage, was kann dazu beitragen, Vorurteile oder Abgrenzung zwischen Menschen zu reduzieren, da gibt es ja sehr lange Erfahrungen, beispielsweise aus den Zeiten der Rassendiskriminierung, aus den massiven Zeiten der Rassendiskriminierung in den USA, die gibt es ja auch jetzt noch, Kontakt erzwingen. Aber Kontakt, der erzwungen wird mit einer positiven Perspektive, das heißt, es muss Spaß machen oder man muss etwas erreichen können dadurch. Und genau so etwas gibt es aktuell, beispielsweise Initiativen, die Ferienlager für kroatische, serbische und bosnische Jugendliche machen. Oder Ferienlager mit Israelis und Palästinensern. Und die gemeinsam dann beispielsweise ein Theaterstück erarbeiten, die aber vorher natürlich erst mal mit ihren ganzen Vorbehalten, in vielen Fällen berechtigten Vorbehalten ...
[M] … Erfahrungen, Menschen treffen, rausgehen. Es hat aber tatsächlich auch noch eine Wortmeldung gegeben von euch. Wer hatte sich eben noch gemeldet?
[Schülerin] Ich wollte nur dazu sagen, dass, was mir manchmal auffällt, was so ein bisschen fehlt, glaube ich, erstens die Fähigkeit ist, Informationen zu hinterfragen, was glaube ich auch so ein bisschen damit zu tun hat, dass man das nicht unbedingt beigebracht kriegt. Also Beispiel, ab einem bestimmten Punkt wird in der Schule Internet-Recherche vorausgesetzt als Fähigkeit. Es wird nicht vermittelt. Also, wurde bei mir zumindest jetzt nicht. Dann hat man Leute, die halt einfach aus irgendwelchen Blogs raus zitieren munter lustig, und nicht halt hinterfragen, ob das, was da auf meiner Internetseite, die ich gerade als Quelle angebe, auch – wer das schreibt. Und dass nicht nur bei Wikipedia jeder alles reinschreiben kann, sondern dass auch andere Quellen nicht unbedingt zuverlässig sind. Und die zweite Sache: dass die Leute manchmal nicht Muster übertragen können auf andere Situationen. Also dass zum Beispiel – dass es funktioniert zu sagen, ey wir sind doch gar nicht rechts, wir haben sogar einen Schwarzen in der Partei, so wie jetzt bei, keine Ahnung, Pro Deutschland. Und das die Leute nicht verstehen, dass es halt eigentlich immer das gleiche Muster ist, so, dass es egal ist, ob es jetzt Antisemitismus ist oder Antiziganismus oder was auch immer. Also, genau, dass man dieses – einerseits das Hinterfragen und andererseits das Auf-eigene-Situationen-Beziehen irgendwie nicht gegeben ist, glaube ich, teilweise. Das auch einfach so ein Schutzreflex ist von wegen so, nee, mit der Nazizeit hat das bei uns gar nichts zu tun, weil das war ja mal viel zu krass, das gibt es gar nicht.
[M] Also, das Hinterfragen und eben tatsächlich auch das Lernen vom Hinterfragen, das einfach zu lernen und tatsächlich zum daily business zu machen und nicht irgendwie nur einmal bei einer Internet-Recherche, selbst dann zu vergessen, sondern wirklich, das ist eine Lebenseinstellung, ich denke nach und nehme nicht alles auf, was mir serviert wird. In diesem Zusammenhang wäre die Frage nochmal an Sie, was wünschen Sie sich denn von der Rechtsextremismus-Prävention, wenn jetzt eine Fee kommen würde und sagen würde, Sie haben drei Wünsche frei. Also, was fehlt, was muss jetzt wirklich noch passieren?
[FW] Ach, ein Buffet. Also, ich glaube, dass halt ein abgestimmter Maßnahmenplan entwickelt werden muss, der spezielle Zielgruppen im Blick hat, der eine breite Möglichkeit an Prävention schafft, der gleichzeitig aber auch die, sagen wir mal, Umstände der Träger, die diese Projekte dann umsetzen sollen, abgestimmt ist, der bürokratiearm ist, eine gewisse Flexibilität aufweist, um halt die Bedarfe und die Projekte und Prozesse anzustoßen, die man irgendwie braucht. Und der größte Wunsch ist eigentlich, dass man es halt nicht verlagert auf spezielle dafür Berufszuständige, sondern dass man es als gesamtgesellschaftliche, politische, gesellschaftliche und dann die Berufsbetroffenen – als Herausforderung für all diese Gruppen erkennt und dann zusammen da eine Lösung erarbeitet.
[M] Also als Gesellschaft.
[FW] Genau.
[M] Überall. Bei Facebook, beim Dönerladen, egal wo ich bin.
[FW] Ja. Ja. Das ist die Utopie.
[M] Alles klar.
[SP] Ja, also diese Vernetzung ist natürlich auch das, was ich als das Notwendige und Hilfreiche ansehe und die Vernetzung einerseits natürlich auf der großen Ebene, dass also die Verbände und die Regierungs- und die Bildungsinstitutionen versuchen, Konzepte zu entwickeln, aber die Vernetzung und die Umsetzung muss vor Ort geschehen. Und die ist natürlich im Schwalm-Eder-Kreis, das ist irgendwo in Hessen, anders als in der Uckermark oder eben in einer Großstadt wie Berlin oder Dortmund. Also, überall sind die Bedingungen anders, die Ängste anders und damit der Umgang damit. Ich würde zum Schluss gerne noch etwas hinweisen, was mich selbst sehr enttäuscht hat, als ich mir angeguckt habe, welche Maßnahmen gegen Vorurteile – und das ist ja bei uns auch mit ein Thema, das ist nicht der ganze Rechtsextremismus, aber es gehört mit dazu – welche Maßnahmen sind denn wirksam. Und die Bildungsmaßnahmen kamen in dem 10-Punkte-Katalog bei sieben oder acht. Was am wirksamsten war, waren Gesetze, die diskriminierendes Verhalten unter Strafe stellen. Und das ist das, was bei uns in der Wirtschaft, in der deutschen Wirtschaft am effektivsten war, das Antidiskriminierungsgesetz, das Firmen massive Geldstrafen androht und Entschädigungszahlungen, wenn sie nachweisbar diskriminierende Personalentscheidungen treffen. Das führt natürlich in erster Linie dazu, dass die verdeckt werden, dass sie unter den Teppich gekehrt werden und so getan wird, als gäbe es die nicht, aber man ist vorsichtiger geworden. Und das wiederum schafft ein neues gesellschaftliches Klima, auf das kommt es letztendlich an, nicht auf die Strafverfolgung und die Geldstrafen, sondern auf das Klima, dass inzwischen jeder weiß, wenn ich Frauen gegenüber Männern benachteilige oder wenn ich Menschen mit ausländisch klingendem Namen schon bei der Auswahl der Bewerbung benachteilige, kann mir eine Unterlassungsklage oder eben tatsächlich eine Schadenersatzklage drohen, und dieses Klima 'Aufpassen' und wirklich alle Menschen gleich welcher Rasse, Ethnie, Hautfarbe, Konfession und sexueller Orientierung als gleichwertig anzusehen – nicht als gleich, aber als gleichwertig – diese Haltung muss sich verbreiten in der Welt als gesellschaftlicher Konsens.
[M] Und da sind wir ja dann eben auch jeden Tag gefragt, deswegen ist es tatsächlich auch interessant, das Hinterfragen muss vermittelt werden, aber wir müssen ja jeden Tag auch überlegen, warum wir manche Sachen nicht hinterfragen usw. Vielleicht hast du auch nochmal eine Idee genau dazu, wie das denn funktionieren könnte?
[Schülerin] Was mir dazu ein bisschen aufgefallen ist, ist, dass glaube ich auch dieses Nicht-Hinterfragen teilweise sogar ein bisschen anerzogen wird. Nämlich dass zum Beispiel der Lehrer halt Sachen sagt im Unterricht und diese Sachen, diese Informationen, die der Lehrer weitergibt, die werden einfach nicht hinterfragt. So. Dadurch dass es halt auch nicht – dass dadurch dieses Prinzip 'Informationen kommen von oben', kommen von einer Person, die ich als sage ich mal in diesem Gebiet bewandert ansehe, nicht hinterfragt werden, und dass dieses System dann übertragen wird auf andere Leute, die man denkt, die dann halt irgendwie in einer Lehrer-Situation sind und die dann halt teilweise halt auch irgendwie rechtes Gedankengut transportieren. Also jetzt nicht unbedingt Lehrer, sondern halt, keine Ahnung, der was auch immer für ein Gruppenleiter.
[M] Okay. Also du fühlst dich tatsächlich eher so, als solltest du eben genau nicht widersprechen besonders viel oder …
[Schülerin] Es wird nicht unbedingt dazu angeregt, sage ich nur. Ich glaube, dass dieses 'Es wird nicht dazu angeregt' teilweise schon ausreicht, dass man einfach nicht von alleine sag ich mal auf die Idee kommt, dass dieses Grundprinzip schon – genau schon genug ist. Es muss nicht unbedingt – es ist jetzt natürlich nicht so, dass ich wenn ich mich melde im Unterricht und sage, Entschuldigung, ich finde das anders oder so, oder, stimmt das gerade wirklich so …
[M] … dann musst du rausgehen …
[Schülerin] … dass ich dann – werde ich auch nicht in die Ecke gestellt, ist schon klar. Aber es ist doch tatsächlich unglaublich selten, dass ein Schüler das macht, glaube ich. Also tatsächlich – die Informationen, nicht unbedingt Meinungen, bei Meinung ist noch häufiger, wenn es jetzt um Diskussionen oder so geht, aber bei puren Informationen ist es selten, dass tatsächlich wir irgendwie dazu angeregt werden, zu hinterfragen oder uns selber zu informieren.
[M] Es gibt da viele Stellschrauben noch tatsächlich. Also, es ist ja auch interessant, die Wahrnehmung, dass es so ist und so, aber da werden Sie wahrscheinlich auch irgendwie schon Gespräche geführt haben.
[FW] Aber ist schon ein interessanter Aspekt halt die kritische Analyse von Informationen im Unterricht, aber auch gleichzeitig im Netz, also, es steht ja bei Facebook, also muss es wahr sein, so in die Richtung, so verbreiten sich ja die abstrusesten Ideen, Hauptsache es ist ein Bildchen und ein Text da drüber und schon muss es ja irgendwie einen Wahrheitsgehalt haben. Und da fehlt doch viel an Medienkompetenz, um diese, ja, Fake-Meldungen zu dekodieren und diese kritische Analyse, die kann man in der Schule lernen, klar, und das muss auch ein Bestandteil sein und das wird auch zukünftig eine Herausforderung sein, weil es betrifft ja nicht nur das Thema Rechtsextremismus, das ist ja viel weiter, also diese kritische Analyse von Sachbeständen und von Tatsachen, das ist eigentlich eine Grundvoraussetzung für eine kritische und reflexive und demokratisch orientierte Lebensführung.
[M] Und deswegen sind wir heute hier gewesen, wir sind immer noch hier, aber wir sind jetzt fertig, es gibt übrigens auch natürlich fantastische Materialien auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung, wenn man recherchieren möchte und es gibt super Bücher, die immer interessant auch sind und toll und man kann gut recherchieren da. Ich will mich bedanken bei allen, die jetzt im Netz uns zugeschaut haben. Und ja, wir haben gelernt, der Mike, den gibt es so erst mal nicht, es gibt nicht nur Mike, sagen wir mal so, es gibt nicht die rechtsextreme Biografie, es kann unterschiedliche Faktoren geben, wir haben Möglichkeiten der Prävention durchgesprochen, Sachen, die gut funktionieren, Sachen, die noch nicht so gut funktionieren, wo man noch dran arbeiten kann. Und vielen Dank auf jeden Fall für eure Mitarbeit auch an dieser Diskussion, vielen Dank fürs Hiersein. Und ja, ansonsten würde ich sagen, wenn ihr zu spät zugeschaltet habt und jetzt sagt, huch, jetzt habe ich alles verpasst, nein nein, man kann sich das Ganze nochmal anschauen und dann auch teilen. Ihr findet den Stream dann bald vollständig im Netz auf der Seite auch der Bundeszentrale und, ja, wir bedanken uns bei den beiden Experten, vielen vielen Dank fürs Hiersein und vielen Dank fürs Zuschauen und bis zum nächsten Mal.
Fragen aus sozialen Netzwerken oder per E-Mail:
1. Welche Faktoren begünstigen Entwicklung der Sozialen und interkulturellen Kompetenz? 2. Was versteht jeder einzelne unter diesen Begriffen? Wie wird dieses im tagtäglichen Leben umgesetzt / gelebt? Besonders interessant empfinde ich dies in Bereichen: Bildung und soziale Arbeit als große und wichtige Säulen des gesellschaftlichen Lebens. 3. Worin besteht der Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz? 4. Wie wird der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes verstanden und gelebt 5. Wie wird gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch die tatsächliche Verantwortungsübernahme für getroffene Entscheidungen gelebt? Und schließlich: 6. wie entsteht Radikalismus (jeglichen Art)? Wofür kann dieser missbraucht werden? Von wem, weshalb und wofür? Danke!
Mein persönliches und somit subjektives empfinden: diese Fragen ähneln den Knoten eines roten Pfandes, der zur Klärung der Ursachen führen kann, könnte, dürfte. Mich würde interessieren, inwieweit Radikalisierung und Devianzerfahrungen zusammenhängen. Ist das wirklich ein Automatismus, wie es manchmal suggeriert wird? Ist es nicht vllt nachvollziehbar, dass sich die Abneigung von Menschen gegen eben genau gegen die richtet für die alle um Toleranz werben, weil sie sich lange Zeit für Minderheiten stark gemacht haben und nun selber leiden, jedoch kein Gehör finden weil sie zu keiner "Trendminderheit" gehören?
Nehmt den Leuten die Würde, nehmt ihnen das letzte Geld (HartzIV-Sanktionen) und bezahlt sie mies (Leiharbeit, Werksverträge) und erzählt ihnen dann jahrelang, das sei alternativlos. => Nutzerthese zur Radikalisierung. Was ist da dran?
Freiheit, Heimat und Identität: Welche Zusammenhänge zwischen diese 3 Begriffe gibt es? Eine ganze Menge wenn man es mit der Bindungstheorie (z.B. bei Karl-Heinz Britsch) in der Entwicklungspsychologie beleuchtet.
Genauso wie GMF ein Schutzmechanismus ist gegenüber seiner eigene Selbstunsicherheit ist.
Wie gefährlich ist es, Rechtsextreme als "dumm" abzustempeln? Guter Topic für die Schule: Was sind Vorurteile, wie wirkt es im Gehirn, woher kommt es. Ist ein ganz normaler Prozess der Jugend.
Die leute sitzen so lange auf ihrem popo bis sie kein Geld mehr Haben und dann bin ich gespannt? Im Angesicht des um sich greifenden Populismus in Deutschland: Hat die politische Bildung der Vergangenheit versagt?
Was kann man machen wenn Freunde anfangen rechtspopulistische Dinge auf Facebook zu posten?
Änderung soll schon im Elternhaus stattfinden, was gibt man die Jugendliche zuhause mit? Kennt man die deutsche Geschichte? Hat man mal einen KZ Lager besucht und gesehen was passiert ist?
Einer der besten Präventionen gegen Rassismus ist die Aufklärung der Kinder und Jugendlichen in der Schule. Hier geht es nicht nur um unsere Geschichte, sondern auch um das vergangene mit dem heute zu Verknüpfen.
1x pro Monat, Demokratie & Geschichte auf dem Lehrplan als zurückkehrendes Element. Wenn eins meiner 5 Kinder je zuviel rechts liken würde, nehme ich sie mit nach Auschwitz und wir werden es da anschauen und diskutieren wie es so weit kommen konnte. Danach einen Plan machen was denn im Alltag fehlt das man so denkt, warum zu so einer Gruppe gehören zu wollen und was eine positive Alternative wäre anstatt destruktives Denken…
Änderung soll schon im Elternhaus stattfinden, was gibt man die Jugendliche zuhause mit? Kennt man die deutsche Geschichte? Hat man mal einen KZ Lager besucht und gesehen was passiert ist?
Was kann man machen wenn Freunde anfangen rechtspopulistische Dinge auf Facebook zu posten?
Mich würde interessieren, ob Sie die Arbeit mit Fallbeispielen von (ehemals) rechtsextremen Jugendlichen als geeignet erachten, um sich die Ursachen von rechtsextremen Einstellungen und Verhalten zu erschließen.
Auflösung Vergleich Ost/West
Rechtsextreme Einstellungen kommen der letzten Externer Link: Leipziger "Mitte-Studie" zufolge häufiger bei Personen vor, die in Ostdeutschland leben. Im Osten stimmen 23,7 Prozent dieser Altersgruppe ausländerfeindlichen Aussagen zu, im Westen nur 13,7 Prozent.
Auflösung Vergleich Männer/Frauen
Es gibt der letztenExterner Link: Leipziger "Mitte-Studie" zufolge kaum größere Unterschiede bei der Zustimmung zum Rechtsextremismus nach Geschlecht. Einzig die Ausländerfeindlichkeit ist bei den Frauen (10,6%) signifikant häufiger als bei den Männern (6,8%).
Die Teilnehmenden
Siegfried Preiser
Siegfried Preiser (© privat)
Prof. Dr. Siegfried Preiser ist Diplompsychologe, Rektor der Psychologischen Hochschule Berlin und Professor für die Psychologie lebenslangen Lernens. Er studierte in Erlangen und Freiburg und war bis 2011 Professor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Siegfried Preiser ist Vorstandsmitglied der Sektion Politische Psychologie und Koordinator des Expertenbeirats "Prävention von Gewalt, Rechtsextremismus und interkulturellen Konflikten". Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politische Sozialisation, Gewaltprävention und Kreativitätsförderung.
Fabian Wichmann
Fabian Wichmann (© privat)
Fabian Wichmann ist Mitarbeiter der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH in Berlin. Er in der Ausstiegshilfe von EXIT-Deutschland und im Social-Media Management tätig, sowie Verfasser von diversen Publikationen und Analysen im Bereich Rechtsextremismus und Demokratiegefährdung und weiterhin Initiator der vielfach prämierten Initiativen Rechts gegen Rechts und #HassHilft.
Diane Hielscher
Diane Hielscher (© Michael Stöcker )
Diane Hielscher moderiert auf Bühnen, im Radio und ist Autorin, Trainerin und Sprecherin. Nach ihrem Politikstudium und einem Volontariat bei „BB-Radio“ in Potsdam folgten Stationen beim RBB-Jugendradio „Fritz“, bei „FluxFM“ und „Bayern3 PULS“. 2014 wurde Diane Hielscher mit dem Deutschen Radiopreis als beste Moderatorin ausgezeichnet. Seit Juli ist sie die neue Moderatorin der DRadio Wissen-Sendung „Hielscher oder Haase“.
Rechtsextreme Einstellungen kommen der letzten Externer Link: Leipziger "Mitte-Studie" zufolge häufiger bei Personen vor, die in Ostdeutschland leben. Im Osten stimmen 23,7 Prozent dieser Altersgruppe ausländerfeindlichen Aussagen zu, im Westen nur 13,7 Prozent.
Es gibt der letztenExterner Link: Leipziger "Mitte-Studie" zufolge kaum größere Unterschiede bei der Zustimmung zum Rechtsextremismus nach Geschlecht. Einzig die Ausländerfeindlichkeit ist bei den Frauen (10,6%) signifikant häufiger als bei den Männern (6,8%).
Siegfried Preiser (© privat)
Fabian Wichmann (© privat)
Diane Hielscher (© Michael Stöcker )
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2016-11-15T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/237273/interaktiver-webtalk-der-rechte-weg/ | Gibt es Gemeinsamkeiten in den Biografien und in der Sozialisation von Rechtsextremen? In einem interaktiven Webtalk am 24.11.2016 diskutierten der Psychologe Siegfried Preiser und Fabian Wichmann von dem Aussteigerprogramm EXIT-Deutschland mit der M | [
"Radikalisierung",
"Rechtsextremismus",
"Biografien",
"Aussteiger",
"Prävention"
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Diaspora als Impulsgeberin für Entwicklung | Migration und Entwicklung | bpb.de | Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die Beiträge, die Migrantengruppen – Diaspora – für Entwicklungsprozesse leisten können. Solch ein Forschungsgebiet ist komplex und von Natur aus multilokal und multidisziplinär. Der Beitrag fasst die wesentlichen Überlegungen im Themenkomplex Diaspora und Entwicklung zusammen.
Wichtige Begriffe
Um zu verstehen, wie Diaspora und Entwicklung miteinander verknüpft sind, ist es wichtig, zunächst zu definieren, was Entwicklung bedeutet. Allgemein versteht man unter Entwicklung eine Verbesserung oder Weiterentwicklung. Grundsätzlich meint der Begriff eine Veränderung zwischen zwei oder mehr Bezugspunkten. Wie in dieser breiten Definition bereits angedeutet, sollte Entwicklung verstanden werden als 1) Prozess positiver Veränderung, 2) als die Stufen oder Einheiten der Veränderung zwischen zwei Bezugspunkten und 3) als ein Endzustand.
Die Entwicklung von Ländern, Regionen oder Gesellschaften kann auf verschiedene Arten gemessen werden, die sich nach den unterschiedlichen Vorstellungen von Fortschritt richten. Eine bedeutende Art und Weise Entwicklung zu beurteilen, ist der Blick auf das Wirtschaftswachstum. Wirtschaftliche Entwicklung kann mit Indikatoren gemessen werden wie dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder dem Bruttonationaleinkommen (BNE), die eine Vorstellung von der Gesamtproduktion einer Wirtschaft und individuellen Erträgen schaffen.
Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte hat sich das Verständnis von und haben sich Diskussionen über Entwicklung wegbewegt von wirtschaftlicher Entwicklung als einziger oder hauptsächlicher Dimension von Entwicklung. Stattdessen wurde die menschliche Entwicklung stärker betont. Innerhalb des Externer Link: Paradigmas menschlicher Entwicklung, wird Entwicklung als multidimensional begriffen. Entwicklung umfasst damit nicht nur wirtschaftlichen Fortschritt, sondern auch Verbesserungen in Bereichen wie Gesundheit und Humankapital. Die Perspektive der menschlichen Entwicklung betont die Bereicherung und Verbesserung der Lebensqualität eines jeden Einzelnen, zum Teil basierend auf den Möglichkeiten und Fähigkeiten, die die für ihn oder sie persönlich wichtig sind.
Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) ist ein prominenter Verfechter der Perspektive menschlicher Entwicklung, insbesondere durch den Index der menschlichen Entwicklung (Externer Link: Human Development Index, HDI). Dabei handelt es sich um ein Instrument, das Länder danach einstuft, welche Entwicklungsergebnisse sie erreicht haben. Der HDI bezieht drei Dimensionen von Entwicklung ein: körperliche Gesundheit (gemessen anhand der Interner Link: Lebenserwartung bei der Geburt), Humankapital (gemessen anhand der vorgesehenen und tatsächlich durchschnittlich absolvierten Schuljahre) und finanzielles Kapital (gemessen anhand des Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommens).
Je nachdem, wie "Entwicklung" definiert wird, kann man unterschiedliche, strategische Rollen für Migrantinnen und Migranten bzw. Diaspora als Entwicklungsakteure ausmachen. Wird Entwicklung ausschließlich als Wachstum des Bruttoinlandsproduktes definiert, ein Indikator der Makro-Ebene, scheint die Rolle eines einzelnen Migranten bzw. einer einzelnen Migrantin oder gar einer Diaspora-Gruppe nicht sehr bedeutsam. Wird Entwicklung hingegen als Ausbau von Humankapital verstanden, scheinen die Beiträge eines einzelnen Individuums wirkungsvoller.
Ein weiterer wichtiger Begriff ist Diaspora. Er wird sowohl in der akademischen als auch angewandten Literatur kontrovers diskutiert. In zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen meint Diaspora eine Gruppe von Migrantinnen und Migranten, die Externer Link: sich durch Charakteristika auszeichnen wie zum Beispiel eine geteilte Herkunft der Vorfahren, einen kollektiven Mythos über das Heimatland oder die Vergangenheit, ein geteiltes Gruppenbewusstsein und Engagement für den Schutz und die Verbesserung der Situation der Gruppe sowie das Bekenntnis (temporär) zum Herkunfts- oder Abstammungsort zurückkehren zu wollen. In älteren Definitionen des Begriffs entstand eine Diaspora durch eine traumatische Vertreibung und Zerstreuung einer Bevölkerung aus dem Heimatland (der Vorfahren), beispielsweise durch erzwungene Umsiedlung (wie im Fall von Afrikanerinnen und Afrikanern, die durch den Sklavenhandel verschleppt wurden) oder Zwangsmigration veranlasst durch Völkermord oder gewaltsamen Konflikt. Entsprechend dieser Vorstellung gilt die jüdische Diaspora als prototypische Diaspora. In neueren Begriffsdefinitionen wird die erzwungene Zerstreuung nicht mehr als kennzeichnendes Ereignis verstanden, das die Identität einer Diaspora prägt. Stattdessen wird der Begriff verwendet, um eine Bevölkerung zu beschreiben, die sich auf mindestens zwei Länder außerhalb des Herkunftslandes verteilt.
Im politischen Diskurs und im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff Diaspora synonym für jedwede Migrantengruppe verwendet, die sich durch ein Bündel bestimmter Merkmale auszeichnet. Zum Beispiel ist die Rede von der "indischen Diaspora". Sie umfasst alle im Ausland lebenden Inder_innen (und Indienstämmigen), unabhängig ihrer eigenen Identifikation mit und ihres Engagements für eine kollektive Gruppenidentität. In einigen Fällen mag der Begriff auch verwendet werden, um eine Bevölkerung zu kennzeichnen, die beispielsweise durch die Beteiligung in einem Verein oder einer Organisation, die sich um eine Gruppenidentität formt, kollektiv mobilisiert wird.
In diesem Beitrag bezieht sich der Begriff Diaspora auf jede Migrantenbevölkerung, eingeschlossen der ersten Migrantengeneration und ihrer Nachkommen, die nicht länger als "Migrantinnen und Migranten" bezeichnet werden sollten, da sie selbst keine eigene Migrationserfahrung besitzen. Sollte die Literatur, auf die sich dieser Beitrag stützt, eine bestimmte Bevölkerung als Diaspora verstehen, wird dies im Text angezeigt.
Innerhalb des Feldes der Migrationsstudien wird zunehmend der Begriff des transnationalen Migranten verwendet. Dieser bezeichnet ein Individuum, das Beziehungen sowohl zum Herkunfts- als auch zum Aufenthaltsland pflegt, beispielsweise durch soziale Netzwerke, zivilgesellschaftliche und politische Partizipation (z.B. Teilnahme an Wahlen), durch finanzielle Zuwendungen (z.B. Interner Link: Remittances) und andere grenzüberschreitende Aktivitäten. In zahlreichen Veröffentlichungen werden transnationale Migrantinnen und Migranten aufgrund ihrer Vertrautheit mit und ihres Engagements in mehreren Gesellschaften als am besten positionierte Akteure betrachtet, um Entwicklung zu fördern.
Beiträge der Diaspora zur Entwicklung des Herkunftslandes
Liegt ein einheitliches Verständnis von "Entwicklung" und "Diaspora" vor, ist es leichter zu verstehen, wie und unter welchen Bedingungen Diaspora-Gruppen zur Entwicklung beitragen können. In Übereinstimmung mit der oben dargestellten multidemensionalen Natur von Entwicklung, unterscheidet dieser Beitrag zwischen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklung.
Im Bereich der sozialen Entwicklung können Mitglieder der Diaspora durch den Transfer sozialer Rücküberweisungen (social remittances) zur Weiterentwicklung von Wissen und Normen beitragen. Bei sozialen Rücküberweisungen handelt es sich um Normen, Werte, Einstellungen und "Externer Link: Arten des Tuns und Seins", die Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsländer "schicken". Solche sozialen Rücküberweisungen können Innovationen widerspiegeln – zum Beispiel die Art und Weise, wie etwas produziert oder eine Dienstleistung ausgeführt wird – oder sie signalisieren sich verändernde Einstellungen zu Themen wie Gleichstellung, sexuelle und reproduktive Gesundheit oder Schutz von Freiheitsrechten, um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn Diaspora-Mitglieder neue Perspektiven mit denjenigen teilen, die im Herkunftsland verblieben sind, können sich im Laufe der Zeit subtile Veränderungen der Wertvorstellungen dieser Menschen ergeben. So unterstützt die Diaspora häufig allmählichen sozialen Wandel.
Neben dem subtilen Einfluss auf individuelle Werte, können Mitglieder der Diaspora das Wissen und die Fähigkeiten, die sie im Ausland erworben haben, nutzen, um durch Wissensnetzwerke direkt zur Entwicklung beizutragen. Einige transnationale oder Diaspora-Netzwerke haben sich explizit auf der Basis von Wissen und Expertise organisiert. Ein Beispiel sind die "Externer Link: Indus Entrepreneurs", eine Diaspora-Organisation, die die indische, pakistanische und bangladeschische sowie andere Diaspora-Gruppen aus der Region des Indus-Flusses dazu ermutigt, mit den im Ausland erworbenen Fähigkeiten und sozialen Netzwerken "zu Hause" Unternehmensentwicklung und Wachstum zu fördern. Ein weiteres Beispiel ist die "Externer Link: Nigerians in Diaspora Organization Europe" (NIDOE), eine Dachorganisation für Nigerianer, die in Europa leben. Sie bietet eine Plattform für Mitglieder der nigerianischen Diaspora, die bereit sind, mit spezifischen Fertigkeiten zu Nigerias Entwicklung beizutragen und im Rahmen von Entwicklungsaktivitäten im Herkunftsland (ihrer Vorfahren) zusammenzuarbeiten. Diese Diaspora-Netzwerke unterstützen Migrantinnen und Migranten dabei, gemeinsame Beiträge für ihr Herkunftsland zu leisten und sie bieten eine Struktur, um die Fähigkeiten und das Wissen ihrer Mitglieder zu mobilisieren.
Im wirtschaftlichen Bereich gibt es sowohl direkte als auch indirekte Wege, wie die Diaspora zu Entwicklung beitragen kann. Die Mobilität von Humankapital ist ein Beispiel für einen indirekten Weg. Wenn Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus und fachlichen Kompetenzen mobil sind, können sie dazu beitragen, dass das Angebot an und die Nachfrage nach bestimmten Fähigkeiten sowohl auf dem inländischen als auch auf dem ausländischen Arbeitsmarkt besser abgestimmt werden. Für einige qualifizierte Migrantinnen und Migranten, die auf dem lokalen Arbeitsmarkt keine ihren Qualifikationen entsprechenden Arbeitsplätze finden können, kann eine Migration und die anschließende Beschäftigung auf dem "richtigen" Qualifikationsniveau (mit besseren Löhnen) im Ausland zu einer höheren Bildungsrendite führen.
Der Transfer von finanziellen Rücküberweisungen, also das Geld, das ein Migrant oder eine Migrantin an andere Mitglieder seines/ihres sozialen Netzwerks schickt, stellen einen direkteren Weg dar, wie die Diaspora zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen kann. Zahlreiche Studien, einschließlich einer Untersuchung der Weltbank von elf lateinamerikanischen Ländern, haben gezeigt, wie der Externer Link: Empfang von Rücküberweisungen die Anzahl der von Armut und Härten betroffenen Individuen reduzieren kann. Für viele Empfänger stellen Rücküberweisungen vorhersehbare und regelmäßige Geldzahlungen dar, die bestehende Einkommensquellen ergänzen und diversifizieren. In vielen Kontexten wirken Rücküberweisungen als informelle soziale Sicherung. Sie helfen Haushalten, ihren Konsum über die Zeit zu glätten, indem sie es ihnen nicht nur ermöglichen, ihre Widerstandsfähigkeit gegen Einkommenseinbrüche zu erhöhen, sondern sich auch von Einkommensschocks zu erholen. Während oder unmittelbar im Anschluss an Umweltkrisen oder politische Krisen nehmen Rücküberweisungen tendenziell zu, damit die Empfänger sich schneller von der Krise erholen können, oder um sie zu schützen. Rücküberweisungen werden oft als Externer Link: antizyklisch beschrieben: So können sie in den Momenten ihren Höchststand erreichen, wenn andere Formen des Devisenhandels, wie ausländische Direktinvestitionen, abnehmen.
Auf der Meso- oder Makroebene kann die Diaspora zu robusteren Arbeitsmärkten beitragen. Mitglieder der Diaspora sind eher als ausländische Investorinnen und Investoren bereit, in einem weniger stabilen wirtschaftlichen oder politischen Umfeld ein Unternehmen zu gründen oder in ein solches zu investieren. Diaspora-Mitglieder wissen wahrscheinlich mehr über die lokalen Gegebenheiten und haben vor Ort Netzwerke, die ihnen helfen können, die regulatorischen Rahmenbedingungen zu verstehen. So gelingt es ihnen auch besser, Marktlücken zu entdecken, die mit innovativen Unternehmen besetzt werden können. Externer Link: Unternehmer_innen sowie Investorinnen und Investoren aus der Diaspora können selbst Unternehmen gründen oder zur Gründung von Unternehmen beitragen, die Arbeitsplätze schaffen. Dies kann die lokalen Wirtschaften unterstützen, indem Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Geschäfte, die durch die Diaspora unterstützt werden, insbesondere solche Unternehmen, die transnational agieren, können Handelsflüsse zwischen Aufenthalts- und Herkunftsland stärken. Die Beiträge, die Diaspora-Mitglieder zur Entwicklung im politischen Bereich leisten können, sind ähnlich vielfältig. Die Rolle der Diaspora bei der Unterstützung von Veränderungen politischer Steuerung, insbesondere in konflikthaften Umgebungen oder im Anschluss an Konflikte, ist Externer Link: gut dokumentiert. Es lässt sich nachweisen, dass die Diaspora zu Friedensverhandlungen und politischen Agenden nach der Beilegung von Konflikten beigetragen hat und zwar in so unterschiedlichen Kontexten wie Afghanistan, Burundi, Nepal, Somalia und Sudan. Diaspora-Gruppen haben als Vermittler zwischen Konfliktparteien gewirkt, den Dialog mit internationalen Mediatoren gefördert, Komponenten vorgeschlagen, die in Friedensvereinbarungen aufgenommen wurden und deren Umsetzung unterstützt. Die Externer Link: Diaspora kann ein Land auch dazu ermutigen, Übergangsregelungen im Bereich der Justiz einzuführen oder auszuweiten, wie Friedens- und Versöhnungsprozesse, die die Aufdeckung von Verbrechen aus der Vergangenheit begünstigen und dazu beitragen zwischen den unterschiedlichen Akteuren (wieder) Vertrauen herzustellen. Mitglieder der Diaspora, einschließlich Flüchtlinge, waren Befürworter einer Übergangsjustiz in Ländern wie Irak, Kenia, Liberia und Simbabwe.
Die Diaspora kann dabei helfen, politische Systeme wiederzubeleben, durch eine direkte oder indirekte Beteiligung an Wahlen und in politischen Systemen. Historisch haben ehemalige Diaspora-Mitglieder bedeutende Rollen in Regierungssystemen eingenommen. Das bekannteste Beispiel ist vermutlich Mahatma Gandhi, dessen Rückkehr aus dem Ausland (nach einem Aufenthalt von 21 Jahren in Südafrika, wo er als Anwalt arbeitete) politische Umbrüche in Gang setzte. Viele Externer Link: moderne Regierungen beinhalten ehemalige Diaspora-Mitglieder, die maßgeblich deswegen in ihre Herkunftsland zurückgekehrt sind, um dort in politischen Institutionen zu wirken. Im Jahr 2011 bestanden beispielsweise alle lokalen Regierungen Somalias zu mindestens einem Drittel aus ehemaligen Diaspora-Mitgliedern. In den Kurdengebieten im Irak waren 2013 rund 50 Prozent der Ministerinnen und Minister aus der Diaspora. 75 Prozent der Mitglieder des Interimskabinetts von Hamid Karzai in Afghanistan hatten vorher im Ausland gelebt. Die Diaspora kann zudem durch die Beteiligung an Wahlen aus dem Ausland eine wichtige Rolle bei der Gestaltung politischer Institutionen spielen. In einigen Ländern können die Wählerstimmen der Diaspora für das Wahlergebnis entscheidend sein, einschließlich in stabilen Demokratien wie Neuseeland, wo die Stimmen der Diaspora im Jahr 2008 zur Externer Link: Veränderung der Sitzverteilung zwischen den Parteien beitrugen. Die Beiteiligung der Diaspora in politischen Prozessen kann dazu führen, dass die politischen Systeme vielfältiger werden und ein breiteres Spektrum an Interessen und Meinungen widerspiegeln. In einigen Fällen führt dies dazu, dass auch Bevölkerungsgruppen repräsentiert werden, die zuvor innerhalb des politischen Systems marginalisiert wurden.
Die Beiträge der Diaspora zur Entwicklung im Aufnahmeland
Die getrennte Betrachtung der Beiträge der Diaspora zur Entwicklung einerseits der Herkunftsländer und andererseits der Aufnahmeländer verlangt nach einer klaren geografischen Trennung zwischen zwei Lebensorten der Diaspora. Wie oben schon gesagt wurde, sind viele der entwicklungsrelevanten Beiträge der Diaspora aber transnational und verbinden soziale, wirtschaftliche und politische Prozesse sowie Netzwerke über Orte hinweg. Diese Verbindungen werden besonders deutlich, wenn man sich anschaut, wie die Diaspora in den Aufnahmeländern Entwicklung fördern kann.
Beispielsweise konzentriert sich aktuelle Forschung zum Einfluss von Migration auf Zusammenhänge zwischen Innovation und Einwandererbevölkerung bzw. der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Gebiete mit Externer Link: einer hohen Konzentration von Migrantinnen und Migranten schneiden auf Innovationsindizes tendenziell besser ab, beispielsweise durch eine höhere Zahl an Patenten, die in diesen Gebieten angemeldet wird. Migrantinnen und Migranten können nicht nur als individuelle Wissensbrücken zwischen Ländern und Kontinenten wirken, sondern auch Wissensnetzwerke aufbauen, die den Fluss von Ideen und die Zusammenarbeit über Orte und manchmal Industrien hinweg erleichtern. Der Austausch von Ideen in vielfältigen Gemeinschaften kann zu sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung beitragen. Gesellschaftliche Werte, die sich auf die Unterstützung von kulturellem und politischem Pluralismus beziehen, sowie die Förderung unterschiedlicher Wissensformen können sich durch Migration verändern, was gesellschaftlichen Fortschritt anzeigen kann. Aus wirtschaftlicher Perspektive kann die Entwicklung von neuen Ideen und Normen wirtschaftliche Diversifizierung, Innovation und schließlich Wachstum fördern.
Wie in den Herkunftsländern kann das von der Diaspora angestoßene Wachstum von transnationalem Wissen und von Geschäftsnetzwerken in den Aufenthaltsländern wirtschaftliches Wachstum fördern, insbesondere durch die Schaffung neuer Unternehmen. In vielen Ländern gründen Diaspora-Mitglieder Geschäfte, die Lücken auf dem lokalen Markt füllen, entweder, indem sie bisher unbekannte Güter oder innovative Dienstleistungen anbieten. Ein aktuelles Externer Link: Buch des Journalisten Robert Guest bietet zahlreiche Beispiele dafür, wie migrantische Unternehmer_innen in ihren Aufenthaltsgemeinden Innovation angestoßen haben. Oft geschieht das durch die Kombination von Fähigkeiten und Wissen, das sie an unterschiedlichen Orten erlangt haben, und indem sie über verschiedene Länder verstreute Mitglieder sozialer Netzwerke miteinander in Verbindung gebracht haben. Die Entwicklung neuer Geschäfte im Aufnahmeland kann Arbeitsplätze auf dem lokalen Markt schaffen und manchmal auch dazu beitragen, die Kosten für produzierte Güter und Dienstleistungen zu senken.
Migrantische Arbeitskräfte können auch eine wichtige Rolle dabei spielen, lokale Ökonomien zu stärken, indem sie die Verfügbarkeit bestimmter Arten von Fertigkeiten und Wissen verändern. Migrantische Arbeitnehmer verschiedenster Qualifikationsniveaus können Diskrepanzen zwischen dem lokalen Angebot an Arbeitskräften und der Nachfrage verringern, was die Effizienz lokaler Märkte erhöht. Dies gilt insbesondere in Ländern mit einer Externer Link: drohenden demografischen Ruhestandskrise. Wie gut dies gelingt, hängt zum Teil davon ab, ob es sich bei Zugewanderten um ergänzende (komplementäre) oder ersätzende (substituierende) Arbeitskräfte handelt. Substituierende migrantische Arbeitskraft bedeutet, dass das Qualifikationsprofil sowie die Übereinstimmung von Fähigkeiten und beruflichen Funktionen migrantischer Arbeitskräfte mit denen lokaler Arbeitskräfte vergleichbar ist. Komplementäre Arbeitskräfte ergänzen hingegen die Fähigkeiten, die bereits auf dem lokalen Markt verfügbar sind. So können sie in einigen Fällen Qualifikationslücken schließen oder bestimmte qualifizierte Funktionen effektiver ausführen als lokale Arbeitskräfte. Komplementäre migrantische Arbeitskraft wird daher häufig als nützlicher für lokale Ökonomien beschrieben, weil sie die Effizienz lokaler Märkte erhöht, während potenziell mehr Beschäftigung für lokale Arbeitskräfte geschafften wird. In Ländern wie Italien zum Beispiel ist die Externer Link: Zuwanderung von Migrantinnen, die sich um Kinder und alte Menschen kümmern, als weitgehend komplementär betrachtet worden. Ihre Dienstleistungen haben es italienischen Frauen, die diese Funktionen zuvor ausfüllten, erlaubt, in eine formelle Beschäftigung zurückzukehren oder in einer solchen zu verbleiben. In den USA hat die Zuwanderung von niedriger qualifizierten Arbeitskräften in Industrien wie dem Baugewerbe zu Externer Link: einer erhöhten Beschäftigungsmobilität unter niedriger qualifizierten einheimischen Arbeitskräften geführt: Einheimische Arbeitskräfte haben einige Wettbewerbsvorteile gegenüber migrantischen Arbeitskräften, einschließlich Sprachkenntnisse und andere Kommunikationsfähigkeiten. Wenn Arbeitskräfte einwandern und körperliche Tätigkeiten übernehmen, können einheimische Arbeitskräfte, die diese Jobs in der Vergangenheit verrichtet haben, in höhere Funktionen aufsteigen, beispielsweise in Verwaltung und Vertrieb, in denen sie ihr lokales Wissen besser nutzen können.
Während sich ein Großteil der bisherigen Ausführungen auf Neuzuwanderer bezieht, kann die Diaspora, die sowohl aus alten als auch neuen Kohorten mobiler Bevölkerungen besteht, eine wichtige Rolle in der politischen Entwicklung der Zielländer spielen. Sie kann eine größere Vielfalt und Pluralität von Politiken fördern, weil die Wählerschaft vielfältiger wird. Das kann auch für die politischen Institutionen gelten, die sie repräsentieren. Mitglieder der Diaspora, die das passive Wahlrecht haben – weil sie beispielsweise die Staatsangehörigkeit des Aufnahmelandes besitzen und/oder sich für eine bestimmte Mindestdauer im Land aufgehalten haben – können als gewählte Abgeordnete auch einen direkten Beitrag in politischen Institutionen leisten. Es gibt zahlreiche bekannte Politikerinnen und Politiker in verschiedenen Ländern, die entweder doppelte Staatsbürger oder Mitglieder der bereits lange im Land lebenden Diaspora sind. In einigen Fällen kann die Partizipation von Diaspora-Mitgliedern im politischen System des Aufnahmelandes zu einer besseren Repräsentation von Migranten- und Diasporagruppen in lokalen Regierungen beitragen. Die Beteiligung der Diaspora in der Politik, sowohl als Wählende als auch als Politikerinnen und Politiker, kann ein größeres Engagement für bilaterale Abkommen oder bilaterale politische Themen fördern. Ein weiterer Bereich politischen Engagements liegt in der Externer Link: Lobbyarbeit und der Bewusstseinsbildung: Viele Diaspora-Gruppen, insbesondere in durch Vielfalt geprägten Ländern wie den USA, bilden Koalitionen, um sich für bilaterale politische Fragen mit Einfluss auf Entwicklungsprozesse einzusetzen (wie Schuldenerlass oder Beihilfepolitiken). Bilaterale Vereinbarungen zur Übertragung von Pensionsansprüchen können zum Beispiel Mitglieder der Diaspora beeinflussen, die auf das Rentenalter zugehen und über ihre weiteren Mobilitätsschritte nachdenken.
Verbleibende Kontroversen und Schlussfolgerungen
Dieser Beitrag hat die verschiedenen positiven Zusammenhänge zwischen Diaspora und Entwicklung kurz zusammengefasst, aber dabei Aspekte ausgelassen, die grundlegende Bedingungen für diese Zusammenhänge darstellen. Der Einfluss von Migrantinnen und Migranten bzw. Diaspora-Gruppen auf Entwicklung ist umstritten. Die Modellierung der Auswirkungen setzt differenzierte und spezifische Daten voraus, die oft aber nicht vorliegen. Eine Schlüsselherausforderung liegt darin, dass die Identifizierung von "Einflüssen" die gesonderte Betrachtung von Migration als Entwicklungsfaktor voraussetzt. Die Mobilität von Menschen erfolgt allerdings oft parallel zu anderen Veränderungen oder Trends – wie Handelsabkommen und eine erhöhte Mobilität von Gütern – die ebenfalls Entwicklung beeinflussen können. Eine zusätzliche Herausforderung besteht darin, dass Entwicklung ein kontinuierlicher Prozess ist. Daher werden Daten benötigt, die über längere Zeiträume gesammelt werden, um die kurz-, mittel- und langfristigen Auswirkungen von Migration auf ein bestimmtes Bündel an Entwicklungsindikatoren verstehen zu können.
Eine weitere Kontroverse besteht darin, dass viele positive Einflüsse auf Entwicklungsprozesse, die der Diaspora zugeschrieben werden, negative Kehrseiten oder Perspektiven haben können. So können zum Beispiel die Beiträge der Diaspora zu vielfältigeren und repräsentativeren politischen Systemen in Herkunfts- und Aufenthaltsländern unbeabsichtigt zu einer Fragmentierung politischer Parteien und Interessen beitragen. Das kann den Wettbewerb um Macht und Ressourcen in ohnehin schon fragilen politischen Kontexten verstärken. Zudem kann eine zunehmende Zahl zugewanderter Arbeitskräfte in einigen lokalen Ökonomien Externer Link: zu sinkenden Löhnen und der Aushöhlung des Arbeitsschutzes beitragen. Dies trifft insbesondere in Ländern mit schwacher Arbeitsmarktregulierung zu. Die Beiträge von Migrantinnen, Migranten und der Diaspora zur Entwicklung sollten daher in jedem lokalen Kontext sorgfältig geprüft werden. Dies macht es schwierig, daraus Erkenntnisse und Lektionen abzuleiten, die allgemeine Gültigkeit besitzen.
Trotz dieser Vorbehalte existieren dennoch starke Indizien dafür, dass Diaspora-Gruppen mächtige Agenten sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklung sein können. Es gibt allerdings bestimmte Bedingungen, unter denen sie größeren Erfolg als Entwicklungsimpulsgeberinnen haben. Sowohl akademische als auch Politikforschung betonen, dass das rechtliche und wirtschaftliche Umfeld eine wichtige Rolle einnimmt, um die positiven Entwicklungseinflüsse der Diaspora zu stärken. Politiken, die es der Diaspora ermöglichen, ein transnationales Leben zu führen und verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Systemen gleichzeitig anzugehören, sind ein Schlüssel bei der Unterstützung von Diaspora-Gruppen, positive Beiträge zu leisten. Diese Politiken beziehen sich nicht nur auf Identität (z.B. Akzeptanz Interner Link: doppelter Staatsangehörigkeit, Ausstellen von Identitätsdokumenten wie Genehmigungen zum Aufenthalt im Ausland), sondern auch auf wirtschaftliche Sicherheit, einschließlich des Rechts, zu Sozialversicherungssystemen nicht nur beizutragen, sondern auch Leistungen (wie z.B. Renten) zu beziehen. Sowohl im Herkunfts- als auch im Zielland, sind Migrantinnen, Migranten und Diaspora-Mitglieder besser ausgerüstet zur Entwicklung beizutragen, wenn sie Sicherheit bzgl. ihrer Identität und ihres Aufenthalts(status) haben. Dazu zählt auch das Recht, sich (temporär oder dauerhaft) im Herkunftsland aufhalten zu dürfen, ohne die Möglichkeit zu verlieren, wieder ins Aufnahmeland zurückzukehren. Eine weitere wichtige Bedingung für entwicklungspolitisches Engagement ist die Qualität und die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses. Beide sind sowohl ein Zeichen für Integration als auch ein Spiegel der Rechte, die ein Migrant oder eine Migrantin genießt. Es liegt zwar nicht im direkten Einflussbereich der Migrationspolitik, aber die Transparenz und Berechenbarkeit des wirtschaftlichen Umfelds stellt auch eine wichtige Komponente dar, um Entwicklungsbeiträge der Diaspora sicherzustellen. Damit ein Diaspora-Mitglied in das Herkunftsland (seiner Vorfahren) investiert, ist es z.B. wichtig, dass er oder sie wirtschaftliche Risiken kalkulieren kann und Vertrauen in die Institutionen hat, die wirtschaftlichen Austausch steuern. Während Diaspora-Mitglieder von Natur aus eher geneigt sein mögen, zu Entwicklungsprozessen beizutragen, bleibt eine verantwortungsvolle Regierungsführung grundlegend, um diesen Austausch zu unterstützen.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration und Entwicklung.
Quellen / Literatur
de Haas, H. (2010): Externer Link: Migration and development: A theoretical perspective. International Migration Review, Jg. 44, Nr. 1, S. 227-264.
Javorcik, B.S., Özden, C., Spatareanu, M., Neagu, C. (2011): Externer Link: Migrant networks and foreign direct investment. Journal of Development Economics, Jg. 94, Nr. 2, S. 231-241.
Kuznetsov, Y. (2006): Externer Link: Diaspora Networks and the International Migration of Skills: How Countries Can Draw on Their Talent Abroad. WBI Development Studies. Weltbank: Washington, DC.
Nyberg-Sorensen, N., van Hear, N., Engberg-Pdersen, P. (2002): Externer Link: The migration-development nexus: Evidence and policy options, a state-of-the-art overview. International Migration, Jg. 40, Nr. 5, S. 3-47.
Skeldon, R. (2010): Externer Link: Managing migration for development: Is circular migration the answer? Whitehead Journal of Diplomacy and International Relation, Jg. 11, Nr. 1, S. 21-34.
Wescott, C., Brinkerhoff, J. (Hg.) (2006): Converting Migration Drains into Gains: Harnessing the Resources of Overseas Professionals. Asian Development Bank: Philippinen.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-26T00:00:00 | 2018-01-12T00:00:00 | 2021-11-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-und-entwicklung/262806/diaspora-als-impulsgeberin-fuer-entwicklung/ | Die globale Mobilität von Ideen und Menschen sowie neue Technologien haben dazu beigetragen, dass Migrantinnen und Migranten dauerhafte Verbindungen zu mehreren Ländern aufrecht erhalten können. Das Wissen, die Fertigkeiten, Werte und Ressourcen, übe | [
"Diaspora",
"Entwicklungsprozess",
"Entwicklungshilfe"
] | 255 |
Abkürzungsverzeichnis | Russlanddeutsche | bpb.de |
AdW: Akademie der Wissenschaften
Anm.: Anmerkung (auch: Fußnote)
ASSR: Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (d.h.: Autonome Republik)
ASSRdWD: ASSR der Wolgadeutschen
BSE: Bolschaja Sowetskaja Enziklopedija (Die Große Sowjetenzyklopädie)
d.: delo (Akte, manchmal: Akteneinheit)
d.h.: das heißt
Dok.: Dokument
f.: fond (Bestand)
i.S.: im Sinne
l.: list (Blatt)
ll.: listy (Blätter)
NKWD: Narodny Kommissariat Wnutrennich Del (Volkskommissariat des Inneren)
op.: opis‘ (Verzeichnis)
OWIR: Otdel Wis i Rasrescheni (Abteilung für Visen und Erlaubnisse)
RSFSR: Russländische (auch: Russische) Sozialistische Föderative Sowjetrepublik
Sp.: Spalte
SSR: Sozialistische Sowjetrepublik (d.h.: Unionsrepublik)
StGB: Strafgesetzbuch
t.: tom (Band)
ZK: Zentralkomitee
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-01-14T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/russlanddeutsche/283811/abkuerzungsverzeichnis/ | [
"Russlanddeutscher Samisdat"
] | 256 |
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IT-Sicherheit im US-Wahlkampf | USA | bpb.de | Wahlen werden weltweit immer digitaler. Das bietet neben vielen Vorteilen auch neue Herausforderungen: Am Beispiel der US-Präsidentschaftswahl 2016 lässt sich gut nachvollziehen, wie mit Interner Link: Desinformation und Interner Link: Cyberoperationen versucht wurde, Einfluss auf die Wahl zu nehmen. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 haben die USA sowohl auf Regierungsebene als auch auf zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Ebene Maßnahmen ergriffen, um sich gegen die Wirksamkeit von Cyberoperationen und Interner Link: Desinformation zu schützen.
Cyberoperationen und Desinformation im US-Präsidentschafts-wahlkampf 2016
Im Vorfeld der letzten US-Präsidentschaftswahlen 2016 mischte sich Russland mittels Cyberangriffen in den Wahlkampf ein: Russland griff 2015 und 2016 mittels solcher Cyberangriffe die Demokratische Partei auf Bundesebene (Democratic National Committee, DNC) an. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DNC schickte der russische Geheimdienst innerhalb von fünf Tagen dutzende Interner Link: Spear-Phishing-E-Mails an die Arbeits- und persönlichen Konten. Auch betroffen waren freiwillige Unterstützerinnen und Unterstützer der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton. Ziel war es, in deren Computersysteme einzudringen, um mithilfe der gestohlenen Informationen, unter anderem Passwörter, in die Netzwerke des DNC einzudringen. So erhielt der russische Geheimdienst auch Zugriff auf die E-Mails von Clintons Wahlkampfchef, John Podesta. Interner Link: [1] Dort gewonnene Informationen wurden veröffentlicht, was für die Demokraten hochbrisant war. Denn die E-Mails heizten bestehende Zweifel darüber an, wie neutral das DNC bei der Wahl zwischen der Präsidentschafts-Anwärterin Clinton und Anwärter Bernie Sanders war. Die Vorsitzende des DNC trat in der Folge zurück. Interner Link: [2]
Ausspähung: Datenbanken der Wählerinnen und Wähler
Cyberoperationen dienen außerdem dazu, Schwachstellen von IT-Systemen auszunützen, um an laufende Kommunikation oder gespeicherte Daten zu kommen. Interner Link: [3]
Dieselbe russische Geheimdiensteinheit, die für die Cyberangriffe auf das DNC verantwortlich war, zielte auch auf US-Wahlbüros sowie US-amerikanische Hersteller von Wahlgeräten ab. Etwa im Juni 2016 kompromittierte der russische Militärnachrichtendienst GRU das Computernetz des Staates Illinois und erhielt – durch eine Sicherheitslücke auf der Webseite – Zugriff auf eine Datenbank mit Informationen zu Millionen registrierter Wählerinnen und Wähler in Illinois. Interner Link: [4] Zudem gab der Gouverneur in Florida an, dass auch zwei Bezirke in seinem Staat betroffen waren und auch dort ein Zugriff auf jene Daten möglich war. Interner Link: [5] Verzeichnisse über Stimmberechtigte sind wichtig für die Wahl, weil eine Veränderung der Daten dazu führen kann, dass Wählerinnen und Wähler daran gehindert werden, ihre Stimme abzugeben oder dies erst nach einer erneuten Verifizierung tun können. In diesem Fall wurden allerdings keine Änderung der Daten oder Abstimmungen belegt. Allein der Versuch des Eindringens kann jedoch schon problematisch sein, da dadurch die Legitimation der Ergebnisse der Wahlen angezweifelt werden könnte. Interner Link: [6]
Soziale Medien: Hetzerische Inhalte und gefälschte Accounts
Ein Dreh- und Angelpunkt russischer Aktivitäten in den sozialen Medien in den USA war die Interner Link: Internet Research Agency (IRA). Dieses Unternehmen steuerte laut US-Regierungsermittlungen gefälschte Social-Media-Accounts auf Facebook, YouTube, Twitter, Instagram und Tumblr, um unter anderem hetzerische Botschaften zu gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen zu verbreiten. Interner Link: [7] Oftmals gaben sich IRA-Mitarbeitende dabei als US-amerikanische Bürgerinnen und Bürger oder gemeinnützige Vereine aus.
Welche Auswirkungen diese Aktivitäten auf die Wahl hatten, ist umstritten. Einige Analysen sprechen von einer amateurhaften Kampagne Interner Link: [8] und verweisen darauf, dass Ausmaß und Auswirkungen von (russischer) Desinformation nicht klar erfasst sind Interner Link: [9a]. Andere betonen, dass Millionen US-Amerikanerinnen und Amerikaner mit IRA-Inhalten in Kontakt gekommen sind, die oft dazu dienen sollten, etwa Minderheiten von der Wahl abzuhalten oder Streit unter den Unterstützerinnern und Unterstützern der Demokraten anzustacheln Interner Link: [9b]. Es lässt sich in jedem Fall sagen, dass es der IRA gelang, ihre Inhalte über kleine Gruppen im Netz zu streuen. Auch das durch die Berichterstattung vermittelte Gefühl einer "Bedrohung von außen" durch die IRA könnte letztendlich dazu beigetragen haben, Misstrauen in den Wahlprozess zu streuen.
Reaktionen und Schutzmaßnahmen in den USA, 2016-2020
Die Einmischung in die US-Wahlen 2016 war ein Wendepunkt in einer langjährigen Diskussion um die Sicherheit von Wahlen. In der Folge wurden in den USA diverse Maßnahmen getroffen. Diese zeigen, dass der Schutz von Wahlen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, denn sie umfassen Maßnahmen des Staates, der Wirtschaft, der Wissenschaft sowie der Zivilgesellschaft.
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 zeichnete sich ab, wie schwierig es ist, Desinformation und Cyberoperationen in den Griff zu bekommen. Interner Link: [10] Ein Faktor ist, dass sich der Wahlkampf aufgrund der Covid-19-Pandemie noch stärker ins Internet verlagert hat. Das bietet weitere Angriffsflächen: Einerseits werden Kampagnen online geplant und umgesetzt. Andererseits werden aber auch weitaus mehr Menschen als üblich von der Briefwahl Gebrauch machen. Gerade zur Briefwahl und den Wahlmodalitäten in der Pandemie kursierte bereits Monate vor der Wahl Desinformation – diese stammte allerdings nicht vornehmlich von ausländischen Akteurinnen und Akteuren, sondern aus dem Weißen Haus selbst. Hierbei ist die Gefahr vor allem, dass Bürgerinnen und Bürger, das Vertrauen in den Wahlprozess oder das Endergebnis verlieren.
Die zentrale Frage ist, wie die Widerstandsfähigkeit von Parteien, sozialen Medien, Bürgerinnen und Bürgern und auch der IT-Infrastruktur so verbessert werden kann, dass die Wirkung von Desinformation und Cyberoperationen abgeschwächt wird. Einige Maßnahmen werden im Folgenden beispielhaft aufgezeigt. Wie gut die Schutzmaßnahmen und Reaktionen wirken und ob sie ausreichen, wird sich erst nach der Wahl zeigen.
Konsequenzen russischer Einflussnahme auf den US-Wahlkampf
Staat
Legislative
Gesetze zur Finanzierung von IT-Sicherheitsmaßnahmen
Der Kongress stellte insgesamt 805 Millionen US-Dollar für Verbesserungen der Infrastruktur der Wahlsicherheit bereit. Die US-Bundesstaaten entscheiden darüber, wie das Geld verwendet wird. Interner Link: [11] Expertinnen und Experten warnen jedoch davor, dass das Geld nicht ausreiche, um die IT-Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten. Ein akutes Problem stellen beispielsweise Wahlgeräte dar, die keine unabhängige Überprüfung der Wahlergebnisse zulassen und die erwiesenermaßen gehackt werden können. Interner Link: [12]
Anhörungen
Es gab mehrere Anhörungen in parlamentarischen Ausschüssen, etwa zur Sicherung der US-Wahlinfrastruktur oder zum "Schutz des politischen Diskurses" Interner Link: [13] und der Integrität der Wahl Interner Link: [14], um die Problematik nachvollziehbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu identifizieren.
Beauftragung von Studien
Der Kongress gab Studien zur Wahlsicherheit in Auftrag. Hier sticht insbesondere die überparteiliche Untersuchung des Geheimdienstausschusses des US-Senats hervor, die in fünf Bänden detailliert die Einflussnahme Russlands aufarbeitet. Interner Link: [15] Auch Studien speziell zu Desinformation in sozialen Netzwerken wurden veröffentlicht. Interner Link: [16]
Exekutive
Sonderermittlung
Zwischen Mai 2017 und März 2019 untersuchte der Sonderermittler Robert Mueller die Einflussnahme Russlands im US-Wahlkampf 2016. Diese Ermittlung wurde vom US-Justizministerium beauftragt, nachdem hunderte Abgeordnete eine solche Untersuchung gefordert hatten. Interner Link: [17] Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass es eindeutige und nachweisliche Versuche Russlands gab, Einfluss auf die Wahl und den Meinungsbildungsprozess in den USA zu nehmen.
IT-Sicherheitschecks und Öffentlichkeitsarbeit
Durch Tests von staatlichen und lokalen Wahlsystemen, die durch das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) durchgeführt wurden, konnten verschiedene Schwachstellen aufgedeckt werden, insbesondere auf lokaler Ebene. Einige Regierungsangestellte teilten zum Beispiel immer noch Passwörter und andere Anmeldeinformationen miteinander oder nutzten Standardkennwörter. Um auf die Gefahr von Cyberangriffen aufmerksam zu machen, warnt das DHS u.a. auf Twitter vor Angreiferinnen und Angreifer und weist auf Möglichkeiten hin, sich davor zu schützen Interner Link: [18].
Verordnungen
Einige Verordnungen befassen sich mit Wahlbeeinflussung, beispielsweise die von Präsident Donald J. Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung (executive order), welche Sanktionen gegen jede Nation oder Einzelperson vorsieht, die Einmischungen in US-Wahlen autorisiert, leitet oder unterstützt. Interner Link: [19]
Cyberoperationen des US-Militärs
Das US-Militär (US Cyber Command) nutzte 2018 Cyberoperationen, um den Internetzugang der IRA zu blockieren und so die Verbreitung von Desinformation zu stoppen. Interner Link: [20]
Außenpolitische Sanktionen
Seit 2015 können auch auf diplomatischer Ebene Sanktionen erfolgen und beispielsweise Personal ausländischer Botschaften oder Organisationen ausgewiesen werden. Interner Link: [21] Das US-Finanzministerium (Department of the Treasury) hat zudem Sanktionen gegen russische Staatsangehörige verhängt, denen vorgeworfen wird, für die IRA zu arbeiten. Interner Link: [22]
Judikative
Anklagen
Das US-Justizministerium hat zwölf russische Geheimdienstoffiziere angeklagt, bei den US-Wahlen 2016 Daten von Beamtinnen und Beamten der Demokratischen Partei gehackt zu haben. Interner Link: [23] Zudem wurden die IRA und einige mutmaßliche Mitarbeitende angeklagt. Interner Link: [24]
Parteien
IT-Sicherheitsexpertise
Das DNC setzte einen vierköpfigen Beirat für Cybersicherheit ein Interner Link: [25], schaffte Stellen für IT-Sicherheitsbeauftragte Interner Link: [26] und führte Trainings und Simulationen Interner Link: [27] durch. Außerdem wurde eine Checkliste mit Sicherheitshinweisen Interner Link: [28] entwickelt. Wahlkampagnen beschäftigen nun interne Spezialistinnen und Spezialisten für Cybersicherheit, so auch die Kampagnen von Joe Biden und Donald Trump im Wahlkampf 2020. Interner Link: [29] Im Vorhinein waren sie auf externe Beraterinnen und Berater angewiesen. Interner Link: [30]
Privatsektor
Einschränkungen von Werbeanzeigen und Einführung von Werbearchiven
In den USA können Werbeanzeigen nicht mehr in ausländischen Währungen bezahlt werden. Es gibt zudem ein öffentlich einsehbares Archiv aller politischen Werbeanzeigen. Interner Link: [31]
Zusatzinformationen sichtbar machen
Auch große Tech-Konzerne haben in den letzten Jahren personell und technologisch investiert, um gefälschte Social-Media-Accounts rascher zu entdecken. Facebook und Twitter ergänzen außerdem einige politische Posts mit eigenen Informationen, Links und weiterführenden Quellen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, wie strikt die Plattformen ihre eigenen Regeln gegen Desinformation und Hetze durchsetzen, gibt es noch nicht.
Analyse und Warnungen vor versuchten Angriffen
Private Firmen, z. B. Microsoft und Crowdstrike, analysieren Angriffe und warnen während des Wahlkampfes vor versuchten Angriffen. Außerdem geben sie Empfehlungen für IT-Sicherheitsmaßnahmen ab. Interner Link: [32]
Wissenschaft
Studien und Trainings zur IT-Sicherheit
Das parteiübergreifende Defending Digital Democracy Project (D3P) des Belfer Centers der Harvard Universität arbeitet seit 2017 mit Wahlbeamtinnen und Beamten im ganzen Land zusammen, um sie beim Aufbau von Schutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Cyber- und Desinformationsangriffe zu unterstützen. Interner Link: [33]
Zivilgesellschaft
Analysen und Empfehlungen zur Wahlsicherheit
Einige zivilgesellschaftliche Organisationen haben Nachforschungen angestellt und zentrale Personen in der Wahlverwaltung befragt, um die Bedrohungen der Cybersicherheit besser zu verstehen. Danach wurden Maßnahmen entwickelt, die von Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten und anderen bei künftigen Wahlen implementiert werden können Interner Link: [34]. Außerdem wurden Studien veröffentlicht, die Angriffstaktiken und Schutzmaßnahmen evaluieren Interner Link: [35].
Glossar
Cyberoperation
Eine Cyberoperation ist der gezielte Einsatz und die Veränderung von digitalem Code durch Individuen, Gruppen, Organisationen oder Staaten unter Nutzung von digitalen Netzwerken, Systemen und verbundenen Geräten [...] um Informationen zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Ziel ist es, konkrete Akteurinnen und Akteure zu schwächen oder zu beschädigen. Interner Link: [36]
Desinformation
Desinformation meint Inhalte, die nachweislich falsch oder irreführend sind und eingesetzt werden, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen und/oder anderen zu schaden. Interner Link: [37]
Internet Research Agency (IRA)
Dieses Unternehmen sitzt in Sankt Petersburg und steht laut US-Sicherheitsdiensten in Verbindung mit der russischen Regierung. Interner Link: [38]
IRA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden beschuldigt, im US-Wahlkampf gefälschte Social-Media-Konten betrieben zu haben. Das US-Justizministerium klagte das Unternehmen deshalb 2018 an. Interner Link: [39]
Spear-Phishing
Spear-Phishing ist ein Betrugsversuch, bei dem die/der Angreifer/-in die Opfer davon zu überzeugen versucht, dass die Kommunikation von einer vertrauenswürdigen Quelle kommt. Ziel ist es, so an bestimmte Daten zu kommen. Interner Link: [40]
Leaken
Leaken ist eine Taktik, bei der vertrauliche Informationen über eine Zielperson herausgefunden und veröffentlicht werden und zielt vor allem auf die Vertraulichkeit von Daten ab. Ziel ist es, an schädigende Informationen über eine Person zu gelangen und diese dann zu veröffentlichen. Interner Link: [41]
Fußnoten
1 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 2 Edward-Isaac Dovere and Gabriel Debenedetti. (2016). Externer Link: Heads roll at the DNC. Politico. 3 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 4 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election p.36. 5 Makena Kelly. (2019). Externer Link: Russians hacked voting databases in two Florida counties in 2016 governor says. 6 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 7 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 8 Thomas Rid. (2018). Active Measures: The Secret History of Disinformation and Political Warfare. Kapitel 30. Farrar, Straus and Giroux.; Aaron Maté. New Studies Show Pundits Are Wrong About Russian Social-Media Involvement in US Politics. 9a Gabrielle Lim. (2020). Externer Link: The Risks of Exaggerating Foreign Influence Operations and Disinformation. 9b Philip N. Howard et al. (2018). Externer Link: "The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012-2018"; Renee DiResta et al. (2018). Externer Link: "The Disinformation Report: The Tactics & Tropes of the Internet Research Agency". 10 Süddeutsche. (2020). Externer Link: Zahlreiche Hackerangriffe auf US-Wahlkampfteams. 11 Miles Parks. (2019). Externer Link: Congress Allocates $425 Million For Election Security In New Legislation. 12 Eric Geller et al (2019). Externer Link: The scramble to secure America’s voting machines. Politico. 13 Subcommittees National Security (116th Congress). (2019). Externer Link: Securing U.S. Election Infrastructure and Protecting Political Discourse. The Committee on Oversight and Reform. 14 Subcommittee of Cybersecurity Infrastructure Protection, & Innovation (116th Congress). (2020). Externer Link: Secure, Safe, and Auditable: Potecting the integrity of the 2020 elections. 15 Select Committee on Intelligence United States Senate. (2019). Externer Link: Report of the Select of Committee on Intelligence United States Senate On Russian Active Measures Campaigns and Interference in the 2016 U.S. Election. 16 Renee DiResta u. a.(2019). Externer Link: The Tactics & Tropes of the Internet Research Agency; Howard u. a. 2018). Externer Link: The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012-2018. 17 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 18 Chris Krebs. (2020). Externer Link: Tweet. 19 Executive Office of the President. (2018). Externer Link: Imposing Certain Sanctions in the Event of Foreign Interference in a United States Election. 20 Ellen Nakashima. (2019). Externer Link: U.S. Cyber Command operation disrupted Internet access of Russian troll factory on day of 2018 midterms. 21 U.S. Department of State. (2020). Externer Link: Cyber Sanctions. 22 U.S. Department of the Treasury. (2019). Externer Link: Treasury Targets Assets of Russian Financier who Attempted to Influence 2018 U.S. Elections. 23 Justice Departement. (2018). Externer Link: Case 1:18-cr-00215-ABJ Document 1 Filed 07/13/18. 24 Dan Mangan und Mike Calia. (2018). Externer Link: Special counsel Mueller: Russians conducted ‘information warfare’ against US during election to help Donald Trump win. 25 Noland D. McCaskill. (2016). Externer Link: DNC creates cybersecurity advisory board following hack. 26 Joe Perticone. (2018). Externer Link: The Democratic National Committee hired a Yahoo executive to beef up its cyber security. 27 Tim Starks. (2020). Externer Link: DNC ramps up 2020 cyber protections, NRCC falls victim to hackers. 28 Sean Lyngaas. (2019). Externer Link: DNC updates cybersecurity advice to protect candidates from hackers in 2020. 29 Eric Geller. (2020). Externer Link: Biden campaign taps Obama administration alum to lead cybersecurity team. 30 Michael Riley. (2016). Externer Link: DNC Ignored Cybersecurity Advice that May Have Prevented Recent Breach. 31 Für Kritik hieran, siehe u.a. Mozilla. (2019). Externer Link: Facebook and Google: This is What an Effective Ad Archive API Looks Like. 32 New York Times. (2020). Externer Link: Russian Intelligence Hackers Are Back, Microsoft Warns, Aiming at Officials of Both Parties. 33 Belfer Center. (2020). Externer Link: Defending Digital Democracy Project Advances Election Security. 34 Center for Democracy and Technology. (2020). Externer Link: Election Security Ressources. 35 U.a. von German Marshall Fund. (2020). Externer Link: Alliance For Securing Democracy.; Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 36 Sven Herpig. (2016). Externer Link: Anti-War and the Cyber Triangle: Strategic Implications of Cyber Operations and Cyber Security for the State. 37 European Commission, COM. (2018). 794 final: Report on the implementation of the Communication ‚Externer Link: Tackling online disinformation: a European Approach, 2–3.; zur Definition siehe auch Alexander Sängerlaub, Miriam Meier, und Wolf-Dieter Rühl. (2018). Externer Link: Fakten statt Fakes. Verursacher, Verbreitungswege und Wirkungen von Fake News im Bundestagswahlkampf 2017. 10–13.; Alexandre Alaphilippe. (2020). Externer Link: Adding a ‚D‘ to the ABC Disinformation Framework. 38 National Intelligence Council. (2017). Externer Link: Background to Assessing Russian Activities and Intentions in Recent US Elections: The Analytic Process and Cyber Incident Attribution. 39 Dan Mangan und Mike Calia. (2018). Externer Link: Special counsel Mueller: Russians conducted ‘information warfare’ against US during election to help Donald Trump win. 40 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 41 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften.
Staat
Legislative
Gesetze zur Finanzierung von IT-Sicherheitsmaßnahmen
Der Kongress stellte insgesamt 805 Millionen US-Dollar für Verbesserungen der Infrastruktur der Wahlsicherheit bereit. Die US-Bundesstaaten entscheiden darüber, wie das Geld verwendet wird. Interner Link: [11] Expertinnen und Experten warnen jedoch davor, dass das Geld nicht ausreiche, um die IT-Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten. Ein akutes Problem stellen beispielsweise Wahlgeräte dar, die keine unabhängige Überprüfung der Wahlergebnisse zulassen und die erwiesenermaßen gehackt werden können. Interner Link: [12]
Anhörungen
Es gab mehrere Anhörungen in parlamentarischen Ausschüssen, etwa zur Sicherung der US-Wahlinfrastruktur oder zum "Schutz des politischen Diskurses" Interner Link: [13] und der Integrität der Wahl Interner Link: [14], um die Problematik nachvollziehbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu identifizieren.
Beauftragung von Studien
Der Kongress gab Studien zur Wahlsicherheit in Auftrag. Hier sticht insbesondere die überparteiliche Untersuchung des Geheimdienstausschusses des US-Senats hervor, die in fünf Bänden detailliert die Einflussnahme Russlands aufarbeitet. Interner Link: [15] Auch Studien speziell zu Desinformation in sozialen Netzwerken wurden veröffentlicht. Interner Link: [16]
Exekutive
Sonderermittlung
Zwischen Mai 2017 und März 2019 untersuchte der Sonderermittler Robert Mueller die Einflussnahme Russlands im US-Wahlkampf 2016. Diese Ermittlung wurde vom US-Justizministerium beauftragt, nachdem hunderte Abgeordnete eine solche Untersuchung gefordert hatten. Interner Link: [17] Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass es eindeutige und nachweisliche Versuche Russlands gab, Einfluss auf die Wahl und den Meinungsbildungsprozess in den USA zu nehmen.
IT-Sicherheitschecks und Öffentlichkeitsarbeit
Durch Tests von staatlichen und lokalen Wahlsystemen, die durch das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) durchgeführt wurden, konnten verschiedene Schwachstellen aufgedeckt werden, insbesondere auf lokaler Ebene. Einige Regierungsangestellte teilten zum Beispiel immer noch Passwörter und andere Anmeldeinformationen miteinander oder nutzten Standardkennwörter. Um auf die Gefahr von Cyberangriffen aufmerksam zu machen, warnt das DHS u.a. auf Twitter vor Angreiferinnen und Angreifer und weist auf Möglichkeiten hin, sich davor zu schützen Interner Link: [18].
Verordnungen
Einige Verordnungen befassen sich mit Wahlbeeinflussung, beispielsweise die von Präsident Donald J. Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung (executive order), welche Sanktionen gegen jede Nation oder Einzelperson vorsieht, die Einmischungen in US-Wahlen autorisiert, leitet oder unterstützt. Interner Link: [19]
Cyberoperationen des US-Militärs
Das US-Militär (US Cyber Command) nutzte 2018 Cyberoperationen, um den Internetzugang der IRA zu blockieren und so die Verbreitung von Desinformation zu stoppen. Interner Link: [20]
Außenpolitische Sanktionen
Seit 2015 können auch auf diplomatischer Ebene Sanktionen erfolgen und beispielsweise Personal ausländischer Botschaften oder Organisationen ausgewiesen werden. Interner Link: [21] Das US-Finanzministerium (Department of the Treasury) hat zudem Sanktionen gegen russische Staatsangehörige verhängt, denen vorgeworfen wird, für die IRA zu arbeiten. Interner Link: [22]
Judikative
Anklagen
Das US-Justizministerium hat zwölf russische Geheimdienstoffiziere angeklagt, bei den US-Wahlen 2016 Daten von Beamtinnen und Beamten der Demokratischen Partei gehackt zu haben. Interner Link: [23] Zudem wurden die IRA und einige mutmaßliche Mitarbeitende angeklagt. Interner Link: [24]
Parteien
IT-Sicherheitsexpertise
Das DNC setzte einen vierköpfigen Beirat für Cybersicherheit ein Interner Link: [25], schaffte Stellen für IT-Sicherheitsbeauftragte Interner Link: [26] und führte Trainings und Simulationen Interner Link: [27] durch. Außerdem wurde eine Checkliste mit Sicherheitshinweisen Interner Link: [28] entwickelt. Wahlkampagnen beschäftigen nun interne Spezialistinnen und Spezialisten für Cybersicherheit, so auch die Kampagnen von Joe Biden und Donald Trump im Wahlkampf 2020. Interner Link: [29] Im Vorhinein waren sie auf externe Beraterinnen und Berater angewiesen. Interner Link: [30]
Privatsektor
Einschränkungen von Werbeanzeigen und Einführung von Werbearchiven
In den USA können Werbeanzeigen nicht mehr in ausländischen Währungen bezahlt werden. Es gibt zudem ein öffentlich einsehbares Archiv aller politischen Werbeanzeigen. Interner Link: [31]
Zusatzinformationen sichtbar machen
Auch große Tech-Konzerne haben in den letzten Jahren personell und technologisch investiert, um gefälschte Social-Media-Accounts rascher zu entdecken. Facebook und Twitter ergänzen außerdem einige politische Posts mit eigenen Informationen, Links und weiterführenden Quellen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, wie strikt die Plattformen ihre eigenen Regeln gegen Desinformation und Hetze durchsetzen, gibt es noch nicht.
Analyse und Warnungen vor versuchten Angriffen
Private Firmen, z. B. Microsoft und Crowdstrike, analysieren Angriffe und warnen während des Wahlkampfes vor versuchten Angriffen. Außerdem geben sie Empfehlungen für IT-Sicherheitsmaßnahmen ab. Interner Link: [32]
Wissenschaft
Studien und Trainings zur IT-Sicherheit
Das parteiübergreifende Defending Digital Democracy Project (D3P) des Belfer Centers der Harvard Universität arbeitet seit 2017 mit Wahlbeamtinnen und Beamten im ganzen Land zusammen, um sie beim Aufbau von Schutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Cyber- und Desinformationsangriffe zu unterstützen. Interner Link: [33]
Zivilgesellschaft
Analysen und Empfehlungen zur Wahlsicherheit
Einige zivilgesellschaftliche Organisationen haben Nachforschungen angestellt und zentrale Personen in der Wahlverwaltung befragt, um die Bedrohungen der Cybersicherheit besser zu verstehen. Danach wurden Maßnahmen entwickelt, die von Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten und anderen bei künftigen Wahlen implementiert werden können Interner Link: [34]. Außerdem wurden Studien veröffentlicht, die Angriffstaktiken und Schutzmaßnahmen evaluieren Interner Link: [35].
Eine Cyberoperation ist der gezielte Einsatz und die Veränderung von digitalem Code durch Individuen, Gruppen, Organisationen oder Staaten unter Nutzung von digitalen Netzwerken, Systemen und verbundenen Geräten [...] um Informationen zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Ziel ist es, konkrete Akteurinnen und Akteure zu schwächen oder zu beschädigen. Interner Link: [36]
Desinformation meint Inhalte, die nachweislich falsch oder irreführend sind und eingesetzt werden, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen und/oder anderen zu schaden. Interner Link: [37]
Dieses Unternehmen sitzt in Sankt Petersburg und steht laut US-Sicherheitsdiensten in Verbindung mit der russischen Regierung. Interner Link: [38]
IRA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden beschuldigt, im US-Wahlkampf gefälschte Social-Media-Konten betrieben zu haben. Das US-Justizministerium klagte das Unternehmen deshalb 2018 an. Interner Link: [39]
Spear-Phishing ist ein Betrugsversuch, bei dem die/der Angreifer/-in die Opfer davon zu überzeugen versucht, dass die Kommunikation von einer vertrauenswürdigen Quelle kommt. Ziel ist es, so an bestimmte Daten zu kommen. Interner Link: [40]
Leaken ist eine Taktik, bei der vertrauliche Informationen über eine Zielperson herausgefunden und veröffentlicht werden und zielt vor allem auf die Vertraulichkeit von Daten ab. Ziel ist es, an schädigende Informationen über eine Person zu gelangen und diese dann zu veröffentlichen. Interner Link: [41]
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-05T00:00:00 | 2020-10-15T00:00:00 | 2022-02-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/317184/it-sicherheit-im-us-wahlkampf/ | Wie rüsten sich die USA gegen Desinformation und Cyberoperationen im Wahlkampf? Ein Überblick über die Lektionen aus der russischen Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahlen 2016. | [
"US-Wahlkampf",
"US-Präsidentschaftswahl",
"USA",
"Wahlkampf"
] | 257 |
Ortsbesuch auf dem Campus Rütli – ein Rundgang | Neukölln Unlimited | bpb.de | Sascha Wenzel hat exakt zwei Stunden Zeit. 120 Minuten, um über die deutsche Bildungspolitik zu sprechen und eine Schule mitten in Berlin, die schon fast jeder aufgegeben hatte. Wenzel würde das niemals so formulieren, er ist ein unaufgeregter Mann mit ruhiger Stimme und vollem Terminkalender. Grundschullehrer ist er eigentlich von Beruf, doch ein gewöhnliches Lehrerleben ist für den 50-Jährigen unvorstellbar. Er ist verantwortlich für den pädagogischen Neustart der einst bekanntesten deutschen Problemschule, der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln.
Am 30. März 2006 begann an der Rütli-Schule eine neue Zeit. Lehrerinnen und Lehrer der Schule hatten einen Brief geschrieben, adressiert an den damaligen Berliner Bildungssenator Klaus Böger (SPD) und andere Mitarbeiter der Senatsverwaltung. Es sind 14 starke Absätze, geschrieben voller Wut und Verzweiflung. In dem Brief heißt es: "In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können."
Brigitte Pick war damals noch Schulleiterin der Rütli-Schule, an diesem Tag aber außer Dienst. "Du, deine Schule ist in der Zeitung", erfuhr sie bald übers Telefon. Pick ahnte schon lange, dass einmal so etwas passieren wird. Doch nun brach in den Medien der Sturm über ihre Schule los. Rütli wurde plötzlich zum Inbegriff für scheiternde Integration und Gewalt an deutschen Schulen. Schnell war in der Öffentlichkeit von einem "Brandbrief" die Rede. Die Rütli-Schule war plötzlich Thema in den Fernsehnachrichten. Fotografen standen vor dem Schultor, Reporter kamen mit Mikrofonen, Kameraleute filmten die Fenster der Klassenzimmer. Ihre Präsenz stachelte einige Schüler umso heftiger an herumzupöbeln, mit Papierkörben zu werfen und zu provozieren.
QuellentextBrief der Rütli-Schule
Mit folgendem Brief wandte sich die kommissarische Schulleiterin der Berliner Rütli-Schule, Petra Eggebrecht, am 28. Februar 2006 an die zuständige Schulrätin in Neukölln, Ulrike Fischer (gekürzte Version):
Sehr geehrte Frau Fischer,
die Fülle der zu besprechenden Einzelfälle ließ bei Ihrem Besuch am 24.2.06 keine Zeit über die Gesamtsituation in unserer Schule zu sprechen.
Wie in der Schulleitersitzung am 21.2.06 geschildert, hat sich die Zusammensetzung unserer Schülerschaft in den letzten Jahren dahingehend verändert, dass der Anteil der Schüler/innen mit arabischem Migrationshintergrund inzwischen am höchsten ist. Er beträgt zurzeit 34,9%, gefolgt von 26,1% mit türkischem Migrationshintergrund. Der Gesamtanteil der Jugendlichen n.d.H. beträgt 83,2%. [...]
In unserer Schule gibt es keine/n Mitarbeiter/in aus anderen Kulturkreisen.
Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schüler/innen mitgebracht. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen. Werden Schüler/innen zur Rede gestellt, schützen sie sich gegenseitig. Täter können in den wenigsten Fällen ermittelt werden. Laut Aussage eines Schülers gilt es als besondere Anerkennung im Kiez, wenn aus einer Schule möglichst viele negative Schlagzeilen in der Presse erscheinen. Die negative Profilierung schafft Anerkennung in der Peer-Group. Unsere Bemühungen die Einhaltung der Regeln durchzusetzen treffen auf starken Widerstand der Schüler/innen. Diesen Widerstand zu überwinden wird immer schwieriger. In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können.
Die Folge ist, dass Kollegen/innen am Rande ihrer Kräfte sind. Entsprechend hoch ist auch der Krankenstand, der im 1. Halbjahr 05/06 höher war als der der Schüler/innen. Ein Zeichen der unerträglichen Belastung. Einige Kollegen/innen stellen seit Jahren Umsetzungsanträge, denen nicht entsprochen wird, da keine Ersatzkräfte gefunden werden.
Auch von den Eltern bekamen wir bisher wenig Unterstützung in unserem Bemühen Normen und Regeln durchzusetzen. Termine werden nicht wahrgenommen, Telefonate scheitern am mangelnden Sprachverständnis.
Wir sind ratlos. [...]
Wenn wir uns die Entwicklung unserer Schule in den letzten Jahren ansehen, so müssen wir feststellen, dass die Hauptschule am Ende der Sackgasse angekommen ist und es keine Wendemöglichkeit mehr gibt. Welchen Sinn macht es, dass in einer Schule alle Schüler/innen gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können. In den meisten Familien sind unsere Schüler/innen die einzigen, die morgens aufstehen. Wie sollen wir ihnen erklären, dass es trotzdem wichtig ist, in der Schule zu sein und einen Abschluss anzustreben? Die Schüler/innen sind vor allem damit beschäftigt, sich das neueste Handy zu organisieren, ihr Outfit so zu gestalten, dass sie nicht verlacht werden, damit sie dazugehören. Schule ist für sie auch Schauplatz und Machtkampf um Anerkennung. Der Intensivtäter wird zum Vorbild. Es gibt für sie in der Schule keine positiven Vorbilder. Sie sind unter sich und lernen Jugendliche, die anders leben, gar nicht kennen. Hauptschule isoliert sie, sie fühlen sich ausgesondert und benehmen sich entsprechend.
Deshalb kann jede Hilfe für unsere Schule nur bedeuten, die aktuelle Situation erträglicher zu machen. Perspektivisch muss die Hauptschule in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden zugunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung. [...]
Mit freundlichen Grüßen
i. V. P. Eggebrecht kommissarische Schulleiterin Aus: Der Brief des Kollegiums der Rütli-Schule vom 28.03.2006 (gekürzt)
"Viele Ressourcen stecken schon im System"
Das Fernsehen war schon länger nicht mehr da. An der Rütli-Schule ist der Neuaufbau in vollem Gange. Aus Grund-, Haupt- und Realschule ist eine Einheit geworden. Eine Gemeinschaftsschule im Ganztagesbetrieb hat das alte Nebeneinander ersetzt. "Campus Rütli" steht an allen Gebäuden, das klingt ein bisschen intellektuell und nach einer großzügigen Anlage. Finanziert wird das Projekt von zwei Stiftungen, der Freudenberg- und der Karl-Konrad-und-Ria-Groeben-Stiftung, sowie von der Berliner Senatsverwaltung. Dort, wo 2006 die Kamerateams ihre Positionen bezogen haben, soll ab 2015 für rund 20 Millionen Euro ein neues Grundschulgebäude entstehen. Gleichzeitig betont Sascha Wenzel, dass es beim "Campus Rütli" nicht nur ums Finanzielle geht, sondern schon viel erreicht ist, wenn zukünftig alle zusammen- statt neben- oder gegeneinander arbeiten: "Es wird oftmals viel Geld herausgeblasen für einzelne kurzfristige Projekte in der Bildung. Dabei stecken doch so viele Ressourcen schon im System, die einfach nicht vernünftig verwendet werden", so Wenzel.
Das Geld. Es ist ein wichtiges Thema an der Rütli-Schule, nicht nur wenn Politikerinnen und Politiker über Neubauten entscheiden. Geld ist vor allem Thema, weil es den Schülerinnen und Schülern an allen Ecken und Enden fehlt. Die Rütli-Schule ist von Armut geprägt. 76 Prozent der Schülerinnen und Schüler leben von sogenannten staatlichen Transferleistungen, in der Regel Hartz IV. Solche Bedingungen herrschen auch in vielen anderen Teilen Berlins. An etwa 200 der 800 Schulen der Hauptstadt sei eine deutliche Mehrheit der Schüler arm, sagt Sascha Wenzel. Rütli sei nur eine von Hunderten, vermutlich Tausenden Problem- oder Brennpunktschulen in ganz Deutschland. "Unser größtes Problem sind nicht die Einwanderer. Es ist die Armut", ist Wenzel überzeugt. Kinder leben in zu kleinen Wohnungen, teilen sich ein Bett mit Geschwistern, die Eltern selbst haben selten eine gute Bildung genossen, meistens haben sie seit Jahren keine Arbeit. Die Schule ist für die Kinder und Jugendlichen in diesem Fall nicht nur der wichtigste Ort zum Lernen. Es ist der einzige Lernort in ihrem Leben.
Die Vorzeichen sind also denkbar schwierig in Neukölln, insbesondere im Gebiet um den "Campus Rütli", das Reuterquartier. Schülerinnen und Schüler mit
Die Rütli-Schule im Jahr 2010 (© picture-alliance, Sascha Radke)
Migrationshintergrund stammen gehäuft aus wirtschaftlich benachteiligten Familien. Wer sozioökonomisch schlecht aufgestellt ist, hat oft auch Probleme mit dem Kompetenzerwerb an der Schule, darauf weisen regelmäßig Bildungsstudien hin. Eine "Entmischung" nach bildungsnahen und bildungsfernen Milieus hat sich in Neukölln jahrelang als Problem erwiesen. Insbesondere an den Hauptschulen sammelten sich Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Milieus, um später nur zu oft die Schule ohne Abschluss zu verlassen. In Berlin ist diese Schulform inzwischen verschwunden, "Gemeinschaftsschule" heißt das neue Konzept. Parallel hat sich in Teilen von Neukölln wie dem Reuter- oder dem Schillerkiez auch das sozioökonomische Schulumfeld geändert, denn nicht nur Studierende, Künstlerinnen und Künstler, auch junge, gut ausgebildete Familien haben den Stadtteil für sich entdeckt. Ob sich dies letztlich in einer Abschwächung der Bildungssegregation niederschlägt oder diese sogar verstärkt, bleibt abzuwarten.
"Zuhören! Sprechen! Diskutieren!"
Im Umbauprozess der vergangenen Jahre hat die Hälfte des Lehrerkollegiums die Rütli-Schule verlassen. "Erst jetzt wissen wir wirklich, wer die Schule gestalten kann", sagt Wenzel, der zugleich betont, dass die Schulverwaltung des Senats noch immer um jeden neuen Lehrer kämpfen muss. In Berlin gibt es ohnehin zu wenig Lehrerinnen und Lehrer und um einen besonders stressigen Job reißen sich nur wenige. "Sie müssen hier mehr Stunden arbeiten als an anderen Standorten", sagt Wenzel ganz direkt. Überstunden gehörten einfach dazu, auch regelmäßige Hausbesuche bei den Familien der Kinder.
Früher war ein solches Engagement der Lehrer nicht vorhanden, konstatiert Brigitte Pick. Sie hat eine scharfe Meinung. Und sicher keine gute, wenn es um deutsche Schulen geht und wie diese mit armen Kindern und Jugendlichen umgehen. "Sie können das System nicht ändern", das sagt die 68-Jährige gar nicht verbittert, sondern sehr überlegt und mit der Erfahrung von vier Jahrzehnten Schuldienst. Von 1983 an war Pick Leiterin der Rütli-Schule. Mehr als 20 Jahre hielt sie durch, auch wenn sie sich oft ärgern musste und für ihre Lehrerkollegen, wie sie zugibt, keine leichte Vorgesetzte war. Wenn sie heute noch einmal ihr Leben von vorne beginnen könne, sagt sie, würde sie nicht noch einmal Lehrerin werden.
Pick ist der Meinung, man habe sich all die Jahre viel zu wenig bemüht um die Schülerinnen und Schüler. Nein, zu wenig Mühe sei noch viel zu weich, gedemütigt habe man Schüler, indem man sie mit ihren Problemen missachtet habe. Und deshalb seien viele erst frustriert und irgendwann völlig desinteressiert gewesen. Irgendwann seien sie dann nicht mehr zum Unterricht gekommen: "Niemand ist zu dusselig, einen Hauptschulabschluss zu bekommen, aber wer schwänzt, der kriegt halt keinen." Zu lange hätten Politiker, die Verwaltung und, ja, auch die Lehrer selbst nur zugeschaut, wie immer mehr Schüler verloren gingen. Eine "Melange aus Hilflosigkeit und eine Aversion vor dem Fremden" habe die Schule bestimmt – und sei schließlich mit dem Brandbrief öffentlich ausgebrochen. "Zuhören! Sprechen! Diskutieren!", ruft Pick. Bei ihr habe die Bürotür immer offen gestanden, wenn Schülerinnen und Schüler das dringende Bedürfnis zum Reden hatten. Doch einige Lehrer hätten die Hände auch schlicht in den Schoß gelegt und nichts dergleichen getan.
"Ein gutes Zeichen, dass fast keiner mehr die Rütli-Schule ohne Abschluss verlässt"
Franziska Giffey kennt dieses Problem. Sie ist die Schulstadträtin des Bezirks. Für sie ist die Entwicklung der vergangenen Jahre eine Erfolgsgeschichte. Zuerst die Sache mit den Abiturienten: Ja, an der neuen Rütli-Gemeinschaftsschule werde jetzt das Abitur angeboten. 23 gehörten dem ersten Abiturjahrgang an, 18 bestanden im Juli 2014 und dürfen jetzt an Universitäten studieren, fünf erhielten die Fachhochschulreife. "Es ist ein unglaublich gutes Zeichen, dass fast keiner mehr die Rütli-Schule ohne Abschluss verlässt!", sagt die SPD-Abgeordnete.
Sie lobt die Lehrerinnen und Lehrer und mit wie viel Kraft sie das Ruder herumgerissen haben. "Was an der Rütli-Schule geschafft wurde, ist das Verdienst der Menschen, die dort arbeiten", sagt sie. "Wir haben ja die gleichen Regeln und das gleiche Geld für den alltäglichen Betrieb wie an den anderen Schulen auch." Allerdings räumt sie ein, dass es auch Lehrerinnen und Lehrer gab, die das neue Konzept nicht mittragen wollten: "Einige Lehrer sind gegangen, weil sie die Veränderungen nicht wollten. Sie wollten sich nicht bewegen, wollten Feierabend um halb zwei – das sind dann aber nicht die Richtigen für das Projekt."
Vehement wehrt sich Giffey gegen Vorwürfe, dass der Bezirk Neukölln seine ganze Kraft in die Rütli-Schule stecke, während die anderen Problemschulen weiter vor sich hinsiechen würden: "Wenn Sie einen Standort entwickeln, haben Sie gleich den Neid der anderen." Doch hinter allem stehe ein umfassender Plan: "Unser Ziel ist, mit dem Campus Rütli einen starken Partner zu entwickeln, der die anderen mitzieht. Am Ende soll jede Schule ein eigenes Profil haben. Alles andere ist doch das Prinzip Gießkanne: überall ein bisschen was fördern, aber nichts so richtig."
Struktur der Schülerschaft weiterhin prekär
Die Lage im Bezirk Neukölln bleibt in den Augen Franziska Giffeys durchaus schwierig. Wachleute stehen heute vor manchen Schultüren – und das schon seit Jahren. Der kriminelle Druck rund um einige Schulen habe kaum abgenommen. Und auch die soziale Struktur der Schülerschaft sei weiterhin größtenteils prekär: "Wir haben Schüler, die von Abschiebung bedroht sind, Schüler die neu hier sind und kein Wort Deutsch sprechen, wir haben Schüler, die drogenabhängig sind. Und mit denen müssen wir arbeiten."
Es scheint noch ein langer Weg, bis selbst ein solches Modellprojekt Früchte trägt. Auch der Reformer Wenzel weiß das. Er muss ständig vermitteln zwischen den Praktikern in den Schulen und der Schulverwaltung. Dabei geht viel Kraft verloren. Am Ende der langen Vermittlungsarbeit stehen dann bisweilen komplizierte Begriffe wie "lerntherapeutische Einzelfallhilfe", "Portfolioarbeit" und "Schlüsselschule", die den Schülerinnen und Schülern und erst recht ihren Eltern, die sich im Alltag oft nur auf Arabisch, Türkisch und Rumänisch verständigen, mühevoll erklärt werden müssten.
