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449 | 2532287 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=449 | Ada (Programmiersprache) | Ada ist eine strukturierte Programmiersprache mit statischer Typenbindung. Sie wurde von Jean Ichbiah für das Unternehmen Honeywell Bull in den 1970er Jahren entworfen. Ada ist vom Erscheinungsbild ähnlich zur Programmiersprache Pascal. Benannt wurde die Sprache nach Ada Lovelace (1815–1852), der Tochter von Lord Byron und Mitarbeiterin von Charles Babbage, die auch als erste Programmiererin bezeichnet wird.
Überblick.
Ada wurde anfänglich stark vom US-Verteidigungsministerium gefördert und unterstützt. Wie alle von ISO standardisierte Sprachen wird sie in regelmäßigen Abständen überarbeitet. Mit Veröffentlichung eines neuen Standards verliert der vorige seine Gültigkeit. Daher gibt es nur eine Sprache Ada; nur zur Unterscheidung der Generationen werden diese informell als Ada 83 (die erste standardisierte Generation), Ada 95, Ada 2005 und Ada 2012 bezeichnet. Die nächste Generation ist im Wesentlichen abgeschlossen und wird vorläufig als Ada 202X bezeichnet. Ada-Compiler werden gewöhnlich einer Validierung unterzogen, der Ada Conformity Assessment Test Suite (ACATS), die praktisch Grundvoraussetzung für den professionellen Einsatz ist. ACATS ist ebenfalls ein ISO-Standard. Aufgrund der hohen Anforderungen, die validierte Compiler erfüllen müssen, hat Ada sich vor allem in sicherheitskritischen Bereichen durchgesetzt, zum Beispiel in der Flugsicherung, in Sicherheits-Einrichtungen der Eisenbahn, in Waffensystemen, der Raumfahrt, der Medizin oder der Steuerung von Kernkraftwerken. Bis auf einzelne Ausnahmen verweigert sich die Automobilindustrie ihrer Verwendung.
Fähigkeiten der Sprache.
Ada war ursprünglich gedacht als allgemeine Programmiersprache, die die Vielzahl von Programmiersprachen im amerikanischen Verteidigungsministerium ersetzen sollte. Heute wird sie meist für eingebettete "(embedded)" und Echtzeit-Systeme "(real-time systems)" verwendet. Herausragende Merkmale von Ada sind etwa das strenge Typsystem "(starke Typisierung)" mit fehlerrobuster Syntax, das zahlreiche Prüfungen schon zur Übersetzungszeit erlaubt, Nebenläufigkeit, Ausnahmebehandlung und generische Programmierung. Ada 95 führte sogenannte "tagged types" (erweiterbare Typen) ein, die das Ada zugrundeliegende Konzept des Programmieren durch Erweiterung weiter ausbauen und dynamische Polymorphie ermöglichen.
Implementierungen von Ada benutzen üblicherweise keine automatische Speicherbereinigung "(garbage collection)" zur Speicherverwaltung, da diese das Echtzeitverhalten empfindlich stören würde; der Standard verbietet dies jedoch nicht. Ada unterstützt Laufzeittests, um Speicherüberläufe, Zugriff auf nicht zugewiesenen Speicher, "off-by-one-Fehler" und andere, ähnlich geartete Fehler frühzeitig zu erkennen. Viele dieser Fehler lassen sich jedoch durch richtige Verwendung der Sprachmittel schon während der Programmierung vermeiden oder während der Übersetzung erkennen. Für eine höhere Effizienz können diese Laufzeittests abgeschaltet werden.
Programmverifikation mit SPARK.
Auch zur Programmverifikation stehen verschiedene Spracheigenschaften zur Verfügung. Mit Ada ist es zum ersten Mal gelungen, industriell verwendete Programme automatisch auf Korrektheit zu überprüfen. Dazu wird die Sprachvariante SPARK verwendet, eine Untermenge von Ada mit Annotationen, das sind Kommentare mit spezieller Syntax wie zum Beispiel Vor- und Nachbedingungen. Die Korrektheit eines SPARK-Programms wird mit einem Verifikationsprogramm "(SPARK Examiner)" durch statische Analyse der Annotationen überprüft (also vor Ausführung des Programms).
In den neuesten Sprachgenerationen sind viele dieser Annotationen durch sogenannte Aspekte ersetzt, sodass auch der Übersetzer Nutzen aus ihnen ziehen kann. Ziel ist jedoch, dass für diese Aspekte kein Code erzeugt wird – sie werden wie die Annotationen vom SPARK Examiner ausgewertet.
Programmierwerkzeuge.
Für Ada gibt es den quelloffenen Compiler GNAT unter GP-Lizenz. Die Firma AdaCore entwickelt die integrierte Entwicklungsumgebung (IDE) GNAT Programming Studio, die in einer freien und einer kommerziellen Version angeboten wird. Darüber hinaus bieten verschiedene namhafte Hersteller Compiler mit IDEs für Ada an.
Ein Plugin für Eclipse, die GNATbench, wurde zunächst in der kommerziellen Version GNATpro vertrieben, ist mittlerweile aber auch unter einer GPL verfügbar. Daneben gibt es einige kleinere IDEs, die Ada unterstützen und sich vor allem für die Lehre eignen, zum Beispiel jGRASP, oder unter Windows das bekannte AdaGIDE. Außerdem existiert ein Emacs-Mode für Ada.
Geschichte.
In den 1970ern zeigte sich das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten besorgt über die wachsende Anzahl von Programmiersprachen, die in seinen Projekten verwendet wurden. Wartung, Ausbildung, Modularität und Wiederverwendung waren dadurch schwer beeinträchtigt. Viele der Programmiersprachen waren zudem proprietär (man war also vom Anbieter abhängig) oder schlicht veraltet. 1975 sollte eine Arbeitsgruppe diesen Dschungel lichten und eine Sprache finden oder erfinden, welche die Bedingungen des Ministeriums erfüllt. Eine Reihe von Anforderungskatalogen, bezeichnet als "Strawmann", "Woodenman", "Tinman", "Ironman" und "Steelman" (daneben für eine integrierte Entwicklungsumgebung die Dokumente "Sandman" (nicht veröffentlicht), "Pebbleman" und "Stoneman") wurden erstellt und viele existierende Sprachen daraufhin überprüft, doch 1977 kam man zum Ergebnis, dass keine der vorhandenen Sprachen geeignet war. Nach einer Ausschreibung kamen vier Kandidaten in die nähere Auswahl ("Red", "Green", "Blue" und "Yellow" genannt), und im Mai 1979 entschied man sich für "Green" von Jean Ichbiah, welches dann auf den Namen Ada getauft wurde. Die ursprüngliche Beschreibung wurde am 10. Dezember 1980 gebilligt, dem Geburtstag von Ada Lovelace. Der Standard erhielt die Bezeichnung MIL-STD 1815, da 1815 ihr Geburtsjahr war. Die erste Implementierung fand unter Multics statt.
Im Februar 1983 wurde die Sprache zu einer ANSI-Norm (ANSI/MIL-STD 1815A), die ISO übernahm die Norm 1987 als ISO-8652:1987. Diese Version wird heute als Ada 83 bezeichnet, nach dem Jahr der ANSI-Normung. Ada 95, die gemeinsame ISO/ANSI-Norm ISO-8652:1995, wurde im Februar 1995 angenommen. Damit wurde Ada 95 zur ersten objektorientierten Programmiersprache mit einer ISO-Norm. Im Juni 2001 wurde die erste technische Korrektur gemäß den Statuten der ISO als ISO/IEC 8652:1995/Cor 1:2001 angenommen. Weitere Überarbeitungen sind März 2007 ISO/IEC-8652:1995/AMD 1:2007, informell Ada 2005, ISO/IEC 8652:2012, informell Ada 2012, und der aktuelle Standard ISO/IEC 8652:2012/Cor 1:2016. Eine neue Version, arbeitstechnisch Ada 202X genannt, ist kurz vor Vollendung.
Nach der Einführung Adas 1983 fiel die Anzahl der verwendeten Programmiersprachen im Verantwortungsbereich des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums bis 1996 von über 450 auf 37. Das US-Verteidigungsministerium schrieb vor, dass jedes Softwareprojekt mit einem Anteil von mehr als 30 % neuem Code in Ada geschrieben werden musste. Diese Vorschrift wurde 1997 aufgehoben, zudem wurden häufig Ausnahmen genehmigt. In vielen anderen Staaten der NATO wurden ähnliche Vorschriften erlassen.
Um die Verbreitung des Standards und der Sprache allgemein zu unterstützen, finanzierte die US Air Force die Entwicklung des kostenfreien GNAT-Compilers. Die auf Sicherheit ausgelegten Spracheigenschaften von Ada alleine können Fehler nicht verhindern: Ariane V88, die erste Ariane 5, ging im Juni 1996 samt Nutzlast verloren, unter anderem weil ein arithmetischer Überlauf auftrat und für die vom Compiler generierte Ausnahme keine angemessene Ausnahmebehandlung implementiert worden war. Entgegen Bertrand Meyers Behauptung hätte auch die von ihm entwickelte Programmiersprache Eiffel den Verlust der Rakete nicht verhindert. (Der Grund des Fehlschlags war die ungeprüfte Übernahme eines Codes von Ariane 4, der für deren Flugprofil ausgelegt war.) Im April 2008 kam Ada 2005 wieder in die Schlagzeilen, nachdem Lockheed Martin ein Update zum Flugsicherungssystem der Federal Aviation Administration vor der vereinbarten Lieferzeit und unter dem erwarteten Budget abgeliefert hatte.
"Hallo Welt" in Ada.
Das Hallo-Welt-Programm in Ada:
with Ada.Text_IO;
procedure Hallo is
begin
-- Ausgabe des Textes "Hallo, Welt!".
Ada.Text_IO.Put_Line("Hallo, Welt!");
end Hallo;
Weblinks.
Tutorial
Referenz und Glossar |
452 | 122243 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=452 | Apfelmännchen | |
455 | 50 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=455 | Absinth | Absinth, auch "Absinthe" genannt, gehört zu den Wermutspirituosen und ist ein alkoholisches Getränk, das traditionell aus Wermutkraut, Anis, Fenchel, einer je nach Rezeptur unterschiedlichen Reihe weiterer Kräuter sowie Alkohol hergestellt wird.
Die meisten Absinthmarken sind grün, daher wird Absinth auch „Die grüne Fee“ () genannt. Der Alkoholgehalt liegt üblicherweise zwischen 45 und 89 Volumenprozent und ist demnach dem oberen Bereich der Spirituosen zuzuordnen. Aufgrund der Verwendung bitter schmeckender Kräuter, insbesondere von Wermut, gilt Absinth als Bitterspirituose, obwohl er nicht unbedingt bitter schmeckt.
Absinth wurde ursprünglich im 18. Jahrhundert im Val de Travers im heutigen Schweizer Kanton Neuenburg ("République et Canton de Neuchâtel") als Heilmittel hergestellt. Große Popularität fand diese Spirituose, die traditionell mit Wasser vermengt getrunken wird, in der zweiten Hälfte des 19. und dem frühen 20. Jahrhundert in Frankreich. Zu den berühmten Absinth-Trinkern zählen unter anderen Charles Baudelaire, Paul Gauguin, Vincent van Gogh, Ernest Hemingway, Edgar Allan Poe, Arthur Rimbaud, Aleister Crowley, Henri de Toulouse-Lautrec und Oscar Wilde.
Auf dem Höhepunkt seiner Popularität stand das Getränk in dem Ruf, aufgrund seines Thujon-Gehalts abhängig zu machen und schwerwiegende gesundheitliche Schäden hervorzurufen. Ab 1915 war das Getränk in einer Reihe europäischer Staaten und den USA verboten. Moderne Studien haben eine Schädigung durch Absinthkonsum über die Wirkung von Alkohol hinaus nicht nachweisen können; die damals festgestellten gesundheitlichen Schäden werden heute auf die schlechte Qualität des Alkohols und die hohen konsumierten Alkoholmengen zurückgeführt. Seit 1998 ist Absinth in den meisten europäischen Staaten wieder erhältlich. Auch in der Schweiz sind seit 2005 die Herstellung und der Verkauf von Absinth wieder erlaubt.
Inhaltsstoffe.
Verwendete Kräuter.
Außer Wermut ("Artemisia absinthium") enthält in Frankreich und der Schweiz hergestellter Absinth Anis, teilweise ersetzt durch den preisgünstigeren Sternanis, Fenchel, Ysop, Zitronenmelisse und pontischen Wermut. Varianten verwenden auch Angelika, Kalmus, "Origanum dictamnus", Koriander, Veronica, Wacholder, Muskat und verschiedene weitere Kräuter. Wermut, Anis und Fenchel machen den typischen Geschmack des Absinths aus. Die übrigen Gewürze dienen der geschmacklichen Abrundung. Die grüne Farbe, die viele Absinthsorten aufweisen, stammt vom Chlorophyll in pontischem Wermut, Ysop, Melisse und Minze.
Thujon.
Thujon ist ein Bestandteil des ätherischen Öls des Wermuts, das für die Absinthherstellung verwendet wird. Die schädlichen Auswirkungen, die während des Höhepunkts der Absinth-Popularität im 19. Jahrhundert in Frankreich zu beobachten waren und zu denen unter anderem Schwindel, Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Depressionen, Krämpfe, Blindheit sowie geistiger und körperlicher Verfall gehörten, wurden auf diese Substanz zurückgeführt. Thujon ist ein Nervengift, das in höherer Dosierung Verwirrtheit und epileptische Krämpfe (Konvulsionen) hervorrufen kann. Aus diesem Grund wurde in der Europäischen Union der Thujongehalt in alkoholischen Getränken begrenzt (5 mg/kg in alkoholischen Getränken mit einem Alkoholgehalt von bis zu 25 % vol. und bis zu 10 mg/kg in alkoholischen Getränken mit einem Alkoholgehalt von mehr als 25 % vol. sowie bis zu 35 mg/kg in Bitter-Spirituosen.)