Manchmal geht es aber auch unkompliziert. Sascha Wenzel erzählt, wie einmal die amtierende Schulleiterin Cornelia Heckmann bei ihm anrief und von einem neuen Problem berichtete: In fast allen Klassen gebe es Kinder, deren Nachnamen auf "-ic" enden und die zu viele Fehlstunden ansammelten. Dies seien Kinder aus serbischen, kroatischen, montenegrinischen oder bosnischen Familien. Heckmanns Vermutung: Die Schüler kämen sprachlich nicht mit und weder sie noch ihre Eltern verstünden, dass es so nichts werde mit dem Schulabschluss. Wenzel engagierte daraufhin eine Dolmetscherin. Sie ging mit den Lehrerinnen und Lehrern zu den Familien, klopfte an der Tür und erläuterte in deren Muttersprache, dass es ein großes Problem ist, wenn ein Kind nicht im Unterricht erscheint. Die kleine Maßnahme erzielte eine große Wirkung, berichtet Wenzel: Seit den Gesprächen achten die Eltern verstärkt darauf, wohin ihre Kinder gehen. Geschwänzt werde in dieser Schülergruppe seitdem nur noch selten.
Mit folgendem Brief wandte sich die kommissarische Schulleiterin der Berliner Rütli-Schule, Petra Eggebrecht, am 28. Februar 2006 an die zuständige Schulrätin in Neukölln, Ulrike Fischer (gekürzte Version):
Sehr geehrte Frau Fischer,
die Fülle der zu besprechenden Einzelfälle ließ bei Ihrem Besuch am 24.2.06 keine Zeit über die Gesamtsituation in unserer Schule zu sprechen.
Wie in der Schulleitersitzung am 21.2.06 geschildert, hat sich die Zusammensetzung unserer Schülerschaft in den letzten Jahren dahingehend verändert, dass der Anteil der Schüler/innen mit arabischem Migrationshintergrund inzwischen am höchsten ist. Er beträgt zurzeit 34,9%, gefolgt von 26,1% mit türkischem Migrationshintergrund. Der Gesamtanteil der Jugendlichen n.d.H. beträgt 83,2%. [...]
In unserer Schule gibt es keine/n Mitarbeiter/in aus anderen Kulturkreisen.
Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schüler/innen mitgebracht. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen. Werden Schüler/innen zur Rede gestellt, schützen sie sich gegenseitig. Täter können in den wenigsten Fällen ermittelt werden. Laut Aussage eines Schülers gilt es als besondere Anerkennung im Kiez, wenn aus einer Schule möglichst viele negative Schlagzeilen in der Presse erscheinen. Die negative Profilierung schafft Anerkennung in der Peer-Group. Unsere Bemühungen die Einhaltung der Regeln durchzusetzen treffen auf starken Widerstand der Schüler/innen. Diesen Widerstand zu überwinden wird immer schwieriger. In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können.
Die Folge ist, dass Kollegen/innen am Rande ihrer Kräfte sind. Entsprechend hoch ist auch der Krankenstand, der im 1. Halbjahr 05/06 höher war als der der Schüler/innen. Ein Zeichen der unerträglichen Belastung. Einige Kollegen/innen stellen seit Jahren Umsetzungsanträge, denen nicht entsprochen wird, da keine Ersatzkräfte gefunden werden.
Auch von den Eltern bekamen wir bisher wenig Unterstützung in unserem Bemühen Normen und Regeln durchzusetzen. Termine werden nicht wahrgenommen, Telefonate scheitern am mangelnden Sprachverständnis.
Wir sind ratlos. [...]
Wenn wir uns die Entwicklung unserer Schule in den letzten Jahren ansehen, so müssen wir feststellen, dass die Hauptschule am Ende der Sackgasse angekommen ist und es keine Wendemöglichkeit mehr gibt. Welchen Sinn macht es, dass in einer Schule alle Schüler/innen gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können. In den meisten Familien sind unsere Schüler/innen die einzigen, die morgens aufstehen. Wie sollen wir ihnen erklären, dass es trotzdem wichtig ist, in der Schule zu sein und einen Abschluss anzustreben? Die Schüler/innen sind vor allem damit beschäftigt, sich das neueste Handy zu organisieren, ihr Outfit so zu gestalten, dass sie nicht verlacht werden, damit sie dazugehören. Schule ist für sie auch Schauplatz und Machtkampf um Anerkennung. Der Intensivtäter wird zum Vorbild. Es gibt für sie in der Schule keine positiven Vorbilder. Sie sind unter sich und lernen Jugendliche, die anders leben, gar nicht kennen. Hauptschule isoliert sie, sie fühlen sich ausgesondert und benehmen sich entsprechend.
Deshalb kann jede Hilfe für unsere Schule nur bedeuten, die aktuelle Situation erträglicher zu machen. Perspektivisch muss die Hauptschule in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden zugunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung. [...]
Mit freundlichen Grüßen
i. V. P. Eggebrecht kommissarische Schulleiterin Aus: Der Brief des Kollegiums der Rütli-Schule vom 28.03.2006 (gekürzt)
Die Rütli-Schule im Jahr 2010 (© picture-alliance, Sascha Radke)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-27T00:00:00 | 2014-05-27T00:00:00 | 2022-01-27T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/neukoelln-unlimited/185149/ortsbesuch-auf-dem-campus-ruetli-ein-rundgang/ | Im Frühjahr 2006 erschütterte ein Brandbrief verzweifelter Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln die Öffentlichkeit. Teils aggressive Schüler trafen auf überforderte Lehrkräfte, die vor den Problemen kapitulierten. Rütli wurde zu | [
"Mahnbrief",
"Brennpunktschule",
"Integration",
"Migration",
"Gesamtschule",
"Deutschland",
"Berlin-Neukölln"
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Analyse: Die ukrainische Regierung auf dem Prüfstand: Die Regional- und Kommunalwahlen vom 25. Oktober 2015 | Ukraine-Analysen | bpb.de | Einleitung
Angesichts der geplanten Dezentralisierungsreform wird die Bedeutung der Kommunalmandate und Bürgermeisterposten in der Ukraine steigen. Aus diesem Grund wird den turnusmäßigen Wahlen vom 25. Oktober eine besondere Bedeutung beigemessen. Insgesamt sollten etwa 170.000 Abgeordnete der über 10.000 Gemeinderäte gewählt werden. Für die landesweit 358 Bürgermeisterämter, unter anderem in den Metropolen Kiew, Odessa, Charkiw und Dnipropetriwsk, kandidierten mehr als 2.700 Personen. 142 Parteien haben sich bereit erklärt, um die Wählergunst in allen Regionen des Landes – bis auf die Krim, Sewastopol und die separatistisch kontrollierten Teile der Ostukraine – zu kämpfen. 132 von ihnen wurden zur Wahl zugelassen.
Die Zentrale Wahlkommission erklärte im Vorfeld, in weiten Teilen der Ostukraine sei die Durchführung des Wahlprozederes aus Sicherheitsgründen unmöglich. Davon waren 91 Gemeinden im Gebiet Donezk und 31 Gemeinden im Gebiet Luhansk betroffen. Mit den Binnenflüchtlingen konnten an diesem Tag insgesamt etwa 1,5 Millionen wahlberechtigte ukrainische Bürger von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen.
Zum Auftakt der Wahlen bezeichnete Petro Poroschenko die bevorstehende Abstimmung als "dritte Etappe des Neustarts in der Machtstruktur" und setzte unmissverständlich seine Prioritäten: "proukrainische Mehrheiten" in allen Ecken der Ukraine und zügige Reformen gleich nach dem Tag der Abstimmung. So verband der Staatspräsident sein politisches Schicksal indirekt mit dem Wahlergebnis.
Der Kontext: die Dezentralisierungsreform und das Wahlgesetz
Der ukrainische Staat leidet seit 1991 unter unverhältnismäßiger Zentralisierung. Die Kommunen haben wenig Machthebel und finanzielle Kapazitäten, um Probleme vor Ort unbürokratisch zu lösen. Das mindert die Handlungsfähigkeit der lokalen Verwaltung und erschwert ihre Kommunikation mit der Bevölkerung. Die ukrainische Führung suchte nach einer Möglichkeit, die politischen Prozesse im Land zu kanalisieren und Paragraph 11 des Minsker Abkommens vom Februar 2015 (in der englischen Fassung "decentralization") zu implementieren. Im April 2015 tagte zum ersten Mal die Verfassungskommission unter dem Vorsitz des Parlamentspräsidenten Wolodymyr Grojsman, der mehrere Rechtswissenschaftler, Richter sowie drei Ex-Staatsoberhäupter angehörten. Sie beschäftigte sich unter anderem mit einem möglichen Dezentralisierungskonzept. Im August 2015 brachte Petro Poroschenko den Gesetzentwurf "Über die Verfassungsänderung bezüglich der Dezentralisierung der Macht" ins Parlament ein. Sein Kernstück ist die Übertragung kommunalpolitischer Befugnisse an die entsprechenden lokalen Stellen. Dieser Vorschlag ähnelt der polnischen Reform, die in dem ebenfalls unitären Nachbarland seit 1999 stufenweise umgesetzt wird. Im Plenarsaal votierten zwei Koalitionsfraktionen entschlossen dagegen, die Vaterlandspartei unter Julia Timoschenko und die Radikale Partei von Oleh Ljaschko. Die dritte politische Kraft, die Selbsthilfe von Andrij Sadowyj, kehrte der Gesetzesvorlage ebenfalls mehrheitlich den Rücken. Ihre fünf Abweichler wurden aus der Fraktion ausgeschlossen. Am Abstimmungstag kam es vor dem Parlamentsgebäude zu blutigen Zusammenstößen zwischen Nationalisten und Sicherheitskräften, bei denen vier Polizisten starben. Petro Poroschenko stellte die für die erste Lesung notwendige einfache Mehrheit nur mithilfe von Stimmen aus dem Lager der Opposition und der Fraktionslosen her. Die für das endgültige positive Votum des Parlaments erforderliche Verfassungsmehrheit wird der ukrainische Staatschef im Dezember zu erreichen versuchen.
Die oben beschriebene Gemengelage macht anschaulich, wie stark dieses Thema die ukrainische Gesellschaft bewegt und polarisiert. Nicht zuletzt geht es um Begrifflichkeiten. Dezentralisierung wird oftmals irrtümlich mit Föderalisierung verwechselt, die für bedeutende Teile der politischen Elite und der Bevölkerung der Ukraine negativ konnotiert ist. Daraus resultiert die Ablehnung des Dezentralisierungsmodells als einem aus Russland importierten Produkt, das gegen die ukrainische Staatlichkeit gerichtet würde und in die Hände der Separatisten spielen sollte. Dabei ist zu bemerken, dass im Land so gut wie keine Aufklärungskampagne zum Dezentralisierungskonzept in die Wege geleitet wurde bzw. wenig öffentliche Debatten stattfanden. Diese Tatsache schürt Ängste und bekräftigt Vorurteile.
Die ukrainische Wahlgesetzgebung wurde im Laufe der Zeit mehrfach verändert. Das letzte Wahlgesetz aus dem Jahr 2011 besiegelte die Rückkehr zu einem gemischten Wahlsystem. Im Juli 2015 verabschiedete die Werchowna Rada das Gesetz "Über die Lokalwahlen". Das Mischmodell bleibt in einer modernisierten Fassung erhalten. Auf der kleinsten Gemeindeebene (Dorf und Siedlung) wird nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt, für die restlichen Kommunen (Bezirk, Stadt und Gebiet) gilt ein Verhältniswahlrecht. Die Parteien erstellen ihre Listen und schicken einen Kandidaten pro Wahlkreis ins Rennen. Es werden keine Wahlbündnisse zugelassen. Für Bürgermeisterwahlen gibt es zwei Regelungen. In Städten mit mehr als 90.000 Einwohnern müssen die beiden Kandidaten mit dem höchsten Stimmanteil in eine Stichwahl gehen, wenn sie im ersten Wahlgang weniger als 50 % der Stimmen auf sich vereint haben. Für kleinere Ortschaften ist keine Stichwahl vorgesehen. Der ukrainische Wähler hat eine Stimme. Kritiker meinten, das neue Gesetz verfestige eine Monopolstellung der örtlichen Parteiverbände. Der Stellvertretende Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Andrij Magera betitelte das in Kraft getretene Wahlwesen als "Rückschritt bei der Entwicklung eines funktionsfähigen Wahlsystems" und zog Parallelen zum aus seiner Sicht negativen Beispiel Russlands. Trotz der Kritik gab es bis zum Abstimmungstag keine Novellierung der entscheidenden Paragraphen des Wahlgesetzes. Eine Änderung vom September 2015 regelt nur freiwillige Gemeindefusionen mit dem Ziel, Wahlen synchron durchzuführen und Kosten zu sparen.
Der Wahlkampf
Die politische Landschaft der Ukraine hat sich im Vergleich zur letzten Kommunalwahl 2010 gravierend verändert. Zwei vormals große Spieler, die Partei der Regionen und die Kommunisten, die mindestens ein Jahrzehnt in mehreren Gebiets- und Stadtparlamenten im Osten und Süden des Landes dominiert hatten, waren nicht mehr am Wahlrennen beteiligt. Während die landesweiten Galionsfiguren dieser Parteien inzwischen aus der aktiven Politik ausgeschieden sind, wechselten ihre Gefolgsleute vor Ort die Parteifahne und sind weiterhin bedeutsame Akteure im Südosten der Ukraine. So war der amtierende Bürgermeister von Odessa, Gennadij Truchanow, der wieder kandidierte, bis vor kurzem Fraktionsvorsitzender der Partei der Regionen im Stadtrat. Sein Parteikollege, der heutige Kandidat für den Bürgermeisterposten in Dnipropetriwsk Oleksandr Wilkul, gehörte als Stellvertretender Ministerpräsident der ukrainischen Regierung unter Wiktor Janukowitsch an. Zugleich spielten die Vertreter der vormaligen Elite in den Listen der Regierungsparteien eine herausragende Rolle. Eineinhalb Jahre nach dem Machtwechsel in Kiew etablierte sich eine neue Machtpartei, der Block Petro Poroschenko-Solidarität (BPP-Solidarität), der vielen Apparatschiks der Janukowitsch-Ära Asyl angeboten hat.
Darüber hinaus war eine offene politische Konkurrenz zwischen den Mitgliedern der Regierungskoalition in Kiew eher schwierig. In erster Linie betraf das die Vaterlandspartei. Julia Timoschenko kritisierte mehrfach im Parlament das Wirtschaftsprogramm der Regierung. Ihre lokalen Politiker zeigten sich dagegen loyal gegenüber Kiew und verwiesen auf die Notwendigkeit des Zusammenhalts der ukrainischen Gesellschaft im Hinblick auf "die russische Aggression". Für eine Überraschung sorgte Premier Arsenij Jazenjuk, dessen Volksfront-Partei noch im August auf ihre Wahlteilnahme verzichtete. Die Volksfront ist seit Monaten im Tiefflug. Eine spürbare Wahlniederlage seiner Partei hätte die Stellung des ukrainischen Ministerpräsidenten weiter geschwächt. Die Partei UDAR des Kiewer Bürgermeisters Witalij Klitschko agierte weiterhin als Teil der Poroschenko-Partei und hat an Profil verloren. Der Oppositionsblock griff das tagespolitische Handeln der Regierung an. Diese Kritik hatte aber keinen grundsätzlichen Charakter und war nicht programmatisch verankert, wie es von einer führenden europäischen Oppositionspartei zu erwarten ist. Sie trug in weiten Teilen die Züge einer "Schaufensterpolitik". Zum Beispiel stellte der "Ministerpräsident des Schattenkabinetts" Borys Kolesnikow die Arbeitslosigkeit als zentralen Kritikpunkt an der Regierung in den Vordergrund. Der Vorsitzende des Parteiverbands im Gebiet Saporishshja, Wiktor Busko, betonte in seiner programmatischen Rede die "Fachkompetenz" seines Teams. Gleichzeitig beklagten seine Parteikollegen den maroden Zustand der städtischen Parkanlagen, obwohl sie in ihrer Eigenschaft als Mitglieder der Partei der Regionen lange Zeit in der Stadt- und Gebietsverwaltung in Regierungsverantwortung gewesen waren. Insgesamt waren die Lokalwahlen durch die Teilnahme vieler kleiner Parteien gekennzeichnet, die außerhalb ihrer Stammregion nur einen bescheidenen Bekanntheitsgrad haben. Die Mehrzahl von ihnen, zum Beispiel die Partei Vertraue den Taten in Odessa, diente ausschließlich dem Ziel, ihren Spitzenmann zu unterstützen und Mehrheiten in der lokalen Legislative zu schaffen.
Der Wahlkampf stand im Zeichen der Gesamtsituation im Lande. Die Kandidaten konzentrierten sich wenig auf klassische kommunale Probleme wie Wohnen, Verkehr oder Infrastruktur. Sie mussten sich mit breiten innen- und außenpolitischen Fragenkomplexen auseinandersetzen wie etwa der Wirtschaftskrise, dem Verhältnis zu Russland, EU- und NATO-Beitrittsperspektiven, der Krim-Frage, Frieden oder Sieg im Donbass und Ähnlichem, auch wenn sie im Fall ihrer Wahl mit den vorhandenen regionalpolitischen Werkzeugen kaum einen Beitrag zur Lösung dieser Aufgaben leisten können. Angesichts der ungeklärten Kompetenzen zwischen Kiew und den Regionen infolge der bevorstehenden Dezentralisierungsreform sowie der leeren Kommunalkassen fiel es allen Anwärtern auf Dorf- oder Stadtratsmandate recht schwer, realisierbare Versprechungen abzugeben. Inhaltlich beschränkten sich die wichtigsten Akteure auf vier wesentliche Themen: 1. Senkung der Betriebskosten für Privathaushalte. Darauf hatten Oppositionsblock, Radikale Partei und Vaterlandspartei bestanden. 2. Patriotismus als tragendes Element der ukrainischen Gesellschaft, Abschied von der sowjetischen Vergangenheit (national gesinnte Parteien, UKROP, Radikale Partei). 3. Stabilität und Frieden (Oppositionsblock, Unser Region, Wiedergeburt), 4. Wirtschaftsreformen, Fortsetzung des aktuellen Regierungskurses (BPP-Solidarität). So wurde de facto nur ein einziges kommunalpolitisches Thema landesweit flächendeckend aufgegriffen, nämlich die unzumutbaren Mietnebenkosten. Infolge dieser Ideenlosigkeit wurde das Wahlkampffeld in mehreren Fällen den Populisten überlassen. Alternativ setzte man auf Lokalpatriotismus. So hat zum Beispiel der Kandidat für das Bürgermeisteramt in Dnipropetrowsk, Borys Filatow, die Kernthese seines Wahlprogramms wie folgt präsentiert: "Die Bevölkerung in der Geldgeberregion, die das (wirtschaftliche – D. S.) Rückgrat des Landes bildet, muss ein besseres Leben führen als die anderswo."
Wahltag und Wahlergebnis
Die Wahlbeteiligung lag bei 46,6 % und war damit noch niedriger als bei den letzten Lokalwahlen 2010. Laut der Zentralen Wahlkommission gingen damals 48,8 % der Wahlberechtigten zur Urne. Wie schon in den Vorjahren waren auch 2015 die Westukrainer am aktivsten: In der Region Ternopil lag die Wahlbeteiligung bei 56,5 %, in Lwiw bei 56,31 % und in Wolhynien bei 55,29 %. Im Süden waren die Wähler wesentlich passiver. In Cherson betrug die Wahlbeteiligung 37,41 %, in Mylolajiw 38,48 %. Am niedrigsten war die Wahlbeteiligung in den Gebieten Donezk (31,65 %) und Luhansk (35,27 %).
Zahlreiche Quellen berichteten über Gesetzwidrigkeiten und Manipulationen im Laufe des Wahlkampfs und am 25. Oktober. Die Abstimmung wurde in vielen Regionen der Ukraine von Stimmenkäufen überschattet, deren Ausmaß allerdings deutlich geringer war als bei den Lokalwahlen im Jahr 2010, so das Urteil eines landesweiten Netzwerks von unabhängigen Wahlbeobachtern. Der Wählerschaft bot man Lebensmittelpakete an. Studierende sollten mit einer "kleinen Prämie" motiviert werden. Am Wahltag wurde unerlaubte Parteiwerbung verteilt, deren Farbkombination mit dem Wahlzettel übereinstimmte. Am 25. Oktober erhielten Handynutzer bis zur Schließung der Wahllokale kurze Werbeapelle im SMS-Format.
Obwohl in mehreren Wahlkreisen der ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk außerhalb der separatistisch kontrollierten Landstriche, unter anderem in den ukrainischen Städten Mariupol und Krasnoarmijsk, keine Wahlen stattfanden bzw. diese für ungültig erklärt wurden, gab es für die Mehrheit der wahlberechtigten Ukrainer eine sichere Möglichkeit, frei für eine politische Kraft ihrer Wahl zu votieren. Das ist das wichtigste Ergebnis dieser Wahlen. Die internationalen Beobachter kritisierten zwar das Wahlgesetz und prangerten Unregelmäßigkeiten an, stellten jedoch nicht das Gesamtprozedere in Frage. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeiner kommentierte die Wahlen wie folgt: "Es ist gut, dass die Lokalwahlen am 25.10. in der Ukraine trotz des schwierigen Umfelds ohne größere Zwischenfälle stattfinden konnten. Die OSZE/ODIHR-Mission hat in einer ersten Stellungnahme einen grundsätzlich ordentlichen und transparenten Prozess der Stimmabgabe und -auszählung festgestellt." Generell haben die Wahlkommissionen vor Ort und indirekt auch die ukrainische Exekutive diese Härteprobe überstanden. Das amtliche Wahlergebnis steht noch in keiner Region der Ukraine fest. In einigen Städten müssen die Bürgermeisterkandidaten am 15. November in einer Stichwahl antreten, zum Beispiel in Kiew, Dnipropetrowsk und Sumy. Es sind zahlreiche Gerichtsklagen zu erwarten. Trotzdem erlauben die vorhandenen Daten folgende Schnellanalyse:
Entgegen den Hurra-Meldungen aus den Vorständen der Regierungsparteien kann die Koalition in der Werchowna Rada nicht mit einer stabilen Mehrheit auf kommunaler Ebene rechnen. Die Poroschenko-Partei hat gut abgeschnitten und erzielte in allen Landesteilen ein zweistelliges Ergebnis. Aus machtpolitischer Perspektive ist das eine wichtige Errungenschaft. Dieses Ergebnis ist jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Zum Beispiel stellt der Poroschenko-Block in der südlichen Region Odessa, einer früheren Hochburg der Partei der Regionen, jetzt in den Kreisstädten sechs Bürgermeister. Vier davon sind allerdings ehemalige Mitglieder der Janukowitsch-Partei. Sie waren bis zuletzt amtierende Vorsitzende der Stadträte und wurden von der jetzigen Regierungspartei aufgestellt.
Gewinner der Wahl ist Petro Poroschenko, Verlierer Arsenij Jazenjuk, der bis vor kurzem als Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde. Jetzt muss er um seinen Posten an der Regierungsspitze bangen. Die Rufe nach seinem Rücktritt werden lauter.Die Vaterlandspartei und die Radikale Partei haben keinen gesamtnationalen Machtanspruch mehr. Die Timoschenko-Partei schaffte es nicht in den Stadtrat ihrer Heimatstadt Dnipropetrowsk. (2010: dritter Platz und acht Sitze). In Charkiw hat die Vaterlandspartei vor fünf Jahren das zweitbeste Ergebnis gleich nach der Partei der Regionen erzielt und mit 14 Sitzen eine Stadtratsfraktion gebildet. Heute scheiterte sie an der Fünfprozenthürde. Der ukrainische Politologe Wolodymyr Fesenko sprach von der Vaterlandspartei als "Partei der Dorfbewohner". Tatsächlich leben ihre Stammwähler von 2015 überwiegend in den ländlichen Gebieten der Zentralukraine. Im städtischen Raum erntete vor allem die UKROP die Stimmen der Timoschenko-Partei. Oleh Ljaschkos Radikale haben bei der vergangenen Wahl keine eigene politische Nische gefunden. Ihr Appell, eine landesweite Protestbewegung gegen die erhöhten Betriebskosten zu organisieren, war nicht neu. Dazu wurde im September noch Ljaschkos politischer Weggefährte Ihor Mosijtschuk aufgrund von Korruptionsvorwürfen festgenommen. In den Augen vieler Wähler war das eine Blamage, weil die Radikale Partei das Thema Korruptionsbekämpfung immer als Schwerpunkt behandelt hat.
Das Wahlergebnis der erst 2012 amtlich registrierten Selbsthilfe bedarf noch weiterer Auswertung. In der Westukraine, einschließlich ihrer Hochburg Lwiw, musste die Partei Stimmen einbüßen. Während Selbsthilfe aus der Parlamentswahl 2014 in den Regionen Lwiw, Iwano-Frankiwsk und Wolhynien als drittstärkste Kraft hervorgegangen ist (18,8 %, 18,3 % und 11,5 %), wurde sie 2015 zwar teilweise zweitstärkste Partei, verlor aber je nach Region bis zu 4 %. Im Kampf um den Posten des Lwiwer Bürgermeisteramts verfehlte Andrij Sadowyj seine Wiederwahl knapp. Im Osten des Landes hat seine Partei dagegen gut Fuß gefasst. Sie profitierte vom Image der Mittelschichtspartei und zog mit dem zweibesten Regionalergebnis (12 %) in den Charkiwer Stadtrat ein. 2014 nahm Selbsthilfe in Charkiw Platz fünf ein und war mit 7,55 % der abgegebenen Stimmen deutlich schwächer.
Den Regierungsparteien ist es nicht gelungen, die neuorganisierten Reste der Partei der Regionen aus dem politisch-öffentlichen Leben zu vertreiben. Der Oppositionsblock und seine regionalen Ableger, die Bürgermeisterinitiative Unser Region sowie andere, mehrheitlich aus Repräsentanten der Janukowitsch-Zeit bestehende Parteien behalten ihre festen Positionen im Südosten der Ukraine. Von einem Alleinregieren wie früher kann hier aber keine Rede mehr sein.
Die alten Netzwerke in den wichtigen ukrainischen Großstädten haben ihre Stärke und Überlebensfähigkeit bewiesen. In Odessa und Charkiw haben die politisch Altgedienten ihre Bürgermeisterposten verteidigt. Für ihre sichere Wiederwahl reichen die heute vorhandenen wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten sowie eine freundliche Haltung des Präsidialamts ihnen gegenüber aus. Jegliche Bemühungen, neue Strukturen zu installieren, haben sich am Wahltag als erfolglos erwiesen. In Odessa verfügt der örtliche Gouverneur Miheil Saakaschwili über wichtige Ressourcen (der örtliche Staatsanwalt und der Polizeichef sind Gefolgsleute von ihm aus Georgien) sowie über einen Ruf als Reformer. Ungeachtet dessen unterlag sein Wunschkandidat Oleksandr Borowik gegenüber dem amtierenden Bürgermeister Gennadij Truchanow. In Charkiw wurde der Bürgermeister Gennadij Kernes mit klarer Mehrheit wiedergewählt. In Transkarpatien gewann das Einheitszentrum von Witalij Baloha, der seit 2005 in der Region herrscht.
Die politischen Newcomer konnten als "unbefleckte Einsteiger" zwar mit einem gewissen Vertrauensvorschuss der Bevölkerung rechnen, waren in Wirklichkeit aber meistens chancenlos. Sie erzielten nur Einzelerfolge auf den kleinsten kommunalen Ebenen, etwa in Dorfräten oder kleinen Städten. In keiner ukrainischen Großstadt gewann ein politischer Neuling den Kampf ums Bürgermeisteramt oder gelangte auch nur in die Stichwahl.
| Article | Von Dmitri Stratievski, Berlin | 2021-06-23T00:00:00 | 2015-11-16T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/215567/analyse-die-ukrainische-regierung-auf-dem-pruefstand-die-regional-und-kommunalwahlen-vom-25-oktober-2015/ | Die ukrainische Lokalwahl 2015 bezweckte eine neue Zusammensetzung der kommunalen Legislativen und außerdem stellte sie das neue Wahlgesetz auf die Probe. Im Ergebnis hat Petro Poroschenko seine Machtposition wesentlich gestärkt und erweitert. Auch w | [
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Editorial | Deutschland 1945-1949 | bpb.de |
Christine Hesse
Aus der Distanz von sechzig Jahren wirkt die unmittelbare Nachkriegszeit seltsam unwirklich. Jahrzehnte, in denen Deutschland die längste Friedensperiode seiner Geschichte, relative Sicherheit, demokratische Verhältnisse und wachsenden Wohlstand erlebte, legen einen Weichzeichner über die Anfänge. Im Zeitraffer betrachtet erscheinen die großen Stationen der deutschen Nachkriegsgeschichte - Zusammenbruch, Teilung und Wiedervereinigung - geradezu folgerichtig und logisch. Erst bei näherem Hinsehen wird deutlich, wie ungewiss, wie offen die Situation im Mai 1945 erschien. "Nie war die Zukunft in Deutschland so wenig vorhersehbar, nie das Chaos so allgegenwärtig wie im Frühjahr 1945" (Heinrich August Winkler).
Die Deutschen standen in mehrfacher Hinsicht vor Trümmern: Sie waren Hitler willig in einen Lebensraum-Krieg gefolgt, dessen Ziele sich spätestens mit der Niederlage als Illusion erwiesen hatten. Mit dem verbrecherischen Angriffskrieg und dem millionenfachen Völkermord hatten sie sich vor der Welt moralisch diskreditiert. Nun spürten sie die Folgen: Im Bombenhagel waren mehr als 2,5 Millionen Wohnungen zerstört worden, speziell die größeren Städte Deutschlands lagen in Schutt und Asche. Die Ernährungslage war seit Kriegsende katastrophal. Mit den Gebieten im Osten ging fast ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche verloren, die Ernteerträge in den verbliebenen Gebieten waren kriegsbedingt um die Hälfte gesunken und konnten aufgrund der zerstörten Transportwege von 13 000 Kilometern Eisenbahnstrecke waren im Mai 1945 nur noch 1000 befahrbar nicht verteilt werden. Acht bis zehn Millionen ausländische Zwangsverschleppte, mehr als drei Millionen aus den StädtenEvakuierte, um die vierzehn Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten waren zusätzlich zu versorgen.
Anders als 1918 hatte Deutschland als Staat aufgehört zu existieren, die Deutschen sahen sich auf Gedeih und Verderb den Siegern ausgeliefert. Diese übernahmen als Besatzungsmächte zunächst eine gemeinsame Verantwortung für Deutschland, die an ideologischen Differenzen im Zuge des seit 1947 aufbrechenden Kalten Krieges jedoch schnell zerbrach. Schon bald gingen sie bei der Neuordnung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in ihren Besatzungszonen eigene Wege.
In der Sowjetischen Besatzungszone(SBZ)wurde mit Verstaatlichung der Banken, Boden- und Industriereform, Planwirtschaft und Gleichschaltung der gesellschaftlichen Kräfte eine sozialistische Gesellschaftsordnung etabliert. Durch die Reparationsleistungen an die Sowjetunion war die SBZ besonders von materiellen Einbußen betroffen.
In den Westzonen setzte sich eine sozial fundierte Marktwirtschaft durch, sorgten die Hilfsleistungen der USA im Zuge des Marshallplans und die Währungsreform für Anschübe des Wirtschaftslebens, erhielten die Menschen nach anfänglichen Entnazifizierungs- und Umerziehungsmaßnahmen zunehmend mehr Freiräume zu politischer, gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe. Ein neues Lebensgefühl regte sich, Erich Kästner lieh ihm im Oktober 1945 seine Stimme: "Kein Hindernis ist zu hoch und kein Abenteuer verzwickt genug, den edlen Eifer zu dämpfen. Mögen die privaten Sorgen getrost dazukommen! Wohnungssuche, Zuzugsgenehmigung, keine Möbel, das letzte Paar Schuhe, keine Nachricht von den Angehörigen... alles tritt schattenhaft zurück hinter das, was nun, nach zwölf Jahren geistiger Fesselung und Bedrohung, endlich wieder winkt: die Freiheit der Meinung und der Kunst."
Die unterschiedlichen Gesellschaftskonzepte prägten auch nach der doppelten Staatsgründung von 1949 die beiden deutschen Staaten und haben bis heute, fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung, ihre Spuren hinterlassen.
Christine Hesse
Christine Hesse
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-09-13T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/deutschland-1945-1949-259/10041/editorial/ | Aus der Distanz von sechzig Jahren wirkt die unmittelbare Nachkriegszeit seltsam unwirklich. Jahrzehnte, in denen Deutschland die längste Friedensperiode seiner Geschichte, relative Sicherheit, demokratische Verhältnisse und wachsenden Wohlstand erle | [
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Termin-Rückblick 2020 | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de | Zu den Termindetails der vergangenen Terminen gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken.
Januar
Interner Link: Lehrerfortbildung: Extremismus in sozialen Medien23. Januar 2020, Regensburg Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit
Februar
Interner Link: Lehrerfortbildung: Extremismus in sozialen Medien11. Februar 2020, Bamberg Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Interner Link: Fachtag: Extremismusprävention zwischen YouTube und Jugendtreff13. Februar 2020, Berlin Institut für Medienpädagogik
März
Interner Link: Tagung: Präventionsarbeit in digitalen Lebenswelten9.-10. März 2020, Kassel Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Abendveranstaltung: Risikoeinschätzung und Umgang mit hochradikalisierten Personen 17. März, Berlin Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V.
April
Interner Link: Online-Seminar: digital streetwork – Radikalisierung im Kontext sozialer Medien6. April 2020, online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e. V. Interner Link: Theater: IS Deutsche Räuber im Dschihad23.-26. April, Köln ***abgesagt*** WEHR51 Interner Link: Fachtagung: Religion als Faktor der Radikalisierung30. April, Osnabrück ***abgesagt*** Universität Osnabrück
Mai
Interner Link: Online-Seminar: Antimuslimischer Rassismus11. Mai 2020, online Bildungsstätte Anne Frank Interner Link: Online-Talk: Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona15. Mai 2020, online Bildungsstätte Anne Frank Interner Link: Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus in Deutschland20. Mai 2020, online Fach- und Informationsstelle Türkischer Ultranationalismus Interner Link: Online-Seminar: Antimuslimischer Rassismus27. Mai 2020, online Bildungsstätte Anne Frank
Juni
Interner Link: Online-Seminar: Salafismus und Radikalisierung2. Juni, online PROvention Interner Link: Online-Seminar: Can Convicted Terrorists Be Rehabilitated?3. Juni, online Counter Extremism Project und Radicalization Awareness Network Interner Link: Online-Vortrag: Die bunte Welt der Verschwörungstheorien und wie man ihr begegnen kann – ein Reiseführer10. Juni, online PROvention Interner Link: Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment11.-12. Juni, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Seminar: Verschwörungsideologien im Islamismus16. Juni, online PROvention Interner Link: Online-Vortrag: Verschwörungsideologien im Islamismus17. Juni, online PROvention Interner Link: Online-Seminar: The Repatriation of Foreign Terrorist Fighters and Their Families. Why Not?23. Juni, online International Centre for Counter-Terrorism (ICCT) Interner Link: Online-Seminar: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen23. Juni, online PROvention Interner Link: Online-Seminar: Alles gleich, alles gut? – Präventionsansätze für die Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen23. Juni, online ufuq.de Interner Link: Online-Vortrag: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen24. Juni, online PROvention Interner Link: Aktionswoche: Aktionen gegen Hass und antimuslimischen Rassismus24. Juni bis 1. Juli, online Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit Interner Link: Online-Seminar: After the Attack – Crisis Communication Strategy and the Role of the Media25. Juni, online International Centre for Counter-Terrorism (ICCT) Interner Link: Online-Seminar: Auftaktveranstaltung des Arbeitskreises "Online-Prävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus"26. Juni, online Online-Prävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus Interner Link: Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien30. Juni, online PROvention
Juli
Interner Link: Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus7. Juli, online PROvention Interner Link: Online-Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen7.-8. Juli, online Deutscher Volkshochschul-Verband e. V. Interner Link: Online-Vortrag: Verschwörungstheoretische Narrative im Phänomenbereich Türkischer Ultranationalismus8. Juli, online PROvention, Jugendschutz Kreis Pinneberg Interner Link: Fachtag: Religiös begründeter Extremismus und die digitale Welt – Herausforderungen und Möglichkeiten der Präventionsarbeit 'online'15. Juli 2020, Bremen/online Koordinierungsstelle Islamistischer Extremismus und Muslim*afeindlichkeit des Demokratizentrums Land Bremen Interner Link: Online-Aufbauschulung: Wer bin ICH, was bin ICH, wo gehöre ICH hin? − Ein 'Mehr' an Identitäten und Zugehörigkeiten15.-16. Juli, online Deutscher Volkshochschul-Verband e. V. Interner Link: Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien23. Juli, online PROvention Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Radikalisierungsprozesse und Prävention23. Juli bis 4. August, online streetwork@online
August
Interner Link: Online-Seminar: Salafismus und Radikalisierung12. August 2020, online PROvention Interner Link: Online Summer Programme: Preventing, Detecting and Responding to Violent Extremism17.-19. August, online International Centre for Counter-Terrorism Interner Link: Online-Seminar: Verschwörungsideologien im Islamismus18. August 2020, online PROvention Interner Link: Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus20. August 2020, online PROvention Interner Link: Train-the-Trainer: Online-Beratung in Zeiten von Corona25. August - 8. September 2020, online Violence Prevention Network Interner Link: Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien26. August 2020, online PROvention Interner Link: Argumentationstraining: Gegen Stammtischparolen26.-27. August 2020, Wolfsburg volkshochschule.de Interner Link: Train-the-Trainer-Fortbildung 2020: Islam, antimuslimischer Rassismus und universelle Islamismusprävention31. August bis 3. September, Berlin ufuq.de
September
Interner Link: Konzeptwerkstatt: Chancen und Grenzen von Biografieforschung und Typologisierungen2. September, online KN:IX Interner Link: Online-Seminar: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen2. September, online PROvention Interner Link: Online-Workshop: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention3. September 2020, online PROvention Interner Link: Kommunikationstraining: Widersprechen, aber wie?7. September, online volkshochschule.de Interner Link: Fachtag: Religion verhandeln?! Aushandlungsprozesse im Kontext von Demokratie, Gesellschaft und Bildung9.-10. September, Berlin ufuq.de Interner Link: Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment10.-11. September, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Train-the-Trainer-Seminar: Pädagogische Praxis im Umgang mit Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus11.-12. September, Augsburg ufuq.de Interner Link: Fachtagung: Islam und Salafismus in der Kinder- und Jugendhilfe17. September, Kiel PROvention Interner Link: Online-Veranstaltung: Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit17. September, online Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit Interner Link: Kommunikationstraining: Widersprechen, aber wie?23. September, online volkshochschule.de Interner Link: Online-Jubiläumskongress: 25. Deutscher Präventionstag28.-29. September , online Deutscher Präventionstag Interner Link: Argumentationstraining: Gegen Stammtischparolen30. September - 1. Oktober, Mannheim volkshochschule.de
Oktober
Interner Link: Fachaustausch: Sozialraumorientiertes Arbeiten in Berliner Kiezen1. Oktober, Berlin Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Fachaustausch: Schule und Schulsozialarbeit6. Oktober, Berlin Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Online-Talk: Radikale Höflichkeit – Entschlossen, sachlich und radikal höflich Stellung beziehen gegen Diskriminierung7. Oktober, online Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus & Kleiner Fünf / Tadel verpflichtet! e. V. Interner Link: Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen7-8. Oktober, online volkshochschule.de Interner Link: Online-Schulung: "zusammenleben.zusammenhalten"13. Oktober 2020, online volkshochschule.de Interner Link: Online-Schulung: "zusammenleben.zusammenhalten"15. Oktober 2020, online volkshochschule.de Interner Link: Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment15.-16. Oktober, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Aufbauschulung: Wer hat 'das letzte Wort' im Netz? – Digitale Lebenswelten mitgestalten20.-21. Oktober, online volkshochschule.de Interner Link: Fachtag: Radikalisierung und extremistische Gewalt. Handlungsgrundlagen für Ärzt/-innen und Psychotherapeut/-innen*** ausgebucht *** 21. Oktober, Berlin Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ulm Interner Link: Fachtag: Radikalisierungsfaktor soziale Ungleichheit?26.-27. Oktober, online BAG RelEx Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 1: Sozialraum Social Media27. Oktober, online streetwork@online Interner Link: Aufbauschulung: Aus der Rolle (ge-)fallen!? – Jugendliche für die geschlechtsspezifische Ansprache durch Extremist/-innen sensibilisieren27. Oktober, online volkshochschule.de
November
Interner Link: Online-Workshop: JEDI #6 "Laut sein! Aktiv für die Demokratie"3. November 2020, online Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT), bpb Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 2: Phänomenbereich Islamismus3. November 2020, online streetwork@online Interner Link: Fachtag: Fachtag Islam im Kontext Schule6. November 2020, online Multikulturelles Forum e. V., Islamische Akademie NRW und Verband muslimischer Lehrkräfte Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 3: Online-Radikalisierungsprozesse10. November 2020, online streetwork@online Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 4: Online-Prävention17. November 2020, online streetwork@online Interner Link: Online-Fachgespräch: Ansätze in der Beratungsarbeit17. November 2020, online BAG RelEx, KN:IX Interner Link: Fachtagung: Verurteilung als Anstoß18. November 2020, online Kick-off/PROvention Interner Link: Online-Seminar: Reintegration of Individuals Formerly Associated with Islamist Violent Extremist Groups19. November 2020, online Bonn International Center of ConversionInterner Link: Online-Fachtagung: Von Gesundheitsdiktatur bis Gottes Zorn. Setzt Corona der Radikalisierung die Krone auf?25. November, online respect.lu & Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus Interner Link: DVV-Fachaustausch: "EmPOWERment"25. November, online volkshochschule.de Interner Link: Multimediales Event: Extremismus als Herausforderung für Jugend, Pädagogik und Forschung – Reflexionen und Ausblicke25. November 2020, online Arbeits- und Forschungsstelle für Demokratieförderung und Extremismusprävention (AFS) Interner Link: Online-Fachtag: Peer-Education in der universellen Islamismusprävention26. November 2020, online ufuq.de, KN:IX Interner Link: Online-Fachtag: PrEval 202027. November 2020, online PrEval-Verbund Interner Link: Online-Workshop: Sozialisationsbedingungen und fehlende Vaterpräsenz als Radikalisierungsfaktoren?27.-28. November 2020, online Bundeszentrale für politische Bildung
Dezember
Interner Link: Online-Diskussion: Europäische Ansätze bei der Reintegration von Rückkehrenden aus Syrien und Irak10. Dezember 2020, online Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) & Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Interner Link: Online-Seminar: Onlineberatung zu religiös begründetem Extremismus – Chancen und Herausforderungen eines "neuen" Beratungsfeldes 10. Dezember 2020, online emel – Online-Beratung zu religiös begründetem Extremismus Interner Link: Online-Fachgespräch: Religiös begründeter Extremismus: Zielgruppenerreichung über/und digitale Medien in Zeiten von Corona14. Dezember 2020, online emel – Online-Beratung zu religiös begründetem Extremismus
Januar
23. Januar 2020, Regensburg
Lehrerfortbildung: Extremismus in sozialen Medien
In halbtägigen Workshops informiert die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Lehrkräfte über Kommunikationsstrategien extremistischer Akteure in sozialen Medien. Außerdem werden Befunde aus einem Forschungsprojekt präsentiert, das den Kontakt und die Wahrnehmung extremistischer Botschaften durch Jugendliche untersucht hat. Im Anschluss werden in einer gemeinsamen Diskussionsrunde mögliche Schlussfolgerungen für den Schulkontext diskutiert und Handlungsoptionen erarbeitet.
Termin: 23. Januar 2020, 14:00-18:00 Uhr Ort: RUL - Regensburger Universitätszentrum für Lehrerbildung, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg Kosten: kostenfrei
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit
Februar
11. Februar 2020, Bamberg
Lehrerfortbildung: Extremismus in sozialen Medien
In halbtägigen Workshops informiert die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Lehrkräfte über Kommunikationsstrategien extremistischer Akteure in sozialen Medien. Außerdem werden Befunde aus einem Forschungsprojekt präsentiert, das den Kontakt und die Wahrnehmung extremistischer Botschaften durch Jugendliche untersucht hat. Im Anschluss werden in einer gemeinsamen Diskussionsrunde mögliche Schlussfolgerungen für den Schulkontext diskutiert und Handlungsoptionen erarbeitet.
Termin: 23. Januar 2020, 13:30-17:00 Uhr Ort: Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Luitpoldstraße 19, 96052 Bamberg Kosten: kostenfrei
Weitere Informationen auf den Seiten der Externer Link: Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit
13. Februar 2020, Berlin
Fachtag: Extremismusprävention zwischen YouTube und Jugendtreff
Mit dem Fachtag bietet das JFF – Institut für Medienpädagogik pädagogischen Fachkräften Einblick in das Präventionsprojekt "RISE – Jugendkulturelle Antworten auf islamistischen Extremismus". Das von der Bundesbeauftragen für Kultur und Medien geförderte Projekt hat unter anderem sieben Filme zu Themen wie Zugehörigkeit, Religion, Liebe und Gemeinschaft hervorgebracht, die für Präventionsarbeit mit pädagogischem Material und Hintergrundinformationen auf einer Online-Plattform aufbereitet sind. Neben Beiträgen aus Forschung und Praxis gibt es die Möglichkeit auf Austausch mit Vertreter/-innen aus Politik, Wissenschaft, Präventions- und Jugendarbeit.
Termin: 13. Februar 2020, 9:00-17:30 Uhr Ort: silent green Kulturquartier, Gerichtstraße 35, 13347 Berlin Kosten: kostenfrei
Weitere Informationen auf den Seiten des Externer Link: JFF – Institut für Medienpädagogik
März
9.-10. März 2020, Kassel
Tagung: Präventionsarbeit in digitalen Lebenswelten
Welche Angebote digitaler Bildungs- und Präventionsarbeit gibt es? Wie können diese dabei helfen, neue Zielgruppen zu erreichen, Partizipation zu fördern und Pluralität abzubilden? Diesen und weiteren Fragen sollen die Teilnehmenden aus Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit sowie aus Wissenschaft und Verwaltung im Rahmen einer zweitägigen Veranstaltung nachgehen. Themen am ersten Tag sind unter anderem Strategien islamistischer Akteure im Netz sowie rechte Hetze. Am zweiten Tag besteht die Möglichkeit praxisnahe Projekte aus den Bereichen Digitale Bildung, Webvideo und Online-Streetwork kennenzulernen. Die Tagung wird von Bundeszentrale für politische Bildung organisiert.
Termin: 9.-10. März 2020 Ort: H4 Hotel, Baumbacher Str. 2, 34119 Kassel Kosten: kostenfrei
Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung
17. März 2020, Berlin
Abendveranstaltung: Risikoeinschätzung und Umgang mit hochradikalisierten Personen
Wie werden Risikoeinschätzungen erstellt und wie kann mit hochradikalisierten Personen und der von ihnen ausgehenden Gefahr umgegangen werden? Auf der Veranstaltung, die sich im Rahmen des "International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism" (InFoEx) der tertiären Prävention widmet, werden Herausforderungen und bewährte Praktiken in Deutschland und dem europäischen Ausland diskutiert. Die Veranstaltung wird durchgeführt vom Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. (DGAP).
Termin: 17. März 2020, 18:30-20:00 Uhr Ort: DGAP, Rauchstraße 17/18, 10787 Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: den Seiten des DGAP
April
6. April 2020, online
Online-Seminar: digital streetwork – Radikalisierung im Kontext sozialer Medien
Welche Bedeutung haben soziale Medien für extremistische Akteure und wie kann digitale Jugendarbeit diesen begegnen? Kultur- und Medienpädagoge Adrian Stuiber vom Berliner Präventionsprojekt streetwork@online wird in rund 90 Minuten Einblicke in das Thema Digital Streetwork geben. Dabei geht es vor allem um den Lebensraum "soziales Netzwerk" und wie Kinder und Jugendliche über die dortigen Radikalisierungsprozesse aufgeklärt werden können. Das Online-Seminar wird organisiert von der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e. V. (BAG RelEx).
Termin: 6. April 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich bis zum 2. April Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx
23.-26. April 2020, Köln ***abgesagt***
Theater: IS Deutsche Räuber im Dschihad
Das frei nach Schiller inszenierte Stück widmet sich der Frage, was junge Menschen auf dem Weg in den Islamismus bewegt. Finden sie dort einen Gegenentwurf zum verweichlichten Elternhaus? Ist der Dschihad eine Jugendkultur, eine Rebellion gegen das Wertesystem der Gesellschaft oder dessen Fehlen?
WEHR51 ist 2019 aus dem Zusammenschluss der beiden Theater theater-51grad und wehrtheater hervorgegangen. Es setzt sich kreativ und kritisch mit politischen und zeitgenössischen Themen auseinander.
Termin: 23.-26. April 2020, 20:00 Uhr Ort: Freihandelszone, Krefelderstraße 71, 50670 Köln Kosten: 17 €, ermäßigt 10 € Reservierung: per E-Mail an E-Mail Link: info@wehr51.com
Weitere Informationen Externer Link: auf den Seiten von wehr51
30. April 2020, Osnabrück ***abgesagt***
Fachtagung: Religion als Faktor der Radikalisierung
Sind insbesondere junge Muslime aufgrund ihrer religiösen Orientierung empfänglich für radikale Botschaften? Können Radikalisierungsprozesse mit einer "richtigen" religiösen Unterweisung unterbunden werden? Auf der Tagung des Forschungsnetzwerkes "Radikalisierung und Prävention" werden die Ergebnisse des Forschungsprojektes "Religion als Faktor der Radikalisierung" und der daraus entstandene Sammelband vorgestellt. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Bundesprogrammes "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend statt.
Termin: 30. April 2020, 10:00-17:00 Uhr Ort: Schlossaula der Universität Osnabrück, Neuer Graben 29/Schloss, 49074 Osnabrück Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: kathrin.wagner@uni-osnabrueck.de
Weitere Informationen auf den Seiten der Universität Osnabrück
Mai
11. Mai 2020, online
Online-Seminar: Antimuslimischer Rassismus
Warum ist es wichtig, von antimuslimischem Rassismus zu sprechen? In diesem Online-Seminar sollen Mechanismen und Erscheinungsformen sowie die Auswirkungen auf die Lebensrealitäten von Betroffenen analysiert werden. Darüber hinaus besprechen die Teilnehmenden Möglichkeiten, antimuslimischem Rassismus entgegen zu treten. Die Bildungsstätte Anne Frank organisiert zwei Termine des Online-Seminar, das andere Online-Seminar findet am 27. Mai statt.
Termin: 11. Mai 2020, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail unter Angabe des Online-Seminar-Titels an E-Mail Link: erwachsenenbildung@bs-anne-frank.de
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bildungsstätte Anne Frank 15. Mai 2020, online
Online-Talk: Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona
"Die Impfindustrie kassiert jetzt ab!" – "Die italienischen Kliniken wollen doch nur an die Finanzhilfen!" – "Cui bono?" In aufgewühlten Zeiten wie diesen haben Verschwörungstheorien wieder eine traurige Hochkonjunktur; ob sie sich nun um Italien, den IS oder die USA drehen.
Oliver Fassing und Tom Uhlig von der Bildungsstätte Anne Frank haben sich aktuelle Corona-Verschwörungstheorien angesehen und sprechen über Funktion und Argumentationsmuster dieser Theorien und ihre sozialpsychologische Funktion: Über Verschwörungstheorie erscheinen Erfahrungen eigener Ohnmacht und Entfremdung plötzlich erklär- und beherrschbar. Die beiden geben auch Tipps, was man tun kann, wenn im privaten Umfeld oder in sozialen Medien Verschwörungstheorien umgehen. Die Veranstaltung ist ein Beitrag im Rahmen der digitalen Aktionstage gegen Verschwörungsmythen und Antisemitismus, organisiert von der Amadeu Antonio Stiftung mit dem Anne Frank Zentrum in Berlin. Der Aktionstag ist gleichzeitig der Auftakt der diesjährigen Aktionswochen gegen Antisemitismus.
Termin: 15. Mai 2020, 16:00-17:00 Uhr Ort: Externer Link: YouTube-Kanal der Bildungsstätte Anne Frank Kosten: kostenfrei Anmeldung: nicht erforderlich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bildungsstätte Anne Frank 20. Mai 2020, online
Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus in Deutschland
Das Online-Seminar der Fach- und Informationsstelle Türkischer Ultranationalismus (diyalog) soll einen ersten Einblick in die Thematik ermöglichen. Neben einem Input wird es die Möglichkeit zu einer Diskussion sowie zum interaktiven Arbeiten geben. Das Angebot richtet sich an Fachkräfte, ehrenamtlich tätige Menschen sowie die interessierte Öffentlichkeit.
Diyalog steht unter der Trägerschaft der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein – einer landesweit tätigen Migrant_innenselbstorganisation, die vom Landesdemokratiezentrum Schleswig-Holstein gefördert wird.
Termin: 20. Mai 2020, 10:00-12:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Schreiben Sie bei Interesse bitte bis zum 18.5. eine E-Mail an E-Mail Link: diyalog@tgsh.de unter Angabe Ihres Namens und fachlichen Hintergrundes. Ihre Angaben werden datenschutzrechtskonform behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Die Teilnehmendenzahl ist begrenzt. 27. Mai 2020, online
Online-Seminar: Antimuslimischer Rassismus
Warum ist es wichtig, von antimuslimischem Rassismus zu sprechen? In diesem Online-Seminar sollen Mechanismen und Erscheinungsformen sowie die Auswirkungen auf die Lebensrealitäten von Betroffenen analysiert werden. Darüber hinaus besprechen die Teilnehmenden Möglichkeiten, antimuslimischem Rassismus entgegen zu treten. Die Bildungsstätte Anne Frank organisiert zwei Termine des Online-Seminar, das andere Online-Seminar findet am 11. Mai statt.
Termin: 27. Mai 2020, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail unter Angabe des Online-Seminar-Titels an E-Mail Link: erwachsenenbildung@bs-anne-frank.de
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bildungsstätte Anne Frank Juni
2. Juni 2020, online
Online-Seminar: Salafismus und Radikalisierung
Anhand von Methoden und pädagogischen Ansätzen sowie konkreten Fallbeispielen werden die Abgrenzung zwischen der Religion des Islams und der politischen Ideologie des Islamismus sowie zentrale Merkmale gängiger salafistischer Propaganda vermittelt.
In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die einzelnen Termine haben je eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einstündiger Pause 11:30-12:30). Hinweise zum Log-In zum Online-Seminar-Software erhalten Sie rechtzeitig vor Seminarbeginn.
Termin: 2. Juni 2020, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention. 3. Juni 2020, online
Online-Seminar: Can Convicted Terrorists Be Rehabilitated?
Welche Programme zur Deradikalisierung von Personen, die wegen terroristischer Straftaten veruteilt wurden, funktionieren? Wie können bewährte Verfahren übertragen werden? Das Online-Seminar befasst sich mit aktuellen Herausforderungen und Lehren aus unterschiedlichen Ansätzen in der EU und den USA.
Das Counter Extremism Project (CEP) richtet das Online-Seminar zusammen mit dem Radicalization Awareness Network (RAN) aus. Unter den vier eingeladenen Fachleuten befindet sich unter anderem Dr. Robert Pelzer, Senior Researcher an der TU Berlin. Das Online-Seminar findet in englischer Sprache statt.
Termin: 3. Juni 2020, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: Online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten zur Online-Seminar-Registrierung. 10. Juni 2020, online
Online-Vortrag: Die bunte Welt der Verschwörungstheorien und wie man ihr begegnen kann – ein Reiseführer
Giulia Silberberger von der Initiative "Der goldene Aluhut" gibt in ihrem Vortrag einen Überblick über aktuelle Verschwörungsmythen. Außerdem berichtet sie von ihrer praktischen Arbeit und geht darauf ein, wie man mit Verschwörungstheoretiker/-innen im beruflichen und privaten Alltag umgehen kann.
PROvention bietet in Kooperation mit dem Jugendschutz Kreis Pinneberg eine sechsteilige Online-Vortragsreihe zum Thema Verschwörungstheorien und Extremismus an. Die Vorträge der Reihe finden vom 10. Juni bis 15. Juli 2020 wöchentlich immer mittwochs von 16:00 bis 17:30 Uhr statt. Neben den Vorträgen wird es auch Raum für Fragen und Diskussionen geben.
Termin: 10. Juni 2020, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention. 11.-12. Juni 2020, online
Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment
Hassrede, Propaganda und menschenverachtender Content: Extreme Gruppierungen und Personen kapern zunehmend das Netz, um dort ihre gefährlichen Ideologien vornehmlich an junge Menschen weiterzuverbreiten. Diesen Bestrebungen muss mit einer auf das Netz angepassten Form der Zivilcourage begegnet werden, um sich extremistischen Akteuren gezielt entgegen zu stellen.
Das je zweitägige Seminar der Bundeszentrale für politische Bildung richtet sich an Social Web-Multiplikatoren, Social Media- und Community-Redakteure, Online-Journalisten, YouTube-Community-Manager sowie NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure, die in digitalen Diskursen aktiv sind. Ziel ist es, qualifiziertes Wissen zu Strukturen und Wirkungsweisen des ideologischen Extremismus unter Berücksichtigung praktischer Tools und Strategien im Umgang mit Extremismus im Netz zu erarbeiten.
Termin: 11.-12. Juni 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich
Weitere Informationen auf Interner Link: bpb.de 16. Juni, online
Online-Seminar: Verschwörungsideologien im Islamismus
Das Online-Seminar beschäftigt sich mit folgenden Fragen: Wie sind Verschwörungsmythen aufgebaut und was macht sie so attraktiv? Welche Elemente verschwörungstheoretischen Glaubens findet man in islamistischen Spektren vor? Und wie kann man damit umgehen, wenn man mit solchen Erzählungen konfrontiert wird?
In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die Termine haben eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einer Pause von 11:30-12:30).
Termin: 16. Juni, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Online-Seminar-Reihe" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Die Teilnehmendenzahl ist auf 20 Personen pro Online-Seminar begrenzt.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 17. Juni, online
Online-Vortrag: Verschwörungsideologien im Islamismus
Annabelle Mattick von PROvention setzt sich in ihrem Vortrag mit den Fragen auseinander, welche Elemente verschwörungsideologischen Glaubens in islamistischen Spektren vertreten werden, warum diese attraktiv auf junge Menschen wirken können und wie auf die Konfrontation mit solchen Erzählungen reagiert werden kann.
PROvention bietet in Kooperation mit dem Jugendschutz Kreis Pinneberg eine sechsteilige Online-Vortragsreihe zum Thema Verschwörungstheorien und Extremismus an. Die Vorträge der Reihe finden vom 10. Juni bis 15. Juli 2020 wöchentlich immer mittwochs von 16:00 bis 17:30 Uhr statt. Neben den Vorträgen wird es auch Raum für Fragen und Diskussionen geben.
Termin: 17. Juni, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail.
Weitere Informationen auf den Seiten von PROvention 23. Juni, online
Online-Seminar: The Repatriation of Foreign Terrorist Fighters and Their Families. Why Not?
Das International Centre for Counter-Terrorism – Den Haag (ICCT) veranstaltet ein Online-Live-Briefing mit anschließender Fragerunde zum Thema Rückführung von Terrorist/-innen und ihren Familien. Wie können Probleme bei der Rückführung überwunden werden? Wie sind die Aussichten auf Strafverfolgung? Gibt es praktikable Alternativen zur Rückführung? Die Grundlage für das Online-Seminar bieten die Überlegungen von Tanya Mehra und Dr. Christophe Paulussen, beide vom ICCT, sowie von Anthony Dworking, vom European Council on Foreign Relations.
Termin: 23. Juni 2020, 16:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich; registrierte Teilnehmende erhalten vor der Veranstaltung die Anmeldedaten für das Online-Seminar.
Weitere Informationen auf den Seiten des Externer Link: ICCT. 23. Juni, online
Online-Seminar: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen
In aktuell kursierenden Verschwörungsmythen spielen judenfeindliche Elemente oftmals eine tragende Rolle. Zum Teil wird versucht, solche antisemitischen Stereotypen islamisch zu legitimieren. Im Arbeitsalltag kann Antisemitismus in Form von Mobbing oder rassistisch-religiöser Diskriminierung auftreten. Ziele dieses Online-Seminar sind eine breite Wissensvermittlung zum Thema und die gemeinsame Erarbeitung von Handlungsmöglichkeiten.
In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die Termine haben eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einer Pause von 11:30-12:30).
Termin: 23. Juni, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Online-Seminar-Reihe" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Die Teilnehmendenzahl ist auf 20 Personen pro Online-Seminar begrenzt.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 23. Juni, online
Online-Seminar: Alles gleich, alles gut? – Präventionsansätze für die Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen
Die Erfahrungen von Mädchen und Frauen in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens machen deutlich, wie wichtig geschlechtsspezifische Präventionsansätze sind. Diversitäts- und Diskriminierungssensibilität sind hier die Gelingensbedingungen, um Mädchen und junge Frauen zu stärken – auch gegenüber ideologischen Ansprachen in Form islamistischer, nationalistischer oder rechtsextremer Gemeinschaftsangebote. Im Online-Seminar wird das neue ufuq.de-Fortbildungsmodul "Mädchenarbeit – geschlechtsspezifische Prävention" vorgestellt. Es soll pädagogische Fachkräfte in ihrer Arbeit mit Fokus auf Mädchen und junge Frauen unterstützen.
Termin: 23. Juni, 11:00-12:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail bis zum 19. Juni 2020 an E-Mail Link: serpil.dursun@ufuq.de.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufug.de 24. Juni, online
Online-Vortrag: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen
In aktuell kursierenden Verschwörungsmythen spielen judenfeindliche Elemente oftmals eine tragende Rolle, wie beispielsweise in der vermeintlichen "zionistischen Weltverschwörung". Zum Teil wird versucht, solchen antisemitischen Stereotypen einen religiösen Anstrich zu geben und diese islamisch zu legitimieren. Pascal Brügge und Jacob Reichel von PROvention diskutieren in ihrem Vortrag verschwörungstheoretische Merkmale, Strukturen und Funktionsweisen von islamisiertem Antisemitismus und geben Handlungsstrategien für die berufliche Praxis.
PROvention bietet in Kooperation mit dem Jugendschutz Kreis Pinneberg eine sechsteilige Online-Vortragsreihe zum Thema Verschwörungstheorien und Extremismus an. Die Vorträge der Reihe finden vom 10. Juni bis 15. Juli 2020 wöchentlich immer mittwochs von 16:00 bis 17:30 Uhr statt. Neben den Vorträgen wird es auch Raum für Fragen und Diskussionen geben.
Termin: 24. Juni, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 24. Juni bis 1. Juli 2020, bundesweit
Aktionswoche: Aktionen gegen Hass und antimuslimischen Rassismus
Die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit ruft mit einer Aktionswoche bundesweit zu verschiedenen Aktionen gegen Hass und antimuslimischen Rassismus auf. Sie gipfeln im Tag gegen antimuslimischen Rassismus am 1. Juli. Mit Vorträgen, Diskussionen und Kunstaktionen nehmen viele bekannte Akteure der Präventionsarbeit teil. Ideen zu weiteren Aktionen können noch eingereicht werden.
Termin: 24. Juni bis 1. Juli 2020 Ort: bundesweit Kosten: kostenfrei Anmeldung: Aktionen können per E-Mail angemeldet werden an E-Mail Link: info@claim-allianz.de
Weitere Informationen und das Programm auf den Externer Link: Seiten der Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit 25. Juni 2020, online
Online-Seminar: After the Attack – Crisis Communication Strategy and the Role of the Media
In diesem Online-Seminar geht es um Medienberichterstattung nach Terroranschlägen. Journalist/-innen stehen vor der Frage, wie sie über Anschläge berichten können, ohne dem Wunsch der Terrorist/-innen nach größtmöglicher Aufmerksamkeit nachzukommen. Als Zusatz zu einer westlichen Perspektive werden Beispiele aus Sri Lanka und Nigeria aufgeführt. Das Online-Seminar ist Teil eines umfassenderen Projekts, das vom Internationalen Zentrum für Terrorismusbekämpfung (ICCT) in Den Haag geleitet und vom EU-Devco zum Thema "Abschwächung der Auswirkungen der Medienberichterstattung über Terrorismus" finanziert wird.
Termin: 25. Juni 2020, 11:00-12:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich; registrierte Teilnehmende erhalten vor der Veranstaltung die Anmeldedaten für das Online-Seminar
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des ICCT 26. Juni 2020, online
Online-Seminar: Auftaktveranstaltung des Arbeitskreises "Online-Prävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus"
Welche Ansätze gibt es für die Online-Prävention? Wie können diese Angebote von Multiplikatoren genutzt werden? Und wie setzt sich die aktuelle Projektlandschaft im Bereich der Prävention von religiös begründetem Extremismus online zusammen? Die folgenden Fachleute und Gründungsmitglieder des Arbeitskreises "Online-Prävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus" stellen aktuelle vor:
Duygu Özer und Laura Tischkau, Onlineberatung EMEL und SABIL, Türkische Gemeinde in Deutschland e. V. und Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V.
Sabrina Radhia Behrens und Adrian Stuiber, streetwork@online, AVP e. V.
Sebastian Ehlers, Islam-ist, Violence Prevention Network e. V.
Fabian Reicher, Jamal al-Khatib und NISA, TURN e. V.
Termin: 26. Juni 2020, 16:00-17:30 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Bis zum 24. Juni per E-Mail an E-Mail Link: sabil@tsgh.de
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 30. Juni, online
Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien
In diesem Online-Seminar lernen die Teilnehmenden Kernmerkmale einer salafistisch geprägten Erziehung kennen. Dabei werden verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren für Kinder in salafistisch geprägten Familien diskutiert. Zudem erlangen die Teilnehmenden ein Basiswissen zu Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung und Resilienz. Abschließend werden verschiedene Übungen zur Resilienzförderung in Schulklassen präsentiert.
In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die Termine haben eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einer Pause von 11:30-12:30).
Termin: 30. Juni, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Online-Seminar-Reihe" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Die Teilnehmendenzahl ist auf 20 Personen pro Online-Seminar begrenzt.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention Juli
7. Juli, online
Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus
Das Online-Seminar wird zunächst eine Einführung in das Phänomen türkischer Ultranationalismus bieten. Anhand von Biographien werden typische Wege in die Szene veranschaulicht und mithilfe von Online-Propaganda in Form von Musikvideos wird die Attraktivität ultranationalistischer Gruppen für Jugendliche herausgearbeitet. Abschließend werden in praxisnahen Übungen Handlungsstrategien für die ehren- und hauptamtliche Arbeit erarbeitet.
In der Zeit vom 2. Juni bis zum 7. Juli veranstaltet PROvention, die Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein (TGS-H), eine Online-Seminar-Reihe zum Thema religiös begründeter Extremismus. Die Termine haben eine Dauer von fünf Stunden: 9:30-14:30 Uhr (inklusive einer Pause von 11:30-12:30).
Termin: 7. Juli, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff „Online-Seminar-Reihe“ und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik. Die Teilnehmendenzahl ist auf 20 Personen pro Online-Seminar begrenzt.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 7.-8. Juli 2020, online
Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie Praktische Ansätze der Präventionsarbeit.
Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
Termin: 7.-8. Juli 2020, 12:00-19:30 Uhr und 9:00-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 8. Juli, online
Online-Vortrag: Verschwörungstheoretische Narrative im Phänomenbereich Türkischer Ultranationalismus
Türkische Ultranationalist/-innen erklären alles zum Feind, was ihrer Meinung nach die Türkei von innen oder außen gefährdet. Dabei wird häufig verschwörungstheoretisch argumentiert und unterstellt, ausländische Mächte würden zusammenarbeiten, die Feinde im Inneren der Türkei "steuern" und so den Staat zerstören wollen. Neben solchen Verschwörungsmythen, welche auch in entsprechenden Milieus in Deutschland verbreitet sind, vermittelt Sobitha Balakrishnan von der Fach- und Informationsstelle diyalog im Vortrag auch konkrete Handlungsstrategien für den beruflichen Alltag.
PROvention bietet in Kooperation mit dem Jugendschutz Kreis Pinneberg eine sechsteilige Online-Vortragsreihe zum Thema Verschwörungstheorien und Extremismus an. Die Vorträge der Reihe finden vom 10. Juni bis 15. Juli 2020 wöchentlich immer mittwochs von 16:00 bis 17:30 Uhr statt. Neben den Vorträgen wird es auch Raum für Fragen und Diskussionen geben.
Termin: 8. Juli, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de bis spätestens zwei Stunden vor dem Vortrag mit Namen, Institution und dem Titel des gewünschten Vortrags. Informationen zur technischen Nutzung erhalten Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn per E-Mail.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention Interner Link: Zum Anfang der Seite August
12. August 2020, online
Online-Seminar: Salafismus und Radikalisierung
In diesem Seminar geht es um eine vertiefte Auseinandersetzung mit religiös begründetem Extremismus und Radikalisierungsprozessen. Vermittelt werden die Abgrenzung zwischen der Religion des Islams und der politischen Ideologie des Islamismus sowie zentrale Merkmale gängiger salafistischer Propaganda. Außerdem werden Methoden, pädagogische Ansätze und Fallbeispiele besprochen, um Radikalisierungstendenzen bei Jugendlichen erkennen zu können.
Termin: 12. August, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 17.-19. August 2020, online
Online Summer Programme: Preventing, Detecting and Responding to Violent Extremism
In einem interaktiven dreitägigen Online-Kurs können sich interessierte Fachkräfte aus dem Bereich Radikalisierungsprävention mit Trends im Bereich Gewalt und Extremismus auseinandersetzen. Neben Vorträgen erhalten die Teilnehmenden die Möglichkeit ihre Ideen und Erfahrungen mit verschiedenen praktischen Ansätzen der Radikalisierungsprävention mit Wissenschaftler/-innen und anderen Teilnehmenden auszutauschen und zu diskutieren. Der Online-Kurs wird organisiert von der Universität Leiden in Kooperation mit dem International Centre for Counter-Terrorism – Den Haag (ICCT).
Termin: 17.-19. August 2020 Ort: online Kosten: 495 Euro Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Universität Leiden 18. August 2020, online
Online-Seminar: Verschwörungsideologien im Islamismus
Das Online-Seminar beschäftigt sich mit folgenden Fragen: Wie sind Verschwörungsmythen aufgebaut und was macht sie so attraktiv? Welche Elemente verschwörungstheoretischen Glaubens findet man in islamistischen Spektren vor? Und wie kann man damit umgehen, wenn man mit solchen Erzählungen konfrontiert wird?
Termin: 18. August, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 20. August 2020, online
Online-Seminar: Türkischer Ultranationalismus
Das Online-Seminar der Fach- und Informationsstelle Türkischer Ultranationalismus (diyalog) soll einen ersten Einblick in die Thematik ermöglichen. Neben einem Input wird es die Möglichkeit zu einer Diskussion sowie zum interaktiven Arbeiten geben. Das Angebot richtet sich an Fachkräfte, ehrenamtlich tätige Menschen sowie die interessierte Öffentlichkeit.
Diyalog steht unter der Trägerschaft der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein – einer landesweit tätigen Migrant/-innenselbstorganisation, die vom Landesdemokratiezentrum Schleswig-Holstein gefördert wird.
Termin: 20. August, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 25. August - 8. September 2020, online
Train-the-Trainer: Online-Beratung in Zeiten von Corona
Durch Corona sind klassische face-to-face Situationen, zum Beispiel im Bereich Beratung, auf Online-Angebote angewiesen. Welche Herausforderungen und welche Chancen bringt das mit sich? An drei aufeinander aufbauenden Terminen bietet Violence Prevention Network (VPN) im Rahmen des Kompetenznetzwerks "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) eine digitale Fortbildung im Bereich Online-Beratung an. Die Fortbildung richtet sich an angehende und erfahrene Fachkräfte im Bereich der Extremismusprävention und Deradikalisierung, um sie im Umgang mit der neuen Situation zu stärken.
Termin: 25. August, 1. September und 8. September 2020, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: sophie.scheuble@violence-prevention-network.de
Weitere Informationen auf den auf den Externer Link: Seiten von violence-prevention-network.de 26. August 2020, online
Online-Seminar: Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien
In diesem Online-Seminar lernen die Teilnehmenden Kernmerkmale einer salafistisch geprägten Erziehung kennen. Dabei werden verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren für Kinder in salafistisch geprägten Familien diskutiert. Zudem erlangen die Teilnehmenden ein Basiswissen zu Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung und Resilienz. Abschließend werden verschiedene Übungen zur Resilienzförderung in Schulklassen präsentiert.
Termin: 26. August, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 26.-27. August 2020, Wolfsburg
Argumentationstraining: Gegen Stammtischparolen
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie praktische Ansätze der Präventionsarbeit.
Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
Termin: 26.-27. August 2020, 12:00-18:15 Uhr und 9:00-14:30 Uhr Ort:vhs Wolfsburg, Bildungshaus, Hugo-Junkers-Weg 5, 38440 Wolfsburg Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 31. August bis 3. September 2020, Berlin
Train-the-Trainer-Fortbildung 2020: Islam, antimuslimischer Rassismus und universelle Islamismusprävention
Ziel der Fortbildung von ufuq.de im Rahmen von "Demokratie leben!" ist es, pädagogisch und/oder thematisch bereits „vorgebildete“ Teilnehmende in die Lage zu versetzen, selbst Fortbildungen oder vergleichbare Formate zu konzipieren und durchzuführen, die sich an der Schnittstelle von Jugendarbeit, Pädagogik, politischer Bildung und universeller Prävention mit Fragen im Kontext von Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus auseinandersetzen. Das Seminar richtet sich zum Beispiel an Multiplikatoren aus Verwaltung und Zivilgesellschaft, Betreuende von Referendar/-innen oder Mitarbeitende von Präventionsprojekten.
Termin: 31. August bis 3. September 2020 Ort: Berlin Kosten: Die Teilnahme am Seminar ist kostenlos. Reisekosten können nicht erstattet werden. Für Fachkräfte, die im Auftrag ihrer Einrichtungen/Träger/Projekte am Seminar teilnehmen, entstehen zusätzliche Hotelkosten in Höhe von voraussichtlich circa 460 Euro inklusive Frühstück. Anmeldung: Bis spätestens 1. Juni 2020 per E-Mail bei E-Mail Link: Dr. Jochen Müller
Weitere Informationen auf Externer Link: den Seiten von ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite September
2. September 2020, online
Konzeptwerkstatt: Chancen und Grenzen von Biografieforschung und Typologisierungen
Was kann Biografieforschung für die Präventionsarbeit leisten? Wie sinnvoll sind Versuche individuelle Biografien und Radikalisierungsverläufe zu systematisieren oder zu typologisieren? Das Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) lädt zu einer Konzeptwerkstatt zum Thema Biografieforschung ein. Forschungsergebnisse und Erfahrungen aus der Praxis sowie Fragen und Handlungspotenziale, die sich aus der Biografieforschung ergeben, werden gleichermaßen diskutiert. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte im Bereich der Extremismusprävention und Deradikalisierung.
Termin: 2. September, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: sophie.scheuble@violence-prevention-network.de
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von KN:IX 2. September 2020, online
Online-Seminar: Islamisierter Antisemitismus unter Jugendlichen
In aktuell kursierenden Verschwörungsmythen spielen judenfeindliche Elemente oftmals eine tragende Rolle. Zum Teil wird versucht, solche antisemitischen Stereotypen islamisch zu legitimieren. Im Arbeitsalltag kann Antisemitismus in Form von Mobbing oder rassistisch-religiöser Diskriminierung auftreten. Ziele dieses Online-Seminar sind eine breite Wissensvermittlung zum Thema und die gemeinsame Erarbeitung von Handlungsmöglichkeiten.
Termin: 2. September, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Sie können sich unter E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de mit Ihrem Namen, E-Mail-Adresse und Institution anmelden. Bitte verwenden Sie als Betreff "Anmeldung Online-Seminar" und geben Sie in der E-Mail die gewünschten Termine an. Sie erhalten rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn einen Link zum Online-Seminar sowie Hinweise zur Technik.
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 3. September 2020, online
Online-Workshop: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention
In diesem Online-Workshop gibt Dr. Jens Ostwaldt, Projektleiter der Fachstelle zur Prävention von religiös begründetem Extremismus (PREvent!on), Einsicht in seine Studie zur Bedeutung von islamischen und migrantischen Vereinen in der Extremismusprävention. Nach dem Vortrag werden Fragen beantwortet und es gibt Raum für Diskussion zum Thema.
Termin: 3. September 2020, 13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 28. August Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 7. September 2020, online
Kommunikationstraining: Widersprechen, aber wie?
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. in Zusammenarbeit mit ARTIKEL1 – Initiative für Menschenwürde e. V. organisiert. Ziel der Veranstaltung ist unter anderem den persönlichen Umgang mit menschen- und demokratiefeindlichen Einstellungen sowie entsprechenden Äußerungen zu verbessern.
Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
Termin: 7. September, 9:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de
9.-10. September 2020, Berlin
Fachtag: Religion verhandeln?! Aushandlungsprozesse im Kontext von Demokratie, Gesellschaft und Bildung
Wie werden persönliche, gesellschaftliche und politische Aushandlungsprozesse mit religiös geprägten Lebenswelten erlebt? Wie kann Bildungsarbeit daran anknüpfen? Ufuq veranstaltet im Rahmen des Kompetenznetzwerks "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) in Zusammenarbeit mit minor – Projektkontor für Bildung und Forschung einen Fachtag zum Thema "Religion verhandeln". Er richtet sich an Praktizierende aus der schulischen und außerschulischen Bildungs- und Jugendarbeit sowie Haupt- und Ehrenamtliche aus Gemeinden und dem interreligiösen Dialog. Die Teilnehmenden können sich an zwei Tagen über Bildungsarbeit im Kontext von Grundrechten, Demokratie, Diversität, Polarisierung und religiösem Extremismus austauschen.
Termin: 9.-10. September 2020, 15:00-20:00 Uhr und 9:00-18:00 Uhr Ort: Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: goetz.nordbruch@ufuq.de; die Bestätigung, ob eine Teilnahme möglich ist, erfolgt am 14. August.
Weitere Informationen auf den Externer Link: von ufuq 10.-11. September 2020, online
Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment
Hassrede, Propaganda und menschenverachtender Content: Extreme Gruppierungen und Personen kapern zunehmend das Netz, um dort ihre gefährlichen Ideologien vornehmlich an junge Menschen weiterzuverbreiten. Diesen Bestrebungen muss mit einer auf das Netz angepassten Form der Zivilcourage begegnet werden, um sich extremistischen Akteuren gezielt entgegen zu stellen.
Das je zweitägige Seminar der Bundeszentrale für politische Bildung richtet sich an Social Web-Multiplikatoren, Social Media- und Community-Redakteure, Online-Journalisten, YouTube-Community-Manager sowie NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure, die in digitalen Diskursen aktiv sind. Ziel ist es, qualifiziertes Wissen zu Strukturen und Wirkungsweisen des ideologischen Extremismus unter Berücksichtigung praktischer Tools und Strategien im Umgang mit Extremismus im Netz zu erarbeiten.
Termin: 10.-11. September 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich
Weitere Informationen auf Interner Link: bpb.de 11.-12. September 2020, Augsburg
Train-the-Trainer-Seminar: Pädagogische Praxis im Umgang mit Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus
Ziel der Fortbildung von ufuq.de im Rahmen von "Demokratie leben!" ist es, die Handlungskompetenz bei Fragen und Konflikten im Zusammenhang mit Religion, Tradition und Herkunft sowie religiös begründeter Radikalisierung zu schärfen. Teilnehmende sollen in die Lage versetzt werden religiös begründete Positionen und Verhaltensweisen von Jugendlichen einschätzen zu können sowie die Gefährdung von Jugendlichen rechtzeitig zu erkennen und situationsgerecht darauf zu reagieren. Die Fortbildung ermöglicht es, Aspekte von Kultur, Ethnizität und Nationalismus differenzsensibel von Religion und religiös begründeter Radikalisierung zu unterscheiden. Teilnehmende erhalten Ansätze, um Jugendliche in Identitätsfindungsprozessen in der Migrationsgesellschaft zu stärken und zu fördern. Das Seminar richtet sich zum Beispiel an Fachkräfte und Multiplikatoren aus Schule, Jugendarbeit und Kommunen.
Termin: 11.-12. September 2020 Ort: Adresse folgt, Augsburg Kosten: Der Teilnahmebetrag liegt bei 83 Euro pro Person. Bei Teilnehmenden, die über eine private Übernachtungsmöglichkeit verfügen, reduziert sich der Betrag auf 48 Euro (Reisekosten sind nicht inbegriffen). Wenn Teilnehmende das Seminar im Auftrag ihrer Einrichtungen besuchen, tragen diese die Übernachtungskosten im Tagungshotel. Einzelfallregelungen sind möglich. Anmeldung: Per E-Mail an E-Mail Link: bayern@ufuq.de
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 17. September 2020, Kiel
Fachtagung: Islam und Salafismus in der Kinder- und Jugendhilfe
Wie geht man richtig mit religiös aufgeladenen Konflikten um? Wie können Kultur und Religion von Extremismus differenziert werden? Warum ist der Salafismus so attraktiv für junge Menschen? PROvention veranstaltet eine Fachtagung, die Akteure aus dem Bereich Kinder- und Jugendhilfe darin unterstützen soll, Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die sie aus der pädagogischen Praxis kennen. Nach einer Begrüßung und einem Vortrag zur Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus, können die Teilnehmenden zwei Vertiefungsvorträge und einen Workshop besuchen. Die Veranstaltung endet mit einem Aussteigerinterview mit Dominic Schmitz.
Termin: 17. September 2020, 9:00-17:00 Uhr Ort: DJH Jugendherberge, Johannesstraße 1, 24143 Kiel Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de; es wird darum gebeten, zwei Vertiefungsvoträge und einen Workshop anzugeben
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 17. September 2020, Kiel
Online-Veranstaltung: Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit
Das im Januar im Rahmen von "Demokratie leben!" gegründete Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit stellt sich vor. Es setzt sich mit aktuellen Erscheinungsformen und Entwicklungen im Kontext von antimuslimischem Rassismus auseinander, bietet Lösungsansätze für die Bildungsarbeit und dient als zentrale Anlauf-, Transfer- und Beratungsstelle für alle Akteure im Themenfeld. Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Franziska Giffey, eröffnet die Veranstaltung.
Termin: 17. September 2020, 13:00-15:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Kompetenznetzwerks 23. September 2020, online
Kommunikationstraining: Widersprechen, aber wie?
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. in Zusammenarbeit mit ARTIKEL1 – Initiative für Menschenwürde e. V. organisiert. Ziel der Veranstaltung ist unter anderem den persönlichen Umgang mit menschen- und demokratiefeindlichen Einstellungen sowie entsprechenden Äußerungen zu verbessern.
Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
Termin: 23. September, 9:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 28.-29. September 2020, online
Online-Jubiläumskongress: 25. Deutscher Präventionstag
Unter dem Schwerpunktthema "Smart Prevention – Prävention in der digitalen Welt"veranstaltet der Deutsche Präsentionstag (DPT) seine 25. Auflage. Aufgrund der Corona-Pandemie findet er digital statt. In vier unterschiedlichen Formaten widmet sich der DPT der Prävention in der digitalen Welt. Neben einem bunten und teilweise live stattfindenden Präventions-TV-Programm, zwölf Online-Vorträgen sowie umfangreichem Informationsmaterial gibt es die Möglichkeit sich am ersten Abend im digitalen Begegnungsangebot "DPT-Open House"mit anderen Teilnehmenden auszutauschen.
Termin: 28.-29. September Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Deutschen Präventionstags 30. September bis 1. Oktober 2020, Mannheim
Argumentationstraining: Gegen Stammtischparolen
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie praktische Ansätze der Präventionsarbeit.
Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
Termin: 30.9.-1.10.2020, 12:00-16:45 Uhr und 9:00-15:15 Uhr Ort: Mannheimer Abendakademie und Volkshochschule GmbH, U1 16-19, 68161 Mannheim Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf auf Externer Link: volkshochschule.de 1. Oktober 2020, Berlin
Fachaustausch: Sozialraumorientiertes Arbeiten in Berliner Kiezen
Im Rahmen einer Fachdiskussion sollen Entwicklungen, Probleme und Bedarfe der sozialraumorientierten Arbeit im Kontext von Radikalisierungstendenzen in den Berliner Kiezen besprochen werden. Dazu lädt das "Interdisziplinäre Wissenschaftliche Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention" des Denkzeit-Gesellschaft e. V. Fachleute ein, um ihre Eindrücke und Erfahrungen miteinander zu teilen. Die Ergebnisse werden Teil einer Handlungsempfehlung für das Berliner Landesprogramm Radikalisierungsprävention.
Termin: 1. Oktober 2020, 10:00-14:00 Uhr Ort: Medical School Berlin, Rüdesheimerstraße 50, 14197 Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Kompetenznetzwerks 6. Oktober 2020, Berlin
Fachaustausch: Schule und Schulsozialarbeit
Im Rahmen einer Fachdiskussion sollen Entwicklungen, Probleme und Bedarfe der Sozialarbeit im Kontext von Radikalisierungstendenzen an Berliner Schulen besprochen werden. Dazu lädt das "Interdisziplinäre Wissenschaftliche Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention" des Denkzeit-Gesellschaft e. V. Fachleute ein, um ihre Eindrücke und Erfahrungen miteinander zu teilen. Die Ergebnisse werden Teil einer Handlungsempfehlung für das Berliner Landesprogramm Radikalisierungsprävention .
Termin: 6. Oktober 2020, 10:00-14:00 Uhr Ort: comedu, Lützowstraße 88, 10785 Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Kompetenznetzwerks 7. Oktober 2020, online
Online-Talk: Radikale Höflichkeit – Entschlossen, sachlich und radikal höflich Stellung beziehen gegen Diskriminierung
Wie kann es gelingen, sachlich und entschlossen Haltung gegen populistische und diskriminierende Aussagen zu zeigen? Das zeigt die Initiative "Kleiner 5" anhand einer thematischen Einführung und Praxisbeispielen. Im Rahmen des Online-Talks gibt es außerdem Raum für den Austausch von eigenen Erfahrungen. Der Talk ist Teil der Fachgesprächsreihe #yallahtalks von "Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus".
Termin: 7. Oktober 2020, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf der Externer Link: Veranstaltungsseite eveeno 7.-8. Oktober 2020, online
Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie praktische Ansätze der Präventionsarbeit.
Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
Termin: 7.-8. Oktober 2020, 9:30-14:30 Uhr und 9:45-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 30. September Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 13. Oktober 2020, online
Online-Schulung: "zusammenleben.zusammenhalten"
Der Deutsche Volkshochschul-Verband bietet eine Online-Schulung für Multiplikatoren zum Planspiel "zusammenleben.zusammenhalten" an, das in der primären Präventionsarbeit angesiedelt ist. Ziel der Schulung ist es, die Handlungskompetenzen der Teilnehmenden über die unterschiedlichen Aufgaben und Phasen des Planspiels zu stärken. Die Teilnehmenden setzen sich im Rahmen der Schulung unter anderem mit folgenden Fragen auseinander:
Was sind Planspiele? Wie unterscheiden sich Online-Planspiele? Wie funktioniert das digitale Planspiel "zusammenleben.zusammenhalten"? Wie gelingt die Online-Umsetzung?
Termin: 13. Oktober 2020, 10:00-15:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 15. Oktober 2020, online
Online-Schulung: "zusammenleben.zusammenhalten"
Der Deutsche Volkshochschul-Verband bietet eine Online-Schulung für Multiplikatoren zum Planspiel "zusammenleben.zusammenhalten" an, das in der primären Präventionsarbeit angesiedelt ist. Ziel der Schulung ist es, die Handlungskompetenzen der Teilnehmenden über die unterschiedlichen Aufgaben und Phasen des Planspiels zu stärken. Die Teilnehmenden setzen sich im Rahmen der Schulung unter anderem mit folgenden Fragen auseinander:
Was sind Planspiele? Wie unterscheiden sich Online-Planspiele? Wie funktioniert das digitale Planspiel "zusammenleben.zusammenhalten"? Wie gelingt die Online-Umsetzung?
Termin: 15. Oktober 2020, 10:00-15:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 15.-16. Oktober 2020, online
Seminar: Digitale Zivilcourage und Empowerment
Hassrede, Propaganda und menschenverachtender Content: Extreme Gruppierungen und Personen kapern zunehmend das Netz, um dort ihre gefährlichen Ideologien vornehmlich an junge Menschen weiterzuverbreiten. Diesen Bestrebungen muss mit einer auf das Netz angepassten Form der Zivilcourage begegnet werden, um sich extremistischen Akteuren gezielt entgegen zu stellen.
Das je zweitägige Seminar der Bundeszentrale für politische Bildung richtet sich an Social Web-Multiplikatoren, Social Media- und Community-Redakteure, Online-Journalisten, YouTube-Community-Manager sowie NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure, die in digitalen Diskursen aktiv sind. Ziel ist es, qualifiziertes Wissen zu Strukturen und Wirkungsweisen des ideologischen Extremismus unter Berücksichtigung praktischer Tools und Strategien im Umgang mit Extremismus im Netz zu erarbeiten.
Termin: 15.-16. Oktober 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich
Weitere Informationen auf Interner Link: bpb.de 20.-21. Oktober 2020, online
Aufbauschulung: Wer hat 'das letzte Wort' im Netz? – Digitale Lebenswelten mitgestalten
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Der Fokus der Projektarbeit liegt auf der Vermittlung von Methoden der Radikalisierungsprävention. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
Termin: 20.-21. Oktober 2020, 9:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 21. Oktober 2020, Berlin
*** ausgebucht *** Fachtag: Radikalisierung und extremistische Gewalt. Handlungsgrundlagen für Ärzt/-innen und Psychotherapeut/-innen
Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können dabei helfen terroristische Gewalttaten zu verhindern, wenn sie Radikalisierungsprozesse rechtzeitig wahrnehmen. Die Fachveranstaltung richtet sich an Angehörige von Heilberufen und soll praktische Handlungsempfehlungen im Umgang mit radikalisierten Patientinnen und Patienten bieten. Ziel ist außerdem eine bessere Vernetzung untereinander. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Projektes "Grundlagenwissen für Heilberufe zur Identifikation von Radikalisierungsprozessen als Risiko für Taten zielgerichteter Gewalt" der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ulm statt, und wird vom BMI und BAMF gefördert.
Termin: 21. Oktober 2020, 10:00-16:15 Uhr Ort: Robert-Koch-Platz 7, 10115 Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: *** ausgebucht ***
Weitere Informationen gibt es auf der Externer Link: Veranstaltungsplattform doo.net 26.-27. Oktober 2020, online
Fachtag: Radikalisierungsfaktor soziale Ungleichheit?
In Wissenschaft und Praxis werden diverse Einflussfaktoren für eine mögliche Radikalisierung erforscht, beobachtet und diskutiert. Die Folgen und möglichen Auswirkungen sozialer Ungleichheit werden dabei bisher nur bedingt in den Blick genommen. Dies zeigt sich auch im aktuell noch jungen Forschungsstand zu diesem Themenkomplex. Mit dem zweitägigen Online-Fachtag "Radikalisierungsfaktor Soziale Ungleichheit?" will die BAG RelEx sich diesem Thema aus verschiedenen Perspektiven anzunähern.
Termin: 26.-27. Oktober 2020, 14:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 27. Oktober 2020, online
Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 1: Sozialraum Social Media
In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden.
Im ersten von vier Modulen geht es um den "Sozialraum Social Media". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen:
Nutzungsverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen Was macht Social Media für Jugendliche und Extremist/-innen so interessant? Wie kommunizieren junge Menschen in den sozialen Netzwerken? Lebenswelt: Was passiert in virtuellen Communities?
Termin: 27. Oktober 2020, 10:00-12:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 27.-28. Oktober 2020, online
Aufbauschulung: Aus der Rolle (ge-)fallen!? – Jugendliche für die geschlechtsspezifische Ansprache durch Extremist/-innen sensibilisieren
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Der Fokus der Projektarbeit liegt auf der Vermittlung von Methoden der Radikalisierungsprävention. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
Termin: 27.-28. Oktober 2020, 9:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 3. November 2020, online
Online-Workshop: JEDI #6 "Laut sein! Aktiv für die Demokratie"
Was kann man tun, wenn sich ein Mensch im ehrenamtlichen oder privaten Umfeld radikalisiert? Woran lässt sich das erkennen? Und wie kann man dann reagieren? In einem Online-Workshop mit der Beratungsstelle Prevent werden auf diese Fragen Antworten gesucht.
Im zweiten Teil der Veranstaltung gibt es ein Online-Panel mit dem Titel "Aktiv für die Demokratie?". In der Diskussion mit drei Fachleuten geht es darum, wieso Demonstrationen gegen extremistische Gruppierungen weniger Menschen anziehen als zum Beispiel "Fridays for Future" und wie die Demokratie gestärkt werden kann.
Termin: 3. November 2020, 16:00-19:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Seiten der Interner Link: Bundeszentrale für politische Bildung 3. November 2020, online
Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 2: Phänomenbereich Islamismus
In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden.
Im zweiten von vier Modulen geht es um den "Phänomenbereich Islamismus". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen:
Begriffsklärung: Islam, Islamismus, (Neo)Salafismus und religiös begründeter Extremismus Basics und Facts zum Islam Muslimisches Leben in Deutschland Islamistische Strömungen in Deutschland und ihre Inhalte
Termin: 3. November 2020, 10:00-12:30 Uhr Ort:online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 6. November 2020, Dortmund (ggf. online)
Fachtag: Fachtag Islam im Kontext Schule
An öffentlichen Schulen ist die religiöse, ethnische und kulturelle Pluralität besonders hoch. Schulen haben daher zur Aufgabe, Diskriminierung zu vermeiden, Teilhabe zu fördern und Differenzen im sozialen Status durch Bildungschancen auszugleichen. Der Fachtag möchte Lehrkräften und Schulsozialarbeitenden Impulse liefern, um sie im Umgang mit muslimischen Schüler/-innen in einer diversitätssensiblen Pädagogik zu unterstützen. Neben einem Vortrag am Vormittag gibt es praxisorientierte Workshops zum Thema Islam im Kontext Schule. Der Fachtag wird organisiert vom Multikulturellen Forum e. V. in Kooperation mit der Islamischen Akademie NRW und dem Verband muslimischer Lehrkräfte.
Termin: 6. November 2020, 8:45-16:45 Uhr Ort: online Kosten: 15 Euro, ermäßigt 10 Euro Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Multikulturellen Forums e. V. 10. November 2020, online
Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 3: Online-Radikalisierungsprozesse
In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden.
Im dritten von vier Modulen geht es um "Online-Radikalisierungsprozesse im islamistischen Kontext". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen:
Wie Algorithmen, Filterblasen und der Echokammer-Effekt Radikalisierungsprozesse begünstigen können Islamismus Digital: Akteure, Themen, Dynamiken und Gefahren Fake News und Propaganda: Wie werden islamistische Inhalte aufbereitet, damit sie für Jugendliche attraktiv sind?
Termin: 10. November 2020, 10:00-12:30 Uhr Ort:online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 17. November 2020, online
Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 4: Online-Prävention
In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden.
Im vierten von vier Modulen geht es um "Online-Prävention und Grundlagen der Praxis". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen:
Online-Prävention: ein Überblick über verschiedene Ansätze Einführung in das Projekt streetwork@online Ansatz, Haltung und Methoden Fallbeispiele mit praktischen Übungen in Kleingruppen
Termin: 17. November 2020, 10:00-12:30 Uhr Ort:online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 17. November 2020, online
Online-Fachgespräch: Ansätze in der Beratungsarbeit
Im Gespräch mit Fachleuten geht es um verschiedene Ansätze in der Beratungs- und Ausstiegsarbeit im Bereich des religiös begründeten Extremismus sowie um Erfahrungen aus der Praxis. Weitere Informationen gibt es in Kürze auf der Website der BAG RelEx. Das Fachgespräch findet im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“, KN:IX, statt.
Termin: 17. November 2020, nachmittags Ort:online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 18. November 2020, Neumünster
Fachtagung: Verurteilung als Anstoß
Das Justizprojekt Kick-off veranstaltet in Kooperation mit PROvention einen ganztägigen Fachtag, der sich dem Feld der Prävention und Deradikalisierung im Kontext Justiz widmet. Der Fachtag richtet sich insbesondere an Vollzugsbedienstete, Bewährungs- und Gerichtshelfer/-innen sowie andere Akteure aus Jugend- und Sozialarbeit und Behörden, die mit straffällig gewordenen Personen in und außerhalb der Haft arbeiten. Neben Vorträgen gibt es ein Angebot an Workshops, aus dem die Teilnehmenden wählen können. Ziel des Fachtags sind ein intensiver interdisziplinärer Austausch und die Erweiterung von Handlungsoptionen in der Arbeit mit straffällig gewordenen Personen im Hinblick auf Radikalisierungsprozesse.
Termin: 18. November 2020, 8:00-16:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: unter Angabe von Namen und Institution per E-Mail an E-Mail Link: kick-off@tgsh.de
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von TGS-H 19. November 2020, online
Online-Seminar: Reintegration of Individuals Formerly Associated with Islamist Violent Extremist Groups
Im Online-Seminar geht es um die Deradikalisierung und Reintegration ehemaliger Kämpferinnen und Kämpfer extremistischer Gruppen am Beispiel der Länder Deutschland, Nigeria und Niger. Zunächst berichten Pratikerinnen und Praktiker von ihrer Arbeit. Anschließend gibt es eine Diskussion über das Spannungsverhältnis von Menschenrechten und Sicherheitsinteressen in der Reintegrationsarbeit sowie über die Rolle der Zivilgesellschaft dabei. Das Online-Seminar findet im Rahmen des Projekts "Radikalisierungsprävention in NRW – Wie können die Kapazitäten von Intermediären gestärkt werden" des Bonn International Center of Conversion statt. Die Seminarsprache ist Englisch.
Termin: 19. November 2020, 14:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: Luisa Gerdsmeyer (E-Mail Link: luisa.gerdsmeyer@bicc.de); Interessierte werden gebeten, bei der Anmeldung einen kurzen Absatz zu ihrem beruflichen Hintergrund und der Arbeit ihrer Organisation zu schicken. Diese Information wird mit den übrigen Teilnehmenden geteilt. Falls Sie einer Weiterverbreitung Ihrer Daten nicht zustimmen, geben Sie dies bei der Anmeldung bitte an.
Weitere Informationen über das Projekt "Radikalisierungsprävention in NRW – Wie können die Kapazitäten von Intermediären gestärkt werden" auf den Seiten von Externer Link: Bonn International Center of Conversion 25. November 2020, online
Online-Fachtagung: Von Gesundheitsdiktatur bis Gottes Zorn. Setzt Corona der Radikalisierung die Krone auf?
Welche Auswirkungen hat die Coronakrise auf Radikalisierung? Wie kann die Gesellschaft an Krisen wachsen? Und wie können wir handlungsfähig bleiben? Am Vormittag gibt es zwei Vorträge, am Nachmittag können die Teilnehmenden sich zwischen vier verschiedenen Workshops entscheiden. Die Fachtagung findet über Zoom statt – in deutscher und französischer Sprache.
Termin: 25. November 2020, 9:00-16:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus 25.-26. November 2020, online
DVV-Fachaustausch: "EmPOWERment"
Wie kann die Stärkung von Fachkräften und Jugendlichen on- und offline gelingen, um extremistischen Haltungen entgegen zu treten? Im Rahmen des DVV-Fachaustausches werden unterschiedliche Ansätze des Empowerments exemplarisch thematisiert. Es werden sowohl die jeweiligen zielgruppenspezifischen Anforderungen als auch die entsprechenden digitalen und analogen Kommunikationsmuster hervorgehoben.
Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Sie richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten.
Termin: 25.-26. November 2020, 9:30-17:30 Uhr und 9:30-15:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 25. November 2020, online
Multimediales Event: Extremismus als Herausforderung für Jugend, Pädagogik und Forschung – Reflexionen und Ausblicke
Die Arbeits- und Forschungsstelle für Demokratieförderung und Extremismusprävention (AFS) am DJI, begeht ihr 20-jähriges Bestehen. In einer Livestream- Podiumsdiskussion sprechen Expertinnen und Experten über "Die Zukunft des politischen Extremismus im Jugendalter". Zudem findet eine Live-Autorenlesung des Journalisten Yassin Musharbash statt sowie spannende Tagungsbeiträge im Video-Format.
Termin: 25. November 2020 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail an Renate Schulze (E-Mail Link: schulze@dji.de). Der Link zur Tagungsseite wird zwei Wochen vor dem Event an alle Angemeldeten versendet. 26. November 2020, online
Online-Fachtag: Peer-Education in der universellen Islamismusprävention
Welche Fach-, Methoden- und Medienkompetenz und welche (strukturellen) Rahmenbedingungen sind erforderlich, um Teamende für ihre Rolle als Peer-Educator zu qualifizieren? Welche Rolle kommt der Reflexion der eigenen Haltung und der jeweils eigenen Privilegien und Wertvorstellungen zu? Worauf sollte bei der inhaltlichen und methodischen Begleitung geachtet und welche Prioritäten sollten dabei gesetzt werden?
Der Fachtag bietet Raum für den Austausch über Herausforderungen und Gelingensbedingungen in der Qualifizierung von Teamenden und leistet einen Beitrag zur Entwicklung von Leitlinien der Qualifizierung. Er richtet sich an Projekte der universellen Islamismusprävention, die mit dem Peer-Education Ansatz arbeiten oder arbeiten wollen.
ufuq.de veranstaltet den digitalen Fachtag im Rahmen des KN:IX – Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus". Er wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" sowie von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert.
Termin: 26. November 2020, 9:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Per E-Mail bis zum 13. November an E-Mail Link: canan.korucu@ufuq.de
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 27. November 2020, online
Online-Fachtag: PrEval 2020
Der PrEval-Fachtag bringt Fachpraxis, Behörden und Wissenschaft zusammen für einen Austausch über Evaluation und wissenschaftliche Begleitung in der deutschen Extremismus-prävention und der politischen Bildung. Neben Reflexionen zu Zielen, Bedarfen und Ansätzen von Evaluation, präsentiert der PrEval-Verbund
Termin: 27. November 2020, 10:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail unter Angabe von Name, institutioneller Anbindung und Email-Adresse bis zum 23.11.2020, 12 Uhr
Weitere Informationen auf den Seiten des PrEval auf Externer Link: hfsk.de 27.-28. November 2020, online
Online-Workshop: Sozialisationsbedingungen und fehlende Vaterpräsenz als Radikalisierungsfaktoren?
Im zweitägigen Online-Workshop geht es um den Einfluss, den Sozialisationsbedingungen und Erziehung auf Kinder und Jugendliche im Kontext von Radikalisierung haben. Außerdem geht es um die Praxis einer Väterarbeit, die jenseits von Zuschreibungen emanzipatorische Geschlechterleitbilder und Resilienz vermittelt. Neben fachlichem Input und Arbeitsphasen gibt es Raum für Diskussion und Austausch. Der Online-Workshop ist Teil der Seminarreihe "Tafkir statt Takfir # Reflexion statt Exklusion" und richtet sich an Beschäftigte und Aktive in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit sowie in Wissenschaft
Termin: 27.-28. November 2020, 14:00-15:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Seiten der bpb Dezember
10. Dezember 2020, online
Online-Diskussion: Europäische Ansätze bei der Reintegration von Rückkehrenden aus Syrien und Irak
Insbesondere Akteure aus Jugend- und Sozialämtern, Justizvollzug und Bewährungshilfe sowie der psychosozialen Grundversorgung spielen eine wichtige Rolle bei der Reintegration von Rückkehrenden aus Syrien und dem Irak. Im Rahmen von zwei Fallstudien aus Deutschland und Belgien wird die Rolle von beteiligten Institutionen diskutiert – insbesondere außerhalb des Sicherheitskontextes. Es wird erörtert, wie diese wirksam(er) eingebunden werden können. Die Diskussion wird veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Termin: 10. Dezember 2020, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich 10. Dezember 2020, online
Online-Seminar: Onlineberatung zu religiös begründetem Extremismus – Chancen und Herausforderungen eines "neuen" Beratungsfeldes
Wie funktioniert Online-Beratung? Lohnt sich der Aufbau eines Online-Beratungsangebot? Welche Hürden gibt es? Das Online-Seminar bietet den Teilnehmenden die Möglichkeit, nach einer Einführung in die Online-Beratung anhand eines Fallbeispiels Einblick in die Beratungsabläufe zu erhalten und so selbst erste Erfahrungen in dem Feld zu sammeln.
Termin: 10. Dezember 2020, 14:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Bis spätestens 4.12.2020 per E-Mail an E-Mail Link: emel@tgd.de. In einer gesonderten E-Mail erhalten Sie die Zugangsdaten. 14. Dezember 2020, online
Online-Fachgespräch: Religiös begründeter Extremismus: Zielgruppenerreichung über/und digitale Medien in Zeiten von Corona
Im digitalen Fachgespräch wird über folgende Fragen diskutiert: Wie können wir in Zeiten von Corona Zielgruppen erreichen? Welche Vorteile und Herausforderungen bieten die Sozialen Medien dabei? Wie erreichen wir eine Verbesserung der Suchmaschinenoptimierung (SEO)?
Drei Expertinnen und Experten vermitteln praktische Einblicke aus ihrer Arbeit:
Götz Nordbruch (Externer Link: ufuq e. V.)
Adrian Stuiber und Sabrina Behrens (Externer Link: streetwork@online)
Jona Hölderle (Externer Link: Pluralog – Online Marketing)
Termin: 14. Dezember 2020, 9:30-15:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Bis spätestens 4.12.2020 per E-Mail an E-Mail Link: emel@tgd.de. In einer gesonderten E-Mail erhalten Sie die Zugangsdaten.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-02-06T00:00:00 | 2019-10-25T00:00:00 | 2023-02-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/299407/termin-rueckblick-2020/ | Termine aus dem Arbeitsfeld "Radikalisierungsprävention" aus dem Jahr 2020. | [
"Termine",
"Islamismus",
"Prävention",
"Deradikalisierung",
"Präventionsarbeit",
"Veranstaltungshinweise und Fortbildungen",
"Weiterbildung",
"Vernetzung"
] | 261 |
Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg | Russland-Analysen | bpb.de | Meinungsumfragen sind in Russland eine schwierige Sache, umso mehr, wenn es nicht um bloß heikle Fragen geht, sondern sogar um solche, bei denen für viele eine Assoziation mit einer Straftat entsteht. Die Erforschung der Einstellungen der Russ:innen zum Krieg gegen die Ukraine ist eine drängende und gesellschaftlich relevante Aufgabe, die sofortiges Handeln erfordert. Die Versuche, Licht in das zu bringen, was hinter dem Nebel des Krieges liegt, werfen eine Reihe methodologischer Fragen auf. Zu nennen wären hier unter anderem Bestätigungsfehler ("confirmation bias"), die Komplexität der Deutung, Kompromisse zwischen den hohen Standards wissenschaftlicher Rigorosität und der Notwendigkeit, relevante Daten zu erheben, sowie die Schwierigkeit, die komplexen Daten einem breiteren Publikum nahezubringen.
Wer wir sind und was wir tun
Wir haben am 24. Februar 2022 das Projekt "Chronicles" ins Leben gerufen. Wir wussten, dass Putins Regime Meinungsumfragen als Waffe einsetzen würde, um die Illusion von einer Mehrheit zu schaffen, eine Illusion, durch die die Gesellschaft den Krieg akzeptieren würde. Wir gingen auch davon aus , dass die etablierten Meinungsforschungsinstitute ihre Methoden nicht schnell genug an die Realitäten in Zeiten des Krieges anpassen würden (siehe eingehender unter Externer Link: https://twitter.com/AlekseiMiniailo/status/1597919707361075200 und Externer Link: https://twitter.com/AlekseiMiniailo/status/1600067182628548608). Also kamen wir zu dem Schluss, dass die Gesellschaft eine ehrliche, professionelle und auf den Krieg abgestimmte Forschung braucht. Seit dem 24. Februar haben wir neun telefonbasierte Umfragen durchgeführt und eine Datenanalyse sozialer Netzwerke vorgenommen.
Die Ergebnisse sind auf unserer Internetseite zu finden (https://www.chronicles.report/en). Darüber hinaus veröffentlichen wir Fragebögen, Analysen und anonymisierte Rohdaten aufGitHub (Externer Link: https://github.com/dorussianswantwar/research1).
Das Team besteht aus zwei Sozialwissenschaftler:innen, einer Beraterin mit langjähriger Erfahrung mit Umfragen, einem PR-Manager, einer Pressesprecherin und einer Projektmanagerin. Wir stehen darüber hinaus im Austausch mit einer Reihe angesehener Sozialwissenschaftler:innen. Sämtliche Teammitglieder sind gegen den Krieg eingestellt, was zu Bestätigungsfehlern führen könnte. Unser Ergebnis ist dabei nicht eine Reihe von Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften (auch wenn ich hoffe, dass es einmal dazu kommen wird), sondern besteht aus Berichten für die Medien, welche die Daten auf einige zentrale Aussagen herunterbrechen. Diese beiden Aspekte sollen im Folgenden erörtert werden.
Die Methode
Die Umfragen wurden per Telefon durchgeführt, bei einer zufälligen Stichprobe von Telefonnummern, die über verschiedene Mobilfunkanbieter verteilt sind. Die Stichprobe hatte einen Umfang von 800 bis 1.800 Respondent:innen, die proportional zu offiziellen statistischen Daten nach Alter, Geschlecht, Region und Größe des Wohnorts verteilt waren. Die Stichprobe könnte durch die Antworten von Konformist:innen verzerrt sein, wir verfügen aber über zu wenig Belege, um dies guten Gewissens behaupten zu können. Die Rücklaufrate betrug gemäß den Richtlinien der "American Association for Public Opinion Research" (AAPOR) zwischen 5 und 19 Prozent. Die unterschiedliche Rücklaufquote hängt wohl von der Länge der Fragebögen ab, könnten aber auch durch den Zeitraum und andere Umstände beeinflusst worden sein, vermutlich aus Angst vor Repressionen, wobei wir auch hier nicht über hinreichend Daten verfügen, um dies zu bestätigen.
Wir haben unser Bestes getan, um die Fragebögen und deren Interpretation derart anzupassen, dass sie tatsächlich relevante Ergebnisse erbringen. Als wir zum Beispiel feststellten, dass ein beträchtlicher Teil der Respondent:innen, die eine Unterstützung für den Krieg bekundet hatten, eine Antwort verweigerten, als sie dann eine solche Möglichkeit hatten, fügten wir bei späteren Umfragen diese Antwortoption in den Block der "Befürwortungs"-Fragen ein und rechneten die Option "Möchte nicht antworten" nicht der Gruppe der Befürworter:innen zu (mehr zu diesem Thema auf unserer Internetseite Externer Link: https://www.chronicles.report/en/chapter2). Hierin ist einer der Gründe zu sehen, warum wir einen geringeren Anteil von "Befürworter:innen" verzeichnen (zwischen 7 und bis zu 18 Prozentpunkte weniger).
Nachdem uns klar wurde, dass die "Befürwortungs"-Frage nur nahezu bedeutungslose Ergebnisse lieferte, begannen wir damit, auf andere Art und Weise Gruppen von "Befürworter:innen" herauszuarbeiten.
Wir waren die ersten, die konkrete Fragen stellten (nicht "befürworten Sie…", sondern "würden Sie für die Armee spenden…" usw.), wie auch hypothetische Fragen über die Zukunft (etwa "sollte die russische Armee so lange kämpfen, bis sich die Streitkräfte der Ukraine ergeben, oder sollte sie die "militärische Spezialoperation" so bald wie möglich beenden, auch ohne die militärischen Ziele erreicht zu haben"). Wir nutzten Kombinationen aus verschiedenen Fragen, um die "Befürworter:innen-Gruppe" zu identifizieren. Dadurch konnten wir feststellen, dass die Kerngruppe der Befürworter:innen (also der "Befürworter:innen", die in dieser Hinsicht zumindest eine gewisse emotionale oder rationale Haltung zeigten) rund 25–30 Prozent der Bevölkerung umfasst, und dass dieser Wert über die verschiedenen Phasen unserer Forschungsansätze zur Identifizierung dieser Gruppe stabil blieb.
Wir haben zudem erhebliche Anstrengungen unternommen, um nicht nur die Daten öffentlichkeitswirksam vorzustellen, sondern auch zu erklären, was diese Daten bedeuten könnten. Ohne eine solche Erklärung würde das breitere Publikum die Zahlen zur "Unterstützung" zu vereinfacht und zu sehr für bare Münze nehmen, was zu einer völlig falschen Wahrnehmung der Realität führen würde.
Ich bin der Ansicht, dass wir zwar erhebliche Erfolge erzielt haben und in der Lage waren, Daten zu gewinnen und in Begriffe zu fassen, wie dies keinem anderen Meinungsforschungsinstitut gelang. Andererseits sind wir auch auf eine Reihe von Schwierigkeiten gestoßen.
Welche Frage ist für die Forschung von Bedeutung?
Stellen wir ein kleines Experiment an. Angenommen, sie wären ein:e Amerikaner:in, der oder die von einem Meinungsforschungsinstitut angerufen wird und angibt, Donald Trump zu unterstützen. Was genau würden Sie damit meinen? Dass Sie ihm Ihre Stimme geben würden? Dass Sie Mexikaner:innen hassen? Dass ein Angriff auf das Kapitol eine gute Idee ist? Oder einfach nur, dass Sie eine Waffe besitzen? Das gleiche gilt für die Frage "Befürworten Sie die "militärische Spezialoperation"?". Das umfasst einen breiten Bereich, der von "Ich lüge, weil ich mich fürchte" bis zu "Ich melde mich zur Armee" reicht. Nach einer Weile kamen wir zu dem Schluss, dass eines der für uns wichtigen Ziele darin besteht, unter den "Befürworter:innen" verschiedene Untergruppen zu identifizieren und herauszuarbeiten. Das führte uns aber auch zu einer Reihe methodologischer Fragen.
Bestätigungsfehler
Das gesamte Team ist stark gegen den Krieg eingestellt. Dies könnte das Forschungsdesign der Studie wie auch die Interpretation der gewonnenen Daten beeinflusst haben. Eine Datentriangulation hätte hier Abhilfe schaffen können, allerdings waren die meisten Forscher:innen, die wir kennen, ebenfalls gegen den Krieg eingestellt, während die "offiziellen" Meinungsforschungsinstitute sich weigerten, mit uns zusammenzuarbeiten. (Bei einem anderen Projekt waren wir auf ein ähnliches Problem gestoßen, als nämlich "offizielle" Wirtschaftsexpert:innen und Vertreter:innen der Bürokratie zu sehr Angst hatten, mit uns zu sprechen, obwohl zu unserem Team ein Vertrauensverhältnis aufgebaut worden war.) Somit ist es wahrscheinlich, dass beide Seiten von Bestätigungsfehlern betroffen sind.
Anpassung oder Durcheinander?
Unsere Methodologie musste im Laufe der verschiedenen Studien angepasst werden. Hierzu ein Beispiel: Um Veränderungen bei gesellschaftlichen Phänomenen über einen Zeitraum hinweg feststellen zu können, verlangt ein strenger wissenschaftlicher Ansatz, dass stets die gleiche Methode eingesetzt wird, etwa die gleichen Fragebögen. Am 4. März 2022 wurde ein Paket von Gesetzen zur Zensur verabschiedet, die eine strafrechtliche Verfolgung für eine öffentlich erklärte Haltung gegen den Krieg vorsehen. Wir haben mit einem Experiment festgestellt, dass ein erheblicher Teil jener, die ihre Unterstützung bekundet hatten, dies wohl aus Angst vor Strafverfolgung taten (wir hatten bei der Hälfte der Stichprobe die Antwortoption "Ich möchte diese Frage nicht beantworten" angeboten, und dort war der Anteil der "Befürworter:innen" um sieben Prozentpunkte geringer). Wenn wir diese Erkenntnisse ignoriert und an den Optionen "Ich befürworte" und "Ich befürworte nicht" ohne eine zusätzliche Option "Ich möchte nicht antworten" festgehalten hätten, um strengen wissenschaftlichen Erfordernissen zu genügen, hätten wir irreführende Daten erlangt. Und es ließe sich darüber streiten, ob Respondent:innen der "Möchte nicht"-Gruppe gegen den Krieg sind oder nicht, aber diejenigen, die bei vorhandener Option "Möchte nicht antworten" nicht ihre Befürwortung bekunden, können wohl kaum der "Befürworter:innen"-Gruppe zugerechnet werden.
Meiner Ansicht nach kommen in genau diesem Fall die strengen wissenschaftlichen Anforderungen einer Totenstarre gleich. Viele Meinungsforschungsinstitute sind auf diese Art vorgegangen und erlangten Daten, die wenig aussagen. Wir haben die Methodologie jedes Mal angepasst, wenn wir eine Studie konzipierten. Wir glauben, dass dies uns die Möglichkeit eröffnete, relevantere Daten zu erlangen und den Nebel des Krieges besser als andere zu durchdringen. Es half uns, unsere Ergebnisse durch einen Abgleich mit anderen Studien, die mit anderen Fragen zum gleichen Thema operierten, in einem gewissen Maße zu verifizieren. Hier stellt sich allerdings auch die Frage der Interpretation.
Probleme der Interpretation
Bei den meisten Umfragen haben wir versucht, innerhalb der "Befürworter:innen" verschiedene Untergruppen herauszuarbeiten, wobei verschiedene Ansätze verfolgt wurden. Einerseits erlangten wir erfreulicherweise ein Maß der Triangulation. Andererseits stießen wir leider auf Probleme der Interpretation. Ist es korrekt, diejenigen, die sagen, sie würden Geld für die Armee spenden, mit jenen zu vergleichen, die sagen, sie würden zur Armee gehen? Sollten wir vielleicht diese "Rekrutierwilligen" mit jenen vergleichen, die bereit sind, 10 Prozent ihres Einkommens oder mehr zu spenden?
Sind jene als "Militarist:innen" zu bezeichnen, die den Krieg und eine Mobilmachung unterstützen, nicht aber eine mögliche Entscheidung Putins für einen Abzug der Truppen, ohne die militärischen Ziele erreicht zu haben? Oder reicht es, dass jemand einen Abzug nicht unterstützt, um ihn oder sie ohne Hinzuziehung weiterer Fragen als "Militarist:in" einzuordnen? Diese Komplexität ist für die Forschung in Ordnung, wenn die Methodologie explizit beschrieben und eine eingehende Erörterung vorgenommen werden kann. Unser Endprodukt besteht aber nicht aus Artikeln in begutachteten wissenschaftlichen Zeitschriften, sondern in kurzen und leicht zugänglichen Beiträgen für eine breitere Öffentlichkeit.
"Wissenschaftler:in vergewaltigt Reporter:in"
Da wir der Ansicht sind, dass die Daten, die wir gewonnen haben, vor allem von gesellschaftlicher und politischer Relevanz sind, haben wir große Anstrengungen unternommen, sie einem breiten Publikum zu vermitteln. Allerdings ist eine Zusammenarbeit mit Journalist:innen bei komplexen Themen ein tückisches Unterfangen. Wir sind zwar damit erfolgreich gewesen, unsere Ergebnisse bekannt zu machen und in wichtigen russischsprachigen unabhängigen Medien, wie auch in einflussreichen ausländischen Medien zu publizieren (in "The Sunday Times", in "The New Yorker", im wichtigen brasilianischen Radiosender "Jovem Pan", im japanischen Sender NHK usw.), doch standen wir oft vor einem Problem. Fast jedes Mal, wenn unsere Pressesprecherin erklärte, wie komplex die Situation ist und wie wenig Bedeutung die Frage "Unterstützen Sie…" hat, gelangte die Diskussion an den Punkt: "OK, ich hab’s verstanden. Also wie viele Russ:innen unterstützen nun den Krieg?". Nach fast einem ganzen Jahr haben wir es jedoch geschafft, einige wichtige Journalist:innen und Blogger:innen von unserem Standpunkt zu überzeugen, doch das war harte Arbeit. Das Meme "Wissenschaftler:in vergewaltigt Reporter:in" mag aufReddit lustig sein, aber wohl kaum im realen Leben, besonders, wenn es um sehr wichtige und gesellschaftlich relevante Daten geht.
Fazit
Umfragen in Kriegszeiten sind sowohl von wissenschaftlichem wie auch von praktischem Nutzen. Aus wissenschaftlicher Sicht tragen die Umfragedaten zu einem methodologischen Diskurs in den Sozialwissenschaften und zu einer Erforschung von Gesellschaften unter Kriegsbedingungen bei. Sie können auch einen wertvollen Beitrag für den Diskurs in der Sozialpsychologie über Konformismus und Gehorsam leisten. Die bekanntesten Studien sind hier u. a. das "Milgram-Experiment", das "Zimbardo-" bzw. "Stanford-Prison-Experiment", die "Asch-Experimente" und die "BBC Prison Study".
Wir hoffen, dass die wissenschaftliche Diskussion über Sozialforschung in Kriegszeiten Möglichkeiten eröffnet, die Sozialforschung zu Friedenszeiten zu überdenken und zu bereichern. Für uns wiederum ist die wissenschaftliche Diskussion ein großartiges Mittel, um über unsere Tätigkeit und Verbesserungsmöglichkeiten zu reflektieren.
Zu den praktischen Implikationen gehört die Nutzung der Daten bei der Lösung von Nachkriegsproblemen wie der Verantwortung für den Krieg und einer Entnazifizierungspolitik in Russland.
Schließlich bedeutet der Umstand, dass unsere Tätigkeit keine verlorene Sache ist, sondern Strahlen eines Lichts darstellt, das ungeachtet aller Schwierigkeiten in der Zukunft scheinen könnte, einen Hoffnungsschimmer für den heutigen russischen Widerstand gegen den Krieg.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder
Quellen / Literatur
Chronicles (Internetauftritt): Externer Link: https://www.chronicles.report/en.
ExtremeScan (Partnerorganisation von "Chronicles", die Umfragedaten zum Krieg zusammenführt und aufarbeitet); Externer Link: https://www.extremescan.eu.
Miniailo, Aleksei: Forschungsergebnisse von "Chronicles" auf Twitter; Externer Link: https://twitter.com/AlekseiMiniailo/status/1523952941002067968.
Yaffa, Joshua: Why do so many Russians say they support the war in Ukraine? in: The New Yorker, 29. März 2022; Externer Link: https://www.newyorker.com/news/news-desk/why-do-so-many-russians-say-they-support-the-war-in-ukraine.
Chronicles (Internetauftritt): Externer Link: https://www.chronicles.report/en.
ExtremeScan (Partnerorganisation von "Chronicles", die Umfragedaten zum Krieg zusammenführt und aufarbeitet); Externer Link: https://www.extremescan.eu.
Miniailo, Aleksei: Forschungsergebnisse von "Chronicles" auf Twitter; Externer Link: https://twitter.com/AlekseiMiniailo/status/1523952941002067968.
Yaffa, Joshua: Why do so many Russians say they support the war in Ukraine? in: The New Yorker, 29. März 2022; Externer Link: https://www.newyorker.com/news/news-desk/why-do-so-many-russians-say-they-support-the-war-in-ukraine.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-02-13T00:00:00 | 2023-02-07T00:00:00 | 2023-02-13T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-430/518040/kommentar-methodologische-probleme-von-russischen-meinungsumfragen-zum-krieg/ | Welchen Herausforderungen begegneten die Forscher:innen des Projekts "Chronicles" bei ihrer Forschung zur Einstellung der russischen Bevölkerung gegenüber dem Krieg in der Ukraine? | [
"Politische Stimmung (Umfragen)",
"Russland",
"Bildung und Wissenschaft",
"Russlands Angriffskrieg 2022"
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Ethik der inneren Sicherheit | Innere Sicherheit | bpb.de |
Ein Aufkleber mit dem Hinweis "Dieser Bereich wird videoüberwacht" klebt an einem Laternenpfahl am Chiemsee (Bayern) (© picture-alliance/dpa)
Sicherheit kann zunächst einmal vieles bedeuten: Sicherheit vor Krieg, Sicherheit vor Kriminalität oder Sicherheit vor Terrorismus. Sicherheit kann heutzutage aber auch Lebensmittelsicherheit, Versorgungssicherheit oder Sicherheit vor den Folgen von Klimawandel und Umweltverschmutzung heißen. Entscheidend ist, dass Sicherheit nicht von alleine entsteht, sondern dass Sicherheit in einer Gesellschaft aktiv hergestellt werden muss. Es müssen dafür Entscheidungen getroffen werden, welche Maßnahmen und Schutzvorkehrungen angebracht sind, um die Gesellschaft gegen unterschiedliche Bedrohungen abzusichern. Sicherheit ist also auch ein politischer Aushandlungsprozess.
Wichtiger Grund für Legitimierung des Staates
Natürlich möchte jeder in Sicherheit leben und nachts ruhig schlafen können, im Vertrauen auf den Staat und seine Institutionen, die Verbrechen verhindern oder zumindest aufklären und die Verantwortlichen vor Gericht bringen. Die Sicherung der bloßen Existenz und später die Sicherung von Eigentum und Rechtssicherheit sind in der Geschichte der Staatstheorie sogar einige der wichtigsten Gründe für die Legitimierung des Staates. Allerdings ist Sicherheit auch immer etwas, das potentiell auf Kosten von anderen gesellschaftlichen Werten entsteht. Und hier beginnen die Probleme.
Die Sicherheit des Einen ist nicht zwangsläufig auch die Sicherheit des Anderen. Was der Eine gern in Kauf nimmt, um tatsächlich oder vermeintlich sicherer zu leben, ist für den Anderen ein nicht zu akzeptierender Eingriff in seine Freiheit, Privatsphäre oder persönliche Lebensführung. Für den Einen ist es beispielsweise in Ordnung, wenn Sicherheitsbehörden personenbezogene Daten aus individuellem Surfverhalten im Internet generieren, wenn öffentliche Plätze mit Videokameras überwacht werden oder an der Grenzkontrolle biometrische Erkennungsmerkmale (z.B. Fingerabdrücke oder Iris-Scans) erfasst und mit Fahndungsdatenbanken abgeglichen werden. Für den Anderen beginnt hier der totale Überwachungsstaat, den George Orwell in seinem Roman "1984" beschrieben hat. Also ein Staat, der in alle privaten Lebensbereiche des Einzelnen vordringt und eine nahezu unbegrenzte Macht entwickelt, weil er alles über seine Bürger weiß.
Abwägung zwischen Werten
Die Frage nach der Akzeptanz von Sicherheitsmaßnahmen ist also davon geprägt, welche Werte wir für wichtig erachten, und wie diese Werte im Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen stehen. Privatsphäre wurde beispielsweise vor mehr als hundert Jahren von den US-amerikanischen Juristen Samuel D. Warren und Louis Brandeis definiert als das "Recht, allein gelassen zu werden". Vielen Menschen ist ein solcher Privatraum besonders wichtig, denn sie wollen sich nicht für ihr Verhalten, ihre Vorlieben, und ihren Lebensstil rechtfertigen. Und das geht nur, wenn sie in ihrer Privatsphäre auch wirklich allein sind. Der Philosoph Isaiah Berlin spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Staat die Grundlagen dafür schaffen muss, Freiheit als ein positives Recht wahrzunehmen. Die Freiheit, etwas zu tun und sein Leben so zu gestalten wie man möchte, entsteht nur dann, wenn Bürger/-innen von einer sicheren Perspektive aus handeln können. Was sollen der Staat und seine Sicherheitsbehörden also tun und lassen?
Der entscheidende Punkt ist hier eine Abwägung zwischen der Auslegung von Werten und einer angemessenen Eingriffstiefe des Staates. Wir müssen uns also fragen, welchen Stellenwert wir Werten und Rechten wie Gerechtigkeit, Gleichbehandlung, Privatsphäre und Datenschutz, Mobilität oder auch freier Meinungsäußerung beimessen, und wie diese Werte im Kontext von Sicherheitspolitik positioniert und geschützt werden können. Es ist dabei nicht einfach, eine ausgewogene Balance zu finden. Freie Mobilität für alle kann beispielsweise auch Kriminellen zugutekommen, aber wenn an Grenzen und Sicherheitskontrollen Menschen nach potentiellen (Sicherheits-)Risiken "sortiert" werden, dann leidet darunter das Prinzip der Gleichbehandlung. Wenn beispielsweise Privatsphäre und Datenschutz strikt gewahrt bleiben, dann entgeht den Sicherheitsbehörden vielleicht die entscheidende Information über einen bevorstehenden Terroranschlag – aber wenn der Geheimdienst den gesamten Datenverkehr im Internet überwacht, dann fließen nicht nur sicherheitsrelevante Informationen in die Datenbanken und es entsteht ein "gläserner Bürger".
Für diese Konflikte existieren keine einfachen Lösungen. Es wird im Gegenteil noch komplizierter – denn die Gesellschaft ist keine homogene Einheit, sondern besteht aus Individuen und Gruppen mit verschiedenen Ansichten, Standpunkten und Interessen. Und in einer Demokratie sollten natürlich möglichst alle Meinungen in die Ausgestaltung von Sicherheit auf der politischen Ebene einfließen. Das verkompliziert die Herstellung von Sicherheit zusätzlich.
Gibt es ein Recht auf Sicherheit?
Ein weiteres Problem in diesem politischen Aushandlungsprozess ist das oft zu hörende Argument, dass Sicherheit die Grundvoraussetzung für viele andere gesellschaftliche Werte sei. In den Rechtswissenschaften wird etwa seit langem diskutiert, ob sich aus dem Grundgesetz ein "Recht auf Sicherheit" ableiten lässt, obwohl ein solches nicht explizit festgeschrieben ist. Und in der Debatte um Sicherheitsgesetzgebung hat der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich im Jahr 2013 Sicherheit zu einem "Supergrundrecht" erklärt. Nur wer also sicher lebe, frei von Bedrohung sei, so die Begründung in beiden Fällen, könne sich überhaupt erst Gedanken darüber machen, sein Leben so zu gestalten, wie es ihm beliebt.
Das Gegenargument hierzu lautet, dass eine solche Priorisierung von Sicherheit alle anderen Werte überschatten würde, und dass diese dann eventuell gar nicht mehr zur Geltung kämen. Eine solche Gesellschaft würde zu einer absoluten Sicherheitsgesellschaft, in der das angesammelte Wissen von den Mächtigen zur Überwachung und Unterdrückung der Bürger/-innen und zur Kontrolle der öffentlichen Meinung genutzt werden könnte. Zahlreiche Science Fiction-Erzählungen in der Geschichte der Popkultur, so etwa George Orwell’s "1984" oder Philipp K. Dick’s "Minority Report", haben derartige Szenarien und ihre Konsequenzen lebhaft ausgemalt.
Die Herstellung von Sicherheit ist also mit vielen Fragen verbunden, die unterschiedlich beantwortet und interpretiert werden können. Wir können jedoch grundsätzlich davon ausgehen, dass Sicherheitsmaßnahmen nicht nur Sicherheit herstellen, sondern dass diese Herstellung auch immer mit Kosten verbunden ist.
Die Kosten der Sicherheit
Kosten können hierbei tatsächlich monetäre Kosten sein. Wer genügend ökonomische Mittel zur Verfügung hat, kann sich zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen leisten – von besseren Türschlössern, Alarmanlagen und Videokameras bis hin zu privaten Wachdiensten. Kosten können aber auch in anderen Formen entstehen, zum Beispiel in eingeschränkter Mobilität, in Ungleichbehandlung bis hin zu Diskriminierung oder in Eingriffen in die Privatsphäre, etwa in Bezug auf digitale Daten.
Tragen können diese Kosten sowohl Einzelne, ganze Gruppen oder sogar die komplette Gesellschaft. Wenn beispielsweise ein Körperscanner in der Sicherheitskontrolle am Flughafen eine Person mit einem Urinbeutel als "gefährlich" einstuft, weil ein Objekt unter der Kleidung detektiert wurde, und diese Person dann unangenehme oder bloßstellende Nachkontrollen und Befragungen über sich ergehen lassen muss, dann betrifft dies die individuelle Ebene.
Wenn allerdings Menschen regelmäßig an der Grenzkontrolle ausgewählt, gestoppt und befragt oder durchsucht werden, weil sie gewisse Kriterien erfüllen, dann werden kollektiv ganze gesellschaftliche Gruppen diskriminiert. Gerade automatisierte Analyseverfahren von Datenbanken haben die Tendenz, Vorurteile aufgrund von bestimmten Merkmalen strukturell zu reproduzieren. Aber auch deutsche Polizeibehörden sehen sich etwa immer wieder Vorwürfen ausgesetzt, bei verdachtsunabhängigen Personenkontrollen gezielt Menschen mit dunkler(er) Hautfarbe zu kontrollieren. In einem prominenten Fall bekam etwa 2012 ein dunkelhäutiger Student vor Gericht recht, als er gegen diskriminierende Praktiken der Bundespolizei klagte. Andere Beispiele für ein solches "Profiling" sind, wenn Menschen aus Osteuropa oder vom Balkan mit organisiertem Verbrechen in Verbindung gebracht werden, junge Männer aus der arabischen Welt mit Terrorismus oder Fußballfans mit erhöhter Gewaltbereitschaft.
Nicht möglich ohne Kompromisse
Wer auch immer den Preis zahlt, oder den größeren Anteil an diesem Preis – die Herstellung von Sicherheit ist immer mit Kompromissen verbunden. Wenn Sicherheitsbehörden besser informiert und handlungsfähig sein sollen, dann zahlen die Bürger/-innen den Preis dafür. Die Kompromisse, wer in welcher Form mit Einschränkungen von gewissen Werten muss, lassen sich allerdings gestalten. Die Frage ist, ob der kurzfristige politische Aushandlungsprozess zwischen den verschiedenen Akteuren das alleinige Kriterium für diese Ausgestaltung von Kompromissen zwischen einem vermeintlichen "Mehr" an Sicherheit, der Einschränkungen von Freiheiten und Bürgerrechten, und anderen, unbeabsichtigten Nebenfolgen von Sicherheitspolitik sein sollte.
Das große Ganze im Blick
Aus der Perspektive einer "Ethik der inneren Sicherheit" (oder auch einfach: "Sicherheitsethik") muss die Antwort lauten: nicht nur – eine ethische Betrachtungsweise kann politische Aushandlungsprozesse sinnvoll ergänzen. Die entscheidende Frage lautet dann: Sollte es bei Sicherheitsmaßnahmen nur um größtmögliche Effektivität gehen, um die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen? Sollten gewisse gesellschaftliche Gruppen weniger Kosten tragen dürfen als andere, weil sie auf der politischen Ebene besser repräsentiert sind? Oder sollte es nicht vielmehr darum gehen, dass Sicherheitsmaßnahmen möglichst sozial verträglich und gerecht gestaltet werden? Anders gesprochen: die Ethik kann der Politik helfen, einen Schritt zurückzutreten, innezuhalten, und das große Ganze zu betrachten.
Ethik kann grundsätzlich verstanden werden als das kritische Hinterfragen und Reflektieren von gesellschaftlicher Moral. Dabei beschreibt Ethik nicht nur den Ist-Zustand, sondern gibt auch normative Empfehlungen, wie ein gesellschaftlicher Soll-Zustand aussehen könnte. Ethik stellt die Frage nach dem "guten Leben" und versucht, diese so präzise wie möglich, unter der Berücksichtigung aller Rahmenbedingungen, zu beantworten und schließlich Handlungsempfehlungen zu geben. Eine Sicherheitsethik gibt also im Optimalfall Empfehlungen für eine "gute" Sicherheitspolitik ab, die die zwingend notwendigen Kompromisse möglichst gerecht gestaltet und darauf achtet, dass Kosten annähernd gleich verteilt werden.
Gefahr der Eigendynamik
Anders formuliert lautet die Frage nach dem "guten Leben": Wie wollen wir die Gesellschaft gestalten, damit sie lebenswert ist und bleibt? Eine solche Reflektion ist gerade in Bezug auf Sicherheit zentral. Sicherheit ist grundsätzlich ein anzustrebender Wert, kann aber schnell eine Eigendynamik entwickeln, die unkontrolliert um sich greift und dabei Bereiche vereinnahmt, die eigentlich nicht von Sicherheitspolitik betroffen sein sollten.
Ein Beispiel hierfür sind persönliche Daten. Fliegt man etwa von Deutschland aus in die USA, dann werden im Zuge des sogenannten "Passenger-Name-Record" (PNR)-Abkommens zwischen der EU und den USA eine Menge Informationen erfasst, die auf den ersten Blick nicht viel mit Sicherheit zu tun haben – etwa die Rechnungsadresse der Kreditkarte, mit der man den Flug bezahlt hat, die Mitgliedschaft in einem Vielfliegerprogramm oder spezielle Wünsche für das Bordessen. Diese Daten werden in die USA übermittelt, noch während das Flugzeug in der Luft ist, und werden dort mit speziellen Computeralgorithmen analysiert. So versuchen Sicherheitsbehörden herauszufinden, ob jemand an Bord ist, den man für verdächtig hält und dann gleich bei der Einreise festnehmen kann. Der Mensch wird auf diese Art zu einem Risikofaktor umdeklariert, auf dessen Grundlage man versucht, das nächste Verbrechen, den nächsten terroristischen Anschlag oder die nächste illegale Einreise zu verhindern.
Das Problem hierbei: Sicherheitspolitik und Sicherheitsmaßnahmen versuchen, Ereignisse in der Zukunft zu verhindern, aber die negativen "Nebenfolgen" dieser Bestrebungen werden schon in der Gegenwart spürbar. Und vor allem werden diese Nebenfolgen für manche deutlicher und direkter spürbar als für andere. Dabei müssen solche Ungleichgewichte nicht einmal beabsichtigt entstehen, sondern können unbeabsichtigte Folgen von Technologien sein, deren Wirkungen man zum Zeitpunkt der Einführung nicht vollständig abschätzen konnte. Sicherheitsethik muss also fragen: Wollen wir andere Werte, Rechte und Freiheiten einschränken, um eine ungewisse Zukunft möglicherweise sicherer zu gestalten? Und wenn ja, wessen Werte, Rechte und Freiheiten wollen wir einschränken?
Sicherheitsethik befasst sich also sowohl mit dem grundsätzlichen Status von Sicherheit als auch mit den Mitteln, die zur Erreichung dieses Status eingesetzt werden, und behält dabei das große Ganze im Auge. Ethik kann unter Berufung auf eine gerechte und lebenswerte Gesellschaft Empfehlungen für die Gestaltung von Sicherheitsgesetzgebung und für konkretes Sicherheitshandeln aufzeigen. Sicherheit gerecht zu gestalten heißt dementsprechend, dass die Kosten für die Herstellung angemessen verteilt werden, dass niemand ungerechtfertigt diskriminiert wird, und dass Einschränkungen von anderen Werten, Rechten und Freiheiten in einem akzeptablen und zu vertretenden Rahmen bleiben.
"Leitfaden" für Prüfung von Sicherheitsmaßnahmen
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Sicherheitsethik in einem gewissen Sinne als "Leitfaden" für die Prüfung von Sicherheitsmaßnahmen verstanden werden kann, in dem sie Fragen aufwirft nach möglichen individuellen oder kollektiven Beeinträchtigungen von Grundrechten und Werten, und nach der Verteilung von Kosten und Einschränkungen durch Sicherheitsmaßnahmen. Dabei gilt es viele Faktoren zu beachten, und viele Klippen zu umschiffen.
Ethik muss letztlich aber auch klare Grenzen aufzeigen, die durch Sicherheitshandeln oder Sicherheitstechnologien nicht überschritten werden sollten – andernfalls liefe die Gesellschaft Gefahr, danach nicht mehr das zu sein, was es ursprünglich zu schützen galt. Dabei gilt es immer wieder, den Blick von Sicherheitspolitik von der Zukunft zurück zur Gegenwart zu lenken, und zu fragen: wollen wir wirklich heute immer mehr Einschränkungen hinnehmen, nur um möglicherweise morgen etwas zu verhindern, dass unsere Sicherheit gefährden könnte? Anders gesprochen: die Lösung eines gesellschaftlichen Sicherheitsproblems sollte nicht größere Probleme verursachen als die, die es ursprünglich zu lösen galt.
Ein Aufkleber mit dem Hinweis "Dieser Bereich wird videoüberwacht" klebt an einem Laternenpfahl am Chiemsee (Bayern) (© picture-alliance/dpa)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-10T00:00:00 | 2014-08-13T00:00:00 | 2022-02-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/innere-sicherheit/dossier-innere-sicherheit/189934/ethik-der-inneren-sicherheit/ | Wozu brauchen wir eine "Ethik der inneren Sicherheit"? Und was ist das überhaupt? Im Folgenden wird dargestellt, warum ein unreflektiertes Sicherheitsdenken zu negativen gesellschaftlichen Folgen führen kann, und warum es wichtig ist, Sicherheit imme | [
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"Bundesrepublik Deutschland"
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Info 02.05 Historische Entwicklung der Migration nach und aus Deutschland | Wie bin ich geworden, wer ich bin? - Seinen Weg finden nach Flucht, Vertreibung und Krisen | bpb.de | Deutschland hat in seiner Geschichte umfangreiche Zu- und Abwanderungsbewegungen erlebt. Ein Blick auf Wanderungen seit dem 17. Jahrhundert zeigt, dass die Migrationsgeschichte des Landes nicht erst mit der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in den 1950er und 1960er Jahren begann.
Wanderungsbewegungen im 17., 18. und 19. Jahrhundert
Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) führte in einigen deutschen Gebieten zu starken Zerstörungen und einem erheblichen Bevölkerungsrückgang. Die jeweiligen Landesherren warben daher erwerbsfähige und steuerzahlende Personen aus anderen, z.T. übervölkerten Regionen an, die sich in den kriegszerstörten Gebieten niederlassen sollten ("Peuplierungspolitik"). Diese wurden so zu zentralen mitteleuropäischen Zuwanderungsregionen. Auch Glaubensflüchtlinge aus anderen Teilen Europas zog es ins frühneuzeitliche Deutschland. Die umfangreichste sowie wirtschaftlich, kulturell und politisch bedeutendste Zuwanderergruppe waren die Hugenotten. Nach dem Widerruf des 1598 verkündeten Edikts von Nantes (1685) wanderten 30.000-40.000 von ihnen in deutsche Territorien vorwiegend nördlich des Mains ein (v.a. nach Brandenburg-Preußen, Hessen-Kassel, in die welfischen Herzogtümer und in die Hansestädte).
Nach diesen Einwanderungsbewegungen, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts anhielten, dominierte bis in die 1830er Jahre die kontinentale Abwanderung nach Ost- und Südosteuropa, bis zum späten 19. Jahrhundert dann die transatlantische Abwanderung, vornehmlich in die USA. Von den 1680er Jahren bis 1800 wanderten rund 740.000 Menschen aus dem deutschsprachigen Raum nach Ost-, Ostmittel- und Südeuropa. Zwischen 1816 und 1914 zogen dann rund 5,5 Millionen deutsche Abwanderer in die Vereinigten Staaten. Dort stellte die in Deutschland geborene Bevölkerung 1820-1860 mit rund 30 Prozent nach den Iren die zweitstärkste, 1861-1890 sogar die stärkste Einwanderergruppe. Die erhebliche Ausweitung wirtschaftlicher Chancen aufgrund von Hochindustrialisierung und Agrarmodernisierung in Deutschland sowie die Wirtschaftskrise in den USA führten Ende des 19. Jahrhunderts schließlich zu einem deutlichen Rückgang der transatlantischen Migrationsbewegungen.
Flucht und Zwangsarbeit in und zwischen den Kriegen
Mit und nach dem Ersten Weltkrieg begann das "Jahrhundert der Flüchtlinge". Die Weimarer Republik wurde zum Ziel Hunderttausender von Flüchtlingen, die vor den Folgen der russischen Oktoberrevolution 1917, dem anschließenden Bürgerkrieg und der Durchsetzung des Sowjetsystems auswichen. Hinzu traten Zehntausende von osteuropäischen Juden, die vor Pogromen und antisemitischen Strömungen in vielen Teilen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas Schutz suchten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Deutschland erneut – wie bereits vor dem Ersten Weltkrieg – zu einem asylfeindlichen Staat. Außerdem vertrieben die neuen Machthaber rund eine halbe Million Menschen. Das betraf politische Gegner des Regimes, solche, die das Regime dafür hielt und vor allem all jene, die aufgrund der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus zu geächteten Fremden in Deutschland erniedrigt und zunehmend verfolgt wurden. Dazu zählten vor allem Juden, von denen rund 280.000 aus dem Reich flüchteten. Weltweit nahmen mehr als 80 Staaten Flüchtlinge aus Deutschland auf.
In den beiden Weltkriegen (1914-1918 und 1939-1945) führte der Arbeitskräftebedarf (v.a. in der Rüstungsindustrie) zu einem starken Zuzug ausländischer Arbeitskräfte. Dieser erfolgte jedoch in der Regel nicht freiwillig: Zwangsarbeit prägte die Ausländerbeschäftigung in Kriegszeiten. Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren von Vertreibung und Fluchtbewegungen dominiert. Rund 14 Millionen Reichsdeutsche und "Volksdeutsche" (Angehörige deutscher Minderheiten ohne deutsche Staatsangehörigkeit) flohen aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa in Richtung Westen. In der Bundesrepublik Deutschland erleichterte die Hochkonjunktur der 1950er und 1960er Jahre fundamental die wirtschaftliche und soziale Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen. Gleichzeitig bildeten sie ein qualifiziertes und hochmobiles Arbeitskräftepotenzial, das den wirtschaftlichen Wiederaufstieg mittrug.
"Gastarbeiteranwerbung", Anwerbestopp und Familiennachzug
In den 1950er und 1960er Jahren erlebte die noch junge Bundesrepublik Deutschland einen Wirtschaftsboom, der mit einer enormen Expansion des Arbeitsmarktes einherging. Da das inländische Arbeitskräftepotenzial nicht ausreichte, um die Nachfrage zu decken, schloss die Bundesrepublik 1955 mit Italien und 1960 mit Griechenland und Spanien erste Vereinbarungen zur Anwerbung von Arbeitskräften aus diesen Ländern ab. Es folgten entsprechende »Abkommen« mit der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Die ausländischen Arbeitsmigranten übernahmen in der Regel un- und angelernte Tätigkeiten in der industriellen Produktion mit hoher körperlicher Beanspruchung, gesundheitlicher Belastung und Lohnbedingungen, die viele Einheimische nicht akzeptieren wollten. Die Anwerbung der sogenannten "Gastarbeiter" wurde im Zuge der Öl(preis)krise und steigender Arbeitslosigkeit 1973 beendet. Hintergrund dieser Entscheidung war aber auch die zunehmende Verstetigung des Aufenthalts der ausländischen Arbeitnehmer im selbsterklärten "Nichteinwanderungsland" Deutschland.
Vom Ende der 1950er Jahre bis zum "Anwerbestopp" 1973 kamen rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, von denen etwa 11 Millionen nur temporär im Land verblieben und später wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Die anderen blieben und zogen ihre Familien nach. So kam es, dass die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen zwar nach dem Ende der Anwerbezeit sank - von 2,6 Millionen 1973 auf 1,6 Millionen 1989 - die ausländischen Wohnbevölkerung aber im selben Zeitraum von 3,97 Millionen auf 4,9 Millionen wuchs.
Und in der DDR?
Auch in der DDR gab es einen Arbeitskräftemangel, der vor allem auf die massive Abwanderung in den Westen zurückzuführen war: Von 1949 bis zum Mauerbau 1961 hatten etwa 2,7 Millionen Menschen "rübergemacht". Diese Lücke sollte zumindest teilweise durch ausländische Arbeitskräfte geschlossen werden. Dazu schloss die Regierung Abkommen mit sozialistischen "Bruderländern". 1968 trafen die ersten der sogenannten Vertragsarbeiter aus Ungarn ein. Es folgten Arbeitskräfte aus Algerien, Angola, Polen, Mosambik und Kuba. Die größte Gruppe stammte aus Vietnam. Sie durften nur für eine befristete Zeit in der DDR bleiben. Da private Kontakte zu Einheimischen unerwünscht waren, lebten sie isoliert in Wohnheimen. Nähere Kontakte zu DDR-Bürgern waren genehmigungs- und berichtspflichtig. Zur Wende hielten sich rund 94.000 Vertragsarbeiter in der DDR auf, darunter 60.000 Vietnamesen. Nach der Wiedervereinigung verließen viele von ihnen das Land bzw. waren dazu gezwungen, weil ihre Aufenthaltsgenehmigungen ausliefen. Zuwanderung im vereinigten Deutschland: Asylmigration und Aussiedlerzuwanderung in den 1980er und 1990er Jahren
Mit der Öffnung des "Eisernen Vorhangs", dem Wandel der politischen Systeme in den ehemaligen Staaten des "Ostblocks" und dem Ende der DDR 1989/90 veränderten sich die Migrationsmuster in Europa. In Deutschland stieg die Zahl der Asylanträge vor allem aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa deutlich an. Sie überschritt 1988 die Marke von 100.000, kletterte im Jahr der europäischen Revolutionen 1989 auf etwa 120.000, erreichte im vereinigten Deutschland 1990 rund 190.000 und 1992 schließlich fast 440.000.
Neben der Zuwanderung von Asylbewerbern stieg Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre besonders die Zahl der Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland stark an. Die Bezeichnung "Aussiedler" stammt aus den frühen 1950er Jahren. Nach dem Ende von Flucht und Vertreibung in der Folge des Zweiten Weltkriegs lebten 1950 nach Behördenangaben noch rund vier Millionen Deutsche in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Ihnen sicherte das Bundesvertriebenengesetz von 1953 die Aufnahme als deutsche Staatsangehörige zu. Von 1950-1975 passierten insgesamt rund 800.000, von 1976-1987 weitere etwa 616.000 Aussiedler die westdeutschen Grenzdurchgangslager, bis mit der Öffnung des "Eisernen Vorhangs" deren Massenzuwanderung begann: Von 1987 an gingen die Zahlen vor dem Hintergrund von "Glasnost" und "Perestrojka" in der UdSSR rasch nach oben, in den folgenden anderthalb Jahrzehnten kamen mehr als drei Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt wanderten damit im Zeitraum 1950-2013 rund 4,5 Millionen (Spät-)Aussiedler zu. Betrachtet man das Wanderungsgeschehen zwischen der Bundesrepublik und dem Ausland seit 1950, so ist festzustellen, dass 1992 das Jahr mit der höchsten Zuzugszahl war. Die Zuwanderung lag in jenem Jahr bei 1,5 Millionen, der Wanderungssaldo, also die Differenz aus Zu- und Fortzügen, belief sich auf rund 782.000. In den darauffolgenden Jahren sank die Zuwanderung nach Deutschland deutlich. 2008 und 2009 war Deutschland statistisch sogar Auswanderungsland: Es verließen mehr Menschen das Land, als aus dem Ausland zuzogen. Seit 2010 verzeichnet Deutschland wieder steigende Wanderungsgewinne (vgl. Abbildung 1).
Aktuelle Entwicklung der Migration zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Ausland
Die Geschichte Deutschlands ist auch eine Migrationsgeschichte. Umfangreiche Zu- und Abwanderungsbewegungen haben das Land und seine Bevölkerung geprägt - und das bereits lange vor der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Blick auf das Wanderungsgeschehen seit 1950 zeigt, dass der Umfang der Zu- und Fortzüge im Zeitverlauf deutlichen Schwankungen unterliegt. Im Jahr 2013 erreichte die Zuwanderung den höchsten Wert seit 1993. Insgesamt zogen 1.226.493 Personen nach Deutschland, 797.886 Personen verließen im selben Zeitraum das Land. Damit ergibt sich ein Wanderungsüberschuss in Höhe von 428.607 Personen. Das Wanderungsgeschehen in Deutschland ist vor allem europäisch geprägt. Drei Viertel aller 2013 Zugewanderten stammen aus einem anderen europäischen Land, die meisten davon aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Seit 1996 ist Polen das Hauptherkunftsland. Nach Angaben des »Ausländerzentralregisters« (AZR), das auch Informationen über die Aufenthaltszwecke von Nicht-EU-Bürgern sammelt, kamen im Jahr 2013 Zuwanderer aus Drittstaaten vor allem aus familiären Gründen (Familiennachzug), zum Studium, Schulbesuch bzw. Berufsausbildung oder zum Zwecke der Erwerbstätigkeit nach Deutschland.
Insbesondere der Bereich der Bildungsmigration hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. So ist beispielsweise die Zahl ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen zwischen dem Wintersemester 2009/2010 und dem Wintersemester 2013/2014 von rund 245.000 auf 301.000 gestiegen. Laut Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung soll ihre Zahl bis 2020 auf 350.000 erhöht werden. Dabei handelt es sich sowohl um Studienanfänger, die aus dem Ausland zuziehen, als auch um in Deutschland aufgewachsene ausländische Staatsangehörige, die ein Studium an einer deutschen Hochschule aufnehmen. Deutschland zählt weltweit zu den fünf wichtigsten Zielländern
Aus: Hanewinkel, Vera/ Oltmer, Jochen (2015). Focus MIGRATION. LÄNDERPROFIL Deutschland. Hrsg.: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück/ Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.). S. 2 – 4
Im Internet unter "Länderprofile Migration: Daten - Geschichte - Politik": Interner Link: www.bpb.de
Das Arbeitsmaterial Interner Link: Info 02.05 Historische Entwicklung der Migration nach und aus Deutschland ist als PDF-Dokument abrufbar. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-05-30T00:00:00 | 2016-03-22T00:00:00 | 2022-05-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/223551/info-02-05-historische-entwicklung-der-migration-nach-und-aus-deutschland/ | Ein Blick auf Wanderungen seit dem 17. Jh. zeigt, dass die Migrationsgeschichte in Deutschland nicht erst mit der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in den 1950er und 1960er Jahren begann. | [
"Grafstat",
"Krise",
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"Migration"
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Die Deutschen an der Weichsel | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de | Wanda und die Deutschen
Um die Hand der Krakauer Prinzessin Wanda hielt der deutsche Herzog Rüdiger an. Als diese ihn aber abwies, schwor der Herzog, sich für diese Schmach zu rächen: Er rüstete ein Ritterheer aus und zog gegen Krakau. Eine Belagerung begann, die Krakauer sahen Hunger und Not heraufziehen. Herzog Rüdiger bot den sofortigen Abzug seiner Truppen an, wenn Wanda ihm doch ihre Hand gäbe. Das wollte die Prinzessin aber nicht. Doch wollte sie auch nicht, dass die Deutschen ihre Stadt brandschatzen. Sie fand einen Ausweg: Sie stürzte sich in die Weichsel und ertrank.
Dies ist die Kurzfassung der in Polen sehr bekannten Sage von "Wanda, die keinen Deutschen wollte". Die aus dem Mittelalter überlieferte Sage belegt ganz zweifelsfrei, dass es in Krakau schon damals Spannungen zwischen dem alteingesessenen polnischen Adel und Ankömmlingen aus den deutschen Landen gab, dass diese Trennlinie also aus dem Mittelalter stammt. Es ist auch der erste Hinweis darauf, dass die Weichsel in den deutsch-polnischen Beziehungen immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt hat. An ihren Ufern lebten zunächst Polen und Deutsche in friedlicher Symbiose, die allerdings immer wieder durch heftige Zusammenstöße gestört wurde.
In allen polnischen Residenzstädten stellten deutsche Kaufleute und Handwerker mit ihren Zünften eine bedeutende Wirtschaftsmacht dar, die sie auch in politischen Einfluss ummünzen konnten. Dies brachte die Siedler und ihre Nachkommen unvermeidlich in einen Gegensatz zum polnischen Adel und auch zum Klerus.
Die politische Macht der Städter war so groß, dass sie sich Ende des 13. Jahrhunderts in die Streitigkeiten um die polnische Thronfolge einschalten konnten. So hatten sie ihren Anteil daran, dass 1291 der böhmische König Vaclav (Wenzel) II., ein Vasall des deutschen Kaisers, die Macht in Krakau übernehmen konnte. Eigentlich hatte der kleinwüchsige polnische Herzog Władysław Łokietek (1260-1333), in deutschen Chroniken irreführend Ladislaus Ellenlang genannt, Anspruch auf die Krakauer Burg erhoben, der Adel unterstützte ihn dabei, doch war er militärisch zu schwach, um sich durchzusetzen. Zum Groll des polnischen Adels bot Vaclav daraufhin dem Kaiser an, die Lehnsherrschaft über Polen zu übernehmen. Die wichtigsten Hofämter besetzte er mit Gefolgsleuten, darunter einige deutsche Ritter.
Als Vaclav 1305 starb, konnte sich Łokietek endlich die Herrschaft sichern. Als er aber wegen eines Kriegszugs für längere Zeit Krakau verließ, beschlossen die deutschen Ratsherren unter Führung des Stadtvogts Albert, ihm die Rückkehr zu verwehren. Grund waren offenbar die hohen Kriegssteuern, die der Herzog den Kaufleuten abverlangt hatte. Die Schlüssel der Stadt trugen sie Herzog Bolko aus dem schlesischen Oppeln an, der zwar mit Łokietek verwandt, gleichwohl aber auch Vasall des deutschen Kaisers war.
Doch nach einigen Monaten kehrte Władysław Łokietek an der Spitze eines großen Heeres zurück. Bolko sah die Nutzlosigkeit jeden Widerstandes ein und übergab ihm die Stadtschlüssel. Łokietek hielt anschließend Strafgericht: Zahlreiche der deutschen Patrizier wurden vor den Stadttoren aufgehängt, ihr Besitz wurde eingezogen. Albert kam mit dem Leben davon, er durfte im Gefolge Bolkos abziehen. In der deutschen Geschichtsschreibung galt später der "Aufstand des Vogtes Albert" im Jahr 1311 als Meilenstein im Kampf für das "Deutschtum im Osten", in den polnischen Annalen aber war dieser schlicht ein Verräter.
Ein folgenschwerer Hilferuf
Drei Jahre zuvor, 1308, hatten weichselabwärts in Danzig die Gefolgsleute Łokieteks eine bittere Niederlage hinnehmen müssen: Die aufstrebende Hafenstadt hatte vielerlei Begehrlichkeiten geweckt. Die deutschen Ratsherren lehnten sich gegen die Erhöhung der Steuern durch den lokalen polnischen Adel auf und baten die Brandenburger um militärischen Beistand.
Der Kommandant der polnischen Garnison auf der Danziger Burg beging nun einen folgenschweren Fehler: Er bat den Deutschen Orden, der bereits Land auf der rechten Seite der Weichselmündung besaß, gegen die Brandenburger um Hilfe. Der Herzog Konrad von Masowien, der Großvater Łokieteks, hatte die Ordensritter zwei Generationen zuvor ins Weichselland gerufen, weil er Unterstützung im Kampf gegen die heidnischen Prussen im heutigen Masuren brauchte.
Die Ordensritter, die die militärische Supermacht der damaligen Zeit waren, verjagten im Handumdrehen die Brandenburger aus Danzig – um sich dann gegen ihre Auftraggeber zu wenden. Sie plünderten erst die Stadt, setzten die polnischen Adligen fest und enthaupteten mehr als ein Dutzend von ihnen. Auch diese politische Kehrtwendung wurde später in der deutschen Geschichtsschreibung als Ruhmestat gefeiert, die polnischen Chronisten aber empörten sich über das "Gemetzel von Danzig".
Wladyslaw Łokietek begriff, dass die Ordensritter seine Herrschaft gefährdeten, und versuchte, sie aus dem Land zu drängen. Seine Rechtsberater führten an, sie hielten widerrechtlich polnisches Land besetzt. Ein päpstlicher Legat gab ihm Recht. Doch die Ordensritter erwirkten, offenbar mit Unterstützung des deutschen Kaisers, in Rom eine Aufhebung des Schiedsspruchs. Wenig später starb Łokietek.
Sein Sohn Kasimir III. (Kazimierz, 1310-1370) strengte einen neuen Prozess an. 1339 fand die Verhandlung auf halbem Weg zwischen der Residenz Krakau und dem Ordensland am Unterlauf der Weichsel statt, in dem Städtchen Warschau. Wieder bekam die polnische Krone Recht. Doch der Deutsche Orden ignorierte den Schiedsspruch und blieb. Der "Warschauer Prozess", der den Eintritt der Stadt in die große Geschichte markierte, blieb also folgenlos.
Kooperation statt Konflikt
Kasimir lernte aus dem Prozess: Er beendete alle Konflikte mit den Nachbarn im Westen, er verzichtete auf Schlesien und auf Danzig. Der größere Teil der von der polnischen Krone und dem deutschen Reich ausgehandelten Grenzen sollte sechs Jahrhunderte halten – bis zum Zweiten Weltkrieg. Kasimir nahm somit den endgültigen Verlust der Kontrolle über die Weichselmündung hin, sicherte aber seine Herrschaft an ihrem Oberlauf.
Er machte nicht nur seinen Frieden mit den deutschen Patriziern und Siedlern, die sein Vater noch bekämpft hatte, sondern ließ vor allem Baumeister und Handwerker in den deutschen Landen anwerben. Sie leisteten einen entscheidenden Beitrag zu dem in jedem polnischen Geschichtsbuch stehenden Satz: "Kasimir fand ein Polen aus Holz vor und hinterließ eines aus Stein."
Das gute Einvernehmen zwischen der polnischen Krone und dem von deutschen Ratsherren dominierten Stadtrat belegt auch der Krakauer Fürstentag von 1364. Aus Anlass der Hochzeit des deutschen Kaisers Karl IV. mit einer Enkelin Kasimirs gab Bürgermeister Nikolaus Wirsing ein Festmahl, an dem insgesamt fünf gekrönte Häupter teilnahmen.
Überdies gab Kasimir den in anderen europäischen Ländern verfolgten Juden in seinem Königreich Rechte. In Krakau siedelten sie sich vor allem in der Weichselniederung unterhalb der Königsburg an, der neue Stadtteil war nach ihm benannt: Kazimierz. Auch dehnte er das Königreich erheblich nach Osten aus. Er ging als "Kasimir der Große" in die Geschichte ein.
Polen und Deutsche gegen die Ordensritter
Eine Ansichtskarte der Marienburg von 1893. Im Vordergrund die Nogat. (Public Domain, Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de
Doch das Ringen um die Kontrolle der Weichsel hielt an. Der Deutsche Orden demonstrierte seine Macht mit der Marienburg, dem größten Bauwerk nördlich der Alpen. Doch im Laufe der Jahrzehnte verschoben sich die Gewichte zugunsten der polnischen Krone. Die deutschen Patrizier von Danzig, überdrüssig der Steuern, die ihnen der Orden abpresste, stellten sich unter den Schutz des Königs, bewahrten aber ihre politische und wirtschaftliche Autonomie.
Die Deutschen von Danzig bejubelten auch den Sieg des polnisch-litauischen Heeres gegen die Ordensritter in der Schlacht von Tannenberg/Grunwald 1410. Sie wurde zwarInterner Link: zum polnischen Mythos, wie auch das viereinhalb Jahrhunderte später entstandene monumentale Gemälde von Jan Matejko belegt. Doch hatte die Schlacht keinerlei strategische Bedeutung. Denn der Deutsche Orden verteidigte in der Folge seine Burgen an der Weichsel und stellte auch seine Herrschaft über Danzig wieder her.
Nach mehreren erfolglosen Erhebungen gelang es den Danzigern schließlich fast zwei Generationen später doch im Bunde mit überwiegend deutschsprachigen Adligen, die sich zum Preußischen Bund zusammengeschlossen hatten, sich gegen die Ordensritter durchzusetzen. 1454 zog eine Delegation aus Danziger Patriziern und preußischen Adligen weichselaufwärts, um König Kasimir IV. (1427-1492) die Herrschaft über ihr Land anzubieten, falls dieser ihre autonomen Rechte respektiere. Nach einigem Zögern und weiteren militärischen Auseinandersetzungen mit dem Deutschen Orden garantierte der König schließlich den Danzigern das Große Privileg. Er unterzeichnete die vorgefertigte Urkunde, deren entscheidender Satz lauteten: "Geben wir und verleyen unnsir stadt Danczk das sie zcu ewigen geczeiten nymands von eynem herrn halden noch gehorsam zcu weszen seyn sullen in weltlichen sachen."
Mit der Militärmacht des polnischen Königs im Rücken konnten es sich die Danziger leisten, den Unterlauf der Weichsel für den Orden zu sperren. Ihre Flotte griff 25 Patrouillenboote der Ordensritter an und versenkte sie. Ohne die Einnahmen aus dem Wegezoll waren diese nicht mehr in der Lage, die für den neuen Krieg angeworbenen Söldner zu bezahlen. 1455 musste der Orden die Marienburg an die rebellierenden Söldner verpfänden – und diese verkauften sie an den polnischen König. Die Deutschen und die Blüte von Krakau
Zeichnete sich somit der Niedergang des Deutschen Ordens ab, so erlebten die deutschen Patrizier von Krakau zur selben Zeit ihre Glanzzeit. Weiterhin dominierten sie den Stadtrat und die Zünfte. Sie wurden so reich, dass sie eine eigene Kathedrale bauten – die Marienkirche. In ihr wurde auf Deutsch gepredigt. Die Patrizier brachten die Mittel auf, den berühmtesten und teuersten Bildhauer in die Stadt zu holen, Meister Veit Stoß (1447-1533) aus Nürnberg. Er schuf den 13 Meter hohen Interner Link: Hauptaltar der Marienkirche und blieb drei Jahrzehnte an der Weichsel.
In dieser Zeit zog die Krakauer Universität Gelehrte und Studenten aus ganz Europa an. Zu ihnen gehörte Nikolaus Kopernikus, der aus einer deutschsprachigen Familie stammte. Später wurde er Mitglied des preußischen Landtags und stellte sich, wie ein Großteil der preußischen Ritterschaft am Unterlauf der Weichsel, gegen den Deutschen Orden.
Auch wurde Krakau eines der Zentren der neuen Buchdruckerkunst. Auch dieses Gewerbe war zunächst fast in deutscher Hand. Ein deutscher Meister druckte erstmals ein Buch in polnischer Sprache, ein theologisches Traktat mit dem Titel Raj duszny (Seelenparadies). Dem Verleger Johannes Haller (1463-1525) gestand die Kirche gar das Monopol auf den Druck von Messbüchern zu. Heute gilt er als Patron der polnischen Buchdrucker.
Die vom König Sigismund I. (1467-1548) angeordnete Öffnung der Zünfte auch für Polen führte indes zunächst zu Spannungen. So musste 1501 der Stadtrat der Zunft der Hutmacher befehlen, getrennte Herbergen für polnische und deutschsprachige Gesellen einzurichten, weil es zwischen beiden Gruppen immer wieder zu Prügeleien gekommen war.
Die wirtschaftliche und kulturelle Blüte der Stadt an der Schwelle vom 15. zum 16. Jahrhundert ging in die Annalen als das "goldene Zeitalter" ein. Auch die politische Macht von König Sigismund erreichte ihren Höhepunkt, markiert durch die "Krakauer Huldigung" 1525, ein Markstein der polnischen Geschichte, den ein weiteres Mal Jan Matejko später bildlich umsetzte: Der König nahm die Huldigung durch den letzten Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Hohenzollern, entgegen, der auch sein Neffe war. Sie bedeutete faktisch die Kapitulation der Ordensritter, nachdem sie bei ihren Versuchen, mit militärischen Mitteln ihre alte Machtposition wieder herzustellen, gescheitert waren.
Der polnische König stimmte der Umwandlung von Teilen des Ordensstaates in ein weltliches Herzogtum zu. Zusammen mit den Ländereien des preußischen Bundes entstand später daraus Preußen. Bei den Feierlichkeiten in Krakau aber dachte niemand an künftige Gegnerschaft, im Gegenteil: Polnische Adlige und Ordensritter feierten gemeinsam erst einen Dankgottesdienst auf dem Wawel und anschließend ein großes Fest.
Zunehmend verwischten sich die Grenzen zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Nachkommen der Siedler aus den deutschen Landen. Vor allem nahm die Zahl der Eheschließungen zwischen polnischen Adligen und deutschen Patriziertöchtern zu. Den einen war es dabei meist um das Vermögen zu tun, den anderen um Ehre und Titel. Die Krakauer Deutschen polonisierten sich innerhalb weniger Generationen, wie sich aus den Taufregistern ablesen lässt: Immer häufiger hießen die Söhne Jan statt Johann oder Paweł statt Paul. 1537 wurde per königlichen Erlass Polnisch die Predigtsprache der Marienkirche, im Jahr 1600 auch Sprache sämtlicher Gerichte in Krakau.
Warschau wird Hauptstadt
Die königliche Residenz war vier Jahre zuvor flussabwärts nach Warschau verlegt worden. Der Grund: Der aus dem schwedischen Hause Vasa stammende König Sigismund III. (1566-1632) hoffte, auch den Thron in seinem Heimatland besteigen zu können. Warschau lag mehrere Tagereisen näher an Stockholm. Die Sigismundsäule auf dem Schlossplatz zeugt bis heute von dieser folgenreichen Entscheidung.
Die Hoffnungen Sigismunds sollten sich indes nicht erfüllen. Zwar wurde er nach dem Tod seines Vaters auch König von Schweden. Doch wollte ausgerechnet einer seiner Onkel ihn nicht anerkennen, er stellte sich an die Spitze einer Adelsfronde. Sigismunds Söldnertruppen unterlagen in diesem kurzen Krieg. Er kehrte nach Warschau zurück, Schweden sah er nie wieder. Insgesamt regierte er 44 Jahre lang an der Weichsel, ohne sich allerdings je Mühe zu geben, Polnisch zu lernen. Hofsprache war zu seiner Zeit Deutsch. Dies hatte seine Frau Anna durchgesetzt, eine Habsburger Prinzessin. Und nicht nur dies: Am Warschauer Hof wurde die Wiener Hofetikette eingeführt. Auch kamen in ihrem Gefolge zahlreiche Adlige und Beamte, die Schlüsselpositionen am Hofe einnahmen. Ein Chronist hielt über die neuen Sitten an der Weichsel fest: "Unter den deutschen Herren hat sich das dem Volke so unsympathische deutsche Wesen eingeschlichen, und die im Volke gärende Verbitterung gegen den König nimmt ständig zu."
Mit der streng katholischen Anna kamen auch Jesuiten nach Warschau. Sie setzten gemeinsam mit der Königin den auch in Glaubensdingen eher lauen Sigismund so unter Druck, dass er die Weichen für die Gegenreformation in Polen stellte. Als Anna nach nur vier Jahren Ehe, in denen sie fünf Kinder zur Welt brachte, starb, heiratete Sigismund ihre damals 17 Jahre alte Schwester Konstanze, die nicht minder fromm war. Ihre sieben Brüder ließ sie größtenteils von deutschen Lehrern und Künstlern unterweisen, doch mussten sie auch Polnisch lernen. Mit dem Tod Sigismunds 1632 verließen die meisten der deutschen Adligen die Stadt.
Sachsen an der Weichsel
Es vergingen zwei Generationen, bis wieder Deutsche an der Weichsel in höchste Ämter aufstiegen: 1697 wurde der sächsische Kurfürst Friedrich August II. (1670-1733) von der Adelsversammlung zum polnischen König gewählt. Wegen seiner Körperkraft bekam er den Beinamen "der Starke". Unter ihm und seinem Sohn August III. (1696-1763) wurde Warschau zur europäischen Metropole ausgebaut. Es entstanden zahlreiche Barockbauwerke. Der italienische Maler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, hat sie auf Leinwand verewigt. Die Bauwut der Sachsenkönige, ihre verschwenderische Hofhaltung und mehrere erfolglose Kriegszüge ruinierten allerdings den Staatshaushalt. Als August III. 1763 starb, war die Krone nicht nur mit dem polnischen Adel völlig zerstritten, sondern auch außenpolitisch am Ende, weil sie nicht mehr über ausreichende Mittel verfügte, ein schlagkräftiges Heer aufzustellen.
Der Niedergang des Königreichs Polen war wegen seiner Finanzprobleme und der politischen Lähmung der Krone durch den Adel nicht aufzuhalten. Die drei Nachbarn – Preußen, Österreich, Russland – nutzten seine innere Schwäche, um in drei Schritten zwischen 1772 und 1795 Interner Link: das Land unter sich aufzuteilen. König Stanisław Poniatowski wurde zur Abdankung gezwungen. Der Oberlauf der Weichsel mit Krakau kam zu Österreich, der Unterlauf einschließlich der begehrten Hafenstadt Danzig zu Preußen, das zunächst auch das Mittelstück mit Warschau bekam.
Preußen in Warschau
Dort marschierte Anfang 1796 ein 10.000 Mann starkes preußisches Kontingent ein. An den Verwaltungsgebäuden wurden Wappen mit dem schwarzen preußischen Adler angebracht, Warschau wurde zum Verwaltungssitz des Bezirks Südpreußen herabgestuft. Eingerahmt von preußischen Gardesoldaten mit bedrohlich aufgepflanzten Bajonetten leistete ein Teil des Adels und des Klerus bei einer Versammlung im Königsschloss den Treueeid auf die preußische Krone. Stadtgouverneur wurde der Generalleutnant Ludwig Ägidius von Köhler.
Von der Regierung in Berlin bekam er den Auftrag, jedweden "jakobinischen Aufruhr" an der Weichsel im Keim zu ersticken. In einem Bericht hieß es: "Warschau ist gewiss ein Sammelplatz von revolutionären und bösen Leuten, die vom Ausland und besonders von Frankreich her ihre Direktion erhalten."
Auf dem Stadtgebiet ließ von Köhler insgesamt 116 Militärposten einrichten, auch überwachten mehrere Abteilungen der preußischen Geheimpolizei die Warschauer Elite. Die "Rebellgesinnten" wurden zur preußischen Armee eingezogen und mussten alle Härten des Drills über sich ergehen lassen. Das Königsschloss stand leer, abgesehen vom Abgeordnetensaal. In ihm wurde eine evangelische Kapelle eingerichtet, was als Demütigung für die katholischen Polen gemeint war. Dass das Hauptgebäude des Schlosses zunehmend verwahrloste, war ebenfalls gewollt: Den Warschauern sollte auf diese Weise der Untergang ihres Königreiches vor Augen geführt werden. Zu den preußischen Beamten, die zum Dienst nach Warschau abgeordnet wurden, gehörte der junge Justizassessor Ernst Theodor August (E.T.A.) Hoffmann (1776-1822). Zu seinen Aufgaben gehörte es vermutlich auch, die jüdische Bevölkerung, deren Rechtsstatus verbessert wurde, zu registrieren und ihr auch Familiennamen zu geben.
Genau zehn Jahre lang blieben die Preußen an der Weichsel, bis Napoleon 1806 mit seinen Truppen von Westen her anrückte. Generalleutnant von Köhler verließ Warschau rechtzeitig, er wurde von zahlreichen polnischen Adligen verabschiedet. Diese waren ihm dankbar dafür, dass er jegliche revolutionäre Bestrebungen unterdrückt und somit ihnen ihr Eigentum gerettet hatte.
Als Napoleon im Dezember 1806 in Warschau eintraf und die neue polnische Regierung empfing, kam es fast zum Eklat: Denn der Verteidigungsminister, Fürst Józef Poniatowski, trug den preußischen Schwarzadlerorden, den ihm König Friedrich Wilhelm II. verliehen hatte. Napoleon äußerte sich später abfällig über den Warschauer Adel. Dieser war wiederum von dem Korsen enttäuscht, weil er die Bitten ignorierte, das Königreich Polen wiederherzustellen.
Nach Napoleons Niederlage dachten die Sieger auf dem Wiener Kongress 1815 erst recht nicht daran, den Polen, die an seiner Seite gekämpft hatten, ihren Staat wieder zu geben. Krakau blieb bei Österreich, der Unterlauf der Weichsel bei Preußen, Warschau aber kam zum Zarenreich. Formal entstand zwar das Königreich wieder, doch die Königswürde ging auf den Zaren über.
Warschau im Ersten Weltkrieg
Genau nach 100 Jahren endete die russische Herrschaft an der Weichsel: Deutsche Truppen rückten 1915 in Warschau ein. Den deutschen Offizieren wurden von der Heeresleitung befohlen, sich höflich aufzuhalten, der Bevölkerung müsse vermittelt werden, dass sie nun vom russischen Joch befreit sei.
Der deutsche Generalgouverneur Hans von Beseler berief ein polnisches Bürgerkomitee, das eine neue Verwaltung aufbauen sollte. Der Vorsitzende des Komitees, Fürst Zdzisław Lubomirski, wurde nach einem Jahr zum Bürgermeister ernannt. Allerdings traten an die Spitzen der Behörden zunächst deutsche Beamte, so dass Deutsch und Polnisch gleichzeitig Amtssprachen waren. Auch mussten die Warschauer Betriebe für die deutsche Kriegswirtschaft arbeiten. Überdies verschlechterte sich die Versorgungslage zunehmend. Im Frühjahr 1916 kam es zu einer großen Streikwelle.
Zu dieser Zeit hatte sich die deutsche Militärmaschine bereits an der Westfront festgefahren. Die Oberste Heeresleitung beschloss daher, eine schnelle Entscheidung im Osten herbeizuführen. Die Polen sollten dafür als Bündnispartner gewonnen werden, polnische Truppen sollten beitragen, die Russen zur Kapitulation zu zwingen. Berlin gab die Parole von einer "Interessengemeinschaft von Deutschen und Polen" aus.
Am 5. November 1916 proklamierte von Beseler im Warschauer Königsschloss in Gegenwart von Vertretern der Warschauer Elite und der katholischen Kirche das Königreich Polen. Überall in der Stadt hingen nebeneinander schwarz-weiß-rote und weiß-rote Fahnen. Am nächsten Tag wurden Plakate in der Stadt geklebt, in denen die Warschauer aufgefordert wurden, sich freiwillig zu den neuen polnischen Streitkräften zu melden. Allerdings fanden sich nur sehr wenige Freiwillige. Das zweite Problem für die deutschen Besatzer bestand darin, dass sich kein Kandidat für die polnische Königswürde gefunden hatte. Sie setzten daher einen vorläufigen Regentschaftsrat ein, der einen König ausfindig machen sollte.
Dazu kam es allerdings nicht mehr. Mit dem Waffenstillstand, der am 11. November 1918 den Ersten Weltkrieg beendete, übernahmen die Polen wieder die Macht in ihrer Hauptstadt. Der Führer der polnischen Legionen, Józef Pilsudski, der nun "amtierendes Staatsoberhaupt" war, erklärte, die Polen würden "keine Rache für deutsche Sünden nehmen" und gestattete den deutschen Truppen einen Abzug in Ehren.
Kommentatoren der Warschauer Presse aber schmähten sie als "geschlagene Kreuzritter". 21 Jahre später kehrte ein Teil von ihnen zurück – in den Uniformen von Wehrmacht und SS. Naziherrschaft an der Weichsel
Anlass für den Zweiten Weltkrieg war – wieder einmal – ein Konflikt um Danzig. Die Siegermächte hatten auf der Konferenz von Versailles entschieden, die Stadt aus dem Deutschen Reich herauszulösen, obwohl mehr als 95 Prozent der Einwohner Deutsche waren. Außenpolitisch wurde die Freie Stadt Danzig von Polen vertreten, auch unterstand die Stadt der polnischen Zollhoheit. Im Morgengrauen des 1. September 1939 eröffnete das Schulschiff "Schleswig-Holstein" das Feuer auf die Westerplatte, auf der sich eine polnische Kaserne befand, und gab somit das Signal zum Krieg.
Der Angriff der Wehrmacht auf Polen war für die Warschauer und Krakauer keine Überraschung, die polnischen Zeitungen hatten seit Wochen Kriegsstimmung verbreitet und vor allem einen schnellen Sieg der eigenen Truppen in Aussicht gestellt. Um so größer war der Schock, dass bereits am zweiten Kriegstag deutsche Sturzkampfbomber mehrere Weichselstädte bombardierten und dass schon nach weniger als drei Wochen die Bodentruppen den Strom erreichten.
Noch unmittelbar vor dem deutschen Einmarsch in Warschau und Krakau war in der polnischen Elite die Hoffnung verbreitet, dass man auch diese neue Besatzung überstehen werde. Man erinnerte sich daran, dass im Ersten Weltkrieg die Deutschen im Großen und Ganzen korrekt aufgetreten waren. Doch diese Hoffnungen erwiesen sich sehr bald als falsch: Die NS-Führung strebte an, Polen als Kulturnation auszulöschen.
Als erstes erfuhren dies die Professoren der Jagiellonen-Universität in Krakau, die nach dem Ende der Kampfhandlungen im Oktober sich auf die Wiedereröffnung der Universität und den Beginn des neuen Semesters vorbereiteten. Ein Großteil von ihnen folgte der Einladung zu einer Informationsveranstaltung der Besatzungsbehörden über den "deutschen Standpunkt in den Wissenschafts- und Hochschulfragen". Dort aber trat ein SS-Offizier auf, barsch verkündete er, dass die polnische Hochschule aufgelöst sei. Die Professoren wurden von SS-Männern rüde festgenommen, die meisten kamen in Konzentrationslager. Eine große Gruppe von ihnen wurde in Auschwitz erschossen. Nur ein kleiner Teil kam nach internationalen Protesten wieder frei.
Es war der Auftakt zu einer gnadenlosen Jagd auf "Kulturträger", wie es im NS-Sprachgebrauch hieß. Dazu gehörten die Vertreter aller akademischen Berufe ebenso wie Offiziere und Priester. Mehr als 2000 polnische Geistliche wurden von den Deutschen ermordet, darunter fünf Bischöfe. Alle höheren Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, den polnischen Kindern wurde nur eine vierjährige Volksschule zugestanden. Auch erklärten die Besatzer alle polnischen Organisationen und Vereine für aufgelöst, ihr Vermögen beschlagnahmten sie.
Dieses Verbot betraf auch Sportclubs. Polen war es bei strenger Strafe untersagt, organisiert Sport zu treiben. Wer an verbotenen Fußballspielen teilnahm, dem drohte das Konzentrationslager. In Auschwitz fanden rund drei Dutzend Spieler der nun aufgelösten Warschauer und Krakauer Spitzenvereine den Tod. Die Deutschen organisierten an der Weichsel eine eigene Fußballliga, an ihr nahmen Mannschaften der bewaffneten Formationen, der Reichspost, der Ostbahn sowie mehrerer Rüstungsbetriebe teil. Das in der Weichselniederung gelegene Stadion der Polnischen Streitkräfte in Warschau hieß nun Wehrmachtsstadion", das Krakauer Wisła-Stadion "Deutsche Kampfbahn". Die NS-Propaganda schrieb unter Berufung auf die deutschen Patrizier des Mittelalters, darunter den Burgvogt Albert, von der "alten deutschen Stadt Krakau".
Auf der Wawel-Burg residierte der Generalgouverneur Hans Frank, ein skrupelloser und raffgieriger Günstling Hitlers. Dem von ihm angeordneten Terror fielen Zehntausende von Angehörigen der polnischen Führungsschicht zum Opfer. Er gehörte auch zu den Hauptverantwortlichen für die Judenverfolgung in seinem Herrschaftsgebiet. Nur ein Bruchteil der in den Ghettos von Krakau und Warschau zusammengepferchten Juden überlebte die deutsche Schreckensherrschaft.
Warschauer Aufstände
Denkmal des Warschauer Aufstands in Warschau (Dhirad, Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
Die Weichselmetropole Warschau erlebte zwei Aufstände gegen die Besatzer: Im Frühjahr 1943 erhob sich die heimlich gegründete "Jüdische Kampforganisation" gegen die SS, war aber mit ihrer völlig unzureichenden Bewaffnung völlig chancenlos, der Ghetto-Aufstand wurde grausam niedergeschlagen.
Anderthalb Jahre später, im Spätsommer 1944, versuchte die Untergrundarmee AK angesichts der heranrückenden Roten Armee, Warschau unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Aufstand war zwar militärisch gegen die Deutschen, aber politisch gegen den Kreml gerichtet, denn die Polen wollten ihre Befreiung nicht der Roten Armee zu verdanken haben. Da Stalin dies sofort begriff, ließ er die Rotarmisten auf dem rechten Weichselufer abwarten, während die Waffen-SS ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung anrichtete; die Zahl der Toten wird auf bis zu 150.000 geschätzt. Anschließend machten Pioniereinheiten der Wehrmacht die Innenstadt einschließlich aller Kirchen, Paläste, Museen, Theater und Bibliotheken dem Erdboden gleich.
Krakau entging diesem Schicksal. Warum, darüber sind sich die Historiker uneins: die einen machen dafür einen schnellen Vorstoß der Roten Armee verantwortlich, andere meinen, der zuständige Wehrmachtsgeneral habe den Zerstörungsbefehl aus Berlin schlicht ignoriert. Stattdessen habe er den sofortigen Rückzug befohlen und somit der Stadt auch erspart, Schauplatz eines Häuserkampfes zwischen sowjetischen und deutschen Truppen zu werden.
Hans Frank hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst nach Westen abgesetzt, auch hatte er rechtzeitig ganze Wagenladungen an geraubten Kunstgegenständen abtransportieren lassen. Wenige Tage nach der deutschen Kapitulation fiel er im Mai 1945 der amerikanischen Militärpolizei in die Hände. Das Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg verurteilte ihn zum Tode, er starb am Galgen. Zeitzeugen berichteten, er habe sich als Herrscher über Leben und Tod auf der Wawel-Burg über den lateinischen Spruch mokiert, der während der Renaissance über dem Zugang zu den königlichen Gemächern eingemeißelt worden war: "Respice finem!" – Auf deutsch: "Bedenke das Ende!"
Die Weichsel ist polnisch
Mit dem Rückzug der deutschen Besatzer aus den beiden früheren Königsresidenzen war auch abrupt die Jahrhunderte lange Geschichte der Deutschen an der Weichsel geendet. Die Erinnerung an den deutschen Besatzungsterror wirkt bis heute nach: Gerade in den ostpolnischen Wojewodschaften, durch die die Weichsel fließt, gewinnen auch zwei Generationen später bei Wahlen fast durchweg Kandidaten und Parteien, die unter Berufung auf die Kriegserfahrung der Nation vor einer deutschen Dominanz in Europa warnen und die deutsch-polnische Zusammenarbeit möglichst begrenzen wollen. Daran konnten auch Bitten um Vergebung für die Kriegsverbrechen, die Bundespräsidenten und Bundeskanzler bei Besuchen in Warschau ausgesprochen haben, wenig ändern.
Doch was den Politikern in nur geringem Maße gelungen ist, schaffte in den polnischen Städten ein junger deutscher Kabarettist: Steffen Möller spielte bei seinen Auftritten von Krakau über Warschau bis Danzig nicht nur mit deutsch-polnischen Vorurteilen, sondern nahm auch aus der gemeinsamen Geschichte herrührende Phobien aufs Korn. Er zitierte E.T.A. Hoffmann, der sich über manche Sitten in Warschau mokierte, aber seine polnische Frau Michalina heiß und innig liebte. In einem seiner Programme erzählt Möller in Umkehrung der bekannten Krakauer Sage von dem "Deutschen, der Wanda nicht wollte". So hat er mit leichter Ironie den Kreis der Geschichte der Deutschen an der Weichsel geschlossen.
Eine Ansichtskarte der Marienburg von 1893. Im Vordergrund die Nogat. (Public Domain, Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de
Denkmal des Warschauer Aufstands in Warschau (Dhirad, Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
| Article | Thomas Urban | 2021-12-07T00:00:00 | 2013-05-03T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/159396/die-deutschen-an-der-weichsel/ | Von der Wanda, die den Deutschen nicht wollte bis zum Deutschen, der die Wanda nicht will. Das Verhältnis der Deutschen zur Weichsel hat nie einen geraden Lauf genommen. | [
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Dank Autobranche im Turbomodus: Die slowakische Wirtschaft | Visegrád-Staaten | bpb.de | Die Wirtschaft der Slowakei hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine beispiellose Erfolgsgeschichte abgeliefert. Im Schatten des Vorzeige-Reformers Tschechien ist es Bratislava gelungen, den jungen EU-Staat auf Augenhöhe mit dem stets stärkeren Nachbarn in Böhmen und in Mähren zu bringen. Als die beiden Länder 2004 der Europäischen Union beitraten, lag die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung der Tschechischen Republik bei 79 Prozent des EU-Durchschnitts, die Slowakei kam auf gerade einmal 57 Prozent. Heute steht das Verhältnis bei 84 Prozent (Tschechien) und 76 Prozent (Slowakei).
Dabei war die Ausgangslage mehr als schwierig. Tschechien konnte aufbauen auf hundert Jahre Industrietradition: Maschinenbau in Plzeň (Pilsen) und Brno (Brünn), Flugzeugmotoren in Prag, Kohle und Stahl in Ostrava (Ostrau), Textilien in Liberec (Reichenberg), Autos in Mittelböhmen. Der slowakische Landesteil hingegen galt innerhalb der Tschechoslowakei immer als rückständiger, trotz großer Anstrengungen zur Industrialisierung seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Noch 1968 wurde die Aufholdauer der Slowakei gegenüber den tschechischen Landesteilen auf 20 Jahre geschätzt. Die eilige Industrialisierung, die den Rückstand möglichst rasch überwinden sollte, hatte zwischen Košice (Kaschau) und Bratislava (Pressburg) einige Kollateralschäden verursacht. Zu ihnen gehörte die große Abhängigkeit von Rohstoffen aus der ehemaligen Sowjetunion (Gas, Eisenerze, Öl) und die für die meisten Transformationsländer typische einseitige Ausrichtung auf Absatzmärkte im Osten. Die Industrielandschaft vieler Regionen kennzeichnete eine Monostruktur, bei der häufig ein Großbetrieb dominierte. Die Wertschöpfung war in der Regel gering, meist wurden nur Güter mit wenig Verarbeitungsstufen produziert.
Als dann die Föderation mit Tschechien zerfiel und 1993 ein Neustart als souveräner Staat anstand, schien die Ausgangslage eher trist: Zur nicht mehr zeitgemäßen Industrie mit riesigen Metallurgie- und Maschinenbaukombinaten sowie dem starken Fokus auf Rüstungsprodukte kamen nun ausbleibende Transferzahlungen aus Prag und die Abwanderung kluger Köpfe. Durchgehende Verkehrsverbindungen innerhalb des Landes fehlten. Das ausgeprägte ökonomische West-Ost-Gefälle und der kleine Binnenmarkt waren schwere Bürden für den Sprung in die Marktwirtschaft. Die Schocktherapie der Couponprivatisierung, die noch zu tschechoslowakischen Zeiten begonnen hatte, beschleunigte zwar zunächst die Transformation. Doch der nach 1994 zunehmend autoritär regierende Ministerpräsident Vladimír Mečiar nahm das Tempo aus dem Reformprozess. Er stoppte die Öffnung der Wirtschaft und protegierte die großen Staatsbetriebe, deren Management entscheidenden Einfluss auf die Wirtschaftspolitik erlangte. Die Westbindung der Slowakei stand zu diesem Zeitpunkt noch auf der Kippe. Paukenschlag Flat Tax
Diese Befürchtungen waren jedoch mit dem Amtsantritt der neuen Regierung unter Mikuláš Dzurinda 1998 passé. Er öffnete die Wirtschaft wieder für ausländische Investoren und sorgte mit einem Paukenschlag für Aufmerksamkeit: der Einführung einer Flat Tax per 1. Januar 2004. Einkommen und Unternehmensgewinne wurden nun pauschal mit 19 Prozent besteuert. Ebenso wurde die Mehrwertsteuer auf diesen Satz vereinheitlicht. Experten und Investoren waren begeistert, die Steuereinnahmen begannen zu sprudeln. Da im Mai desselben Jahres die Aufnahme in die EU anstand, startete die Konjunktur des kleinen Landes richtig durch.
In den fünf Jahren nach dem EU-Beitritt verdoppelte sich der Bestand ausländischer Direktinvestitionen, das Bruttoinlandsprodukt legte um über ein Drittel zu. Europäische und asiatische Unternehmen engagierten sich besonders im Fahrzeugbau und der Elektrotechnik, aber auch in der Metall- und Holzverarbeitung, der Kunststoffindustrie oder der Produktion von Baustoffen. Neben dem verarbeitenden Gewerbe war die Bauwirtschaft eine tragende Säule des Wachstums. Erst 2009 kam es im Zuge der globalen Finanzkrise zum ersten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) seit einem Jahrzehnt. Doch auch von dieser Delle erholte sich die kleine Volkswirtschaft schnell. Anders als im Nachbarland Tschechien geht es seitdem ohne Pause bergauf.
Für 2015 und die kommenden drei Jahre erwartet das Finanzministerium jeweils ein Wachstum von über drei Prozent. Damit setzt sich die Slowakei in der Spitzengruppe der dynamischsten Volkswirtschaften Europas fest und dürfte den Rückstand zum Westen weiter verringern. Allerdings hängt der positive Ausblick von der Entwicklung im Rest Europas ab. Denn die Slowakei hat eine extrem hohe Exportquote von 90 Prozent (Verhältnis der Ausfuhren zum Bruttoinlandsprodukt). Rund 85 Prozent der slowakischen Exporte gehen in die EU. Allein auf Deutschland entfällt mehr als ein Fünftel der Ausfuhren. Umgekehrt bezieht das Tatraland rund 75 Prozent seiner Importe aus dem EU-Raum.
Deutschland ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Das Volumen des bilateralen Warenaustauschs wächst seit der Unabhängigkeit des Landes mit überdurchschnittlichem Tempo. Gestartet mit weniger als 1,5 Milliarden Euro im Jahre 1993 erreichten die gemeinsamen Güterströme 2014 bereits einen Wert von über 24 Milliarden Euro. Für deutsche Unternehmen ist die Slowakei als Absatzmarkt heute wichtiger als so große Länder wie Indien, Mexiko oder Brasilien. Sie verkauften 2014 zwischen Donau und Tatra Produkte für rund 11,3 Milliarden Euro. Am meisten gefragt sind deutsche Fahrzeuge und Kfz-Teile, Maschinen und Chemieerzeugnisse.