Die insbesondere in Tierexperimenten des 19. Jahrhunderts beobachtete konvulsive Wirkung des Absinths wird heute auf eine Blockierung von GABAA-Rezeptoren und eine Desensibilisierung von Serotonin-5-HT3-Rezeptoren durch Thujon zurückgeführt. Es ist jedoch inzwischen widerlegt, dass die im Absinth enthaltene Thujonmenge ausreicht, um in diesem Maße pharmakodynamisch zu wirken. Als Ursache oder wesentlicher Faktor eher wahrscheinlich ist der im Absinth enthaltene Alkohol. Auch ein möglicher gemeinsamer Wirkmechanismus mit dem Cannabis-Wirkstoff Tetrahydrocannabinol über eine Aktivierung von Cannabinoid-Rezeptoren konnte nicht bestätigt werden. Eine in der Clubszene und in den Medien proklamierte euphorisierende und aphrodisierende Wirkung heutiger Absinthe kann anhand dieser experimentellen Daten nicht auf die in diesen Getränken enthaltene Thujondosis zurückgeführt werden.
Der Absinth des 19. Jahrhunderts hatte entgegen früheren Berichten, die von bis zu 350 Milligramm je Liter sprachen, im Wesentlichen keinen höheren Thujongehalt als die heutigen reglementierten Absinthe. In einer Untersuchung von Absinthen auf Basis historischer Rezepte und Prozesse und von 1930 hergestelltem Absinth konnten nur Thujonmengen von unter 10 mg/kg nachgewiesen werden. Der Thujongehalt kann jedoch höher liegen, wenn Wermutauszüge oder Wermutöle zugesetzt werden. Die Absinthe werden auf diese Weise jedoch sehr bitter.
Alkohol.
Der Alkoholgehalt historischer Absinthe lag zwischen 45 und 78 %. In diesem Bereich befinden sich mit wenigen Ausnahmen auch die heute erhältlichen Absinthsorten. Absinth ist aber auch mit einem Alkoholgehalt von bis zu 90 % erhältlich. Wegen des hohen Alkoholgehalts wird Absinth in der Regel verdünnt getrunken.
Historisch belegt sind fünf Qualitätsgrade: "Absinthe des essences" („Absinth-Auszüge“), "Absinthe ordinaire" („gewöhnlicher Absinth“), "Absinthe demi-fine" („Absinth halb-fein“), "Absinthe fine" („Absinth fein“) und "Absinthe Suisse" („Schweizer Absinth“), wobei "Absinthe des essences" den geringsten Alkoholgehalt und die niedrigste Qualität repräsentiert. "Absinthe Suisse" verweist nicht auf das Herstellungsland, sondern auf einen besonders hohen Alkoholgehalt und hohe Qualität.
Rückblickend wird heute nicht mehr Thujon, sondern der Alkoholgehalt des Absinths als die vorrangige Ursache des im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiteten "Absinthismus" angesehen. 1914 lag die von erwachsenen Franzosen pro Kopf konsumierte reine Alkoholmenge bei jährlich 30 Litern. Im Vergleich dazu führt heute (2013, laut WHO) Moldau mit 18,22 Litern reinem Alkohol pro Erwachsenem weltweit die Statistiken des Alkoholkonsums an. Die Symptome des Absinthismus unterscheiden sich nicht von denen eines chronischen Alkoholmissbrauchs (Alkoholismus).
Andere Inhaltsstoffe.
Ein zusätzliches Problem des Absinths des 19. Jahrhunderts war, dass der verwendete Alkohol oft minderwertig war und viel Amylalkohol und andere Fuselöle enthielt. Auch Methanol, das Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit bewirkt und als Spätfolge Erblindung, Schüttellähmung oder bei einer Überdosis den Tod nach sich zieht, war im damaligen Absinth enthalten. Um dem Absinth seine charakteristische Farbe zu verleihen, wurden bisweilen Zusatzstoffe wie Anilingrün, Kupfersulfat, Kupferacetat und Indigo zugesetzt. Ebenso wurde Antimontrichlorid hinzugefügt, um den Louche-Effekt (die milchige Trübung des sonst klaren Getränks, wenn es mit Wasser verdünnt oder sehr stark gekühlt wird) hervorzurufen. Jedoch lagen die in historischen Proben gefundenen Konzentrationen potenzieller Schadstoffe wie Pinocamphon, Fenchon, Alkoholverunreinigungen, Kupfer- und Antimon-Ionen in einem für den Rückschluss auf Absinthismus unverdächtigen Bereich.
Herstellung.
Bei der Herstellung werden Wermut, Anis und Fenchel in Neutralalkohol oder Weinalkohol mazeriert (eingeweicht) und anschließend destilliert. Die Destillation trägt dazu bei, die starken Bitterstoffe des Wermuts abzutrennen. Diese sind weniger flüchtig als die Aromastoffe und bleiben bei der Destillation zurück. Andernfalls wäre das Ergebnis unangenehm bis ungenießbar bitter. Eine unverhältnismäßige Bitterkeit bei Absinth kann ein Indiz dafür sein, dass bei der Produktion auf die Destillation ganz oder teilweise verzichtet wurde, bei der Herstellung Wermutextrakte verwendet wurden und es sich um minderwertigen beziehungsweise unechten Absinth handeln könnte.
Das Destillat kann mit Kräutern wie Pontischem Wermut, Melisse und Ysop eingefärbt werden. Die Färbung durch Kräuter trägt zum geschmacklichen Gesamtbild des Endprodukts bei. Sie stellt hohe Ansprüche an die Fertigkeiten des Herstellers bei der Auswahl der Färbekräuter, ihrem quantitativen Verhältnis und der Dauer der Färbung. Bei altem Absinth kann sich die Färbung des Getränks von einem ursprünglich leuchtenden Grün in ein gelbliches Grün oder Braun wandeln, da sich das Chlorophyll zersetzt. Sehr alte Absinthe sind gelegentlich bernsteinfarben. Klarer Absinth, auch „Blanche“ oder „La Bleue“ genannt, ist typisch für den in illegalen Destillerien in der Schweiz hergestellten Absinth. Der Verzicht auf die normalerweise für Absinth typische Färbung erleichterte den heimlichen Verkauf in Zeiten, in denen Absinth in der Schweiz verboten war.
Heute wird Absinth häufig hergestellt, indem Absinthessenz in hochprozentigen Alkohol gegeben wird. Erst ab der gehobenen Mittelklasse werden klassische Produktionsmethoden wie die Mazeration angewandt. Einige der heute hergestellten Absinthe werden mit Lebensmittelfarbe gefärbt. Es handelt sich auch dabei meist um minderwertige Absinthe mit einem vereinfachten Produktionsprozess, der den Absinth wichtiger geschmacklicher Nuancen beraubt. Neben der „Grünen Fee“ gibt es auch rot, schwarz oder blau gefärbten Absinth. Diese für Absinth ungewöhnliche Färbung geschieht vor allem aus Marketinggründen.
Geschichte.
Herkunft des Namens.
„Absinth“ ist die Eindeutschung des französischen "absinthe", das ursprünglich „Wermut“ bedeutete. Es geht über zurück auf , was ebenfalls den Wermut bezeichnete.
Wermut als Heilmittel.
Wermut gehört zur Gattung "Artemisia" (Beifuß), deren Vertreter in den gemäßigten Klimazonen der nördlichen Hemisphäre wachsen. Viele Arten dieser duftenden und häufig insektenabwehrenden Pflanzen haben eine lange Tradition als Heilpflanze. Hinweise auf die Verwendung von Beifuß-Arten zu Heilzwecken finden sich bereits im Papyrus Ebers, der Texte aus der Zeit von 3550 bis 1550 vor Christus enthält. Auch das Alte Testament nimmt an mehreren Stellen Bezug auf die Bitterkeit der "Artemisia"-Kräuter. In deutschen Ausgaben werden die Pflanzen meist mit „Wermut“ übersetzt, obwohl es sich um andere Arten der Gattung "Artemisia" handelt. 2007 haben deutsche Forscher in einer Doppelblind-Studie herausgefunden, dass Wermut eine „signifikante Verbesserung“ bei Patienten mit Morbus Crohn bringe.
Für die Entstehung des Absinths ist die Verwendung von "Artemisia"-Kräutern in Tinkturen und Extrakten von Bedeutung. Sie wird schon von Theophrast und Hippokrates erwähnt. Wermutabkochungen in Wein wurden von Hildegard von Bingen als Entwurmungsmittel empfohlen. Wermutweine, bei denen Wermutblätter gemeinsam mit Trauben vergoren werden, sind für das 16. Jahrhundert belegt. Sie standen in dem Ruf, besonders wirksame Magenmittel zu sein.
Die Entstehung des Absinths.
Das Rezept für Absinth ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Val-de-Travers des heutigen schweizerischen Kantons Neuenburg (Neuchâtel) entstanden. Für diese Gegend ist der Konsum von Wein, der mit Wermut versetzt wurde, ab 1737 belegt. Während der ursprüngliche Herstellungsort gesichert ist, werden je nach Quelle unterschiedliche Personen als Urheber der ursprünglichen Rezeptur genannt. Der aus politischen Gründen in das preußische Fürstentum geflohene französische Arzt Dr. Pierre Ordinaire, der in Couvet als Landarzt praktizierte, soll einen selbst hergestellten „élixir d’absinthe“ bei seinen Patienten verwendet haben. Nach seinem Tod gelangte das Rezept an die gleichfalls in Couvet ansässige Familie Henriod, die es als Heilmittel deklarierte und über Apotheken verkaufte. Nach anderen Quellen wurde ein Absinthelixir in der Familie Henriod bereits länger hergestellt – ein Wermutelixier sei schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts von einer Henriette Henriod destilliert worden. Auch die mit dem Gastwirt Henry-Francois Henriod verheiratete heilkundige Suzanne-Marguerite Motta, „Mutter Henriod“ genannt, wird als Urheberin der Originalrezeptur genannt. Helmut Werner hat in seiner Geschichte des Absinths die These aufgestellt, dass Pierre Ordinaire auf Basis seiner medizinischen Erfahrung lediglich den Herstellungsprozess eines Familienrezeptes der Henriod-Familie optimierte und auf größere Mengen auslegte.
Gesichert ist, dass 1797 ein Major Dubied die Rezeptur von einem Mitglied der Familie Henriod erwarb und mit seinem Sohn Marcellin und seinem Schwiegersohn Henri Louis Pernod eine Absinth-Brennerei gründete. Anfänglich wurden täglich nur 16 Liter produziert, und der größte Teil der Produktion ging ins nahe gelegene Frankreich. Um die umständlichen Zollformalitäten zu umgehen, verlegte Henri Louis Pernod im Jahre 1805 die Destillerie ins französische Pontarlier und produzierte dort anfangs täglich 400 Liter. Sein Erfolg zog das Entstehen einer Reihe weiterer Absinthbrennereien sowohl in Frankreich als auch im Fürstentum Neuenburg nach sich.
Verwendung von Absinth durch Militärärzte.
1830 besetzte Frankreich Algerien. Die unzureichenden sanitären Einrichtungen führten regelmäßig zu Epidemien unter den französischen Soldaten, die von Militärärzten unter anderem mit einer Mischung aus Wein, Wasser und Absinth bekämpft wurden. Bereits die ersten Schiffe, die nach Algerien übersetzten, hatten Fässer mit Absinth an Bord. Die Soldaten erhielten tägliche Absinthrationen, weil man hoffte, auf diese Weise sowohl die Auswirkungen von schlechtem Trinkwasser als auch die Malaria bekämpfen zu können. Auf die Absinthproduktion zeigte dies deutliche Auswirkungen. Die Firma Pernod steigerte ihre Produktion auf täglich 20.000 Liter, und ihr Konkurrent Berger gründete eine Absinthbrennerei in der Nähe von Marseille, um die Transportwege nach Algerien zu verkürzen.
Aus Algerien zurückkehrende Soldaten machten Absinth in ganz Frankreich bekannt. Populär wurde das Getränk insbesondere in Paris, wo die Kriegsheimkehrer Absinth regelmäßig in den späten Nachmittagsstunden in den Cafés genossen.
Veränderte Trinkgewohnheiten und der Erfolg des Absinths.
Bereits um 1860 war die „grüne Stunde“, die „heure verte“ im Alltagsleben französischer Metropolen etabliert. Absinthtrinken zwischen 17 und 19 Uhr galt als chic. Zu seinem Ruf als zeitgemäßes Getränk der späten Nachmittagsstunden trugen auch die zahlreichen Trinkrituale bei. Auf den Tischen der Bars und Cafés der Pariser Boulevards standen häufig hohe Wasserbehälter mit mehreren Hähnen. Ein Absinthtrinker platzierte einen der spatelförmigen und gelochten oder geschlitzten Absinthlöffel auf sein Glas und legte darauf ein Stück Zucker. Dann drehte er einen der Hähne des Wasserbehälters auf, wodurch mit etwa einem Tropfen pro Sekunde Wasser auf den Löffel herabtropfte. Jeder Tropfen gezuckerten Wassers, der in das darunter stehende Absinthglas fiel, hinterließ im Absinth eine milchige Spur, bis schließlich ein Mischungsverhältnis erreicht war, das dem Getränk insgesamt eine milchig-grünliche Färbung verlieh.
Marie-Claude Delahaye gilt in Frankreich als die Historikerin, die sich am intensivsten mit der Geschichte des Absinths auseinandergesetzt hat. In einem Interview mit Taras Grescoe wies sie darauf hin, dass Absinth in mehrfacher Hinsicht eine Neuerung in den französischen Trinkgewohnheiten darstellte. Erstmals tranken Franzosen ein alkoholhaltiges Getränk in größeren Mengen, dessen Geschmack wesentlich von Kräutern bestimmt war und das mit Wasser verdünnt wurde. Absinth war gleichzeitig die erste hochprozentige Spirituose, die Frauen, die nicht zur Halbwelt gehörten, in der Öffentlichkeit konsumieren konnten. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Absinth sich als Getränk der Bohème etabliert.