Wie viele EU-Staaten profitiert die Slowakei vom hohen Bedarf deutscher Unternehmen nach Vorleistungsgütern. Diese Nachfrage sorgt laut einer Studie von Prognos für etwa fünf Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Etwa vier Prozent der Beschäftigten hängen direkt von der Nachfrage aus Deutschland ab. Dazu tragen in großem Maße auch die deutschen Investoren in der Slowakei bei, die dort Vorprodukte für ihre Muttergesellschaften herstellen. Beliebter Investitionsstandort
Die Bedeutung der Slowakei dokumentieren ohnehin nicht mehr nur die Warenströme, sondern immer mehr auch die ausländischen Investitionen vor Ort. Da im Nachbarland Tschechien Gewerbeflächen knapper werden, die Kosten schneller steigen und Personal zunehmend schwieriger zu finden ist, rückt die Slowakei verstärkt ins Blickfeld. Hinzu kommen höhere Investitionsanreize und die Währungssicherheit durch die Mitgliedschaft im Euroraum.
Die Nationalbank in Bratislava verzeichnete Mitte 2015 einen Bestand ausländischer Direktinvestitionen (ADI) von über 52 Milliarden Euro. Die Bundesbank gab den Bestand der mittelbaren und unmittelbaren deutschen ADI in der Slowakei Ende 2013 mit 7,6 Milliarden Euro an. Davon sind 1,8 Milliarden Euro in den Kfz-Sektor geflossen, 800 Millionen Euro in IT und Telekommunikation sowie 500 Millionen Euro in die Energiebranche.
In wichtigen Wirtschaftszweigen dominieren deutsche Investoren heute das Geschehen in der Slowakei. Besonders sichtbar ist das im Einzelhandel mit der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland), dem Rewe-Konzern (Penny Market, Billa), dm-Drogeriemärkten oder der Metro Group (Cash & Carry Abholmärkte). RWE und Eon sind im Strom- und Gasgeschäft unterwegs. Im Bereich Telekommunikation hat die Deutsche Telekom 2015 vom slowakischen Staat die restlichen 49 Prozent an Slovak Telekom erworben und kontrolliert diese nun komplett. Das Unternehmen ist Marktführer bei Festnetz, Breitband und Bezahlfernsehen. Die meisten deutschen Investitionsprojekte wurden jedoch im Fahrzeugsektor realisiert. Die Leuchtturminvestition von Volkswagen in Bratislava hat viele Zulieferer für die Branche angezogen, unter anderem Continental, INA Schaeffler, Hella, Getrag Ford Transmissions oder ZF Friedrichshafen.
In jüngster Vergangenheit hat sich die Schlagzahl neuer Projektankündigungen in der Automobilindustrie noch einmal erhöht. Autositzspezialist Brose will bei Prievidza (Privitz) in der Zentralslowakei 50 Millionen Euro investieren und 600 Mitarbeiter einstellen. Die koreanischen Teilehersteller Sungwoo und Samhwa Tech kündigten neue Fabriken an. Österreichs ZKW vergrößert die Scheinwerferproduktion in Topoľčany (Topoltschan). Tajco aus Dänemark baut ein Zentrum zur Komplettierung von Auspuffen in Malacky (Malatzka). Honeywell erweitert die Fertigung von Turbogebläsen in Prešov und macht das Werk zur zweitgrößten Anlage weltweit für diese Produkte.
Auch die Automobilkonzerne haben Ausbaupläne. Volkswagen investiert in seine Werkhallen in Bratislava. Unter anderem sind eine neue Montagelinie für SUV-Fahrzeuge, ein Diagnosezentrum sowie eine Teststrecke geplant.
Wichtigste Nachricht des Sommers 2015 war aber die Ankündigung des indisch-britischen Autokonzerns Jaguar Land Rover, in Nitra (Neutra) eine Produktionsstätte für Luxusgeländewagen zu errichten. Die Fabrik soll über eine Milliarde Euro kosten und rund 4.000 Menschen Arbeit bringen. Den geplanten Jahresausstoß gibt Jaguar Land Rover mit bis zu 300.000 Fahrzeugen an, der ab 2018 erreicht werden könnte. Das Unternehmen nannte die dort "etablierte Premium-Automobilindustrie" einen wichtigen Grund für die Standortentscheidung. Schließlich lässt Volkswagen in Bratislava bereits die großen SUV-Modelle VW Touareg und Audi Q7 montieren. Auch das dichte Zuliefernetz in der Nähe des westslowakischen Nitra dürfte Jaguar beeinflusst haben. Hinzu kommen finanzielle Anreize, mit denen die Regierung strategische Investoren anlockt. Laut Wirtschaftszeitschrift Trend könnte der zur indischen Tata Group gehörende Konzern direkte Zuschüsse oder einen Steuernachlass in Höhe von maximal 130 Millionen Euro bekommen. Doch einer der ausschlaggebenden Faktoren dürften die gut ausgebildeten und vergleichsweise günstigen Fachkräfte sein. In der Automobilindustrie liegt der Durchschnittslohn bei 1160 Euro (erstes Halbjahr 2015). Immer weniger Fachkräfte
Bei der jährlichen Konjunkturumfrage der Deutsch-Slowakischen Industrie- und Handelskammer (DSIHK) unter ausländischen Unternehmen in der Slowakei gehören die Arbeitskosten stets zu den am besten bewerteten Standortfaktoren. Positiv sehen die Manager auch die Produktivität und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer sowie deren Qualifikation. Größter Standortvorteil ist aus Sicht der befragten (meist deutschen) Unternehmen aber die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Kaum Bewegung gab es in den letzten Jahren bei den negativ bewerteten Faktoren. Dazu zählen die ausländischen Firmenvertreter die mangelnde Bekämpfung der Korruption, die geringe Transparenz öffentlicher Vergabeverfahren, Probleme mit der Rechtssicherheit und der schwierige Zugang zu EU-Fördermitteln. Immer häufiger wurde zuletzt auch die nachlassende Verfügbarkeit von Personal als Bremsklotz für die Entwicklung genannt. In den Boomregionen wie dem Hauptstadtbezirk ist es schon heute schwierig, Fachkräfte zu finden. Engpässe gibt es bei Informatikern, Elektrotechnikern, CNC-Maschinenfahrern oder Mechanikern. Gesucht werden außerdem Werksleiter mit Fremdsprachenkenntnissen, Controller und Qualitätsmanager.
Gleichzeitig sind aber trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs noch über 11 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Arbeit. Der Grund ist häufig eine zu geringe Qualifizierung oder fehlende Mobilität bei der Jobsuche. Oft entspricht die theorielastige Ausbildung nicht den modernen Anforderungen der Wirtschaft. Die Regierung des Landes führt deshalb ein duales Ausbildungssystem nach dem Vorbild der deutschsprachigen Länder ein. Seit dem Schuljahr 2015/16 können Berufsschulen und Unternehmen gemeinsam praxisorientierte Lehrberufe anbieten. Zu den Vorreitern gehören deutsche Investoren wie T-Systems, Volkswagen, Hella oder Vacuumschmelze. Das Interesse der Schüler war zum Start aber gering. Trotz 1440 angebotener Ausbildungsplätze schlossen nur 422 Lehrlinge einen Ausbildungsvertrag nach dem neuen System ab. Auf diesem Gebiet ist noch viel Überzeugungsarbeit nötig, um die Slowakei langfristig als attraktiven Investitionsstandort zu sichern.
Ohnehin schneidet das Land in internationalen Rankings längst nicht so gut ab, wie bei den ausländischen Unternehmen, die bereits vor Ort engagiert sind. Im Global Competitiveness Index des World Economic Forum rangiert die Slowakei 2015 nur auf Platz 67 von 140 untersuchten Volkswirtschaften. Das war zwar ein deutlicher Sprung nach vorn gegenüber dem Vorjahr (Platz 75). Doch die drei wichtigsten Wettbewerber innerhalb der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Ungarn) finden sich in der Tabelle durchweg weiter oben. Selbst vermeintlich schwierige Standorte wie Ruanda oder Kasachstan haben bessere Platzierungen erreicht. Die Autoren des Competitiveness Index kritisieren in der Slowakei vor allem Bürokratie und Korruption, die Steuererhebung und die restriktiven Regulierungen am Arbeitsmarkt. Bei den Themen wirtschaftliche Reife und Innovation belegt das Land nur einen Platz im Mittelfeld.
Besser bewertet der Doing Business Report der Weltbank die Slowakei. Die Studie untersucht die Standortbedingungen für Unternehmen und ordnet das Land 2015 auf Platz 37 von 189 Staaten ein. Damit liegt es vor Tschechien (44) und Ungarn (54). Allerdings hat auch die Weltbank einige Kritikpunkte. Sie betreffen vor allem die Vergabe von Baugenehmigungen (Platz 110), die Steuerpraxis (100) oder die komplizierten Prozesse bei der Gründung einer Firma (77).
Von der einst hoch gelobten Flat Tax ist heute nicht mehr viel übrig. Seitdem die sozialdemokratische Partei Smer-SD 2012 die absolute Mehrheit im Parlament errungen hat, lässt Regierungschef Robert Fico den einheitlichen Steuersatz aushöhlen. Zuerst wurden Besserverdienende zur Kasse gebeten. Sie müssen seit 2013 auf Einkommen, die 35.000 Euro im Jahr übersteigen, 25 Prozent Steuern zahlen. Für Unternehmen kletterte die Körperschaftsteuer 2013 auf 23 Prozent, bevor sie ein Jahr später wieder um einen Prozentpunkt gesenkt wurde. Schließlich führte die Regierung 2014 eine sogenannte Steuerlizenz ein. Diese Mindeststeuer von 480 bis 2.880 Euro müssen alle Unternehmen zahlen, unabhängig davon, ob sie Gewinne erzielen oder nicht. Außerdem wurden unter Premierminister Fico die Beitragsbemessungsgrenzen für die Sozialversicherungen erhöht und das Arbeitsrecht auf Druck der Gewerkschaften reformiert. Die Probezeiten haben sich verkürzt, Kündigungsfristen und Abfindungsregeln im Sinne der Arbeitnehmer wurden angepasst. Rentner fahren gratis Bahn
Skeptisch beäugt die Wirtschaftswelt auch die ständig neuen "Sozialpakete", die die sozialdemokratische Regierung mit Blick auf das Wählerklientel schnürt. Schließlich stehen im Frühjahr 2016 Parlamentswahlen an. Zu den umstrittenen Maßnahmen zählen kostenlose Bahnfahrten für Rentner, Schüler, Behinderte und Waisenkinder. Berufspendler bekommen staatliche Zuschüsse für Zeitkarten. Der Mindestlohn steigt 2016 von derzeit 380 Euro auf 405 Euro. Zu den weiteren Plänen gehören geringere Zuzahlungen für Medikamente, der Neubau von Grundschulen und die Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für einige Grundnahrungsmittel wie Fleisch und Brot.
Noch kann sich Bratislava diese Mehrausgaben leisten. Das Haushaltsdefizit soll 2016 auf unter zwei Prozent des BIP sinken (nach geplanten 2,7 Prozent Defizit für 2015). Bis 2018 will der Finanzminister sogar einen ausgeglichenen Etat vorlegen. Doch die Zukunftsfähigkeit der Slowakei sichern die "Sozialpakete" kaum. Denn während im Nachbarland Tschechien Themen wie Industrie 4.0 oder Forschung und Entwicklung längst auf der politischen Agenda stehen, verpasst Bratislava hier wichtige Trends.
Bei den Innovationen zeigt sich das besonders deutlich. Laut Eurostat gibt die Slowakei pro Jahr nur 0,8 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung aus (2013). Das ist deutlich weniger als der Durchschnitt der 28 EU-Mitglieder (2,0 Prozent). Alle Nachbarländer, mit denen der Transformationsstaat in direkter Konkurrenz steht, stecken mehr Geld in die Forschung: Polen 0,9 Prozent des BIP, Tschechien 1,9 Prozent und Ungarn 1,4 Prozent. Deutschland (2,9 Prozent) und Österreich (2,8 Prozent) spielen ohnehin in einer anderen Liga.
Als Volkswirtschaft, deren Wirtschaftsleistung zu fast einem Drittel in der Industrie entsteht, muss die Slowakei ihre Anstrengungen bei der Entwicklung innovativer Produkte aber erhöhen. Auch die Digitalisierung der Wertschöpfungsstufen unter dem Stichwort Industrie 4.0 darf sie dabei nicht vernachlässigen.
Die Wirtschaftspolitik hat bislang zu sehr auf die Ansiedlung reiner Produktionsstätten und auf die Schaffung von Arbeitsplätzen gesetzt. Doch solche Fabriken sind schnell demontierbar und wandern weiter, wenn der Lohndruck steigt. Das musste die Slowakei in jüngster Vergangenheit besonders in der Elektroindustrie erfahren. Panasonic, Emerson, Elektroconnect, Lenovo oder Leoni hatten Produktionsstätten geschlossen und diese nach Osteuropa oder Nordafrika verlegt. Das betraf vor allem die Montage von Fernsehgeräten, die zu den wichtigsten Exportgütern gehören. Erst langsam steuert die Regierung um und setzt bei der öffentlichen Förderung von Investitionsprojekten mehr Akzente auf Wertschöpfung. Seit 2015 können 25 Prozent der Ausgaben für die Entwicklung innovativer Produkte die Steuerbasis noch einmal zusätzlich verringern. Daneben wirken sich weitere 25 Prozent der Lohnkosten für Absolventen, die extra für Forschungsarbeiten eingestellt werden, steuermindernd aus.
Tabelle 1: Ausländische Direktinvestitionen nach Regionen, Bestand zum Jahresende 2012 (in Mio. Euro)
In Übereinstimmung mit den EU-Regelungen bekommen Unternehmen auf Antrag auch direkte Zuschüsse und Steuererleichterungen für Forschungsarbeiten. Die maximale Förderung beträgt dabei 15 Millionen Euro pro Firma und Projekt bei experimenteller Forschung (höchstens 25 Prozent der Gesamtkosten); 20 Millionen Euro für industrielle Forschung (höchstens 50 Prozent der Gesamtkosten) und 40 Millionen Euro für Grundlagenforschung (bis zu 100 Prozent der Gesamtkosten). Für kleinere Unternehmen können die Fördersätze in Ausnahmefällen auch höher liegen.
Grundsätzlich hat die Slowakei vier Bereiche definiert, in die öffentliche Investitionsförderung vorrangig fließen soll: verarbeitende Industrie, Technologiezentren, Shared Service Center (SSC) und Tourismus. Rückgrat der Industrie bleibt aber trotz aller Bestrebungen zur Diversifizierung die Automobilbranche. In den drei großen Fabriken von Volkswagen (Bratislava), PSA Peugeot Citroën (Trnava, deutsch Tyrnau) und Kia (Žilina) laufen jährlich rund eine Million Fahrzeuge vom Band. Pro Kopf gerechnet ist die Slowakei das Land mit dem größten Pkw-Ausstoß weltweit. Je 1000 Einwohner wurden im letzten Jahr 183 Fahrzeuge produziert. Im Umfeld der Werke sind nach Angaben des Verbands der Automobilindustrie ZAP SR bereits über 320 Hersteller von Kfz-Teilen tätig. Abhängig vom Fahrzeugbau
Schon jetzt entfällt über ein Viertel der slowakischen Ausfuhren auf Produkte des Fahrzeugbaus. Die Branche trägt mit rund zwölf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, deutlich mehr als im Nachbarland Tschechien (sieben Prozent). Mit 80.000 Beschäftigten sind die Kfz-Hersteller und ihre Zulieferer ein wichtiger Arbeitgeber. Wenn Jaguar Land Rover seine Fabrik bei Nitra errichtet, rückt das Tatra- und Donauland endgültig in die Reihe der großen Automobilnationen vor. Mit einer Fahrzeugproduktion von künftig 1,3 Millionen Einheiten pro Jahr würde die Slowakei dann sogar das fast doppelt so große Nachbarland Tschechien hinter sich lassen. Im Osten Europas hätte nur noch Russland eine größere Fahrzeugindustrie. Allerdings steigt auch die Abhängigkeit von der Fahrzeugbranche weiter. Nach Berechnungen der slowakischen Nationalbank würden zwischen 2018 und 2021 rund 0,6 Prozentpunkte des Wirtschaftswachstums allein auf die Großinvestition von Jaguar entfallen.
Zudem wird diese Investition das starke West-Ost-Gefälle in der Slowakei zementieren. Bis jetzt sind die westlichen Landesteile wirtschaftlich viel stärker als der Osten des Landes. Fast 70 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen sind in den Bezirk Bratislava geflossen, der laut Eurostat die sechstreichste Region in Europa ist. Seine Wirtschaftskraft pro Kopf lag 2013 um 84 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Mit 49.000 Euro BIP (in Kaufkraftstandards) erwirtschaftet ein Bewohner der slowakischen Hauptstadt und ihres Umlands mehr als einer in so reichen Regionen wie Paris, Oberbayern oder Wien. Dagegen kommt die Ostslowakei nur auf 13.800 Euro und die Zentralslowakei auf 15.900 Euro.
Das Gefälle drückt sich auch in der Arbeitslosenstatistik aus. So verzeichnete Bratislava im August 2015 mit sechs Prozent Arbeitslosigkeit nahezu Vollbeschäftigung. In den Bezirken Košice und Prešov, die an die Ukraine grenzen, waren 15 bis 16 Prozent der Erwerbsfähigen als arbeitslos registriert, ebenso in der Region Banská Bystrica an der Grenze zu Ungarn. Dort sucht in manchen Kreisen wie Rimavská Sobota oder Revúca offiziell sogar jeder Vierte einen Job. Entsprechend groß ist die Lohnspreizung. Arbeitnehmer verdienen laut Statistikamt im Bezirk Bratislava 30 bis 40 Prozent mehr als in anderen Bezirken. Die Hauptstadt war 2014 die einzige Region mit einem Durchschnittslohn von über 1.000 Euro (1.110 Euro). Dagegen betrugen die Gehälter im Bezirk Prešov nur rund 660 Euro.
Doch trotz der günstigen Löhne und besseren Verfügbarkeit von Arbeitskräften bleibt die Magnetwirkung der Ostslowakei bislang aus. Wichtigster Grund ist die schlechte Verkehrsanbindung. Züge zwischen Bratislava und Košice sind mindestens fünf Stunden unterwegs. Für Autos und Lkw gibt es keine durchgehende Autobahn. An der lebenswichtigen Verkehrsader D1 wird seit über 40 Jahren gebaut, doch immer noch fehlen große Teilabschnitte östlich von Žilina (Sillein). Rund 70 Kilometer sind derzeit nach Angaben der zuständigen Autobahngesellschaft NDS in Bau. Jede Übergabe einer Neubaustrecke wird in der slowakischen Presse frenetisch gefeiert. Dank einer effizienteren Ausschöpfung der EU-Mittel für den Straßenbau will die Regierung die Bauarbeiten nun beschleunigen. Bis 2019 sollen die beiden wichtigsten Städte des Landes per Autobahn miteinander verbunden sein. IT-Valley im Osten
Ein Zukunftssektor, der weniger Betonpisten, und dafür eher eine Datenautobahn benötigt, hat sich im Osten des Landes schon jetzt etabliert: die IT-Branche. Košice ist zu einem kleinen Silicon Valley geworden. Bekannte internationale Branchengrößen beschäftigen dort bereits über 6.000 Software-Experten. Bis 2020 soll ihre Zahl auf 10.000 steigen. Microsoft, Cisco, IBM und Siemens sind präsent. Daneben haben sich interessante einheimische Startups angesiedelt. Zu ihnen gehören Games Farm, Inlogic Software oder Awaboom, die weltweit die Computerspielszene aufmischen. Erst dieses Jahr hatte der US-Riese GlobalLogic den Aufbau eines Entwicklungszentrums für ganz Mitteleuropa in der ostslowakischen Großstadt bekannt gegeben. 500 Beschäftigte sollen dort Mobilfunk-Apps programmieren.
Mehr als die Hälfte der Mitarbeiter in Košices Hightech-Branche sind bei deutschen Unternehmen beschäftigt. Allein bei T-Systems arbeiten etwa 3200 Fachkräfte. Sie betreuen die Netzwerke internationaler Kunden, entwickeln Software oder betreiben Telekommunikationsanlagen für den Mutterkonzern, zum Beispiel Firewalls. Schon seit 1995 lässt der Siemens-Konzern in Košice Software für Computertomografen, Ultraschall- oder Röntgengeräte entwickeln. Er hat dort ein Entwicklungszentrum für Medizintechnik aufgebaut.
Wichtigste Gründe für den Gang nach Osten sind das Fachkräftepotenzial und die Kostenvorteile. Während ein Programmierer in Bratislava laut Statistikamt durchschnittlich 2.200 Euro pro Monat verdient, bekommt sein Kollege in Košice nur 1.500 Euro. Noch größer ist der Gehaltsunterschied zu Deutschland, was das ostslowakische IT-Valley zunehmend interessant macht für die Auslagerung von Programmierarbeiten und anderen IT-Prozessen. Die deutschen Manager vor Ort schätzen außerdem die Netzinfrastruktur, die nach ihren Aussagen auf dem neuesten Stand sei. Breitbandanschlüsse bis ins letzte Haus und Datentransfers ohne Limits in alle Welt sprechen für Košice.
Solche Erfolgsgeschichten über die regionale und sektorale Ausdifferenzierung braucht die Slowakei, um sich für die Zukunft zu wappnen. Denn wie gefährlich die Abhängigkeit von wenigen starken Wirtschaftszweigen sein kann, zeigen die Sorgen um die aktuelle VW-Abgasaffäre. Sollte der Skandal den Volkswagen-Konzern in Schräglage bringen, so hätte das direkte Auswirkungen auf das Werk in Bratislava und die zahlreichen slowakischen Zulieferer der Wolfsburger. Investitionen würden gestrafft, Arbeitsplätze stünden zur Disposition, der Aufschwung wäre in Gefahr.
Dennoch steht das Land inzwischen weitaus besser da als zum Start seiner Transformationsperiode. Die Slowakei ist heute ein wettbewerbsfähiger Standort, der weltweit gefragte Güter wie Autos, Elektronik, Software, Möbel, Metallprodukte oder Kunststoffe produziert. Und anders als zu Beginn der 1990er Jahre hat Bratislava mit Brüssel einen potenten Geldgeber für den weiteren Umbau der Volkswirtschaft an der Seite. Allein im aktuellen Förderzeitraum 2014 bis 2020 stehen über 15 Milliarden Euro aus EU-Fonds bereit. Vorausgesetzt, die Abschöpfung gelingt dieses Mal effizienter als in den abgelaufenen Perioden. Nutzt die Slowakei diese Chance, dann wird sie ihre wirtschaftliche Erfolgsgeschichte fortschreiben und die Schatten der Vergangenheit endgültig hinter sich lassen.
Tabelle 1: Ausländische Direktinvestitionen nach Regionen, Bestand zum Jahresende 2012 (in Mio. Euro)
Gerechnet in Kaufkraftstandards (PPS), Vergleichsbasis ist die Wirtschaftsleistung der heutigen 28 EU-Länder (=100). Vgl. Eurostat, Externer Link: http://ec.europa.eu/eurostat (2.10.2015).
Vgl. Alice Teichova, Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1918–1980, Wien u.a. 1988, S. 85.
Vgl. Karol Morvay et al., Transformácia ekonomiky: Skúsenosti Slovenska (Wirtschaftstransformation: Erfahrungen der Slowakei), Bratislava 2005, S. 274ff.
Die Tschechoslowakei entschied sich bei der Privatisierung vieler "volkseigener" Betriebe für eine Couponverteilung. Jeder Bürger bekam gegen Gebühr ein Couponheft mit Investitionspunkten, über die Anteile an Staatsfirmen erworben werden konnten. Die meisten Menschen übertrugen ihr Punkteheft den für diesen Zweck entstandenen Privatisierungsfonds und wurden so zum Fondsteilhaber. Problem der Couponprivatisierung war, dass Eigentum quasi verschenkt wurde, ohne frisches Kapital in die Unternehmen zu führen.
Vgl. Eleonora Schneider, Quo vadis, Slowakei? Von der eingeleiteten Demokratie zum Autoritarismus?, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 36/1997.
Vgl. Statistisches Bundesamt, www-genesis.destatis.de (29.9.2015).
Vgl. ebd.
Vgl. Prognos, Die Bedeutung der deutschen Industrie für Europa, Studie im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, München, April 2014.
Vgl. Slowakische Nationalbank NBS, Externer Link: http://www.nbs.sk, berechnet nach der neuen Methode BPM6 (6.10.2015).
Vgl. Deutsche Bundesbank, Bestandserhebung über Direktinvestitionen, Statistische Sonderveröffentlichung 10, April 2015, Externer Link: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Veroeffentlichungen/Statistische_Sonderveroeffentlichungen/Statso_10/2015.pdf?__blob=publicationFile (20.10.2015).
Vgl. Čo prináša Jaguar Land Rover (Was bringt Jaguar Land Rover), in: Trend vom 20.8.2015, S. 20.
Vgl. Statistikamt der Slowakischen Republik, Datenbank Slovstat, Externer Link: http://www.statistics.sk (7.10.2015).
Vgl. Stimmungsumfrage 2015 bei europäischen Investoren in der Slowakei, Bratislava, März 2015, Externer Link: http://www.dsihk.sk/fileadmin/ahk_slowakei/Dokumente/Presse/Ergebnisse_Konjunkturumfrage_2015.pdf (20.10.2015).
Vgl. Firmy budú musieť viac lákať deviatakov (Firmen müssen mehr Neuntklässler anwerben), Tageszeitung Pravda, 27.9.2015, Externer Link: http://spravy.pravda.sk (7.10.2015).
Vgl. World Economic Forum, The Global Competitiveness Report 2015–2016, Externer Link: http://reports.weforum.org/global-competitiveness-report-2015-2016 (20.10.2015).
Vgl. World Bank Group, Doing Business 2015, Externer Link: http://www.doingbusiness.org/rankings (20.10.2015).
Vgl. Germany Trade & Invest, Nationale Investitionsförderung – Slowakei, 1.6.2015, http://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/nat-investitionsfoerderung,t=nationale-investitionsfoerderung–slowakei,did=1251408.html (12.10.2015).
Vgl. Slovensko je i přes pokles největším výrobcem automobilů na hlavu (Die Slowakei ist trotz Rückgangs der größte Automobilhersteller pro Kopf), Meldung der Nachrichtenagentur ČTK vom 11.8.2015.
Vgl. Mittelfristige Prognose der slowakischen Nationalbank, 29.9.2015, Externer Link: http://www.nbs.sk/_img/Documents/_Publikacie/PREDIK/2015/protected/P3Q-2015.pdf (20.10.2015).
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ausgedrückt in Kaufkraftstandards, vgl. Eurostat Newsrelease 90/2015, 21.5.2015, Externer Link: http://ec.europa.eu/eurostat/web/products-press-releases/-/1-21052015-AP (20.10.2015).
Vgl. ebd.
| Article | , Gerit Schulze | 2022-03-01T00:00:00 | 2015-11-09T00:00:00 | 2022-03-01T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/215184/dank-autobranche-im-turbomodus-die-slowakische-wirtschaft/ | Trotz schwieriger Startbedingungen hat die kleine Republik zwischen Donau und Tatra in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte abgeliefert. Für deutsche Exporteure ist dieser Markt heute wichtiger als Indien oder Brasi | [
"Visegrad 4 Länder Gruppe",
"Automobilindustrie",
"Flat Tax",
"Transformationsprozess",
"Investitionsprogramm",
"Direktinvestitionen",
"Fachkräftemangel",
"IT-Industrie",
"Slowakei"
] | 266 |
"Rendezvous with a Spy" | The Celluloid Curtain | bpb.de | At the beginning we see the sea, a submarine, a lot of strenuous work - a mysterious man flies into Poland in a hot-air balloon. Upon landing he coldly kills the first witness to his arrival. However the Polish security services have already noted his infiltration and set their best agents after him, and so the chase begins. The spy goes his own way, his pursuers get ever close because the clever military intelligence know how to make use of the most modern technology... Rendezvous with a Spy / Spotkanie ze szpiegiem is a straightforward Cold War spy story: a black-and-white struggle between today and yesterday, between good and evil. It's clear from the outset that good will triumph. But, given the way this film is constructed, we're left guessing how this end will in fact be achieved. The nub of the problem is this: the political and moral stance that the film takes is quite unambiguous, but its actual quality as a film is much harder to assess. There are times when it´s embarrassingly crude, others where it's very stylish; at several points it's pure trash, then it redeems itself with some fine passages of high suspense. So we're not in any way talking here about a conventionally 'good' film. Moreover, with the benefit of hindsight we can see more clearly the context in which this film was made and gain more insight into why it was made the way it was, something that would have been impossible for the Polish film-goer back in the 1960s. And, of course, it's precisely this kind of perspective that makes cinema history so fascinating.
About the MovieRendezvous with a Spy
Original Title: Spotkanie ze szpiegiem Poland 1964, 105 min., subtitles Director: Jan Batory Cast: Ignacy Machowski, Beata Tyszkiewicz, Stanislaw Mikulski et al.
A submarine surfaces off Poland's Baltic coast; a man disembarks, then uses a hot-air balloon to fly into Polish territory. He lands in thick woodland and buries the equipment that he will need for his escape when the mission is over. As he does this, he's being watched by an obviously harmless and slow-witted forest worker, who, as an unwanted witness, is immediately and unceremoniously killed. Although the spy's submarine has been detected by the Security Services, who have despatched a search party to track him down, he nonetheless manages to make it to the Polish capital, Warsaw. The city is a network of go-betweens of both sexes, of traitors to socialism, all just waiting for the chance to make contact with him: in modern parlance, it's a nest of 'sleepers'. Coded radio messages are broadcast, dead letter boxes set up, secret meetings arranged and information is gathered about military installations. At times, it's not clear exactly what is being spied on and to what exact end; but what is obvious is that the espionage is directed against the creation of a socialist state in Poland and against its intrinsic values of peaceful co-existence and compassion. And we know from the opening moments of the film, that the spy will ruthlessly murder people without a second thought. After some confusing to-ing and fro-ing, the action culminates in a long car chase, during which several people are killed. However, the villain is finally captured and brought to book, to get the punishment he deserves.
The structure of the film is simple: from the very beginning, there's a series of 'parallel images'... here the enemy, there the defenders of the state. Before the spy (whose name is Bernard) even appears off the Baltic coast, there's a scene with frontier guards dutifully patrolling the beach. Although this is apparently just a minor detail, it's nonetheless an important one, because it reminds the cinema audience that the 'organs of the state' are always on the watch for threats to its existence. They don't merely react to such threats as and when they appear, they´re always ready to take the initiative, to be proactive. Prevention is their priority. Bernard is cunning, professional and above all, cold-blooded; so he makes his way relatively quickly to Warsaw, to the heart of socialist Poland. But, from the moment he penetrated the border, he's been 'on the radar' of the counter-espionage forces. Their machines hum smoothly in their hi-tech headquarters: direction-finders and radar installations allow operatives to pass on brisk commands and to put a rapid stop to his 'foul trade'. That he isn't hunted down even more quickly, is solely due to the good-natured innocence of ordinary Polish citizens, unused as they are to the brutal methods he employs.
The dramatic impact of the events in the film, the slip-ups and the obstacles, which get in the way of his speedy capture, are all extremely important: without the tension they create, the conflict would be too quickly resolved, and the film would lack an essential action and reaction. So a relatively large part of the storyline focuses on secondary characters, on conspirators and investigators and on their interactions. Only in the final third of the film do these disparate storylines come together: the hostile secret agent and his government pursuers finally meet. The confrontation is played out in a long and tense car chase; and in the final showdown Bernard is trapped and arrested.
Rendezvous with a Spy was filmed in collaboration with the Polish National Military Academy and the Ministries of Defence and of the Interior. As a result, the film is not so much an adventure film about espionage, it is a military-political polemic, written with first-hand knowledge of all that was involved. And we should not forget that, after 1945, Poland was to a large extent a 'synthetic', and hence a fragile, construct. Following the Tehran, Yalta and Potsdam Conferences, Poland was, in effect, moved several hundred kilometres to the west; and millions of people were likewise pushed westwards from the former German provinces of Pomerania and Silesia to be forcibly resettled in what became the separate states of West and East Germany. Even after the wartime Polish Government-in-Exile was driven out of power in the mid-40s and the Russian puppet régime, led by Bolesław Bierut had been installed, scattered units of the anti-communist "Armia Krajowa" (Homeland Army) continued their resistance activity and held out well into the 1950s. For Poles, this was an experience tantamount to civil war: and it was the startling if ambivalent theme of Andrzej Wajda´s film Ashes and Diamonds / Popioł i Diament (1958). On the other hand, after Stalin's death in March 1953, Polish society gradually underwent a political and cultural awakening. In 1956, as Bolesław Bierut, the Stalinist Prime Minister, was listening to Nikita Krushchev's celebrated secret speech (denouncing Stalin) at the 20th Congress of the Soviet Communist Party, he suffered a fatal heart attack. In the Autumn of that year, Władysław Gomułka emerged as the new First Secretary of the Polish communist party: in the post-war era, Gomułka had been the architect of the communist takeover in Poland and later the victim of a purge that saw him expelled from the party and imprisoned. But he now set about an extensive programme of reform and liberalisation, and this development was reflected particularly in the cinema. The "Polish New Wave" became the talk of the cinematic world, with directors like Wajda, his acolyte Roman Polanski, and many others such as Jerzy Skolimowski, Andrzej Munk and Wojciech Has at the forefront. So, from both the aesthetic as well as the thematic point of view, Rendezvous with a Spy is a distinct anachronism in the way it clings doggedly to the old party-political line.
Jan Batory (1921-1981) first made his name as a fine director of action movies and children's films; he was apparently without any particular artistic or political ambitions. Perhaps the best one can say of him is that he was a professional at his trade, an opportunist who did what he was asked to the best of his ability. In 1955, for example, he made Mountains on Fire / Podhale w Ogniu, an adventure story about the 17th-century peasants' revolt in the Podhale Mountains; Karino (1976) is a children's film about girls and their horses, whilst The Scent of a Dog's Coat / Zapach Psiej Sierści (1981) is about a gang of drug-dealing criminals on the Black Sea. His most durable film before Rendezvous with a Spy was the surreal fairy tale The Two Children Who Stole the Moon / O dwóch takich, co ukradli księżyc (1962), which starred the 12-year old Kaczinski twins, Lech and Jarosław, who later became much more famous as President and Prime Minister respectively of post-Communist Poland.
In casting Rendezvous with a Spy, Batory relied on a number of tried and tested popular actors of the period, who in turn could draw on an extensive fan base. The role of the anti-hero of the title is taken by Ignacy Machowski (1920-2001), a well-known theatre and TV actor, who appeared in more than 50 films, amongst them Wajda's Ashes and Diamonds. He was also in the cast of the East German film The Silent Star / Der Schweigende Stern (DEFA, 1960).
His contact in Warsaw is the beautiful Beata Tyszkiewicz (born 1938), who starred in countless Polish film and TV dramas, amongst the best being Andrzej Wajda's Everything´s for Sale/ Wszystko na sprzedaż (1968), Wojciech Has' The Saragossa Manuscript / Rękopis znaleziony w Saragossie (1964), and Juliusz Machulski's Sex Mission / Seksmisja (1984). She also made a number of films for Siegfried Kühn in East Germany, including The Elective Affinities (also known as Kindred by Choice, Die Wahlverwandtschaften, DEFA, 1974).
But the real star of this film is Stanisław Mikulski (born 1929), who is best known in his home country (as well as to former East German TV viewers) as Captain Hans Kloss in the TV series Playing for High Stakes / Stawka większa niż życie. There's a curious point about his part, that of the spymaster Baczny: Batory has him killed by the spy, Bernard, in the final car chase. Up to this moment, he's been cast as Bernard's opponent, his nemesis, so his death before he's even able to carry out the arrest of the villain goes against all the rules of the spy-film. And the manner of his going doesn't make much dramatic sense either. We see his car crash down a hillside into a valley. Flames engulf the wreck, but contrary to what we would expect in such a situation, he doesn't clamber out of the burning wreckage. For him, the hunt is over, and the spy is captured by another, hitherto unknown, security official.
So Rendezvous with a Spy is in no way a forgotten masterpiece; it's not a "missing link" of film history, it's no cinematic fifth column, surreptitiously sneaking subversive ideas into the socialist mainstream of Polish culture under the guise of a conventional spy story. But, as in the case of many other similar films, there are exciting subtexts and contexts, which have crept almost unintentionally into an otherwise rather average piece of work. But it's perhaps only today, many years later, that we are able to see this. Batory made a conscious decision to shoot much of the film on location. He also uses a number of interesting locations as backdrops for key scenes, such as parts of war-damaged Warsaw still under reconstruction, for example, the cluster of ruins around the then recently erected, and notorious, Stalinist Palace of Culture; and he features rural scenes in charming, old-fashioned villages. There are also some fascinating shots of queues outside food shops and of crowded snack-bars.
It's very important for us today, as we look back over socialist realist cinema, to assess not just the acknowledged masterpieces, but also the pot-boilers and sometimes even the really bad films, as these are by far the majority. They mirror at several levels long-neglected aspects of contemporary social life; and their inclusion in our historical analysis of that life can only help us to understand it better. This series of films that makes up "The Celluloid Curtain" is an important contribution to that understanding.
Original Title: Spotkanie ze szpiegiem Poland 1964, 105 min., subtitles Director: Jan Batory Cast: Ignacy Machowski, Beata Tyszkiewicz, Stanislaw Mikulski et al.
| Article | Claus Löser | 2022-01-26T00:00:00 | 2012-02-14T00:00:00 | 2022-01-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/63178/rendezvous-with-a-spy/ | The sea, a submarine, suspicious goings-on in the half-light...a mysterious man flies into Poland in a balloon. But his incursion has been watched by the Polish security service: the hunt begins. | [
"Film",
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"ideology",
"pop culture",
"Propaganda"
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Wider die Vernunft | Deutschland Archiv | bpb.de | I.
Nirgendwo sonst liegen Wesen und Denken der SED-Diktatur so hüllenlos offen wie in ihrer eigenen Sprache. Besonders in jenen Dokumenten, die niemals dazu bestimmt waren, öffentlich bekannt zu werden, tritt uns dieses kommunistische Regime am authentischsten entgegen. Deshalb genügen 13 Seiten, die Essenz von 70 Minuten Besprechung an einem Dienstag im Sommer 1973, um einen geradezu intimen Einblick in die bewussten wie unbewussten Wahrnehmungen und Gedanken der Eliten des SED-Staates zu erhalten. Dazu muss man sie lediglich buchstäblich beim Wort nehmen.
Als "Geheime Verschlusssache des MfS Nummer 005–725/73" eingestuft, entstand an jenem 24. Juli 1973 die fast stenographische Niederschrift eines Treffens von
Elf Jahre später: Friedrich Dickel (r.), Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei, wurde am 3.10.1984 von Erich Honecker (2.v.l.) zum Armeegeneral befördert. Zugleich wurden die Minister für Staatssicherheit Erich Mielke (2.v.r.) und für Verteidigung Heinz Hoffmann (3.v.r.) mit dem Scharnhorst-Orden ausgezeichnet. Die Urkunde verliest Hoffmann-Stellvertreter Fritz Streletz (l.). Der Zeremonie wohnt auch Egon Krenz bei, der für Sicherheitsfragen zuständige Sekretär des SED-Zentralkomitees (3.v.l.). (© Bundesarchiv, Bild 183-1984-1003-021, Foto: Rainer Mittelstädt)
Staatssicherheits-minister Erich Mielke, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann und Innenminister Friedrich Dickel. Obwohl der Kernsatz dieses Protokolls bereits 1997, im Zuge des sogenannten Politbüro-Verfahrens, Erwähnung fand und seither mehrfach zitiert worden ist, blieb die Quelle insgesamt bislang im Prozess der wissenschaftlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur unberücksichtigt. Dabei geht ihr Gehalt über die bloße Erwähnung des "Schießbefehls", eines Wortes, das wie kaum ein anderes für das unerträgliche Unrecht und seine Realität in der deutsch-deutschen Geschichte stand und steht, weit hinaus. Gegenstand des Ministertreffens war die finale Abstimmung der "bewaffneten Organe" im Vorfeld der vier Tage später beginnenden X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin. Zum zweiten Mal war die "Hauptstadt der DDR" Austragungsort dieses kommunistischen Spektakels, des "Roten Woodstock". Aber anders als noch 1951 fanden die Spiele dieses Mal vor dem Hintergrund einer konsolidierten Innen- und nunmehr auch vom Westen anerkannten Außenpolitik statt. Erich Honecker stand seit gut zwei Jahren an der Spitze von Partei und Staat. Man befand sich in einer der stabilsten wirtschaftlichen Phasen. Es war die Zeit zwischen der Ratifizierung des Grundlagenvertrages und dem geplanten Beitritt zu den Vereinten Nationen. Gerade die Assoziation von Jugend und Studenten mit Modernität, Kreativität und Innovation war die propagandistisch willkommene und ideologisch gemäße Folie, vor der sich der SED-Staat darstellen wollte. Es ging darum die DDR und den Sozialismus als die modernere, kreativere, innovativere und nicht zuletzt attraktivere Alternative zu präsentieren. Mehr als 250.000 Teilnehmer wurden erwartet, darunter 25.000 ausländische Gäste, auch aus der Bundesrepublik, Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Das Motto von "Frieden, Freundschaft und antiimperialistischer Solidarität", für die man einstehen wollte, kaschierte den harten politischen Kern dieser weich daherkommenden Veranstaltung dann auch nur in Maßen. Die Bedeutung der Weltfestspiele für das SED-Regime, als Plattform der internationalen und nationalen Präsentation der Staat gewordenen Errungenschaften des Sozialismus lässt sich beispielsweise daran ermessen, dass die noch unmittelbar aus ihrer diplomatischen Isolation heraustretende DDR den Rahmen des Sommers 1973 nutzte und – als erstes Land in Europa – den Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Jassir Arafat, als Gast der Weltfestspiele empfing. In der Folge wurde ein weitreichendes Abkommen unterzeichnet, das unter anderem die Eröffnung eines Vertretungsbüros der PLO in Ost-Berlin zuließ. Symbolischer und politisch unverfänglicher konnte die SED das notwendige Abgrenzungsprimat nach dem Grundlagenvertrag und der Annäherung mit der Bundesrepublik bei gleichzeitiger antizionistischer, antiimperialistischer und israelfeindlicher Doktrin nicht zelebrieren, geschah dies doch nur zehn Monate nach dem von palästinensischen Extremisten der Fatah-Organisation verübten Anschlags auf die israelische Olympiamannschaft in München und sechs Wochen nach dem ersten Besuch eines Bundeskanzlers in Israel. Auch der Tod von Walter Ulbricht, vier Tage nach der Eröffnung der Weltfestspiele, vermochte es nicht, einen kurzzeitigen oder gar kompletten Abbruch dieser politischen Manifestation herbeizuführen. Die Echtheit seines "Wunsches", wonach die Spiele auch nach seinem Ableben ausdrücklich fortgesetzt werden sollten, muss vor dem Hintergrund des tiefen Zerwürfnisses zwischen ihm und der SED-Führung nach seinem erzwungenen Rücktritt in Abrede gestellt werden. Die ganze Tragweite der Weltfestspiele für die DDR lässt sich aber auch auf der nicht-öffentlichen Ebene ermessen, das heißt: am Umfang und an der Intensität, mit der die "bewaffneten Organe" im Hintergrund agierten. Längst ist bekannt, mit welcher Akribie und welchem quantitativen Umfang Ministerium für Staatssicherheit (MfS), Nationale Volksarmee (NVA) und Volkspolizei dabei vorgegangen sind. Unter der Bezeichnung "Aktion Banner" firmierend – eine Wortwahl, die den fast national-heroisch anmutenden Rang der Sache unterstrich – arbeitete und koordinierte das MfS dabei seit Ende 1972 alle relevanten Aspekte rund um die "Absicherung" der Weltfestspiele. Dabei wurden zwischen Januar und Juli 1973 mehr als 9.000 Ermittlungsverfahren gegen "feindlich-negative Personen" eingeleitet, die durch ihr "asoziales Verhalten" die "öffentliche Ordnung gefährdeten". Unmittelbar vor dem Beginn der Weltfestspiele wurden rund 900 "kriminelle Gruppen zerschlagen" und über 1.800 Personen in Haft genommen. Die Führung des Regimes nutzte die Gunst der Stunde "zu einem allgemeinen Großreinemachen". II.
Plakat der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin 1973. (© Bundesarchiv, Plak 100-052-030)
Im Zusammenhang mit dem bemerkenswert spät, erst im Juni 1973, verabschiedeten "Plan der Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit während der X. Weltfestspiele", stand auch die Sitzung am 24. Juli 1973. Erich Mielke hatte in die Normannenstraße eingeladen, um "eine Reihe vordringlicher Hauptaufgaben, die entsprechend dem Gesamtplan der Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit während der X. Weltfestspiele besonders in den Vordergrund zu stellen" waren, zu erläutern. In seinen beiden ersten Punkten ging der "Genosse Minister" dabei auf "feindliche Pläne" und die "Broschüren der Jungen Union" ein: "Wir haben", so Mielke, "jetzt den Überblick über die feindlichen Pläne und sind im Besitz der Broschüren [...]. Trotzdem bleibt eine unbekannte Größe: die Konkretheit der feindlichen Pläne und Absichten, d. h. die Termine, die Örtlichkeiten usw. für feindliche Handlungen. [...] Es ist unsere Aufgabe, alle Informationen zu erhalten, einzuschätzen, um Maßnahmen rechtzeitig einleiten zu können [...,] was sie vorhaben, wie sie das machen wollen". Außerdem sei "aus den Broschüren [...] zu erkennen, welche Taktik sie einschlagen wollen. Sie haben alle Festivale [sic!] analysiert, was los war, was geschah, wie auch die Armee reagierte usw. Sie haben eine ganze Guerilla-Taktik beschrieben. [...] Sie wollen den öffentlichen Diskussionen ausweichen, gewissermaßen aus der Kontrolle des offiziellen Veranstalters heraus". (73–75) Ausgehend von dieser Bedrohungsperzeption umriss Mielke das Spannungsfeld, indem sich die "bewaffneten Organe" bewegten: "Alle Maßnahmen gegen diese Kräfte müssen der festgelegten Generallinie entsprechen; keinen Einsatz von unseren Kräften nötig werden lassen, um zu verhindern, dass sich daraus Weiterungen ergeben. Zum Beispiel durch den Einsatz des Zentralen Musikorchesters, von FDJ-Gruppen usw., also mit allen möglichen politischen Mitteln arbeiten, um dieser Sache, den Plänen der Jungen Union und ähnlichen, zu begegnen. Daraus ergibt sich auch, auf alle Kräfte, auch die Kräfte der NVA, durch die entsprechende Instruierung über die Kommandeure einzuwirken, damit die festgelegte politische Linie verstanden und eingehalten wird. Man muss sie richtig einweisen, damit sie sich richtig verhalten. [...] Nur wenn große Störungen verursacht werden, holen wir uns natürlich dann auch die Erlaubnis zum Eingreifen. Durch die notwendige Großzügigkeit in der Meinungsfreiheit können unsere jungen Soldaten und Volkspolizisten in eine komplizierte Lage geraten, zu entscheiden (wie sie sich verhalten sollen)." (74) Weiter heißt es: "Es gibt bereits Vorkommnisse, wo Teilnehmer, Delegierte, mit feindlichen Elementen in Berührung gekommen sind. Man muss alle Kräfte aufklären und immun machen gegen solche Gefahren. Auch unsere eigenen Genossen müssen wir auf diese Gefahren aufmerksam machen, damit sie sich selbst schützen [...]. Solche Kontaktversuche feindlicher Kräfte zu erkennen, ist für manche nicht leicht, weil sie sich unter dem Deckmantel der Freundschaft – gerade jetzt zu den Weltfestspielen – tarnen und anbiedern können. Wir werden alle Vorkommnisse registrieren, wenn wir jetzt auch nichts machen können." (76f) Ergänzend bemerkte Innenminister Dickel: "Auch die Frage der Freizügigkeit der Meinung usw. wurde in den Einweisungen berücksichtigt, die Kräfte daraufhin orientiert. Der Volkspolizist hat eine bestimmte Ausbildung und auch politische Auffassung und versucht das zu tun, was man ihm bisher beigebracht hat. Das ist äußerst bedeutsam." (82) III.
Was Mielke und Dickel hier zum Ausdruck bringen, umschreibt die zentrale Herausforderung vor die die Weltfestspiele das SED-Regime stellten: Die Suggestion einer pluralistischen offenen Gesellschaft bei gleichzeitiger unverminderter Kontrolle und Verfolgung von Kritik am Sozialismus und der DDR. Der Rahmen der Spiele bedingte eben nicht nur das Handlungsprimat des Vorbehalts für die Vorgehensweise der "bewaffneten Organe", das heißt, eine dem politischen Gebot des Augenblicks gehorchende Domestizierung des Repressions- und Verfolgungsapparates im Hinblick auf die Schwelle des noch zu duldenden Ausdrucks freier Meinung. Es bedeutet vielmehr auch eine selbstauferlegte Zurückhaltung in der Verfolgung und Ahndung. Denn allein die Anwesenheit ausländischer Teilnehmer und internationaler Korrespondenten, aber ganz besonders die durch Ost-Berlin initiierte umfassende mediale Berichterstattung ließen Repressivmaßnahmen nur um den Preis eines katastrophalen Ansehensverlustes zu. Sowohl der Umstand von zu billigender freier Meinung per se als auch die gebotene Sensibilisierung des einfachen Soldaten und Volkspolizisten dafür, dass sein ausgebildetes, gewohnheitsmäßiges Vorgehen inopportun sein konnte – er also nicht zu großzügig in der Billigung freier Meinung werden durfte, aber eben auch nicht zu restriktiv –, waren der Kern der "festgelegten Generallinie" während der Weltfestspiele. Wenn Mielke erklärt, dass die "notwendige Großzügigkeit in der Meinungsfreiheit" eine politische Entscheidung sei, die es zu "instruieren" gelte, dass "Weiterungen" im Vorgehen unbedingt zu verhindern seien und Vorkommnisse "nur registriert" werden sollten, weil "wir jetzt nichts machen können", dann ist dies eine desaströse Selbstoffenbarung. Nicht nur das Faktum an sich, dass die Meinungsfreiheit erst während der Weltfestspiele "großzügig" erlaubt wurde, sondern dass dies auch als dezidiert "notwendiger" Akt galt, ist ein vernichtendes Eingeständnis. Es ist geradezu grotesk und bezeichnend zugleich, wenn man sich auf der einen Seite der Meinungsfreiheit im Sinne eines an- und abschaltbaren Instrumentariums politischer Opportunität bedienen musste, aber damit die eigenen Sicherheitskräfte, die eine "bestimmte Ausbildung und auch politische Auffassung" hatten, in eine "komplizierte Lage" brachte und sie "deshalb" erst daraufhin "orientieren" musste, damit sie sich "richtig" verhielten. Dass damit ausgesagt wurde, dass die politisch intendierte "Auffassung" des Volkspolizisten Meinungsfreiheit weder vorsah noch akzeptierte, sowie das Eingeständnis der Tatsache, dass die Weltfestspiele es bedingten, "nur" zu "registrieren", weil man "jetzt" nichts "machen konnte", sind in Syntax und Semantik Belege der "Grammatik des Totalitarismus". Die Einsicht, ein Land zu regieren, das nicht ohne Weiteres international repräsentabel ist, eben weil dem sein totalitär-repressiver Kern entgegensteht, setzt nicht nur ein Maß von sowohl politischem als auch moralischem Unrechtsbewusstsein voraus, sondern ist die Einsicht in die Tatsache, dass die eigene Herrschaft auf Gewalt und nicht auf dem Willen der Mehrheit beruht. Und wenn die Rede davon ist, bei "größeren Störung" die "Erlaubnis" zum Einschreiten zu "holen", dann verweist Mielke hier auf die Instanz, die weder namentlich genannt noch persönlich anwesend war, aber gleichwohl die Entscheidungsgewalt inne hatte: Erich Honecker. Mielkes Charakterisierung der "feindlichen Elemente" ist allerdings noch entscheidender. Er beschreibt sie im Protokoll geradezu biologistisch und hoch emotionell. Bei ihm kommt man in "Berührung" mit "Elementen", "feindlichen" zumal. Da gilt es, sich "immun" zu machen gegen derartige "Kontakte"; da muss man darüber "aufklären", damit sich die eigenen Kräfte "schützen" können vor den "Gefahren". Mielke konnotiert hier das, was er sagt, als gelte es während der Weltfestspiele eine Seuche zu bekämpfen, eine grassierende Epidemie einzudämmen. Er entwirft das stark das Gefühl ansprechende Bild einer scheinbar gefährlichen, heimtückischen, abstoßenden, fast unsichtbaren Bedrohung. Und "manche", das heißt: nicht er und die "Genossen Minister", erkannten diese Gefahren nicht, weil sich die "feindlichen Elemente" unter dem "Deckmantel der Freundschaft tarnen und anbiedern". Ein verachtendes Vokabular für einen vermeintlich verschlagenen, gerissenen und skrupellosen "Gegner": die freie Meinung, das individuelle Denken. IV.
Mielke griff die "feindlichen Elemente" an zentraler Stelle wieder auf, nämlich als es um eine "weitere Hauptfrage; [die] Frage der Grenze" ging. (77) Hier habe man aber, führte er aus, "zum Glück gut gearbeitet", denn es bestünde schon ein "dreifacher Ring" – gemeint war die Strukturierung des unmittelbaren Grenzraumes in eine fünf Kilometer umfassende "Sperrzone", einen 500 Meter großen "Schutzstreifen" und den zehn Meter breiten "Kontrollstreifen". Gleichwohl blieb die Sicherheit der Staatsgrenze, ganz besonders die der innerstädtischen Berliner Mauer, ein hoch sensibler Punkt im "Gesamtplan der Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit während der X. Weltfestspiele". Denn obgleich sich an jenen Tagen des Sommers 1973 annähernd 300.000 Besucher in Ost-Berlin bewegten und die Gäste ein- und ausreisten, änderte sich am Grenzregime selbstverständlich nichts: "Wir werden weiter jeden festnehmen, der schleust.
Blick auf die Grenzsicherungsanlagen der Berliner Mauer am Checkpoint Charlie, März 1973. (© AP)
An den GÜST [Grenzübergangsstellen] werden wir weiter strenge Kontrollen durchführen. Den Prozess gegen diese Elemente werden wir nach dem Eintritt in die UNO durchführen", so Erich Mielke. (78) In Bezug auf Mauer und Grenze hatte man allerdings noch weitergehende Besonderheiten zu beachten, denn im Monat der Weltfestspiele ereigneten sich gleich zwei, von der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik und West-Berlin sehr aufmerksam verfolgte Zwischenfälle. Besonders die Umstände der Flucht von Klaus Gomert wurden dabei intensiv diskutiert. Am 19. Juli, fünf Tage vor dem Treffen der Minister und neun Tage vor der Eröffnung der Weltfestspiele, wurde der 18 Jahre alte Klaus Gomert in Höhe des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks – unweit des Stadions der Weltfestspiele – mit insgesamt 22 Schüssen aufgehalten. Zunächst glaubte man in West-Berlin Klaus Gomert tot, und die Berichterstattung in den Medien griff den Fall ganz besonders vor dem Hintergrund der Weltfestspiele auf. Die Bundesregierung und der Berliner Senat äußerten sich unmissverständlich. Nachdem man den tatsächlich unverletzt gebliebenen Gomert am 20. Juli öffentlich im DDR-Fernsehen vorgeführt hatte, wurde er am folgenden Tag überraschend nach West-Berlin abgeschoben. Dazu hieß es im offiziellen Sprachgebrauch unter der Überschrift "Tote auf Bestellung" im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland": "Es war der Wunsch Vater des Gedankens. Schließlich läuft in der BRD und in West-Berlin die Hetze gegen die DDR gerade im Zusammenhang mit den bevorstehenden X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten auf vollen Touren. Dank des umsichtigen Vorgehens der Grenztruppen der DDR, einschließlich der von ihnen abgegebenen Warnschüsse, sind die gewünschten Toten nicht tot. [...] Es handelt sich dabei um K. Gomert, der nebenbei gesagt bereits fünfmal wegen Diebstahls und Hehlerei vorbestraft ist, und um M. Jasek". Weiter hieß es unter der Überschrift "Kriminelles Element aus der DDR abgeschoben": "Der mehrfach wegen Diebstahls und Hehlerei vorbestrafte Klaus Gomert ist aus der DDR ausgewiesen [...] worden. [...] Eine in westlichen Massenmedien entfachte Verleumdungskampagne, die Gomert seit Freitag totsagt, ist damit wie eine Seifenblase geplatzt". Dem SED-Regime ging es so kurz vor den Weltfestspielen nur um Schadensbegrenzung. Mielke nahm nun den "Fall Gomert" (im Protokoll durchgängig "Gommert") zum Anlass, um auf zwei Aspekte aufmerksam zu machen. Zum einen gab der Minister "einige Erläuterungen [...] über Untersuchungsergebnisse, Wirkung bei Journalisten und Polizei in Westberlin". Er führte aus: "Nach den festgelegten und guten Plänen, die es gibt zwischen NVA-Grenze und Volkspolizei, wurde bei Gomert nicht gehandelt. Das Zusammenwirken wurde durchbrochen. Es darf von keinem ein Befehl geändert werden, der dazu gegeben ist. Alles lässt sich im Fall Gomert nicht mehr rekonstruieren. Hätten alle genau nach den Befehlen gehandelt, wäre er gar nicht bis vor [die Mauer selbst] gekommen." – "Wir müssen", so Mielke weiter, "noch einmal genau überprüfen, ob wir alles bedacht haben; zum Beispiel wenn Teilnehmer [der Weltfestspiele] zu einem Punkt an der Grenze strömen. Das ist schon aus Neugier denkbar. Darunter können Provokateure sein. Einer oder zwei laufen los zu sehen was die Grenzer machen. Das kann weitere veranlassen, ebenfalls loszulaufen. Was dann?" (77f) Wie Stefan Wolle schrieb, gab es bereits lange vor dem "Fall Gomert" Befürchtungen und "Gerüchte, dass – gewissermaßen im Schutz der internationalen Gäste – eine "Sturm auf die Mauer" geplant sei". Dieser Umstand führte zu einer "gesonderten 'Schusswaffengebrauchsbestimmung'". Worin deren Besonderheit bestand, wird im Protokoll expressis verbis ausgeführt. Denn die zweite explizite Aussage Erich Mielkes im Zusammenhang mit dem "Fall Gomert" lautet: "Der Schießbefehl wird natürlich nicht aufgehoben." (77) Mielke stellte also – abgesehen von der bemerkenswerten Tatsache, dass das Wort "Schießbefehl" im internen SED-Duktus augenscheinlich ein stehender Begriff war – ausdrücklich klar, dass auch nach der Abschiebung Gomerts keine Veränderung im Hinblick auf das Schießen an der Grenze während der Weltfestspiele erfolgen werde. Der "Schießbefehl" blieb unangetastet. Die Konzession, die der Sommer 1973 allerdings bedingte, lautete: "Wir müssen vorbeugend so arbeiten, daß uns nichts passiert; daß wir nicht erst schießen müssen." (77) Aus diesem Grund sollte man, so der Minister für Staatssicherheit, während der Weltfestspiele an der Grenze "die Menschen lautlos ergreifen und nicht schießen. Auch was von drüben kommt, so in Empfang nehmen und einlochen; so müßten die Grenzer ausgebildet sein. Man müßte dem eine Prämie geben, der den Mann ergreift, ohne zu schießen. Deshalb muß man die Kräfte ganz spezifisch einweisen an der Grenze." (84) Und Verteidigungsminister Hoffmann ergänzte: "Es ist auch richtig, daß wir alles vorbereiten aus der guten Überzeugung heraus, tätig zu werden, damit keine Sache entsteht, die wir nicht mehr beherrschen können. [...] Nach den Erfahrungen und den jetzt getroffenen Vorbereitungen ist wahrscheinlich alles erkennbar, was von innen kommt. Der Unsicherheitsfaktor für uns ist die Auslösung von drüben. Deshalb wollen wir auch bei Angriffen von drüben mit Nebelkörpern arbeiten usw., um möglichst nicht schießen zu müssen. [...] Sie wollen ein paar Tote haben. Das müssen wir verhindern. Wir werden eine große Anzahl Offiziere einsetzen, damit nicht der neunzehnjährige Wehrpflichtige entscheiden muss. Besonders auch Offiziersschüler des letzten Lehrjahres, die ziemlich ausgebildet sind, damit politische Entscheidungen getroffen werden. Damit wollen wir weitgehendst alle Voraussetzungen schaffen, um alles zu sichern." (80) Auch hier offenbart man sich im Stil seiner Sprache: Mielke straft sich selbst und das SED-Regime Lügen; denn man wusste, dass das, was die "Grenzer machten", jenseits von gesellschaftlich akzeptierten Werten lag und sich im eklatanten Widerspruch zur Allgemeinheit befand, der "Affront gegen das zivilisierte Leben" war. Ansonsten hätte das, was die Grenzer taten, weder eine derartige massenhafte Neugier entfachen können, noch wären die Erkenntnisfrüchte dieser Neugier zu fürchten gewesen; man hätte sonst "deshalb" auch niemanden "spezifisch einweisen" müssen. Mielke spricht – in einer geradezu brutal anmutenden Überheblichkeit und Verachtung gegenüber menschlichen Grundrechten – von "lautlosem Ergreifen", in "Empfang nehmen", "einlochen", "Prämien" und dem "Schießbefehl". Indem er dabei im doppelten Konjunktiv formuliert – so "müssten die Grenzer ausgebildet" sein, und man "müsste dem eine Prämie geben" –, demonstriert er zum einen die Ausnahmesituation des Sommers 1973, zum anderen aber – und dies noch viel nachdrücklicher – die eigentliche Regel: die Ausbildung zum Schießen und die Prämien auf das Schießen. Und wie die Prozesse nach 1990 gezeigt haben, wurden "verhinderte Grenzdurchbrüche" mit Zuwendungen von 150 DM oder 200 Mark-DDR, Auszeichnungen, Sonderurlaub und Beförderungen honoriert. Im Sommer 1973 kehrt sich dieses "Grenzregime" der DDR nur bedingt um. Während der Weltfestspiele des Friedens, der Freundschaft und der Solidarität wurde der "Schießbefehl natürlich nicht aufgehoben". Man wollte lediglich "möglichst nicht schießen". Es gab also auf der einen Seite ein Szenario, wonach Menschen aus "Neugier" an die Grenze "strömten", "Provokateure" oder ganze Gruppen auf die Grenze "zuliefen", einfach nur um "zu sehen, was die Grenzer machten". Dabei bestand die Gefahr, dass eine "Situation" entstand, die man "nicht mehr beherrschen" konnte. Ein Schuss an der Mauer hätte einen katastrophalen Ansehensverlust bedeutet. Auf der anderen Seite aber blieb der "Schießbefehl" ausdrücklich in Kraft. Die Konsequenz, die Mielke und Hoffmann aus dieser Lage zogen, lautete: die "festgelegten und guten Pläne" durchsetzen, damit überhaupt erst niemand "nach vorn kommt", und nur "ziemlich ausgebildete Offiziersschüler" einsetzen, damit "politische Entscheidungen" getroffen würden und nicht der "Wehrpflichtige entscheiden muss". Beides – sowohl dass man die Option des "Aufhebens" überhaupt in Betracht zog als auch dass man sie im Juli 1973 willentlich verwarf – macht deutlich, welche Funktionen der Schießbefehl für das SED-Regime erfüllte: Er war ein der politischen Opportunität gehorchendes Machtinstrument und zugleich ein Stabilitätsgarant für die "Undurchlässigkeit" von Mauer und Grenze. Sie war von existenzieller Bedeutung, denn die DDR war eben "kein Staat mit einer Grenze, sondern eine Grenze mit einem Staat".
"Vor den Augen der Weltjugend und der Repräsentanten von Partei-und Staatsführung der DDR legte die junge Generation der DDR am 4.8.73 ein machtvolles Bekenntnis zu ihrem sozialistischen Vaterland ab." (Originaltext ADN): Ehrentribüne während der Weltfestspiele in Ost-Berlin mit der amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis und (neben ihr) Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. (© Bundesarchiv, Bild 183-M0804-717, Foto: Dieter Demme)
Es ist Heinz Hoffmann selbst, der das Schießen an der deutsch-deutschen Grenze als "politische Entscheidung" bezeichnet. Das In-Kraft-Belassen des Schießbefehls und das gleichzeitige Bemühen um ein makelloses Bild während der Weltfestspiele 1973 widersprachen sich nur vermeintlich. Tatsächlich zeigte sich eben darin, wie abhängig der SED-Staat von Grenze und Mauer war und welcher Stellenwert dabei dem Schießbefehl zukam. Die Reaktion der Führung belegt das Maß der von ihr wahrgenommenen Gefahr einer potenziellen Erosion ihrer Herrschaft, die aus dem Prozess der Annäherung mit der Bundesrepublik und der Öffnung gen Westen resultierte. Das Regime konnte und wollte nicht auf sein Machtinstrument verzichten. In den 80er-Jahren, etwa bei Anlässen von hoher internationaler Aufmerksamkeit, Staatsbesuchen oder Parteitagen, tat man dies durchaus. Erich Mielke liefert im Verlauf der Sitzung auch eine plausible Antwort auf die Frage, wie das "Ein- und Aussetzen" eines Schießbefehls in der Praxis funktioniert haben könnte: Denn für einen Grenzposten war es beispielsweise dann besonders eingängig, wenn man, wie im Dokument geschehen, ideologisch verbrämt darauf verwies, dass der "Feind" gezielt mit "Grenzverletzungen provozieren" wolle. Man könnte hier also einen Mechanismus vermuten, der vorgab, dass zu bestimmten Anlässen der "Gegner" mit Mauertoten die DDR zu "diskreditieren" suche und aus diesem Grund die Waffe nicht in Konsequenz zu gebrauchen war. Man erwartete an der Grenze quasi vom Westen angeheuerte DDR- oder Bundesbürger, die bei ihrem Handeln den Tod in Kauf nahmen, nur um den SED-Staat in Misskredit zu bringen. Dies ist die Logik eines strikt manichäischen Weltbildes und seiner Sprache. Dabei war gegenüber "dem Grenzsoldaten" niemals die Rede von Menschen oder dem Bürger der DDR, sondern er hatte es mit "feindlichen Elementen" zu tun. Und diese galt es – wie es unter anderem in der vor jedem Grenzdienst erfolgten Vergatterung hieß – zu "vernichten". Mielke selbst charakterisiert das Wesen von und den Umgang mit diesen "feindlichen Elementen" im Protokoll. Erst die darin vollzogene verbale Entmenschlichung, Kriminalisierung und Ausgrenzung des "Elementes" schuf die Voraussetzung, "es" auch seiner Würde zu entheben und Grundrechte zu versagen. Die Verfassungsnormen, Gesetze und Bestimmungen verloren bei "Elementen" ihre Wirkung, ihr Recht auf Leben konnte der Verhinderung einer Flucht untergeordnet werden. Es war die Sprache, die diesem gesamten Prozess seinen Ausdruck verlieh. Aus diesem Grund ist sie so entscheidend, wenn man nach den Zugängen in das Denken und die Wahrnehmung dieser Weltanschauungsdiktatur sucht. V.
Der Schießbefehl der DDR war nicht allein die Unterordnung des Rechtes unter einen politischen Willen, sondern zugleich auch Ausdruck der entfesselten unumschränkten Staatsgewalt. Sie ist ein Wesensmerkmal des SED-Regimes, so wie das Primat des Politischen der Kern seines diktatorischen Unrechtsprinzips ist. Beides so authentisch aufzeigen zu können, ist der eigentliche Wert des Protokolls. Es ist ein wichtiges Stück historischer Wahrheit und ein Beitrag zur weiteren Aufarbeitung der kommunistischen Gewaltherrschaft im Osten Deutschlands. Das Faszinierende an ihm ist, dass es zwischen den Zeilen, neben der Demonstration eines perfiden Gefühls der vermeintlichen Kontrolle von Entwicklungen und Menschen, den Blick freigibt auf eine dahinter liegende Angst dieses Regimes: auf die Angst vor dem freien Menschen, dem mündigen Bürger. Dieses Protokoll entkleidet nicht nur die von der DDR zum Hort der sozialistischen Idee und Ideale stilisierten Weltfestspiele von diesem Nimbus, sondern auch die ideologisch kaschierte Bemäntelung der Politik des SED-Regimes selbst. Zum Vorschein kommt der alleinige Kern der Sache: ein repressiv-diktatorisches System. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" kommentierte die Weltfestspiele im August 1973 folgendermaßen: "Die Diktatur hatte Handschuhe angelegt. Vielleicht hat das manche im Westen zu der falschen Schlussfolgerung geführt, diese Diktatur sei doch noch demokratisch. Der Bevölkerung der DDR hingegen soviel Naivität zu unterstellen widerspräche aller Erfahrung. Die Ostdeutschen wissen schon, was sie an ihrem Staat haben, sie haben sich mit ihm arrangiert. Aber daß er ein Zwangsstaat ist, vergessen sie darüber nicht. [...] Lange haben wir in der Bundesrepublik nicht wahrhaben wollen, daß die Ostdeutschen mit ihrem Staat einen Modus vivendi suchen. Nun dürfen wir nicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen und glauben, sie wünschten sich gar nichts anderes mehr. Beim Betrachten der DDR müssen wir nach beiden Seiten nüchtern blicken, auch wenn drüben Weltfestspiele sind". Wer wissen möchte, wie der SED-Staat dachte und auf welchen Prinzipien er beruhte, muss dieses Protokoll nur lesen. Er muss die Sprache dieses Systems nur verstehen. Eine Lektüreempfehlung der besonderen Art.
Elf Jahre später: Friedrich Dickel (r.), Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei, wurde am 3.10.1984 von Erich Honecker (2.v.l.) zum Armeegeneral befördert. Zugleich wurden die Minister für Staatssicherheit Erich Mielke (2.v.r.) und für Verteidigung Heinz Hoffmann (3.v.r.) mit dem Scharnhorst-Orden ausgezeichnet. Die Urkunde verliest Hoffmann-Stellvertreter Fritz Streletz (l.). Der Zeremonie wohnt auch Egon Krenz bei, der für Sicherheitsfragen zuständige Sekretär des SED-Zentralkomitees (3.v.l.). (© Bundesarchiv, Bild 183-1984-1003-021, Foto: Rainer Mittelstädt)
Plakat der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin 1973. (© Bundesarchiv, Plak 100-052-030)
Blick auf die Grenzsicherungsanlagen der Berliner Mauer am Checkpoint Charlie, März 1973. (© AP)
"Vor den Augen der Weltjugend und der Repräsentanten von Partei-und Staatsführung der DDR legte die junge Generation der DDR am 4.8.73 ein machtvolles Bekenntnis zu ihrem sozialistischen Vaterland ab." (Originaltext ADN): Ehrentribüne während der Weltfestspiele in Ost-Berlin mit der amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis und (neben ihr) Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. (© Bundesarchiv, Bild 183-M0804-717, Foto: Dieter Demme)
Protokoll der Beratung des Ministers für Staatssicherheit mit dem Minister für Nationale Verteidigung und dem Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei am 24. Juli 1973, BStU, MfS, AGM 494, Bl. 72–84. – Das Protokoll ist im Anschluss an diesen Beitrag dokumentiert; Zitate daraus werden im Folgenden mit Klammern im Text nachgewiesen.
Mielkes Aussagen zum Schießbefehl wurden im Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft in der Strafsache gegen Egon Krenz, Günther Kleiber und Günter Schabowski vor dem Landgericht Berlin, 25/2 Jas 20/92, zitiert. Vgl. dazu: Der Politbüro-Prozeß. Eine Dokumentation, Hg. Redaktion "Neue Justiz", Baden-Baden 2001, S. 64; Hans-Hermann Hertle, "Grenzverletzer sind Festzunehmen oder zu vernichten", in: APuZ, 31–34/2011, S. 22–28, hier 27: Außerdem ders., Prämien für Todesschützen. Vor zehn Jahren wurde der DDR-Schießbefehl aufgehoben, in: Berliner Morgenpost, 28.3.1999, S. 3; Joachim Nawrocki, Mörderische Pflicht. Gerechte Strafen für Grenztruppen-Generäle, in: Die Zeit, 13.9.1996, S. 4.
Mielkes Aussagen zum Schießbefehl wurden im Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft in der Strafsache gegen Egon Krenz, Günther Kleiber und Günter Schabowski vor dem Landgericht Berlin, 25/2 Jas 20/92, zitiert. Vgl. dazu: Der Politbüro-Prozeß. Eine Dokumentation, Hg. Redaktion "Neue Justiz", Baden-Baden 2001, S. 64; Hans-Hermann Hertle, "Grenzverletzer sind Festzunehmen oder zu vernichten", in: APuZ, 31–34/2011, S. 22–28, hier 27: Außerdem ders., Prämien für Todesschützen. Vor zehn Jahren wurde der DDR-Schießbefehl aufgehoben, in: Berliner Morgenpost, 28.3.1999, S. 3; Joachim Nawrocki, Mörderische Pflicht. Gerechte Strafen für Grenztruppen-Generäle, in: Die Zeit, 13.9.1996, S. 4.
Vgl. zur innen- und außenpolitischen Situation: Hermann Weber, Die DDR 1945–1990, München 2006, S. 77ff; Hermann Wentker, Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007, S. 350ff.
Dazu u.a.: Willi Kinnigkeit, PLO in Ostberlin. Die DDR übernahm "Patenrolle" für die militanten Palästinenser, in: Süddeutsche Zeitung, 28.9.1973, S. 4. Das Abkommen in: BArch, DY 30/J IV 2/2/1456 Bl. 51ff. – Zum Primat der Abgrenzung vgl.: Hermann Wentker, Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007, S. 410ff; Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung, Stuttgart u.a. 2001, S. 161ff.
Vgl. Mario Frank, Walter Ulbricht. Eine deutsche Biografie, Berlin 2001, S. 420ff u. 444f.
Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 2009, S. 164ff; Marc-Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn, Berlin 2003, S. 351ff.
Vgl. dazu das Schreiben Mielkes an alle Hauptverwaltungen [...], 8.9.1972, BStU, MfS, BdL/Dok 1801, Bl. 1ff.
Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 2009, S. 164f.
Vgl. dazu auch: Marc-Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn, Berlin 2003, S. 352f
Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 2009, S. 164f; Marc-Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn, Berlin 2003, S. 351f.
So Michael Naumann, Der Unruhestifter, er lebe hoch. Wie gern hätte man die Verbrechen der Stasi zu den Akten gelegt, in: FAZ, 6.6.2011, S. 29.
Gerhard Sälter, Die Speeranlagen, oder: Der unendliche Mauerbau, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011, S. 122–137, hier 127ff.
Vgl. Externer Link: Tina Schaller, Ein Flüchtling der keiner sein sollte. Die X. Jugendweltfestspiele und der Fluchtfall Klaus Gomert, in: DA-Online, 6/2011.
Empörung über Schüsse an der Mauer. Eine Woche vor Beginn der X. Weltfestspiele in Ost-Berlin haben "DDR"-Grenzposten in der Nacht zum Freitag an der Mauer zum West-Berliner Bezirk Wedding einen Flüchtling niedergeschossen, in: Die Welt, 21./22.7.1973, S. 1.
Tote auf Bestellung, in: ND, 22.7.1973, S. 2.
Kriminelles Element aus der DDR ausgewiesen, in: ND, 22.7.1973, S. 2.
Externer Link: Tina Schaller, Ein Flüchtling der keiner sein sollte. Die X. Jugendweltfestspiele und der Fluchtfall Klaus Gomert, in: DA-Online, 6/2011.
Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 2009, S. 165.
Ohne Wissen darum, dass die Spitzen des SED-Regimes selbst intern vom "Schießbefehl" sprachen, formulierte das Bundesverfassungsgericht nur sieben Tage später in seiner Entscheidung zum Grundlagenvertrag: "Schließlich muss klar sein, dass mit dem Vertrag schlechthin unvereinbar ist die gegenwärtige Praxis an der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, also Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl": BVerfGE 36, 1, S. 35.
Edgar Wolfrum, Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009, S. 65.
Vgl. auch: Hans-Hermann Hertle, "Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten", in: APuZ, 31–34/2011, S. 22–28, hier 23.
Vgl. dazu die Ausführungen in den Urteilen: LG Berlin, (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91); BGH, 5 StR 370/92; BGH, 5 StR 418/92.
Hans-Hermann Hertle, "Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten", in: APuZ, 31–34/2011, S. 22–28.
So Stefan Wolle, Flucht als Widerstand?, in: Klaus-Dietmar Henke u.a. (Hg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln u.a. 1999, S. 309–326, hier 309.
Peter Bender, Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945–1990, Stuttgart 2004, S. 130ff; ders., Die "Neue Ostpolitik" und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Wiedervereinigung, München 1996, S. 244ff.
Hans-Hermann Hertle, Prämien für Todesschützen. Vor zehn Jahren wurde der DDR-Schießbefehl aufgehoben, in: Berliner Morgenpost, 28.3.1999, S. 3.
Vgl. auch: Marion Detjen, Die Mauer als politische Metapher, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011, S. 426–439, hier 432f.
Vgl.: Gerhard Sälter, Fluchtverhinderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011, S. 152–162, hier 154ff.
Vgl.: Hans-Hermann Hertle, "Grenzverletzer sind Festzunehmen oder zu vernichten", in: APuZ, 31–34/2011, S. 22–28, hier 23; dazu auch die Ausführungen in: BGHSt 39, S. 15ff u. 168ff.
Vgl. BVerfGE, 2 BvR 1851, 1853, 1875, 1852/94, in: BVerfGE 95, 7, S. 96ff, insb. 135ff; BGH 5 StR 322/95; Hans-Jürgen Grasemann, Das DDR-Grenzregime und seine Folgen. Der Tod an der Grenze, in: Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", Hg. Deutscher Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt a. M. 1999, Bd. 8, S. 1209–1255, hier 1251f.
BVerfGE 95, 7, S. 135ff. Vgl. Klaus Adomeit, Die Mauerschützenprozesse – rechtsphilosophisch, in: NJW 45 (1993), S. 2914–2916, hier 2915; Hans-Jürgen Grasemann, Das DDR-Grenzregime und seine Folgen. Der Tod an der Grenze, in: Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", Hg. Deutscher Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt a. M. 1999, Bd. 8, S. 1209–1255, hier 1251f; Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 2, Berlin 2002, S. XIXff; EuGH, 34044/96; 35532/97, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 24 (2001), S. 210–218 u. 219–230, insb. 214, 217f, 220ff.
Johann Georg Reißmüller, Rückblick auf ein Fest, in: FAZ, 7.8.1973, S. 1.
| Article | Lutz Maeke | 2023-02-28T00:00:00 | 2012-01-11T00:00:00 | 2023-02-28T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/53141/wider-die-vernunft/ | Ein im Wortlaut exakt festgehaltenes MfS-Protokoll legt eines der authentischsten Zeugnisse des Denkens und der Wahrnehmungen des SED-Regimes ab. "Frieden, Freundschaft und antiimperialistische Solidarität" verwandeln sich hier zur Chimäre. Diese Que | [
"Zeitgeschichte",
"Mauerbau",
"Mauer",
"Kalter Krieg",
"Schießbefehl",
"Deutschland",
"DDR"
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Die Sinfonie der Großstadt | Sound des Jahrhunderts | bpb.de | Die berühmteste künstlerische Darstellung der vielstimmigen Geräuschwelt Berlins in den 1920er Jahren war ein Stummfilm: Walter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von 1927. Ruttmann drehte allerdings nicht nur diesen Film, sondern schuf drei Jahre später auch die erste Klangcollage der Radio- und Hörspielgeschichte. Unter dem Titel Weekend hielt er ein typisches großstädtisches Wochenende allein mit Geräuschen fest. Neben der Arbeit hört man den Verkehr, die Konsumwelt der Warenhäuser und die Ruhe der sonntäglichen Fahrt ins Grüne. Besonders der Lärm des Verkehrs und des öffentlichen Lebens war um 1930 nicht nur in Berlin, sondern in allen industrialisierten Großstädten der Welt ein viel diskutiertes Thema. Das zeigt auch das Beispiel New Yorks, wo 1929 eigens eine städtische Lärmbekämpfungskommission eingesetzt wurde. Allerdings bestand und besteht die Geräuschwelt der Großstadt nicht nur aus Verkehrslärm, sondern auch aus Klängen des Vergnügens und nicht zuletzt der Politik.
Fotomontage aus "Berlin, die Sinfonie der Großstadt" (Walter Ruttmann, 1927) (© picture-alliance/akg)
Walter Ruttmanns doppeltes Berlin
Berlin war in den "wilden" 1920er Jahren eine der dynamischsten Großstädte der Welt. Es war nicht nur das industrielle Zentrum und die verkehrs- und bevölkerungsreichste Stadt Deutschlands, sondern auch Reichshauptstadt und Metropole der Künste und des Vergnügens. Zahlreiche Künstler und Literaten ließen sich davon inspirieren und setzten sich in Bildern und Fotografien, Romanen und Reportagen, Filmen und anderen Kunstwerken mit den Besonderheiten des großstädtischen Lebens in Berlin auseinander.
Zu den berühmtesten dieser Werke gehört der 1927 erstmals vorgeführte Montagefilm Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann. Der 1887 in Frankfurt am Main geborene Maler begann in den frühen 1920er Jahren mit abstrakten Animationsfilmen zu experimentieren. Berlin – Die Sinfonie der Großstadt war Ruttmanns erster abendfüllender Realfilm. Allerdings hat auch dieser Film keine Erzählhandlung und kommt ohne Schauspieler aus. Er besteht aus einer Vielzahl kunstvoll ineinander montierter Alltagsszenen und Einstellungen, die den typischen Ablauf eines Tages in Berlin darstellen. An die Stelle der Erzählhandlung tritt die sinfonische Struktur, die den Tag vom morgendlichen Erwachen bis zum nächtlichen Vergnügungsrummel in fünf Akte gliedert.
Obwohl es sich um einen Stummfilm handelt, versinnbildlicht der Film durch seine dynamische Schnitttechnik, durch die Bilder des Verkehrs, der Arbeit und des abendlichen Vergnügens nicht nur die visuelle, sondern auch die akustische Reizüberflutung der Großstadt. Zudem arbeitete Ruttmann eng mit dem Filmkomponisten Interner Link: Edmund Meisel zusammen, der die Filmmusik schuf und nach eigenen Aussagen bemüht war, die Klänge der Großstadt in musikalische Klänge zu übersetzen. Im Kinosaal postierten sich einige Musiker des Filmorchesters (unseren heutigen Surround Sound vorwegnehmend) auch neben und hinter dem Publikum, sodass dieses ganz in die synästhetische Erfahrung der Sinfonie der Großstadt eintauchen konnte.
Drei Jahre nach Berlin – Die Sinfonie der Großstadt setzte sich Walter Ruttmann erneut künstlerisch mit der Geräuschwelt der Großstadt auseinander, diesmal jedoch unmittelbar im Medium des Tons. Seine Klangcollage Weekend wurde am 13. Juni 1930 um 21 Uhr in der Berliner und der Schlesischen Funkstunde erstmals gesendet. Technisch gesehen handelt es sich bei dieser Collage von insgesamt elf Minuten und 20 Sekunden Länge um einen Tonfilm ohne Bilder, einen "blinden Film", wie Ruttmann sagte. Da die reinen Tonaufzeichnungstechniken der Zeit noch keine Montage erlaubten – sie wurde erst mit dem Magnettonband ab Mitte der 1930er Jahre möglich – nutzte Ruttmann die neu entwickelte Tonfilmtechnik, hielt aber lediglich den Ton der einzelnen Aufnahmen fest und montierte diesen anschließend zu seiner Klangcollage. In der Abfolge von fünf Kapiteln – "Jazz der Arbeit", "Feierabend", "Fahrt ins Freie", "Pastorale", "Wiederbeginn der Arbeit" – hielt er den Verlauf eines typischen Berliner Wochenendes inklusive Fahrt ins Grüne akustisch fest bzw. rekonstruierte er dieses klangkünstlerisch.
Hörbeispiel im Internet:Werkbeschreibung
Externer Link: Georg Fischer über Ruttmanns "Weekend" (Quelle: museum.rechtaufremix.org)
In den ersten Minuten hört man Arbeitsgeräusche – Hämmern, Sägen, metallisches Scheppern, das Stampfen schwerer Maschinen –, sodann Verkehrslärm – einen Zug, Autos, die Trillerpfeife eines Verkehrspolizisten – sowie menschliche Stimmen – ein Kind, das Goethes Erlkönig rezitiert, ein Telefongespräch, einen Warenhausverkäufer –, man hört Musikfetzen, eine Registerkasse, Schreibmaschinentippen. Nach einiger Zeit wird das Tempo der Schnitte langsamer. Fabriksirenen verkünden das Ende der Arbeit, Pulte werden zugeklappt, man hört Kichern, Abschiedsrufe, Kirchenglocken. Es folgen die "Fahrt ins Freie" (Autohupen und Fahrgeräusche) und die "Pastorale" mit Naturgeräuschen, aber auch mit Gesang (Das Wandern ist des Müllers Lust, Ein Prosit der Gemütlichkeit), Kinderversen, Marsch- und Kirchenmusik sowie abermals Kirchenglocken. Ein Wecker, Telefonklingeln und erneut Fabriksirenen signalisieren in der letzten Minute den "Wiederbeginn der Arbeit", der an die Geräusche aus der ersten Sequenz "Jazz der Arbeit" anknüpft.
Walter Ruttmann (m.), Regisseur und Autor von "Berlin - Sinfonie der Großstadt", mit Lotte Reiniger bei der Durchsicht seines Filmes. (© picture-alliance/akg)
Die Klangcollage Weekend wurde bei Weitem nicht so bekannt wie Ruttmans Berlin-Film. Laut Wolfgang Hagen wurde das Stück nur einmal im Radio gesendet und ein halbes Dutzend Mal öffentlich aufgeführt, um dann für viele Jahre in Vergessenheit zu geraten. Erst in den 1990er Jahren wurde es wiederentdeckt, nicht nur als avantgardistisches Hörspiel, sondern auch als frühe Vorform des Samplings, also der vor allem im Hip-Hop beliebten Technik, Versatzstücke älterer Tonaufnahmen zu neuen Musikstücken zusammenzusetzen. Im Jahr 2000 würdigte eine Reihe von DJs aus der Elektroszene Ruttmanns Pionierleistung mit einem Ruttmann Remix. Weekend ist jedoch nie in den Kanon der ikonischen Großstadtwerke aufgenommen worden. Tatsächlich spiegelt es auch nicht im selben Maße wie Berlin – Die Sinfonie der Großstadt die Faszination des pulsierenden Großstadtlebens. Der längere Teil ist nicht den Großstadtgeräuschen gewidmet, sondern der relativen Ruhe des im Grünen verbrachten Sonntags.
Zudem offenbart das Hörstück Ruttmanns hohen künstlerischen Anspruch; er folgte eher einem formalistischen als einem dokumentarischen Ideal. Weekend ist daher nicht einfach ein Tondokument der Großstadtgeräusche im Jahr 1930, sondern eine hochgradig stilisierte künstlerische Auseinandersetzung mit diesen. Als solche spiegelt es zum einen die Tatsache, dass auch die Fahrt ins Grüne am Wochenende integral zum Großstadtleben gehörte. (Ähnlich zeigt dies der ebenfalls 1930 uraufgeführte neusachliche Film Menschen am Sonntag.) Zum anderen verdeutlicht das Stück, dass die akustische Welt der Großstadt nicht einfach aus Lärm bestand, sondern aus dem Nach- und Ineinander unterschiedlicher Geräusche und unterschiedlicher Geräuschpegel. Ruttmann hatte ein Gespür für die musikalische und rhythmische Struktur dieses Ineinanders der Alltagsgeräusche, für die Abfolge schneller und langsamer, lauter und leiser, mechanischer und organischer Geräusche in der Großstadt, und verdichtete sie in seiner Hörcollage zu einem elfminütigen Kunstwerk. In der öffentlichen Diskussion über die Geräuschwelt der Großstadt ging es aber selten um deren musikalische Struktur; im Vordergrund stand zumeist der Lärm.
Hörbeispiel im Internet:Film: "Menschen am Sonntag" (1929)
Externer Link: Robert Siodmak / Edgar G. Ulmer (Quelle: archive.org)
Die Stadt und der Lärm
Dass Städte laut sind, ist ein Gemeinplatz, der nicht nur auf moderne Großstädte zutrifft. Als Zentren von Handwerk, Handel und Verkehr waren Städte auch schon in früheren Jahrhunderten Interner Link: von den unterschiedlichsten Geräuschen erfüllt und damit lauter und vielstimmiger als ländliche Lebensräume. Durch das rasante Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert und die Metropolenbildung um 1900 veränderten sich Charakter und Struktur der Großstädte allerdings grundlegend. Dadurch stellte sich auch die Interner Link: Lärmproblematik in neuer Weise. So formierten sich schon um 1900 in den meisten Großstädten der industrialisierten Nationen Interner Link: bürgerliche Antilärmvereinigungen. Während des Ersten Weltkriegs kam diese erste Welle der großstädtischen Lärmbekämpfung weitgehend zum Erliegen.
Nach dem Krieg schritt die Motorisierung und Elektrifizierung des Verkehrs und damit die Technisierung des Lärms weiter voran. Während etwa der Straßenlärm in New York kurz vor der Jahrhundertwende, so eine zeitgenössische Beobachtung, in erster Linie von Pferdewagen, Händlern, Straßenmusikern, Klingeln und Tieren verursacht wurde und damit weitgehend organischen Ursprungs war, katalogisierte das New Yorker Gesundheitsamt 1930 in einer Bestandsaufnahme des "City Noise" hauptsächlich technische Geräuschquellen wie Autos, Züge und Straßenbahnen, Bauarbeiten, Lautsprecher und Radios. Zugleich erlaubten neue Messverfahren und der Fortschritt in der Elektroakustik nun objektivierende und quantifizierende Bestimmungen des Lärms. Ein entscheidender Schritt war die Einführung des Dezibels als Messeinheit für Schalllautstärke im Jahr 1925. Die amerikanische Technik- und Wissenschaftshistorikerin Emily Thompson spricht deshalb von einer Verwissenschaftlichung der Lärmbekämpfung in der Zwischenkriegszeit.
Ein gutes Beispiel dafür war die 1929 vom New Yorker Gesundheitsamt eingesetzte Lärmbekämpfungskommission (Noise Abatement Commission). In ihr waren neben städtischen Beamten und Vertretern der Industrie in erster Linie Ärzte, Physiologen, Neurologen und Akustikingenieure vertreten. Unter deren Anleitung ließ die Kommission standardisierte Umfrageformulare an die Bevölkerung verteilen und entsandte einen Lärmmesswagen, der an 138 Punkten die Belastungen registrierte und so eine Art Lärmkarte New Yorks erstellte. 1930, im selben Jahr, in dem Walter Ruttmanns Weekend erstmals ausgestrahlt wurde, legte die Kommission ihren 300-seitigen Bericht unter dem schlichten Titel City Noise vor. In ihm wurden die genauen wissenschaftlichen Verfahren der Lärmmessung und -bestimmung sowie die Ergebnisse der durchgeführten Messungen und Befragungen dargelegt. Die zahlreichen wissenschaftlichen Schaubilder und Tabellen sind zum Teil nur für Experten verständlich. Gleichwohl richtete sich der Bericht auch direkt an die New Yorker Bevölkerung, klärte über die gesundheitlichen Folgen des Lärms auf und gab Hinweise, wie unnötiger Lärm zu vermeiden sei. Die ebenfalls enthaltenen Fotos und Karikaturen unterstreichen seinen volksaufklärerischen Charakter.
Zu den vorgeschlagenen und von der Kommission eingeleiteten Maßnahmen gehörten technische Verbesserungen, beispielsweise bei der Dämmung der Straßen und Gebäude, der Dämpfung der Fahrgeräusche von Autos und Stadtbahnen oder der Verkehrsführung und -kontrolle. Die Vorschläge zielten zudem auf die Verhaltensweisen der Stadtbewohner, die durch Aufklärung und notfalls durch Verordnungen dazu gebracht werden sollten, etwa auf unnötiges Hupen oder lautes Radiohören zu verzichten.
Mit dieser Erziehung zu einem rücksichtsvollen Verhalten im öffentlichen Raum – und z. B. auch durch die Einrichtung von Ruhezonen um Schulen oder Krankenhäuser – knüpften die Lärmschutzbemühungen der New Yorker Kommission an Interner Link: Antilärmkampagnen der Jahrhundertwende an. Weder die Technisierung des Lärms noch die Verwissenschaftlichung seiner Bestimmung oder die objektivierenden Messverfahren änderten also etwas an der grundlegenden Tatsache, dass Lärm ein soziales Phänomen ist und immer dort zum Problem werden kann, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben. Diese Dimension des Lärms besteht unter anderem darin, dass die gleichen Geräusche von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich bewertet werden können. Was für den einen eine Lärmbelästigung ist, ist für den anderen Wohlklang oder gar Musik. So schrieben in Reaktion auf den Bericht der New Yorker Lärmschutzkommission auch manche Kommentatoren, dass es doch gerade das Laute und Vielstimmige sei, was für viele den Reiz des Großstadtlebens ausmache. Diese positive Bewertung der großstädtischen Geräuschwelt findet man auch für Berlin.
Großstadttreiben
1927 veröffentlichte Eugen Szatmari als ersten Band der neuen Reihe Was nicht im Baedeker steht das Buch von Berlin. Dieser neuartige Reiseführer sollte nicht in erster Linie die Geschichte und die Baudenkmäler Berlins darstellen (wie das der klassische Baedeker tat), sondern an das "Berliner Leben" heranführen. Szatmari empfiehlt seinen Leserinnen und Lesern daher an ihrem ersten Tag in Berlin zunächst einen "Vormittagsspaziergang durch Berlin", der in die belebten Zentren des Verkehrs und der Warenwelt führt: die Einkaufsgegend der Leipziger Straße, den Verkehrsknotenpunkt des Potsdamer Platzes, das neue Zentrum im Westen um den Bahnhof Zoo und den Kurfürstendamm. Berlin zu erleben hieß vor allem, den Verkehr und das geschäftige Treiben auf den Straßen zu erfahren. Ab 17 Uhr begann das Vergnügungsleben, zunächst mit einem Tanz-Tee, bei dem der allgegenwärtige Modetanz Charleston getanzt wurde. Später am Abend ging man ins Theater, Kino, in ein Konzert oder zu einer Sportveranstaltung. Man konnte auch auf einem der zahlreichen Berliner Bälle tanzen oder eines der vielen Cafés, eine Bar oder Kneipe aufsuchen.
Fotomontage aus "Berlin, die Sinfonie der Großstadt" (Walter Ruttmann, 1927) (© picture-alliance/akg)
Externer Link: Georg Fischer über Ruttmanns "Weekend" (Quelle: museum.rechtaufremix.org)
Walter Ruttmann (m.), Regisseur und Autor von "Berlin - Sinfonie der Großstadt", mit Lotte Reiniger bei der Durchsicht seines Filmes. (© picture-alliance/akg)
Externer Link: Robert Siodmak / Edgar G. Ulmer (Quelle: archive.org)
Dies – das wird aus Szatmaris Schilderung deutlich – war nicht nur ein buntes, sondern auch ein lautes Treiben. Die damals populäre Musik wurde nicht nur hinter verschlossenen Türen, in Revuetheatern, Tanzdielen und Jazzclubs gespielt. Interner Link: Sie lag gewissermaßen in der Luft. So hatten die meisten größeren Cafés eigene Kapellen, die in der warmen Jahreszeit auf den Terrassen spielten. Auch an den innerstädtischen Ausflugszielen erklang Musik, etwa am Neuen See im Tiergarten, in der Neuköllner Hasenheide oder im Lunapark am Halensee. Die modischen Klänge der amerikanischen Tanzmusik wurden dabei noch weitgehend von traditionellen Marsch- und Walzerrhythmen überlagert. In den ärmeren Wohnvierteln beschallten die Leierkastenmänner, Straßenmusiker und Kleindarsteller die Hinterhöfe. Die populären Gassenhauer wurden auch auf der Straße gesungen und gepfiffen. So schreibt Szatmari über das "Berliner Volk":
Hörbeispiel im Internet:Die Berliner Jazzszene im zeitgenössischen Film "Die Einbrecher"
Externer Link: (D 1930), Regie: Hanns Schwarz, mit Sidney Bechet und seinen "New Yorkern" (Quelle: YouTube)
"Es liebt den Lärm, den es Vergnügen nennt, es kann nicht ohne dies merkwürdige Etwas sein, das bei ihm ‚Stimmung‘ heißt, es bleibt bei jedem Leiermann stehen, um die ältesten Gassenhauer zu hören, es bildet einen Auflauf um jedes gefallene Pferd. Es ist laut, weil die Stadt laut ist, aber es kann ganz leise und andächtig sein, wenn ein Stück vom Sommerabend sich über die Ufer der Spree senkt."
Die Liebe zum Lärm beschränkte sich dabei nicht auf die Musik. In den Straßen waren auch die Rufe der Händler und Hausierer zu hören, die im Berlin der 1920er Jahre noch an vielen Ecken und Plätzen standen. Wer sich den Eintritt in den Vergnügungspark nicht leisten konnte, besuchte einen der zahlreichen Rummelplätze, über die Szatmari schreibt: "Aber es ist hier ebenfalls Lärm, Stimmung und Betrieb, die Witze sind genauso gut oder schlecht wie draußen, es ist Krach, Durcheinander, es ist Rummel und nochmals Rummel."