Absinth war ein verhältnismäßig preisgünstiges Getränk, das selbst nach der Besteuerung durch die französische Regierung preisgünstiger blieb als Wein. Es ließ sich außerdem mit billigem Alkohol aus Zuckerrüben oder Getreide produzieren, und ein einzelnes Glas Absinth konnte wegen seiner Verdünnung mit Wasser über Stunden die Berechtigung erkaufen, in einer der Bars auszuharren. Mit etwa drei Sous pro Glas konnten sich nicht nur Künstler dieses Getränk erlauben, sondern auch Arbeiter. Für viele von ihnen wurde es zur Gewohnheit, nach Beendigung ihrer Arbeit in eine der Bars einzukehren und Absinth zu trinken. Angesichts beengter Wohnverhältnisse und eines sehr geringen Freizeitangebots war die Einkehr in eine Bar eine der wenigen Unterhaltungsmöglichkeiten. Daraus erklärt sich, dass es in Paris zur Wende des 20. Jahrhunderts 11,5 Kneipen je 1000 Einwohner gab. 1912 betrug der Jahreskonsum von Absinth in Frankreich 221,9 Mio. Liter.
Absinth als Getränk der Künstler und Literaten.
Absinthgenuss wird bis heute mit der französischen Kunstszene dieser Zeit verbunden. So schreiben Hannes Bertschi und Marcus Reckewitz: „Es scheint, als sei die gesamte europäische Elite der Literatur und der bildenden Künste im Absinthrausch durch das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert getorkelt.“ Vereinsamte, heruntergekommene Absinthtrinker waren immer wieder Motive der damaligen Malerei und der Literatur. Édouard Manets Gemälde "Der Absinthtrinker", das um 1859 entstand, erregte mit dem Sujet eines verwahrlosten Alkoholikers großen Anstoß und wurde vom Auswahlkomitee des Pariser Salons abgelehnt. Die literarische Vorlage zu dem Gemälde war ein Gedicht von Charles Baudelaire, der selbst Absinth in großen Mengen konsumierte und so versuchte, durch Syphilis verursachte Schmerzen und Schwindelgefühle zu bekämpfen. Weitere frühe Darstellungen sind die Karikaturen "Le premier verre, le sixième verre" von Honoré Daumier und "L’Èclipse" von André Gill. Edgar Degas’ Gemälde "Der Absinth" von 1876 zeigt ein sich nicht mehr wahrnehmendes, apathisch nebeneinander sitzendes Paar in einer der französischen Bars.
Neben Camille Pissarro und Alfred Sisley gehörte auch Henri Toulouse-Lautrec zu den bekannten Absinthtrinkern, der seinen Malerkollegen Vincent van Gogh 1887 in einem Café mit einem Glas Absinth porträtierte. Im selben Jahr entstand dessen "Stillleben mit Absinth". Ein Beleg für die Verbreitung des Getränkes außerhalb von Paris ist sein in Arles entstandenes Gemälde "Nachtcafé an der Place Lamartine", das ebenso wie Paul Gauguins "Dans un café à Arles" Barbesucher beim Absinthkonsum zeigt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wählte Pablo Picasso wiederholt Absinthtrinker als Motiv. Neben verschiedenen Bildern seiner "Blauen Periode", wie zum Beispiel "Buveuse assoupie" aus dem Jahr 1902, entstand 1911 das kubistische Gemälde "Das Glas Absinth" und 1914 eine Skulptur mit gleichem Titel. Ebenfalls aus dieser Zeit stammen die Bilder "Der Absinthtrinker" des tschechischen Malers Viktor Oliva sowie "The Absinthe Drinker" des irischen Künstlers William Orpen.
Beispiele für Absinth in der Literatur sind "À Rebours" von Joris-Karl Huysmans, "Lendemain" von Charles Cros und "Comédie de la Soif" von Arthur Rimbaud. Dieser wurde am 10. Juli 1873 von seinem betrunkenen Liebhaber Paul Verlaine angeschossen, was möglicherweise auf übermäßigen Absinthkonsum zurückzuführen ist. Oscar Wilde beschrieb Absinth mit den poetischen Worten: „Absinthe has a wonderful color, green. A glass of absinthe is as poetical as anything in the world.“ Zugleich gab er zu bedenken:
„Nach dem ersten Glas sieht man die Dinge so, wie man sie gern sehen möchte. […] Am Ende sieht man die Dinge so, wie sie sind, und das ist das Entsetzlichste, das geschehen kann.“
Auch wenn die Darstellungen in Kunst und Literatur häufig explizit Absinth nennen, spiegeln sich in den Gemälden und Romanen die alkoholbedingten Probleme einer Gesellschaft, in der traditionell Wein konsumiert wurde und hochprozentige Alkoholika bis zur Einführung von Absinth verhältnismäßig selten genossen wurden. Rund 100 Jahre zuvor hatte ein sprunghaft angestiegener Branntweinkonsum in Großbritannien vergleichbare soziale Probleme geschaffen und war nur durch gesetzliche Maßnahmen wieder auf verträglichere Maße rückführbar gewesen.
Absinthgegner.
Bereits um das Jahr 1850 wurden Sorgen über die Folgen des Langzeit-Absinth-Konsums laut. Dieser führe zu "Absinthismus". Als Symptome galten Abhängigkeit, Übererregbarkeit und Halluzinationen. Nachdem Émile Zolas 1877 veröffentlichter Roman "L’assommoir" (dt. "Der Totschläger") auf die gravierenden sozialen Folgen des Alkoholismus aufmerksam gemacht hatte, hatten eine Reihe von Antialkoholikervereinigungen versucht, Absinth verbieten zu lassen – verschiedentlich gemeinsam mit den Weinproduzenten. 1907 gingen 4000 Demonstranten in Paris unter dem Slogan „Tous pour le vin, contre l’absinthe“ (Alle für den Wein und gegen den Absinth) auf die Straße. Wein galt im Frankreich jener Zeit als gesundes Getränk und Grundnahrungsmittel. „Absinth macht kriminell, führt zu Wahnsinn, Epilepsie und Tuberkulose und ist verantwortlich für den Tod tausender Franzosen. Aus dem Mann macht Absinth ein wildes Biest, aus Frauen Märtyrerinnen und aus Kindern Debile, er ruiniert und zerstört Familien und bedroht die Zukunft dieses Landes“, zitiert Barnaby Conrad in seiner Geschichte des Absinths die damaligen Kritiker. Auch Zola beschrieb in seinem einflussreichen Roman Schnaps als ein menschenverderbendes Getränk, Wein dagegen als das Recht des Arbeiters. Unterstützung fand diese Sichtweise auch bei Medizinern. Alkoholismus war in Frankreich erstmals in den 1850er Jahren wissenschaftlich beschrieben worden. Französische Mediziner hatten um 1900 bei den billigen Absinthmarken, die im kalten Auszugsverfahren hergestellt wurden, besonders viele Schadstoffe festgestellt. Auch aus ihrer Sicht war Absinth das erste Getränk, das verboten werden sollte.
Ein Mord und das Absinthverbot.
Ein spektakulärer Mordfall im August des Jahres 1905 in der Waadtländer Gemeinde Commugny, der europaweit ausführlich in den Medien dargestellt wurde, war der letzte Anstoß, Herstellung und Verkauf von thujonhaltigen Getränken in den meisten europäischen Ländern und den USA gesetzlich zu verbieten.
Der Weinbergarbeiter Jean Lanfray war starker Alkoholiker, der bis zu fünf Liter Wein pro Tag trank. An dem Tag, an dem er seine schwangere Frau, seine zweijährige Tochter Blanche und seine vierjährige Tochter Rose in einem Wutanfall ermordete, hatte er neben Wein auch Branntwein sowie zwei Gläser Absinth zu sich genommen. In der Verbotsdebatte, an der sich auch Weinproduzenten lebhaft beteiligten, konzentrierte man sich auf den Absinthgenuss, der dem Mord vorausgegangen war. In Belgien nahm man den Vorfall zum Anlass, noch im selben Jahr Absinth zu verbieten. In der Schweiz wurde das Absinth-Verbot im Jahre 1910 aufgrund einer Volksinitiative, bei der sich am 5. Juli 1908 63,5 Prozent der abstimmenden männlichen Bevölkerung dafür aussprachen, in die Verfassung aufgenommen. Das Verbot trat am 7. Oktober 1910 in Kraft. In Frankreich ließ man sich mit dem Verbot bis 1914 Zeit. Ob sich das Verbot von Absinth positiv auf die französische Volksgesundheit auswirkte, lässt sich nicht mehr feststellen. Mangelnde Gesundheitsstatistiken und die Zäsur des Ersten Weltkriegs verhindern entsprechende Analysen.
Zu den heutigen EU-Ländern, die sich dem Absinth-Verbot zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht anschlossen, zählten lediglich Spanien und Portugal. Auch in Großbritannien, wo Absinth im 19. Jahrhundert nur ein Nischendasein fristete, blieb zumindest der Verkauf erlaubt. Das Verbot des Absinths führte in Frankreich zu einer wachsenden Popularität des Absinthsubstituts Pastis, für dessen Herstellung kein Wermut verwendet wird, das aber ebenfalls mit Wasser verdünnt in den Nachmittagsstunden genossen wird.
Die Schweiz: Brennereien im Untergrund.
Nach dem französischen Verbot verlegte die Firma Pernod, einer der größten französischen Absinth-Hersteller, ihre Absinth-Produktion zunächst nach Spanien, konzentrierte sich aber dann auf die Herstellung von Anis-Schnäpsen. Das Val-de-Travers dagegen, das ursprüngliche Herstellungsgebiet, litt stärker unter dem Verbot. Über ein Jahrhundert hatte man in dem eher ärmlichen Tal vom Wermutanbau, dem Verkauf des getrockneten Krauts sowie der Absinth-Destillation gelebt. Nach dem Verbot ließ die Schweizer Regierung die Wermut-Felder unterpflügen. Die Destillation wurde jedoch heimlich weitergeführt – die Einwohner des Tales legen Wert darauf, auf eine 250-jährige ununterbrochene Geschichte der Absinth-Produktion verweisen zu können.
Die Zahl der Destillerien, die im Val-de-Travers illegal Absinth herstellten, schätzen Interviewpartner des Autors Taras Grescoe zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf etwa sechzig bis achtzig. Ähnlich wie den illegal gebrannten Moonshine der USA, den norwegischen Hjemmebrent oder den irischen Poteen, umgibt auch den illegalen Schweizer Absinth eine reiche Folklore. Berthe Zurbuchen, eine Berühmtheit des Val-de-Travers, die achtzig Jahre lang illegal Absinth brannte und in einem Schauprozess in den 1960er Jahren zu 3000 Franken Strafzahlung verurteilt wurde, soll ihren Richter nach dem Urteilsspruch gefragt haben, ob sie sofort zahlen solle oder erst, wenn er das nächste Mal vorbeikäme, um sich seine wöchentliche Flasche abzuholen. Nach der Verurteilung strich sie ihr Haus demonstrativ absinthgrün. Im Jahr 1983 servierte man anlässlich eines Staatsbesuchs dem französischen Präsidenten François Mitterrand ein mit Absinth glasiertes Soufflé. Für den Restaurantbesitzer führte die demonstrative Verwendung des illegalen Absinths zu einer Hausdurchsuchung und einer viertägigen Gefängnisstrafe auf Bewährung. Der Vertreter des Kantons, Pierre-André Delachaux, der das absinthglasierte Soufflé angeregt hatte, entging nur knapp einem erzwungenen Rücktritt von seinem Amt und dem Ende seiner politischen Karriere.
Ab 2001 wurde im Val-de-Travers neben illegalem Absinth auch eine legale Absinth-Variante produziert. Dies war möglich, weil der Alkohol- und Thujongehalt soweit reduziert wurde, dass dieses Produkt laut Gesetz kein Absinth mehr war. Noch vor der Absinth-Legalisierung in der Schweiz am 1. März 2005 bemühte man sich, Absinth als intellektuelles Gut des Val-de-Travers unter dem IGP, dem „indication géographique protégée“ schützen zu lassen. Man ist dabei in direkter Konkurrenz zu den Nachbarn auf der französischen Seite der Grenze, die gleichermaßen versuchen, eine „appellation d’origine réglementée“ zu erhalten. Unabhängig davon, wer in diesem Wettstreit erfolgreich sein wird, könnten nach einer Verleihung nur noch solche Produkte die Bezeichnung Absinth tragen, die aus dieser Region des Jura stammen und bei deren Herstellung bestimmte Qualitätsstandards eingehalten wurden.
Absinth als Modegetränk der späten 1990er Jahre.
So schreibt Grescoe in seinem Essay "Absinthe Suisse – One glass and You are Dead". Auch die im Internet verfügbaren Rezepte für die Heimherstellung von Absinth können als Indiz dafür gewertet werden, dass das Verbot zum Mythos dieses Getränks beigetragen hat. Für andere, einst populäre Getränke wie etwa Veilchen- oder Vanillelikör lässt sich keine auch nur annähernd vergleichbare Fülle an Rezepturen finden.