Den typischen Berliner Witz hörte man nicht nur bei den Schaustellern auf dem Rummel, sondern auch bei den "Händlerinnen und Händlern auf Markt und Straße". Kein Wunder, dass Szatmari den "Berliner Redensarten" ein eigenes Kapitel widmete. "‚Pflaumen, zuckersüße Pflaumen, wer keene kauft, lutscht sich am Daumen‘. Da gibt es die berüchtigte Veräppelung oder Verkohlung – ‚Mensch, du hast wohl lange nicht aus’n Krankenhausfenster gekiekt‘ – solche und andere Kraftausdrücke gibt es in Fülle, hier auf dem Berliner Markt, hier in der nächsten Straße. ‚Wer Pfefferminz isst, kriegt keene Plattfüße‘, das ist ein Angebot, wie es nur aus Berlin, nur von einem aus dem Volk von Berlin kommen kann."
"Das gibt es nur in Berlin." Mit dieser Bemerkung macht Szatmari deutlich, dass jede Stadt ihre klanglichen Eigenheiten ausbildet. Das zeigt auch der nochmalige Blick nach New York. Strukturell ähnelten sich die Lärmproblematik und das vielfältige Vergnügungsangebot in den beiden Städten. Beide erlebten die Elektrifizierung und Motorisierung des Verkehrs, in beiden fanden sich die beengten Wohnverhältnisse in den überfüllten Mietskasernen der Arbeiterviertel. Die Vergnügungsangebote, vom Tanztee über das Kino und das Revuetheater bis hin zum Sportspektakel, folgten in Berlin genauso wie in New York – und ebenso in London, Paris oder Wien – internationalen Trends, die sich zwischen den Metropolen fortpflanzten.
Hört man allerdings genauer hin, so stößt man auf zahlreiche Unterschiede und Eigenheiten. Das beginnt bei den städtebaulichen Gegebenheiten. In den Häuserschluchten Manhattans mit seinem Schachbrettmuster und seinen Hochhäusern wandert der Schall noch heute anders als im flachen und ausgedehnten Berlin. Die New Yorker Hochbahn produzierte schon 1930 andere Geräusche als die Berliner S-Bahn. Zudem waren in der Hafenstadt New York die Geräusche der Schifffahrt – vom Tuten der Ozeandampfer bis zum Pfeifen der Hudson-Schiffe – präsenter als in Berlin mit seiner begrenzten Spree-Schifffahrt.
Bei der Musik und den Vergnügungsklängen werden die Unterschiede noch deutlicher, da sich die Musikstile trotz der internationalen Transfers regional sehr unterschiedlich entwickelten und je nach Ort und aktueller Mode in unterschiedlichen Mischverhältnissen auftraten. Das gilt nicht nur beim Vergleich zwischen Berlin und New York, sondern auch beim Vergleich Berlins mit anderen mitteleuropäischen Großstädten wie Wien oder München, wo zwar ebenfalls Deutsch gesprochen und gesungen wurde, in den Straßen aber unterschiedliche Musik erklang. Einzelne viel gespielte Lieder und Gassenhauer konnten dabei zu regelrechten Erkennungsmelodien einer Stadt werden. Gerade Berlin ist reich an Liedern, die – wie etwa Paul Linckes Das macht die Berliner Luft von 1904 – die Vorzüge der Stadt oder einzelner Stadtteile (Das Tempelhof-Lied, Der Rixdorfer) besangen und allenthalben gespielt wurden.
Am deutlichsten werden die Unterschiede, wenn man auf die in den Straßen gesprochenen Sprachen hört. In der Einwandererstadt New York konnte man mehr Sprachen hören als in Berlin, auch wenn hier viele Einwanderer aus Osteuropa lebten. New York blieb zudem stärker ethnisch segregiert als Berlin, was man bei einem Gang durch Chinatown, Little Italy, die polnischen und deutschen Viertel oder das schwarze Harlem am Wechsel der gesprochenen Sprachen auch hören konnte. In Berlin fiel dagegen stärker die dialektale Färbung des Deutschen ins Ohr, die das Berlinerische von anderen deutschen Mundarten unterschied. Allerdings unterschied sich das "Berliner Idiom", wie Szatmari es nannte, nicht nur durch bestimmte Redewendungen und Ausspracheregeln von anderen deutschen Dialekten, sondern auch durch seinen Tonfall, durch das Schnoddrige und Vorwitzige, das man so nur in Berlin hören konnte. Mit den Ausrufen der Händler und Schausteller, den Melodien der Gassenhauer und der Leierkästen, aber auch einzelnen charakteristischen Verkehrsgeräuschen ergab sich so eine Reihe von akustischen Erkennungszeichen, an denen man bei einem Gang durch das Berlin des Jahres 1930 auch mit geschlossenen Augen hätte erkennen können, wo man sich befand.
Der Klang der Straßenpolitik
Eine letzte Dimension der Geräuschwelt Berlins um 1930 wurde noch nicht angesprochen. Sie fehlt sowohl in Ruttmanns Weekend als auch in Szatmaris Berlinführer: die Politik. Spätestens seit dem Krisenjahr 1929 und dem Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung war das Berlin der späten Weimarer Republik von einer zunehmenden Politisierung geprägt. Auf den großen Plätzen und Straßen fanden Demonstrationen und Kundgebungen statt. Die Nationalsozialisten provozierten die gewalttätige Auseinandersetzung mit den Kommunisten durch Aufmärsche und Paraden in "roten" Arbeitervierteln. Bei dieser politischen Mobilisierung spielten die Interner Link: Kampflieder auf beiden Seiten eine nicht unerhebliche Rolle.
Die akustische Dimension der Straßenpolitik beschränkte sich jedoch nicht auf die politischen Kampflieder. Seit Mitte der 1920er Jahre erlaubte die Mikrofon- und Lautsprechertechnik die akustische Verstärkung politischer Reden im öffentlichen Raum. Lautsprecher wurden auf Autos montiert, um die Straße mit politischen Parolen zu beschallen. Bei Streiks und Demonstrationen kamen Krachinstrumente und Flüstertüten zum Einsatz. Die Polizei nutzte Trillerpfeifen zur akustischen Untermalung ihrer Autorität.
Doch auch ohne technische Verstärkung hallten die Straßen immer häufiger von Sprechchören und kollektiven Rufen wider. Dabei waren es die Nationalsozialisten, die den öffentlichen Raum mit einer immer aggressiveren Radau- und Gewaltpolitik zunehmend in Beschlag nahmen und ihren Antisemitismus hemmungslos auslebten. So zogen etwa am Abend des 12. September 1931 mehrere Hundert junge Männer durch die Joachimsthaler Straße, die Uhlandstraße und über den Kurfürstendamm, grölten antisemitische Parolen und griffen Passanten an. Das Berliner Tageblatt berichtete am darauffolgenden Tag: "Überall wurden Sprechchöre gebildet, die von Nationalsozialisten geführt und kommandiert wurden. In den genannten Straßen erschallten von allen Seiten die Rufe ‚Juda verrecke, Deutschland erwache!‘ Vor der chinesischen Gesandtschaft am Kurfürstendamm wurde ein jüdisch aussehender Herr, der einen Blumenstrauß trug, von den Nationalsozialisten blutig geschlagen. Es wurde beobachtet, dass einzelne Chöre minutenlang, ohne dass die Polizei erschien, ihr brüllendes Geschrei fortsetzen konnten."
Auch diese hässlichen Geräusche waren Teil der Klangwelt Berlins um 1930. In Ruttmanns Weekend kommen sie nicht vor. In seiner Sinfonie der Großstadt sieht man jedoch nicht nur mehrfach einen Schupo mit Trillerpfeife, sondern auch eine politische Demonstration mit einem aufgebrachten Redner. In Ruttmanns Film ist dies nur ein kurzer Moment. Im Berlin der Jahre 1930 bis 1933 waren solche Szenen jedoch ein immer stärker zu vernehmendes Element innerhalb der vielfältigen Geräusche und Klänge, aus denen sich die Sinfonie der Großstadt zusammensetzte.
Externer Link: (D 1930), Regie: Hanns Schwarz, mit Sidney Bechet und seinen "New Yorkern" (Quelle: YouTube)
Quellen / Literatur
Hans-Joachim Braun: Lärmbelästigung und Lärmbekämpfung in der Zwischenkriegszeit, in: Günter Bayerl / Wolfhard Weber (Hrsg.): Sozialgeschichte der Technik, Münster 1998, S. 251 – 258
Edward F. Brown u. a. (Hrsg.): City Noise, New York 1930
Ruth Glatzer (Hrsg): Berlin zur Weimarer Zeit. Panorama einer Metropole 1919 – 1933, Berlin 2000
Jeanpaul Goergen (Hrsg): Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989
Wolfgang Hagen: Walter Ruttmanns Großstadt-WEEKEND. Zur Herkunft der Hörcollage aus der ungegenständlichen Malerei, in: Nicola Gess u. a. (Hrsg): Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 183 – 200
Eugen Szatmari: Das Buch von Berlin (Was nicht im Baedeker steht, Bd. 1), München 1927
Emily Thompson: The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America 1900 – 1933, Cambridge, Mass. / London 2004
Eric D. Weitz: Weimar Germany. Promise and Tragedy, Princeton / Oxford 2007
Hans-Joachim Braun: Lärmbelästigung und Lärmbekämpfung in der Zwischenkriegszeit, in: Günter Bayerl / Wolfhard Weber (Hrsg.): Sozialgeschichte der Technik, Münster 1998, S. 251 – 258
Edward F. Brown u. a. (Hrsg.): City Noise, New York 1930
Ruth Glatzer (Hrsg): Berlin zur Weimarer Zeit. Panorama einer Metropole 1919 – 1933, Berlin 2000
Jeanpaul Goergen (Hrsg): Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989
Wolfgang Hagen: Walter Ruttmanns Großstadt-WEEKEND. Zur Herkunft der Hörcollage aus der ungegenständlichen Malerei, in: Nicola Gess u. a. (Hrsg): Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 183 – 200
Eugen Szatmari: Das Buch von Berlin (Was nicht im Baedeker steht, Bd. 1), München 1927
Emily Thompson: The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America 1900 – 1933, Cambridge, Mass. / London 2004
Eric D. Weitz: Weimar Germany. Promise and Tragedy, Princeton / Oxford 2007
| Article | Daniel Morat | 2022-02-07T00:00:00 | 2015-07-27T00:00:00 | 2022-02-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/sound-des-jahrhunderts/210144/die-sinfonie-der-grossstadt/ | Die berühmteste Darstellung der vielstimmigen Geräuschwelt Berlins in den 1920er Jahren war ein Stummfilm: Walter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von 1927. Besonders der Lärm des Verkehrs und des öffentlichen Lebens war auch in anderen | [
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Vom Mauerblümchen zum Fußball-Leuchtturm | Deutschland Archiv | bpb.de | Die formale Historie des 1. FC Union beginnt am 20. Januar 1966. Er geht aus der Sektion Fußball des TSC Berlin (Turn- und Sportclub Berlin) hervor und übernimmt auch dessen Platz in der DDR-Liga. Der neue Verein gehört damit zu zehn nunmehr selbstständigen Fußball-Clubs, die zwischen dem 20. Dezember 1965 und dem 26. Januar 1966 gegründet werden. Das bedeutet einen großen und staatlich gesteuerten Einschnitt für den DDR-Fußball. Union ist fortan ein privilegierter Verein im Osten, auch wenn es in den nächsten Jahrzehnten innerhalb der Elite gravierende Unterschiede hinsichtlich der wirtschaftlichen und sportlichen Bedingungen geben wird.
Im „VIP-Bereich“ des Fußball-Ostens
Erst einmal schafft Union 1966 den Sprung in den „VIP-Bereich“. Die Neue Fussball-Woche berichtet über den gleichlautenden Beschluss der Präsidien des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) sowie des Deutschen Fußball-Verbandes (DFV) der DDR zur Bildung von Fußballclubs. „Im Interesse der weiteren Steigerung der sportlichen Leistungen des Fußballsports in der Deutschen Demokratischen Republik werden ab 1. Januar 1966 die Fußballsektionen aus den bestehenden Sportclubs der DDR herausgelöst“, heißt es in der Verlautbarung. Neben Union erblicken der 1. FC Lok Leipzig, FC Karl-Marx-Stadt, FC Carl Zeiss Jena, FC Rot-Weiß Erfurt, Hallescher FC Chemie, 1. FC Magdeburg, FC Hansa Rostock, BFC Dynamo und FC Vorwärts Berlin das Licht der Welt. „Es sollen noch bessere Leistungen geschaffen werden, um das Niveau und die Leistungen der DDR-Oberligamannschaften zu heben und der Entwicklung der DDR-Auswahlmannschaften ein noch breiteres und festeres Fundament zu geben“, ist weiter im Beschluss zu lesen.
Die Veränderungen zielen auf eine Konzentration im Fußball ab. Die meisten Clubs werden seitens des Fußballverbandes gegenüber den Betriebssportgemeinschaften bevorzugt – insbesondere bei der Delegierung von Talenten und renommierten Spielern. Bis zur Wiedervereinigung kommen die Meister inklusive der Saison 1990/91 fast ausschließlich aus dem Kreis der Clubs. Nur die eine Sonderrolle einnehmende SG Dynamo Dresden bricht sieben Mal in diese Phalanx ein.
Kein Vorzeige-Verein während der Teilung
Unions sportliche Entwicklung bis 1989 eignet sich nicht für die Bestenliste, wenn man vom sensationellen FDGB-Pokal-Finalsieg von 1968 gegen Meister Jena (2:1) absieht.
Seit Juli 2018 steht vor der Haupttribüne im Stadion An der Alten Försterei ein Denkmal für die Pokalsieger von 1968. (© Matthias Koch)
Union pendelt regelmäßig zwischen Oberliga und zweitklassiger DDR-Liga und gilt als Fahrstuhl-Mannschaft. Jeweils fünf Mal steigt der Verein auf und ab. In der ewigen Tabelle der DDR-Oberliga rangieren die Wuhlheider nur auf dem 14. Platz.
Obwohl der Verein während der deutschen Teilung kein Vorzeigeverein ist, genießt er eine große Popularität. Die Fangemeine ist auch in den 1980er Jahren weitaus größer als die von Rekord-Meister BFC Dynamo.1985/86 passieren nach dem Wiederaufstieg durchschnittlich 12.692 Besucher die Kassen zum Stadion An der Alten Försterei.
Die Menschen genießen es, für ein paar Stunden dem Alltag zu entfliehen. Sie brüllen trotzig „Eisern Union“. Der legendäre Schlachtruf ist schon bei Mit-Union-Vereinsvorläufer Union Oberschöneweide in den 1920er oder 1930er Jahren zu hören. Abgesehen von den üblichen Parteitags-Parolen wirkt Union im letzten Jahrzehnt der DDR unpolitisch. Union-Anhänger organisieren beispielsweise ab der Spielzeit 1981/82 eine eigene Fanclub-Liga. Unabhängig von Staat und Verein machen sie ohne Schiedsrichter ihr Ding. Einen professionelleren Anstrich erhält die Union-Liga durch Thomas Koerner, der ab 1985 als hauptberuflicher Union-Verantwortlicher für Kultur, Bildung und Öffentlichkeitsarbeit auch für die Fanbetreuung zuständig ist. Körner kümmert sich seit Anfang der 80er Jahre im Rahmen seiner Tätigkeit im von der FDJ-Bezirksleitung geförderten Union-Jugendclub auch um den Fanclub-Fußball. Politik steht dabei nicht im Vordergrund. Die Annahme, dass der Verein ein Dach für Oppositionelle oder gar Oppositionsgruppen bildet, ist indes nicht haltbar. „Union war kein Club von Widerstandskämpfern, aber wir mussten immer wieder gegen viele politische und ökonomische Widerstände ankämpfen. Kraft holten wir uns von unseren Fans“, sagt Unions Ehrenpräsident Günter Mielis. Für heranwachsende Halbstarke ist es schon eine Form des Protests mit langen Haaren und grünem West-Parka ins Stadion zu gehen.
Von Union initiierte Plakatwand zum Derby in der 1. Bundesliga gegen Hertha BSC am S- und U-Bahnhof Frankfurter Allee. (© Matthias Koch)
Ein Zeitdokument über die damalige Sub-Kultur der Fanszene Unions ist der Dokumentarfilm „Interner Link: Und freitags in die ‚Grüne Hölle‘“ von 1989. Die Bilder und Interviews geben für die damalige Zeit überraschend ungefilterte Einblicke in das Leben von Union-Anhängern in den 1980er Jahren. Schlachtrufe wie „Tod und Hass dem BFC“ sind zu hören. Der im Mittelpunkt stehende Fan Andreas Schwadten ist vor Wimpeln des West-Berliner Vereins Hertha BSC zu sehen. Schwadten bedauert offen, dass man nicht in den Westen fahren könne. „Die Filmleute haben mir damals signalisiert, dass ich hart an der Grenze war“, sagte Schwadten 2013, der bis heute Union die Treue hält.
Der Film zeigt auch Randale-Szenen bei einem Auswärtsspiel bei Lok Leipzig. Minutenlang sind verbale und körperliche Auseinandersetzungen zwischen Lok- und Union-Fans und der Volkspolizei zu sehen. Ein Union-Anhänger berichtet, dass Polizisten gegen Union-Fans Gummi-Geschosse eingesetzt hätten. Vielleicht sind die Gewaltszenen ein Grund dafür, dass der Film in der untergehenden DDR kaum öffentlich gezeigt wird.
Union muss sich aber auch arrangieren, weil für den Verein nichts ohne die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) läuft. „Alle Vorsitzenden waren SED-Mitglieder“, sagte Unions Vereinsarchivar Gerald Karpa der Berliner Morgenpost. Auch bei Unions Erzrivalen BFC Dynamo und dem FC Vorwärts Berlin, der 1971 nach Frankfurt (Oder) umgesiedelt wird, gibt die Partei den Ton an. Bei diesen Vereinen, die im Gegensatz zu Union regelmäßig im Europacup spielen, war die Förderung durch die Staatssicherheit beziehungsweise die Volksarmee allerdings noch größer. Union gilt in diesem Trio als ziviler Fußballverein – mit klaren Nachteilen.
Etliche seiner besten Nachwuchs- und Oberligaspieler darf Union zum BFC „delegieren“. Die bekanntesten von ihnen sind Nationalspieler Reinhard Lauck (1973) sowie Detlef Helms (1977), Waldemar Ksienzyk und Oskar Kosche (beide 1984). Union muss sich dagegen mit aussortierten BFC-Spielern begnügen, wobei beispielsweise Mittelfeldmann Olaf Seier (1983) und Stürmer Ralf Sträßer (1984) über Jahre sportlich positiv prägend sind. Hinsichtlich der Einzugsgebiete für Neuverpflichtungen und Nachwuchstalente, die in der DDR fast schon penibel aufgeteilt sind und bei Nichtbeachtung zu Streitigkeiten auf bezirkspolitischer Ebene führen, muss sich Union auf kleine Territorien wie die Stadtbezirke Köpenick, Mitte und Pankow beschränken. Als Club zweiter Klasse hat Union zudem eine geringere Lobby bei Schiedsrichtern, gerade wenn der Gegner BFC Dynamo heißt. Zudem werden Stammkräfte des Vereins wesentlich häufiger zum Dienst bei der Nationalen Volkarmee (NVA) einberufen. Zwischen 1984 und 1988 verliert der Verein allein sechs etablierte Fußballer auf diese Weise und damit die meisten aller 14 Vereine, die 1988/89 in der höchsten DDR-Spielklasse kicken.
Dennoch profitiert Union insgesamt vom Sportsystem der DDR. Finanziert wird der Verein auch in den 1980er Jahren von volkseigenen Betrieben. Quasi-Hauptsponsor Kabelwerk Oberspree (KWO) übernimmt bis zu seiner Abwicklung im Sommer 1991 große Teile der Spielergehälter. Unions Rekordspieler Lutz Hendel, der bis 1993 insgesamt 421 Pflichtspiele bestreitet, ist beim DTSB angestellt. An der Werkbank oder im Büro tauchen die Kicker jedoch gar nicht oder nur äußerst selten auf. Die Spieler bekommen in der Regel zwischen 800 und 1.500 Ost-Mark überwiesen, ohne einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Zudem können sie durch Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung auf Sonderlisten gesetzt werden, durch die man schneller an Autos oder Wohnungen herankommt. Davon kann ein Normalbürger ohne Beziehungen seinerzeit nur träumen.
Nur zweitklassig im Wendejahr
1988 schafft der 1. FC Union mit einem Last-Minute-Sieg in Karl-Marx-Stadt zum letzten Mal den Klassenerhalt in der DDR-Oberliga. Im Sommer 1989 steigen die Eisernen sang- und klanglos als Tabellenletzter ab. Als sich in Europa und Deutschland die politischen Veränderungen anbahnen, ist der Verein nur zweitklassig. Die wenig glamourösen Gegner heißen Chemie Velten, Aktivist Schwarze Pumpe, Schiffahrt Hafen/Rostock oder Lok Armaturen Prenzlau. Die Mannschaft von Trainer Karsten Heine ist ausgerechnet in der Zeit des Mauerfalls nicht gut genug. Spektakuläre Transfereinnahmen wie beim BFC Dynamo, der für den Wechsel von Nationalstürmer Andreas Thom zum westdeutschen Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen mindestens 2,5 Millionen DM einnimmt, gibt es nicht.
Bald kann auch das KWO nichts mehr „zuschustern“, das 1992 an eine englische Firma verkauft wird. „Sie waren bis 1992 auf der Brust und der Betrieb hat uns in der Wendezeit noch sehr stark geholfen“, erzählte der damalige Union-Manager Pedro Brombacher. Auch mit dem maroden Stadion, dessen Ausbau zu einer wirklich tauglichen Spielstätte fast zwei Jahrzehnte dauern wird, kann Union nicht punkten. Das seit 1920 genutzte Areal hat kein Dach. Die Fans stehen bei Wind und Wetter ungeschützt da. Den fehlenden Service sind die Anhänger gewohnt. Das können sie durch die Liebe zum Verein ab. Doch sportlich läuft es nicht. Im Rennen um den Aufstieg setzt sich zunehmend der große Rivale FC Vorwärts Frankfurt (Oder) ab. Union verbleibt in der Zweitklassigkeit. Trainer Heine verliert im März 1990 vorzeitig seinen Job.
Bevor Union sportlich noch mehr zum Mauerblümchen wird, erleben Heine und Co. aber noch die Annäherung an Hertha BSC. Während der deutschen Teilung gab es nur ein unsichtbares Band, das manche Fans der beiden populärsten Vereine in West- und Ost-Berlin miteinander verband: Hertha-Anhänger besorgten Unionern Eintrittskarten für Spiele westlicher Mannschaften im sozialistischen Ausland. Die Unioner feuerten die Hertha an, wenn diese wie 1977 bei Slovan Bratislava oder 1978 bei Dynamo Dresden antrat. Hertha-Fans besuchten im Gegenzug Union-Heimspiele. Durch den Mauerfall können sich alle offen sehen.
Über 50.000 Zuschauer aus beiden Teilen Berlins sind am 27.01.1990 ins Olympiastadion zum Freundschaftsspiel zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union Berlin gekommen. Die Partie endete mit einem 2:1 (1:1) für Hertha. (© picture-alliance/dpa, dpa)
Am 27. Januar 1990 findet ein Freundschaftsspiel zwischen Hertha und Union im Olympiastadion statt. 51.270 Zuschauer erleben einen 2:1-Erfolg der Hertha. Das Ergebnis steht jedoch nicht im Vordergrund. „Hertha schlug Union – aber alle fühlten sich als Sieger“, titelt die West-Berliner B.Z. So nah wie an diesem Tag sind sich Hertha und Union auf Fan-, Funktionärs- und Spielerebene nie wieder. Das „Rückspiel“ im Stadion An der Alten Försterei am 12. August 1990, das Union mit 2:1 gewinnt, wollen nur noch 3800 Zuschauer sehen. In den folgenden Jahren wird die Distanz zwischen beiden Vereinen immer größer.
Lizenzentzug und Fast-Pleite
Die ersten Nachwende-Jahre sind bitter für Union. Der Verein ist ab der ersten gesamtdeutschen Spielzeit 1991/92 nur noch drittklassig, weil er im Sommer 1991 als Liga-Meister an der Relegation zur 2. Bundesliga scheitert. Viele Menschen kehren dem Club den Rücken zu, auch weil sie ihr eigenes Leben neu organisieren müssen: Der Job geht jetzt vor. In den drei Serien 1991/92 bis 1993/94 erscheinen in den normalen Heim-Meisterschaftsspielen im Schnitt keine 1000 Zuschauer mehr. Ab 1991 kommt es im Punktspielbetrieb auch zu ersten Partien gegen die sogenannten Multi-Kulti-Mannschaften West-Berlins. Einige Union-Fans bringen ihre Fremdenfeindlichkeit offen zum Ausdruck. Beim Landes-Pokalspiel gegen Türkiyemspor Berlin 1992 gibt es schlimme ausländerfeindliche Beschimpfungen der Gäste durch Union-Fans. Die Selbstregulierung innerhalb der aktiven Fanszene, die im ständigen Austausch mit der Vereinsführung steht, lässt dafür in den nächsten Jahren aber schon bald keinen Raum. In der Stadionordnung heißt es: „Das Recht aller Personen auf Nichtdiskriminierung, unabhängig von der geschlechtlichen Identität oder sexuellen Ausrichtung, der ethnischen Herkunft, der Religion, der Weltanschauung, des Alters, einer Behinderung oder Handicaps, wird durch die Besucher des Stadions An der Alten Försterei anerkannt.“ Die Satzung des 1. FC Union schreibt vor, dass der Verein politisch und religiös neutral ist und sich seinem Handeln demokratischen und humanistischen Grundwerten verpflichtet. Zuwiderhandlungen werden sanktioniert. 2013/14 erhält die unter Rechtsextremismus-Verdacht stehende brandenburgische Gruppierung Crimark vom Verein für die Alte Försterei ein Auftrittsverbot als Gruppe.
Das öffentliche Interesse in den 1990 Jahren steigt nur in den Relegationsspielen zur 2. Bundesliga. Aber auch 1992 und 1993 scheitert Union am Aufstieg in den- „wahren Profifußball“. 1993 feiern die Köpenicker nach einem 1:0-Heimsieg gegen den Bischofswerdaer FV vor 17.000 Zuschauern zwar den Aufstieg. Doch eine gefälschte Bankbürgschaft kippt den sportlichen Erfolg. Stattdessen steigt die sportlich unterlegene Mannschaft von Tennis Borussia auf. In der 1990er Jahren ist TeBe deswegen bei Union-Fans verhasst.
Beim Deutschen-Fußball-Bund (DFB) hat Union keine Lobby mehr. 1994 wird Union wieder Meister in der NOFV-Oberliga (Nordostdeutscher Fußballverband e.V.). Doch diesmal verweigert der DFB wegen einer fehlenden Bankbürgschaft die Lizenz. Stattdessen nimmt Energie Cottbus als Vizemeister an der Aufstiegsrunde teil und scheitert. Union verliert auch Frank Pagelsdorf. Der erste West-Trainer des Vereins geht wegen der Finanzmisere zu Hansa Rostock. In Unions verrückten Nachwendejahren entsteht ein neuer Mythos des unterdrückten Underdogs. Die „Erzfeinde“ heißen nun nicht mehr der BFC Dynamo und Stasi, sondern Tennis Borussia und DFB. Ausschlaggebend sind eigene Unzulänglichkeiten und die Unerfahrenheit der Vereinsführung.
Das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Anspruch und Wirklichkeit klaffen zwischen 1994 und 1998 weit auseinander. Geld ist in diesen Jahren oft so rar, dass mehrfach die Zahlungsunfähigkeit droht. Dennoch leistet sich der Verein den Luxus, mit Frank Engel, Hans Meyer, Eckhardt Krautzun, Frank Vogel und Karsten Heine mehrere Trainer zu verschleißen. Nach dem skandalträchtigen Ausstieg von Hauptsponsor Manfred Albrecht, dessen (nie gebauter) Sportpark den Verein eigentlich sanieren sollte, ist der Aufstieg 1996/97 kein Thema. Über Monate werden keine Gehälter mehr bezahlt. Im Februar 1997 steht der Verein vor dem Konkurs. Berliner Tageszeitungen berichten bereits über den drohenden Neubeginn in der Kreisliga C. Das ruft Union-Fans auf den Plan. Sie organisieren am 23. Februar 1997 eine Demonstration vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor. „Rettet Union!“, ist die Botschaft. Sie wird erhört. Das Medienecho ist groß. Union überlebt, auch weil Sportartikel-Hersteller Nike einsteigt.
Der neue Präsident Heiner Bertram, der am 7. Oktober 1997 seine sechsjährige Amtszeit beginnt, kann aber erst im März 1998 aufatmen. Seit dieser Zeit engagiert sich Michael Kölmel bei Union. Der Filmrechtehändler, Investor und Fußball-Fan übernimmt die kurzfristigen Verbindlichkeiten in Höhe von 1 Million DM und eröffnet dem Verein neue wirtschaftliche Perspektiven.
Zwischen Europa-Cup und Viertklassigkeit
Union steigt mit Kölmel vom Bettelmann zum Millionär auf. Mit dem bulgarischen Trainer Georgi Wassilew und etlichen Neuzugängen wird nach Jahren wieder die 2. Bundesliga ins Visier genommen. Union holt in der Regionalliga Nordost den Meistertitel. In den Aufstiegsspielen gegen Nordmeister VfL Osnabrück gibt es den ersten Matchball. Nach dem 1:1 im Hinspiel am 28. Mai 2000 vor 15.575 Zuschauern im Stadion An der Alten Försterei ist der VfL Favorit. 1:1 endet aber auch der Rückkampf vier Tage später. Das Aus für Union kommt im Elfmeterschießen (8:9). Die Berliner scheitern auch in der Trostrunde gegen den SC Pfullendorf (3:1) und LR Aalen (1:2). Mehr Drama geht nicht.
Zwölf Monate später ist die Welt für Union „rosig“. Da es nur noch zwei Regionalligen gibt, steigt Union als Nordost-Meiser mit großem Vorsprung direkt erstmals in die 2. Bundesliga auf. Zeitgleich stürmt der Drittligist bis ins Finale des DFB-Pokals. Am 26. Mai 2001 unterliegt Union vor 73.011 Zuschauern im Berliner Olympiastadion Schalke 04 ehrenhaft mit 0:2. Durch die Champions-League-Teilnahme der Schalker spielt Union sogar im UEFA-Cup gegen den finnischen Vertreter Haka Valkeakoski (1:1, 3:0) und Litex Lowetsch (0:2, 0:0) aus Bulgarien. In der Debütsaison in Liga zwei springt der sechste Platz heraus. Das ist der Höhepunkt der Ära von Vereinsboss Bertram und Trainer Wassilew. Doch schon bald kriselt es mal wieder in Köpenick. Nach einem Machtkampf mit Bertram verliert Wassilew im Herbst 2002 seinen Posten, die Saison endet unter Nachfolger Mirko Votava mit Platz neun. Finanziell wird es aber durch ausbleibende TV-Einnahmen aufgrund der Krise des Medienunternehmens Kirch-Gruppe schon wieder ein bisschen enger. 2003/04 steigt die Mannschaft aus der 2. Liga ab. Es geht allgemein chaotisch zu. Nicht nur Trainer Votava muss gehen. Lange vorher wird noch Präsident Bertram, in dem manche einen Sonnengott sehen, vom Aufsichtsrat abgewählt. Die folgende Schlammschlacht hält den Verein über Monate in Atem. Am Saisonende ist Union plötzlich so klamm, dass die Lizenz für die Regionalliga mächtig wackelt. Bis zum 9. Juni 2004 fordert der DFB eine Liquiditätsreserve in Höhe von 1,46 Millionen Euro.
Daraufhin löst der Verein mit der „Bluten-für-Union“-Aktion eine Kampagne aus, die neben der Rettung vor dem Konkurs 1997 und dem Stadionbau 2008/09 wohl am meisten die schier unendliche und identitätsstiftende Solidaritätsbereitschaft der Union-Fanszene nach 1989 widerspiegelt. Tatsächlich geblutet wird in den vier Blutspende-Zentren Hellersdorf, Prenzlauer Berg, Marzahn und Tegel. Für jede Blutspende erhält Union 10 Euro. Geld konnte auch so gespendet oder als Darlehen geliehen werden. Tausende „Bluter-T-Shirts“ zum Preis von 15 Euro finden Abnehmer.
Hinzu kommen große Benefizveranstaltungen wie die „Blutsbrüder“-Freundschaftspartie gegen den FC St. Pauli (0:0) am 2. Juni 2004 vor 5.152 Zuschauern und das Benefizkonzert der Gruppe City am 5. Juni 2004 in der Alten Försterei, für das VIP-Karten in Anlehnung an die insgesamt aufzubringende Summe 146,10 Euro kosten. Auch der FC Bayern München, der am 11. Juli 2004 zu einem Testspiel vor 15.000 Fans in Köpenick antrat, zeigt sich solidarisch. Am 4. Juni 2004 wird offiziell die Millionen-Grenze überschritten. Doch in Wahrheit hat der Verein fünf Tage vor Ablauf der Deadline viel weniger zusammen. „Deshalb haben Kölmel und ich uns darauf verständigt, dass vom Fehbetrag jeder die Hälfte übernimmt“, erinnert der damalige Aufsichtsrat Dirk Zingler 2013.
Mit Neuhaus geht es wieder nach oben
Zingler wird am 1. Juli 2004 Präsident des Vereins. Er kümmert sich in den nächsten Jahren intensiv um den Erhalt des Stadion-Standortes Alte Försterei. Mit ihm wird der Verein wachsen wie nie zuvor. Zingler gilt bis heute als Chef mit harter Hand. Die Fans können sich aber aktiv einbringen. Sportlich steigt der Verein im ersten Jahr der Amtszeit von Zingler jedoch erstmals in die vierte Liga ab. Die neu zusammengestellte Mannschaft ist völlig überfordert. Aber in der NOFV-Oberliga Nord findet Union wieder zu sich selbst. Die Fans blieben treu. Der Zuschauerschnitt ist mit 5873 Fans höher als der in der vorhergehenden Regionalliga-Serie (4628). Zudem begleicht Union beim Wiedersehen mit einem „Erzfeind“ eine alte Rechnung. Der BFC Dynamo wird am 21. August 2005 vor über 14.000 Besuchern in der Alten Försterei mit 8:0 gedemütigt. 2006/07 spielt Union wieder in der drittklassigen Regionalliga Nord. 2007 wird mit Uwe Neuhaus ein Trainer verpflichtet, der vielleicht schon einen Union-Rekord für die Ewigkeit aufgestellt hat: Sieben Jahre lang sitzt der frühere Verteidiger an der Seitenlinie. Länger ist kein Chefcoach in der inzwischen 53-jährigen Vereinsgeschichte ununterbrochen im Amt.
2009 wird Neuhaus mit Union erster Drittligameister, obwohl der wegen der Modernisierung der Alten Försterei ein Jahr lang in den Jahn-Sportpark ausweichen muss. Mit langjährigen Union-Kickern wie Jan Glinker, Daniel Göhlert, Patrick Kohlmann, Torsten Mattuschka, Michael Parensen und Christian Stuff etabliert Neuhaus den Verein in der 2. Bundesliga. 2010/11 gelingt die umjubelte inoffizielle Stadt-Meisterschaft gegen Hertha BSC. Nach dem 1:1 in der Hinrunde in Köpenick freuen sich die Union-Fans nach dem entscheidenden Freistoßtor von Torsten Mattuschka über einen 2:1-Erfolg vor 74.244 Zuschauern im Olympiastadion.
Seit Juli 2018 steht vor der Haupttribüne im Stadion An der Alten Försterei ein Denkmal für die Pokalsieger von 1968. (© Matthias Koch)
Von Union initiierte Plakatwand zum Derby in der 1. Bundesliga gegen Hertha BSC am S- und U-Bahnhof Frankfurter Allee. (© Matthias Koch)
Über 50.000 Zuschauer aus beiden Teilen Berlins sind am 27.01.1990 ins Olympiastadion zum Freundschaftsspiel zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union Berlin gekommen. Die Partie endete mit einem 2:1 (1:1) für Hertha. (© picture-alliance/dpa, dpa)
Angesichts der Mittelfeldplatzierungen zwischen 2009 und 2014 (12., 11., 7., 7., 9. Rang) kann sich die Vereinsführung während der Modernisierung des Stadions 2008/09 und der Errichtung der Haupttribüne 2012/13 aufs Bauen konzentrieren.
Bei der Erneuerung der drei Stehplatztribünen 2008/09 schreiben die Union-Fans erneut Geschichte. Über 2 000 Stadionbauer helfen ein Jahr ehrenamtlich mit. „Der Anteil der Fans betrug durch ihre freiwillige Arbeit in 140.000 Arbeitsstunden rund zwei Millionen Euro. Einen ebenso hohen Beitrag haben Unternehmen geleistet, die als Stadionpartner fungieren“, sagte Zingler. Den Aufstieg in die 1. Liga traut der Klub Neuhaus jedoch nach einigen Jahren nicht mehr zu. 2014 muss der langjährige Trainer vorzeitig gehen. Auch seine Nachfolger Nobert Düwel, Jens Keller und André Hofschneider können Union noch nicht in die Bundesliga führen. 2017/2018 schwebt Union sogar zwischenzeitlich in Abstiegsgefahr. Erst unter dem Schweizer Trainer Urs Fischer, der den Posten im Sommer 2018 übernimmt, pirscht sich Union wieder an die Bundesliga heran. Die Saison 2018/19 bringt den dritten Platz. In der Relegation gegen den VfB Stuttgart (2:2, 0:0) setzt sich Union aufgrund der Auswärtstorregel durch.
Die 1. Bundesliga ist tatsächlich Realität. Köpenick hebt am 27. Mai 2019 ab. Es setzt ein Party-Marathon ein, der erst nach zwei Tagen endet: Empfang im Roten Rathaus von Berlin, Boots-Corso mit den Fans von der Innenstadt nach Köpenick, wo Tausende das Ufer des Luisenhains säumen. Abschlusssause im Stadion. Union nimmt alles mit.
Der Weg bis zum mutmaßlich größten Erlebnis vieler Unioner seit dem Mauerfall ist lang. Zehn Jahre lang führt er die Eisernen zuvor durch die 2. Liga. Doch Fürth, Sandhausen und Bochum steuert der Mannschaftsbus vorerst nicht mehr an. Jetzt heißen die Gegner Bayern München, Borussia Dortmund und Schalke 04. Hertha BSC wird 1:0 bezwungen, auch wenn Fans beider Lager beim ersten Berliner Bundesliga-Derby seit 42 Jahren kein gutes Bild abgeben. Hüben wie drüben brennt Pyrotechnik ab. Nach Abpfiff sprangen einige Union-Anhänger in den Innenraum, ehe sie von den eigenen Spielern zurückgedrängt wurden. Sportlich sind die Eisernen oben auf. Lässt man die bei Union-Fans regelrecht verhassten Leipziger von RB außen vor, hat sich der FCU zum Leuchtturm im Osten gemausert.
Von einem Kiezverein kann man schon lange nicht mehr sprechen. Die Union-Familie wächst im Prinzip täglich. Union hat über 300 Beschäftigte und zum 27. November 2019 34.681 eingetragene Mitglieder. Seit dem Aufstieg in die Bundesliga sind es über 11.000 Neu-Eintritte. Das Stadion An der Alten Försterei müsste dringend erweitert werden. Die nächste Ausbaustufe ist aber zumindest theoretisch in Sicht. Im Juni 2017 stellt der Verein seine Pläne vor. Das Fassungsvermögen soll auf 36.978 Besucher steigen. Für das 38-Millionen-Euro-Projekt hat Union aber noch keine Baugenehmigung. Hauptproblem ist die Verkehrsproblematik rund um die Spielstätte.
Ursprünglicher Anlass für die Erweiterung war die Forderung der Deutschen Fußball-Liga (DFL), dass Erstligastadien seit 2017/18 insgesamt 8000 Sitzplätze vorweisen müssen. Union besitzt nur 3617. Zudem ist die Kartennachfrage gewaltig. Tickets sind im Prinzip seit Jahren nur noch für Vereinsmitglieder erhältlich. Der Club ist zum Losverfahren übergangen. Das gilt auch für das von Fans initiierte Weihnachtssingen, das 2003 mit 89 Teilnehmern begann und inzwischen alljährlich am 23. Dezember 28.500 Menschen anzieht.
Zitierweise: "Vom Mauerblümchen zum Fußball-Leuchtturm - Der Weg der Kicker des 1. FC Union Berlin seit der Wende 1989“, Matthias Koch, in: Deutschland Archiv, 28.11.2019, Link: www.bpb.de/301246
Hier können gibt es den Film Interner Link: "Und freitags in die Grüne Hölle".
Die Neue Fußball-Woche, 7.12 1965.
Ebd.
Matthias Koch, Immer weiter ganz nach vorn, Die Geschichte des 1. FC Union Berlin, Verlag die Werkstatt, Göttingen 2013, S. 99.
Ernst Cantzler/Burghard Drachsel, „Und freitags in die Grüne Hölle“, Dokumentarfilm über die Fanszene des 1. FC Union, 1989.
Matthias Koch, Immer weiter ganz nach vorn (Anm. 3), S. 354.
Jens Anker, „Wie der Wind und das Meer“, in Berliner Morgenpost, 1.11. 2019, S. 3.
Matthias Koch, Immer weiter ganz nach vorn (Anm. 3), S. 124ff.
Ebd, S. 140.
Ebd, S. 140.
Stadionordnung des 1. FC Union Berlin, Paragraf 5.2., https://www.fc-union-berlin.de/de/stadion/stadionordnung/, letzter Zugriff am 20.11. 2019.
Satzung des 1. FC Union Berlin, Paragraf 2.1., https://www.fc-union-berlin.de/de/verein/satzung/, letzter Zugriff am 20.11. 2019
Matthias Koch, Immer weiter ganz nach vorn, (Anm. 3), S. 242
Ebd., S. 289
Diese Zahlen wurden auf der Mitgliederversammlung des Vereins am 27.11. 2019 in der Berliner Verti Music Hall präsentiert.
| Article | Matthias Koch | 2022-02-09T00:00:00 | 2019-11-28T00:00:00 | 2022-02-09T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/301246/vom-mauerbluemchen-zum-fussball-leuchtturm/ | Der 1. FC Union Berlin ist oben angekommen. Als 56. Verein sind die Köpenicker in die Fußball-Bundesliga aufgestiegen. Alle einst besser platzierten Ost-Vereine haben „die Eisernen“ in den letzten drei Jahrzehnten überholt und um Längen abgehängt. Di | [
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Eröffnungsrede von Thomas Krüger zum Festakt des 25. Jugendfotopreises zum Thema "Mein Deutschland" am 25. September 2015 im Deutschen Historischen Museum in Berlin | Presse | bpb.de | Liebe Preisträgerinnen und Preisträger, Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Liebe Festgäste,
sehr gerne bin ich heute Abend zum Festakt des 25. Deutschen Jugendfotopreises gekommen, denn er ist für mich nicht nur eine historische, sondern auch eine persönliche Erinnerung.
1991 war ich bei der Preisverleihung zum ersten gesamtdeutschen Jugendfotopreis dabei – damals noch als Jugendsenator von Berlin. "Mein Deutschland" ist das Motto dieses Fotowettbewerbes. Mein Deutschland war die DDR, die ich mir schon als Jugendlicher anders vorgestellt hatte. Aber als Regimegegner war man kaltgestellt und aus dem Spiel, und nur die Kirche bot einen Schutzraum vor dem Regime.
Der Deutsche Jugendfotopreis 2015 hat das Ziel, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die eigene Lebenssituation reflektieren und die gesellschaftspolitische Bedeutung von Fotos am Beispiel einer Zeitreise zu 25 Jahren Wiedervereinigung diskutieren. Die Auszeichnung besteht aus einer Reise nach Berlin, dem Festakt und einer dreitägigen Preisträgerveranstaltung, die sich mit dem Fotografieren und der Bedeutung von Fotos in unserem Leben beschäftigt. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb hat sich daher sehr gerne an diesem Jubiläums-Fotowettbewerb im 25. Jahr nach der Wiedervereinigung beteiligt.
Renommierte Fotografinnen wie Bettina Flitner und Fotografen wie Harald Hauswald, haben seit der Wendezeit markante Orte und Motive ausgewählt und geben morgen ihre Erfahrungen in Fotoworkshops an die Jugendlichen weiter. Bettina Flitner stellte dieses Jahr ihre Werkschau in Köln so vor: "Mit der Kamera in der Hand kann ich alles fragen und alles sagen. Fotografieren ist eine Art die Welt zu erfahren und diese Welt sichtbar zu machen."
Was bedeuten die ausgewählten Orte in der deutschen Geschichte, welche Bedeutung haben die Fotos und wie hat sich unsere Wahrnehmung verändert? Mit der Wiedervereinigung ist nicht nur die Mauer fast spurlos verschwunden – sondern auch die Erinnerung in den Köpfen erfuhr einen ungewöhnlichen Wandel. Welche Bilder bewahren die Deutschen zu Hause als private Erinnerung an die Revolution und den Mauerfall auf? Welche Bilder vom 9. November 1989 gingen in der internationalen Fernsehberichterstattung um die Welt? Im kollektiven Gedächtnis vieler Deutscher sind die Fotos und Fernsehbilder von der friedlichen Revolution 1989/90 verankert. Abseits der offiziellen Bilder präsentierte sich diese Umbruchszeit aber ganz anders.
Wie sich der Blick verändert, hat die bpb schon zum 20. Jahrestag des Mauerfalls dokumentiert. Für die Ausstellung "Wir waren so frei ... Momentaufnahmen 1989/90", haben wir den Bilderreichtum der Zeitenwende gesammelt. Auf der Website Externer Link: www.wir-waren-so-frei.de, die gemeinsam mit der Deutschen Kinemathek entstand, sind heute fast 7000 private Filme und Fotos aus der Umbruchzeit 1989/90 sowie über 100 begleitende Erinnerungstexte zu finden. Die persönlichen Erfahrungen der Fotografen und Filmemacher bieten ganz unterschiedliche Blicke auf die historischen Ereignisse und deren Auswirkungen auf den Alltag in Ost und West.
Bildbotschaften kommen an. Der erhoffte Wandel von der Wendezeit bis heute ist für jeden ersichtlich. Wer Deutschland von außen betrachtet, findet keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West. Mit dem Aufbau Ost ist an Verfassungszielen, wie gleichwertige Lebensbedingungen und Chancengleichheit, gearbeitet worden. Das ist die Erfolgsgeschichte. Überlagert wurde dieser Prozess vom Ausbluten der ländlichen Räume, vom Wegzug in die Stadt mit der Verheißung des Wohlstands. Wenngleich die deutsche Einheit heute erreicht ist, dann ist sie exklusiv. Sie ist abgelöst worden von neuen Herausforderungen: Wer ist oben, wer ist unten? Wer gehört dazu und wer steht vor der Tür? Und wie nehmen wir diese Realität wahr?
Durch die aktuelle Flüchtlingsbewegung ist der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland ruckartig sichtbarer geworden. Die Bereitschaft, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, und für die Idee einer homogenen Gesellschaft zu werben, hat sich radikal verstärkt.
Aber wir haben auch zahlreiche Gegeninitiativen erlebt, die für eine Willkommenskultur einstehen und von Empathie mit den Flüchtlingen zeugen. Die gibt es auch, diese Gesichter müssen wir stärken. Wir müssen außergewöhnliche Wege in außergewöhnlichen Zeiten gehen. Wir brauchen eine Art Solidarpakt III. Wir haben in den 90er Jahren gute Erfahrungen damit gemacht, als es darum ging, die Herausforderung der Deutschen Einheit zu schultern. Was wir jetzt brauchen, ist eine neue Solidarität.
Die Teilnehmenden am Deutschen Jugendfotopreis spüren seit jeher die Herausforderungen der Gegenwart auf. Für das Motto „Mein Deutschland“ war nach der fotografischen Darstellung von Deutschland gefragt. Viele der 4300 eingereichten Motive der über 1900 Teilnehmenden haben mit uns und unserem Zusammenleben zu tun. Maxim von Schirach zum Beispiel hat Fotos aus dem Umfeld des Münchener Hauptbahnhofes dokumentiert. "Der Alltag in diesem Viertel hat einen ganz anderen Ablauf als im Rest der Stadt", schreibt er dazu. "Es leben dort Menschen aus verschiedenen Ländern, die ihre Gebräuche und Sitten mitgebracht haben. Ein Jahr lang versuchte ich diesen Alltag und Lebensstil festzuhalten."
In seiner Analyse "Oben – Mitte – Unten", 2015 herausgegeben von der bpb, stellt Stefan Hradil fest: "Ein wachsender Anteil der Menschen hält das Gefüge des Oben und Unten für ungerecht. In keinem Land der Welt wächst der Reichtum so schnell wie in Deutschland. 2014 hat Deutschland laut Managermagazin nach den USA mit 19.000 weltweit die zweitmeisten Multimillionäre." Gleichzeitig steigt seit Jahren die Armutsquote: 12,5 Millionen Menschen in Deutschland gelten nach dem Armutsbericht 2015 als arm.
Die eingereichten Fotos des Deutschen Jugendfotopreises bilden auch diese Fragen ab: Was ist eine gerechte Gesellschaft? In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Bilder und Clips prägen die Mediennutzung der Jugendlichen immer mehr. Und wenn sich die Preisträgerinnen und Preisträger in Fotoaktionen mit berühmten deutschen Fotografinnen und Fotografen fragen: Was kann Fotografie heute bewirken? Dann ist das auch die Frage nach dem Politischen in der Fotografie.
Fast visionär helfen die Fotos mit, die Gesellschaft auf die Herausforderung einzustimmen. Danny Hane gibt in seinem Fotoprojekt eine Antwort: "Die Frage, was ist Deutschland für mich, wird in der Tiefe meiner Bilder beantwortet." Hane hat auch noch eine kleine Botschaft: "Einen Wunsch würde ich gerne Deutschland auf den Weg geben: Atme Deutschland, atme!"
Atmen wir den Geist der politischen Botschaften, der von den Fotos des Deutschen Jugendfotopreises 2015 ausgeht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
- Es gilt das gesprochene Wort - | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2015-10-05T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/213078/eroeffnungsrede-von-thomas-krueger-zum-festakt-des-25-jugendfotopreises-zum-thema-mein-deutschland-am-25-september-2015-im-deutschen-historischen-museum-in-berlin/ | 1991 war ich bei der Preisverleihung zum ersten gesamtdeutschen Jugendfotopreis dabei – damals noch als Jugendsenator von Berlin. „Mein Deutschland“ ist das Motto dieses Fotowettbewerbes. Mein Deutschland war die DDR, die ich mir schon als Jugendlich | [
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Eine Nation entsteht | USA | bpb.de | Menschen wanderten auf das heutige Territorium der USA irgendwann zu einem nicht sicher geklärten Zeitpunkt während der letzten Eiszeit ein, über eine Landbrücke aus Asien oder entlang der Küsten. Während in Zentralamerika schon vor über 3.000 Jahren Hochkulturen existierten, wurde im ersten Jahrtausend der Südwesten der USA von Mittelamerika aus kolonisiert. Vor 1300 erreichte die Anasazi-Kultur ihre Blüte. In Cahokia bei St. Louis wurden unter mesoamerikanischem Einfluss gewaltige Erdpyramiden errichtet, die größten derartigen Strukturen weltweit.
Im Süden der heutigen USA existierten zur Zeit des ersten europäischen Kontakts um 1500 komplexe Gesellschaften mit Arbeitsteilung, intensiver Landwirtschaft sowie ausgedehntem Handel entlang der Flüsse und Küsten. Wie viele Menschen damals in Nordamerika lebten, ist kontrovers. Sicher ist, dass von Europa eingeschleppte Krankheiten zu einem massiven Bevölkerungsrückgang führten und zur erneuten Verwilderung längst kultivierter Gebiete, als im 17. Jahrhundert im Süden und Osten der heutigen USA europäische Siedlungstätigkeit begann.
Im 17./18. Jahrhundert prägten Nordamerika zunehmend europäische Rivalitäten. Zunächst hatte sich im Norden des spanischen Imperiums eine europäisch-indianische Grenzzone gebildet (Santa Fé, 1589). Dann schufen Franzosen ihr Handelsimperium in Kanada (Québec, 1608). Auch die Holländer (Neu Amsterdam auf Manhattan, 1625) beteiligten sich am Pelzhandel. Das verschärfte Konflikte zwischen einigen indigenen Völkern, die sich mit Kolonialmächten gegen ihre traditionellen Feinde verbündeten. Um das französische, britische und russische Vordringen (Alaska) zu stoppen, stieß Spanien nach 1700 nach Arizona, Texas und Kalifornien vor (San Francisco, 1776).
Von 1600 bis 1800 migrierten etwa 1 Million Europäer und Europäerinnen nach Nordamerika, zugleich wurden 2,5 Millionen Afrikaner und Afrikanerinnen als Versklavte gewaltsam dorthin verschifft, verstarben aber vielfach schon auf der Überfahrt. Prägend für die USA wurden die englischen Atlantik-Kolonien, ausgehend von der Gründung Virginias (Jamestown, 1607). Hier wie auch in Maryland etablierte sich das Muster der englischen Siedlerkolonie, die auf Agrarexporte zielte. Mit dem profitablen Tabakanbau wuchs der Arbeitskräftebedarf. 1619 landeten holländische Freibeuter erstmals afrikanische Versklavte an.
Die Ursprünge Virginias waren kommerzieller Natur, die Neuenglands ideologischer. Dort siedelten Puritaner, religiöse Oppositionelle gegen die anglikanische Staatskirche. Sie setzten auf persönlichen Glauben, religiöse Wiedergeburt, disziplinierte Arbeit und strikte Moral. Eine Gruppe puritanischer Separatisten, die Pilgrim Fathers, gründeten 1620 Plymouth. Noch auf dem Schiff unterzeichneten sie den "Mayflower Compact" und bekundeten ihren Willen zur Selbstregierung. Eine zweite Gruppe puritanischer Kaufleute unter John Winthrop erhielt 1630 das Privileg zur Gründung von Massachusetts, wo sie eine damals denkbar radikale Form der Selbstregierung mit Beamtenwahl und Repräsentativsammlung (Assemblies) verwirklichten.
Im Verhältnis zu Indigenen bildete sich in den englischen Kolonien ein von der spanischen und französischen, stärker auf Vermischung und Integration abzielenden "inkludierenden" Grenze, abweichendes Modell heraus. Der erste größere "Indianerkrieg" gegen die Pequot 1636/37 endete im Genozid. Das Abschlachten von Kindern und Frauen wurde religiös legitimiert. Hauptgrund für den exklusiven Charakter der englischen Grenzen war die Bevölkerungsdynamik. Wo sich Briten wie an der Hudson Bay auf Pelzhandel konzentrierten, setzen auch sie auf Anpassung und Kooperation. Von 1700 bis 1763 verdoppelte sich die europäisch besiedelte Fläche. Beim ersten Zensus 1790 lebten 3,9 Millionen Menschen in USA, davon 750.000 aus Afrika. 48% waren Engländer, 12% Schotten oder Iro-Schotten, etwa 10% Deutsche.
Unabhängigkeit!
Die wachsende Freiheit der Europäer, die in allen Kolonien Repräsentativversammlungen besaßen, die Verschlechterung der Situation der Versklavten sowie die Marginalisierung der Ureinwohner gingen Hand in Hand. In einer Phase relativer Vernachlässigung durch die Krone 1713 bis 1763 bildete sich eine neue politische Kultur heraus. Ein hoher Anteil der weißen Männer hatte das Wahlrecht. Die Assemblies sahen sich als Gegengewichte zu den königlichen Gouverneuren. Weil mehr (weiße) Amerikaner als Europäer des Lesens kundig waren, nahmen sie reger an der Politik teil.
Auch kulturell unterschied sich der nordamerikanische Englishman zunehmend von seinem europäischen "Bruder". Weiße Nordamerikaner und Nordamerikanerinnen definierten ihre Identität in Abgrenzung von rassisch "Anderen", nämlich Indigenen und Schwarzen, nicht primär nach ständischen Kriterien wie in Europa. Einzigartig war die ethnische, kulturelle und religiöse Heterogenität der mittleren Kolonien. Neue Begriffe nisteten sich in der englischen Sprache ein, die man aus dem Französischen, Holländischen, Deutschen oder von indigenen Völkern übernahm. Familiäre Bande waren lockerer als in Europa, reichlich Land erleichterte Selbstständigkeit.
Auch das geistige Leben trug zur Formung "amerikanischer Identitäten" bei. In den 1720er Jahren setzte eine religiöse Erweckungsbewegung ein (Great Awakening), die auf ein nicht von geistlichen Hierarchien sanktioniertes Gotteserlebnis abhob. Intellektuell untergrub die Aufklärung alte Denkmuster. Benjamin Franklin war ihr archetypischer amerikanischer Vertreter. In ihm bündelten sich Erfindergeist mit Fortschrittsoptimismus und bald als "typisch amerikanisch" empfundenem Pragmatismus und Geschäftsgeist.
Dann trug Geopolitik zur Abnabelung bei: Im Siebenjährigen Krieg (1754-1763) verlor Frankreich seine kanadischen Territorien, womit eine äußere Bedrohung wegfiel. Eine Reorganisation des Kolonialreiches durch London sorgte für Zündstoff. 1763 wurde die Siedlungstätigkeit westlich der Appalachen verboten, um Konflikte mit Indigenen einzudämmen. Das empörte einfache Siedler und reiche Landspekulanten. Auch Versuche, die Kolonien zur Rückzahlung der Kriegsschulden heranzuziehen, provozierten Protest. In der Hafenstadt Boston eskalierte der Widerstand, als 1770 Soldaten in eine aufgebrachte Menge schossen und fünf Zivilisten töteten. Im Dezember 1773 warfen dort Kolonisten Tee von Schiffen ins Wasser, um Importsteuern zu vereiteln.
Revolution?
1774 trafen sich Delegierte von 12 Kolonien in Philadelphia. Dieser Kontinentalkongress erklärte feierlich amerikanische Rechte, forderte die Rücknahme der unterdrückerischen Gesetze der Krone und rief zu einem Boykott britischer Waren auf. Im April 1775 kam es zum ersten Gefecht zwischen britischen Truppen und Siedler-Milizen. Der Kontinentalkongress erklärte den Verteidigungszustand. Eine Armee unter George Washington als Kommandeur wurde eingesetzt. Thomas Paine, ein kürzlich eingewanderter englischer Journalist und Radikaler, brach Anfang 1776 das Tabu, als er in seinem Pamphlet "Common Sense" die Unabhängigkeit forderte.
Am 2. Juli 1776 erklärte der Kontinentalkongress die Unabhängigkeit. Der Delegierte Thomas Jefferson lieferte am 4. Juli die Begründung nach. Eloquent zählte er Verfehlungen König Georgs III. auf, erklärte unabänderliche Rechte der Menschen: Leben, Freiheit, und das Streben nach Glück ("life, liberty, and the pursuit of happiness"). Die Regierung bedürfe der Zustimmung der Regierten, die sich gemeinwohlorientiert zusammenschlössen. Dass diese Programmatik und der Gleichheitsgrundsatz ("all men are created equal") Generationen inspirierte, macht die Unabhängigkeitserklärung zum welthistorischen Dokument.
Ohne europäische Hilfe hätte der Freiheitskampf gegen die deutlich überlegenen Briten schwerlich Erfolg gehabt. Nach einem überraschenden Sieg der Amerikaner in Saratoga (1777) war das absolutistische Frankreich zum Bündnis bereit. Nachdem auch Spanien und die Niederlande auf Seite der Kolonien eingriffen, kapitulierten die Briten 1781 bei Yorktown. Mit dem Frieden von Paris (1783) wurden die USA unabhängig und ihnen das Gebiet bis zum Mississippi zugesprochen.
Verdienen die Ereignisse die Bezeichnung "Revolution"? Viele sprachen vom Unabhängigkeitskrieg, da die sozialen Verhältnisse intakt blieben. Tatsächlich waren die revolutionären Führer (sklavenhaltende) Großgrundbesitzer, wohl situierte Anwälte und Händler. Indes hatte die Revolution auch bürgerkriegsähnliche Züge. Im Hinterland tobte ein brutaler Guerillakrieg. Dort wo treu zur Krone stehende Kolonisten, die sogenannten Loyalisten, Mehrheiten stellten, hatte der revolutionäre Befreiungskrieg den Charakter eines Bürgerkriegs, was zu zahlreichen zivilen Opfern führte. Etwa 100.000 Loyalisten flohen nach Kanada und Westindien, ein höherer Anteil als während der Französischen Revolution.
Staatsrechtlich war 1776 eine Revolution. Zum ersten Mal überhaupt wurde in einem Flächenstaat eine Regierung ohne gekröntes Oberhaupt geschaffen. Auch dass die Verfassungen der Einzelstaaten sich auf das Prinzip der Volkssouveränität beriefen, war neu, obwohl die politischen Ordnungen keinesfalls demokratisch im modernen Sinn waren. Besitzlose hatten kein Wahlrecht, ebenso wenig Frauen. Die Situation der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner verschlechterte sich, Indigene wurden marginalisiert und getötet.
Welthistorisch herausragend war die Verabschiedung von Grundrechtskatalogen. Virginia proklamierte schon 1776 eine Bill of Rights: Presse- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsrecht, Anspruch auf Anklage vor einem Geschworenengericht, Schutz vor willkürlicher Verhaftung, vor Folter und grausamen Strafen, Unterordnung der militärischen unter die zivile Macht, das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück sowie der Anspruch auf eine Bürgermiliz und die Abschaffung stehender Heere. Nicht soziale Gleichheit war das Ziel. Revolutionär aber war, dass politische Privilegien nicht mehr ererbt werden konnten.
Die Verfassungsgebung
Nach dem Frieden von Paris befand sich die Bundesgewalt in beklagenswertem Zustand. Der Kongress vagabundierte ohne festen Sitz. Er blieb den Veteranen Teile des Lohns schuldig. Es kam zu Aufständen und Unruhen. Angesichts des revolutionären Wetterleuchtens, einem bewaffneten Aufstand von ehemaligen Soldaten und Kleinbauern (Shay´s Rebellion, 1786/87), traten 1787 in Philadelphia Delegierte von zwölf Staaten (außer Rhode Island) zusammen. Sie schufen eine starke Bundesexekutive mit einem Präsidenten als Gegengewicht zum Kongress. Indes wurde das Präsidentenamt durch "Interner Link: checks and balances" eingehegt.
Die Verfassung war hart umkämpft: Zum einen wurden den Kritikern des Zentralismus ihre Zustimmung durch die Bill of Rights (1791) erleichtert. Explosiver Streitpunkt war die Sklaverei: Die Südstaaten wollten nicht wahlberechtigte Versklavte bei der Festlegung der Abgeordnetenzahl mitrechnen, aber nicht bei direkten Steuern. Nordstaaten, die erste Schritte zur Abschaffung der Sklaverei bereits unternahmen, argumentierten umgekehrt. Da Versklavte keine Bürger seien, müssten sie bei der Repräsentation außen vor bleiben, als Besitz aber voll besteuert werden. Die Einheit der Nation wurde mit einem problematischen Kompromiss erkauft: Die Versklavten wurden zu "drei Fünfteln" bei der Berechnung der Größe der jeweiligen Kongressdelegation berücksichtigt, d.h. ein Schwarzer war so viel wert wie 3/5 eines Weißen, was der Idee der Gleichheit diametral entgegengesetzt war.
Diesen Geburtsmakel der US-Verfassung beseitigte formell erst der Bürgerkrieg, de facto erst die Bürgerrechtsgesetzgebung der 1960er Jahre. Revolution und Verfassung waren Teil eines größeren Transformationsprozesses im atlantischen Raum. Europa stand am Ende einer ständischen Gesellschaft, in der soziale Ordnungen überwiegend auf ererbten Privilegien beruhten, Religion und Herkommen die Position jedes und jeder Einzelnen in der Gesellschaft bestimmten. Amerika ließ diese Gesellschaft hinter sich, hatte aber die liberal-kapitalistische, demokratische Moderne noch nicht erreicht. Die Revolution war ein Meilenstein auf dem Weg dorthin. Sie schuf Raum für demokratisierende Tendenzen; die egalitäre Rhetorik stachelte zu Reformen an, auch wenn zwischen Anspruch und Wirklichkeit weite Lücken klaffen – bis in die Gegenwart. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-02T00:00:00 | 2011-11-24T00:00:00 | 2022-02-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/10590/eine-nation-entsteht/ | Schon vor vermutlich über 13.000 Jahren siedelten Menschen auf dem Territorium der heutigen USA. Um 1000 bildeten sich dort erste Hochkulturen, bevor seit dem 16. Jahrhundert die ersten Menschen aus Europa und Afrika einwanderten, letztere unter Zwan | [
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Analyse: Die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf die russische IT-Industrie | Russland-Analysen | bpb.de |
Zusammenfassung
Die russische IT-Branche sieht sich in Folge des Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine auf mehreren Ebenen großen Herausforderungen gegenüber. Etliche Schwierigkeiten ergeben sich neu aus den massiven westlichen Wirtschaftssanktionen und dem massenhaften Weggang westlicher Unternehmen aus Russland, andere bereits seit langem bekannte Probleme wurden durch den Krieg und seine Folgen deutlich drängender. Es lassen sich drei miteinander verschränkte Themenfelder ausmachen, auf denen sich der russische Staat zu Ergreifung von Maßnahmen gezwungen sieht: 1. Der Rückzug ausländischer Anbieter vom russischen Markt wird mittelfristig zu einer deutlichen Einschränkung des Angebots an Software und IT Services für Nutzer/innen und Unternehmen führen. 2. Die mit Kriegsbeginn ausgelöste Ausreisewelle von IT Spezialisten, die vom Rückzug ausländischer Firmen aus Russland und der Teilmobilisierung Ende September verstärkt wurde, könnte zu einer deutlichen Verschärfung der Fachkräftesituation führen. 3. Die Versorgung mit Hardware für Computer- und Telekommunikationstechnik aus dem Ausland ist durch die westlichen Sanktionen sehr unsicher geworden. Zwar gibt es seit Jahren staatliche Bemühungen, die russische Mikroelektronikindustrie auszubauen und auf ein international konkurrenzfähiges Niveau zu bringen. Erfolge lassen aber bislang auf sich warten und sind kurz- und mittelfristig nicht in Sicht.
Die russische IT-Branche sieht sich in Folge des Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine auf mehreren Ebenen großen Herausforderungen gegenüber. Etliche Schwierigkeiten ergeben sich neu aus den massiven westlichen Wirtschaftssanktionen und dem massenhaften Weggang westlicher Unternehmen aus Russland, andere bereits seit langem bekannte Probleme wurden durch den Krieg und seine Folgen deutlich drängender. Es lassen sich drei miteinander verschränkte Themenfelder ausmachen, auf denen sich der russische Staat zu Ergreifung von Maßnahmen gezwungen sieht: 1. Der Rückzug ausländischer Anbieter vom russischen Markt wird mittelfristig zu einer deutlichen Einschränkung des Angebots an Software und IT Services für Nutzer/innen und Unternehmen führen. 2. Die mit Kriegsbeginn ausgelöste Ausreisewelle von IT Spezialisten, die vom Rückzug ausländischer Firmen aus Russland und der Teilmobilisierung Ende September verstärkt wurde, könnte zu einer deutlichen Verschärfung der Fachkräftesituation führen. 3. Die Versorgung mit Hardware für Computer- und Telekommunikationstechnik aus dem Ausland ist durch die westlichen Sanktionen sehr unsicher geworden. Zwar gibt es seit Jahren staatliche Bemühungen, die russische Mikroelektronikindustrie auszubauen und auf ein international konkurrenzfähiges Niveau zu bringen. Erfolge lassen aber bislang auf sich warten und sind kurz- und mittelfristig nicht in Sicht.
Software- und IT Services
In den ersten Kriegsmonaten verging kaum eine Woche, in der global tätige Unternehmen nicht ihren Rückzug vom russischen Markt verkündeten. Darunter waren auch die großen Anbieter von Unternehmens- und Anwendersoftware wie Oracle, SAP und Microsoft sowie viele weitere Firmen. Github, eine der größten Plattformen für die gemeinsame Entwicklung von Software im Besitz von Microsoft, sperrte im April Zugänge von russischen Firmen, die unter US Sanktionen fallen, wie etwa Sberbank oder Alfa Group. Wegen der Sanktionen, den Schwierigkeiten bei der Durchführung von Finanztransaktionen in Folge der westlichen Sanktionen und des öffentlichen Drucks in westlichen Staaten bei fortgesetzter Tätigkeit in Russland hat die Attraktivität des russischen Marktes für Firmen aus westlichen Ländern massiv nachgelassen, zumal die großen Softwareunternehmen nur einen relativ geringen Teil ihrer Umsätze dort erzielten. Für russische Firmen, die bislang auf Unternehmenssoftware von Herstellern wie Oracle oder SAP setzten, steht mittelfristig wegen der gestörten Verfügbarkeit von Support und Softwareupdates die Migration auf Produkte einheimischer Hersteller an, selbst wenn die vorhandenen Installationen erst einmal weiterlaufen können. Durch ihre enge Verzahnung mit Unternehmensprozessen gelten Änderungen an oder gar das Neuaufsetzen von Firmensoftware-Systemen als extrem aufwendig sowie kostspielig, da sie während der Umstellung Ressourcen in allen Unternehmensteilen binden.
Neue Chancen für russische IT Anbieter
Der russischen IT Branche bietet der Rückzug der ausländischen Konkurrenz neue Möglichkeiten, das Geschäft im eigenen Land auszubauen. Seit Jahren wird staatlicherseits der Aufbau eines russischen Ökosystems an Software und IT-Diensten angestrebt. Die staatlichen Maßnahmen, etwa durch Vorgaben für Behörden und sicherheitskritische Bereiche nur einheimische Software zu verwenden, scheiterten oft am Beharrungsvermögen der Anwender/innen, an fehlenden Alternativen oder den hohen zeitlichen und materiellen Aufwänden für die Migration. Völlig unabhängig vom Westen waren aber auch die gewählten Lösungen bisher selten. Oft basieren sie auf frei lizensierter Open Source Software, deren Quellcode im Internet zur Verfügung gestellt wird. Eines der zertifizierten Betriebssysteme für russische Behörden und Staatsbetriebe ist das ursprünglich für russische Sicherheitsorgane entwickelte Astra Linux. Es basiert auf dem weltweit von Freiwilligen, aber auch von Firmen entwickelten Open Source Betriebssystem Debian GNU/Linux. Der Wechsel von Windows auf Astra Linux war bisher auch im staatlichen Sektor kein Selbstläufer. Der Chef des Herstellers Astra Ilja Siwtschew führte in einem Interview 2021 aus, dass es erst in 5 bis 7 Jahren mehr Astra Linux als Windows Installationen auf Arbeitsplätzen und Servern in der staatlichen bzw. staatsnahen IT – Kunden des Unternehmens sind etwa die Russische Eisenbahn oder Rosatom – geben würde. Ein Grund für das langsame Vorankommen bei Umstellungen von Microsoft Umgebungen auf Linux ist, dass ein Großteil von spezifischen Fachanwendungen in Wirtschaft und Behörden für die Ausführung unter Windows programmiert wurde und die Migration nach Linux daher mit einem hohen Aufwand einhergeht. Viele der über Jahrzehnte getätigten Investitionen müssten wohl abgeschrieben und Ersatz neu programmiert werden. Abgesehen vom Betriebssystem ist auch das Erstellen von Anwendungssoftware nötig, wenn mit den Computern unabhängig von westlichen Herstellern produktiv gearbeitet werden soll. Das Erstellen, Anpassen und Zertifizieren von Software nach den staatlichen Vorgaben sowie die anschließende Einführung in die produktive Nutzung im staatlichen Bereich und der Privatwirtschaft dürften russischen IT Firmen weiterhin ein stabiles Geschäftsumfeld garantieren.
Rückkehr zur Softwarepiraterie?
Allerdings warnen russische Branchenvertreter vor der Softwarepiraterie und damit der Rückkehr zur Praxis aus den 1990er Jahren, als es CDs mit westlicher Software überall in Russland zu Spottpreisen zu kaufen gab und kaum jemand legal Softwarelizenzen erwarb. Auch die UdSSR setzte im großen Stil auf die unlizensierte Nutzung westlicher Software und baute u. a. deswegen die Computer von US Herstellern nach. Maßnahmen zur Legalisierung von Piraterie – wie bei Unterhaltungsfilmen westlicher Studios aktuell bereits praktiziert – würden, so die Befürchtung, die Entwicklung einer eigenen russischen Softwareindustrie stark belasten. Für eine Neuauflage der staatlich vorangetriebenen Softwarepiraterie wie in der UdSSR ab den 1970er Jahren gibt es erste Anzeichen. So sprach sich der russische Digitalisierungsminister Schadeev im Oktober dafür aus, dass russische Kunden Softwareprodukte ausländischer Anbieter, die Russland nach dem 24.2. verlassen haben, weiter nutzen können sollen, wenn keine russische Alternative verfügbar ist. Überlegungen wie diese stehen im Konflikt zu den staatlichen Bemühungen, mit Maßnahmen zur Importsubstituierung die einheimische Industrie zu stärken. Deren Fähigkeit, kurz- und mittelfristig Softwareprodukte aus westlichen Staaten zu ersetzen, dürfte vor allem von der Verfügbarkeit von IT Experten abhängen.
Fachkräfte
Zahlreiche Menschen haben unmittelbar nach Kriegsbeginn und in einer zweiten Welle nach dem Ausrufen der Teilmobilmachung Ende September 2022 Russland verlassen. Einen Großteil dieser Ausreisewelle bildeten gut ausgebildete Angehörige der urbanen Mittelschichten, darunter auch viele IT Experten. Neben einer grundsätzlichen Kritik am Kriegs- und Konfrontationskurs des Kreml waren bei den individuellen Entscheidungen auch wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend, etwa weil die Arbeit eng mit dem westlichen Ausland verknüpft war. So ermöglichten zahlreiche westliche Firmen, die sich aus Russland zurückzogen, ihren russischen Mitarbeiter/innen die Weiterbeschäftigung und den Umzug ins Ausland. Ende März sprach der Vorsitzende der Russischen Vereinigung für elektronische Kommunikation Sergej Plugotarenko in der Staatsduma von 70.000 bis 100.000 IT Fachkräften, die planen würden, das Land im April zu verlassen, zusätzlich zu den geschätzten 50.000 bis 70.000, die direkt nach Kriegsausbruch ausgereist wären. Da die russische IT-Industrie schon im Vorfeld des Krieges und der sich daraus ergebenden internationalen Spannungen unter einem Fachkräftemangel zu leiden hatte, stellt eine fortgesetzte Abwanderung von IT Experten ins Ausland eine konkrete Gefahr für die Umsetzung der ambitionierten staatlichen Pläne für die Schaffung von Ersatz für Dienste aus dem "nicht-befreundeten" Ausland dar. Der russische Staat versucht mit besonderen Maßnahmen, die Ausreisewellen einzudämmen. So wurden Angehörige von beim Ministerium für Digitalisierung registrierten Softwarefirmen mit mindestens 7 Mitarbeitern bis 2024 von der Einkommenssteuer befreit und können sich um staatlich bezuschusste Hypotheken, etwa zum Erwerb von Grundeigentum, bewerben. Den Zusammenhang mit der ersten Ausreisewelle in Folge des Ukraine-Kriegs offenbart die Regelung, hochqualifizierte, in registrierten Unternehmen beschäftigte IT Experten von der Einberufung zum Wehrdienst zu befreien. Doch wurde der Kreis der von der Einberufung zum Kriegsdienst Ausgenommenen im Zuge der Teilmobilisierung empfindlich verkleinert. Seit dem 21.9.2022 können laut dem russischen Ministerium für Digitalisierung nur noch jene IT Experten, die in zertifizierten IT Unternehmen nicht näher definierte "besonders wichtige Funktionen" bekleiden und darüber hinaus einen Hochschulabschluss nachweisen können, auf Antrag von der Mobilisierung befreit werden. Inzwischen zirkulieren in russischsprachigen Online-Medien Berichte darüber, dass erste während der Mobilisierung eingezogene IT-Experten in der Ukraine gefallen sind. Branchenvertreter gehen davon aus, dass sich der ohnehin hohe Fachkräftemangel in russischen IT Firmen weiter verschärfen wird, weil ein Teil der Mitarbeiter eingezogen und ein anderer das Land verlassen wird. Zwar bedeutet ein Umzug ins Ausland insbesondere im IT-Bereich mit seiner ausgeprägten remote-Arbeitskultur nicht zwangsläufig den Verlust von Fachkräften für russische Firmen. Vor dem Hintergrund vieler offener Stellen im IT Bereich und der durch die westlichen Sanktionen enorm erschwerten Finanztransfers zwischen Russland und westlichen Staaten – im Ausland tätige Arbeitnehmer/innen aus Russland kommen nur noch schwer an ihr Einkommen auf russischen Konten – dürften viele der ins Ausland abgewanderten Fachkräfte der russischen IT-Industrie jedoch mittelfristig verloren gehen. Hardware
Große Hardwareproduzenten waren unter den ersten Firmen, die Russland den Rücken kehrten. Die US Mikrochiphersteller Intel und AMD erklärten bereits Anfang März 2022, Lieferungen nach Russland einzustellen. Auch Apple stellte seine Geschäfte dort ein. Hintergrund dafür sind die von den USA zusammen mit den EU Staaten, Japan, Australien, Großbritannien, Kanada und Neuseeland erlassenen Technologiesanktionen, die einer Wiederbelebung des CoCom-Embargos aus der Zeit des Kalten Krieges gleichen. Auch wurde die Verschärfung der Umsetzung bereits bestehender Sanktionen von US-Seite angekündigt. Die Maßnahmen Washingtons erstrecken sich auch auf Produkte, die mit Hilfe sanktionierter US Komponenten oder Lizenzen für deren Nachbau erstellt wurden. Direkt davon betroffen sind in erster Linie staatliche Einrichtungen und Unternehmen aus dem russischen Sicherheits- und Rüstungssektor. Die zivile Versorgung mit moderner Computertechnik ist nach acht Monaten Krieg und Sanktionen bislang weiterhin gewährleistet. Damit ist Russland zwar nicht vom globalen Markt für Computer- und Mikroelektronik-Hardware abgeschnitten, die Sanktionen und die nun komplizierteren Lieferwege sorgen jedoch für Preissteigerungen und Verknappungen. Es wird zudem davon ausgegangen, dass der sogenannte "parallele Import" über Staaten, die normalerweise eine wesentlich geringere Nachfrage aufweisen als Russland, bald ins Stocken geraten könnte.
Ende der Mikrochipfertigung in Taiwan
Die russische Hardwareindustrie ist nicht dazu in der Lage, die bisherigen Importe mit eigenen Produkten zu ersetzen. Im Vorfeld des Krieges sprach die Moskauer Wirtschaftszeitung Komersant von einer drohenden »Bestschipowschtschina«, einer Zeit der Chiplosigkeit. Pläne für US Sanktionen für den wenig später eingetretenen Fall eines russischen Überfalls auf die Ukraine sahen im Januar 2022 die Lieferunterbrechung von Mikrochips und von für deren Herstellung notwendigen Ausrüstungen vor. Letztere können nur von einigen wenigen Firmen weltweit geliefert werden und beinhalten diverse Komponenten von US Herstellern. Ein Stopp der Lieferungen ist für die US Regierung verhältnismäßig einfach erreichbar. Die umgehend mit Kriegsbeginn in Kraft gesetzten westlichen Sanktionen stellen für die russische Mikroelektronik-Industrie und die staatlichen Bemühungen um Importsubstituierung ein worst case scenario dar. Die Auswirkungen könnten mittelfristig ähnlich drastisch sein, wie die durch die Reagan-Administration in den 1980er Jahren voran getriebene verschärfte Umsetzung des CoCom-Hochtechnologie-Embargos gegen den Ostblock, das insbesondere den Import von Produktionsequipment für Mikroelektronik enorm einschränkte. Während einfachere Chips, etwa für Sensorik und Mikrocontroller, weiter in Russland produziert oder aus dem Ausland importiert werden können, sind vor allem Mikroprozessoren und leistungsfähige Telekommunikationshardware von den Sanktionen betroffen. Der Aufbau einer Infrastruktur für den kommenden Mobilfunkstandard 5G musste eingestellt werden, weil sich die führenden Hersteller Cisco, Ericsson und Nokia aus Russland zurückgezogen haben und auch Huawei aus China auf russische Anfragen nicht mehr reagierte. Selbst in Waffensystemen, die zu Sowjetzeiten strikten Autarkievorgaben unterlagen, verbauten russische Hersteller in den vergangenen Jahren im großen Stil Mikroelektronik westlicher Hersteller, teils unter Umgehung von US-Exportrestriktionen.
Moderne Fertigungskapazitäten in Russland fehlen
Viele Einrichtungen für die Entwicklung und Produktion von Mikroelektronik gehen auf Gründungen in der UdSSR zurück und sind nach wie vor eng mit dem russischen Staat und der Rüstungsindustrie verbunden. Während in Forschung und Entwicklung leistungsfähige Kapazitäten vorhanden sind, stellt die Massenproduktion hochkomplexer Designs wie auch schon zu Sowjetzeiten die Achillesferse der russischen Hightech-Industrie dar. Zeitgemäß ausgestattete Produktionsstätten stehen in Russland dafür nicht zur Verfügung.
Die Herstellung der Baikal-Mikroprozessoren des gleichnamigen Herstellers wurde sinnvoller Weise an den weltgrößten Auftragsfertiger TSMC in Taiwan outgesourct. Die Fertigung der russischen Prozessoren war wegen der bei TSMC eingesetzten Ausrüstungen, die lizensierte Technologie von US Herstellern enthalten, direkt von den US Sanktionen betroffen und wurde deshalb sofort mit Kriegsbeginn eingestellt. Hinzu kamen Probleme mit der verwendeten Lizenz für die Prozessorarchitektur des britischen Herstellers ARM. Damit ist der Nachschub der verschiedenen Baikal Prozessoren, die zum Herzstück der staatlichen Maßnahmen für die Erreichung der technologischen Unabhängigkeit Russlands gehören, massiv gestört. So muss etwa die Unternehmens-IT der russischen Sberbank auf die Einführung von Servern mit Baikal-Prozessoren in ihren Rechenzentren verzichten und wird die Auflagen für den Umstieg auf heimische IT-Technik nicht umsetzen können. Die Elbrus-Prozessoren, entwickelt auf Basis einer eigenen Architektur vom Moskauer Zentrum für SPARC-Technologie (MCST), wurden auch bei TSMC gefertigt und sind daher ebenfalls von den Sanktionen betroffen. Baikal und Elbrus waren als einheimische Technologien zertifiziert und für den Einsatz in sensiblen Bereichen – Militär, Verwaltung, Rüstung und Finanzwirtschaft – vorgesehen. Die Schaffung von Alternativen zur offensichtlichen Schwachstelle in der einheimischen Produktionskette – der Herstellung in Taiwan – wurden selbst nach dem US Vorgehen gegen chinesische Hersteller wie Huawei und SMIC nicht angegangen. Schnelle Lösungen sind nicht zu erwarten: Benötigt werden Zeit, geschultes Personal und Milliarden an Dollars für Bau und Ausstattung entsprechender Fabriken, wobei das erforderliche Herstellungsequipment wie erwähnt ebenfalls unter die Sanktionen fällt. Zwar prüft MCST die Aufnahme der Produktion von Elbrus-Prozessoren bei Mikron, nach eigenen Angaben dem größten Chiphersteller Russlands. Doch steht in dessen Fabrik im Mikroelektronikstädtchen Zelenograd nur stark veraltete Produktionstechnik zur Verfügung. Deren Technologieniveau liegt zwischen 17 und 20 Jahren hinter dem von Intel und TSMC zurück. Ein anderer Chipfertiger aus Zelenograd und Hoffnungsträger der russischen Hightech-Industrie, Angstrem-T, wurde hochverschuldet im November 2019 für bankrott erklärt.
Die russische Chipfertigung war also bereits vor den aktuellen Sanktionen in einer ausgeprägten Krise und lag technologisch um Generationen hinter den global führenden Herstellern zurück. Obwohl staatlicherseits bereits seit einigen Jahren Maßnahmen zur Importsubstituierung und der Verringerung der Abhängigkeit zu ausländischen Herstellern propagiert werden, blieb der schwerwiegendste Schwachpunkt der russischen Hardware-Branche, die Chipproduktion im eigenen Land, dabei weitgehend unberücksichtigt. Während die Produktion bei ausländischen Chipfertigern in Friedenszeiten durchaus sinnvoll sein kann, bedeutet sie im Kriegsfall eine Schwäche, die kaum zu korrigieren ist. Die nun erfolgte Ankündigung des Ausbaus der eigenen Herstellungskapazitäten erfolgte deutlich zu spät und die Umsetzung ist trotz staatlicher finanzieller Unterstützung angesichts der unter die Sanktionen fallenden Produktionsausrüstungen mittelfristig sehr unrealistisch. Zwar kündigte das Institut für angewandte Physik der Russischen Akademie der Wissenschaften im Oktober an, bis 2028 ein Lithografiesystem zur Produktionsreife bringen zu wollen, das die Herstellung von Mikrochips auf einem hohen Technologieniveau ermöglichen soll. Doch handelt es sich dabei um einen höchst ambitionierten Zeitplan und selbst die wenig wahrscheinliche Verfügbarkeit des Systems in sechs Jahren würde nur ein Teil des komplexen Produktionsprozesses in der Chipindustrie abdecken. Schon die UdSSR scheiterte wiederholt an der Überführung wissenschaftlicher Erkenntnisse in hochproduktive Herstellungsabläufe. Russland wird daher weiterhin umfassend auf den Import von Mikroelektronik setzen müssen und es wird sich zeigen, ob die an den Sanktionsmaßnahmen beteiligten Staaten Willens und in der Lage sein werden, die entsprechenden Warenströme nach Russland wirksam zu unterbrechen.
Fazit
Im Technologiebereich stehen den Chancen für die russische Softwareindustrie Unsicherheiten bei den Fachkräften und eine im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion noch ausgeprägtere Abhängigkeit von ausländischer Hardware gegenüber. Verfügte die UdSSR über eine Mikroelektronikindustrie, deren technologischer Rückstand sich gegenüber den USA auf 3 bis 10 Jahre belief, kann man den technologischen Rückstand bei der Produktion von Mikroprozessoren heute auf 17 bis 20 Jahre taxieren. Im Moment können gar keine der vermeintlich "einheimischen" Prozessoren mehr hergestellt werden. Zentral ist das Verhältnis zur Volksrepublik China, dessen Technologiefirmen sich seit Kriegsbeginn als auffallend zurückhaltend im Umgang mit Russland erwiesen haben. Sollten sich die Auseinandersetzungen zwischen China und den USA weiter zuspitzen, könnte Russland davon profitieren, dass sich chinesische Firmen dann von Drohungen aus Washington weniger beeindruckt zeigen, wenn sie ohnehin schon Sanktionen unterliegen. Konstatiert werden muss eine umfassende Schwäche bei der Herstellung von zeitgemäßer Computerhardware, der heute eine viel größere Bedeutung zukommt als in den 1980er Jahren. Diese nur langfristig im eigenen Land zu behebende Situation könnte sich für die russische Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt als schwerwiegender Kollateralschaden des Kriegskurses erweisen.
Quellen / Literatur
Emil Kamalov u. a., "Russia’s 2022 Anti-War Exodus: The Attitudes and Expectations of Russian Migrants", PONARS Eurasia, 2022, 7, Externer Link: https://www.ponarseurasia.org/russias-2022-anti-war-exodus-the-atti tudes-and-expectations-of-russian-migrants/.
James Byrne u. a., "Silicon Lifeline: Western Electronics at the Heart of Russia’s War Machine", 2022, Externer Link: https://static.rusi.org/RUSI-Silicon-Lifeline-final-web.pdf.
Emil Kamalov u. a., "Russia’s 2022 Anti-War Exodus: The Attitudes and Expectations of Russian Migrants", PONARS Eurasia, 2022, 7, Externer Link: https://www.ponarseurasia.org/russias-2022-anti-war-exodus-the-atti tudes-and-expectations-of-russian-migrants/.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-06-30T00:00:00 | 2022-11-22T00:00:00 | 2023-06-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-425/515554/analyse-die-folgen-des-russischen-angriffskrieges-gegen-die-ukraine-auf-die-russische-it-industrie/ | Die russische Chipfertigung war bereits vor den Sanktionen von 2022 in einer ausgeprägten Krise und lag technologisch um Generationen hinter den global führenden Herstellern zurück. | [
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Zur Privatisierung von Infrastruktur. Staat im Ausverkauf | Infrastruktur | bpb.de | Im antiken Rom brannte es beinahe täglich, weil außer Kontrolle geratene Herdfeuer die billigen Mietskasernen leicht in Brand setzten. Vor diesem Hintergrund gründete Marcus Licinius Crassus 70 v. Chr. eine private Feuerwehr. Wenn es brannte, erschien Crassus am Ort des Geschehens und unterbreitete dem Besitzer des brennenden Gebäudes ein Angebot: War er bereit, sein Haus zu einem Bruchteil des angemessenen Preises zu verkaufen, schritten die Löschtruppen zur Tat. Wollte der Besitzer sein Haus nicht verkaufen, pfiff Crassus seine Feuerwehrsklaven zurück und ließ dem Feuer seinen Lauf. Dieses "Geschäftsmodell" ließ ihn zu einem der reichsten Römer seiner Zeit werden.
Schon dieses weit in die Historie zurückreichende Beispiel illustriert, dass es triftige Gründe gibt, die gegen die private Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben sprechen. Um zu erkennen, dass private Wirtschaftstätigkeit in Kernbereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge dramatisch fehlgehen kann, braucht man jedoch keine zwei Jahrtausende zurückzublicken. Auch zahlreiche Beispiele der jüngeren Vergangenheit lassen erkennen, welche verheerenden Folgen die Privatisierung von (Verkehrs-)Infrastrukturen zeitigen können.
So mussten die Bahnfahrer im Mutterland der Eisenbahn allein im ersten Jahrzehnt nach der Privatisierung zusammengerechnet mehr als 11000 Jahre Verspätung in Kauf nehmen, nachdem der britische Premierminister John Major 1994 das einst stolze Staatsunternehmen British Rail privatisiert hatte. Die Zerschlagung von British Rail in 106 private Einzelgesellschaften ließ nicht nur mehr als 2000 Subunternehmen entstehen, sondern führte bereits nach kurzer Zeit deutlich vor Augen, welche Risiken mit einer Fragmentierung des Bahnwesens für Leib und Leben verbunden sind: Die Unfälle von Southall (1997), Paddington (1999) und Hatfield (2000), die zusammen 42 Tote und mehr als 540 teils schwer Verletzte forderten, haben sich ins kollektive Gedächtnis der einst stolzen Bahnfahrernation eingebrannt. Der Wandel von Railtrack auf dem Weg vom Börsen- zum Bettelgang hat dazu geführt, dass nun selbst die konservativen middle classes eine Wiederverstaatlichung des gesamten Bahnwesens befürworten.
Von der Verkehrsplanung zum Verkehrsmarkt
Obwohl der Begriff "Verkehrsplanung" in Deutschland lange Zeit als unverbrüchliches verkehrspolitisches Leitprinzip galt, ist die "Entstaatlichung des Staates" im Land der Autofahrer seit geraumer Zeit auch bei der Straßeninfrastruktur zu beobachten. Während zum Jahresende 2016 selbst seriöse Leitmedien verlauten ließen, dass die Privatisierung der Bundesfernstraßen vom Tisch sei, hat sie faktisch längst begonnen. Zwar soll Artikel 90 des Grundgesetzes (GG), wonach der Bund Eigentümer der Bundesautobahnen ist, unangetastet bleiben. Nicht vom Tisch ist jedoch die von Bund und Ländern vereinbarte privatrechtliche Verkehrsinfrastrukturgesellschaft – und damit eben auch nicht die Vergabe von Konzessionen für Bundesfernstraßen nach dem Modell öffentlich-privater Partnerschaften (ÖPP) als die von CDU/CSU, FDP und SPD favorisierte Form der Privatisierung. Mehrere Pilotprojekte wurden bereits im Einklang mit diesem Modell abgeschlossen: Augsburg West–München Allach (A8), Landesgrenze Hessen/Thüringen–Anschlussstelle Gotha (A4), Malsch–Offenburg (A5) und Bremer Kreuz–Buchholz (A1), die "Feste Warnowquerung" in Rostock und die "Travequerung" in Lübeck. Ein Dutzend weiterer Projekte befindet sich im Bau oder in Planung, so etwa die Autobahnabschnitte Havelland–Dreieck Pankow (A10), Havelland–Neuruppin (A24) und Bordesholm–Hamburg/Nordwest (A7). Allein die Investitionsvolumina dieser drei Projekte betragen mehr als 14 Milliarden Euro.
Dabei werden die von der Privatisierungslobby regelmäßig in Aussicht gestellten Effizienzvorteile über ÖPP meist nicht realisiert. Schon 2014 kam der Bundesrechnungshof zu dem Urteil, dass die Bundesfernstraßen, die als ÖPP-Projekt gebaut und betrieben wurden, 1,9 Milliarden Euro teurer seien als konventionell, also rein staatlich gebaute Projekte. Dies liegt in erster Linie daran, dass der Bund die für den Autobahnaus- und -neubau benötigten Kredite aufgrund seiner höheren Bonität deutlich günstiger aufnehmen kann als Privatunternehmen. Mit der Bundesfernstraßengesellschaft, wie sie die Bundesregierung nun in Gestalt einer "Kapitalsammelstelle für Fernstraßen" umsetzen möchte, würden ÖPP endgültig institutionalisiert – zu Lasten der Allgemeinheit und zum Vorteil der Finanz- und Versicherungsbranche. Letztlich hat die vom seinerzeitigen Bundeswirtschafts- und derzeitigen Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) eingesetzte "Fratzscher-Kommission" damit eine weitere Möglichkeit aufgetan, die Kosten der Finanz- und Eurokrise in Zeiten historisch niedriger Zinsen von Kapitalanlegern auf Verbraucher und Steuerzahler zu verlagern.
Während die Aufträge für Anwaltskanzleien, Bau- und Beratungsunternehmen ausgesprochen lukrativ sind, gereichen sie der öffentlichen Hand meist zum Nachteil. Für Politikerinnen und Politiker sind ÖPP attraktiv, weil die Kredite bei einer direkten (Voll-)Finanzierung durch die öffentliche Hand unmittelbar als Schulden zu verbuchen sind, wohingegen die Zahlungen bei einer Privatisierung à la ÖPP über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten anfallen, zusätzliche Staatsschulden somit nicht (in Gänze) verbucht werden müssen. So lässt sich die seit 2016 auf Bundes- und von 2020 an auf Länderebene geltende "Schuldenbremse" zwar umgehen, der Schuldenberg indes wird nicht abgetragen.
Kritik an Privatisierungen im Bereich der Straßenverkehrsinfrastruktur kommt zusehends auch aus traditionell konservativen Kreisen. Da sowohl die Bundesländer als auch die Kommunen in der Bauverwaltung massive Einsparungen vorgenommen hätten, fehlten dort "Bauherrenkompetenz" und Geld, sodass bei ÖPP-Projekten nur noch "einige wenige Großkonzerne" das Sagen hätten, kritisiert der Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke. Bemerkenswert ist die Grundsätzlichkeit seiner Kritik: "Aktuell werden in ÖPP sehr hohe Renditen zugesichert, die Subunternehmer und ihre Beschäftigten, aber auch Steuerzahler und Straßennutzer finanzieren müssen – zusätzlich zum eigentlichen Bau- und Erhaltungsaufwand. Dieser fatalen Entwicklung muss ein Riegel vorgeschoben werden. Die Gestaltungsmacht der öffentlichen Auftraggeber darf nicht weiter geschmälert werden."
Dass das 12949 Kilometer umfassende deutsche Autobahnnetz nun großflächig in private Hände überführt werden soll, ist erstaunlich: Im schlimmsten Fall drohen uns damit – überspitzt gesagt – Wegezölle wie im Mittelalter. Zugleich wartet die Bundesrepublik noch immer auf die Kompensationszahlungen für die 16 Monate verspätete Inbetriebnahme des Lkw-Mautsystems "Toll Collect", das 2002 als ÖPP von einem Betreiberkonsortium aus Deutscher Telekom, Daimler Chrysler und Cofiroute gegründet wurde und als "Stück aus dem Tollhaus" bezeichnet werden muss. Der Prozess vor dem privaten Schiedsgericht hat die Steuerzahler bislang einen dreistelligen Millionenbetrag gekostet – und noch immer wurde keine Einigung erzielt. Eine außergerichtliche Verständigung scheiterte am Widerstand des ehemaligen Bundesverkehrsministers Peter Ramsauer (CSU), der auf eine richterliche Entscheidung bestand, weil dem Bund sonst mehrere Milliarden Euro verloren zu gehen drohen.