Eine breite öffentliche Wahrnehmung der Spirituose Absinth setzte ein, als ein auf alkoholische Getränke spezialisierter Importeur in den 1990er Jahren bemerkte, dass es in Großbritannien keine spezifische Gesetzgebung gab, die den Verkauf von Absinth untersagte. Hill’s Liquere, eine tschechische Brennerei, begann für den britischen Markt Hill’s Absinth herzustellen – ein Getränk, von dem Taras Grescoe behauptet, es wäre nichts anderes als ein hochprozentiger Wodka, den man mit Lebensmittelfarbe eingefärbt habe. Der beginnende Wiederausschank von Absinth wurde von einer Reihe von Artikeln in Lifestyle-Magazinen begleitet, die sich über seine gerne kolportierte halluzinogene und erotisierende Wirkung, das in vielen Ländern geltende Absinth-Verbot, van Goghs angeblich absinthinduzierte Selbstverstümmelung und die elaborierten Trinkrituale ausließen. Diese breite Medienabdeckung lässt sich auch in allen anderen europäischen Ländern beobachten, die in den Folgejahren den Ausschank von Absinth wieder erlaubten. Selbst Filme griffen Absinth als epochentypisches Ausstattungsmerkmal auf, so 1992 in Bram Stoker’s Dracula. 2001 berauscht sich Johnny Depp im Film From Hell auf seiner Jagd nach Jack the Ripper an Opium und smaragdgrünem Absinth. Beides gemeinsam schuf eine neue Nachfrage nach diesem Getränk, die Importeure und Brennereien länderspezifische Gesetzgebungen überprüfen ließ. In den Niederlanden ist der Verkauf von Absinth beispielsweise seit Juli 2004 wieder erlaubt, nachdem der Amsterdamer Weinhändler Menno Boorsma erfolgreich gegen das Verbot geklagt hatte.
Anpassungen bestehender Gesetze.
Klagen gegen ein Absinth-Verbot hatten in der EU generell große Aussicht auf Erfolg, da sowohl Spanien als auch Portugal die Absinth-Herstellung und den Verkauf erlaubten. Einige Länder wie etwa Belgien hoben ihr Absinthverbot mit dem Hinweis auf eine ausreichende EU-Gesetzgebung auf, ohne durch Klagen dazu gezwungen worden zu sein. In Deutschland, wo seit 1923 nicht nur die Herstellung von Absinth, sondern sogar die Verbreitung von Rezepten zur Herstellung verboten waren, trat das Absinthgesetz Ende 1981 außer Kraft, faktisch blieb die Rechtslage aber beinahe unverändert, da die Aromenverordnung die Verwendung von Wermutöl und Thujon weiterhin untersagte. Eine grundlegende Änderung trat 1991 ein, als die 1988 verfasste EU-Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Aromen zur Verwendung in Lebensmitteln in Kraft trat (88/388/EWG). Von nun an waren thujonhaltige Pflanzen und Pflanzenteile (bspw. Wermut) sowie Aromaextrakte aus diesen unter Einbehaltung von folgenden Thujon-Grenzwerten gestattet: 5 mg/l bei bis zu 25 Volumenprozent Alkohol, 10 mg/l bei darüber liegendem Alkoholgehalt und 35 mg/l in Bitterspirituosen. 1999 strich die Schweiz das 1910 in die Verfassung aufgenommene Absinth-Verbot. In den USA fiel das Verbot 2007 mit diversen Auflagen. Frankreich hob 2011 das seit 1915 geltende Absinth-Verbot auf.
Trinkweisen und -rituale.
Ähnlich den Anis-Spirituosen Pastis, Rakı oder Ouzo wird Absinth grundsätzlich nicht pur getrunken, sondern mit Wasser verdünnt. Die klare Flüssigkeit opalisiert dabei, das heißt, sie trübt sich milchig ein. Dieses Phänomen wird Louche-Effekt genannt. Ursache des Effekts ist die schlechte Wasserlöslichkeit des im Absinth enthaltenen ätherischen Öls Anethol. Die verschiedenen Trinkrituale, die sich rund um den Absinth entwickelt haben, werden "französisches Trinkritual", "Schweizer Trinkweise" und "tschechisches" oder "Feuerritual" genannt. Ihnen allen ist eigen, dass der Absinth im Verhältnis zwischen 1:1 bis 1:5 mit Eiswasser vermischt wird. Die meisten Absinthtrinker wählen ein Mischungsverhältnis von mindestens 1:3.
Die Schweizer Trinkweise ist dabei die am wenigsten etablierte. Bei ihr werden lediglich zwei bis vier Zentiliter Absinth mit kaltem Wasser vermischt. Auf Zucker wird verzichtet, da die in der Schweiz getrunkenen Absinthe grundsätzlich weniger bitter waren als die französischen.
Das Feuerritual, auch tschechische Trinkweise genannt, ist historisch nicht mit dem Absinthkonsum verbunden. Es wurde in den 1990er Jahren von tschechischen Absinthproduzenten entwickelt, um den Genuss des Getränks attraktiver zu machen. Dazu werden ein bis zwei mit Absinth getränkte Würfelzucker auf einen Absinthlöffel gelegt und angezündet. Sobald der Zucker karamellisiert und Blasen wirft, werden die Flammen gelöscht und der Zucker erst dann in den Absinth gegeben. Geraten noch brennende Zuckerstücke in das Glas, besteht die Gefahr, dass sich der darin befindliche Absinth entzündet. Auch hier wird der Absinth in einem Verhältnis von 1:3 bis 1:5 mit Eiswasser vermischt.
Das französische Trinkritual ist dagegen eine historisch belegbare Tradition. Absinth wurde im 19. Jahrhundert bis hin zum Verbot zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich auf diese Weise genossen. Ähnlich wie beim Feuerritual wird der Absinth mit Zucker getrunken. Dazu werden ein oder zwei Stück Würfelzucker auf einem Absinthlöffel platziert, und es wird sehr langsam kaltes Wasser über den Zucker gegossen oder geträufelt. Das Mischungsverhältnis liegt bei 1:3 bis 1:5.
Für das Hinzugeben des Wassers kann auf eine Absinthfontäne oder einen speziellen Glasaufsatz – das Brouille – zurückgegriffen werden. Bei einer Fontäne wird der Zucker auf dem Absinthlöffel durch einen dünnen Strahl aus den Fontänenhähnen aufgelöst. Das Brouille wird hingegen direkt auf das Absinthglas gesetzt, so dass der Absinth ohne Absinthlöffel zubereitet wird. Durch ein kleines Loch im Glasaufsatz strömt das Wasser in das darunter befindliche Absinthglas.
Literatur.
Deutsch
Englisch
Französisch |
456 | 234611 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=456 | Alemannen | |
458 | 2628888 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=458 | Artikel | Artikel (von ) steht für:
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460 | 429746 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=460 | Brandenburg (Begriffsklärung) | Brandenburg steht für:
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461 | 204203 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=461 | Bundesrepublik | Bundesrepublik steht für:
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462 | 230304702 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=462 | Beruf | Ein Beruf ist „jede auf Erwerb gerichtete Beschäftigung, die sich nicht in einem einmaligen Erwerbsakt erschöpft“ (BVerfGE 97,228). Unter „Beruf“ wird oft eine systematisch erlernte, spezialisierte, meistens mit einem Qualifikationsnachweis versehene Tätigkeit verstanden. Der Begriff ist abzugrenzen vom umgangssprachlichen Ausdruck Job, der eine Tätigkeit zum Erwerb bezeichnet, die nur vorübergehend ausgeübt wird oder nicht an eine besondere Eignung oder Ausbildung gebunden ist.
Wortherkunft und Geschichte.