Bereits seit zwei Jahrzehnten zielen die Privatisierungsbemühungen auf die entlang des nationalen Autobahnnetzes angesiedelten Service-Einrichtungen wie Tankstellen, Raststätten und Hotels. 1998 wurde das bundeseigene Unternehmen Autobahn Tank & Rast GmbH an ein privates Konsortium der Allianz Capital Partners GmbH, der Deutschen Lufthansa Service Holding AG sowie der Apax Beteiligungs GmbH veräußert. Die rot-grüne Bundesregierung verfolgte mit dieser Privatisierung neben der "verkehrspolitisch(en) (…) Stärkung des Systems ‚Fahren-Tanken-Rasten‘ auf der Autobahn" und der Generierung von Einmaleinnahmen auch die Erhaltung der "mittelständischen Strukturen im Bereich der Pächter/Betreiber". 2004 verkaufte das Konsortium dann Tank & Rast für knapp 1,2 Milliarden Euro an das britische Private-Equity-Unternehmen Terra Firma Capital Partners. Diese soll sich 2006 eine üppige Sonderdividende ausgeschüttet haben, was maßgeblich zur Schuldenlast von Tank & Rast beigetragen haben dürfte. Ein Jahr später wurde die Hälfte von Tank & Rast an einen Infrastrukturfonds der Deutschen Bank namens RREEF weitergereicht.
Seit 2015 befinden sich die Autobahntankstellen und -raststätten hierzulande in den Händen eines Konsortiums, zu dem neben dem Versicherungskonzern Allianz unter anderem der Staatsfonds von Abu Dhabi sowie der kanadische Infrastrukturinvestor Borealis zählen. Der "Reibach an der Raststätte" findet seinen Ausdruck nicht nur in horrenden Benzin- und Gastronomiepreisen, sondern auch darin, dass zuletzt die Gebühr des viel diskutierten Sanifair-"Toilettenwertbons" von 50 auf 70 Cent erhöht wurde, obwohl sich weiterhin nur 50 Cent an der Kasse einlösen lassen. Somit zahlen die Reisenden beim Aufsuchen der Toilette die Ausschüttungen für die Aktionäre der privaten Investoren. Von der Bürgerbahn zur Börsenbahn
Die zum Jahresbeginn 1994 eingeleitete Privatisierung der Deutschen Bahn (DB) illustriert auf besonders eindrucksvolle Weise, welche sozial-, umwelt- und finanzpolitischen Risiken mit der Privatisierung eines Infrastrukturunternehmens einhergehen können. Als "kränkelnder Dinosaurier im Schuldenmeer" und "Sprengsatz des Bundeshaushalts" wurde die einstige "Behördenbahn" Bundesbahn in den letzten Jahren ihres Bestehens diskreditiert. Aber trotz größerer Flexibilität im Personal-, Angebots- und Vermarktungsbereich, die ein privatwirtschaftliches Unternehmen gegenüber einem behördlich geführten staatlichen Sondervermögen genießt ("AG-Effekt"), misslang die finanzielle Sanierung der DB AG. Statt nach betriebswirtschaftlicher Rechnungslegung erfolgreich zu konsolidieren, häufte das Unternehmen – obwohl 1994 von sämtlichen Verbindlichkeiten befreit – binnen zehn Jahren laut konzerneigenem Wirtschaftsbeirat Nettoschulden in Höhe von 38,6 Milliarden Euro an und damit mehr als Bundes- und Reichsbahn in der Zeit ihres Bestehens zusammen. Und obgleich der ehemals größte Arbeitgeber der Bundesrepublik 2016 rund acht Milliarden Euro Regionalisierungsmittel erhielt, belaufen sich dessen Schulden noch immer auf beinahe 19 Milliarden Euro.
Dabei konzentriert sich das "Unternehmen Zukunft" (Eigenwerbung) längst nicht mehr auf die verlässliche Fahrgastbeförderung zwischen Delmenhorst, Dinslaken und Düren, sondern setzt auf Frachttransporte zwischen Dallas, Delhi und Den Haag. Beinahe zwei Drittel seines Umsatzes erzielt der internationale Mobilitäts- und Logistikdienstleister inzwischen mit bahnfremden Dienstleistungen. Als Global Player setzt die DB AG auf profitable Fluggesellschaften (Bax Global), Lkw-Speditionen (Stinnes), Fuhrparks (Bundeswehr) oder den Ausbau des Schienenverkehrs in Indien und Saudi-Arabien. Fahrpreiserhöhungen, Bahnhofsschließungen, Lok- und Oberleitungsschäden, Weichen- und Signalstörungen sowie "Verzögerungen im Betriebsablauf" sind die (Spät-)Folgen der von Hartmut Mehdorn als Bahnchef in den 2000er Jahren ausgegebenen Desinvestitionspolitik. Die seinerzeit auf seinem Schreibtisch platzierten Symbole für die Börse – Bulle und Bär – sind geradezu emblematisch für sein Bemühen, die "Braut" DB AG für den noch immer nicht endgültig abgesagten Börsengang "aufzuhübschen". Mehr als 8000 Stunden Verspätung fahren deren Züge Tag für Tag ein. So ist es kaum verwunderlich, dass eine breite Mehrheit der Bevölkerung sich eine Bürger- statt einer Börsenbahn wünscht, die von beinahe jährlichen Fahrpreiserhöhungen ebenso Abstand nimmt wie von einer Ausdünnung der Fahrtakte in Tagesrandlagen oder der Schließung von Streckenabschnitten in peripheren Bedienungsgebieten.
Viele verkehrspolitische Entscheidungsträger übersehen triftige Gründe, die gegen eine Kapitalmarktorientierung im Bahnwesen sprechen. So wird ein privatwirtschaftlich organisiertes und damit gewinnorientiertes Unternehmen unter rein kaufmännischen Gesichtspunkten stets solche Zugleistungen und -verbindungen aufgeben (müssen), deren Ertragswerte negativ sind oder jedenfalls unterhalb der durchschnittlichen Rendite im Bahnsektor liegen. Die einem Glaubensbekenntnis gleichkommende Behauptung, konkurrierende, ebenfalls private Betreibergesellschaften übernähmen derartige Zugfahrten, Linien oder Netzteile, verklärt den Umstand, dass auch diese nach betriebswirtschaftlichem Kalkül operieren (müssen). Cum grano salis: Auch im Wettbewerb zwischen verschiedenen (privaten) Zuggesellschaften führt der Rentabilitätsdruck zu einer Einstellung unprofitabler Streckenabschnitte – es sei denn, die Betreibergesellschaften werden staatlich subventioniert.
Hinzu kommt, dass der generationenübergreifende Zeithorizont, auf den Infrastrukturinvestitionen angelegt sind, in einem schier unauflösbaren Spannungsverhältnis zu den kurzfristigen Rentabilitätsinteressen börsennotierter Unternehmen steht. Dies zeigt nicht nur der Blick nach Großbritannien, sondern auch der nach Neuseeland. In beiden Staaten wurde die Infrastruktur an private Investoren verkauft, jeweils mit üblen Folgen: Der Überschuss wurde nicht reinvestiert, sondern getreu der Shareholder-Value-Orientierung an die Aktionäre ausgeschüttet, während die Investitionen in die Instandhaltung des Trassennetzes auf ein Minimum reduziert wurden. Railtrack musste im Oktober 2001 Konkurs anmelden, die neuseeländische Tranz Rail stand unmittelbar vor der Insolvenz, sodass sich die Regierungen in beiden Fällen gezwungen sahen, die Schienenwege wieder zu verstaatlichen, um deren Modernisierung mit Milliarden- beziehungsweise dreistelligen Millionenbeträgen nachzuholen.
Ein prominentes Beispiel für das fehlende infrastukturpolitische Engagement des Staates ist die Rheintalstrecke als wichtigste deutsche Frachtverbindung zwischen den Nordseehäfen und dem Mittelmeer. Sie ist nach wie vor ein Nadelöhr für den europäischen Güterverkehr, weil hier nur zwei statt vier Schienenstränge zur Verfügung stehen. Wird dieser Investitionsbedarf nicht ernst genommen und der daraus resultierende Investitionsstau aufgrund der horrenden Ausgaben für Großprojekte wie "Stuttgart 21" oder Neubautrassen wie die ICE-Strecken Nürnberg–Erfurt–Halle und Wendlingen–Ulm nicht auch im nördlichen Streckenabschnitt oberhalb von Weil am Rhein aufgelöst, werden die Güterströme trotz Lkw-Schwerverkehrsabgabe (Lkw-Maut), Ökosteuer und gestiegener Kraftstoffpreise auch künftig zum Großteil über Autobahnen abgewickelt. Dies gilt erst recht, weil die Zahl der industriellen Gleisanschlüsse seit 1992 um mehr als zwei Drittel reduziert wurde.
Welche negativen Entwicklungen die (formelle) Privatisierung der DB mit Blick auf die in Artikel 87e Absatz 4 GG verbriefte flächendeckende Versorgung mit Schienenverkehrsleistungen hat, lässt sich auch am Wandel der Bahnhofslandschaft ablesen. Obwohl Bahnhöfe als integraler Bestandteil der Bahninfrastruktur nicht nur Ankunfts-, Abfahrts- und Wartestellen für Zugreisende, sondern auch "Visitenkarten" der jeweiligen Orte sind, setzt sich das Phänomen des "Bahnhofssterbens" fort. Das Ziel der Kapitalmarktfähigkeit fest im Blick, treibt die DB AG mit dem (Aus-)Verkauf der Bahnhofsgebäude den Abbau des Anlagevermögens und damit die Steigerung der Eigenkapitalrendite voran. In den vergangenen zwanzig Jahren wurden rund 1700 Bahnhofsgebäude veräußert und mehrere Hundert geschlossen, von den nunmehr verbliebenen Bahnhöfen soll noch einmal rund die Hälfte verkauft werden. Lag die "Bahnhofsdichte" Mitte der 1960er Jahre in Westdeutschland noch bei 4,1 Kilometern, findet sich gegenwärtig entlang des seit 1994 um ein Drittel geschrumpften Schienennetzes nur noch alle sieben Kilometer ein Bahnhofsgebäude.
Privatisierungen in der Luftfahrtbranche
Marktmechanismen greifen aber nicht mehr nur bei der Straßen- und Bahninfrastruktur, sondern längst auch im Luftverkehr. Während die deutschen Fluggesellschaften schon lange in privater Hand sind – zuletzt wurde 1997 der Branchenprimus Deutsche Lufthansa privatisiert – werden zunehmend auch Flughäfen von Privaten betrieben. In ihrem 1994 vorgelegten "Luftfahrtkonzept 2000" untermauerte die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung ihre Absicht, eine stringente Privatisierung der Bundesanteile im Flughafensektor zu forcieren.
Materielle Teilprivatisierungen zielten hierzulande bislang zuvorderst auf umsatzstarke Flughäfen wie die in Frankfurt am Main (Fraport AG), Düsseldorf (50 Prozent Stadt Düsseldorf und 50 Prozent Airport Partners GmbH, die wiederum zu 40 Prozent der Hochtief Airport GmbH, zu 20 Prozent der Hochtief Air Port Capital KGaA und zu 40 Prozent der Dublin Airport Authority plc. gehört), Hamburg (51 Prozent Freie und Hansestadt Hamburg und 49 Prozent Hochtief Airport), Hannover (35 Prozent Landeshauptstadt Hannover, 35 Prozent Land Niedersachsen und 30 Prozent Fraport AG) und Mönchengladbach (70 Prozent Düsseldorfer Flughafen und 30 Prozent NEW mobil und aktiv Mönchengladbach GmbH). Der Flughafen Düsseldorf International wurde 1997 als erster deutscher Verkehrsflughafen teilprivatisiert, als die nordrhein-westfälische Landesregierung 50 Prozent ihrer Anteilsscheine an die Airport Partners GmbH veräußerte. 1998 und 2000 erfolgte durch Verkäufe staatlicher Anteile die Teilprivatisierung der Flughäfen Hannover und Hamburg. Unabhängig von der genauen Ausgestaltung der einzelnen Privatisierungen – am bekanntesten ist die (Teil-)Privatisierung des Frankfurter Flughafens durch den Börsengang der Fraport AG im Juni 2001 – steht zu vermuten, dass der Trend in Richtung privatunternehmerisch geführter Flughäfen anhalten dürfte.
Eine in der Öffentlichkeit breit diskutierte Zäsur in Richtung Ökonomisierung der Flugverkehrsbranche bedeutete das 2005 in den Deutschen Bundestag eingebrachte Flugsicherungsgesetz, mit dem der Weg für die Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung (DFS) freigemacht werden sollte. Im Gegensatz zur (bloß) formellen Privatisierung 1993 sollte nun eine materielle, sprich: eine Kapitalprivatisierung eingeleitet werden, weshalb das vorgelegte Flugsicherungsgesetz den Verkauf von 74,9 Prozent der bundeseigenen DFS-Anteile an private Investoren ermöglichte. Um die Einflussnahme des Bundes auf die nationale Flugsicherung beizubehalten, sollte dem Bund eine Sperrminorität von 25,1 Prozent zugesprochen werden.
Die Umsetzung des bereits vom Bundestag verabschiedeten Gesetzes scheiterte jedoch an der Zustimmung des seinerzeitigen Bundespräsidenten Horst Köhler. Dieser wandte ein, dass "nach der aktuellen Rechtslage (…) die Flugsicherung eine sonderpolizeiliche Aufgabe des Staates (ist), die hoheitlich durch den Staat wahrzunehmen ist und nicht etwa durch private Unternehmen". Angesichts erwarteter Erlöse in Höhe von rund einer Milliarde Euro und aufgrund der Tatsache, dass durch eine Grundgesetzänderung im August 2009 die Aufteilung von Aufsichts- und Durchführungsaufgaben in der Flugsicherung angebahnt wurde, dürfte die (Teil-)Privatisierung der Flugsicherungsorganisation mittelfristig dennoch umgesetzt werden.
Verzicht auf Verkehrspolitik?
Die skizzierte Ökonomisierung der (Verkehrs-)Infrastruktur lässt – neben den im Detail sehr unterschiedlich zutage tretenden negativen Auswirkungen – erkennen, dass eine allein auf Marktkonformität zielende Verkehrspolitik ein ehernes volkswirtschaftliches Gesetz verkennt: Preise können bei knappen, nicht erneuerbaren Ressourcen aufgrund verzerrter Kostenrechnung falsche Signale senden. Das weithin akzeptierte Ansinnen der Umweltökonomie, eine an den Grundsätzen der ökologischen Nachhaltigkeit orientierte Marktgestaltung anzustrengen, wird mit der ausschließlichen Marktorientierung ignoriert. Gestalterischen Elementen, die zum Beispiel eine breitenwirksame Bestandsoptimierung der Schieneninfrastruktur zuließen, wird damit die (politische) Legitimation entzogen.
Die Feststellung, dass die integrale Vernetzung der Verkehrssysteme bislang nicht ausreichend umgesetzt worden ist, reicht den Apologeten eines allein auf Marktkonformität ausgerichteten Verkehrssystems aus, um die Forderung nach einer noch weiter reichenden Privatisierung der Verkehrsinfrastruktur zu erheben. Ausgeblendet wird dabei, dass etwa mit der vonseiten der FDP vor einigen Jahren geforderten Privatisierung von Park-&-Ride-Anlagen nicht nur deren kostenfreie Nutzung zur Disposition gestellt würde, sondern zugleich ein entscheidender Anreiz für den allseits beschworenen "Umstieg vom Auto auf die Bahn" verloren ginge.
Schon jetzt wird mit der Ausdünnung der öffentlichen Infrastruktur immer sicht- und spürbarer das in Artikel 20 und Artikel 28 GG verankerte Sozialstaatsprinzip unterminiert, die in Artikel 72 Absatz 2 GG festgeschriebene Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als Staatsziel verkannt und werden Artikel 87d und 87e GG ausgehöhlt, in denen die Luftverkehrsverwaltung sowie die Verwaltung der bundeseigenen Eisenbahnen geregelt sind. Die Behauptung, dass ein Festhalten am Konzept der "Verkehrsplanung" zu einer "Durchstaatlichung der Gesellschaft" führe, ist eine der zentralen zu kurz greifenden Argumentationen neoliberaler Programmatik.
Tafelsilber gehört in den Schrank
Womöglich aber stehen wir vor einer Rückkehr des Staates, denn der häufig aus reiner Finanznot geborene Ausverkauf von Volksvermögen stößt mittlerweile bis in die Mitte der Gesellschaft auf Skepsis. So sind sich mehr als zwei Drittel der SPD- und Unionswähler einig, dass Bahn, Post und Gaswerke beim Staat besser aufgehoben sind als in privaten Händen. Offenkundig ist der Glaube an die Allmacht des freien Marktes erschüttert, weil viele Bürgerinnen und Bürger realisieren, dass der "betriebswirtschaftliche Imperialismus" uns von der gemeinhin akzeptierten (Sozialen) Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft geführt hat. Mit jeder Privatisierung werden Einflussmöglichkeiten von demokratisch legitimierten Akteuren zu privaten verschoben, sodass die Entscheidungen – jedenfalls prinzipiell – von Personen und Gremien getroffen werden, die sich öffentlich nicht verantworten müssen. Somit können schwerwiegende Verfehlungen, deren negative Auswirkungen oftmals erst mit einigem zeitlichen Abstand erkennbar sind, den Verantwortlichen nur bedingt – und meist ausschließlich bei strafrechtlicher Relevanz – mit unmittelbaren Folgen für sie selbst angelastet werden.
Ein weiterer wesentlicher Einwand gegen den mit jeder Privatisierung verbundenen Rückzug des Staates ergibt sich daraus, dass die beliebte Metapher vom "Verkauf des Tafelsilbers" die Entwicklung verharmlost, weil Letzteres bloß unnütz im Schrank herumliegt, während staatliche Unternehmen der öffentlichen Hand laufende Einnahmen verschaffen und damit der Allgemeinheit dienen. So belegt die Geschichte des Bahn- und Postwesens, dass Staatsunternehmen durchaus profitabel arbeiten können. Die Bundespost ließ dem Staatshaushalt noch gegen Ende der 1980er Jahre einen Jahresüberschuss von mehr als fünf Milliarden DM zufließen. Mindestens ebenso beeindruckt die Tatsache, dass der preußische Staat vor dem Ersten Weltkrieg nahezu ein Drittel seines Haushalts durch die Einnahmen aus dem Bahnbetrieb decken konnte.
Dass die Preisgabe staatlicher Steuerungsmöglichkeiten auch gegenwärtig noch einen Verzicht auf staatliche Einnahmen bedeuten kann, zeigt das Beispiel der Schweizerischen Bundesbahnen. Diese konnten in den vergangenen Jahren trotz kostspieliger Investitionen wie zum Beispiel in das milliardenschwere "Mammutprojekt" Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) unter der Federführung der AlpTransit Gotthard AG – einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft der Schweizerischen Bundesbahnen – hohe Millionenbeträge als Überschuss verbuchen.
Das stichhaltigste Argument gegen die Privatisierung vormals öffentlicher Unternehmen leitet sich aus der Tatsache ab, dass private Unternehmen aufgrund ihrer Verpflichtung, profitabel zu wirtschaften, zahlreiche Ziele verfolgen, die einer am Gemeinwohl orientierten Politik diametral entgegenstehen. So werden durch Privatisierungen wichtige Hebel zur Gestaltung einer wünschenswerten (volks-)wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Entwicklung aus der Hand gegeben, denn die Stärkung der Marktkräfte höhlt bei gleichzeitiger Einschränkung der staatlichen Regulations- und Kontrollmöglichkeiten die wirtschaftspolitischen Instrumentarien aus.
Mit einem Verzicht auf Infrastrukturinvestitionen beispielsweise beraubt sich der Staat der Möglichkeit, den Verdrängungswettbewerb auf dem Verkehrsmarkt zugunsten des Verkehrsträgers "Schiene" auszugestalten. Beleben ließe sich die Schienenverkehrsnachfrage schließlich nur durch ein Verbot von Fernlinienbussen, die Verteuerung des Straßenverkehrs sowie das Vorhalten eines preiswerten und eng getakteten Bahnangebots. Es bleibt zu hoffen, dass soziale Korrekturmaßnahmen wie zum Beispiel Job-, Schüler- und Studierendentickets auch in Zukunft bezuschusst werden. Denn statt die öffentliche Daseinsvorsorge auf dem Altar des Marktes zu opfern, sollten wir uns immer wieder vergegenwärtigen, dass sich die Stärke einer Gesellschaft am Wohl der Schwachen bemisst. Dies gilt in besonderer Weise für die Verkehrsinfrastruktur, mag doch niemand daran zweifeln, dass Mobilität in der heutigen Zeit unverzichtbar ist.
Dieser Beitrag basiert in wesentlichen Teilen auf meinem jüngsten Buch: Staat im Ausverkauf. Privatisierung in Deutschland, Frankfurt/M. 2016.
Vgl. Tim Engartner, 11000 Jahre Verspätung, in: Die Zeit, 5.3.2009, S. 84.
Bei (funktionalen) Privatisierungen nach dem ÖPP-Modell übernimmt ein privates Bauunternehmen Ausbau, Betrieb sowie Erhalt des Objekts über einen Vertragszeitraum von in der Regel 30 Jahren. "Entlohnt" werden die Unternehmen bei ÖPP im Autobahnaus- und -neubau derzeit zumeist durch die Beteiligung an den Einnahmen aus der Lkw-Maut.
Holger Schwannecke, Mehr Investitionen in die Infrastruktur!, Oktober 2015, Externer Link: http://www.handwerksblatt.de/handwerk/mehr-investitionen-in-die-infrastruktur-25116.html.
Bundeskartellamt (Hrsg.), 8. Beschlussabteilung B 8-95/10, Bonn 2011, S. 3.
Julian Staib, Reibach an der Raststätte, 29.6.2012, Externer Link: http://www.faz.net/-11804288.html.
Vgl. Karl-Dieter Bodack, Die deutsche Bahnreform – ein Erfolg?, in: Eisenbahn-Revue International 11/2004, S. 525.
Jörg Münchenberg, Lufthoheit über Europa. Modelle zur effizienten Flugsicherung, 24.6.2007, Externer Link: http://www.deutschlandfunk.de/lufthoheit-ueber-europa.716.de.html?dram:article_id=90389.
Joachim Hirsch, Der Sicherheitsstaat. Das "Modell Deutschland", seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen, Frankfurt/M. 1980, S. 61.
Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010, S. 239.
| Article | , Tim Engartner | 2021-12-07T00:00:00 | 2017-04-11T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/246422/zur-privatisierung-von-infrastruktur-staat-im-ausverkauf/ | Im (Irr-)Glauben daran, dass Privatisierungen Dienstleistungen grundsätzlich besser, billiger und bürgernäher machten, schüttelt "Vater Staat" seine Aufgaben ab - wie ein Baum seine Blätter im Herbst. Privatisiert wird gegenwärtig insbesondere die (V | [
"Infrastruktur",
"Bahn",
"Verkehr",
"Wirtschaft",
"Privatisierung",
"Schuldenbremse",
"Public-private-Partnership"
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Salafismus – was ist das überhaupt? | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de | Bitte beachten Sie: Dieser Beitrag ist älter als fünf Jahre. Forschung, Fachdebatte oder Praxisansätze haben sich möglicherweise in der Zwischenzeit weiterentwickelt.
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Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 fand der Islamismus in seiner terroristischen wie in seiner nicht-terroristischen Form in Öffentlichkeit und Wissenschaft größere Aufmerksamkeit. Dabei sorgten unklare Begriffe und mangelnde Abgrenzung bei ihrem Gebrauch immer wieder für Irritationen und Missverständnisse. So stellt sich etwa die Frage: Was hat der Islam mit dem Islamismus zu tun? In den vergangenen Jahren findet die Bezeichnung "Salafismus" in Medien und Politik größere Verbreitung. Sie geht auf die Selbstbezeichnung einiger islamistischer Strömungen zurück und wird oft auch verwendet, um eine Gleichsetzung mit "dem Islam" zu vermeiden. Dies führte indessen zu neuen Irritationen, denn das Verhältnis der Kategorien "Islamismus" und "Salafismus" blieb häufig unklar. Insofern wird hier eine Definition vorgeschlagen und bezogen auf Handlungsstile und Ideologiemerkmale eine Typologie präsentiert. Allerdings handelt es sich beim "Salafismus" um ein komplexes Phänomen, das aufgrund der diversen Erscheinungsformen häufig nur idealtypisch in Kategorien erfasst werden kann. Gleichwohl bedarf es solcher Begriffsbestimmungen, will man Kommunikationsstörungen zum Thema vermeiden.
Begriffsbedeutung mit dem Bezugspunkt zur Frühgeschichte des Islam
Der Problematik, "Salafismus" möglichst klar und trennscharf zu definieren, kann man zunächst mit Ausführungen zur Begriffsbedeutung entgegentreten: "Salafismus" beziehungsweise der arabische Begriff "Salafiyya" bezieht sich auf den Ausdruck "salaf as-salih", was mit "die frommen Altvorderen" übersetzt werden kann. Gemeint sind damit die ersten drei Generationen der Muslime nach dem Propheten Mohammed. Die seinerzeitigen Gesellschafts- und Religionsvorstellungen gelten demnach als Bezugspunkt für das Selbstverständnis des "Salafismus". Dabei sehen dessen Anhänger und Protagonisten in dieser Frühphase des Islam ein "goldenes Zeitalter" für ihre Religion, geprägt durch eine authentische islamische Lebensführung. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft ergibt sich für diese Epoche ein differenziertes Bild: Zwar fand der Glaube der Muslime seinerzeit große Anerkennung und Verbreitung. Doch kam es bereits unter den Nachfolgern des Propheten Mohammed nach der offiziellen islamischen Überlieferung wegen der Nachfolgefrage zu gewalttätigen Konflikten um Machtpositionen.
Begriffsgeschichte zu klassischen Auffassungen von "Salafismus"
Aus der Ausrichtung von Denken und Handeln an den "Altvorderen" lässt sich noch keine klare Definition ableiten. Denn die meisten Muslime würden in der ein oder anderen Form zustimmen, dass eine solche Ausrichtung grundsätzlich eher positiv zu sehen ist. Dies gilt insbesondere für Traditionalisten, konservative und orthodoxe Muslime. Demnach müssen noch besondere Alleinstellungsmerkmale für die Begriffsdefinition hinzu kommen, die im Folgenden beschrieben werden. Darüber hinaus besteht eine weitere Schwierigkeit darin, dass es bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine innerislamische Reformbewegung mit Rückgriffen auf die Frühgeschichte des Islam gab. Sie ging von der Ansicht aus, dass die islamische Welt den Anschluss an die Entwicklung der westlichen Welt verloren habe. Bei diesen politischen und theologischen Strömungen lässt sich indessen eine bedeutende Differenz zu den gegenwärtigen Salafisten konstatieren: Zwar befürworteten die Salafisten des 19. Jahrhunderts ebenfalls eine Islamisierung der Gesellschaft und lehnten deren Säkularisierung ab, sie bekundeten aber auch die Notwendigkeit von selektiven Modernisierungen in Bildung oder Recht.
"Salafismus" als Sammelbezeichnung für ein modernes Phänomen
Derartige Anpassungen lehnen die Anhänger des Salafismus der Gegenwart ab. Daher bezeichnen sie manche Autoren auch als "Neo-Salafisten". Sie betrachten Reformen als Abweichung vom "wahren Glauben". Demnach können die aktuellen Strömungen des Salafismus wie folgt definiert werden: Es handelt sich um Ausrichtungen an den angeblichen oder tatsächlichen Gesellschafts- und Religionsvorstellungen der Frühgeschichte des Islam, welche Abweichungen oder Neuerungen kaum beziehungsweise nicht zulassen. Demnach sollen die "heiligen Schriften" des Koran und der Sunna nicht neu interpretiert, sondern ahistorisch wortwörtlich genommen werden. Diese Einstellung kommt auch in Erscheinungsbild und Kleidungsstil zum Ausdruck, zum Beispiel im Tragen von langen Bärten oder knöchellangen Gewändern. Auch hierbei bestehen Ambivalenzen und Widersprüche. Denn Salafisten nutzen durchaus moderne Kommunikationstechniken wie Internet und Mobiltelefone, obwohl diese in der Frühphase des Islam nicht existierten. Differenzierung des Salafismus über idealtypische Handlungsstile
Da es sich beim Salafismus der Gegenwart um eine heterogene Bewegung und nicht um eine einheitliche Organisation handelt, bedarf es über die genannten Gesichtspunkte hinaus noch einer weiteren Differenzierung. Bei der Kategorisierung gilt es, zwei verschiedene Ebenen zu unterscheiden: Auffassungen und Handlungen. Während im Bereich der Ideologie grundlegende Gemeinsamkeiten bestehen, existieren hinsichtlich der Praxis wichtige Unterschiede. Hier soll in Anlehnung an Ergebnisse der Forschung von Quintan Wiktorowicz eine Differenzierung verschiedener Handlungsstile präsentiert werden. Diese bilden idealtypische Kategorien, das heißt es geht um abstrakte Einteilungen, die für konkrete Aktivitäten oder bestimmte salafistische Gruppen nicht immer eindeutig erfolgen können. Gleichwohl ist aus der Perspektive einer Gefahrenpotentialeinschätzung eine solche Typologisierung inhaltlich sinnvoll.
Handlungsstil I: Puristischer Salafismus
Die Formulierung "Puristischer Salafismus" bezieht sich zunächst nur auf die "Reinheit" der Lehre. Alle angeblich oder tatsächlich nicht-islamischen Bestandteile oder Einflüsse werden aus dem eigenen gesellschaftlichen und religiösen Selbstverständnis ausgeschlossen. Diese Auffassung ist allgemein dem Salafismus eigen und findet sich auch in den beiden anderen Formen dieser Bestrebungen, die im Folgenden noch beschrieben werden. Als Besonderheit des puristischen Salafismus kann gelten, dass seine Akteure allein auf die individuelle Frömmigkeit abstellen, welche erhöht und erweitert werden soll. Dabei geht es nicht um eine gesellschaftliche Dimension, etwa durch die Gewinnung von sozialer Akzeptanz. Vielmehr beschränkt man sich darauf, den jeweiligen Gläubigen in Richtung der eigenen Islam-Interpretation zu festigen. Anhänger des puristischen Salafismus agieren in der Regel nicht öffentlich, und man kann auch keine politischen Aktivitäten konstatieren. Eine gesellschaftliche Islamisierung erwarten Angehörige dieser Strömung als automatische Entwicklung aus dem individuellen Glauben.
Handlungsstil II: Politischer Salafismus
In Bezug auf die Gesellschaft vertreten die Anhänger eines "Politischen Salafismus" eine andere Auffassung. Sie fordern sowohl gegenüber anderen Muslimen als auch Nicht-Muslimen aktiv und offensiv die Ausrichtung und Umorientierung der Gesellschaft und des Staates im Sinne ihrer Deutung des Islam. Dies geschieht etwa durch Agitation in Gestalt von öffentlichen Missionierungen und Predigten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der muslimischen Community. Die Formulierung "Politischer Salafismus" darf in diesem Kontext aber nicht dahingehend falsch verstanden werden, dass sich seine Akteure demokratischer Instrumente wie etwa Volksentscheiden oder Wahlen bedienen. Denn säkulare Beteiligungsformen an politischen Prozessen akzeptieren Vertreter des politischen Salafismus – auch aus strategischen Gründen – eigentlich nicht, wobei es hier auch Ausnahmen von der Regel gibt. Ein Beispiel ist die Teilnahme einer salafistischen Partei bei den Wahlen nach dem "Arabischen Frühling" in Ägypten. Die Aktivitäten von Protagonisten im Bereich des "Politischen Salafismus" beschränken sich meist auf Propaganda im weitesten Sinne. Damit geht einher, dass man zwar möglicherweise Gewalt von anderen Salafisten akzeptiert, aber diese nicht als Option für das eigene Handeln sieht.
Handlungsstil III: Terroristischer Salafismus
In der Frage der Gewaltanwendung unterscheidet sich der "politische" vom "terroristischen Salafismus", der auch als jihadistischer Salafismus bezeichnet wird. Dessen Anhänger sehen in der Anwendung von Gewalt ein legitimes Mittel, um die eigenen politischen und religiösen Auffassungen soziale Realität werden zu lassen. Anschläge und Attentate richten sich meist gegen sogenannte "feindliche Kräfte" wie Israel oder die USA, aber nicht nur gegen diese. Auch die Anhänger anderer Strömungen im Islam gelten als Abweichler oder Verräter. Körperliche Gewalt gegen sie – bis hin zu Tötungen – gilt als legitim. Da der Salafismus für eine sunnitische Richtung in der islamischen Welt steht, wird auch Gewalt gegen Schiiten als legitime Tat angesehen.
Kampfansage gegen andere Muslime: Takfirismus im Salafismus
Die Ablehnung anderer Strömungen des Islam bezeichnet man als "Takfir" ("einen Muslim zum Apostaten erklären") beziehungsweise "Takfirismus": Andere Muslime gelten als "Ungläubige" und werden aufgrund eines behaupteten Glaubensabfalls exkommuniziert. Darüber, was einen solchen Glaubensabfall ausmacht, lassen sich bei den salafistischen Bestrebungen unterschiedliche Vorstellungen konstatieren. Dies macht noch einmal deutlich, dass der Salafismus keineswegs eine in allen ideologischen Details homogene Bewegung ist. Gleichwohl ist ihr der Takfirismus als Bestandteil des Selbstverständnisses eigen. Dafür bestehen auch strategische Notwendigkeiten, könnte man doch ansonsten nicht gegen muslimische Gegner oder gegen muslimische Regierende vorgehen. Takfirismus dient Salafisten zum Beispiel als Instrument, um gewählten Politikern mit einem islamischen Hintergrund das "Muslim-Sein" abzusprechen und so Gewaltakte zu legitimieren.
Demokratie- und extremismustheoretische Einschätzung des Salafismus
Zwar sind fast alle islamistischen Terroristen auch Salafisten, es gilt aber nicht der Umkehrschluss: Keineswegs sind alle Salafisten auch Terroristen. Insofern darf sich eine demokratie- und extremismustheoretische Einschätzung dieser Bewegung nicht nur auf den gewählten Handlungsstil beziehen. Denn bereits in den konstitutiven Bestandteilen des ideologischen Selbstverständnisses kann man ein Spannungsverhältnis zu den Minimalbedingungen moderner Demokratien und offener Gesellschaften feststellen: So steht die von Salafisten eingeforderte Todesstrafe für Apostasie im klaren Gegensatz zum Grundrecht auf Religionsfreiheit. Die dualistische Sicht von "wahrhaft Gläubigen" und "verwerflichen Ungläubigen" bedingt in der Praxis die Ungleichwertigkeit von Menschen. Die Fixierung auf einen islamischen "Gottesstaat" bedeutet, dass Salafisten die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung sowie das Prinzip der Volkssouveränität ablehnen. Und das Geschlechter- und Gesellschaftsbild führt zur Diskriminierung und Herabwürdigung von Frauen. Gewalt und Terrorismus im Kontext des Salafismus
Die Differenzierung der Handlungsstile im Salafismus im Sinne der oben präsentierten Typologie versteht sich als idealtypisch. In der Realität gibt es "Grauzonen" oder Übergangsbereiche. Dennoch bringt die idealtypische Unterscheidung einen Erkenntnisgewinn mit sich, gerade bezogen auf die Einstellung zu Gewalt und Terrorismus. Denn während bezüglich der Deutung des Islam und der Forderung nach einer Islamisierung der Gesellschaft in den genannten drei Bereichen des Salafismus ein Konsens herrscht, lassen sich Differenzen im Handlungsstil ausmachen. Dies bedeutet auch, dass Akteure im puristischen Salafismus mitunter sehr schnell auch zu terroristischen Akteuren werden können. Darin besteht das besondere Gefahrenpotential, auch wenn die Mehrheit der Salafisten gegenwärtig nicht gewalttätig ist.
Kontext zu Begriffen wie "Extremismus", "Fundamentalismus" und "Islamismus"
Wie verhält sich nun der Salafismus zu anderen Begriffen beziehungsweise Kategorien der Politikwissenschaft? Die politischen und terroristischen Handlungsformen können als Phänomene des Extremismus beziehungsweise Terrorismus gelten, was bereits durch die Ausführungen zur demokratietheoretischen Einschätzung und zum Verhältnis gegenüber der Gewaltanwendung deutlich wurde. Dies gilt indessen nicht für die puristische Form, da dieser der dezidierte politische Bezug fehlt. Gleichwohl ist eine politische Zielsetzung in Form der Ausrichtung auf eine Islamisierung der Gesellschaft objektiv angelegt. Alle genannten Handlungsstile des Salafismus können auch dem Fundamentalismus zugerechnet werden. Das gilt sowohl im engeren Sinne aufgrund der wortwörtlichen Auslegung von "heiligen Schriften" als auch in einem weiteren Sinne wegen der Präsenz von Strukturmerkmalen wie Absolutheitsansprüchen, Dogmatismus oder Fanatismus. Im Islamismus stellt der Salafismus eine Teilströmung dar. Deren Besonderheit besteht hier in einer deutlichen und hohen Extremismusintensität.
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Quellen / Literatur
Celyan, Rauf/Kiefer, Michael: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention, Wiesbaden 2013.
Fuchs, Peter: Salafismus. Eine dogmatische Strömung des sunnitischen Islamismus und ihre Ausprägung in Deutschland, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2011/2012 (II), Brühl 2012, S. 5-38.
Hummel, Klaus/Logvinov, Michail (Hrsg.): Gefährliche Nähe. Salafismus und Dschihadismus in Deutschland, Stuttgart 2014.
Said, Behnam T./Fouad, Hazim (Hrsg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg 2014.
Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014.
Wiktorowicz, Quintan: Anatomy of the Salafi Movement, in: Studies in Conflict & Terrorism, 29 (2006), Nr. 3, S. 207-239.
Celyan, Rauf/Kiefer, Michael: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention, Wiesbaden 2013.
Fuchs, Peter: Salafismus. Eine dogmatische Strömung des sunnitischen Islamismus und ihre Ausprägung in Deutschland, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2011/2012 (II), Brühl 2012, S. 5-38.
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Said, Behnam T./Fouad, Hazim (Hrsg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg 2014.
Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014.
Wiktorowicz, Quintan: Anatomy of the Salafi Movement, in: Studies in Conflict & Terrorism, 29 (2006), Nr. 3, S. 207-239.
| Article | Armin Pfahl-Traughber | 2023-02-06T00:00:00 | 2015-09-09T00:00:00 | 2023-02-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/211830/salafismus-was-ist-das-ueberhaupt/ | Armin Pfahl-Traughber beschreibt verschiedene Strömungen des Salafismus anhand typischer Handlungsstile. | [
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Was die DDR in der Seuchenbekämpfung besser machte | Deutschland Archiv | bpb.de | Obwohl ihre wirtschaftlichen Kräfte deutlich geringer als die der Bundesrepublik waren, konnte die DDR in der Tuberkulosebekämpfung, in der schnellen Zurückdrängung der spinalen Kinderlähmung, bei Kinderkrankheiten und später auch bei Aids zum Teil bessere Ergebnisse erreichen. Auch auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung wies sie gute Ergebnisse auf. Wieso? Das möchte ich erklären. Die Reaktion auf eine Epidemie/Pandemie war vom Gesetz her geregelt. Der Gesundheitsminister leitete eine ständige Kommission zur Verhütung und Bekämpfung von Epidemien. Bereiche wie Bildung, Handel, Wirtschaft, Polizei gehörten dazu. Die staatliche Plankommission hatte die Aufgabe, schnellstmöglich zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren. In den 15 Bezirken und den Kreisen gab es Kommissionen und Seuchenbekämpfungspläne. Die Einrichtungen des Gesundheitswesens – Universitätskliniken, Kreiskrankenhäuser, Polikliniken, Hygieneinspektionen, Arztpraxen, Kinder- und Pflegeeinrichtungen, aber auch die Betriebe, Schulen, Behörden – wurden von Beginn einbezogen. Das war präzise vorbereitet. Es fanden dazu sogar Übungen statt. Die Polikliniken in der DDR konnten mit ihrer Struktur (mehrere Ärzte, eigenes Labor, räumliche Abgrenzung von Infektionsbereichen, Aufstellung von Notbetten, längere Öffnungszeiten) ihre Kräfte relativ schnell auf neue Aufgaben einstellen, ohne dass der einzelne Arzt wirtschaftlich in Gefahr geraten wäre. Das DDR-Gesundheitswesen war fast ausschließlich öffentliches Eigentum, wurde staatlich organisiert und in der Regel ärztlich geleitet. Der Gesundheitsminister und seine Stellvertreter, die Verantwortlichen in den Bezirken oder in den Kommunen waren fast ausschließlich Ärzte, vielfach erfahren in der Hygiene oder Sozialmedizin und Epidemiologie. Diese Autorität erleichterte die Abstimmung mit anderen Bereichen. Die DDR war in der WHO gerade wegen ihrer Expertise auf diesem Gebiet geschätzt. Als Facharzt für Sozialmedizin bewegen mich all diese Fragen sehr. Mich wundert, wie lange es in den letzten Wochen manchmal dauerte, ehe praktikable Regelungen erarbeitet werden und wurden – für Gottesdienste, größere Kinos, Handel, Gaststätten, Hotels. Angeblich hatte sich der Berliner Senat mit der Gastronomie detailliert nicht beschäftigt, hieß es noch Ende April. Da ist der Protest der Berliner Amtsärzte und anderer Gremien zu verstehen, dass sie nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen sind oder Leiter von Einrichtungen zuerst über die Medien von Entscheidungen erfahren. Man staunt, dass es trotzdem einigermaßen funktioniert, jedoch um den Preis völlig unnötiger Verunsicherung und Zeitverlust. Das Wort von Ärzten des öffentlichen Gesundheitsdienstes hat neben den Statistiken besonderes Gewicht. Denn die Mitarbeiter in den Gemeinden, Städten und Landkreisen kennen die jeweiligen Lebensumstände von Corona-Betroffenen und die Art und Weise der Verbreitung oder Zurückdrängung von Infektionen. Bei ihnen werden aus Statistiken konkrete Vorgänge, auf die mit konkreten Maßnahmen reagiert wird, natürlich einschließlich der korrekten Meldung an das Robert-Koch-Institut. Ich plädiere dafür, die Tests weiter auszubauen. Sichere Erkenntnisse über Verlauf und Verbreitung der Krankheit werden sich am Ende auszahlen, besonders da es sich um ein Virus mit noch wenig bekannten Eigenschaften handelt. Für Kinder und Jugendliche sind die Erkenntnisse entscheidend, auch die Meinung von Kinderärzten. Geöffnete Schulen und Kitas können mit medizinisch begleiteter Überwachung auf Dauer einen besseren Gesundheitsschutz sichern als die jetzige Situation. Die Erfahrungen mit den "notbetreuten" Kindern und dem begonnenen Schulunterricht machen Mut. Lieber höhere bekannte Ziffern als Dunkelziffern! Und das Robert-Koch-Institut sollte bei seiner Methode der Datenerfassung und Berichterstattung bleiben. Das schließt die zügige Ausweitung der Tests, die Komplettierung der zu erfassenden Daten und die Erweiterung von Meldepflichten ein. Es ist im Übrigen eine Unart, bei Statistiken mit besserwisserischem Eifer unterschiedliche Datenerheber, Erhebungsmethoden und Messzeitpunkte je nach Bedarf und ohne entsprechende Erläuterung ins Spiel zu bringen. Nicht selten wird in bestimmte Zahlen mehr hineingedeutet, als sie aussagen können. Die Ziffern der Hopkins-Universität haben bisher meines Erachtens keine signifikant anderen Erkenntnisse über Deutschland gebracht. Eine Analyse der regionalen Unterschiede in den Corona-Fällen (so zum Beispiel die seit Beginn sehr günstigen Zahlen in Mecklenburg-Vorpommern oder auch in einigen Berliner Bezirken) kann dazu beitragen, unterschiedliches Vorgehen bei Lockerungen gut zu begründen und nachvollziehbar zu machen. Alle Gestorbenen mit Corona-Verdacht sollten obduziert werden, wie es nach Hamburg nun häufiger geschieht. Solche wichtigen Sektionen sind leider generell aus der Mode gekommen. Sie belegen zum Beispiel, dass es im Vergleich zur Influenza tatsächlich einen anderen Befall der Lungen bzw. anderer Organe gibt. Der Behandlungsbedarf anderer Krankheiten muss trotzdem im Blick bleiben. In anderen Teilen der Welt bleiben Tuberkulose, Malaria, Hunger, unsauberes Wasser tödliche Bedrohungen, obwohl wir die Mittel dagegen kennen und hätten. Eine der wichtigsten politischen Forderungen ist, das Gesundheitswesen (endlich) zu verändern, ja, zu verstaatlichen. Das hieße, es aus den Fesseln einer gewinnorientierten Gesundheitswirtschaft zu befreien. Denn dann könnten wir schneller und effektiver auf außergewöhnliche Aufgaben wie eine Epidemie reagieren. Der am Beginn der Corona-Krise erfolgte "Hilferuf" von privatisierten Krankenhäusern nach Ausgleich ihrer Einnahmeausfälle, weil sie planbare Operationen verschieben sollten, ist bezeichnend. Im ambulanten Bereich schienen viele Ärzte mit ihren Praxen allein gelassen. Inwieweit sehen jedoch die kassenärztlichen Vereinigungen die Vorbereitung auf epidemische Situationen als Teil ihres Sicherstellungsauftrages? Der öffentliche Gesundheitsdienst, seit Jahren heruntergefahren, wird wegen seiner offensichtlich nicht ersetzbaren Funktion gelobt. Besonders Ärzte in diesem Bereich werden aber schon seit längerem unanständig schlecht vergütet. Die Änderung der Eigentumsverhältnisse muss einhergehen mit der Befreiung der Krankenhäuser vom Fluch der Fallpauschalen. Das wäre nicht nur kostengünstiger, sondern auch medizinisch wirksamer. Ein Arzt ist kein (Klein-)Unternehmer! Diese Rolle führt zu Interessenkonflikten. Es ist kein Zufall, dass im ambulanten Bereich immer mehr Ärzte als Angestellte tätig sein wollen. Wenn das Gesundheitswesen staatlich wäre, könnten die als Medizinische Versorgungszentren etablierten Kapitalunternehmen, die oft täuschend als Polikliniken firmieren, keine privaten Gewinne aus der über die gesetzlichen Krankenversicherung erfolgenden Finanzierung ihrer Leistungen ziehen. Ja, es würde keiner mehr aus gesetzlichen Versicherungsbeiträgen sachfremde Erlöse erzielen. Das Wort Gesundheit taucht im Grundgesetz überhaupt nicht auf! Wichtigste Verfassungsstütze bisher ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Ansatzpunkte bieten das Sozialstaatsgebot, Aussagen über den Schutz von Frauen und Kindern und über die allgemeinen Katastrophen- und Notstandssituationen. Demgegenüber gibt es völkerrechtliche Aussagen zu Gesundheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im Uno-Menschenrechtsabkommen. In unserem Land kann man lange spitzfindige Gutachten lesen, die die Nichtaufnahme von Rechten in das Grundgesetz rechtfertigen. Zwar könnte man auch mit dem jetzigen Grundgesetz vieles ermöglichen, zum Beispiel den Aufbau von Polikliniken, die Abrechnung der Leistungen ohne Fallpauschalen, eine bessere Krankenhausplanung. Doch sollte die Corona-Erfahrung Anlass sein, den Schutz der Gesundheit in das Grundgesetz aufzunehmen. Wer das Gesundheitssystem verbessern will, sollte Konzept, Struktur und Ergebnisse des DDR-Gesundheitswesens kennen. Hier offenbart sich unaufschiebbarer Nachholbedarf. So nannte der letzte DDR-Gesundheitsminister Prof. Dr. Jürgen Kleditzsch (CDU) in der Regierung de Maizière die Gesundheitspolitik in Gesamtdeutschland "konzeptionslos", es fehlte an dem politischen Willen, die "positiven Seiten beider Seiten" zusammenwachsen zu sehen. Ähnlich erinnerte sich Franz Knieps als nach dem Osten gesandter Gesundheitsexperte. Ihm wurde "von den eigenen Leuten" gesagt: "Ich sei nicht in den Osten geschickt worden, um über den Erhalt von DDR-Strukturen nachzudenken, sondern um eine reibungslose Ausweitung der westdeutschen Krankenversicherung zu organisieren." Die DDR-Verfassung machte in fünf Artikeln Aussagen zur Gesundheit. Ich zitiere hier den Artikel 35: (1) Jeder Bürger hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und Arbeitskraft. (2) Dieses Recht wird durch die planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Pflege der Volksgesundheit, eine umfassende Sozialpolitik, die Förderung der Körperkultur, des Schul- und Volkssports und die Touristik gefördert. (3) Auf der Grundlage eines sozialen Versicherungssystems werden bei Krankheit und Unfällen materielle Sicherheit, unentgeltliche ärztliche Hilfe, Arzneimittel und andere medizinischen Leistungen gewährt. In weiteren Artikeln wird auf das Recht auf Betreuung im Alter, bei Invalidität und Arbeitsunfähigkeit sowie den Schutz und die medizinische Betreuung von Mutter und Kind abgestellt. Was muss geschehen? Die Grenzen der gegenwärtigen ambulanten Medizin mit seinen privaten Niederlassungen und den privaten Versorgungszentren sollten durch das poliklinische Prinzip aufgelöst werden: unbürokratische Zusammenarbeit zwischen Ärzten, eine breitere Zugänglichkeit, längere Öffnungszeiten, effektivere Nutzung von Geräten und Labors, kurze Wege, effektivere Verwaltung. Der öffentliche Gesundheitsdienst muss gestärkt und qualifiziert werden. Es ist verantwortungslos, wenn zurzeit allein in Berlin wohl deutlich mehr als 50 Ärzte in diesem Bereich fehlen, weil sie nicht angemessen bezahlt werden. Eine vernünftige Krankenhausplanung muss ein Krankenhausnetz zum Ziel haben, dem sich die Interessen der einzelnen Träger und Eigentümer unterordnen müssen. Auch in der DDR wurden die Bettenzahlen dem tatsächlichen Bedarf und den neuen Behandlungsmöglichkeiten angepasst und über die Jahre reduziert. Auch in der DDR spielte die Entwicklung von Kapazitäten bei schwierigen, seltenen Operationen oder Therapien eine wichtige Rolle. Doch der Effekt für die Gesundheit hatte das Primat, nicht Profitabilität. Der berühmte amerikanische Herzspezialist und Gründer der Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg, Bernard Lown, schrieb im Vorwort seines Buches "Die verlorene Kunst des Heilens": "Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren."
Der Beitrag erschien 2020 zunächst in der Serie "Zeitenwende" der Berliner Zeitung. Zitierweise: Heinrich Niemann, "Was die DDR in der Seuchenbekämpfung besser machte“, in: Deutschland Archiv, 08.01.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/325016. Weitere Texte und Interviews in dieser Serie folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Weitere Beiträge in dieser Reihe unter: Interner Link: Zeitenwende | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-10T00:00:00 | 2021-01-07T00:00:00 | 2022-02-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/325244/was-die-ddr-in-der-seuchenbekaempfung-besser-machte/ | Der ehemalige DDR-Sozialmediziner Heinrich Niemann fordert viel mehr Corona-Tests, kritisiert Fallpauschalen und fragt sich, warum der Schutz der Gesundheit nicht im Grundgesetz steht. | [
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Editorial | Deradikalisierung | bpb.de | Begriffe wie "Extremismus" oder "Radikalisierung" gehören zum alltäglichen Sprachgebrauch. Jedoch bleibt oftmals unklar, was genau mit ihnen gemeint ist. Auch in der Forschung wird viel über den "Radikalisierungbegriff" diskutiert. Die meisten Ansätze betonen das Prozesshafte, das heißt sie konzentrieren sich auf den Verlauf von Radikalisierungen. Denn Menschen radikalisieren sich nicht von einem Tag auf den anderen. Wenn Radikalisierung also der Prozess ist, durch den ein Mensch zum Extremisten wird, dann ist eine mögliche Umkehrung dieser Eskalation für die demokratische Gesellschaft von besonderem Interesse: die Deradikalisierung.
Um einem solchen Richtungswechsel näher zu kommen, muss jedoch erst nachvollzogen werden, wie Radikalisierung tatsächlich abläuft – nämlich individuell unterschiedlich. In den meisten Theorien finden sich Elemente wie die Erfahrung von Unzufriedenheit und Konflikt, die Annahme einer extremistischen Ideologie sowie die Einbindung in Sozial- und Gruppenprozesse. Auch bei den Ansätzen, die Radikalisierungsprozessen entgegenwirken sollen, sind noch viele Fragen umstritten: von der Wahl der Kooperationspartner über die Gefahr, Menschen durch Präventionsprogramme vorzuverurteilen, bis hin zur Zielsetzung. Reicht es, einen Menschen zu "demobilisieren", ihn also vom Gewaltverzicht zu überzeugen, oder muss er sich auch von der jeweiligen extremistischen Ideologie abwenden?
Entsprechend vielfältig sind die Herangehensweisen in der Praxis. So bemühen sich "gezielte Interventionen", Personen, die sich kognitiv schon radikalisiert haben, "zurückzuholen", noch bevor sie straffällig geworden sind. In der "Verantwortungspädagogik" versuchen Antigewalt- und Kompetenztrainings, rechtsextreme oder fundamentalistische Jugendliche im Strafvollzug durch die Aufarbeitung ihrer Taten in Gruppen dazu zu bringen, ihr gewaltsames Verhalten zu verstehen, Verantwortung zu übernehmen und in Zukunft einen anderen Weg einzuschlagen. | Article | Sarah Laukamp | 2021-12-07T00:00:00 | 2013-07-09T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/164917/editorial/ | [
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Unterhaltung in den 50er Jahren | Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West | bpb.de |
Jürgen Roland, noch vor seiner Karriere als Regisseur, als Reporter im Versuchsprogramm des NWDR mit seiner Sendung "Was ist los in Hamburg ?", Hamburg 1952. (© picture-alliance, United Archives)
Improvisiert und klein – die ersten Versuche ab 1950
Als ab 1950 der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) von Hamburg aus mit ersten Versuchssendungen des deutschen Fernsehens begann, hatten viele Fernsehmacher nur ungenaue Vorstellungen davon, wie Fernsehunterhaltung aussehen könnte. Andere, die beim Fernsehen des "Dritten Reiches" dabei gewesen waren, hatten bereits einige Unterhaltungsformen erprobt: das heitere Spiel, den Sketch mit wenigen Personen auf kleiner Studiobühne, die Gesprächsunterhaltung zwischen wenigen Personen, die musikalische Darbietung und Bunte Abende. Aufgrund der beengten Produktionsbedingungen – der Fernsehversuchsbetrieb war in einem kleinen Studio im Hochbunker auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg untergebracht – dominierten anfangs die kleinen Formen. Dafür wurden Entertainer aus den Varietees, Unterhaltungskabaretts und vor allem vom Hörfunk gewonnen. Viele Fernsehredakteure waren vom Hörfunk zum Fernsehen gestoßen und griffen auf Unterhaltungsformen zurück, die sie für fernsehtauglich hielten. Fernsehunterhaltung entstand aus den Studioproduktionen, die neben den Außenübertragungen das wichtigste Standbein der frühen Fernsehproduktion bildeten. In den Studiosendungen wurde "etwas erzählt und dargestellt, später gesungen, getanzt und vorgeführt" und "geladene Gäste" brachten "etwas von draußen mit" . Es wurde improvisiert und "aus dem Stegreif" gespielt und es unterhielten sich Leute vor der Kamera . Abendliche Sendungen aus Hamburg und Berlin
Lebendig wirkten Sendungen wie die NWDR-Reihe "Was ist los in Hamburg" (1952), in der sich der damals junge Reporter Jürgen Roland mit Künstlern und Sportlern unterhielt, die zu Gastspielen in der Hansestadt weilten. Ähnlich agierten die zwischen 1951 und 1953 separat produzierenden und sendenden Berliner TV-Pioniere. Einer der Beteiligten erinnert sich: "Wer da immer Rang und Namen hatte, musste einfach damit rechnen, bei uns in 'Erscheinung getreten zu werden'" . In dieser Experimentierphase des Fernsehens, die für West wie Ost bis Mitte der 1950er Jahre reichte, wurden die abendlichen Sendungen zumeist sehr kurzfristig zusammengestellt. Das vorwiegend live ausgestrahlte und selten pannenfreie Programm lebte von der Improvisationskunst der Redakteure und Moderatoren. Manche Experimente verfestigten sich zu wiederkehrenden Programmformen. So wurde aus dem ungeordneten Gäste-Stelldichein in dem Berliner TV-Studio die Sendereihe "Treffpunkt Telebar" (1961–1965). Denn: "Was bot sich besser zu Gesprächen mit Künstlern und anderen bekannten Leuten an, als diese in einer Art Bar zu versammeln und sie bei etwas Musik von einem Sprecher reihum ein wenig ausfragen zu lassen" . Werner Höfer, Hans Hellmut Kirst und Margot Hielscher
In Köln rief der Journalist Werner Höfer 1954 die Sendung "Darf ich vorstellen? – Begegnungen zwischen Rhein und Ruhr" ins Leben und führte mit geladenen Gästen entspannte Gespräche vor kleinem Publikum, locker verbunden durch musikalische Einlagen des Pianisten Paul Kuhn. Die im selben Jahr eingeführten "Kölner Mittwochsgespräche" widmeten sich vieldiskutierten Themen wie dem Roman "Null-Acht Fünfzehn" von Hans Hellmut Kirst und unter dem Titel "reformirte ortografi" einer möglichen Rechtschreibreform. Ab Januar 1955 betrieb Leinwand-Star Margot Hielscher in ihrer vom Bayerischen Rundfunk produzierten Sendung "Zu Gast bei Margot Hielscher" (Untertitel: "Prominente – fast privat!", bis 1957) heitere Konversation mit Unterhaltungskollegen wie Romy Schneider, Maurice Chevalier oder Winnie Markus. Die Dekors des Studios entsprachen der Einrichtung ihres Schwabinger Appartements und vermittelten dem Publikum die Illusion, an einer privaten Zusammenkunft teilzunehmen. Revuen und Großveranstaltungen
Neben den kleinen Formen gab es vereinzelt größere Unterhaltungssendungen und Übertragungen großer Saalveranstaltungen. Der NWDR übertrug aus Hamburg und aus den Veranstaltungsorten rund um den Sender Unterhaltungsveranstaltungen: aus dem Park "Planten un Bloomen", dem Curio-Haus, der Ernst-Merck-Halle. "Mit Musik geht alles besser", hieß 1953/54 eine Fernsehrevue, die viele Nachahmungen fand . Man lud den Zirkus ins Fernsehstudio ein (26.12.1952: "Rund um die Manege") und produzierte magische Revuen . Beim NWDR Berlin nutzte man bei gutem Wetter den Hof des Gebäudes, in dem das 60-qm-Studio untergebracht war. Am 28. Mai 1952 übertrug der NWDR die beliebte Ratesendung "Das ideale Brautpaar" parallel zur Rundfunkausstrahlung live im Fernsehen: "Zum ersten Mal wird man den "idealen Brautvater" im Kreis der Brautpaare auf den Bildschirmen der Fernseh-Empfänger erblicken können", hieß es dazu in der NWDR-Zeitschrift "Die Ansage". In dem in der Schweiz eingekauften Unterhaltungsformat unterzog der Moderator Jacques Königstein junge Brautleute verschiedenen (nicht ganz ernst gemeinten) Aufgaben bzw. Tests. So stellte er ihnen z. B. in Abwesenheit abwechselnd gleichlautende Fragen, wobei es für jede übereinstimmende Antwort Punkte gab. Im hier gezeigten Programmausschnitt des NWDR aus dem Jahr 1959 mussten die Brautleute für sie ungewohnte Aufgaben erledigen: "'Er' sollte seine Geschicklichkeit beim Beziehen eines Bettes unter Beweis stellen, 'Sie' ihr technisches Verständnis beim Einregulieren eines Fernsehapparates. Erzielte Königstein nicht das gewünschte Amüsement, wusste er, was er zu tun hatte: Ich ging (...) mehr ins Intime" . Anfänge im DDR-Fernsehen
Ankündigung der Schlagerrevue (© Bundesarchiv, B 285 Plak-061-005 / Grafiker: KM)
In den Versuchssendungen des DDR-Fernsehens wurde zunächst erprobt, was im Fernsehen unterhaltend sein könnte. Hier orientierte man sich ebenfalls zunächst am Hörfunk. "Im Bereich der Unterhaltung war das Fernsehen vor allem ein 'Radio mit Bildern'", konstatieren Steinmetz/Viehoff , wobei es hier frühe Versuche gab, sich von den nur auf das Akustische ausgerichteten Radiounterhaltungen abzusetzen. Unterhaltung hatte im DDR-Fernsehen anfangs jedoch keinen Eigenwert, sie diente als "Wirkungskomponente ohne Genrebindung" dazu, publizistische Zielsetzungen besser zu vermitteln. 1952 konstatierte eine Studie des Deutschen Fernsehfunks, das Programm "müsse das Bedürfnis der Werktätigen nach Unterhaltung und Entspannung befriedigen" . Verbindung von Unterhaltung und Publizistik
Im Deutschen Fernsehfunk wurde gerade in den Anfangsjahren Unterhaltung immer in Verbindung mit der Publizistik gesehen, die "publizistischen Inhalte sollten dem Zuschauer mithilfe einer emotionalen Gestaltung, die als 'Zusätzliches' gedacht wurde, vertieft werden. Umgekehrt wurden Unterhaltungssendungen für publizistische Aufgaben genutzt" . Wunschmusiksendungen übermittelten Glückwünsche an Betriebe und ihre Mitarbeiter, die Sendereihe "Schlagerrevue" sollte das Publikum gegen die "amerikanische Unkultur auf dem Gebiet der Tanzmusik" immunisieren. Rätselsendungen sollten das "Bildungsniveau unserer Werktätigen" heben und "Betriebsabende", die das Fernsehen zusammen mit einzelnen Betrieben gestaltete ("Tags Arbeit – abends Gäste", 1955–56, sechs Sendungen, Titel nach J. W. Goethe), sollten unterhalten und über den gastgebenden Betrieb informieren . Der "Bunte Abend" – Wortwitz und zirzensische Attraktionen in der BRD
Clown Oleg Popow und Heinz Rühmann bei der Wohltätigkeitsgala "Stars in der Manege" im Münchner Circus Krone im Jahr 1980. Die letzte Folge wurde 2008 übertragen. (© picture-alliance/dpa)
"Bunte Abende" sind Veranstaltungen, die ursprünglich im 19. Jahrhundert (in Vereinen) unter Beteiligung aller Anwesenden mit Tanz und Gesellschaftsspielen sowie Gesangsdarbietungen und Rezitationen durchgeführt wurden. Sie waren im Varietee und in der Music Hall vertreten und wurden dort zu einer Darbietungsform, bei der größere Zuschauermengen nur zuschauten. In dieser Variante kamen sie in den Hörfunk. Bunte Abende wurden in der Regel vor einem meist gering oder gar nicht beteiligten Saalpublikum durchgeführt und dann im Radio übertragen. Geboten wurde eine nummerierte Abfolge unterschiedlicher Beiträge: eine Nummernrevue. Ein Conférencier, also Moderator, übernahm die Ansagen und überbrückte die Pausen zwischen den Auftritten durch launige Zwischentexte und Ansprachen an die Zuschauer. Vom Radio ins Fernsehen
Für das Radio produzierte Unterhaltungssendungen wurden früh – schon in den 1950er Jahren – von Fernsehkameras aufgenommen, Musikdarbietungen, szenische und kabarettistische Darstellungen (früher "Lebende Bilder", dann Sketche), Zauberkunststücke und artistische Präsentationen gehörten dazu. Als additive Form, die gleichzeitig ein Publikum – zumindest als Stimmungshintergrund – mit einbezog, war der Bunte Abend eine ideale Programmform für das Fernsehen, weil er vielfältige Angebote in sich vereinte, so wie sich das Medium insgesamt in seiner Programmstruktur aus unterschiedlichen Sendeformen zusammensetzte. Varietees und Conférenciers
1952 beklagte die Rundfunkzeitschrift "HÖRZU", man sei im NWDR-Fernsehen "auf dem Gebiet der Unterhaltung" zurückgeblieben: "Hier hat man die Form des herkömmlichen Kabaretts oder Varietees bisher nur selten überwinden können" . Doch Varietee und Kabarett blieben auf Jahre hinaus verlässliche Zulieferbetriebe der Fernsehunterhaltung. Varietees waren Bühnentheater mit kleinteiligen Programmen aus zirzensischen und künstlerischen Darbietungen, Slapstick-Nummern und Sketchen, zusammengehalten von einem Conférencier, der, teils in Zusammenspiel mit einem Stichwortgeber (engl. "Sidekick"), mit pointierten Ansagen Übergänge schuf und Umbaupausen überbrückte. Meist gehörte ein längeres Solo zum Programm. Diese sogenannten Conférencen entsprachen dem, was man im englischsprachigen Bereich und seit einigen Jahren in Deutschland als "Stand-up" bezeichnet, umfassten also wesentlich mehr als z. B. die Moderation einer Quizshow. Publikumserfahrene Conférenciers besaßen das nötige Rüstzeug, um Hörfunk- und Fernsehsendungen zu moderieren. Einige, wie Peter Frankenfeld, Hans Joachim Kulenkampff, Lou van Burg, Rudi Carrell bis zu Thomas Gottschalk machten entsprechende Karrieren. Mit dem Siegeszug des Fernsehens ging die ursprünglich vorhandene Infrastruktur aus Kleinkunstbühnen und Varietees, von denen das Fernsehen der Anfangsjahre lebte, verloren. Spezielle Zirkusübertragungen und Tiersendungen
Die zirzensischen und artistischen Darbietungen verschwanden jedoch nach und nach aus den Bunten Abenden im Fernsehen und wurden in spezielle Varietee- und Zirkusübertragungen verlagert (beispielsweise "Varieté, Varieté", ab 1963, ARD, und "Varieté-Zauber", ab 1967, ZDF, oder in die jährliche Benefiz-Veranstaltung "Stars in der Manege", seit 1959, ARD). Die Beschäftigung mit Tieren führte zu eigenen Tiersendungen mit Moderatoren wie Bernhard Grzimek und anderen.
Jürgen Roland, noch vor seiner Karriere als Regisseur, als Reporter im Versuchsprogramm des NWDR mit seiner Sendung "Was ist los in Hamburg ?", Hamburg 1952. (© picture-alliance, United Archives)
Ankündigung der Schlagerrevue (© Bundesarchiv, B 285 Plak-061-005 / Grafiker: KM)
Clown Oleg Popow und Heinz Rühmann bei der Wohltätigkeitsgala "Stars in der Manege" im Münchner Circus Krone im Jahr 1980. Die letzte Folge wurde 2008 übertragen. (© picture-alliance/dpa)
Quellen / Literatur
Interner Link: Hans-Joachim Kulenkampff
Interner Link: Hans-Joachim Kulenkampff
Hickethier 1998, S.81.
Vgl. Bleicher 2008, S.320ff.
Schöne 1984, S.35.
Ebd.
Vgl. Hickethier 1998, S.87f.
Vgl. Bleicher 2008, S.323.
Königstein 1952, S.28.
Steinmetz/Viehoff 2008, S.77.
Ebd., S.79, Mühl-Benninghaus 2006.
Steinmetz/Viehoff 2008, S.80.
Ebd.
HÖRZU 1952, Nr.35, S.2.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-04T00:00:00 | 2017-03-28T00:00:00 | 2022-07-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/245520/unterhaltung-in-den-50er-jahren/ | Aufgrund der beengten Produktionsbedingungen dominierten anfangs die kleinen Formen beim Fernsehen. Dafür wurden Entertainer aus den Varietees, Unterhaltungskabaretts und vor allem vom Hörfunk gewonnen. | [
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5 Fragen zum Community Organizing | Fördermittel und Fundraising für die politische Bildung | bpb.de |
Demonstrant (Externer Link: flickr/badlyricpolice) Lizenz: cc by/2.0/de
Community Organizing – Was ist das?
Community Organizing ist eine Methode zur aktivierenden Beziehungsarbeit zum Aufbau von Bürger-Organisationen, zum Beispiel in benachteiligten Stadtteilen. Das Ziel ist, dass Bürgerinnen und Bürger konstruktiv ihre eigene Stadt mitgestalten können. Sie werden zusammengebracht und dabei unterstützt, für ihre eigenen Interessen einzutreten und eine nachhaltige Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erwirken. Machtbeziehungen sollen verändert werden, so dass Menschen sich nicht ohnmächtig fühlen und Entscheidungsträgerinnen und -trägern „auf Augenhöhe“ begegnen. Die Lebenslage der Menschen aus mittleren und unteren Gesellschaftsschichten soll konkret verbessert werden. Community Organizing möchte dauerhafte und nachhaltige Bürger-Organisationen entstehen lassen, die Strategien ausformulieren, soziale Konflikte benennen, Aktionen durchführen und mit Machthabenden verhandeln können. Dauerhafte Veränderungen von Machtbeziehungen und partizipatorische Strukturen werden angestrebt, um Demokratie mit Leben zu füllen. Community Organizing kommt aus den USA. Als Gründervater gilt der radikaldemokratische Bürgerrechtler Saul David Alinsky (1909-1972). Community Organizing wird zunehmend auch in Deutschland und Europa durchgeführt. Seine Aspekte fließen auch in Bereiche der sozialen Arbeit von Kommunen und anderen Trägern ein. In Deutschland werden je nach Ansatz für Community Organizing auch Begriffe wie Bürgerplattform, Bürgerforum, Bürgerorganisation oder Stadtteilvertretung verwendet. Wie funktioniert es konkret?
Meist besteht der Community Organizing Prozess aus drei bis vier Phasen, die jedoch nicht immer trennscharf voneinander zu unterscheiden sind:
Zuhören und Auswerten
Persönliche Einzelgespräche mit den Betroffenen bzw. Schlüsselpersonen im Stadtteil, um die Menschen, ihre Werte, Interessen, Probleme und Wünsche kennenzulernen und Beziehungen aufzubauen. Gemeinsame Treffen und Versammlungen, bei denen Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Gruppen (Vereine, Kirchen, Moscheen etc.) und interessierte Menschen zusammenkommen, einander kennenlernen und Vertrauen aufbauen und wo die Ergebnisse der Einzelgespräche vorgestellt werden.
Themen definieren und nachforschen
Die Probleme und Missstände werden identifiziert, es werden Nachforschungen angestellt und gemeinsam Analysen sowie realistische Lösungsstrategien erarbeitet.
Aktionen und Problemlösungen
Aktionen werden strategisch geplant und durchgeführt. Zur Umsetzung werden Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit einbezogen und gegebenenfalls bestehende Widerstände demokratisch bearbeitet.
Auswertung/Aufbau von Organisationsstrukturen
Der Prozess wird reflektiert, es wird entschieden, ob, woran und wie weitergearbeitet wird, die Arbeit wird weitergeführt.
Was hat Community Organizing mit politischer Bildung zu tun?
Community Organizing kann als Form politischer Bildung betrachtet werden. Denn der Prozess aktiviert Bürgerinnen und Bürger, sich für ihre eigenen Belange einzusetzen. Es geht nicht darum, "Betroffene" zu beschützen oder für sie zu sprechen. Sie sollen sich selbst kümmern und werden dabei begleitet. Die Teilnehmenden lernen umfassend durch die eigene Praxis, wie politische Entscheidungsprozesse ablaufen und welche unterschiedlichen Formen von Macht und Interessen es gibt. Sie sind mehr als Zuschauer oder Wählerinnen. Sie richten ihre Anliegen direkt an die Verantwortlichen und im Idealfall kommt es zu Gesprächen und Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Dabei werden verschiedene Standpunkte zum Thema ausgetauscht und gemeinsame Lösungen angestrebt. Vertreterinnen vieler gesellschaftlicher Gruppierungen kommen zu Wort, unabhängig von ihrer Nationalität und Wahlberechtigung. Wie wird die Arbeit finanziert?
Ein wichtiger Aspekt des Community Organizing ist die finanzielle Unabhängigkeit von staatlichen Mitteln. Bewusst wird bei vielen CO-Prozessen einer US-amerikanischen Tradition folgend auf Beantragung öffentlicher Fördergelder verzichtet. So sollen die Prozesse frei von politischen Interessen oder Zielen spezieller Förderprogramme ganz unabhängig über ihre politischen Themen und Arbeitsweisen entscheiden können. Geld ist nötig, um etwa Treffen, Fortbildungen und Reisen zu finanzieren und um ggf. hauptamtliche Organizer zu entlohnen sowie für tägliche Büroarbeit und Materialien. Spenden von Unternehmen und Privatpersonen, Mitgliedsbeiträge der teilnehmenden Personen und Organisationen und Mittel von Stiftungen bilden den typischen Finanzmix von Community Organizing. Eigenbeiträge von Mitgliedern erhöhen ein Zugehörigkeitsgefühl, finanzielle Unabhängigkeit fördert das Selbstbewusstsein der Organisation. Bei großen, breit angelegten Bürgerplattformen wie in Berlin oder aktuell seit 2015 in Köln sind Gespräche mit Vertretern der Wirtschaft und von Stiftungen essenzieller Bestandteil der ersten Vorbereitungen. Wer sind die Haupt-Akteure in Deutschland?
In Deutschland sind im Wesentlichen zwei Organisationen mit Community Organizing befasst: Forum Community Organizing – FOCO e.V. Eine Gruppe um Marion Mohrlok, Rainer und Michaela Neubauer und Walter Schönfelder aus Freiburg, die sich theoretisch und praktisch mit Community Organizing in den USA befasst hatten, gründete den Verein FOCO e.V. Sein Ziel ist, Prinzipien und Methoden des Community Organizing in Deutschland zu verwurzeln und weiter zu entwickeln. Der Verein unterstützt und begleitet Menschen und Organisationen, die Bürgerorganisationen aufbauen und Methoden und Strategien aus dem Community Organizing erlernen und umsetzen wollen. FOCO ist ein Forum und Netzwerk für gegenseitigen Austausch, sowie Ausbildung, Training und Begleitung/Beratung von Interessierten und von Projekten. Der Verein hat einen offenen Ansatz und würdigt verschiedene Ansätze des Community Organizings. Es unterstützt die Übernahme von Methoden in bestehende Projekte von Gemeinwesenarbeit. Weitere Informationen: Externer Link: www.fo-co.info Das Deutsche Institut für Community Organizing – DICO Leo Penta aus den USA baute zunächst einzelne Community Organizing Projekte in Berlin und Hamburg auf und gründete dann das Deutsche Institut für Community Organizing. Das Institut versteht sich als Kompetenzzentrum für Bürgerplattformen in Deutschland und als Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Penta prägte den deutschen Begriff "Bürgerplattform" als Übersetzung für Community Organizing. Zentral für diese Bürgerplattformen ist, dass sie auf einer breiten Basis und der Teilnahme vieler gesellschaftlichen Gruppen gründet. Das DICO unterstützt den Aufbau und die Begleitung von Bürgerplattformen u.a. durch die Ausbildung und das Mentoring hauptamtlicher Organizer vor Ort, Trainings und Seminare für Schlüsselpersonen, den Erfahrungsaustausch der Ehrenamtlichen untereinander und mit den internationalen Partnerorganisationen und bei der Geldakquise. Weitere Informationen: Externer Link: http://www.dico-berlin.org
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Externer Link: http://www.fo-co.info/organizing/was-ist-community-organizing.html
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-04T00:00:00 | 2016-08-31T00:00:00 | 2022-02-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/foerderung/akquisos/233314/5-fragen-zum-community-organizing/ | Community Organizing ist eine Methode zum Aufbau von Bürgerorganisationen, etwa in benachteiligten Stadtteilen. Bürger/-innen werden zusammengebracht und unterstützt, für ihre eigenen Interessen einzutreten. | [
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"Partizipation"
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Internationale Organisationen | 24 x Deutschland | bpb.de | Neben der Europäischen Union (EU) ist die Bundesrepublik Mitglied in einer Vielzahl von internationalen Organisationen. Die bekanntesten und wichtigsten außerhalb der EU sind die Vereinten Nationen (United Nations Organization, UNO) und der Nordatlantikpakt (North Atlantic Treaty Organization, NATO).
In die NATO ist die Bundesrepublik bereits 1955 nach Ratifizierung des Deutschlandvertrages aufgenommen worden. Diese Mitgliedschaft war Teil der Strategie des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, die Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft zu integrieren. Das Verteidigungsbündnis wurde zu Beginn des Kalten Krieges gebildet. Es sollte sich einer Bedrohung durch die Staaten im sowjetischen Einflussbereich entgegenstellen. Damals war die Mitgliedschaft auch in der westdeutschen Gesellschaft nicht unumstritten, da sie mit einer Wiederbewaffnung der Bundesrepublik einherging. Nach Ende des Kalten Krieges hat sich die Ausrichtung des Militärbündnisses gewandelt. Es versteht sich zunehmend als Interessenvereinigung zur Minderung von Konfliktrisiken und betont seine nicht-militärischen Koordinierungsfunktionen sowie friedenserhaltenden Maßnahmen. Seit der Wiedervereinigung und einer intensiven innenpolitischen Diskussion sind nach Abstimmungen des Deutschen Bundestages auch Bundeswehreinheiten an NATO-Einsätzen beteiligt.
Die größte internationale Organisation sind die Vereinten Nationen, der 1973 BRD und DDR beitraten. Die UNO ist keine Handelsorganisation oder ein Militärbündnis. Sie ist 1945 gegründet worden, um den Weltfrieden und die Einhaltung des Völkerrechts zu fördern. Die große Mehrheit der Staaten der Welt ist Mitglied in der UNO. Die Entscheidungen der Generalversammlung haben oft weitreichende Folgen. Sie kann ihre Mitgliedsstaaten zur Teilnahme an friedenserhaltenden Maßnahmen aufrufen und diese in Krisengebieten koordinieren. Seit einigen Jahren bemüht sich die jeweilige Bundesregierung auch um einen ständigen Sitz für die Bundesrepublik im einflussreichsten Organ der UNO, dem Sicherheitsrat. Zurzeit sind die Vereinigten Staaten, die Russische Föderation, die Chinesische Volksrepublik, Frankreich und das Vereinigte Königreich ständige Mitglieder des Sicherheitsrates.
Die Sicherung von Frieden und Menschenrechten ist auch der Grund für die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und im Europarat. Beides sind Institutionen, die sich der Förderung der Menschenrechte und der Einhaltung demokratischer Prinzipien verschrieben haben. Delegationen der OSZE tragen dazu bei, freie Wahlen, die Freiheit der Medien und die Einhaltung der Menschenrechte in den Mitgliedsländern zu garantieren. Ihre Berichte und die Beratungen der OSZE erreichen eine große Öffentlichkeit und sind so ein viel beachtetes Druckmittel. Ein solches stellen auch die Entscheidungen internationaler Gerichtshöfe dar, denen sich die Bundesrepublik unterwirft.
Der Sicherung des Friedens dient im weiteren Sinne auch die internationale Polizeiorganisation Interpol (International Criminal Police Organization). Zu den Aufgaben von Interpol gehört die Koordinierung der Terrorismusbekämpfung und der internationalen Kriminalität.
Die Bundesrepublik ist auch Mitglied der G8, einer Gruppe von acht großen Industrienationen, die sich als Abstimmungsforum für die gemeinsamen Interessen versteht. Kritiker bemängeln, dass die G8 und die World Trade Organisation, in der die Bundesrepublik auch vertreten ist, nicht ausreichend auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer eingingen. Eben dieser wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern ist in der Bundesregierung mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ein ganzes Ressort gewidmet.
Viele der am höchsten entwickelten Länder der Erde sind in der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zusammengeschlossen, die sich der Förderung von Marktwirtschaft und Demokratie verpflichtet fühlt. Da deren Interessen oft sehr ähnlich sind, haben sie sich in der OECD zusammengeschlossen, um gemeinsam den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-22T00:00:00 | 2011-11-12T00:00:00 | 2021-11-22T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/politisches-system/24-deutschland/40496/internationale-organisationen/ | Die Sicherung des Friedens ist treibende Kraft internationaler Politik. Aber auch als Exportnation und Rohstoff-Importeur ist Deutschland auf gute Beziehungen zu anderen Ländern der Erde angewiesen. | [
"EU",
"Nato",
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"Vereinte Nationen",
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"G20",
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"Global Governance"
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Militärausgaben: Der Westen spart, die Welt rüstet auf | Hintergrund aktuell | bpb.de | Insgesamt gingen im Jahr 2013 die Militärausgaben weltweit leicht zurück (minus 1,9 Prozent seit 2012). Das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) führt das in seinem am Montag (14. April) Externer Link: vorgestellten Bericht vor allem auf geringere Ausgaben der westlichen Länder zurück, allen voran der USA, deren geringere Ausgaben (minus 7,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) u.a. mit den Truppenabzügen aus dem Irak und Afghanistan zusammenhängen.
In vielen vor allem west- und mitteleuropäischen Ländern lässt zudem die Sparpolitik seit der Finanzkrise die Verteidigungsetats schrumpfen (gesamt Europa minus 0,7 Prozent) beispielsweise in Spanien (minus 13 Prozent). Allerdings sind die Militärausgaben in Osteuropa überdurchschnittlich gestiegen (plus 5,3 Prozent), so zum Beispiel in der Ukraine und in Weißrussland (plus 16 bzw. 15 Prozent). Auch Deutschland hat entgegen dem Trend mehr ausgegeben als noch 2012 (plus 2 Prozent).
Die höchsten Militärausgaben weltweit
Lässt man die USA außer Acht, sind die weltweiten Militärausgaben 2013 sogar leicht gestiegen (plus 1,8 Prozent). Die USA sind noch immer das Land mit den höchsten Ausgaben (640 Milliarden US-Dollar), gefolgt von China (188 Milliarden, Schätzung), Russland (87,8 Milliarden, Schätzung) und Saudi-Arabien (67 Milliarden). Deutschland steht hinter Frankreich und dem Vereinigten Königreich an siebter Stelle (48,8 Milliarden).
Misst man den Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegen die USA (3,8 Prozent), China (2,0 Prozent, Schätzung) und Russland (4,1 Prozent, Schätzung) deutlich hinter Oman (11,3 Prozent) und Saudi-Arabien (9,3 Prozent) zurück. Weltweit liegt der Anteil der Militärausgaben am BIP durchschnittlich bei 2,4 Prozent, in Deutschland bei 1,4 Prozent.
Welche Daten erhebt SIPRI und wie?
Die Grundlage des Berichtes bildet die Externer Link: SIPRI Military Expenditure Database. Die Datenbank stützt sich auf offen zugängliche Daten. Bei Staaten, die keine Informationen über ihre Militärausgaben veröffentlichen oder zur Verfügung stellen, schätzt SIPRI die Zahlen auf der Grundlage von anderen öffentlich zugänglichen Quellen wie internationalen Organisationen oder Medienberichten.
Zu den Militärausgaben eines Landes zählt SIPRI: die Personalausgaben für Soldaten und zivile Mitarbeiter, die Anschaffungs- und Betriebskosten für Waffen, Gerät und Liegenschaften, die Kosten für militärische Operationen und Einsätze sowie die Ausgaben für militärisch Forschung und Entwicklungshilfe.
Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI forscht seit 1966 zu internationalen Konflikten, Rüstung, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Es wurde durch einen Beschluss des schwedischen Parlaments ins Leben gerufen. Das Institut wird hauptsächlich vom schwedischen Staat finanziert, versteht sich aber als unabhängig.
Afrika und der Mittlere Osten rüsten auf
In Schwellen- und Entwicklungsländern steigen die Militärausgaben ungebrochen – 2013 besonders stark in Afrika (plus 8,3 Prozent). Den größten Anstieg verzeichnete Ghana (plus 129 Prozent) vor Angola (plus 36 Prozent), den höchsten Militäretat hatte Algerien (10,4 Milliarden US-Dollar). Im Mittleren Osten (plus 4 Prozent) stiegen die Militärausgaben vor allem in Saudi-Arabien (plus 14 Prozent), Bahrain (plus 26 Prozent) und Irak (plus 27 Prozent). Wie für Russland und China gibt es auch für viele Länder des Mittleren Ostens keine offiziellen Zahlen zu Militärausgaben, z. B. für Iran, Katar, Syrien und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Besonderes Augenmerk legt der SIPRI-Bericht auf Länder, die ihre Militärausgaben zwischen 2004 und 2013 mehr als verdoppelt haben, darunter Russland (plus 108 Prozent), China (plus 170 Prozent), Saudi-Arabien (plus 118 Prozent), Aserbaidschan (plus 493 Prozent) und Afghanistan (plus 557 Prozent). SIPRI führt die starke Aufrüstung dieser Länder auf sehr unterschiedliche Gründe wie starkes Wirtschaftswachstum, hohe Öl- oder Gaserlöse aber auch auf die Verwicklung in bewaffnete Konflikte oder, wie im Falle Bahrains, auf Bemühungen zur Stabilisierung staatlicher Regime z.B. während des "Arabischen Frühlings" zurück.
Wer kauft und verkauft die meisten Waffen?
Im März hatte SIPRI bereits einen Externer Link: Bericht zum internationalen Waffenhandel vorgelegt. Demnach sind Indien, China und Pakistan die weltweit größten Importeure schwerer Rüstungsgüter (Schiffe, U-Boote, Flugzeuge, Panzer, Raketensysteme). Europäische Waffenimporte sind dagegen im Beobachtungszeitraum (2009 bis 2013) um 25 Prozent gesunken.
Weltgrößte Exporteure sind noch immer die USA (29 Prozent am gesamten Handelsvolumen), Russland (27 Prozent), Deutschland (7 Prozent), China (6 Prozent) und Frankreich (5 Prozent). Sie sind damit für 74 Prozent des weltweiten Handelsvolumens verantwortlich. Insgesamt wuchs der Umfang des weltweiten Waffenhandels zwischen den Untersuchungszeiträumen 2004 bis 2008 und 2009 bis 2013 um 14 Prozent. Unter anderem stiegen die Importe in den arabischen Golfstaaten stark an (plus 23 Prozent) – vor allem aus den USA.
Waffenexporte aus Deutschland
Die Umsätze deutscher Waffenhersteller sind in den vergangenen vier Jahren um 24 Prozent eingebrochen, vor allem weil europäische und NATO-Länder ihre Verteidigungsetats verringert haben. Neue Märkte für ihre Produkte suchen deutsche (und europäische) Waffenhersteller vermehrt in Afrika und im Mittleren Osten. Geplante und erfolgte Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien, Angola und Katar standen jedoch in der öffentlichen Kritik. Die Ausfuhr von Waffen an Länder in Krisenregionen oder bewaffneten Konflikten ist nach den Externer Link: deutschen Rüstungsexportrichtlinien untersagt.
Status des UN-Vertrags zur Eindämmung des Waffenhandels
Im April 2013 hatte die UN-Vollversammlung einen Externer Link: Vertrag zur Regulierung des internationalen Waffenhandels verabschiedet, das erste globale Waffenhandelsabkommen überhaupt. Der Vertrag verpflichtet die Teilnehmer u.a. dazu, zu prüfen, ob mit von ihnen exportierten Waffen schwere Menschrechtsverletzungen begangen werden. Bis heute wurde der Vertrag von 118 Staaten unterzeichnet, aber erst von 31 ratifiziert, darunter seit 2. April auch Deutschland. In Kraft kann das Abkommen erst treten, wenn es mindestens 50 Vertragsstaaten ratifiziert haben.
Mehr zum Thema
Interner Link: Marc von Boemcken, Jan Grebe: Schaffen Waffen Frieden und Stabilität? Interner Link: Mathias John: Rüstungstransfers - Globaler Handel mit Tod und Gewalt Interner Link: Hintergrund aktuell (18.03.2013): China fünftgrößter Rüstungsexporteur
Die Grundlage des Berichtes bildet die Externer Link: SIPRI Military Expenditure Database. Die Datenbank stützt sich auf offen zugängliche Daten. Bei Staaten, die keine Informationen über ihre Militärausgaben veröffentlichen oder zur Verfügung stellen, schätzt SIPRI die Zahlen auf der Grundlage von anderen öffentlich zugänglichen Quellen wie internationalen Organisationen oder Medienberichten.
Zu den Militärausgaben eines Landes zählt SIPRI: die Personalausgaben für Soldaten und zivile Mitarbeiter, die Anschaffungs- und Betriebskosten für Waffen, Gerät und Liegenschaften, die Kosten für militärische Operationen und Einsätze sowie die Ausgaben für militärisch Forschung und Entwicklungshilfe.
Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI forscht seit 1966 zu internationalen Konflikten, Rüstung, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Es wurde durch einen Beschluss des schwedischen Parlaments ins Leben gerufen. Das Institut wird hauptsächlich vom schwedischen Staat finanziert, versteht sich aber als unabhängig.
Im April 2013 hatte die UN-Vollversammlung einen Externer Link: Vertrag zur Regulierung des internationalen Waffenhandels verabschiedet, das erste globale Waffenhandelsabkommen überhaupt. Der Vertrag verpflichtet die Teilnehmer u.a. dazu, zu prüfen, ob mit von ihnen exportierten Waffen schwere Menschrechtsverletzungen begangen werden. Bis heute wurde der Vertrag von 118 Staaten unterzeichnet, aber erst von 31 ratifiziert, darunter seit 2. April auch Deutschland. In Kraft kann das Abkommen erst treten, wenn es mindestens 50 Vertragsstaaten ratifiziert haben.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-04-20T00:00:00 | 2014-04-11T00:00:00 | 2022-04-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/182645/militaerausgaben-der-westen-spart-die-welt-ruestet-auf/ | 1.747 Milliarden US-Dollar haben Staaten weltweit im Jahr 2013 für militärische Zwecke ausgegeben. Das schätzt das schwedische Rüstungsforschungsinstitut SIPRI. Während die Militärausgaben vieler westlicher Länder sinken, wachsen sie im Rest der Welt | [
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Zuschauerforschung | Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West | bpb.de |
Fragebogen (© Anneke Schram/Fotolia)
Methoden der Zuschauerforschung
Von allen Medien beschäftigt sich das Fernsehen am intensivsten mit seinen Zuschauern. Bei keinem der anderen Medien werden die Zuschauer so ausgiebig erforscht. Wie viele Zuschauer welche Sendung jeden Tag gesehen haben, erfahren die Fernsehsender täglich. Wie und in welcher Weise das Fernsehen genutzt wird, lassen die Landesmedienanstalten, die Sendeunternehmen und zahlreiche andere Institutionen immer wieder untersuchen.
Quantitative und qualitative Zuschauerforschung
Unterschieden wird deshalb zwischen der quantitativen und der qualitativen Zuschauerforschung. Bei der quantitativen Forschung werden die Ergebnisse der Forschung in eine messbare Form gebracht; hier spielen statistische Verfahren eine zentrale Rolle, um das Zuschauerverhalten größerer Zuschauergruppen zu erfassen. Dabei wird eine notwendige Reduktion des oft komplexen und mehrdimensionalen Zuschauerverhaltens auf wenige Daten in Kauf genommen. Die qualitative Forschung ist stärker daran interessiert, die Komplexität der Mediennutzung zu untersuchen, beschäftigt sich deshalb eher mit kleineren Zuschauergruppen oder gar Einzelfällen und verzichtet deshalb weitgehend darauf, ihre Ergebnisse in Zahlen zu dokumentieren. Beiden Richtungen der Zuschauerforschung, die in vielfachen Kombinationen auftreten, geht es darum, soviel wie möglich über den Zuschauer, das unbekannte Wesen, und seine Formen des Zuschauens zu erfahren, um danach Sendungen und Programm planen zu können.
Die Anfänge der quantitativen Zuschauerforschung in Westdeutschland
Zu Beginn des Fernsehens in den 1950er Jahren erhoben in der Bundesrepublik die Landesrundfunkanstalten (insbesondere der NWDR, der SDR und der BR) Daten zur Fernsehrezeption per Telefon und durch andere Umfrageformen. Ab 1956 wurden dann bundesweit Daten erhoben, ab 1963 wurden diese für ARD und ZDF durch die Meinungsforschungsinstitute Infratam und Infratest kontinuierlich ermittelt. Qualitative Angaben kamen von Infratest und quantitative Daten von Infratam. Die quantitative Erfassung bediente sich eines frühen Messapparates (Tammeter), der in der Art eines Fahrtenschreibers festhielt, welche Sender eingeschaltet wurden. Von 1975 bis 1985 wurden die Daten mit einer verbesserten Methode von der "Arbeitsgemeinschaft teleskopie" erhoben. Methoden und Technik der Datenerfassung und -auswertung wurden seither ständig weiterentwickelt .
Zuschauerforschung in der DDR
Auch in der DDR wurde erforscht, wie das Fernsehen bei den Bürgern aufgenommen wurde. Ab 1964 gab es im Deutschen Fernsehfunk eine "Abteilung Zuschauerforschung". Deren Vorläufer war das Referat "Fernsehstuben" (1955/56) und die "Abteilung Wirkungsforschung" (1957–1959). Wöchentlich wurden Zuschauerbefragungen durchgeführt. Ausgewertet wurden auch die Zuschauerpost, Meinungen auf sogenannten Fernsehforen (öffentlichen und halböffentlichen Veranstaltungen mit ausgewählten Zuschauern) und auch Fernsehkritiken.
Die Ergebnisse der Zuschauerforschung wurden im Staatlichen Komitee für Fernsehen beraten. Von 1965 bis 1990 führte das DDR-Fernsehen auch eine Sehbeteiligungsdatei, die nur für den internen Gebrauch gedacht war. Nutzungsdaten und Zahlen der Sehbeteiligung wurden nicht veröffentlicht, sondern blieben geheim. Die Sehbeteiligung wurde nach einem Zufallsverfahren in 600 Haushalten ermittelt, die Adressen der Haushalte wurden jede Woche von der Post neu geliefert. Nebenberufliche Befrager hielten den Kontakt, die Befragung fand auf freiwilliger Basis statt, Anonymität wurde zugesichert. Die so erstellten Wochenberichte erhielten nur die Leitungsgremien des DDR-Fernsehens. Viele Fernsehmitarbeiter kannten diese Zahlen nicht. Auch in der DDR wurde die Zuschauerforschung weiterentwickelt. Ihre Daten wurden politisch ausgewertet und nicht veröffentlicht .
Die gegenwärtige Zuschauerforschung durch die GfK
Seit 1985 werden in der Bundesrepublik die Einschaltquoten von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), einem Marktforschungsunternehmen, erhoben. Die GfK wird im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) tätig, in der sich die öffentlich-rechtlichen und die privaten Sender zusammengeschlossen haben. Um zu erheben, wer, wann und mit wem wie viel und was im deutschen Fernsehen sieht, wurde das GfK/AGF-Fernsehpanel gebildet. Das ist eine Auswahl von Zuschauern, die stellvertretend für die gesamte bundesdeutsche Bevölkerung steht.
Intensive Erfassung des Publikums – mit Lücken
Nach dem Mauerfall wurden auch ostdeutsche Zuschauer in das Panel integriert. Von 1991 bis 2001 bestand das Panel aus 2.860 Haushalten in der alten Bundesrepublik und 1.100 Haushalten in der ehemaligen DDR. Im Jahr 2001 wurde dann ein erstes gesamtdeutsches Panel mit 5.640 Haushalten und ca. 13.000 Personen gebildet.
Am 1. Juli 2009 wurde das GFK-System umgestellt. Nun wird auch die Zahl der Zuschauer gemessen, die sich Sendungen auf einem DVD-Player bzw. einer Festplatte aufnehmen und zeitversetzt sehen; auch werden Gäste erfasst, die in den Panel-Haushalten das Fernsehprogramm mitsehen. Damit wurden die Daten noch genauer als bisher. Dafür wurden alle Messgeräte der Testfamilien für 20 Mio. Euro ausgetauscht.
Aktuell besteht das AGF-Fernsehpanel aus 5.400 täglich berichtenden Haushalten, in denen rund 11.000 Personen leben. Damit wird die Fernsehnutzung von 75,498 Mio. Personen ab 3 Jahre bzw. 38,584 Mio. Fernsehhaushalten abgebildet (Stand: 01.01.2020 . Seit 2016 werden alle Haushalte erfasst, in denen der Haupteinkommensbezieher deutsch spricht. Türkische Haushalte in Deutschland können nun auch einbezogen werden. Zuvor waren nur EU-Ausländer, die in Deutschland lebten, erfasst worden. Allerdings bleiben Fernseher in Hotels, Büros, Kneipen oder Altenheimen weiterhin außen vor, ebenso wie das Public Viewing bei Sportgroßveranstaltungen.
Die Haushalte im Panel verteilen sich entsprechend der Einwohnerzahlen auf die einzelnen Bundesländer. So ist das bevölkerungsreichste Bundesland, Nordrhein-Westfalen, mit den meisten Haushalten vertreten und Bremen mit den wenigsten. Eine Person des Panels steht für ca. 7.100 Fernsehhaushalte in der Bundesrepublik. Damit sind die deutschen Fernsehzuschauer das quantitativ am intensivsten erforschte Publikum.
Fragebogen (© Anneke Schram/Fotolia)
Messverfahren und Bearbeitung der Daten
Die Teilnehmer am GfK/AGF-Fernsehpanel werden nach verschiedenen soziodemographischen Merkmalen ausgesucht. Das sind neben dem Bundesland die Gemeindegröße, der Regierungsbezirk, die Haushaltsgröße, das Alter des sogenannten Haupteinkommensbeziehers, dessen Schulbildung, die Zahl der Kinder unter 14 Jahren, die Staatsangehörigkeit des Haupteinkommensbeziehers sowie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Empfangsart des Fernsehens (über Kabel, Satellit oder Antenne).
Die Messung der Fernsehnutzung steht heute vor der Herausforderung, dass sowohl lineare als auch zeitversetzte Nutzung zu messen ist (Nutzung von Mediatheken), ebenso eine verstärkte Außerhausnutzung durch mobile Geräte. Die Nutzungsdaten der Panel-Teilnehmer werden i. d. R. mit dem sog. GfK-Meter gemessen (siehe Externer Link: https://fefo.gfk.com/messgeraet). Das ist ein technischer Apparat (GFK-Quotenbox), der an die Empfangsgeräte im Haushalt angeschlossen ist, also an die Fernsehgeräte und ggf. an den Video- bzw. Festplattenrekorder oder den Satelliten-Receiver. Dieses Gerät zeichnet sekundengenau auf, wer wann wie lange ferngesehen hat. Die Mitglieder des Haushalts müssen sich dazu jedoch auf einer speziellen Taste an- bzw. abmelden. In der Nacht werden die Daten per Telefon- bzw. Datenleitung in das Rechenzentrum der GfK gesendet. Dort werden sie bis zum frühen Morgen für die Fernsehsender aufbereitet und noch vor 9.00 Uhr an deren Medienforschungsabteilungen geliefert. Diese können nun mit einer speziellen Software auch noch senderspezifisch ausgewertet werden. Die Einschaltquoten und Marktanteile werden hier für den Gebrauch durch Intendanten, Geschäftsführer, Fernseh- und Programmdirektoren und für die Redaktionen aufbereitet.
Reichweiten und Marktanteile
Die GfK stellt nur errechnete Werte und keine individuellen Messdaten zur Verfügung. Da das Panel nach einem repräsentativen statistischen Verfahren zusammengesetzt ist, können aus den ermittelten Daten die tatsächlichen Zuschauerzahlen mit einer hohen Genauigkeit errechnet werden. Dabei wird unterschieden zwischen der ermittelten Reichweite des Fernsehens (wie viele Haushalte haben in einer bestimmten Zeit – Tag, Woche, Monat, Jahr – den Fernsehapparat eingeschaltet?) und dem ermittelten Marktanteil (wie viele der Zuschauer, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ferngesehen haben, haben eine bestimmte Sendung gesehen – im Verglich mit den anderen Sendungen zu diesem Zeitpunkt?). Diese Marktanteile können nun auch für bestimmte Teilgruppen errechnet werden (wie z. B. für bestimmte Altersgruppen), so dass die privaten Sender genau den Marktanteil ermitteln können, den sie z. B. in der angestrebten Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen haben. Das kann z. B. dazu führen, dass eine Sendung zwar einen hohen Marktanteil (z. B. 40 %) bei den 14- bis 29-Jährigen hat, insgesamt aber einen deutlich geringeren Marktanteil aufweist, da beispielsweise die reale Zahl der über 29-jährigen Zuschauer deutlich höher liegt als die der 14- bis 29-Jährigen, weil diese am Fernsehpublikum insgesamt zu dieser Zeit nur einen kleinen Anteil ausmachen. Mit den "Einschaltquoten" kann ein Sender in der Öffentlichkeit also ganz in seinem Interesse umgehen.
Kritik an der quantitativen Messung
Die quantitative Methode der Messung von Fernsehnutzungsdaten durch die GfK ist von allen Fernsehsendern als einheitliche "Währung" akzeptiert. Allerdings gibt es auch Kritik an dem Verfahren. So wird die Messgenauigkeit in Frage gestellt, weil man sich nicht sicher sein kann, ob sich alle Haushaltsmitglieder auch auf dem GfK-Meter angemeldet haben, wenn sie fernsehen. Auf die Kritik, dass bestimmte Nutzungsformen wie z. B. das Streaming von Fernsehsendungen am PC und Aufrufe in Mediatheken nicht erfasst würden, hat die GfK inzwischen reagiert. Seit 2016 wird auch die Nutzung von Fernsehen über das Internet gemessen, da dieses gerade bei der jüngeren Zielgruppe beliebt ist. Schwer wiegender ist dagegen die inhaltliche Kritik: Sie besagt, dass mit der Methode lediglich die reine Häufigkeit der Fernsehnutzung erhoben wird, nicht aber die Qualität der einzelnen Sendungen bzw. deren Rezeption und Verarbeitung. Das ist zutreffend und wird sich mit dieser Art der Messung der Fernsehnutzung auch nicht ändern. Dazu müsste ein Verfahren zur Bewertung von Sendungen und deren Rezeption entwickelt werden. Wenn denn die von der GfK erhobenen Einschaltquoten und Marktanteile die "Währung" für die Sender sind, so handelt es sich um eine quantitative, ökonomisch verwertbare "Währung". Die Qualität der Nutzung von Sendungen bleibt dabei unberücksichtigt. Die Daten der GfK liefern jedoch weitgehend zuverlässige Informationen über das allgemeine Nutzungsverhalten der Zuschauer.
Weitere Formen der Zuschauerforschung
Neben den kommerziellen Marktforschungsinstituten betreiben die meisten Fernsehsender eigene Forschungsabteilungen. In denen werden die Einschaltquoten noch einmal senderspezifisch ausgewertet. Daneben geben sie Programm- und Marktforschungen in Auftrag an externe Auftragnehmer. Neue Sendungen werden oft an einem ausgewählten Publikum getestet. Damit sollen Möglichkeiten zur Optimierung der Sendungen und der Ansprache des Publikums gefunden werden. In diesen sogenannten Pilottests wird u. a. erforscht, ob einzelne Moderatorinnen und Moderatoren oder Witz, Komik und Humor einer Comedyserie tatsächlich bei den Zuschauern ankommen.
An qualitativen Untersuchungen sind u. a. die Landesmedienanstalten interessiert, die dazu vor allem universitäre Einrichtungen bzw. öffentliche Forschungsinstitute, wie z. B. das Hans-Bredow-Institut, beauftragen. Die Ergebnisse werden in der Regel in den Schriftenreihen der Landesmedienanstalten veröffentlicht.
Quellen / Literatur
Interner Link: Tammeter - Die Anfänge der Quotenmessung Interner Link: Zuschauerforschung in der DDR Interner Link: Der Suppen-Spot im "Exorzist" - Der Umgang mit GfK-Daten Interner Link: TC Score - Das neue GfK-System zur Quotenmessung Externer Link: https://youtu.be/QILiBp19Yps
Interner Link: Tammeter - Die Anfänge der Quotenmessung Interner Link: Zuschauerforschung in der DDR Interner Link: Der Suppen-Spot im "Exorzist" - Der Umgang mit GfK-Daten Interner Link: TC Score - Das neue GfK-System zur Quotenmessung Externer Link: https://youtu.be/QILiBp19Yps
Siegert 1993.
Vgl. Deutsches Rundfunkarchiv.
Vgl AGF Videoforschung).
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-04T00:00:00 | 2017-04-03T00:00:00 | 2022-07-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/245873/zuschauerforschung/ | Von allen Medien beschäftigt sich das Fernsehen am intensivsten mit seinen Zuschauern. Die Einschaltquoten werden von der Gesellschaft für Konsumforschung erhoben. Diese ist im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung tätig. | [
"Tele-Visionen",
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"Quotenmessung"
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Bundesverfassungsgericht verhandelt Wahlrecht | Hintergrund aktuell | bpb.de | Am 3. Dezember 2011 ist eine Änderung des Bundeswahlgesetzes in Kraft getreten, welche die Verteilung von Sitzen nach Bundestagswahlen neu regelt. Die entsprechende Gesetzesänderung war im September 2011 im Bundestag mit den Stimmen der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD, Grünen und Linken beschlossen worden.
Überhangmandate und "negatives Stimmgewicht"
Bei der Änderung im Wahlrecht ging es auch um die Überhangmandate. Unter Interner Link: Überhangmandaten versteht man zusätzliche Sitze im Bundestag, die vergeben werden, wenn eine Partei in einem Bundesland über die abgegebenen Erststimmen mehr Interner Link: Direktmandate bekommt, als ihr dort nach Interner Link: Zweitstimmen Sitze zustünden. Diese Mandate vergrößern die Anzahl der Sitze im Bundestag und können auch zu einer Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament führen.
Stein des Anstoßes für die Wahlrechtsreform war aber im Wesentlichen das "negative Stimmgewicht": Nach dem alten Wahlrecht wurden die nach Verhältniswahl über die Zweitstimme gewonnenen Mandate einer Partei zwischen ihren Landeslisten verrechnet. Wenn die Landesliste A einer Partei dann auf Kosten einer anderen Landesliste B dieser Partei ein Listenmandat hinzugewann, das im Land A aber ohnehin schon durch ein Interner Link: Überhangmandat vorhanden war, ging dieses Mandat für die Partei verloren. Es wurde im Land B abgezogen, ohne im Land A tatsächlich zu entstehen. So war es möglich, dass eine Zweitstimme für eine Partei ein "negatives Stimmgewicht" entfaltete und diese Partei ein Mandat kostete.
Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008
Am 3. Juli 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht daher die Regelungen des Bundeswahlgesetzes, die zu einem "negativen Stimmgewicht" führen können, für verfassungswidrig.
Das Phänomen des negativen Stimmgewichts verstoße gegen die Grundsätze der gleichen und unmittelbaren Wahl, so die Richter. Die Gleichheit der Wahl werde dadurch beschädigt, dass durch das "negative Stimmgewicht" nicht jede Stimme den gleichen Erfolgswert habe. Es bestehe sogar die Möglichkeit, durch die Abgabe einer Stimme den erwünschten Wahlausgang negativ zu beeinflussen.
Das Urteil verpflichtete den Gesetzgeber zu einer Neuregelung der Verteilung der Überhangmandate innerhalb von drei Jahren. So konnte die Bundestagswahl 2009 noch gemäß dem alten Wahlrecht durchgeführt werden. Die Frist zur Änderung des Gesetzes war am 30. Juni 2011 ausgelaufen, ohne dass eine Gesetzesänderung verabschiedet worden war.
Mögliche Alternativen für Änderungen des Wahlrechts könnten beim Entstehen der Überhangmandate, bei der Verrechnung der Direktmandate oder aber bei den Verbindungen der Landeslisten ansetzen, schlug das Urteil von 2008 vor.
Das neue Wahlrecht
Durch die Wahlrechtsreform von 2011 wurde die Verbundenheit der Landeslisten aufgelöst: Die Verrechnung der Mandate zwischen den verschiedenen Landeslisten einer Partei ist nun nicht mehr möglich. Die Anzahl der Bundestagsabgeordneten aus einem Land ergibt sich damit alleine aus den Wählerstimmen in diesem Land.
Durch die Änderung habe man die Grundstruktur des bestehenden Wahlrechts nicht angetastet, so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, Günter Krings. Im Zuge der neuen Regelung würden die Überhangmandate "tendenziell reduziert".
Klagen gegen das neue Gesetz
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten die Neuregelung für unvereinbar mit den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit, der Chancengleichheit der Parteien und der Unmittelbarkeit der Wahl, und haben deswegen im Rahmen eines Organstreitverfahrens und eines Normenkontrollantrags das Verfassungsgericht angerufen. Es stelle die Demokratie auf den Kopf, so der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, dass durch Überhangmandate eine Partei durch mehr Stimmen nicht zwingend eine Mehrheit an Sitzen erhalte. Bemängelt wird auch, dass die Änderung das Auftreten eines negativen Stimmgewichts nicht ganz ausschließt. Auch die Verfassungsbeschwerde von 3.063 Bürgern in der Sache wird am Dienstag verhandelt.
Die Wahlrechtsreform wird nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch unter Juristen kontrovers diskutiert. In einer Expertenanhörung vor dem Innenausschuss des Bundestags hielten manche der geladenen Experten die Änderungen der Koalition für angemessen. Andere waren der Auffassung, dass der Entwurf dem BVerfG-Urteil nicht gerecht wird.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird erst in einigen Monaten erwartet. Mehr zum Thema
Interner Link: Joachim Behnke: Grundsätzliches zur Wahlreformdebatte Interner Link: Überhangmandate: Nach Bundesländern, Bundestagswahlen 1949 bis 2009
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-26T00:00:00 | 2012-05-31T00:00:00 | 2022-01-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/137463/bundesverfassungsgericht-verhandelt-wahlrecht/ | Am Dienstag (5. Juni) verhandelt das Bundesverfassungsgericht mündlich über die im Dezember 2011 in Kraft getretene Wahlrechtsreform. Unter anderem die SPD und die Grünen hatten Klage eingereicht gegen das neue Wahlrecht. | [
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Personal im öffentlichen Dienst | Datenreport 2021 | bpb.de | Die öffentlichen Arbeitgeber (öffentlicher Dienst und Einrichtungen in privater Rechtsform mit überwiegend öffentlicher Beteiligung) beschäftigten Mitte 2019 in Deutschland insgesamt rund 6,2 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (einschließlich Berufs- und Zeitsoldatinnen und -soldaten). Davon übten 4,2 Millionen eine Vollzeit- und 2,0 Millionen eine Teilzeitbeschäftigung aus. Gegenüber dem Vorjahr wurden 62.600 mehr Vollzeitkräfte beschäftigt (+ 1,5 %). Die Zahl der Teilzeitkräfte hat sich um 58.000 Personen oder 3,0 % erhöht. Der Anteil der Frauen an den Vollzeitbeschäftigten betrug 42 %, bei den Teilzeitbeschäftigten waren es 84 %.
Die Bedeutung der öffentlichen Arbeitgeber für die Erwerbstätigkeit zeigt sich, wenn das durch die öffentliche Hand bezahlte Personal in Beziehung zur Gesamtzahl der abhängig Erwerbstätigen gesetzt wird. Gemessen an den 38,3 Millionen abhängig Erwerbstätigen ergibt sich für den Bereich der öffentlichen Arbeitgeber ein Anteil von rund 16 %.
Seit der deutschen Vereinigung ist die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, das heißt das Personal öffentlicher Arbeitgeber, das nicht bei privatrechtlichen Einrichtungen beschäftigt ist, deutlich gesunken: Zwischen 1991 und 2008 sank die Zahl der Beschäftigten von über 6,7 Millionen auf 4,5 Millionen. Der massive Personalabbau im öffentlichen Dienst in den 1990er-Jahren resultierte in erster Linie aus der Notwendigkeit, die Personalausstattung der neuen Länder und der dortigen Kommunen an die Verhältnisse des früheren Bundesgebiets anzupassen. Ungefähr die Hälfte des Personalabbaus im öffentlichen Dienst ist zudem auf die Privatisierung der Deutschen Bundesbahn und der Reichsbahn der ehemaligen DDR sowie der Deutschen Bundespost zurückzuführen. Umfangreiche Privatisierungen gab es darüber hinaus auch im kommunalen Bereich. Seit dem Jahr 2009 ist wieder ein nahezu kontinuierlicher Personalanstieg im öffentlichen Dienst zu verzeichnen. Der Personalanstieg resultiert im Wesentlichen aus dem Ausbau des Angebots an Kinderbetreuungsplätzen und aus Personalzuwächsen im Bildungsbereich. Mitte 2018 waren rund 233.200 Personen in kommunalen Kindertageseinrichtungen beschäftigt. Seit dem Jahr 2009 ist die Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich des öffentlichen Dienstes um 62 % gestiegen. Die Schwerpunkte des Personaleinsatzes im öffentlichen Dienst lagen 2019 bei den allgemeinbildenden und beruflichen Schulen (20 %), der sozialen Sicherung (17 %), der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einschließlich Rechtsschutz (14 %) und bei den Hochschulen (12 %). Die Gesamtzahl der Versorgungsempfängerinnen und -empfänger – also der pensionierten Beamtinnen und Beamten, Richterinnen und Richter sowie Berufssoldatinnen und -soldaten und ihrer Hinterbliebenen – ist seit der deutschen Vereinigung erheblich gestiegen. Im Zeitraum von 1992 bis 2019 ist dieser Personenkreis um rund 37 % gewachsen. Dies ist vor allem auf den Aufbau von Personal im Bildungsbereich in den 1960er- und 1970er-Jahren im früheren Bundesgebiet zurückzuführen, das nun seit einigen Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Insgesamt erhielten am 1. Januar 2019 rund 1,7 Millionen Personen Leistungen des öffentlich-rechtlichen Alterssicherungssystems.
Leistungen nach dem Beamten- und Soldatenversorgungsrecht erhielten Anfang 2019 beim Bund 185.500 ehemalige Bedienstete oder ihre Hinterbliebenen, bei den Ländern 931.400, im kommunalen Bereich 127.500 sowie bei der Sozialversicherung 24.200 Personen. Beim Bundeseisenbahnvermögen (ehemals Deutsche Bundesbahn) gab es im Januar 2019 rund 145.200 Versorgungsempfängerinnen und -empfänger sowie bei den Postnachfolgeunternehmen (ehemals Deutsche Bundespost) 268.600 Personen. Die Zahl ehemaliger, nach dem Krieg nicht übernommener Bediensteter des Deutschen Reichs und ihrer Hinterbliebenen betrug 2019 rund 4.100 Personen.
Für den Eintritt des aktiven Personals in den Ruhestand gibt es im Wesentlichen drei verschiedene Gründe: entweder das Erreichen einer gesetzlich festgelegten Altersgrenze, eine festgestellte Dienstunfähigkeit oder die Inanspruchnahme einer Vorruhestandsregelung. Insgesamt lag die Zahl der im Lauf des Jahres 2018 nach Beamten- und Soldatenversorgungsrecht in den Ruhestand versetzten Personen bei rund 62.700. Die Mehrheit der Neupensionierungen (79 %) erfolgte aufgrund des Erreichens einer gesetzlichen Altersgrenze. Der Anteil der Pensionierungen wegen Dienstunfähigkeit unter den Neupensionären betrug 16 %, weitere 5 % nahmen eine Vorruhestandsregelung in Anspruch oder wurden aus sonstigen Gründen pensioniert. | Article | Stefanie Picard | 2021-06-23T00:00:00 | 2021-03-26T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/wirtschaft-und-oeffentlicher-sektor/329755/personal-im-oeffentlichen-dienst/ | Seit der deutschen Vereinigung ist die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, das heißt das Personal öffentlicher Arbeitgeber, das nicht bei privatrechtlichen Einrichtungen beschäftigt ist, deutlich gesunken. | [
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Filmvermittlung auf DVD: Fragmente in Beziehung setzen | Audiovisuelle Filmvermittlung | bpb.de | Die echte Innovation der DVD im Filmunterricht jedoch liegt auf einer anderen Ebene: Dieses neue Trägermedium gestattet es, neue pädagogische Methoden zu finden und zu praktizieren, die bis jetzt wegen der Linearität der Videowiedergabe nicht praktikabel waren. Nicht jede technologische Neuerung eröffnet zwangsläufig auch neue pädagogische Horizonte, manche tragen schlicht zur allgemeinen Verbesserung der Bedingung pädagogischen Handelns bei, ohne die Pädagogik selbst zu verändern. Doch in der DVD liegen Möglichkeiten, die für die Filmvermittlung genutzt werden können. Dank ihr können neue pädagogische Methoden erarbeitet werden, die nicht mehr an die Grenzen der Videokassetten stoßen.
Das pädagogische Instrumentarium im Filmunterricht basierte lange auf dem in Frankreich vorherrschenden und sehr alten didaktischen Modell einer "wissenden" Stimme, die die Sequenzen und Einstellungen eines Films entziffert, analysiert und interpretiert. Wenn ein Filmlehrer im Unterricht eine derartige Kassette, eine so genannte Filmanalyse, vorführt, erteilt er einem anerkannten Spezialisten das Wort, der dieses spezielle Thema (den oder den Film, den oder den Autor) und alle Methoden der Filmanalyse beherrscht. Diese "wissende" Stimme liefert uns die Resultate einer Analyse, eines Denkens, dessen Voraussetzungen, Entstehung und Mechanismen wir nicht kennen. Meist stützt sich der Vortrag auf "Beweise" in Bild und Ton, d.h. auf Einstellungen, Filmstandbilder und sorgfältig zusammengestellte Filmausschnitte. Solchen Beweisen sollte man jedoch nie trauen, jedenfalls dann nicht, wenn jemand sie anführt, der sein Fach beherrscht und seine Zuhörer auch mit ganz falschen Aussagen gewinnen könnte. Es ließe sich etwa mit geschickt gewählten Einstellungen und manchen Anschlüssen in "Ausser Atem" leicht – und vollkommen wahrheitswidrig – beweisen und mit sichtbaren Beispielen belegen, dass dieser Film sich gewissenhaft an die klassischen Schnittregeln hält.
Diese Art von Didaktik (ein die Bilder überlagernder analysierender oder demonstrierender Vorgang) gehört zu einem Typus von Wissensvermittlung, dessen Effizienz und Verdienste unbestritten sind und auf den zu verzichten absurd und unnütz wäre. Um bestimmte Bedürfnisse im Bereich der Filmvermittlung zu befriedigen, bleiben noch genug schöne Analysefilme zu drehen. Wahrscheinlich brauchen wir diese vertikal (vom Wissenden zu den Lernenden) und linear verlaufende Didaktik (ein Vortrag, der abläuft wie eine Vorlesung oder eine Lektion) wie auf der Videokassette noch lange. Aber man kann sich heute schon andere ausdenken.
Die DVD ermöglicht eine weniger didaktische Herangehensweise, die primär darauf basiert, Beziehungen zwischen Filmen und Filmfragmenten herzustellen. Dabei ist nicht mehr ein Diskurs Träger des Wissens, sondern das Denken entwickelt sich allein aus der Beobachtung dieser vielfältigen Beziehungen und im praktischen Umgang mit der DVD.
Das Neue an der DVD im Vergleich zu früheren Filmvorführmedien ist ja, dass man unverzüglich – ohne nervtötendes und mehr oder weniger zufälliges Hin- und Herspulen – zu einem ganz bestimmten Ausschnitt gelangen und ihn ebenso unverzüglich zu anderen Bildern und Tönen in Beziehung setzen kann: zu einem anderen Ausschnitt aus demselben Film, einem Segment aus einem anderen Film, der Reproduktion eines Gemäldes, dem Audio-Kommentar des Regisseurs, einem Archivdokument usw. Auch die CD-Rom bietet zwar seit längerem solche superschnellen Zugriffs- und Verknüpfungsmöglichkeiten, aber mit einer Speicherkapazität, einem Format und einer Wiedergabequalität, die für Vorführungen in der Schule nicht ausreichen.
Dieses Potential – die Leichtigkeit des Zugriffs und die Möglichkeit, Beziehungen zwischen verschiedenen Ausschnitten herzustellen – ist es, was aus der DVD ein so wertvolles Instrument pädagogischer Innovation macht.
Wie Nabokov es sich für den Romanleser wünschte, kann man so tatsächlich zugleich und auf einen Blick die Gesamtheit und das Detail zugänglich machen, zwei weit auseinander liegende Details vergleichen, frei durch den Film schweifen "wie durch ein Gemälde", kurz endlich einen nicht mehr ausschließlich linearen, sondern tableau-artigen Zugang zum Film haben.
Auf der DVD kann man sehr viele Bilder und Klänge speichern und ganz einfach vielfältige Verknüpfungen programmieren, dank denen diese Filmfragmente in ebenso vielfältig "denkende", zum Nachdenken über das Kino anregende Beziehungen gesetzt werden können.
Schon auf einer Videokassette konnten viele Sequenzen aufgezeichnet werden, aber in unverrückbarer Reihenfolge und mit zwangsläufigen Nachbarschaften. Auf einer normalen DVD können dreißig Ausschnitte durch vorprogrammierte Links in Beziehung gesetzt werden, jeder einzelne ist also Teil eines Geflechts vielfältiger Beziehungen und Verkettungen. Angesichts dieses neuen Instrumentariums ist es heute sehr wichtig, sich klarzumachen, was genau das In-Beziehung-Setzen von Filmfragmenten bedeutet. Dann könnte es zu einem der Kernstücke (natürlich sind weitere nötig) einer Pädagogik werden, die sich auf das persönliche Imaginäre, das individuelle Verständnis des Benutzers, ob Schüler oder Lehrer, einstellt. Die kurze Form – Ausschnitt und Sequenz – hat dabei den Vorzug, das Denken zu beschleunigen: Drei Ausschnitte in Beziehung zu setzen, vermittelt manchmal mehr Einsichten als ein langer Vortrag. Und sie eignet sich für Querschnitte: Man kann erhellende und faszinierende, ganz unvorhergesehene Beziehungen zwischen Kinoepochen und –ländern, zwischen Filmen und Autoren herstellen, die ein linearer Zugang in hermetisch abgeschotteten Kategorien belassen würde.
Bei dieser Gelegenheit soll ausdrücklich betont werden, dass das rasche In-Beziehung-Setzen, die Schnelligkeit des Zugriffs und der Navigation nichts mit der allgemeinen Ungeduld des Zappens und Surfens gemein haben. Ich sehe keinen Grund, die digitale Geschwindigkeit nicht zu nutzen – aber dafür, "in Beziehung zu setzen" und zum Denken anzuregen. Um so mehr, als die DVD auch den in der Pädagogik unverzichtbaren, umgekehrten Vorgang erlaubt, nämlich die Bilder in Zeitlupe laufen zu lassen oder anzuhalten.
Unter diesen Bedingungen können Lehrer und Schüler gemeinsam beobachten, überlegen und versuchen, die Idee, den Grundgedanken ausfindig zu machen, die implizit ja jeder Verkettung zu Grunde liegen. Verstehen lehrt dann nicht unbedingt die Stimme oder der Text eines Wissenden, auch nicht nur der Lehrer, sondern es wächst beim Hin und Her zwischen den Ausschnitten, die unter bestimmten Umständen, nämlich bei genauer, aufmerksamer Betrachtung, genug Stoff zum Nachdenken liefern. So lässt sich auch pädagogischer Übereifer vermeiden. Je nach Publikum kann man sich verschiedene Nutzungsmöglichkeiten der in Beziehung gesetzten Ausschnitte vorstellen, von der spielerischen bis zur begriffsorientierten, von der poetischen bis zur filmsprachlichen.
Zudem folgt das Denken bei den vielfältigen Verkettungs-möglichkeiten der Ausschnitte nicht unbedingt der in der Informatik vorherrschenden Logik der Baumstruktur. Es kann auch eher rhizomartige Wege nehmen, denn die vorgeschlagenen Verbindungen erfordern nicht zwangsläufig binäre, vertikal gegliederte Entscheidungen. Überdies sind vielfältige, auf unterschiedliche Arten von Intelligenz zugeschnittene Navigationen durch die Ausschnittsammlungen vorstellbar. Es öffnen sich also sehr viele freie, nicht hierarchisch gegliederte Wege, um zwischen den Ausschnitten Beziehungen aller Art – analytische, poetische, den Inhalt oder die Form betreffende – zu schaffen.
Das pädagogische Werkzeug DVD bleibt zwar ein Artefakt, das von einem Wissenden konzipiert ist, der diese Wege vorprogrammiert hat. Doch es ist dem Charakter seines Gegenstandes – Kino als Kunst – und dessen Funktionsweise, nämlich im Kopf des Zuschauers beim Zuschauen eines Films eine Vielzahl von Wegen zu bahnen, sehr viel näher als die meisten Werkzeuge vor ihm.
© Schüren Verlag 2006 | Article | Alain Bergala | 2022-01-05T00:00:00 | 2011-11-29T00:00:00 | 2022-01-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/43399/filmvermittlung-auf-dvd-fragmente-in-beziehung-setzen/ | Sich Filmgeschichte und -ästhetik nähern, indem man Filmausschnitte zueinander in Beziehung setzt: Darin liegt für Alain Bergala die pädagogische Innovation der DVD. Ein Auszug aus "Kino als Kunst". | [
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„Einsatz für Freiheit und Menschenwürde“: Botschafter für Demokratie und Toleranz ernannt | Presse | bpb.de | Das von der Bundesregierung im Jahr 2000 initiierte Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT) hat beim Festakt zum Tag des Grundgesetzes in der Urania Berlin die Auszeichnung „Botschafter für Demokratie und Toleranz“ verliehen. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, Marco Wanderwitz, und der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz, Christian Lange, überreichten die Auszeichnungen, in diesem Jahr vor dem Hintergrund des 70. Jahrestages des Grundgesetzes. Vom Engagement der ausgezeichneten Personen und Initiativen zeigten sich Lange und Wanderwitz, beide Mitglieder des BfDT-Beirats, beeindruckt.
„70 Jahre Grundgesetz sind eine Erfolgsgeschichte. Bürgerschaftliches Engagement und Einsatz für Freiheit und Menschenwürde – dies sind dabei wichtige Säulen unserer gelebten Verfassung!“ sagte Wanderwitz. „Demokratie ist kein Naturereignis, sie muss immer wieder neu ausgefüllt und verteidigt werden. Denn gesellschaftlicher Zusammenhalt und die unantastbare Menschenwürde sind das, was wirklich zählt“, so der Parlamentarische Staatssekretär weiter.
Bereits zum 19. Mal hat das BfDT die Auszeichnung „Botschafter für Demokratie und Toleranz" verliehen. Der Preis ist mit jeweils 5.000 € dotiert und stellt eine der bedeutendsten bundesweiten Anerkennungen für zivilgesellschaftliches Engagement dar.
„Unsere Demokratie braucht Menschen, die sich engagieren und unsere Werte leben“, so Lange. „Ich freue mich, dass auch dieses Jahr Menschen und Initiativen ausgezeichnet werden, die mit dazu beitragen, unsere Werte zu festigen und menschenverachtenden Thesen klar entgegen zu treten. Eine bessere Stärkung unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung kann man sich kaum vorstellen.“
Die Botschafter für Demokratie und Toleranz 2019 sind:
• Dietlind Grabe-Bolz, Gießen • Leila Younes El-Amaire, Berlin • Dr. Elio Adler, Berlin • YouthNet – Jugendnetzwerk für München, München • Selahattin-Burak Yilmaz, Duisburg
Hintergrund
Das von der Bundesregierung am 23. Mai 2000 gegründete Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT) richtet jedes Jahr am 23. Mai den Festakt zur Feier des Grundgesetzes aus und verleiht dort die Auszeichnung „Botschafter für Demokratie und Toleranz" für außergewöhnliches zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie und Toleranz. Mit der Auszeichnung würdigt das BfDT das Engagement der fünf Botschafter öffentlich und macht darauf aufmerksam, dass jede/r Einzelne etwas zu einer lebendigen Demokratie beitragen kann.
Das BfDT wurde von den Verfassungsministerien ins Leben gerufen, um der Zivilgesellschaft in Deutschland eine inhaltliche Unterstützung zur Seite zu stellen. Als bundesweiter Ansprechpartner sind wir für die Zivilgesellschaft da, unterstützen durch Kooperationen, führen öffentlichkeitswirksame Wettbewerbe, Auszeichnungen und Veranstaltungen durch und vernetzen zivilgesellschaftliche Akteure untereinander, um Kompetenzen zu stärken. Als Impulsgeber gehen wir gezielt auf einzelne Akteure zu, um Fragestellungen, in denen ein besonderer zivilgesellschaftlicher Handlungsbedarf besteht, ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und gemeinsam mit unseren unterschiedlichen Partnern möglichst praxisorientierte Lösungsansätze und -strategien zu entwickeln. Nicht zuletzt fungieren wir durch den Beirat des BfDT, in dem u.a. alle Bundestagsfraktionen vertreten sind, als Mittler zwischen Politik und Zivilgesellschaft und bringen die Themen und Bedürfnisse der Zivilgesellschaft auf die tagespolitische Agenda. Seit 2011 ist die Geschäftsstelle des BfDT Teil der Bundeszentrale für politische Bildung. Weitere Informationen und Pressefotos finden Sie unter: Externer Link: www.buendnis-toleranz.de/aktiv/festakt-auszeichnung-botschafter/
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Pressemitteilungen der bpb abonnieren/abbestellen: Interner Link: www.bpb.de/presseverteiler | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-08-18T00:00:00 | 2019-05-23T00:00:00 | 2021-08-18T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/291770/einsatz-fuer-freiheit-und-menschenwuerde-botschafter-fuer-demokratie-und-toleranz-ernannt/ | Auszeichnung von fünf Einzelpersonen und Projekten für ihr außergewöhnliches zivilgesellschaftliches Engagement beim Festakt zum Tag des Grundgesetzes | [
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Im Praxistest: "Der Corona-Check" | bpb.de | Kurze Vorstellung des Materials
Das Material umfasst zehn 5- bis 6-minütige Videoclips des Channels "Abdelkratie" und läuft unter der Reihe: "Der Corona-Check". Darin interviewt der Kabarettist Abdelkarim kurz und konkret Expertinnen und Experten zu politischen Themen und Fragen in Bezug auf die Corona-Pandemie. Jedes der 10 Video behandelt dabei einen eigenen Themenbereich: Demokratie, Wahlen und Parteien, Volk, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Menschenwürde, Rechtsstaat, Widerstand und Protest, Gleichheit und Gerechtigkeit, Menschenrechte.
Anregungen für den Einsatz im Unterricht
Abdelkarim verwendet eine jugendnahe Sprache (wie z. B. als Begrüßung: "Was geht ab?"), ist locker gekleidet, wirkt entspannt und nicht abgehoben. Es entsteht der Eindruck, als wolle er dadurch junge Menschen und/oder Menschen, die nicht unbedingt zur Bildungselite gehören, erreichen. Dieses Format könnte somit im Kontext von Schule insbesondere Schülerinnen und Schüler erreichen, die tendenziell bildungsfern sozialisiert sind. Haupt- und Realschulen oder auch Gesamtschulen böten sich vermutlich vor allem an. Positiv und ebenfalls schülernah ist zu vermerken, dass Abdelkarim in der Gesprächsführung wie auch in seinen Fragen schnell zum Punkt kommt und keine Zeit mit Randthemen oder mit Smalltalk vergeudet. Wie er sich präsentiert könnte daher eine höhere Identifikation mit seiner Person und somit auch seinen Fragen bei Schülerinnen und Schüler aus sozialen Brennpunkten zur Folge haben. Diese Identifikation wird unterstützt durch den Einsatz von Rapmusik im Intro und instrumentalen R’n’B- bis Neosoulbeats zwischendurch, da solche Musik insbesondere bei diesen Jugendlichen mit Hobbys wie Rapmusik, Hiphop tanzen, Skateboarding, Breakdancing und Basketball eng verbunden ist. Dementsprechend empfiehlt sich der Einsatz dieses Materials insbesondere in Schulen, die mit solch einer Schülerschaft vorrangig arbeiten.
Darüber hinaus bietet sich das Material aufgrund der Expertinnen und Experten für den Unterricht an. Diese sind allesamt Akademikerinnen und Akademiker, welche aber für Schülerinnen und Schüler ungewohnt nahbar, freundlich, zugänglich und verständlich wirken könnten.
Inhaltlich ist allerdings einzuschränken, dass abgesehen von der mitunter schülernahen Sprache, viele politische Fachbegriffe verwendet werden, die selten genauer erklärt werden bzw. deren Bedeutung im Kontext nicht erläutert wird. Als Beispiele: Demokratie, Teilhabe, Autokratie, Grundrechte, Rechtsstaat. Dementsprechend schränkt der Inhalt im Gegensatz zum Format den Einsatz des Materials ein. Grundkenntnisse jener Fachbegriffe müssten vorhanden sein oder auf anderem Wege ergänzt werden, damit das Material nicht nur in der Oberstufe verwendet werden kann.
Abdelkarim nimmt in seinen Interviews klare Standpunkte ein (wie z. B. seine Befürwortung einer parlamentarischen Demokratie oder seine Meinung zur AfD). Er wirkt daher nicht wie ein objektiver Journalist. Auf der anderen Seite gibt er auch nicht vor ein solcher zu sein, bzw. hat die Sendung nicht den Anspruch sich politisch neutral zu positionieren. Dennoch wird deutlich, dass Sendung grundgesetzkonform und ihre Botschaft aufklärerisch ist.
Die Fragen Abdelkarims sind zumeist sehr aktuell und gleichsam für Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar und relevant. Derartige Fragen könnten von Schülerinnen und Schüler und/oder deren Eltern zu Hause ebenfalls Gesprächsgegenstand sein. Die Antworten der Expertinnen und Experten dazu sind differenziert, recht kurz und verständlich.
Dieser gerade aktuelle Lebensweltbezug der Sendung eignet sich daher besonders für die Debatte des Themas im Unterricht, wobei besonders im Fach Politik(-Wirtschaft) die politischen Auswirkungen der Corona-Pandemie sicherlich eine besondere Rolle spielt. Darüber hinaus finden sich Themenbereiche wie Religionsfreiheit im Rahmen des Religions- und Philosophieunterrichts, Themen wie Menschenrechte, Menschenwürde und Gerechtigkeit im Philosophieunterricht und generell sämtliche Themen aus zeitgeschichtlicher Perspektive im Geschichtsunterricht wieder.
Fazit
Insbesondere ist das Format des Materials und der Zugang, den es für viele Schülerinnen und Schüler generiert, als besonders positiv hervorzuheben. Der Kontakt mit akademischem Wissen und Auseinandersetzungen von großer politischer Tragweite durch einen derart schülernahen Kanal, ermöglichen fruchtbare Unterrichtsstunden. Wegen der fehlenden Begriffsdefinitionen müssen jedoch - je nach Lerngruppe - beim Einsatz im Unterricht einige Begriffe vorab geklärt werden. Insgesamt fordert der "Corona-Check" die Lernenden dazu heraus, sich differenziert mit komplexen, alltagsrelevanten und politischen Fragen auseinanderzusetzen. Dies führt hinsichtlich der Corona-Pandemie und des Umgangs damit zu nötiger Aufklärung und fördert im hohen Maße politische Bildung.
Zugriff
https://www.bpb.de/lernen/projekte/312283/der-corona-check | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2020-12-03T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/rezensionen/322319/im-praxistest-der-corona-check/ | In den zehn Videoclips der Reihe "Der Corona-Check" interviewt der Kabarettist Abdelkarim Expertinnen und Experten zu Auswirkungen der Corona-Pandemie auf gesellschaftspolitische Themen wie z. B. Demokratie, Meinungsfreiheit, Rechtsstaat sowie Mensch | [
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Der Jugenddemokratiepreis 2021 ist vergeben | Presse | bpb.de | Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb hat zum 13. Mal den Jugenddemokratiepreis vergeben. Die Auszeichnung geht in diesem Jahr an die Projekte "Dare2Care" und "Keine Schule ohne Feminismus". "Jung und Politisch" gewinnt den Sonderpreis "Wahlen". Der Wettbewerb wird von einer Jugendjury bestehend aus ehrenamtlichen Schülern, Auszubildenden und Studierenden zwischen 16 und 25 geplant und ausgerichtet.
Mit dem Jugenddemokratiepreis werden Projekte von oder für junge Menschen ausgezeichnet, die sich in herausragender Weise für Demokratie einsetzen. 2021 wurde der mit 3.000 Euro dotierte Jugenddemokratiepreis unter dem Motto "United in distance?" ausgeschrieben. Der Sonderpreis "Wahlen" wurde zum ersten Mal ausgelobt.
Gewonnen haben folgende Projekte:
Externer Link: "Dare2Care" ist eine Bildungsinitiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, über mentale Gesundheit in Schulen aufzuklären, das Thema zu entstigmatisieren und die Persönlichkeit von jungen Menschen zu unterstützen. "Starke Persönlichkeiten bilden eine starke Gesellschaft", sagen die Projektverantwortlichen. Umgesetzt wird dies in Form von Workshops von und für junge Menschen und durch Aufklärungsarbeit auf Instagram.
"Externer Link: Keine Schule ohne Feminismus" ist eine Gruppe von Berliner Schülerinnen und Schülern mit dem Ziel eine diskriminierungsfreie Gesellschaft zu schaffen. Sie beschäftigen sich mit Sexismus an Schulen und in der Gesellschaft und leisten über soziale Medien Aufklärungsarbeit.
Externer Link: "Jung & Politisch" ist ein Instagram-Kanal, der mit dem diesjährigen Sonderpreis "Wahlen" ausgezeichnet wird. Der Kanal wird von Johanna Kürwitz und Victoria Lauer geführt. Ihr Ziel ist es, junge Menschen, die bei der Bundestagswahl zum allerersten Mal wahlberechtigt sind, aufzuklären. Es geht dabei zum Beispiel um das Wahlsystem, die Parteien und um die Kanzlerkandidatur.
Weitere Informationen zum Jugenddemokratiepreis und seinen Preisträgern: Interner Link: www.bpb.de/jugenddemokratiepreis
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-08T00:00:00 | 2021-10-05T00:00:00 | 2021-11-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/341365/der-jugenddemokratiepreis-2021-ist-vergeben/ | Jugendjury zeichnet Projekte junger Menschen zum 13. Mal mit dem Jugenddemokratiepreis aus / Gewinner-Projekte sind "Dare2Care", "Keine Schule ohne Feminismus" und "Jung und Politisch" | [
"Jugenddemokratiepreis"
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Haushaltsautonomie des Parlaments – Kronjuwel adé? – Essay | Parlamentarismus | bpb.de | Haushalt – den Begriff kennt jeder. Den eigenen sowieso. Aber auch den der großen Politik. Dass der Deutsche Bundestag über Einnahmen und Ausgaben entscheidet, ist nichts Neues. Zwar gelten Haushaltsfachleute irgendwie als Exoten – zu genau will man es dann doch nicht wissen –, aber das Budgetrecht des Parlaments würden auch politisch weniger Interessierte als eine Kernaufgabe bezeichnen. Als ein Verfassungsproblem ist die Haushaltsautonomie bis vor Kurzem allenfalls im Verhältnis zwischen Bund und Ländern angesehen worden. Dazu hat sich auch das Bundesverfassungsgericht schon oft geäußert. Doch recht neu ist die Möglichkeit jedes Bürgers, eine Aushöhlung dieses Rechts zu verhindern. Das ist ein Phänomen der immer enger werdenden europäischen Einigung – vor allem der Euro-Rettungspolitik.
Seit der Karlsruher Maastricht-Entscheidung von 1993 kann grundsätzlich Jeder jeden weiteren europäischen Integrationsschritt mit der Begründung angreifen, sein Wahlrecht zum Bundestag werde ausgehöhlt. Das hat das Verfassungsgericht dann in seinen Urteilen zum Vertrag von Lissabon und zur Griechenlandhilfe fortgesponnen. Das Wahlrecht des Bürgers ist insbesondere dann verletzt, "wenn sich der Deutsche Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können".
Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit grundlegend ist. Das Budgetrecht ist zentrales Element der demokratischen Willensbildung. Es dient der Kontrolle der Regierung. Zum anderen "aktualisiert" der Haushaltsplan nach Karlsruher Diktion "den tragenden Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten als eine wesentliche Ausprägung rechtsstaatlicher Demokratie". Nur der Bundestag hat die Kompetenz für den Haushaltsplan. In diesem Plan spiegelt sich die gesamte Politik: Das sieht man schon an der Bedeutung der Debatten im Parlament über den Haushalt. Sie sind eine Art Generalabrechnung. Verfassungsrechtliche Grenzen
Was folgt daraus für das stark von der Regierung geprägte Handeln in internationalen Organisationen, vor allem im Staatenverbund der Europäischen Union? Die Abgeordneten müssen stets die Kontrolle über die grundlegenden haushaltspolitischen Entscheidungen behalten – natürlich nicht über jede Einzelheit, sonst wäre die Mitwirkung Deutschlands sinnlos, aber über Einnahmen und Ausgaben.
Das Parlament trägt die Gesamtverantwortung. Also darf es seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Das Bundesverfassungsgericht verbietet es dem Parlament, sich "finanzwirksamen Mechanismen" auszuliefern, die "zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können". Aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folgt demnach, dass der Bundestag einem zwischen den Staaten vereinbarten in seinen Auswirkungen nicht begrenzten "Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus" nicht zustimmen darf, der seiner Kontrolle entzogen ist. Aber ist nicht der Bundestag der Souverän? Karlsruhe bemüht sich hervorzuheben, dass dieses Verbot die Haushaltskompetenz des Parlaments nicht beschränke, sondern – im Gegenteil – bewahre.
Der Bundestag muss demnach "Herr seiner Beschlüsse" bleiben. Er darf nicht in erheblichem Umfang pauschale Ermächtigungen zulassen. Also keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründen, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen. "Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs" im internationalen oder EU-Bereich "muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden", verlangt das Bundesverfassungsgericht.
Solche Hilfsmaßnahmen sind zur Regel geworden. Europäische Solidarität soll institutionalisiert werden. Nach dem vorläufigen Euro-Rettungsschirm EFSF soll der ständige Rettungsmechanismus ESM notleidenden europäischen Staaten und Banken helfen und die Finanzmärkte beruhigen.
Aber begründet nicht gerade der ESM-Vertrag einen solchen Mechanismus? Hier entscheiden die europäischen Finanzminister. Ein – strafrechtlich immunes und weisungsgebundenes – Direktorium kümmert sich um das Alltagsgeschäft. Das schon genehmigte Stammkapital des ESM beträgt 700 Milliarden Euro; gut 190 Milliarden entfallen auf Deutschland. Kritiker befürchten, dass die Haftung Deutschlands im schlimmsten Fall viele Hundert Milliarden Euro betragen könnte. Manche sprechen schon von einer Billion. Muss das Land womöglich nachschießen, ohne dass der Bundestag zustimmt? Deutschland könnte über seinen Anteil hinaus zur Nachzahlung verpflichtet sein, wenn ein anderer Mitgliedstaat seiner Pflicht nicht nachkommt.
Das erscheint nicht unwahrscheinlich, denn es ist fraglich, ob ein Staat wie Griechenland sich vertragstreu verhalten kann. Dass Nachschüsse nicht beabsichtigt oder nicht geplant sind, ändert daran nichts. Schon wird darüber geredet, dem ESM eine "unbegrenzte Feuerkraft" zu geben, ihn mit einer Banklizenz auszustatten.
Reicht es aus, dass gegebenenfalls der Europäische Gerichtshof angerufen werden kann? Ein Austritt aus dem ESM ist nicht vorgesehen. Es ist zweifelhaft, ob hier die völkerrechtliche Regel der clausula rebus sic stantibus hilft, der Wegfall der Geschäftsgrundlage: Da müsste schon das ganze Rettungssystem zusammenbrechen; und es ist höchst fraglich, ob sich Deutschland darauf berufen könnte.
Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts müsste eigentlich jede grundlegende Entscheidung nur mit Zustimmung des Bundestages möglich sein. Es darf weder zum Zuschauen verurteilt sein, noch getroffene Entscheidungen nur nachvollziehen. Wahrung von Handlungsspielräumen
Natürlich hat der Gesetzgeber Spielraum. Der gilt auch mit Blick auf die zukünftige Belastbarkeit des Haushalts und das wirtschaftliche Leistungsvermögen Deutschlands. Es kommt, so Karlsruhe in seiner Entscheidung zur Griechenlandhilfe, insoweit insbesondere nicht darauf an, "ob die Gewährleistungssumme gegebenenfalls weit größer ist als der größte Haushaltstitel des Bundes und die Hälfte des Bundeshaushalts erheblich überschreitet, weil dies allein nicht der Maßstab einer verfassungsrechtlichen Begrenzung des Handlungsspielraums des Gesetzgebers sein kann".
Apropos Handlungsspielraum: Wie steht es mit dem Fiskalpakt? Auch er engt die Haushaltsautonomie ein: Was in Deutschland in erster Auflage misslang, soll in neuer Auflage ganz Europa stabilisieren.
Immerhin gibt es im Grundgesetz schon seit Jahrzehnten eine Schuldenbremse. Sie wurde nur nicht straff genug betätigt. Seit der Finanzreform Ende der 1960er Jahre sind durchgehend immer mehr Schulden angehäuft worden. Dabei sah das damals geschaffene Konzept vor: Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen waren allein "zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ zulässig. In Zeiten konjunktureller Erholung sollten die Schulden zurückgeführt werden. Das klappte anfangs.
Doch insbesondere mit dem Ausbau des Sozialstaats stieg die Verschuldung, weil Investitionen nur noch aus Krediten, nicht mehr aus laufenden Einnahmen bezahlt wurden. Die Schuldenbremse habe sich "in der Realität nicht als wirksam erwiesen", entschied das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren. Auch die strengere Schuldenbremse aus dem Jahr 2009 lässt Spielraum für die Aufnahme neuer Kredite. In Notlagen dürfen weiterhin neue Schulden gemacht werden, etwa wenn die Konjunktur einbricht. Oder wohl auch, wenn der Bund die Steuern senkt und den abhängigen Ländern Einnahmen fehlen.
Das ist durchaus verständlich. Politik, sichtbare Politik jedenfalls, besteht im Geldausgeben. Sparpolitik wird zwar auch sichtbar, taugt aber nicht gut als Wahlkampfschlager. Immerhin versuchen manche Länder, ihre Altschulden abzubauen. Den "exorbitanten Schuldensockel des Bundes" sah Karlsruhe als das wahre Problem an: "ein Klotz am Bein der Konjunktur und der politischen Handlungsmöglichkeiten" – der allein dadurch zustande gekommen sei, dass die Finanzverfassung "über Jahrzehnte missachtet worden ist". Europäische Einigung
So ist die Lage im als vorbildlich geltenden Deutschland, dem wirtschaftlich stärksten Land der EU, in recht guten Zeiten. Diese Schuldenbremse wollen sich die meisten anderen europäischen Länder mit dem Fiskalpakt auferlegen. Darunter sind Staaten, die aus verschiedenen kulturellen Gründen eine andere Finanzpolitik betreiben. Die Herkulesaufgabe besteht zunächst darin, die Parlamente und Völker davon zu überzeugen, vor allem aber dann darin, diese Kulturrevolution durchzusetzen, in guten wie in schlechten Zeiten.
Freilich kann niemand auf europäischer Ebene einen ausgeglichenen Haushalt erzwingen. Was schon in einem funktionierenden Bundesstaat kaum möglich war, wie soll das mit einem völkerrechtlichen Vertrag funktionieren? Man kann hier weder auf die EU-Kommission noch auf den Europäischen Gerichtshof hoffen. Das haben schon der Vertrag von Maastricht und der Europäische Stabilitätspakt gezeigt. Es ist fraglich, ob ein völkerrechtlicher Vertrag mehr bewirkt.
Das heißt nicht, dass der Pakt unnütz wäre. Er ist mehr als ein Symbol. Man sollte nur keine Wunder erwarten. Zu deutlich klingen die Stabilitätsversprechen im Ohr, mit denen die gemeinsame europäische Währung begründet wurde. Zu deutlich ist, dass die EFSF und ESM genannten Brandmauern – entgegen früheren Versprechen – immer höher gezogen wurden. Dadurch darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, die nationalen Parlamente hätten nichts mehr zu sagen. Im Gegenteil: Weder EFSF und ESM noch der Fiskalpakt dürfen die Haushaltsautonomie der Einzelstaaten aushebeln.
Nun sollte nicht vergessen werden, dass der Bundestag selbst alle Schritte in der Finanzkrise getragen hat. Womöglich ist das Parlament (und nicht nur dieses) von der Geschwindigkeit und Komplexität der Krise überfordert. Die eigentlich selbstverständliche Gesamtverantwortung des Parlaments vor allem in Haushaltsfragen ist deshalb auch ein Versuch der Entschleunigung. Karlsruhe hat zwar kein Mandat, um Europapolitik zu betreiben. Es überprüft sie aber streng und umfassend. Das von zwei Abgeordneten erfolgreich angegriffene "Neuner-Gremium" – das maßgebliche Entscheidungen zur Euro-Rettung treffen sollte – ist dabei, obschon Teil des Parlaments, einer der umstrittenen Versuche jener Hinterzimmer-Politik, die "Europa" so viel Vertrauen gekostet hat. Dass die EU genau so, also von oben und als Elitenprojekt, entstanden ist und dass sie wohl nur so entstehen konnte, trägt heute als Legitimationsgrundlage nicht mehr.
Natürlich muss Deutschland in der EU handlungsfähig sein, gerade jetzt. So wie ein eiliger Streitkräfteeinsatz auch ohne Bundestagsbeschluss begonnen werden kann, darf die parlamentarische Befassung sensible finanzpolitische Maßnahmen nicht behindern. Das wäre buchstäblich fatal. Aber nicht alles ist eilig, quasi ansteckend. Beschlüsse zur Euro-Rettung in Milliardenhöhe sind keine geheime Kommandosache. Verantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers
Ob die Abgeordneten dieser Gesamtverantwortung gerecht werden (können)? Jedenfalls hat sich ihr Selbstbild in den vergangenen Jahren verändert. Es ist noch gar nicht lange her, dass sie – nämlich im Verfahren zum europäischen Haftbefehl – in Karlsruhe den Eindruck erweckten, sie seien nur ahnungslose Vollstrecker des Brüsseler und Berliner Regierungswillens. Doch das hat sich geändert. Nun scheinen selbst unter Hinterbänklern im Parlament der Wille und das Bedürfnis ausgeprägt, nicht nur die komplexen Euro-Rettungsmaßnahmen kritisch zu hinterfragen, sondern auch der Regierung, und sei es der "eigenen", auf die Finger zu klopfen.
Die Parlamentarier sind in ihre vorgesehene Rolle hineingewachsen. Auf die Bühne gesetzt hat sie das Verfassungsgericht. Die Richter, die selbst von einem kleinen, nicht öffentlich tagenden parlamentarischen Gremium nach einem kaum durchschaubaren Verfahren gewählt werden, haben den Hort der Demokratie mit Schutzschirmen und Brandmauern umgeben. Entscheiden müssen die Volksvertreter. Das kann ihnen niemand abnehmen. Wenn es aber wirklich um Krieg und Frieden gehen sollte, sind sie zumindest gut gerüstet. Man darf sich freilich auch keinen Illusionen hingeben. Bis auf wenige Ausnahmen sind die weiteren Karrieren der Abgeordneten von der Parteiführung abhängig. Widerstand gegen die vorgegebene Linie will somit gut überlegt sein.
So traten die Parlamentarier in der mündlichen Verhandlung zum Euro-Rettungsschirm auch dem Eindruck entgegen, die Gesetze seien im Eiltempo verabschiedet worden. "Der Deutsche Bundestag nimmt seine Rolle in der Europa-Politik sehr, sehr ernst", hieß es. Und: "Wir haben das sehr gründlich in Ausschüssen, Fraktionen und Anhörungen erörtert." Auch die "kritischen Kollegen" seien ausgiebig zu Wort gekommen.
Der Vorsitzende des Rechtsausschusses gestand freilich auch ein: "Ob der Weg, den wir eingeschlagen haben, der Königsweg ist, wird die Geschichte zeigen – wir hatten eine solche Situation noch nie." Während die Vorsitzende des Haushaltsausschusses hervorhob, der Bundestag habe viele Möglichkeiten einzugreifen, wurde aber auch darauf hingewiesen, dass es bei den Abstimmungen fast immer an bezifferten Alternativen zu den Rettungsmaßnahmen gefehlt habe: "Es gab nur allgemeine Horrorszenarien." Auch sagte mancher, es sei kaum möglich gewesen, die Fülle der Unterlagen zu verarbeiten.
Hauptsache, niemand lässt sich von der simplen Rechnung beeindrucken: Krieg oder Frieden, Integration oder Rückschritt. Es ist klar, dass eine Regierung gern durchregieren will – sei es bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, der schleichenden Veränderung des Nato-Vertrags oder eben in Fragen der europäischen Integration. Karlsruhe hat die Handlungsfähigkeit der Exekutive auch nie infrage gestellt. Im Gegenteil: Auslandseinsätze etwa ließ es – ohne Änderung des Grundgesetzes und entgegen einer jahrzehntelangen Praxis – im internationalen Rahmen in vollem Umfang zu. Aber nur mit Zustimmung des Parlaments. Daran führt auch in Eilfällen, in denen die Regierung handeln darf, kein Weg vorbei. Notfalls müssen die Soldaten zurückgeholt werden. Das gilt auch für Kredite und Garantien, die den Bundeshaushalt zu sprengen drohen. Die Frage ist freilich, ob ein solches Zurückholen hier möglich ist. Aber die Karlsruher Warnung ist deutlich: Es gibt keine "Blanko-Ermächtigung" für weitere Rettungsmaßnahmen.
Dieser Wink war dringend notwendig. Das Gericht kann dabei allerdings nur grobe Fehltritte überprüfen, sonst würde es seiner Rolle im Verfassungsstaat nicht gerecht. Es macht aber deutlich, dass auch dem parlamentarischen Gesetzgeber unter diesem Grundgesetz Grenzen gesetzt sind. Das weist über Europa hinaus. Eine Selbstentmachtung des Bundestages ist grundsätzlich untersagt. Deshalb gab es schon Bestrebungen, die Karlsruher Festlegungen zu den Grenzen der Integration durch eine Verfassungsänderung wieder zurückzudrehen.
Einstweilen hat das Parlament jedenfalls sichergestellt, dass weitere Finanzhilfen seiner Zustimmung bedürfen. Dass nicht das Plenum, sondern der Haushaltsausschuss, in Eilfällen sein Unterausschuss entscheiden muss, ändert im Prinzip nichts an der Kontrolle.
Aber auch hier droht Gefahr. Denn diese "Kontrolle" kann im Geheimen stattfinden. So ist der EFSF-Rahmenvertrag ein privatrechtlicher Vertrag, und so wurde er von der Bundesregierung auch behandelt. Auch der ESM-Vertrag war lange für die Öffentlichkeit in deutscher Sprache nicht greifbar. Schon über den Lissabon-Vertrag hatte der Bundestag abgestimmt, ohne dass jeder Abgeordnete eine konsolidierte Textfassung vor sich gehabt hätte.
Hier muss das gesamte Parlament wachsam sein, dass nicht wieder eine Hinterzimmer-Europapolitik eingeführt wird. Karlsruhe hat im Übrigen schon früher grundsätzlich entschieden: Entscheidend sei "nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns, sondern deren Effektivität".
Wenn das Parlament dazu nicht in der Lage wäre, bliebe nur noch Karlsruhe. Warum aber sollen acht Richter es besser wissen als Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat? Weil es hier gar nicht um Institutionen, sondern um den Menschen, um den Bürger geht. Dieser Bürger steht im Mittelpunkt der gesamten Rechtsprechung zu Europa. Er hat ein Recht auf Teilhabe am politischen Prozess. Das muss er auch durchsetzen können. Fazit: demokratisches Prinzip bleibt unantastbar
Eines kann in der Debatte über die Grenzen der Haushaltsautonomie des Bundestages leicht in Vergessenheit geraten: Auch das Parlament vertritt nur das Volk. Und wenn eine bestimmte Grenze überschritten ist, muss es direkt gefragt werden. Das ist eine Selbstverständlichkeit, auch wenn es dazu keine Grundgesetzvorschrift gäbe.
Über eine Ablösung des Grundgesetzes muss der Souverän entscheiden. Eigentlich will niemand das Grundgesetz komplett abschaffen. Das Volk müsste allerdings auch gefragt werden, wenn Deutschland zu einem Glied in einem europäischen Bundesstaat würde. Wenn es also seine souveräne Staatlichkeit aufgäbe. Doch immerhin weist auch die Präambel des Grundgesetzes von 1949 den Weg nach Europa: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."
Daraus schließen manche, das Bundesverfassungsgericht verenge seinen Blick zu sehr auf die staatliche Souveränität und vernachlässige den europäischen Blick. Doch muss eben auch nach dem alten Grundgesetz die erlaubte und gewünschte europäische Integration bestimmten Vorgaben folgen. Es sprechen gute Gründe dafür, dass die Befugnisse des Bundestages nicht schleichend entleert werden dürfen. Der Bürger muss noch etwas zu sagen haben – auch über Europa.
Das Bundesverfassungsgericht ist mit seinen nahezu unbegrenzten Kompetenzen ein Solitär. In seiner unverändert großen Beliebtheit bei den Bürgern spiegelt sich deren Unbehagen über die Auswüchse der repräsentativen Parteiendemokratie. In der Politik ist Karlsruhe weniger beliebt, die Akzeptanz bröckelt.
Tatsächlich ist seine Rechtsprechung auch von Anmaßungen und Zumutungen geprägt. Doch sollte auf der Grundlage der Entscheidung zur Euro-Rettung, die das demokratische Prinzip einmal mehr für unantastbar erklärt, ein neuer Konsens möglich sein. Viele mag es nicht interessieren, viele überfordern: Aber auch die Euro-Rettungspolitik muss in die Öffentlichkeit. Das ist letztlich der Sinn des Ringens der Verfassungsorgane. Gerade wenn die maßgeblichen politischen Parteien sich einig sind, wenn der eingeschlagene europäische Weg als alternativlos dargestellt wird, dann schlägt die Stunde des Schiedsrichters.
Erst im 19. Jahrhundert setzte sich im Übrigen der Grundsatz durch, dass der Haushalt öffentlich sein muss. Seine Planung, der Vollzug und seine Kontrolle müssen demnach nicht nur dem Parlament, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich sein. Der mittlerweile aus dem Amt geschiedene Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio nannte das Budgetrecht des Parlaments dessen "Kronjuwel".
Womöglich wird man erst merken, was man an diesem Juwel hat, wenn es spürbar eingeschränkt wird. Die Debatte über Kredite und Garantien wirkt abstrakt und blutleer, selbst wenn es um Milliarden geht. Sollte aber etwa Brüssel einmal vorgeben, dass Deutschland bestimmte Brücken nicht mehr bauen, bestimmte Sozialleistungen nicht mehr auszahlen darf, dann wird man sich der Kronjuwelen erinnern. Und sie verteidigen. Oder eben mit breiter Mehrheit ein gemeinsames europäisches Haus mit von allen akzeptierten und gelebten Regeln und gemeinsamen Juwelen schaffen. | Article | , Reinhard Müller | 2021-12-07T00:00:00 | 2012-09-10T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/144116/haushaltsautonomie-des-parlaments-kronjuwel-ade-essay/ | Das Budgetrecht des Parlaments gilt als dessen "Kronjuwel". Neu ist die Möglichkeit jedes Bürgers, eine Aushöhlung dieses Rechts zu verhindern. Das ist ein Phänomen der immer enger werdenden europäischen Einigung. | [
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About us | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de |
The site enables anyone interested to obtain basic information on participatory budgeting (PB), or find out more about current PB projects in the German-speaking countries and worldwide. Users can also obtain practical tips and materials for implementing PB, and profit from the lessons learned by other expert PB practitioners.
The English version of the website contains a selection of texts from the Interner Link: German version. It is designed to provide all interested parties outside the German-speaking countries with an overview of the current debates, trends, challenges and development status of PB in Germany.
If you have a suggestion to make, please send us an E-Mail Link: e-mail.
We look forward to hearing from you!
Svetlana Alenitskaya (Federal Agency for Civic Education)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-11-18T00:00:00 | 2022-09-22T00:00:00 | 2022-11-18T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/513347/about-us/ | This website – formerly also known as Buergerhaushalt.org – is Germany’s online portal for anyone interested in participatory budgeting and related issues. | [
"Bürgerhaushalt – Bürgerbudget"
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Editorial | Zeitverwendung: Männer, Frauen, Kinder | bpb.de | Zeit ist zu einem knappen Gut geworden. Sowohl im Erwerbs- als auch im privaten Bereich herrschen Zeitdruck, Zeitnot oder Zeitstress. In der Informationsgesellschaft geht nicht nur alles viel schneller, sondern es müssen auch immer mehr und immer komplexere Aufgaben bewältigt werden. Das gilt für alle Lebensbereiche. Hinzu kommt die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, Privatem und Öffentlichem. Sie werden porös, der private Raum verliert mehr und mehr seine Schutzfunktion, die Zeit für die Pflege sozialer Beziehungen verringert sich. Lebensqualität hat auch mit Zeit zu tun. Nach den Kriterien der neuen Bewegung für Zeitpolitik verfügt über Zeitwohlstand, wer über die eigene Zeit selbst bestimmen kann, wer Zeit für sich und andere Menschen, für Beziehungen und Bindungen hat. Helga Zeiher regt in ihrem Essay dazu an, anhand dieser Kriterien Optionen für neue Balancen von Arbeit und Leben zu prüfen. Soziale Beziehungen werden immer stärker aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen herausgelöst, gleichzeitig erfolgt eine Entgrenzung von Raum und Zeit. Dementsprechend hat nach Karlheinz A. Geißler die Zeit ihren Ort und der Ort seine Zeit verloren, werden Orte und Zeiten flexibler, beherrscht die Entgrenzung von Raum und Zeit die Dynamik der Lebensverhältnisse - überall. Mit der Erweiterung der Handlungsfreiheiten geht zugleich ein Verlust der sozialen Rhythmik einher, gehen Kontinuität und gemeinschaftlicher Zusammenhalt verloren. Skeptische Beobachter, zu denen Geißler zählt, sprechen in diesem Zusammenhang vom "Ende des Sozialen" und warnen vor absehbaren und unabsehbaren Folgen. Zeit gestalten heiße, Beziehungen zu gestalten - meint Christel Eckart. Neue Konzepte von Arbeit und Zeit seien daran zu messen, ob und wie sie den Bürgerinnen und Bürgern Ressourcen zur Verfügung stellen, die ein Engagement ermöglichen: sowohl außerhalb der Erwerbs- als auch außerhalb der Familienarbeit. Beziehungen seien nicht auf zwischenmenschliche Fürsorge im privaten Bereich beschränkt, sondern wesentlicher Teil menschlicher Kommunikation und Interaktion. Ihre Entfaltung setze entsprechende soziale Bedingungen voraus. Trotz gestiegenen Zeitdrucks wenden die Deutschen heute weniger Zeit für Erwerbs- und Hausarbeit auf als noch vor zehn Jahren. Ein Grund dafür ist der Rückgang der Zahl der Erwerbsarbeitsplätze bei gleichzeitiger Zunahme des Anteils älterer Menschen. Dass auch weniger Hausarbeit geleistet wird, erklärt Claudia Pinl mit der rückläufigen Zahl der Geburten bei gleichzeitig steigendem technischen Standard der Haushalte: "Es gibt mehr Geschirrspülautomaten und weniger Kinder." Dessen ungeachtet hat sich bei der Aufteilung der Hausarbeit nichts oder so gut wie nichts verändert - ein Ergebnis, zu dem auch Vera Hewener kommt. Außerdem gehen Frauen mit Zeit anders um als Männer. Sie nehmen Zeit intensiver wahr und gestalten sie bewusster als diese - so die Autorin. Männer werteten Zeit stärker als Produktionsgröße; der metaphysische Aspekt der Zeit sei bei ihnen schwächer ausgeprägt als bei den Frauen. Ludwig Heuwinkel skizziert die Entwicklung der Geschichte der Zeit vom Mittelalter bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Während noch bis zum Spätmittelalter das Prinzip der Langsamkeit herrschte, sind moderne Gesellschaften durch Beschleunigungsprozesse gekennzeichnet - mit positiven und negativen Folgen. Der Autor setzt sich damit auseinander, wie Menschen heute Zeit erleben, wobei er einen Akzent auf die negativen Folgen der Beschleunigung legt. | Article | Katharina Belwe | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28173/editorial/ | Zeit ist zum knappen Gut geworden. Es geht heute nicht nur alles viel schneller, es müssen auch immer mehr und immer komplexere Aufgaben in gleich gebliebener Zeit bewältigt werden. | [
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Demokratie | ABDELKRATIE | bpb.de | Dies ist eine Übersetzung Interner Link: dieses Textes in Einfacher Sprache.
Das Wort Demokratie kommt aus der griechischen Sprache. Es bedeutet, dass alle Bürgerinnen und Bürger über viele Themen mitentscheiden. Diese Entscheidungen können dann zu Gesetzen werden. Man sagt dazu auch "Herrschaft des Volkes". Man sagt Volk, wenn man damit die Bürgerinnen und Bürger eines Landes meint.
Demokratie ist auch eine Regierungsform. Damit kann man beschreiben, wie ein Staat funktioniert. Damit das Zusammenleben zwischen Menschen in einem Staat gut funktioniert, muss es Gesetze geben. In einer Demokratie können Bürgerinnen und Bürger zusammen kommen und miteinander über die Gesetze entscheiden. Wenn eine Mehrheit für ein bestimmtes Gesetz ist, dann gilt das für alle. Wichtig dabei ist, dass alle die gleichen Rechte haben. Auch die Freiheit von allen Bürgerinnen und Bürgern muss gesichert sein.
Die Demokratie gibt es schon sehr lange. Vor langer Zeit haben die Menschen in Griechenland die Demokratie erfunden. Auch damals haben sich die Menschen getroffen und über Gesetze gesprochen. Die Menschen haben sich zum Beispiel auf dem Marktplatz getroffen. Sie haben miteinander gesprochen und über viele Sachen entschieden. Man sagt dazu auch direkte Demokratie. Damals hat das gut geklappt, weil die Staaten sehr klein waren. Heute funktioniert Demokratie anders.
Was ist eine moderne Demokratie?
Die Demokratie ist nicht immer einfach. Manche sagen, dass die Mehrheit nicht immer Recht hat. Oder dass manche Politiker die Menschen beeinflussen, damit Sie ihrer Meinung sind. Deswegen gibt es in der modernen Demokratie verschiedene Lösungen, damit alles gerecht zugeht.
Die moderne Demokratie ist in den USA entstanden. Man sagt dazu auch repräsentative Demokratie. In den USA wählt das Volk den Präsidenten. Das bedeutet, dass das Volk eine wichtige Entscheidung treffen kann. Diese Entscheidung wird durch Wahlen getroffen. Diese Wahlen sind frei. Es gibt auch mehrere Kandidatinnen und Kandidaten, die man wählen kann. Der Präsident hat dann sehr viel Macht. Er kann sehr viel entscheiden, aber nicht alles.
Denn in einer modernen Demokratie wird die Macht geteilt. Das bedeutet, dass es verschiedene Abteilungen gibt. Diese Abteilungen sind für verschiedene Bereiche verantwortlich. Es gibt genau drei Abteilungen. Man sagt dazu auch Gewalten. Weil diese Gewalten geteilt werden, spricht man auch von Gewaltenteilung. Die unterschiedlichen Gewalten heißen:
Die gesetzgebende Gewalt.
Die ausführende Gewalt.
Die rechtsprechende Gewalt.
Die gesetzgebende Gewalt nennt man auch die Legislative. Dabei geht es um Gesetze. Die Menschen in einem Staat müssen wissen, was erlaubt ist und was nicht. Zum Beispiel: Fahren ohne Führerschein ist nicht erlaubt.
Die ausführende Gewalt nennt man auch die Exekutive. Sie soll die Gesetze im Alltag umsetzen und aufpassen, dass sich alle daran halten. Zum Beispiel passt die Polizei auf, dass nur Menschen mit einem Führerschein mit einem Auto fahren.
Die rechtsprechende Gewalt nennt man auch die Judikative. Diese Gewalt kann Menschen bestrafen, wenn sie sich nicht an Gesetze halten. Zum Beispiel: kann ein Gericht eine Strafe aussprechen, wenn jemand ohne Führerschein mit einem Auto gefahren ist.
Diese drei Gewalten kontrollieren sich gegenseitig. So wird in der Demokratie aufgepasst, dass nicht nur reiche Menschen Recht bekommen. Oder dass eine Mehrheit etwas beschließt, was für andere Menschen ungerecht ist.
Wie ist Demokratie in Deutschland entstanden?
Die Demokratie in Deutschland gibt es im Vergleich noch nicht sehr lange. Einmal schon hat es in Deutschland die Demokratie gegeben. Zu dieser Zeit sagte man: Die Weimarer Republik. Es war eine sehr schwere Zeit für die Menschen in Deutschland. Es gab wenig Arbeit und die Menschen hatten kein Geld. Viele Parteien haben den Menschen gesagt, dass es besser wird, wenn sie gewählt werden. Zum Beispiel auch die Nationalsozialisten. Man sagt auch Nazis. Dann haben die Nazis die Wahlen gewonnen. Sie haben die Demokratie abgeschafft. Es gab keine freien Wahlen mehr. Viele Menschen wurden eingesperrt und ermordet. Die Nazis haben auch einen Krieg angefangen. Dazu sagt man auch der Zweite Weltkrieg. In dem Krieg sind sehr viele Menschen gestorben. Das darf nie wieder passieren.
Deswegen wollten die Menschen in Deutschland ein neues Gesetz. Das nennt man auch das Grundgesetz. Das gibt es seit dem Jahr 1949 in Deutschland. Im Grundgesetz steht, dass Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist. Damit ist gemeint: In Deutschland soll es eine Demokratie geben. Und der Staat muss sich um seine Bürgerinnen und Bürger kümmern. Dazu sagt man auch freiheitliche demokratische Grundordnung. Das bedeutet, dass man diese Grundordnung immer beibehält und sie nicht abwählen kann.
Im Grundgesetz steht auch: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das bedeutet, dass die Bürgerinnen und Bürger von Deutschland darüber entscheiden, wer wichtige Aufgaben im Staat übernehmen soll. Diese Entscheidungen werden durch freie Wahlen getroffen. Damit alles gerecht zugeht, gibt es in Deutschland auch die Gewaltenteilung. Es wird also geprüft, ob die Entscheidungen und Gesetze rechtens sind.
Im Grundgesetz steht noch viel mehr. Zum Beispiel die Menschenrechte. Dazu sagt man auch Freiheitsrechte. Dazu gehört zum Beispiel: Frei seine Meinung sagen, frei seine Religion ausüben oder wohnen wo man möchte. Der Staat ist dafür verantwortlich, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Freiheitsrechte nutzen können. Das hat sehr viel mit dem ersten Artikel im Grundgesetz zu tun. Dort steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das bedeutet, dass jeder Mensch immer wertvoll ist. Die Würde des Menschen darf nicht verletzt werden. Der Staat muss deswegen jeden Menschen schützen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt in einem demokratischen Staat.
Wie funktioniert Demokratie in Deutschland?
Die Demokratie in Deutschland funktioniert etwas anders als in den USA oder in Frankreich. In diesen Ländern wählen die Menschen die Präsidentin oder den Präsidenten. Man sagt dazu auch repräsentative Demokratie.
In Deutschland gibt es eine parlamentarische Demokratie. Das bedeutet, dass die Bürgerinnen und Bürger alle vier Jahre wählen, wer in das Parlament kommt. Das Parlament in Deutschland heißt Bundestag. Im Bundestag arbeiten Abgeordnete. Die Bürgerinnen und Bürgern haben die Abgeordneten als ihre Vertreter gewählt. Deswegen nennt man Abgeordnete auch Volksvertreter. Die Abgeordneten wählen dann die Kanzlerin oder den Kanzler. Die nennt man dann auch Regierungschefin oder Regierungschef.
Was ist noch bei Demokratie wichtig?
Ein demokratischer Staat kann nur funktionieren, wenn alle mitmachen. Dabei ist es wichtig, dass man über verschiedene Interessen miteinander reden und auch streiten kann. Dazu gehört auch, dass Menschen auch unterschiedlicher Meinung sind. Das ist manchmal schwierig. Aber Demokratie kann man auch lernen. Wenn die Menschen einander zuhören, können manche Probleme besser gelöst werden.
In der modernen Demokratie sind Gleichheit und Freiheit für alle Menschen sehr wichtig. Es sollen alle Menschen mitbestimmen können, was in dem Staat passiert. Das alles für alle Menschen zu schaffen, ist schwierig. Deswegen sagen manche, dass Demokratie kompliziert ist. Denn manchmal dauert es länger, bis eine Entscheidung getroffen wurde. Dann sind nicht immer alle mit der Entscheidung zufrieden. Manche Menschen stört es auch, dass sie nicht immer direkt mitentscheiden können. Und die Entscheidungen von Abgeordneten getroffen werden.
Manche Politiker sagen dann: Wir müssen die Demokratie einfach machen. Aber einfache Lösungen sind nicht immer besser. Manchmal ist es klug, geduldig zu sein. Dann ist eine Lösung für alle Menschen gut. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-09T00:00:00 | 2020-05-15T00:00:00 | 2022-02-09T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/politisches-system/abdelkratie/309980/demokratie/ | Hier findest Du Hintergrundinfos zu Abdelkarims Video "Demokratie" in einfacher Sprache. | [
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Emotionen in der kulturellen Bildung | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de | Im Vorfeld des Buko haben wir mit Anne Pallas und Andrea Gaede (Geschäftsführung) vom Externer Link: Landesverband Soziokultur Sachsen e.V. darüber gesprochen, welche Rolle Emotionen in der kulturellen Bildung spielen, wo sie ihrer Meinung nach die Verbindung zwischen kultureller und politischer Bildung sehen und ob in der kulturellen Bildung Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland festzustellen sind.
Beim Kongress geht es um das Thema "Emotionen in Politik und Gesellschaft". Inwiefern sind Emotionen in der kulturellen Bildung ein besonders relevantes Thema?
Neurowissenschaftlich betrachtet spielen Emotionen ja in jedem Bildungsprozess eine Rolle, weil sie sich bspw. motivierend oder demotivierend auf den Lernprozess auswirken. Ohne emotionalen Zugang ist es ungleich schwieriger, vermitteltes Wissen aufzunehmen und zu verarbeiten. In den Arbeitsfeldern der kulturellen Bildung wird explizit mit Emotionen gearbeitet. Diese sind oftmals sogar Arbeitsgrundlage, wenn es bspw. um körperlichen Ausdruck geht oder um das Hineinversetzen in Rollen bzw. Personen (Stichwort: Perspektivenwechsel oder Mitgefühl). Die Ansätze und Methoden kultureller Bildung basieren auf sinnlichem Erleben und Erfahren; sie können dabei unterstützen mit den eigenen Empfindungen umzugehen und sie erzeugen ein Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Inwiefern sehen Sie Berührungspunkte zwischen kultureller und politischer Bildung?
Kulturelle und politische Bildung berühren sich besonders dort, wo es um die Vermittlung von Demokratie als Lebensform – oder anders ausgedrückt – um die Ausprägung einer demokratischen Haltung geht. Einen respektvollen Umgang miteinander, das Verständnis für unterschiedliche Mentalitäten oder die Nutzung von Mitgestaltungs- und Einflussmöglichkeiten muss man erfahren und ausprobieren können, um sie zu verinnerlichen und als sinnstiftend anzunehmen. Eine Methode ist zum Beispiel das Forum-Theater. Im Verständnis der sächsischen Soziokultur sind übrigens kulturelle und politische Bildung Partner, die sich wechselseitig ergänzen. Man könnte ganz vereinfacht sagen: Die politische Bildung gibt das Thema, die kulturelle Bildung liefert den Zugang.
Sie haben im Herbst letzten Jahres eine Tagung veranstaltet, bei der es um Kulturelle Bildung in Ost- und Westdeutschland ging und dabei sind Sie auf große Unterschiede gestoßen. Worin besteht denn der Unterschied im Kulturverständnis in Ost und West?
Auf den Punkt gebracht würden wir folgende, durchaus streitbare These formulieren:
Kulturelle Bildung im Osten ist in der Tendenz lebensweltlicher und gemeinschaftsbildender orientiert und wendet sich stärker der Gesellschaftsbildung zu. Kulturelle Bildung im Westen dagegen ist in der Tendenz stärker künstlerisch-ästhetisch orientiert und wendet sich stärker der individuellen Persönlichkeitsbildung zu.
Der Unterschied drückt sich vor allem in Tendenzen aus oder sagen wir, es gibt einen bestimmten Habitus kultureller Prägung, der eher typisch ostdeutsch oder westdeutsch sein könnte. Diese Einschätzungen beruhen noch auf Beobachtungen und Erfahrungen. Eine vertiefte wissenschaftliche Analyse steht dazu noch aus. Zum Beispiel gibt es im Osten eine spannende Ambivalenz im Hochkultur- und Breitenkulturverständnis, das sich von dem Westdeutschlands unterscheidet. Während im Westen mit der 68er Bewegung der affirmative Hochkulturbegriff geprägt und hinterfragt wurde, in dessen Windschatten sich auch die Soziokultur als Gegenentwurf entwickeln konnte, stand die Hochkultur im Osten so nie unter Verdacht. In der DDR konnte sich eher ein Hochkulturideal halten, weil es die Vorstellung des vollendet gebildeten Bürgers beinhaltete. In diesem Verständnis ist die Kultur nicht affirmativ, sondern visionär und bezieht sich auf das in der Zukunft zu erreichende Ziel einer besseren Gesellschaft. Diese Prägungen wirken auch heute noch und haben im Osten ein tendenziell anderes Hochkulturverständnis halten können.
Auf der anderen Seite existierte in der DDR ein sehr lebensweltlicher und viel breiter gefasster Kulturbegriff, der von Alltagskulturen und einer ausdifferenzierten Breitenkultur getragen wurde. Die Jugendarbeit gehörte genauso zur Kulturarbeit, wie Artistik und Zauberei. Die verbindende Klammer war, dass Kultur in der DDR generell eine hohe Bedeutung zugeschrieben wurde und Hoch- und Breitenkultur Hand in Hand gingen. Dieses Verständnis hat auch heute noch Spuren hinterlassen - ein breiterer Kulturbegriff mit gleichzeitiger Nähe zur Hochkultur. Übersetzt heißt das z.B. für die Sparte Soziokultur, dass sich die Akteure noch nie als Gegner der Hochkultur empfunden haben und unter Kulturarbeit auch Gemeinwesenarbeit, Jugendarbeit und Sozialarbeit verstehen. Wenn man dann die Geschichte der Kulturellen Bildung in Ost und West vergleicht, wird der wesentliche Unterschied im Grundverständnis noch einmal deutlich. Während sich in der alten Bundesrepublik die Kulturelle Bildung vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Individualisierung entwickelte, stand die kulturelle Bildung bzw. das künstlerische Volksschaffen in der DDR für die Formung einer Menschengemeinschaft, die gemeinsam nach höheren Werten streben sollte.
Kommen diese Aspekte auch bei dem Workshop, den Sie beim Bundeskongress anbieten werden zum Tragen?
Selbstverständlich! | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-01-24T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/284491/emotionen-in-der-kulturellen-bildung/ | Im Vorfeld des Buko haben wir mit Andrea Gaede und Anne Pallas (Geschäftsführung) vom Landesverband Soziokultur Sachsen e.V. darüber gesprochen, welche Rolle Emotionen in der kulturellen Bildung haben, wo sie ihrer Meinung nach die Verbindung zwisch | [
"Emotionen"
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Module 2: Why knowledge about the EU is important – what are the consequences if people have little or no knowledge about the EU and its tasks? | Europawahl 2019 (mehrsprachig) | bpb.de | Learning objectives
The students …
are able to analyse the campaigning in advance of the Brexit referendum by means of different material (cartoon, statements, text, expert’s interview). They see that the campaigning tended to base on emotionality as well as lies and half-truths respectively are able to deduce – supported by information delivered in an expert’s interview – why it is important to understand and to be informed when it comes to political decisions deal with their opinions on and attitudes towards Europe – maybe even with other EU citizen’s opinions, depending on the type of survey. Moreover, the students address their knowledge about the Elections to the European Parliament get to know methods of empirical social research and learn about the relevance of surveys collect data and deduce correlations by using methods of empirical social research apply statistical methods of data evaluation (simple frequencies/contingency table) and analyse the data with regard to scope, graphic rendition, tendencies, and regularities present the issues and facts they prepared autonomously accurately well as comprehensively by means of selected presentation formats
In the first part of the module, the students engage in the Brexit referendum by way of example. This illuminates the consequences of limited knowledge about the EU. Presumably, many Brits were not aware of the implications and final consequences of Britain’s withdrawal from the EU. This may be the reason for the success of the campaigns that were based on emotionality and half-truths.
Introduction: Cartoon concerning Brexit campaigning
Yummy (© Externer Link: Brian Adcock)
At the beginning the students occupy themselves with a cartoon (Interner Link: M 02.01) concerning the campaigning before the Brexit referendum. The cartoon illustrates that scaremongering and lies were used in the campaigning.
Working Phase: Based on this finding, the students analyse the material (Interner Link: M 02.02) “All Lies?” with regard to headlines and statements from the Brexit campaigning. Students scrutinise the validity of the statements by searching the Internet, and assess the campaigning’s strategies.
The material allows for an internal differentiation. While some statement’s validity can be checked fairly quickly, this is rather difficult for other statements. Thus, the decision which and how many statements are checked can be left to the students. Subsequently, the results are gathered in class.
Even if some statements are too complex to allow for clear classifications as lies, it becomes clear that campaigning was driven by half-truths and superficial statements that did not wholly encompass the respective issue. The aim was to stir up the public and fill stereotypes. Top-performing students may be given the opportunity to scrutinise the issue in more detail.
The validity as well as the analysis of the campaign’s strategies are addressed in the discussion of the results.
Teachers can get background information concerning the assessment and classification of the statements with the help of material Interner Link: Info M 02.02.
In case there is only little time available or the class is rather weak, this material can be left out. Alternatively, the results of the Brexit referendum can be addressed right after the introduction on base of the cartoons.
When addressing the results of the Brexit referendum, students investigate the actual turnout.
Working Phase: How did Britain vote?
Brexit Results (© Team Research with GrafStat)
The students analyse the turnout and results of the Brexit referendum with the help of selected diagrams (Interner Link: M 02.03). The analysis elucidates unequivocal tendencies among different population group (depending on age, educational achievement or political party preference) to vote remain or leave. The material can be worked on by means of the worksheet individually or by making use of the Interner Link: Think-Pair-Share format.
After discussing the results in class, a new question arises: In how far did knowledge about the EU or the very lack thereof influence the Brexit decision and the campaigns’ effectiveness.
The Bogeyman von Christian Adams (© Telegraph Media Group Limited 2016)
Material Interner Link: M 02.04 is a text deepening the understanding by elaborating on the details of the campaigning as well as on the role of knowledge and information in political decision-making processes. The Brexit’s actual consequences were probably widely unknown to the public. (Result: reliance on campaign’s accuracy)
Additional material: Interner Link: Expert’s interview: Prof. Dr. Oliver Treib (Münster University)
In the interview, Professor Treib (political scientist, Chair of Comparative Policy Research and Methods of Empirical Social Research at Westfälische Wilhelms-Universität, Münster) addresses this question. He elaborates on many aspects about the Brexit referendum students already know from Interner Link: Module 2. Moreover, he specifies the role of knowledge and information for the public by media and politics prior to political decision-making processes, e.g. prior to a referendum.
Thus, the interview is a base for memorising and consolidation.
The bottom line of the first part of this module is that knowledge about the EU is crucial, especially for making responsible political decisions.
Survey Project During the second part of the module, students investigate their very own knowledge about the EU and about the Elections to the European Parliament in class or in public: Which opinions on and attitudes towards the EU are prevailing?
Transition: The question leading over from the first to the second part of the module could be: “How good is the general knowledge about the EU and its tasks? How can we find out about what people know and think about the EU?”
In class, possibilities for examining the question are sought after. Students will possibly enumerate surveys as one way to investigate the issue.
Subsequently, a survey addressing the “attitudes towards and knowledge about the EU” can be planned, conducted and analysed.
German-speaking classes can use the software Externer Link: GrafStat (free of charge for public education sector) as a tool. An English Version is available on demand (mailto:uwe.diener@grafstat.de) for a low fee (educational discount).
Students can plan and realise the survey’s conduction and analysis autonomously.
There is a model questionnaire Interner Link: (M 02.05) available, providing appropriate items for interrogating the attitudes towards and the knowledge about the EU. The model questionnaire is available as PDF and as GrafStat questionnaire (ZIP file) and can be modified by students with the help of the software, if necessary (deleting existing questions, adding new ones, etc.).
In case the teacher wants their students to create their very own questionnaire, we recommend searching for similar surveys in advance.
This allows for following tested items when designing the questionnaires. Moreover, during the data analysis one has recourse to comparison data.
A collection of helpful information concerning the Interner Link: use of the GrafStat software in class (creating questionnaires, planning surveys, analysis of data, etc.) can support the planning and conduction of the survey.
Worksheet Data Analysis (© Team Research with GrafStat)
There are aids available (Interner Link: M 02.06 and Interner Link: M 02.07) that seek to support the analysis and interpretation of data.
The analysis of data may be performed in group work.
Groups can be composed according to the questionnaire’s following subject matter:
Group I: Attitude towards the EU: Questions 5 to 8, and 29 Group II: Being informed about the EU: Questions 9 to 12, and possibly 13 Group III: Knowledge about the EU: Questions 14 to 18 Group III: Interest and reliance on Europe: Questions 22 to 27 Group IV: Attitude towards the Elections to the European Parliament: Questions 19 to 21, and 28
For the analysis the following questions may serve as additional superordinate central questions:
What is the relation between knowledge about the EU and attitudes towards the EU? Positive or negative? (contingency table) Does the comparison of the generations show any differences? (contingency table) Do we have to know more? (knowledge questions) etc.
(© Team Research with GrafStat)
Finally, the results of the data analysis are presented in class. The groups may use Interner Link: growing posters for preparation. In a Interner Link: gallery walk may the students present and elucidate their results.
The following module is about the acquisition of knowledge about the EU and the Elections to the European Parliament.
A Interner Link: summary table concerning the schedule of this module is available.
Yummy (© Externer Link: Brian Adcock)
Brexit Results (© Team Research with GrafStat)
The Bogeyman von Christian Adams (© Telegraph Media Group Limited 2016)
Worksheet Data Analysis (© Team Research with GrafStat)
(© Team Research with GrafStat)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-03T00:00:00 | 2018-12-04T00:00:00 | 2022-02-03T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/europawahl-2019-grafstat/281894/module-2-why-knowledge-about-the-eu-is-important-what-are-the-consequences-if-people-have-little-or-no-knowledge-about-the-eu-and-its-tasks/ | TEASERTEXT FEHLT | [
"European Election 2019",
"european union"
] | 294 |
Bildung und Kultur | Großbritannien | bpb.de | Einleitung
Mit dem Education Act von 1944 (Butler Act) sollte im Geiste der Wahrnehmung staatlicher Verantwortung für die Gesellschaft das Recht aller jungen Britinnen und Briten auf eine umfassende Bildung gesichert werden, ohne Ansehen der Person und vor allen Dingen unabhängig vom Vermögen, dem Einfluss oder der sozialen Stellung der Eltern. Durch dieses Gesetz wurde erstmals auch ein Ministerium für das Erziehungswesen eingerichtet, dem aber in erster Linie eine Schieds- und Überwachungsfunktion auf dem Felde der Bildungspolitik zukommen sollte. Die eigentliche Schulverwaltung blieb in den Händen der kommunalen Schulbehörden (Local Education Authorities, die LEAs). Die LEAs bauten die Schulen, stellten die Lehrer ein und beschafften die Lehrmittel. Die Lehrpläne wurden in der Regel im Auftrag der LEAs von den leitenden Lehrkräften vor Ort in Zusammenarbeit mit den dort ansässigen Universitäten erstellt. Die britischen Lehrerinnen und Lehrer sind Angestellte. Ihre Verträge sind kündbar, und sie haben das Recht zu streiken. Aufgrund der von der Londoner Regierung in den 1980er Jahren erfolgreich vorgegebenen Ausgabenbegrenzungen für den Etatposten Lehrergehälter gehören heute die britischen Lehrergehälter zu den niedrigsten Europas. Dies ist ein wichtiger Grund für den zum Teil akuten Lehrermangel an britischen Schulen.
Schulwesen
Die allgemeine Schulpflicht beginnt im Alter von fünf Jahren. Bis zum Alter von in der Regel elf Jahren besuchen die Kinder die Grundschule. Danach werden sie mindestens bis zum Alter von 16 Jahren an weiterführenden Schulen unterrichtet. Durch die entsprechenden politischen Initiativen der Labour-Regierungen in den 1970er Jahren sind heute über 90 Prozent der staatlichen weiterführenden Schulen Gesamtschulen (comprehensive schools). Daneben blieb in einigen wenigen Gemeinden das gegliederte Schulsystem mit dem Gymnasium (grammar school) bzw. der Realschule (secondary modern school) als weiterführenden Schulen erhalten. Außerhalb des staatlichen Sektors gibt es ein breit ausgebautes privates Schulwesen (public schools), zum Teil auch in der Form von Internaten. Die führenden Privatschulen, wie Eton, Charterhouse, Ampleforth, titel3es College und andere sind die weitaus besten Schulen im Lande.
Alle Schulen sind Ganztagsschulen. Die Schülerinnen und Schüler nehmen hier ihre Mittagsmahlzeiten ein, und in der Regel werden auch ihre Hausaufgaben betreut. Schulsport, Geselligkeit und andere Aktivitäten, die das Gemeinschaftsgefühl stärken, haben einen großen Stellenwert. Eine Reihe von Traditionen hat bis auf den heutigen Tag hartnäckig überlebt, wie beispielsweise das Tragen von Schuluniformen, der Talar des Rektors oder das Schulgebet.
Schulabschlüsse werden in Großbritannien in weniger Fächern erworben als in Deutschland. Die Reformgesetzgebung des Jahres 1950 beendete die Orientierung der Abschlussprüfungen an einer Reihe von Kern- und Nebenfächern. Prüfungen für das damals eingeführte General Certificate of Education (GCE) können seit 1951 in ausgewählten Fächern im Alter von 16 Jahren auf dem O-Level (ordinary level = mittlere Reife) und im Alter von 18 Jahren auf dem A-Level (advanced level = Abitur) abgelegt werden. Das Bestehen von vier Fächern in einem O-Level-Examen stellt einen guten Durchschnitt dar. Eine der Voraussetzungen für das Studium an den Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge sind drei sehr gut bestandene A-Level-Prüfungen. Die Spezialisierung der Schülerinnen und Schüler auf weniger Prüfungsfächer führt dazu, dass das Niveau der A-Level-Prüfungen in diesen Fächern anspruchsvoller ist als das deutsche Abitur. Aber das Wissen der Schüler ist weniger umfassend als das ihrer deutschen Altersgenossen. Die Idee, dass die Breite des Bildungsangebots besser berücksichtigt werden sollte, führte zur Einführung des ergänzenden AS-Levels bei Abschlussprüfungen. Mit geringerem Zeitaufwand (etwa mit der Hälfte der Zeit, die ein Schüler für eine A-Level-Prüfung benötigt) sollen beispielsweise naturwissenschaftlich begabte Jugendliche die Möglichkeit wahrnehmen, eine Fremdsprache zu erlernen.
Seit 1965 gab es für weniger begabte Schüler die Möglichkeit, ihr Examen nach den Standards des Certificate of Secondary Education (CSE) abzulegen. Damit sollte vermieden werden, dass, wie zuvor, ein großer Teil der 16jährigen Schulabgänger sich ohne bestandene Prüfungen auf dem Arbeitsmarkt um einen Arbeitsplatz bemühen musste. Die Bestnote des CSE entsprach in etwa einem O-Level-Examen. Seit Herbst 1986 wurde der Mittlere Reife-Abschluss vereinheitlicht und so umstrukturiert, dass jeder Schulabgänger einen Leistungsnachweis erhalten kann. Das neue GCSE (General Certificate of Secondary Education) ersetzte das CSE und die O-Levels. Es betont stärker künstlerische, technische und handwerkliche Fertigkeiten. Hinzu kommt das Einbeziehen schulischer Leistungen im Unterrichtsjahr, die früher bei den von den Schulbehörden extern gestellten Abschlussprüfungen keine Rolle spielten.
Berufliche Bildung
Nach der Schule wurden schlecht ausgebildete Jugendliche lange Zeit auch nicht von einem System beruflicher Bildung aufgefangen. Vor 1980 waren die Berufsbildung oder Kontakte zwischen Schule und Industrie so gut wie unbekannt. Üblich war das Anlernen der jungen Leute in den Betrieben, in denen sie Arbeit fanden. Der Anteil der ungelernten Arbeiter an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen betrug fast zwei Drittel.
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre lag der Schwerpunkt der Ausbildungsförderung für Jugendliche noch bei finanziellen Anreizen für einstellungswillige Betriebe. Von staatlicher Seite wurde aber auch erstmals der Versuch gemacht, verbindliche Standards für die berufliche Bildung zu etablieren. Der Nationale Rat für berufliche Bildung (National Council for Vocational Qualifications) legte fünf Stufen der beruflichen Qualifikation fest: Routinearbeiten (routine); Selbständiges Arbeiten (operative); Handwerkliches Arbeiten (craft); Techniker (technician) und Experte (professional). Auf lokaler Ebene organisierte das Netzwerk der von den Unternehmen und vom Staat getragenen Qualifizierungszentren (Training and Enterprises Councils) öffentliche Ausbildungsprogramme. Alle Schulabgänger erhielten Ausbildungsgutscheine (Youth Credits), mit denen sie sich Ausbildung bis mindestens zum zweiten Niveau (selbständiges Arbeiten) auf dem freien Markt bei einem Anbieter ihrer Wahl kaufen konnten. Kurz nach Einführung der NVQs boten bereits 30 Prozent der Unternehmen einigen oder allen ihrer Angestellten die Möglichkeit, sich für NVQs zu qualifizieren. Unbefriedigend blieb aber, dass NVQs meist nur auf den unteren Niveaus erworben wurden.
Neben dem NVQ-Programm wurde auch ein Lehrlings-Programm aufgelegt, das für handwerkliche und technische Berufe qualifizierte. Finanzielle Anreize wurden zusätzlich für die betriebliche Ausbildung geschaffen. Ausbildungsbetriebe konnten ihre Arbeitsverträge mit den Auszubildenden und deren Bezahlung abweichend von gesetzlichen Bestimmungen zu ihren Gunsten gestalten und erhielten öffentliche Anerkennung durch Preise und Auszeichnungen. All dies ersetzt noch nicht ein nationales System der beruflichen Bildung. In Großbritannien bleiben die Möglichkeiten auf diesem Sektor weiterhin vor allem eine Ermessensfrage, die die Betriebe beantworten müssen. Schulreform
Ebenso wie im Gesundheitswesen sollten es im Schulwesen nach Wunsch der Regierung Thatcher marktwirtschaftliche Mechanismen ermöglichen, die Effizienz der staatlichen Aufgabenwahrnehmung zu erhöhen. Eine Reform des Schulwesens wurde aus Regierungssicht vor allem von den Kommunen, in deren Mehrzahl die Konservative Partei keine Mehrheit hatte, und von deren LEAs blockiert. Per Parlamentsgesetz wurde 1979 den kommunalen Schulbehörden verboten, die ihnen unterstellten Schulen zu zwingen, sich in Gesamtschulen umzuorganisieren. Ein Jahr später erhielten die Eltern das Recht der freien Schulwahl. Den LEAs wurde 1990 das Argument genommen, die freie Schulwahl scheitere an der Aufnahmefähigkeit der Schulen. Die Kommunen verloren das Recht, die Schülerzahlen der einzelnen Schulen zu bestimmen. Die Schulen sollten nun selbst entscheiden und dabei dem Elternwunsch nach einem Schulwechsel möglichst nachkommen (open enrolment).
Mit der Einführung überwiegend national einheitlicher Lehrpläne Ende der 1980er Jahre und der Einrichtung von 15 City Technology Colleges wurde das Schulwesen weiter zentralisiert. Für die City Technology Colleges, die direkt dem Londoner Erziehungsministerium unterstellt wurden, sollten Sponsoren aus der Industrie gefunden werden. Ihr Ausbildungsschwerpunkt sollte im Bereich der neuen Technologien liegen. Diese Idee einer modernen Alternative zu den weiterführenden Schulen fand aber in der Folgezeit kaum Unterstützung.
Neben seinen Eingriffsmöglichkeiten verstärkte das Londoner Erziehungsministerium auch die Leistungskontrolle. Die Schülerleistungen werden jeweils beim Erreichen der Altersstufen sieben, elf und 14 Jahre nach einer von der Zentralregierung vorgegebenen Acht-Punkte-Skala bewertet. Die Ergebnisse und die Noten für A-Level- und GCSE-Level-Prüfungen bilden die Grundlage für eine Leistungsbewertung sowohl der Schüler als auch der Lehrkräfte. Seit 1992 werden diese in der Form von Ranglisten aller staatlichen Schulen veröffentlicht, die auch Angaben über versäumte Unterrichtsstunden wegen Schulschwänzens und die Nettounterrichtszeit enthalten. Sie dienen den Eltern als Orientierung für die Schulwahl, dem Staat als Kriterium für die Vergabe öffentlicher Mittel und den Schulen als Anreiz im Wettbewerb um Schüler und Finanzen.
Eine noch stärkere Wettbewerbsorientierung erhoffte die Regierung Major von der Herauslösung der Schulen aus der Verantwortung der kommunalen Schulbehörden. Die Eltern sollten sich hierfür freiwillig entscheiden. Die Regierung lockte mit der Aussicht auf großzügige Budgetzuweisungen. Schulen, die direkt aus dem Staatshaushalt durch eine Globalzuweisung finanziert werden, erhalten die Möglichkeit, eigene Tarifgruppen für die Bezahlung ihres Personals zu erstellen und Lehrkräfte eigenständig einzustellen bzw. zu entlassen. Der Zuschuss des Zentralstaats an die Kommunen für weiterhin von den LEAs kontrollierte Schulen orientiert sich seit 1990 an der Schülerzahl. Die kommunalen Schulbehörden wurden verpflichtet, 85 Prozent ihres Budgets (von der Regierung Blair auf 100 Prozent erweitert) direkt an die Schulen weiterzuleiten. Damit erreichen auch diese eine weitgehende Budgethoheit. Durch die Möglichkeit des Eingruppierens von Lehrern in unterschiedliche Tarifgruppen können auch traditionelle Schulen bis zu einem gewissen Grade eigenständige Personalpolitik betreiben. Schulen können ihre Einnahmen in Eigeninitiative, zum Beispiel durch das Vermieten von Räumen oder Sportanlagen, verbessern. Die Regierung Blair eröffnete den Schulen im Bereich der LEAs die Möglichkeit, bei dauerhaft hoher Leistung als Foundation Schools eigenständiger zu operieren.
Die seit 1997 amtierenden Labour-Regierungen haben die Politik der Marktorientierung und der Zentralisierung des Schulwesens fortgeführt. Sie versuchten diese Strategie mit Initiativen zur Verbesserung schulischer Leistungen, zu größerer Schulvielfalt und damit eines passgenaueren Schulangebots sowie dem Abbau sozialer Benachteiligung zu koppeln. Gebiete mit unterdurchschnittlichen Schulleistungen sollten zu Education Action Zones (später Teil der Initiative Excellence in Cities) werden. Jeder Zone wurde ein Zuschuss von 750 000 Pfund zugewiesen, und die teilnehmenden Schulen erhielten größere Freiheiten bei der Bezahlung von Lehrpersonal, um die Besten anzulocken. Sie durften auch die Lehrinhalte verändern, um sie den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler (z.B. Leseschwächen) anzupassen. Schulen sollten sich durch private Sponsoren teilfinanzieren oder durch private Partner betrieben werden. Labour führte die Ausdifferenzierung des Schulsystems durch weitere Schulformen fort. Beacon Schools (Leuchtturmschulen) sollten wegen ihrer weit überdurchschnittlichen Leistungen helfen, lokale Bildungsmärkte zu entwickeln. Specialist Schools sollten sich stärker an lokalen Bedürfnissen ausrichten. Sie dürfen bis zu zehn Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler nach Begabung auswählen. Es bleibt allerdings umstritten, ob die neue Schulfreiheit und -vielfalt die Probleme des Schulwesens, wie die große Zahl der Schulabbrecher, hohe Fehlzeiten von Schülern, fehlende Grundkenntnisse trotz Schulabschluss oder die Trennung der Schüler nach sozialer Herkunft lösen kann. 2007 kündigte die Regierung Brown an, die allgemeine Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr verlängern zu wollen und Jugendlichen einen Anspruch auf eine staatlich vermittelte Lehre einzuräumen.
Universitäten
Auch die Universitäten wurden in der Regierungszeit Margaret Thatchers und John Majors in vielerlei Hinsicht zu Wirtschaftsunternehmen umgebaut. Die ältesten britischen Universitäten, Oxford und Cambridge, wurden im 12. und 13. Jahrhundert gegründet. Im 15. und 16. Jahrhundert entstanden die klassischen schottischen Universitäten: St. Andrews, Glasgow, Aberdeen und Edinburgh. Alle anderen Universitäten wurden im 19. und 20. Jahrhundert gegründet (30 nach 1945), wobei je nach Baustil zwischen den älteren red brick (rote Ziegelstein-)Universitäten und den neueren steel and glass (Stahl- und Glas-)Universitäten unterschieden wird. Seit Mitte der 1960er Jahre kamen die Fachhochschulen (Polytechnics) hinzu, die zunächst kommunal verwaltet und ab 1992 den Universitäten gleichgestellt wurden. Seit 1969 arbeitet eine sehr erfolgreiche Fernuniversität, die Open University , deren Campus sich in Milton Keynes, Mittelengland befindet. Hier können Berufstätige auch ohne formale Hochschulzugangsqualifikation studieren. Es gibt mit der University of Buckingham nur eine, relativ unbedeutende Privatuniversität.
Ende der 1980er Jahre stellte der Staat die Vollfinanzierung der Universitäten ein. Leistungsbewertungen wurden nun zur Grundlage staatlicher Zuschüsse. Die Bewertung der Forschungsleistungen begann in einer ersten Runde 1992 bis 1994, die Evaluierung der Leistungen in der Lehre begann 1995. Nach Abschluss der Bewertung werden Ranglisten veröffentlicht, die den besten Universitäten bzw. den bestbewerteten Fächern erlauben sollen, ihre Marktposition im Wettbewerb um gute Studenten, Geldgeber und ausgezeichnete Forscher zu optimieren. Ziel der neuen Strukturen ist nicht nur die Qualitätskontrolle, sondern auch die Verbesserung der Effizienz der Universitäten, beispielsweise durch Personalabbau, längere Arbeitszeiten für Akademiker oder flexiblere Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl der Akademiker mit Zeitverträgen ist sprunghaft angestiegen. Die Universitäten sind in die Pflicht genommen, in gegenseitiger Konkurrenz um "Kunden", zu denen nicht zuletzt auch gebührenzahlende ausländische Studenten gehören, ihren finanziellen Eigenbeitrag zu erhöhen. Hierzu dienen auch der Verkauf von Universitätseigentum, zum Beispiel von Grundstücken, das Erbringen von Dienstleistungen durch die Universität, Auftragsforschung, die Beratertätigkeit von Universitätsangehörigen und sogar Firmenbeteiligungen und Börsengeschäfte.
Die Finanzierung der Studierenden ist immer noch zu einem großen Teil eine Staatsaufgabe. 1990 wurden aber die von den Heimatkommunen der Studenten bezahlten staatlichen Stipendien eingefroren. Studenten sollten sich zusätzlich benötigte Finanzmittel durch Kreditaufnahme besorgen. Mitte der 1990er Jahre wurde die Höhe der Stipendien weiter gekürzt. Die Regierung Blair führte vom Elterneinkommen abhängige Studiengebühren von jährlich maximal 1000 Pfund ein. Die Folgen dieser Finanzierungspolitik waren unter anderem eine deutliche Verschlechterung der sozialen Lage der Studierenden und eine nachlassende Mobilität, da die Studierenden häufig die finanziellen Belastungen durch Verbleib im Elternhaus zu verringern suchten.
Die Zahl der Studierenden ist aber, trotz der ungünstigeren Bedingungen für ein Studium, nicht rückläufig. Seit 1989 ist es offizielle Politik der Regierung, die Zahl der Universitätsabsolventen zu erhöhen. Die Universitäten behielten aber das Recht, selbst über die Zulassung von Studenten zu entscheiden. Der Staat versucht, die Universitäten dadurch zur Zulassung möglichst vieler Studenten zu bewegen, dass er ihre Finanzierung auch an die Zahl der Studierenden knüpft. Je weniger die Universitäten auf staatliche Gelder angewiesen sind, desto freier sind sie deshalb in der Auswahl ihrer Studenten. Gutsituierte Universitäten können es sich leisten, nur wenige, ausgezeichnete Studenten zuzulassen, eine Politik, die letztendlich ihren guten Ruf festigt und ihnen noch mehr Einkommensmöglichkeiten eröffnet.
QuellentextÖffnung des Elfenbeinturms
[...] Die ehrwürdige britische Elite-Universität Cambridge feiert im kommenden Jahr ihren 800. Geburtstag. Seit 1904 hat die Hochschule mehr als 80 Nobelpreisträger hervorgebracht. Die Aufnahmekriterien sind nach wie vor streng, allerdings hat man schon in den 60er Jahren Latein und Griechisch als Vorbedingung abgeschafft, weil fast nur Schüler aus der sozialen Oberschicht dieses Kriterium erfüllten. Heute denkt man in Cambridge sogar darüber nach, Schülern "Nachhilfe" zu geben, damit sie die Aufnahme-Hürden überspringen. Die Labour-Regierung möchte, dass Cambridge mindestens drei Viertel seiner Plätze an Abgänger der staatlichen Schulen vergibt. Doch dieses Ziel ist bisher nicht erreicht. (ki) [...] Wie hat sich, fragen Besucher aus anderen akademischen Welten staunend, diese Kluft zwischen Staatsschulen und Elite-Universitäten so hartnäckig halten können? Warum hat sich der Riss in den vergangenen zwanzig Jahren eher noch vertieft, statt sich zu schließen? Zahlreiche Bildungsreformen, darunter die Abschaffung der Grammar Schools, der alten Vorzeigeschulen des Staatssektors, haben dazu beigetragen. Schüler der Comprehensives, der britischen Gesamtschulen, konnten sich nie ganz vorstellen, in einem College wie Corpus Christi am rechten Platz zu sein. Ihre Lehrer taten zu wenig, um ihnen die Angst vor dem Sprung zu nehmen. Ihren Eltern war Cambridge unheimlich. Und die Universitäten selbst reichten keine helfende Hand. Privatschulabgänger dagegen, von Anfang an wohl präpariert, konnten am Ende mit weit besseren Noten aufwarten - und betrachteten es als selbstverständlich, um Plätze in Oxford oder Cambridge zu rangeln, und sich den gefürchteten Aufnahme-Interviews zu unterziehen. In jüngster Zeit haben wohl auch neu die eingeführten Studiengebühren in England Kinder aus ärmeren Familien vom Studium abgeschreckt. Was an Beihilfen in den Lehranstalten zur Verfügung steht, ist oft nicht bekannt. Und wer sich aus den unbemittelten Schichten doch zum Studium entschließt, bewirbt sich eher an der nächstgelegenen Hochschule - um billig weiter zu Hause wohnen zu können. Kinder aus besser gestellten Familien müssen hingegen keine Rücksicht nehmen auf Quartier- und Reisekosten. Neuerdings sucht man in Cambridge mit unkonventionellen Mitteln, Staatsschülern die Angst vor der Bewerbung zu nehmen. Lehrer von Staatsschulen werden zu Kursen eingeladen, um sich selbst besser über die Verhältnisse zu informieren und ihre Schüler anschließend zu ermutigen. Nicht nur das Abgangszeugnis selbst, sondern der ganze soziale Schulhintergrund soll zunehmend berücksichtigt werden. Fremdsprachen, bei der mittleren Reife bisher obligatorisch, aber in Staatsschulen immer seltener, sollen künftig nicht mehr Voraussetzung für die Aufnahme sein. Sogar das traditionelle Cambridge-Bewerbungsformular, das zehn Pfund kostete, ist abgeschafft worden. Außerdem trägt sich die Uni mit der revolutionären Idee, Staatsschüler, die die Aufnahme wegen ihres Notenstandes nicht ganz schaffen, in einem Zusatzjahr unter die Fittiche zu nehmen, damit sie bei einem zweiten Anlauf die Hürde überspringen. "Das ist", so der Direktor der Aufnahmestelle, Geoff Parks, "eine der Möglichkeiten, die wir uns derzeit anschauen." Gewisse Sorgen plagen die Cambridge-Hierarchie natürlich, dass solche Maßnahmen Top-Bewerbern aus dem privaten Bereich den Weg nach Cambridge verstellen und die Uni "herausragender Talente" berauben könnten. Die Regierung solle mal nicht allzu viel Druck auf die Universität ausüben, erklärt Cambridges Vize-Kanzlerin Alison Richard. Hochkarätige Universitäten seien "keine Motoren für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit". Die Rolle Cambridges sei es, zu lehren und in der Forschung brillant zu führen, "nicht Probleme sozialer Mobilität zu beheben". Was Professor Richards Mitarbeiter aber nicht daran hindert, sich weiter die Köpfe darüber zu zerbrechen, wie größerer Mobilität im "Elfenbeinturm" diskret auf die Sprünge zu helfen wäre. [...]
Peter Nonnenmacher, "Elite fürs Volk", in: Frankfurter Rundschau vom 5. November 2008
Presse
Großbritannien gilt als ein Land der Zeitungsleser, übertroffen nur von Deutschland, das nach verkaufter Auflage den mit Abstand größten Tageszeitungsmarkt in Westeuropa aufweist. Die Gesamtauflage der (104) Tageszeitungen beträgt, trotz eines Rückgangs um zwei Millionen seit den 1970er Jahren noch rund 12 Millionen Exemplare.
QuellentextMedien und Politik
[...] Das journalistische Selbstverständnis in Großbritannien ist [...] traditionell geprägt von der gesellschaftlichen Verantwortung, die Öffentlichkeit vollständig und rückhaltlos über alle politischen Entscheidungsprozesse zu informieren, aber auch zugleich aktiv gestaltend in die Politik einzugreifen. Ausnahmen von diesem Prinzip betreffen nur die Geheimhaltungspflicht, wie sie im Official Secrets Act von 1989 niedergelegt ist. Das bemerkenswerte Selbstbewusstsein, mit dem britische Journalisten bis heute dieses Ziel verfolgen, hat immer wieder zu Konflikten mit der Regierung geführt, da sich die journalistische Enthüllung von Fakten und der Regierungswille zur Geheimhaltung von Informationen aus politischen Gründen vielfach nicht vereinbaren lassen. Die Neufassung des Official Secrets Act im Jahre 1989 war das Resultat einer scharfen Auseinandersetzung, bei der die Presse wiederholt den Vorwurf an die Regierung gerichtet hatte, unter dem Vorwand nationaler Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten, nur weil diese in Wahrheit für die Regierung selbst höchst peinlich wären. [...] Dennoch hat kein britisches Kabinett jemals ernsthaft die Einführung einer Pressezensur erwogen. An ihre Stelle ist ein ungeschriebenes System von Absprachen getreten, mit dem sich Regierung und Presse über die Veröffentlichung geheimer Informationen verständigen. Mit der Verabschiedung des Freedom of Information Act im Jahr 2001 hat New Labour den Zugang zu Informationen zwar erleichtert und die Forderung nach größerer Transparenz zu erfüllen versucht, doch führen die Geheimhaltungspflicht und die Datenschutzbestimmungen auch weiterhin zu Einschränkungen. [...] Die enge Verbindung von Politik und Medien hat zum Ende des 20. Jahrhunderts unübersehbar zugenommen. In dem gleichen Maß, in dem die Medien zunehmend gestaltend in die Politik einzugreifen versuchen, bemüht sich die Politik ihrerseits, den Einfluss auf die Medien zu verstärken. [...] Zum Zwecke der vorteilhaften Darstellung der Regierungstätigkeit in der Presse hatten schon die Konservativen unter Margaret Thatcher mit Maurice Saatchi, Timothy Bell und Peter Gummer Medienspezialisten in ihre Reihen aufgenommen und zum Teil mit Kabinettsrang ausgestattet, deren vordringliche Aufgabe darin bestand, den politischen Zielsetzungen den richtigen Dreh (spin) in der Öffentlichkeit zu geben. Perfektioniert und radikalisiert aber wurde die spin culture unter New Labour auf dem Weg zur Macht. Durch Medienberater (spin doctors) wie Peter Mandelson und später Alastair Campbell wurden gezielt Gerüchte gestreut, die dem politischen Gegner schadeten, und zudem wurden Journalisten von Labour-freundlichen Blättern mit privilegierten Informationen belohnt, die auf dem hart umkämpften Zeitungsmarkt nur allzu begehrt waren. [...] Unter solchen Bedingungen wird die aufrichtige Information der Öffentlichkeit zu deren geschickter Manipulation. Wenn aber der spin als reine Strategie der Beeinflussung und auch der öffentlichen Verdummung enttarnt wird, ist der Verlust an Glaubwürdigkeit gewaltig. [...]
Jürgen Kamm/Bernd Lenz, Großbritannien verstehen, Darmstadt 2004,S. 315 ff. Externer Link: www.wbg-darmstadt.de
Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen den Massenblättern (tabloids), die mit spektakulären Aufmachern um die Gunst des Massenpublikums konkurrieren, und den seriösen Tageszeitungen (quality papers). Neben den nationalen Blättern gibt es circa 1300 lokale und regionale Zeitungen. In Wales wird zusätzlich zur nationalen Presse die Western Mail gelesen. Sie erreicht etwa 20 Prozent der walisischen Leserschaft. In Schottland gibt es eine relativ eigenständige Presselandschaft mit den führenden Zeitungen Scottish Daily Record, Scotsman (Edinburgh) und Herald (Glasgow). Keine der in London produzierten Tageszeitungen erreicht in Schottland einen Leserkreis von mehr als sechs Prozent. In Nordirland erscheinen mit unionistischer Ausrichtung der News Letter und, mit nationalistischer Tendenz, die Irish News.
Der Pressemarkt ist hoch konzentriert. Vier Unternehmen (Trinity Mirror, Newsquest, Daily Mail and General Trust und Johnston Press) beherrschen 64 Prozent des regionalen Zeitungsmarkts. Der nationale Markt wird mit einem Marktanteil von 87 Prozent (2005) von News International, Eigentümer Rupert Murdoch (Sun, Times, Sunday Times, News of the World), Daily Mail and General Trust, Eigentümer Lord Rothermere (Daily Mail, Mail on Sunday), Trinity Mirror, Eigentümer Victor Blank (Daily Mirror, Sunday Mirror, People) und Northern and Shell, Eigentümer Richard Desmond (Daily Express, Daily Star, Sunday Express, Daily Star Sunday) beherrscht.
Die nationalen Blätter sind relativ eindeutig politischen Richtungen zuzuordnen. Der Konservativen Partei am nächsten steht der Daily Telegraph, gefolgt von der Times. Independent und Financial Times bewegen sich in der Mitte des politischen Spektrums, während der Guardian als linksliberal gilt. Bei den Massenblättern werden die Daily Mail, der Daily Express und der Daily Star konservativen politischen Positionen zugeordnet, das größte Massenblatt, die Sun (Auflage circa vier Millionen) unterstützte zeitweise mit Vorbehalt, insbesondere was dessen europafreundlichere Politik betraf, Tony Blair. Der Daily Mirror steht traditionell der Labour Party nahe.
Der britische Medienmarkt wurde seit den 1970er Jahren immer wieder durch die Strategien des australischen Millionärs Rupert Murdoch in wichtigen Bereichen neu gestaltet. Murdoch kaufte sich 1968 in den Zeitungsmarkt ein, als er die größte britische Sonntagszeitung News of the World erwarb. 1969 wurde er Besitzer der Sun und 1981 der Times und der Sunday Times. Murdoch modernisierte die Produktion von Zeitungen in Großbritannien und war der Vorreiter der Produktionsverlagerung heraus aus dem traditionell als Londoner Zeitungsviertel geltenden Fleet-Street-Viertel in die von Margaret Thatcher als Stadtentwicklungsgebiet ausgebauten Docklands (Wapping) im Londoner East End. Ein bemerkenswertes Beispiel seiner Absatzstrategie ist der Image-Wandel der Times. Diese 1785 gegründete älteste Tageszeitung des Landes galt als eine politisch-moralische Institution, deren "Donnergrollen" ("The Old Thunderer") manche Regierung zu erschüttern vermochte. Heute hat das Blatt auf der ersten Seite, auf derdie Redaktion früher aus Gründen der Seriosität nicht einmal Bilder duldete, nicht nur farbige Abbildungen, sondern auch Werbeflächen und Bingospiele anzubieten. 1995 wurde sogar erstmals die gesamte Auflage der Times vom Software-Giganten Microsoft aufgekauft und zu Werbezwecken verschenkt.
Murdoch war aber nicht nur der Vorreiter der Kommerzialisierung und der Trivialisierung der britischen Medienlandschaft, er hat mit Hilfe der von ihm kontrollierten Medien auch immer politischen Einfluss zu nehmen versucht. In den konservativen Regierungsjahren bis zur Wahl John Majors 1992 waren die Murdoch-Blätter wichtige Verbündete und Wahlkampfhelfer der Konservativen Partei. Tony Blair hat schon in der Opposition die Verbindung zu Murdoch gesucht. Murdoch unterstützte Tony Blair im Wahlkampf 1997. Nach seinem Wahlsieg hat Blair alles getan, um das Presseimperium Murdochs auf seiner Seite zu halten.
Wie kaum eine andere hat sich die britische Zeitungsbranche der digitalen Zukunft verschrieben. Sie spielt eine zentrale Rolle beim britischen Verband der Online-Verleger (Association of Online-Publishers). Während die Druckauflagen der Zeitungen jährlich um zwei bis sechs Prozent schwanden, haben die Verlage mit Millioneninvestitionen ihr Internet-Angebot ausgebaut, das weltweit nachgefragt wird. Fernsehen
Fernsehen ist in Großbritannien die beliebteste Freizeitbeschäftigung. 1980 konnten die Briten innerhalb einer Woche aus 300 Stunden Fernsehprogramm auswählen, das von drei Sendern angeboten wurde. 2004 wurden 40 000 Programmstunden von über 250 Sendern angeboten, ohne Bezahlfernsehen und interaktive Angebote. 2005 konnten 61,9 Prozent der Haushalte Digitalfernsehen empfangen, davon über die Hälfte via Satellit (BSkyB).
Von 1955 bis 1990 beschränkten sich die Wahlmöglichkeiten der Zuschauer auf zwei Anbieter und ihre Programme: Die gebührenfinanzierte staatliche BBC (British Broadcasting Company) und die durch Werbeeinnahmen finanzierte IBA (Independent Broadcasting Authority). Beide Anbieter konkurrierten mit eher populär - (BBC1, ITV=Channel 3) und eher kulturorientierten Sendern (BBC2, Channel 4). Dies waren bis 1997 auch die vier terrestrischen Kanäle. 1997 kam der kommerzielle Channel 5 (ITV) hinzu. In Wales wird Channel 4 als in großen Teilen walisischsprachiger Sender genutzt (Wales S4C). 1990 wurde aus der IBA die Independent Television Commission (ITC), die nicht mehr als Sendeveranstalter agierte, sondern nur noch für die Lizenzierung der Privatsender zuständig war. Die Quersubventionierung für Channel 4 durch die privaten ITV-Sender wurde abgeschafft. Das Rundfunkgesetz von 2003 liberalisierte den Fernsehmarkt noch stärker. Aus vormals 15 ITV-Sendern wurde durch Zusammenschluss ein einziger. Für ITV gilt, dass Eigentümer landesweiter Zeitungen mit einem Marktanteil von mehr als 20 Prozent keine eigene Fernsehlizenz oder nicht mehr als 20 Prozent an einem Fernsehsender besitzen dürfen. Für Rupert Murdoch war von großem Interesse, dass für Channel 5 diese Bestimmung 2003 aufgehoben wurde und dass terrestrische Lizenzen auch an außereuropäische Investoren vergeben werden können. Murdoch besitzt 38 Prozent des von ihm geleiteten größten Satellitensenders BSkyB und kaufte 2006 17,9 Prozent von ITV. BBC1 und ITV sind die meistgesehenen Kanäle. Über den von der BBC 2002 gegründeten digitalen Antennensender Freeview können verschiedene Fernseh- und Rundfunkkanäle kostenlos empfangen werden.
Die BBC ist mit der Begrenzung ihrer Gebühreneinnahmen auf den Ausgleich der Inflationsrate von finanzieller Auszehrung bedroht. Kostendruck erzeugen nicht zuletzt die steigenden Personalkosten. Ein gewisser Personalüberhang besteht bereits dadurch, dass die Regierung die BBC verpflichtete, 25 Prozent ihrer Programme von privatwirtschaftlichen Anbietern herstellen zu lassen und die Studios und die Programmgestaltung der BBC teilweise von London in die Regionen des Landes zu verlagern. Die kommerziellen Wettbewerber der BBC sehen in Rundfunkgebühren dennoch eine Wettbewerbsverzerrung zu ihren Ungunsten und fordern deren Abschaffung bzw. eine Beteiligung an diesen Einnahmen. Als 2007 die Regierung die Gebühreneinnahmen der BBC für die nächsten sechs Jahre begrenzen wollte, reagierte die BBC mit der Ankündigung, 1 800 Mitarbeiter entlassen und das 1960 eingeweihte Fernsehproduktionszentrum im Londoner Stadtteil Shepherd's Bush verkaufen zu wollen. So soll ein erwartetes Defizit von zwei Milliarden Pfund aufgefangen werden. Als Ziel der BBC nannte ihr Generaldirektor Mark Thompson ein um zehn Prozent geschrumpftes, dafür aber markanteres Sendeangebot.
QuellentextUmkämpfte BBC
Die British Broadcasting Corporation (BBC) ist so etwas wie der Goldstandard des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Als sie 1927 gegründet wurde, stellte sie sich unter ihrem ersten Generaldirektor John Reith die dreifache Aufgabe: informieren, bilden, unterhalten. Dieses Triptychon wurde im Laufe der Jahrzehnte zum Synonym für anspruchsvolles Radio und Fernsehen. Jahr für Jahr entstehen bei der BBC 400 Stunden Spielfilm in Eigenproduktion, mit teilweise beachtlichem Erfolg. "Eastenders", eine Serie über den Alltag eines fiktiven Kleine-Leute-Viertels in London, erreicht Einschaltquoten von durchschnittlich 41 Prozent oder 10 Millionen Zuschauer. Hohe Qualität und Popularität zeichnet auch die Verfilmungen von literarischen Klassikern wie Charles Dickens "Bleak House" (2005) oder Elizabeth Gaskells Roman "Cranford" aus. Den ersten von fünf Teilen des Mammutprojekts sahen an einem Sonntagabend um 21 Uhr fast 8 Millionen Zuschauer. [...] Rechtliche Grundlage der BBC ist die Royal Charter - ein Rundfunkstaatsvertrag, der für einen Zeitraum von zehn Jahren den Programmauftrag und die Rundfunkgebühren festlegt. [...] Mit der Royal Charter vom Dezember 2006 wurden ihr sechs neue Aufgaben übertragen. Sie soll von nun an den Bürgersinn und den sozialen Zusammenhalt fördern, den Bildungscharakter ihrer Programme verstärken sowie die unterschiedlichen Identitäten der einzelnen Regionen und Landesteile (England, Schottland, Wales und in gewissem Maß auch Nordirland) mehr berücksichtigen. Außerdem soll die "Beeb" ihre Kanäle mehr als bisher für ausländische Programme öffnen, eigene Programme im Ausland besser vertreiben und bis 2012 die Digitalisierung aller Inhalte bewerkstelligen. [...]Lange Zeit galt die Verlängerung der Royal Charter und die weitere Finanzierung des Senders über Zwangsgebühren als unsicher. Denn seit 2003 war das Verhältnis zur Regierung Blair zerrüttet. Journalisten der BBC warfen dem Premierminister vor, die Bedrohung durch den Irak gezielt übertrieben zu haben, um an der Seite der USA in den Krieg zu ziehen. Umgekehrt stellte ein von Blair in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht die Professionalität und Integrität des öffentlich-rechtlichen Fernsehjournalismus infrage. [...] Nachdem sich die Wogen geglättet hatten, vermied die Regierung alles, was den Anschein eines harten Durchgreifens erweckt hätte. Bei der Neubesetzung der BBC-Intendanz war sie um größtmögliche Transparenz bemüht. [...] Der neue Generaldirektor der BBC heißt seit Oktober 2004 Mark Thompson. [...]. Thompson stand von Anfang an für eine grundlegende Erneuerung der BBC. Er musste vor allem ein Reformprogramm ausarbeiten, das als Verhandlungsgrundlage für eine neue Royal Charter dienen konnte. [...] Kaum war er im neuen Amt, verkündete er einen zeitlich gestaffelten Abbau von 6 000 der insgesamt 26 000 Arbeitsplätze, vor allem in den Bereichen Marketing, Kommunikation und Verwaltung. Auch beim BBC World Service und in den Nachrichtenabteilungen standen 350 Stellen oder 15 Prozent zur Disposition. Auf den Vorwurf, dass sich die BBC zu sehr in ihre Londoner Enklave zurückziehe, reagierte Thompson mit der Auslagerung einiger Bereiche nach Manchester. Thompson bot nun von sich aus an, mehr Programmbeiträge an unabhängige Produzenten zu vergeben. Im vergangenen Jahr kamen immerhin bereits 40 Prozent aller BBC-Programme (Informationssendungen ausgenommen) von privaten Produzenten. (Zum Vergleich: In Deutschland vergaben die öffentlich-rechtlichen Sender nach eigener Darstellung im Jahr 2003 über 70 Prozent ihrer Produktionen an unabhängige Produzenten. - Anm. d. Red.) Mark Thompsons Reformprojekt sieht Budgetkürzungen von 15 Prozent in verschiedenen Abteilungen der BBC vor. Zwei Abteilungen sollen sogar verkauft werden. Den Widerstand der Mitarbeiter gegen diese Umstrukturierung als heftig zu bezeichnen, wäre untertrieben. Vor allem in den am meisten betroffenen Sparten - Kinderfernsehen, Dokumentationen und Informationssendungen - war die Empörung groß. [...] Ein spezieller Fall ist die Tochtergesellschaft BBC Worldwide, die kommerzielle Verwertungsgesellschaft der "Beeb". Als Europas größter Exporteur von Fernsehprogrammen hat sie 2004 ungefähr 40 000 Stunden Radio und Fernsehen in alle Welt verkauft. Sie ist auch für die Kooperation mit ausländischen Sendern wie dem Discovery Channel zuständig. Schließlich kümmert BBC Worldwide sich außerdem um die Zweit- und Drittverwertung der Programme in Form von DVDs, Tonträgern und Büchern, von denen 2003 insgesamt 23 Millionen Einheiten verkauft wurden. Und bis vor kurzem war sie der drittgrößte Zeitschriftenverlag des Landes. Ihre Publikationen speisen sich inhaltlich vor allem aus den beliebtesten Programmen der Sender. Aber auch BBC Worldwide kann sich den Sparplänen des neuen Generaldirektors nicht entziehen. Kurzzeitig wurde gar diskutiert, sie zu verkaufen; ihr Wert wird auf 2,6 Milliarden Euro geschätzt.[...] Am Ende einigte man sich darauf, BBC Worldwide in der Senderfamilie zu belassen und nur einige der Zeitschriften abzustoßen. Inmitten dieser Turbulenzen wurde die Royal Charter schließlich verabschiedet. Seit Dezember 2006 hat die BBC damit auch eine andere Verwaltungsstruktur. Ihre Leitung untersteht jetzt einem unabhängigen BBC Trust anstelle des bisherigen Direktoriums. [...] Nach langen Diskussionen hat sich die britische Regierung 2006 entschlossen, die Rundfunkgebühr beizubehalten. Spätestens nach Abschluss der Digitalisierung im Jahr 2012 soll das Thema aber wieder auf der Tagesordnung stehen. [...]
Jean-Claude Sergeant, "Britisch weltweit akzeptiert", in: Le Monde diplomatique vom 11.Juli. Jean-Claude Sergeant ist Kommunikationswissenschaftler an der Université Paris III. Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Externer Link: www.monde-diplomatique.de/pm/.home
Unterhaltungssektor
Die Unterhaltungsindustrie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor des Landes. Der britische Weltmarktanteil am Umsatz mit Kulturprodukten jeglicher Art betrug 1998 16 Prozent und damit dreimal mehr als der Gesamtanteil des Landes am Welthandel. Nach Verlagsprodukten (1,9 Milliarden) ist Musik (1,5 Milliarden) das wichtigste Exportprodukt. 1,4 Millionen Menschen gelten als "Kreativarbeiter". Jedes Jahr entstehen in dieser Branche circa 50000 neue Jobs.
Namen wie Harold Pinter (Dramatiker), Sir Andrew Lloyd Webber (Musical), Sir V.S. Naipaul (Schriftsteller) oder Vanessa Redgrave (Schauspielerin) sind über die Landesgrenzen bekannt. Für viele London-Besucher gehört das Theater im Londoner West End zum Pflichtprogramm. 2003 hatten die West End-Bühnen circa zwölf Millionen Besucher. Mehr als die Hälfte von ihnen kamen, um Musicals zu sehen. Großbritannien hat eine lebendige Theaterkultur, deren Lebenselixier nicht zuletzt immer wieder neue erfolgreiche Stücke bekannter und neuer Autoren sind, die von Regisseuren, wie Sir Peter Hall oder Richard Eyre, auf die Bühne gebracht werden.
1989 wurden am Südufer der Themse die Reste des Globe Theatre, an dem der berühmte englische Dramatiker William Shakespeare (1564-1616) aufgetreten war, und des Rose Theatre, wo zu seinen Lebzeiten seine Stücke gespielt wurden, ausgegraben. Eine moderne Rekonstruktion des Globe Theatre in der Nähe seines ursprünglichen Standorts wurde 1996 fertiggestellt.
Auch Konzertveranstaltungen finden in London einen würdigen Rahmen, unter anderem in der Royal Festival Hall, der Barbican Hall oder der Royal Albert Hall. In der Royal Albert Hall findet jedes Jahr im Sommer eine Serie von Promenadenkonzerten statt, die ihren Höhepunkt in der Last Night at the Proms findet. Dieses letzte Konzert ist eine Mischung von Kunstgenuss und Verkleidungsspektakel mit Gesangseinlagen des Publikums. Seine Popularität ist inzwischen so gewachsen, dass es zeitgleich auf eine große Leinwand in den Londoner Hyde Park übertragen wird, wo sich zu diesem Anlass zehntausende Besucher einfinden.
2006 konnte das Land auf eine 110 Jahre währende Kinogeschichte zurückblicken. Britische Schauspieler und Filmemacher gewannen allein in der Zeit von 1976 bis 1996 30 Prozent aller in Hollywood verliehenen Film-Oscars. Sean Connery, Michael Caine, Hugh Grant, Emma Thompson oder Helen Mirren sind nur einige der international bekannten britischen Filmschauspieler. Der Anteil britischer Filme in den heimischen Kinos erlangt im Vergleich zur dominierenden Hollywoodware jedoch nur sporadisch Bedeutung, wenn einzelne Produktionen, wie 1997 "The Full Monty" (deutsch: "Ganz oder gar nicht", eine Filmkomödie über arbeitslose Sheffielder Stahlarbeiter), spektakuläre Erfolge werden. Häufig entstehen erfolgreiche Filme mit britischen Themen und britischen Schauspielern mit Blick auf den amerikanischen Markt oder sind amerikanische Produktionen ("Four Weddings and a Funeral", "Vier Hochzeiten und ein Todesfall", 1994, mit britisch-amerikanischem Starensemble, "Calendar Girls", 2002, eine transatlantischeGeschichte oder die Harry Potter-Filme, eine britisch-amerikanische Koproduktion). Britische Filme, die mehr als 20 Millionen Pfund kosten, erhalten einen Steuernachlass von 16 Prozent, kleinere Produktionen einen Nachlass von 20 Prozent. Ob ein Film als britisch und damit subventionswürdig gilt, entscheidet ein Punktesystem. Einen Punkt gibt es beispielsweise für einen britischen Regisseur, zwei, wenn mehr als die Hälfte des Films in Großbritannien gedreht wurde.
Die Filmindustrie spielt eine wichtige Rolle für die britische Wirtschaft. Sie trug 2004 3,1 Milliarden Pfund zum BIP bei und zahlte 850 Millionen Pfund Steuern. 33 500 Menschen waren 2008 direkt in diesem Wirtschaftszweig beschäftigt, 66 000 profitierten indirekt in Sektoren wie dem Tourismus oder der Werbeindustrie. Für ausländische Filmprojekte ist Großbritannien der zweitwichtigste Produktionsstandort nach Hollywood. Für die Förderung der britischen Filmindustrie ist der UK Film Council zuständig. Er hat ca. 90 Mitarbeiter und ein Budget von etwas weniger als 60 Millionen Pfund jährlich einschließlich der Gelder aus der staatlichen Lotterie. 15 Millionen Pfund gibt er an das British Film Institute weiter für kulturelle und Bildungsmaßnahmen rund um den Film, vor allem für das nationale Filmarchiv. Der größte Teil der Filmförderung wird durch Steuerbefreiungen erbracht, die nach Schätzungen von 2004 2,2 Milliarden Pfund jährlich ausmachen. Auch nach dem Wahlsieg der Labour Party von 1997, für den sich viele Künstler, Schauspieler und Musiker eingesetzt hatten, ist der Kulturbetrieb des Landes trotz künstlerischer Erfolge von finanzieller Auszehrung bedroht. Kunst und Kultur litten besonders stark unter der Sparpolitik der 1980er und 1990er Jahre und der Überzeugung der Politiker aller Parteien, dass sich künstlerische Qualität in einem entsprechenden Publikumsinteresse bzw. Vermarktungserfolg zeige. Die Finanzierung des Kulturbetriebes wurde so als im wesentlichen dessen eigene Aufgabe definiert. Der Einsatz von Lottogeldern zur Kulturförderung hat nur im geringen Maße Abhilfe schaffen können, denn gleichzeitig mit dem Erschließen dieser neuen Geldquelle wurden die alten Subventionsleistungen eingefroren. Größer als in der Hauptstadt London ist die Finanznot für Museen und Theater in den Regionen. Das renommierte Halle-Orchester in Manchester beispielsweise konnte kurzfristig nur durch den Verkauf kostbarer Instrumente einen Konkurs abwenden.
QuellentextTypisch britisch?
[...] Die beliebtesten Genres beim britischen Kinopublikum sind in den 1980er und 1990er Jahren Komödien, Sozialdramen und Literaturverfilmungen - wobei letztere eine enorm große und extrem heterogene Gruppe bezeichnen, denn hierzu gehören streng genommen historische Heritage Filme ebenso wie ein radikal moderner Film à la Trainspotting, der auf einer Romanvorlage von Irvine Welsh basiert.[...] Das Genre mit dem größten bleibenden Einfluß im britischen Kino [...] ist dabei sicherlich das Heritage Cinema [...]. Einige Kritiker haben diese Filme (Chariots of Fire, A Passage to India, A Room with a View, Howard's End, The Remains of the Day u.a.) als symptomatische Auswüchse des Thatcherism betrachtet - sie seien geprägt von der Flucht in eine idealisierte Vergangenheit und einer Ignoranz aktueller Probleme, verbunden mit einer konservativen Beschwörung eines glanzvollen gemeinsamen Erbes. Auffällig ist in jedem Fall, dass die Heritage Filme parallel zum Boom der britischen Heritage Kultur entstehen, in deren Rahmen Landsitze, Parks und Kunstsammlungen als nationale Kulturgüter bewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden [...]. [...] Doch was macht diese Filme "typisch britisch" (in dem Fall sogar typisch englisch) oder unterscheidet sie zumindest von herkömmlichen Hollywood-Produktionen? Die am häufigsten genannten Merkmale sind die folgenden [...]: Heritage Filme beziehen ihre Stoffe aus historischen oder literarischen Vorlagen, die dezidiert als wertvolles nationales Kulturerbe inszeniert werden und eine Nähe zur Kunst und zum "guten Geschmack" suchen. Sie arbeiten oft mit einem wiederkehrenden Ensemble renommierter britischer Schauspieler (zunächst waren dies Helena Bonham Carter, James Wilby, Anthony Hopkins, Hugh Grant; später kamen u.a. Emma Thompson, Kate Winslet, Judi Dench, Maggie Smith, Colin Firth hinzu), bei denen eine Affinität zum Theater, zum hochwertigen Schauspiel, und nicht zuletzt eine gehobene englische Diktion hervorgehoben wird [...] ; und meist wird versucht, die Literaturvorlage möglichst "original" und authentisch umzusetzen [...]. Alle Heritage Filme sind geprägt von einem Gefühlder Nostalgie, also der Sehnsucht nach einer irgendwie "schöneren", besseren Vergangenheit. Diese Nostalgie, die häufig als Hauptanklagepunkt gegen die Filme erhoben wird, muss allerdings deutlich differenziert werden: Erstens ist sie [...] eine Vergangenheit, die von späteren Generationen konstruiert wird [...]. Zweitens ist die Lust an prachtvollen Bildern, vergangener Schönheit und Eleganz auch gemischt mit kritischen Blicken auf soziale Ungerechtigkeiten (z.B. Frauenemanzipation, Homosexualität etc.), wodurch im Nebeneffekt zugleich die selbst erlebte Gegenwart aufgewertet wird. Drittens ist der Blick nicht auf eine "Gesamtschau" vergangener Epochen gerichtet, sondern nur auf bestimmte Ausschnitte, und zwar immer auf das Leben der Eliten [...]. Neben diesen filmischen Anknüpfungspunkten an den Glanz der britischen Vergangenheit gab und gibt es aber [...] immer wieder Überraschungserfolge des jüngeren britischen Kinos. Zwei ganz unterschiedliche, aber beide auf ihre Weise sehr britische Filme, sind Four Weddings and a Funeral (1994) und Billy Elliot (2000). Der Channel 4/Working Title/Polygram-Produktion Four Weddings gelang das schier unmögliche, nämlich Publikum, Kritiker und Festivaljuries weltweit zu begeistern und einen ungeheuren finanziellen Erfolg zu erzielen (die Einspielsumme liegt über 244 Mio $) - und das mit einem vergleichsweise minimalen Budget von ca. 6 Mio $ und einem Ensemble ohne wirkliche "Kassenmagnete", sprich Superstars. [...] Der Tenor des Films - wahre Liebe kennt keine Grenzen, und es lohnt sich immer, auf die eine, große Liebe zu warten - ist [...] aus Hollywood-Liebeskomödien hinlänglich bekannt. Wirklich "britisch" wird Four Weddings aber [...] durch Anklänge an landeseigene Komödientraditionen im Film wie im Theater. Gemeint ist hier zum einen ein "typisch britischer" Humor [...] und zwar eine Mischung aus Slapstick, "Schusseligkeit", geschliffenen Dialogen voller Schlagfertigkeit, Wortwitz und trockener Ironie. Zusammen mit dem "upper-class-setting" und dem zentralen Thema des "match-making" und des Geschlechterkampfes, zitiert der Film somit ganz deutlich Elemente der englischen Comedy of Manners, einer Theaterliteratur also, die von Noel Coward über Oscar Wilde bis zum Restoration Theatre am Ende des 17. Jahrhunderts zurückreicht. An der Produktion von Billy Elliot waren u.a. die BBC, der Arts Council of England und, wie schon bei Four Weddings, Working Title beteiligt. Wieder handelt es sich um einen gigantischen Kassenerfolg (ca. 5 Mio $ Budget brachten in den USA knapp 22 Mio $, in Groß-britannien knapp 17 Mio. £ Einspielsumme), und wieder wurde der Film mit Kritikerlob und Preisen förmlich überschüttet. Im Gegensatz zu Four Weddings spielt er jedoch am völlig anderen Ende des sozialen Spektrums, nämlich vor dem Hintergund eines Bergarbeiterstreiks in Nordengland im Jahr 1984. Billy Elliot zeigt soziale, kulturelle und politische Themen im Großbritannien der 1980er Jahre buchstäblich in ihrer ganzen Bandbreite, von der nordenglischen Bergarbeiter-Tristesse bis zur Elite-Tanzschule, vom schmutzigen Hinterhof bis zum angestrahlten Portal des Haymarket Theatre. Denn der Protagonist bricht aus seiner deprimierenden "workingclass" Herkunft aus und bekommt - anstatt wie sein Vater zu boxen - eine klassische Tanzausbildung an der Royal Ballet School. [...] Besonders eindrucksvoll ist die (evtl. typisch britische?) Mischung aus bitterstem Sozialdrama und geradezu klassischer Tragik auf der einen Seite und einem komischen Spektrum auf der anderen Seite, das von Slapstick und Klamauk bis zu anrührenden und tragikomischen Momenten reicht. [...] Alles zusammen ergibt eine besondere Genremixtur, die sicherlich nicht einfach zu klassifizieren ist, als eben solche [...] aber "typisch britisch" zu sein scheint. Heike Anna Hierlwimmer, Großes Erbe und kleine Überraschungen.Thematische Tendenzen des britischen Kinos nach 1980, in: Avinus-Magazin vom 11. Januar 2008 (http://magazin.avinus.de/2008/01/11)
Gunnar Rechenburg, "Das Gesetz des Dschungels", in: Die Welt vom 19. Juni 2008
[...] Die ehrwürdige britische Elite-Universität Cambridge feiert im kommenden Jahr ihren 800. Geburtstag. Seit 1904 hat die Hochschule mehr als 80 Nobelpreisträger hervorgebracht. Die Aufnahmekriterien sind nach wie vor streng, allerdings hat man schon in den 60er Jahren Latein und Griechisch als Vorbedingung abgeschafft, weil fast nur Schüler aus der sozialen Oberschicht dieses Kriterium erfüllten. Heute denkt man in Cambridge sogar darüber nach, Schülern "Nachhilfe" zu geben, damit sie die Aufnahme-Hürden überspringen. Die Labour-Regierung möchte, dass Cambridge mindestens drei Viertel seiner Plätze an Abgänger der staatlichen Schulen vergibt. Doch dieses Ziel ist bisher nicht erreicht. (ki) [...] Wie hat sich, fragen Besucher aus anderen akademischen Welten staunend, diese Kluft zwischen Staatsschulen und Elite-Universitäten so hartnäckig halten können? Warum hat sich der Riss in den vergangenen zwanzig Jahren eher noch vertieft, statt sich zu schließen? Zahlreiche Bildungsreformen, darunter die Abschaffung der Grammar Schools, der alten Vorzeigeschulen des Staatssektors, haben dazu beigetragen. Schüler der Comprehensives, der britischen Gesamtschulen, konnten sich nie ganz vorstellen, in einem College wie Corpus Christi am rechten Platz zu sein. Ihre Lehrer taten zu wenig, um ihnen die Angst vor dem Sprung zu nehmen. Ihren Eltern war Cambridge unheimlich. Und die Universitäten selbst reichten keine helfende Hand. Privatschulabgänger dagegen, von Anfang an wohl präpariert, konnten am Ende mit weit besseren Noten aufwarten - und betrachteten es als selbstverständlich, um Plätze in Oxford oder Cambridge zu rangeln, und sich den gefürchteten Aufnahme-Interviews zu unterziehen. In jüngster Zeit haben wohl auch neu die eingeführten Studiengebühren in England Kinder aus ärmeren Familien vom Studium abgeschreckt. Was an Beihilfen in den Lehranstalten zur Verfügung steht, ist oft nicht bekannt. Und wer sich aus den unbemittelten Schichten doch zum Studium entschließt, bewirbt sich eher an der nächstgelegenen Hochschule - um billig weiter zu Hause wohnen zu können. Kinder aus besser gestellten Familien müssen hingegen keine Rücksicht nehmen auf Quartier- und Reisekosten. Neuerdings sucht man in Cambridge mit unkonventionellen Mitteln, Staatsschülern die Angst vor der Bewerbung zu nehmen. Lehrer von Staatsschulen werden zu Kursen eingeladen, um sich selbst besser über die Verhältnisse zu informieren und ihre Schüler anschließend zu ermutigen. Nicht nur das Abgangszeugnis selbst, sondern der ganze soziale Schulhintergrund soll zunehmend berücksichtigt werden. Fremdsprachen, bei der mittleren Reife bisher obligatorisch, aber in Staatsschulen immer seltener, sollen künftig nicht mehr Voraussetzung für die Aufnahme sein. Sogar das traditionelle Cambridge-Bewerbungsformular, das zehn Pfund kostete, ist abgeschafft worden. Außerdem trägt sich die Uni mit der revolutionären Idee, Staatsschüler, die die Aufnahme wegen ihres Notenstandes nicht ganz schaffen, in einem Zusatzjahr unter die Fittiche zu nehmen, damit sie bei einem zweiten Anlauf die Hürde überspringen. "Das ist", so der Direktor der Aufnahmestelle, Geoff Parks, "eine der Möglichkeiten, die wir uns derzeit anschauen." Gewisse Sorgen plagen die Cambridge-Hierarchie natürlich, dass solche Maßnahmen Top-Bewerbern aus dem privaten Bereich den Weg nach Cambridge verstellen und die Uni "herausragender Talente" berauben könnten. Die Regierung solle mal nicht allzu viel Druck auf die Universität ausüben, erklärt Cambridges Vize-Kanzlerin Alison Richard. Hochkarätige Universitäten seien "keine Motoren für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit". Die Rolle Cambridges sei es, zu lehren und in der Forschung brillant zu führen, "nicht Probleme sozialer Mobilität zu beheben". Was Professor Richards Mitarbeiter aber nicht daran hindert, sich weiter die Köpfe darüber zu zerbrechen, wie größerer Mobilität im "Elfenbeinturm" diskret auf die Sprünge zu helfen wäre. [...]
Peter Nonnenmacher, "Elite fürs Volk", in: Frankfurter Rundschau vom 5. November 2008
[...] Das journalistische Selbstverständnis in Großbritannien ist [...] traditionell geprägt von der gesellschaftlichen Verantwortung, die Öffentlichkeit vollständig und rückhaltlos über alle politischen Entscheidungsprozesse zu informieren, aber auch zugleich aktiv gestaltend in die Politik einzugreifen. Ausnahmen von diesem Prinzip betreffen nur die Geheimhaltungspflicht, wie sie im Official Secrets Act von 1989 niedergelegt ist. Das bemerkenswerte Selbstbewusstsein, mit dem britische Journalisten bis heute dieses Ziel verfolgen, hat immer wieder zu Konflikten mit der Regierung geführt, da sich die journalistische Enthüllung von Fakten und der Regierungswille zur Geheimhaltung von Informationen aus politischen Gründen vielfach nicht vereinbaren lassen. Die Neufassung des Official Secrets Act im Jahre 1989 war das Resultat einer scharfen Auseinandersetzung, bei der die Presse wiederholt den Vorwurf an die Regierung gerichtet hatte, unter dem Vorwand nationaler Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten, nur weil diese in Wahrheit für die Regierung selbst höchst peinlich wären. [...] Dennoch hat kein britisches Kabinett jemals ernsthaft die Einführung einer Pressezensur erwogen. An ihre Stelle ist ein ungeschriebenes System von Absprachen getreten, mit dem sich Regierung und Presse über die Veröffentlichung geheimer Informationen verständigen. Mit der Verabschiedung des Freedom of Information Act im Jahr 2001 hat New Labour den Zugang zu Informationen zwar erleichtert und die Forderung nach größerer Transparenz zu erfüllen versucht, doch führen die Geheimhaltungspflicht und die Datenschutzbestimmungen auch weiterhin zu Einschränkungen. [...] Die enge Verbindung von Politik und Medien hat zum Ende des 20. Jahrhunderts unübersehbar zugenommen. In dem gleichen Maß, in dem die Medien zunehmend gestaltend in die Politik einzugreifen versuchen, bemüht sich die Politik ihrerseits, den Einfluss auf die Medien zu verstärken. [...] Zum Zwecke der vorteilhaften Darstellung der Regierungstätigkeit in der Presse hatten schon die Konservativen unter Margaret Thatcher mit Maurice Saatchi, Timothy Bell und Peter Gummer Medienspezialisten in ihre Reihen aufgenommen und zum Teil mit Kabinettsrang ausgestattet, deren vordringliche Aufgabe darin bestand, den politischen Zielsetzungen den richtigen Dreh (spin) in der Öffentlichkeit zu geben. Perfektioniert und radikalisiert aber wurde die spin culture unter New Labour auf dem Weg zur Macht. Durch Medienberater (spin doctors) wie Peter Mandelson und später Alastair Campbell wurden gezielt Gerüchte gestreut, die dem politischen Gegner schadeten, und zudem wurden Journalisten von Labour-freundlichen Blättern mit privilegierten Informationen belohnt, die auf dem hart umkämpften Zeitungsmarkt nur allzu begehrt waren. [...] Unter solchen Bedingungen wird die aufrichtige Information der Öffentlichkeit zu deren geschickter Manipulation. Wenn aber der spin als reine Strategie der Beeinflussung und auch der öffentlichen Verdummung enttarnt wird, ist der Verlust an Glaubwürdigkeit gewaltig. [...]
Jürgen Kamm/Bernd Lenz, Großbritannien verstehen, Darmstadt 2004,S. 315 ff. Externer Link: www.wbg-darmstadt.de
Die British Broadcasting Corporation (BBC) ist so etwas wie der Goldstandard des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Als sie 1927 gegründet wurde, stellte sie sich unter ihrem ersten Generaldirektor John Reith die dreifache Aufgabe: informieren, bilden, unterhalten. Dieses Triptychon wurde im Laufe der Jahrzehnte zum Synonym für anspruchsvolles Radio und Fernsehen. Jahr für Jahr entstehen bei der BBC 400 Stunden Spielfilm in Eigenproduktion, mit teilweise beachtlichem Erfolg. "Eastenders", eine Serie über den Alltag eines fiktiven Kleine-Leute-Viertels in London, erreicht Einschaltquoten von durchschnittlich 41 Prozent oder 10 Millionen Zuschauer. Hohe Qualität und Popularität zeichnet auch die Verfilmungen von literarischen Klassikern wie Charles Dickens "Bleak House" (2005) oder Elizabeth Gaskells Roman "Cranford" aus. Den ersten von fünf Teilen des Mammutprojekts sahen an einem Sonntagabend um 21 Uhr fast 8 Millionen Zuschauer. [...] Rechtliche Grundlage der BBC ist die Royal Charter - ein Rundfunkstaatsvertrag, der für einen Zeitraum von zehn Jahren den Programmauftrag und die Rundfunkgebühren festlegt. [...] Mit der Royal Charter vom Dezember 2006 wurden ihr sechs neue Aufgaben übertragen. Sie soll von nun an den Bürgersinn und den sozialen Zusammenhalt fördern, den Bildungscharakter ihrer Programme verstärken sowie die unterschiedlichen Identitäten der einzelnen Regionen und Landesteile (England, Schottland, Wales und in gewissem Maß auch Nordirland) mehr berücksichtigen. Außerdem soll die "Beeb" ihre Kanäle mehr als bisher für ausländische Programme öffnen, eigene Programme im Ausland besser vertreiben und bis 2012 die Digitalisierung aller Inhalte bewerkstelligen. [...]Lange Zeit galt die Verlängerung der Royal Charter und die weitere Finanzierung des Senders über Zwangsgebühren als unsicher. Denn seit 2003 war das Verhältnis zur Regierung Blair zerrüttet. Journalisten der BBC warfen dem Premierminister vor, die Bedrohung durch den Irak gezielt übertrieben zu haben, um an der Seite der USA in den Krieg zu ziehen. Umgekehrt stellte ein von Blair in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht die Professionalität und Integrität des öffentlich-rechtlichen Fernsehjournalismus infrage. [...] Nachdem sich die Wogen geglättet hatten, vermied die Regierung alles, was den Anschein eines harten Durchgreifens erweckt hätte. Bei der Neubesetzung der BBC-Intendanz war sie um größtmögliche Transparenz bemüht. [...] Der neue Generaldirektor der BBC heißt seit Oktober 2004 Mark Thompson. [...]. Thompson stand von Anfang an für eine grundlegende Erneuerung der BBC. Er musste vor allem ein Reformprogramm ausarbeiten, das als Verhandlungsgrundlage für eine neue Royal Charter dienen konnte. [...] Kaum war er im neuen Amt, verkündete er einen zeitlich gestaffelten Abbau von 6 000 der insgesamt 26 000 Arbeitsplätze, vor allem in den Bereichen Marketing, Kommunikation und Verwaltung. Auch beim BBC World Service und in den Nachrichtenabteilungen standen 350 Stellen oder 15 Prozent zur Disposition. Auf den Vorwurf, dass sich die BBC zu sehr in ihre Londoner Enklave zurückziehe, reagierte Thompson mit der Auslagerung einiger Bereiche nach Manchester. Thompson bot nun von sich aus an, mehr Programmbeiträge an unabhängige Produzenten zu vergeben. Im vergangenen Jahr kamen immerhin bereits 40 Prozent aller BBC-Programme (Informationssendungen ausgenommen) von privaten Produzenten. (Zum Vergleich: In Deutschland vergaben die öffentlich-rechtlichen Sender nach eigener Darstellung im Jahr 2003 über 70 Prozent ihrer Produktionen an unabhängige Produzenten. - Anm. d. Red.) Mark Thompsons Reformprojekt sieht Budgetkürzungen von 15 Prozent in verschiedenen Abteilungen der BBC vor. Zwei Abteilungen sollen sogar verkauft werden. Den Widerstand der Mitarbeiter gegen diese Umstrukturierung als heftig zu bezeichnen, wäre untertrieben. Vor allem in den am meisten betroffenen Sparten - Kinderfernsehen, Dokumentationen und Informationssendungen - war die Empörung groß. [...] Ein spezieller Fall ist die Tochtergesellschaft BBC Worldwide, die kommerzielle Verwertungsgesellschaft der "Beeb". Als Europas größter Exporteur von Fernsehprogrammen hat sie 2004 ungefähr 40 000 Stunden Radio und Fernsehen in alle Welt verkauft. Sie ist auch für die Kooperation mit ausländischen Sendern wie dem Discovery Channel zuständig. Schließlich kümmert BBC Worldwide sich außerdem um die Zweit- und Drittverwertung der Programme in Form von DVDs, Tonträgern und Büchern, von denen 2003 insgesamt 23 Millionen Einheiten verkauft wurden. Und bis vor kurzem war sie der drittgrößte Zeitschriftenverlag des Landes. Ihre Publikationen speisen sich inhaltlich vor allem aus den beliebtesten Programmen der Sender. Aber auch BBC Worldwide kann sich den Sparplänen des neuen Generaldirektors nicht entziehen. Kurzzeitig wurde gar diskutiert, sie zu verkaufen; ihr Wert wird auf 2,6 Milliarden Euro geschätzt.[...] Am Ende einigte man sich darauf, BBC Worldwide in der Senderfamilie zu belassen und nur einige der Zeitschriften abzustoßen. Inmitten dieser Turbulenzen wurde die Royal Charter schließlich verabschiedet. Seit Dezember 2006 hat die BBC damit auch eine andere Verwaltungsstruktur. Ihre Leitung untersteht jetzt einem unabhängigen BBC Trust anstelle des bisherigen Direktoriums. [...] Nach langen Diskussionen hat sich die britische Regierung 2006 entschlossen, die Rundfunkgebühr beizubehalten. Spätestens nach Abschluss der Digitalisierung im Jahr 2012 soll das Thema aber wieder auf der Tagesordnung stehen. [...]
Jean-Claude Sergeant, "Britisch weltweit akzeptiert", in: Le Monde diplomatique vom 11.Juli. Jean-Claude Sergeant ist Kommunikationswissenschaftler an der Université Paris III. Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Externer Link: www.monde-diplomatique.de/pm/.home
[...] Die beliebtesten Genres beim britischen Kinopublikum sind in den 1980er und 1990er Jahren Komödien, Sozialdramen und Literaturverfilmungen - wobei letztere eine enorm große und extrem heterogene Gruppe bezeichnen, denn hierzu gehören streng genommen historische Heritage Filme ebenso wie ein radikal moderner Film à la Trainspotting, der auf einer Romanvorlage von Irvine Welsh basiert.[...] Das Genre mit dem größten bleibenden Einfluß im britischen Kino [...] ist dabei sicherlich das Heritage Cinema [...]. Einige Kritiker haben diese Filme (Chariots of Fire, A Passage to India, A Room with a View, Howard's End, The Remains of the Day u.a.) als symptomatische Auswüchse des Thatcherism betrachtet - sie seien geprägt von der Flucht in eine idealisierte Vergangenheit und einer Ignoranz aktueller Probleme, verbunden mit einer konservativen Beschwörung eines glanzvollen gemeinsamen Erbes. Auffällig ist in jedem Fall, dass die Heritage Filme parallel zum Boom der britischen Heritage Kultur entstehen, in deren Rahmen Landsitze, Parks und Kunstsammlungen als nationale Kulturgüter bewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden [...]. [...] Doch was macht diese Filme "typisch britisch" (in dem Fall sogar typisch englisch) oder unterscheidet sie zumindest von herkömmlichen Hollywood-Produktionen? Die am häufigsten genannten Merkmale sind die folgenden [...]: Heritage Filme beziehen ihre Stoffe aus historischen oder literarischen Vorlagen, die dezidiert als wertvolles nationales Kulturerbe inszeniert werden und eine Nähe zur Kunst und zum "guten Geschmack" suchen. Sie arbeiten oft mit einem wiederkehrenden Ensemble renommierter britischer Schauspieler (zunächst waren dies Helena Bonham Carter, James Wilby, Anthony Hopkins, Hugh Grant; später kamen u.a. Emma Thompson, Kate Winslet, Judi Dench, Maggie Smith, Colin Firth hinzu), bei denen eine Affinität zum Theater, zum hochwertigen Schauspiel, und nicht zuletzt eine gehobene englische Diktion hervorgehoben wird [...] ; und meist wird versucht, die Literaturvorlage möglichst "original" und authentisch umzusetzen [...]. Alle Heritage Filme sind geprägt von einem Gefühlder Nostalgie, also der Sehnsucht nach einer irgendwie "schöneren", besseren Vergangenheit. Diese Nostalgie, die häufig als Hauptanklagepunkt gegen die Filme erhoben wird, muss allerdings deutlich differenziert werden: Erstens ist sie [...] eine Vergangenheit, die von späteren Generationen konstruiert wird [...]. Zweitens ist die Lust an prachtvollen Bildern, vergangener Schönheit und Eleganz auch gemischt mit kritischen Blicken auf soziale Ungerechtigkeiten (z.B. Frauenemanzipation, Homosexualität etc.), wodurch im Nebeneffekt zugleich die selbst erlebte Gegenwart aufgewertet wird. Drittens ist der Blick nicht auf eine "Gesamtschau" vergangener Epochen gerichtet, sondern nur auf bestimmte Ausschnitte, und zwar immer auf das Leben der Eliten [...]. Neben diesen filmischen Anknüpfungspunkten an den Glanz der britischen Vergangenheit gab und gibt es aber [...] immer wieder Überraschungserfolge des jüngeren britischen Kinos. Zwei ganz unterschiedliche, aber beide auf ihre Weise sehr britische Filme, sind Four Weddings and a Funeral (1994) und Billy Elliot (2000). Der Channel 4/Working Title/Polygram-Produktion Four Weddings gelang das schier unmögliche, nämlich Publikum, Kritiker und Festivaljuries weltweit zu begeistern und einen ungeheuren finanziellen Erfolg zu erzielen (die Einspielsumme liegt über 244 Mio $) - und das mit einem vergleichsweise minimalen Budget von ca. 6 Mio $ und einem Ensemble ohne wirkliche "Kassenmagnete", sprich Superstars. [...] Der Tenor des Films - wahre Liebe kennt keine Grenzen, und es lohnt sich immer, auf die eine, große Liebe zu warten - ist [...] aus Hollywood-Liebeskomödien hinlänglich bekannt. Wirklich "britisch" wird Four Weddings aber [...] durch Anklänge an landeseigene Komödientraditionen im Film wie im Theater. Gemeint ist hier zum einen ein "typisch britischer" Humor [...] und zwar eine Mischung aus Slapstick, "Schusseligkeit", geschliffenen Dialogen voller Schlagfertigkeit, Wortwitz und trockener Ironie. Zusammen mit dem "upper-class-setting" und dem zentralen Thema des "match-making" und des Geschlechterkampfes, zitiert der Film somit ganz deutlich Elemente der englischen Comedy of Manners, einer Theaterliteratur also, die von Noel Coward über Oscar Wilde bis zum Restoration Theatre am Ende des 17. Jahrhunderts zurückreicht. An der Produktion von Billy Elliot waren u.a. die BBC, der Arts Council of England und, wie schon bei Four Weddings, Working Title beteiligt. Wieder handelt es sich um einen gigantischen Kassenerfolg (ca. 5 Mio $ Budget brachten in den USA knapp 22 Mio $, in Groß-britannien knapp 17 Mio. £ Einspielsumme), und wieder wurde der Film mit Kritikerlob und Preisen förmlich überschüttet. Im Gegensatz zu Four Weddings spielt er jedoch am völlig anderen Ende des sozialen Spektrums, nämlich vor dem Hintergund eines Bergarbeiterstreiks in Nordengland im Jahr 1984. Billy Elliot zeigt soziale, kulturelle und politische Themen im Großbritannien der 1980er Jahre buchstäblich in ihrer ganzen Bandbreite, von der nordenglischen Bergarbeiter-Tristesse bis zur Elite-Tanzschule, vom schmutzigen Hinterhof bis zum angestrahlten Portal des Haymarket Theatre. Denn der Protagonist bricht aus seiner deprimierenden "workingclass" Herkunft aus und bekommt - anstatt wie sein Vater zu boxen - eine klassische Tanzausbildung an der Royal Ballet School. [...] Besonders eindrucksvoll ist die (evtl. typisch britische?) Mischung aus bitterstem Sozialdrama und geradezu klassischer Tragik auf der einen Seite und einem komischen Spektrum auf der anderen Seite, das von Slapstick und Klamauk bis zu anrührenden und tragikomischen Momenten reicht. [...] Alles zusammen ergibt eine besondere Genremixtur, die sicherlich nicht einfach zu klassifizieren ist, als eben solche [...] aber "typisch britisch" zu sein scheint. Heike Anna Hierlwimmer, Großes Erbe und kleine Überraschungen.Thematische Tendenzen des britischen Kinos nach 1980, in: Avinus-Magazin vom 11. Januar 2008 (http://magazin.avinus.de/2008/01/11)
Gunnar Rechenburg, "Das Gesetz des Dschungels", in: Die Welt vom 19. Juni 2008
| Article | Roland Sturm | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-09-13T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/grossbritannien-262/10563/bildung-und-kultur/ | Die Bildungspolitik will Schulen wie Universitäten wettbewerbsorientierter ausrichten und bedarfsgerechter gestalten. Im Medienangebot und in der Unterhaltungsbranche nimmt Großbritannien dagegen bereits seit langem eine herausragende Stellung ein. | [
"Informationen zur politischen Bildung Nr. 262",
"Großbritannien",
"Kultur Großbritanniens",
"Bildung in Großbritannien",
"Britisches Bildungssystem"
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Stanford-Jurist und Internet-Aktivist Lawrence Lessig am 12. Mai zu Gast beim neuen bpb-Talk in Berlin | Presse | bpb.de | "The american way of life" – eine klassische Redewendung, wenn Europäer über Amerika sprechen. Doch die Unterschiede zwischen europäischer und amerikanischer Lebensweise sind bei näherem Hinsehen alles andere als eindeutig. Schließlich hat Amerika den Großteil seiner kulturellen und politischen Wurzeln in Europa, auch wenn sich die USA gewissermaßen als Gegenmodell zu Europa verstehen. Der amerikanische Staat ging aus dem Kampf um die Weltherrschaft zwischen Großbritannien und Frankreich hervor. Der Start in die Unabhängigkeit begann im Winter 1773 mit der "Boston Tea Party", als Kolonialisten im Hafen von Boston eine Ladung britischen Tees versenkten.
Nach aktueller Definition war Amerika also schon damals ein Produkt der Globalisierung. Eine interessante Perspektive, wenn man bedenkt, dass die "Neue Welt" heute als Erfinderin dieses Phänomens gilt. Diese und andere Thesen sollen im neuen Talk "Kontinentaldrift 3.0 – Amerika zwischen Europa und Asien" diskutiert werden, der von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb organisiert wird. Die Veranstaltung nimmt damit Bezug auf die seit über zehn Jahren in Amerika intensiv geführte Diskussion über die Bürgerrechte. Im Zentrum der einzelnen Veranstaltungen steht dabei immer die Frage: Wie wirken sich die gesellschaftlichen Entwicklungen auf diese Rechte aus?
Ihre ganz persönlichen Antworten geben amerikanische Vordenker und Intellektuelle. Den Anfang macht der Stanford-Jurist Professor Lawrence Lessig. Der bekannte Internetaktivist spricht über "Pistolen und Eisenbahnen im amerikanischen Westen – Die Technologie der Macht und die Emotionen des kleinen Mannes" und damit über bedeutsame technische Errungenschaften, die ihren Ursprung in Europa haben. Die wichtigsten technischen Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts kommen hingegen aus Amerika. Dazu gehört auch das Internet. Eng mit diesem Medium verbunden ist die Diskussion um das Urheberrecht, denn nirgendwo sonst können Texte, Musik oder Bilder auf nie da gewesene Weise verbreitet werden. Dabei gilt in Amerika für jede E-Mail, jedes Lied und jedes Heimvideo das Urheberrecht. Ein juristischer Fehler, der Innovationen und Kreativität in einer Gesellschaft bremst, meint Lawrence Lessig, denn: "Bürgerrechte sind so wichtig wie das Copyright".
Kommentiert wird der Vortrag des Juristen, der für die Veranstaltung aus Amerika anreist, von Professor Peter Baldwin von der University of California in Los Angeles (UCLA). Die Einführung übernimmt bpb-Präsident Thomas Krüger. Moderiert wird die Veranstaltung von der amerikanischen Journalistin Anjana Shrivastava, die auch für die Konzeption der Reihe verantwortlich ist.
Lawrence Lessig ist am 12. Mai um 20.30 Uhr im Atrium des DBB-Forums Berlin, Friedrichstraße 169/170 zu Gast.
Der Vortrag wird simultan übersetzt, im Anschluss ist eine Diskussion geplant. Die Teilnahme ist kostenlos, Karten können bei der bpb vorbestellt werden.
Weitere Informationen unter: Externer Link: www.bpb.de/veranstaltungen Pressekontakt/bpb
Bundeszentrale für politische Bildung Swantje Schütz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50724/stanford-jurist-und-internet-aktivist-lawrence-lessig-am-12-mai-zu-gast-beim-neuen-bpb-talk-in-berlin/ | Ist Informationsfreiheit? ein Bürgerrecht? Was bedeuten das Internet für die Freiheit und Kontrollierbarkeit des Einzelnen? Mit diesen und anderen Fragen eröffnet der neue bpb-Talk "Kontinentaldrift 3.0 – Amerika zwischen Europa und Asien" in Berlin. | [
"Unbekannt (5273)"
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Gedankenspiel: Vom Bürger- zum Mitgliederhaushalt | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de | Was für die Bürgerschaft und die Stadtverwaltung gilt, kann auch für Mitgliederorganisationen interessant sein. Schließlich haben auch Mitglieder von Organisationen ein Interesse daran mitzuentscheiden, wofür ihre Beiträge oder Spenden verwendet werden.
Wie man das machen kann, zeigt das „Externer Link: Participatory Budgeting Project (PBP)“, eine Nichtregierungsorganisation (NRO) aus den USA. Sie lässt ihre Mitglieder darüber entscheiden, wie ein Teil ihrer Spenden ausgegeben werden soll. Spenderinnen und Spender des Participatory Budgeting Project haben zunächst die Möglichkeit, Projektideen in Sachen Öffentlichkeitsarbeit einzureichen. Liegen alle Vorschläge auf dem Tisch, folgt die Abstimmung. Im letzten Jahr entschieden sich die Mitglieder etwa für ein Werbevideo, das die Ziele und Arbeitsweisen des Projektes erklärt. Dieses Jahr können die spendenden Mitglieder erneut ihre Stimme abgeben. Die bisherigen Projektideen: Die sprachliche Übersetzung von Werbematerial, eine Werbetour in andere Städte oder die Finanzierung der Geburtstagsfeier der Organisation. Der Projektvorschlag mit den meisten Stimmen wird dann mit den Spendengeldern verwirklicht.
Auch in Deutschland gibt es die Möglichkeit Spenden zweckgebunden einzusetzen. Projektbezogene Vermerke bei Überweisungen gewährleisten, dass Spenderinnen und Spender gezielt bestimmen können, wo ihre Beiträge eingesetzt werden. Gilt es allerdings zu entscheiden, wie größere Teile des Budgets eingesetzt werden sollen oder wie der Haushalt einer Organisation allgemein ausgerichtet werden soll, so haben Spenderinnen und Spender genau wie zahlende Mitglieder oftmals begrenzte Mitspracherechte. Diese Entscheidungen übernehmen nach wie vor meist Vorstände oder Beiräte. Dass die Mitglieder über die Wichtigkeit bestimmter Projekte oder gar über Teile des Organisationshaushaltes abstimmen können, gibt es bisher eher selten.
Gedanken, Ideen, Reflexionen
Die hier vorgestellten Ideen und Verfahren von Bürgerhaushalten auch im Kontext von Organisationen zu „denken“, wirft einige Fragen auf: Ist das Modell des Bürgerhaushaltes überhaupt auf Organisationen wie NROs, Vereine oder Unternehmen übertragbar? Kann der Bürgerhaushalt ein Vorbild für stärkere innerorganisationale Mitbestimmung sein? Oder müssen hier ganz andere Beteiligungskonzepte erdacht werden?
Bei aller Unterschiedlichkeit sind die Chancen von Bürger- und Mitgliederhaushalten hingegen sehr ähnlich. Etwa in Sachen Wissenszuwachs: So sind es gerade Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Mitglieder, die häufig am besten wissen, wo gespart und wo investiert werden muss. Stille Ressourcen und Ideen könnten aktiviert und die Arbeit der Organisation effektiver werden. Geldströme würden dadurch genauer gelenkt und dosiert. So könnten etwa die Mitglieder eines Sportvereins über neue Sportgeräte abstimmen und entscheiden. Aber auch Einsparungen wären dadurch möglich. Gerade für NROs mit kleinem Budget wäre das eine Chance. Dieser Zuwachs an Mitsprache könnte letztlich zu einer Aufwertung von Mitgliedschaft führen und den Mitgliederschwund reduzieren.
Doch denkt man das Gedankenspiel fort, lassen sich auch Gegenargumente zur Etablierung von Mitgliederhaushalten finden: So könnte angeführt werden, dass Mitglieder nicht im Sinne ihrer Organisation entscheiden, sondern eher eigennützig abstimmen. Um im obigen Beispiel zu bleiben: Stimmen sie wirklich für dasjenige Sportgerät ab, welches am notwendigsten gebraucht wird? Oder nur für das, was ihrer Lieblingssportart entspricht? Es wird erneut deutlich, dass auch in neuen Kontexten die bekannten Probleme von Bürgerhaushalten durchschimmern. Es könnte jedoch entgegnet werden, dass dieses Problem weniger stark zum Tragen kommt. Der Grund: Die hohe Identifikation der Mitglieder mit den Zielen einer Organisation. Denn im Gegensatz zu Bürgerhaushalten sind die Schnittmengen individueller und allgemeiner Ziele im Kontext von Organisationen unter Umständen höher und für alle sichtbarer. Das bedeutet: Erreicht die Organisation ihre Ziele, etwa durch effektive Haushaltsführung oder durch sinnvolle Investitionen, erfüllt sie damit auch einen Großteil der individuellen Ziele ihrer Mitglieder. Identifikation wird so zur Leitplanke von Sonderinteressen.
Auch in Sachen Einsparungen muss relativiert werden. Der Einbezug der Mitgliedschaft in Sachen Finanzen bedeutet auch einen erheblichen Mehraufwand für eine Organisation, organisatorisch wie finanziell. Wertvolle Gelder könnten in der Administration von Beteiligungsprozessen versickern anstatt in Spendenprojekte zu fließen.
Fazit:
Zunächst zeigt sich, dass sich Bürger- und Mitgliederhaushalte in Sachen Chancen und Herausforderungen stark ähneln. Folglich ist davon auszugehen, dass auch Lösungsansätze gegenseitig angewandt werden können. Viel wichtiger ist jedoch die Erkenntnis, dass es sich lohnen kann, Bürgerhaushalte einmal in neuen Kontexten zu „denken“. So könnte der Aspekt der Identifikation auch bei Bürgerhaushalten eine gewichtigere Rolle einnehmen. Die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stadt oder Kommune könnte etwa in der Öffentlichkeitsarbeit zu Bürgerhaushalten stärker angesprochen werden. Gleichzeitig wäre das Stichwort "Identifikation" auch ein Referenzpunkt für die gezielte Ansprache bislang schwer erreichbarer Zielgruppen.
Externer Link: Link zum Participatory Budgeting Project, das seine Mitglieder in die Verteilung seiner Spendengelder einbindet
Ein Gedankenspiel von Julian Ermert und Katja Fitschen | Article | Julian Ermert | 2022-11-18T00:00:00 | 2022-09-13T00:00:00 | 2022-11-18T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/512973/gedankenspiel-vom-buerger-zum-mitgliederhaushalt/ | Was für die Bürgerschaft und die Stadtverwaltung gilt, kann auch für Mitgliederorganisationen interessant sein. So könnten auch deren Mitglieder mehr mitentscheiden. | [
"Bürgerhaushalt – Bürgerbudget",
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"Mitgliederhaushalt",
"Mitgliederorganisation"
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Einführung | Jugendkulturen in Deutschland | bpb.de | Dann kam Techno, und die Bands wurden arbeitslos. Die Fans und Macher der neuen elektronischen Musik benötigten sie nicht mehr. Der Computer übernahm die Regie. 40 Jahre Popkultur - Elvis und die Beatles, Bob Dylan und Johnny Cash, James Brown und Michael Jackson, Madonna und Ton Steine Scherben - waren plötzlich Geschichte, old fashion. Die rock-sozialisierte Generation war schockiert. Nicht die Politik, sondern elektronische Musik hatte einen Generationenbruch, einschneidender als ´68, produziert.
Doch eine der wesentlichen Neuerungen, die Techno brachte - die Ablösung der Bands und der "echten" Musik durch DJs und collagierte Soundfragmente -, ist keine Erfindung von Techno. Es war die HipHop-Kultur, die zum ersten Mal den DJ als "Musiker" in den Mittelpunkt stellte, der anders als der traditionelle Plattenaufleger in den Diskotheken die Musik anderer Leute nur als Ausgangsmaterial nahm, um mit Hilfe zweier Plattenspieler ein neues, sehr eigenständiges Kunststück zu kreieren.
Die Wurzeln des HipHop sind viele Generationen alt und eng mit der Geschichte der Sklaverei verbunden. Als eigenständige Jugendkultur jedoch trug HipHop erst in den frühen 70er-Jahren Blüten. Tricia Rose, Dozentin für Afrikanische Studien an der Universität New York, beschreibt in dem von ihr und Andrew Ross 1994 herausgegebenen Band "Microphone Fiends - Youth Music and Youth Culture" die sozial-politischen Ursachen der neuen jugendkulturellen "Spaß- und Widerstandsgemeinschaften": "Zwischen den 30er- und späten 60er-Jahren ließ der legendäre Städteplaner Robert Moses eine Reihe öffentlicher Bauprojekte durchführen. Highways, Parks und Wohnanlagen entstanden, die das Profil von New York City nachhaltig veränderten. 1959 begannen Stadt-, Staats- und Bundesbehörden mit der Ausführung des Cross-Bronx-Expressway, der mitten durchs Herz der ärmsten und am dichtesten bevölkerten Wohngebiete der Bronx führen sollte. Obwohl der Expressway problemlos um die proletarischen Wohngemeinden hätte herumgeführt werden können, wählte Moses einen Verlauf, der den Abriss hunderter Wohn- und Geschäftsgebäude notwendig machte. Das von Moses entworfene Programm zur Beseitigung der "Slums" erzwang die Umsiedlung von ca. 170000 Menschen. Was Moses "Slums" nannte, waren alte Arbeiterwohnviertel, dicht besiedelte, stabile nachbarschaftliche Gemeinschaften" (Rose 1997, S. 146). Wer nicht zwangsumgesiedelt wurde, floh. "Von den späten 60er- bis zur Mitte der 70er-Jahre stieg die Zahl leerstehender Wohnungen im südlichen Teil der Bronx sprunghaft an. Einige besonders unruhige Hausbesitzer verkauften ihr Eigentum schnellstmöglich, oftmals an professionelle Slumverwalter. Andere zündeten ihre Gebäude an, um Versicherungsgelder zu kassieren. Beides beschleunigte den Abzug der weißen Mieter. Die Stadtverwaltung, die den Expressway als Zeichen des Fortschritts und der Modernisierung pries, war nicht bereit, den angerichteten Schaden zur Kenntnis zu nehmen" (a.a.O.).
Das änderte sich schlagartig, als im Juli 1977 während eines 27-stündigen Stromausfalls in New York Hunderte von Geschäften in der Bronx und anderen verarmten Stadtvierteln geplündert und verwüstet wurden. Das Interesse der Medien erwachte. Die Bilder verlassener, halb zerfallener Häuser wurden zum Sinnbild für das Scheitern des modernen urbanen Lebens, der großstädtischen amerikanischen Kultur überhaupt. Medien illustrierten ihre Berichte über Kriminalität, Armut, den Verfall der Städte und den Ruin sozialer Verhältnisse mit Bildern aus der Bronx, Spielfilme wie "Wolfen" und "Koyaanisqatsu" präsentierten die Bronx als eine von jeder Menschenseele verlassene Gespensterstadt, andere wie "The Warriors" oder "The Bronx" bedienten sich ihrer als Kulisse für jugendliche Bandenkriege, und Tom Wolfe beschreibt schließlich in seinem Roman "Fegefeuer der Eitelkeiten" die neue Urangst der weißen New Yorker: nachts aus Versehen in der Bronx zu stranden.
Doch diese hatte sich im Verlauf der 70er-Jahre allmählich wieder bevölkert. Zum einen schlicht dadurch, dass die Stadtregierung sozial schwache farbige Familien aus anderen Stadtvierteln dorthin zwangsumsiedelte, zum anderen durch den Zuzug puertoricanischer, jamaikanischer und anderer Familien aus den ehemaligen Kolonien, denen der billige Wohnraum gerade recht war.
Als die Vereinigten Staaten 1976 prunkvoll ihren 200. Geburtstag feierten, hatte sich auch für die Farbigen manches zum Positiven verändert. Sie durften nun auch in den letzten US-Staaten wählen, in Kinos, Theatern und öffentlichen Verkehrsmitteln sitzen, wo sie wollten, hatten Zugang zu höherer Bildung. Eine neue schwarze Mittelschicht entstand, deren Lebensstandard sich nicht mehr von dem der weißen Mittelschicht unterschied.
Doch diesen Gewinnern der Globalisierung standen jene gegenüber, die nur die Schattenseiten der neuen postindustriellen Weltordnung zu spüren bekamen. Vor allem für die ethnischen Minderheiten in den großstädtischen Ballungsräumen der USA bedeuteten die Verlagerung von Arbeitsplätzen an die Peripherien der sogenannten "Dritten" und "Vierten Welt" und die massiven Kürzungen in den staatlichen (Aus-)Bildungs-, Gesundheits- und Sozialetats Massenarbeitslosigkeit und zunehmende Verelendung. Doch seit der Zerschlagung der Black Panthers durch die CIA fehlte die Kraft, die den Frust und den Widerstandsgeist vor allem der Jüngeren kanalisieren konnte. Bar jeglicher Aussicht auf eine Veränderung der Lage, strikt separiert vom Mainstream der Gesellschaft, führten die Kids Stellvertreterkriege gegen sich selbst: Drogen, Kriminalität, Bandenkriege.
"The Message" von Grandmaster Flash & The Furious Five eröffnete dem Rap ein neues Potenzial: War die HipHop-Kultur in den 70er-Jahren eigentlich nur eine alternative Partyform jugendlicher Ghettokids, preiswert selbstorganisiert und fernab vom langweiligen Rock- und Disco-Mainstream der weißen Jugendlichen, so begannen DJs und MCs nun damit, Rap als Darstellungsform für die brutale Ghetto-Realität zu nutzen. Ihr Ziel: die sinnlose, selbstzerstörerische Gewalt und Drogenflut einzudämmen und kreativ umzulenken. Statt sich gegenseitig umzubringen, motivierten sie die Gangs, ihre Rivalitäten in Verbal Contests und DJ-Battles auszutragen, sprühten ihre erfahrungsgesättigten Warnungen vor exzessivem Drogenkonsum an die Wände, verkehrten das verächtliche "Nigger"-Dasein im Rap zum selbstbewussten "black & proud". Wie einst aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den Black Panthers entsprangen der HipHop-Szene politisch-religiöse Vereinigungen wie die Zulu Nation von Afrika Bambaataa, der selbst Mitglied der Bronx-Gang The Black Spades war. Nachdem er aber erleben musste, wie sein bester Freund bei einer sinnlosen Gang-Schießerei von neun Kugeln niedergestreckt wurde, ging er auf Distanz zu den Gangs und entdeckte in der HipHop-Kultur eine neue Heimat und die Chance zur Deeskalation. "Die Zulu-Nation war auch eine Streetgang, nur mit einem leicht transformierten Code. Während es bei den regulären, kleinkriminellen Streetgangs darum ging, Territorien zu kontrollieren und sich mit den Nachbargangs zu bekriegen, bezog sich die Zulu-Nation vor allem auf ein imaginäres Territorium, nämlich Afrika. Normale Streetgangs hatten einen Code, der auf bestimmten Heldentaten beruhte, die man begehen musste, um aufgenommen zu werden. Der Ruf einer Gang war um so großartiger, je unbarmherziger sie auftrat. Bei der Zulu-Nation hingegen ging es um kreative Fähigkeiten - allerdings immer noch innerhalb des Bezugsrahmens "Straße". Wer Mitglied in der Zulu-Nation werden wollte, musste besonders gut tanzen, sprühen oder Platten auflegen können" (Blümner 2002, S. 293).
Es ging also weiterhin um Wettbewerb, um Konkurrenz. Doch die sollte anders ausgetragen werden als bisher. Kreativität als Waffe. Wer zukünftig den Respekt - ein Schlüsselwort nicht nur in der HipHop-Kultur - seiner Community erhalten wollte, musste ihn mit Worten, Farben, Tanzen und Musik erarbeiten, nicht mit der Pumpgun.
Rap war von Beginn an message music; die Texte standen im Mittelpunkt, und "so viel Text pro Zeiteinheit hatte es nie zuvor gegeben" (Jacob 1993, S. 183). Rap bedeutete vor allem "Lust an Kommunikation, endloses Reden und Argumentieren" (a.a.O.). Und egal, ob die Texte von Sex, Drogen, Geschlechtskrankheiten, Armut oder Kriminalität handelten, sie spiegelten immer den Alltag und die (Alp-)Träume der schwarzen Unterschicht Nordamerikas wider, der die Rapper selbst angehörten. Rap verknüpfte so in modernem Gewand zum Teil jahrhundertealte Traditionen schwarzer Geschichtsschreibung, die zumeist eine illegal und damit mündlich überlieferte war: von den Griots, den spöttischen Geschichte(n)-Erzählern und -Sängern Westafrikas, über den Scat-Gesang des Bebob bis zum Gospel schwarzer Prediger. Dabei war die Sprache des Rap subversiv. Begriffe aus der (weißen) Herrschaftssprache bekamen im Kontext eines Rap-Songs eine völlig andere Bedeutung, enthüllten ihren wahren Sinn; Doppeldeutigkeiten oder die extremen Übertreibungen beim "Signifying" waren nur für die Angehörigen derselben Stadtviertel zu decodieren. Rap war Musik und Aufklärung aus dem Ghetto für das Ghetto.
Quellen / Literatur
Blümner, Heike: Street Credibility. HipHop und Rap. In: Kemper/Langhoff/ Sonnenschein (Hrsg.) 2002, S. 292 - 306.
Jacob, Günther: Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Berlin 1993.
Rose, Tricia: Ein Stil, mit dem keiner klar kommt. HipHop in der postindustriellen Stadt. In: SPoKK (Hrsg.) 1997, S. 142 - 156.
Blümner, Heike: Street Credibility. HipHop und Rap. In: Kemper/Langhoff/ Sonnenschein (Hrsg.) 2002, S. 292 - 306.
Jacob, Günther: Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Berlin 1993.
Rose, Tricia: Ein Stil, mit dem keiner klar kommt. HipHop in der postindustriellen Stadt. In: SPoKK (Hrsg.) 1997, S. 142 - 156.
| Article | Klaus Farin | 2021-12-02T00:00:00 | 2011-10-13T00:00:00 | 2021-12-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/jugendkulturen-in-deutschland/36294/einfuehrung/ | Ohne den Rock´n´Roll hätte es vermutlich kaum eine der bekannten Jugendkulturen der 60er-, 70er- und 80er-Jahre gegeben. Selbst Punk, der den zum Superstarzirkus aufgeblasenen Rockbetrieb wieder in die Klubs und auf die Straßen zurückholte, bediente | [
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Erwerbsaustritt und Renteneintritt | Rentenpolitik | bpb.de | Der Berentungsprozess ist individuell ganz unterschiedlich. Das ergibt sich aus Untersuchungen, die für verschiedene Fallgruppen die letzte Beitragszahlung und die erste Rentenzahlung zum Gegenstand haben.
Das durchschnittliche Zugangsalter bei den Altersrenten hat sich seit der Jahrtausendwende merklich erhöht: von 62 Jahren auf etwa 64 Jahre (Männer: 64,0 Jahre, Frauen: 64.3 Jahre) (vgl. Abbildung "Durchschnittliches Zugangsalter in Altersrenten 1993 − 2017"). Hingegen liegt das durchschnittliche Erwerbsaustrittsalter − differenziert nach einzelnen Personengruppen – immer noch deutlich niedriger.
Dies verdeutlicht die Abbildung "Status vor Rentenbezug – Altersrentenzugänge 2017". Gezeigt wird, aus welchem Status die neuen Altersrentnerinnen und -rentner 2017 in West- und Ostdeutschland in den Rentenbezug jeweils wechselten. Es wird deutlich, dass nur ein Teil der Altersrenten unmittelbar aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung heraus begann. Die überwiegende Zahl der NeurentnerInnen wechselt aus Arbeitslosigkeit, Altersteilzeit, einem anderen aktiven Versicherungsverhältnis oder aus einem passiven Versicherungsverhältnis in den Bezug einer Altersrente. Solche passiven Versicherungsverhältnisse sind vor allem solche von Hausfrauen mit früher erworbenen Rentenansprüchen (auch Personen die sich ohne Leistungsanspruch aus einer Arbeitslosigkeit abgemeldet haben) und früher gesetzlich Rentenversicherten die während ihres Arbeitslebens z. B. in ein Beamtenverhältnis oder in die Selbstständigkeit wechselten. Passiv Versicherte beginnen ihre Rente normalerweise erst mit der Regelaltersgrenze oder – in der Regel verbunden mit Abschlägen – mit der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente.
Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass ein "glatter" Altersübergang (Rentenzugang direkt aus der Erwerbstätigkeit) in Altersrenten vor allem denjenigen zuvor aktiv Versicherten gelingt, die zumindest die letzten 3 Jahre vor dem Rentenbeginn stabil in Beschäftigung waren und nicht nur kurz vorher. Die Chancen eines bruchlosen Altersübergangs hängen dabei entscheidend von den Berufen/Tätigkeiten, Qualifikationen, Branchen sowie dem Gesundheitszustand ab. Je besser der sozioökonomische Status, umso eher gelingt ein später Renteneintritt aus stabiler Beschäftigung heraus.
Status vor Altersrentenbezug: Zugänge von Männern in Deutschland 2000 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Hingegen müssen vor allem jene älteren Beschäftigten die noch verbliebenen Möglichkeiten eines Renteneintritts vor der Regelaltersgrenze in Anspruch nehmen, die nach (langer) Arbeitslosigkeit im rentennahen Alter vergeblich nach einer Neuanstellung suchen und/oder aufgrund von physischen und/oder psychischen Einschränkungen nicht mehr in der Lage sind, in ihrem erlernten Beruf oder ihrer ausgeübten Erwerbstätigkeit bis zum Erreichen der abschlagsfreien Regelaltersgrenze weiterzuarbeiten. Im Ergebnis wird damit die soziale Polarisierung des Alters vertieft. Während die qualifizierten Beschäftigten mit einem in der Regel besseren Gesundheitszustand und leichteren Arbeitsbedingungen länger arbeiten können und werden, auch weil die Unternehmen angesichts des Fachkräftebedarfs daran ein wachsendes Interesse haben, sind die Beschäftigten im unteren Qualifikationsbereich sowohl hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes als auch der belastenden Arbeitsbedingungen dazu häufig nicht in der Lage.
Status vor Altersrentenbezug: Zugänge von Frauen in Deutschland 2000 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Da die erstgenannte Gruppe über ein höheres Einkommen verfügt und in der Rentenversicherung wie in der betrieblichen und privaten Altersvorsorge vergleichsweise gut abgesichert ist, wären hier Abschläge finanziell noch am leichtesten verkraftbar. Tatsächlich müssen die Abschläge aber überwiegend von jenen in Kauf genommen werden, denen eine Weiterarbeit bis zum Alter von 65 oder gar bis 67 Jahren kaum möglich ist, die aber nur über niedrige Renten verfügen und auch nicht oder nur sehr begrenzt auf ergänzende Leistungen aus der betrieblichen und privaten Altersvorsorge zurückgreifen können.
Allerdings lässt sich auch beobachten, dass im Zeitverlauf der Anteil der Altersrentenzugänge aus zuvor versicherungspflichtiger Beschäftigung erheblich zugenommen hat: Bei den Männern waren es 2008 noch 18,3 Prozent, hingegen 2017 schon 41,7 Prozent; bei den Frauen waren es 17,3 Prozent im Jahr 2008 gegenüber 38,2 Prozent im Jahr 2017 (vgl. Abbildungen "Status vor Altersrentenbezug: Zugänge 2000 − 2017 für Männer und für Frauen").
Status vor Altersrentenbezug: Zugänge von Männern in Deutschland 2000 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Status vor Altersrentenbezug: Zugänge von Frauen in Deutschland 2000 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-11T00:00:00 | 2019-05-17T00:00:00 | 2022-01-11T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/rentenpolitik/291476/erwerbsaustritt-und-renteneintritt/ | Das Renteneintrittsalter ist meist nicht identisch mit dem Erwerbsaustrittsalter. Zwischen Erwerbsaustritt und Renteneintritt weisen sehr viele Versicherte Zwischenphasen auf, so z.B. Arbeitslosigkeit, Bezug der Grundsicherung oder der Rückzug aus de | [
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