Beruf geht auf „berufen“ (mhdt. "beruofen") zurück, einer Präfixbildung des Verbs „rufen“.
Die Ständelehre des Mittelalters kannte die „vocatio interna“ und die „vocatio externa“. Im Mittelalter betrachteten insbesondere Theologen den Beruf unter zwei Teilaspekten, dem „inneren Beruf“ () und dem „äußeren Beruf“ (). Martin Luther übersetzte das lateinische "vocatio" als die Berufung durch Gott. „Jeder bleibe in dem Beruf, in dem ihn Gottes Ruf traf“ oder „Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde“ . Er verwendete das Wort Beruf auch für den Stand, das Amt und die Arbeit des Menschen in der Welt. Luther hatte beide Aspekte zusammengefasst, weil für ihn Christen bei jeder Tätigkeit einer inneren und äußeren Berufung folgten. Diese innere Berufung mache jede Tätigkeit, auch die in der Familie, zum Beruf. "Vocatio interna" ist die von Gott ausgehende innere Berufung einer Person zum heiligen Amt (Priester oder Mönch), die durch Gisbert Voetius in seiner „Politica ecclesiastica“ (1663–1676) neues Gewicht erhielt. Die innere Berufung ist das eingenommene geistliche Amt, die äußere Berufung betraf weltliche Berufsstände.
Im Rahmen der späteren Säkularisierung verschwanden die religiösen Bestandteile, während die soziale Verpflichtung im Rahmen der Arbeitsteilung erhalten blieb. Über Beruf und Berufsausbildung wurden in den Zünften die handwerklichen Aktivitäten gesteuert und die ständische Gesellschaftsordnung repräsentiert. Erst seit dem Übergang in das 19. Jahrhundert erhält der Begriff Beruf jenen Inhalt einer eine fachliche Qualifikation voraussetzenden, in der Regel mit einem Erwerbseinkommen verbundenen Tätigkeit. Beruf ist „der Kreis von Tätigkeiten mit zugehörigen Pflichten und Rechten, den der Mensch im Rahmen der Sozialordnung als dauernde Aufgabe ausfüllt und der ihm zumeist zum Erwerb des Lebensunterhaltes dient“. Der Soziologe Max Weber sieht 1925 im industriellen Beruf die „Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen“, die für Personen die „Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- und Erwerbschance“ bildeten. Seit Webers Definition werden Berufe amtlich erfragt und in Statistiken veröffentlicht. Die amtliche deutsche Statistik versteht unter Beruf „die auf Erwerb gerichteten, besondere Kenntnisse und Fertigkeiten sowie Erfahrung erfordernden und in einer typischen Kombination zusammenfließenden Arbeitsverrichtungen … und die in der Regel auch die Lebensgrundlage für ihn und seine nicht berufstätigen Angehörigen bilden.“
Berufsinhalt sind neben der Einkommenserzielung und dem Erwerb von Rentenansprüchen auch der persönliche Lebensinhalt, Interessen, Wertvorstellungen und Ziele, die spezifische gesellschaftliche Wertschätzung und das soziale Ansehen. Berufe und Berufsinhalte unterliegen heute einem mehr oder weniger starken Wandel insbesondere hinsichtlich der Arbeitsbedingungen. Die Berufsausbildung war ursprünglich so gestaltet, dass der Mensch den einmal erlernten Beruf sein gesamtes Berufsleben ausüben sollte. Technischer Fortschritt, ökonomischer Wandel und zunehmende Arbeitsteilung haben jedoch weltweit dazu geführt, dass ganze Berufsgruppen überflüssig wurden und der Beruf als „Lebensaufgabe“ nicht mehr Begriffsinhalt darstellt. Das hängt zusammen mit dem Wandel von der Berufsorientierung hin zur Prozessorientierung, der durch die Veränderung der Berufsbilder und -anforderungen zum Berufswechsel und Umschulung zwingen kann.
Sozialgeschichtliche Aspekte.
Die zur Ausübung eines Berufs erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse werden durch Ausbildung, Praxis oder Selbststudium erworben. Die Aufnahme in einen Berufsstand kann aber auch erfolgen durch Zuschreibung ("adscription"), etwa bei Erbfolge (z. B. als Bauer, zünftiger Handwerker), durch Gelöbnisse (Soldaten), Diensteide (Beamte) oder durch Ordination (Geistlicher).
Die meisten Berufe sind das Ergebnis fortschreitender Arbeitsteilung. Sie haben häufig eine jahrhundertelange Tradition, da viele von der Gesellschaft benötigte oder gewünschte Leistungen im Wesentlichen konstant geblieben sind. Daher rührt auch die auffällige soziale Erscheinung der "Berufsvererbung".
Zu den ältesten, frühgeschichtlichen Berufen gehören Schmied, Zimmermann, Heiler, Priester, Wandererzähler und -sänger und Wächter. Seit dem Mittelalter fanden sich viele Berufsgruppen in Zünften und Gilden zusammen, die auch die Ausbildung des beruflichen Nachwuchses übernahmen. Auch „unehrliche Berufe“ bildeten eigene Organisationen. Die Ständeliteratur verzeichnet entsprechend der Ständeordnung eine sich innerhalb der Frühen Neuzeit etablierte Vielfalt der Berufe mit ganz unterschiedlichen Qualifizierungs- und Tätigkeitsmerkmalen sowie Rahmenbedingungen. Die Komplexität der Berufskonzepte steigert sich entsprechend dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt.
In einigen Berufen wird auf die sogenannte "Berufung" des/der Einzelnen besonderer Wert gelegt (zum Beispiel Pfarrer, Priester, aber auch Arzt, Lehrer, Apotheker, Richter). Ein Wissenschaftler erhält einen sogenannten „Ruf“ auf eine Professorenstelle, wenn die Hochschule ihn gern in ihrem Kollegenkreis hätte. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Pflicht zur Arbeit im Rahmen der christlichen Soziallehre.
Rechtsfragen.
Das Grundgesetz garantiert das Grundrecht der freien Berufswahl, denn alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen ( Abs. 1 GG). Unter Beruf versteht man verfassungsrechtlich jede auf Dauer angelegte, der Einkommenserzielung dienende menschliche Betätigung. Dem verfassungsrechtlichen Berufsbegriff sind zwei Elemente immanent, nämlich "Lebensaufgabe" und "Lebensgrundlage". Für den Beruf als Lebensaufgabe ist wesentlich, dass jemand eine innere Beziehung zu seinem Beruf hat, für den er sich verpflichtet und verantwortlich fühlt. Lebensgrundlage setzt wiederum voraus, dass ein Beruf für eine gewisse Dauer gegen Entgelt ausgeübt wird. Gerhard Pfennig erklärt den Berufsstatus am Beispiel der Soldaten und verweist darauf, dass wehrpflichtige Soldaten lediglich eine öffentliche Dienstleistung erfüllten. Der soldatische Dienst als Beruf komme lediglich für Berufssoldaten in Frage, deren Wehrdienst durch die soldatische Laufbahn zu einem Beruf geworden sei. Der Begriff des Berufs ist dabei nicht auf bestimmte traditionelle oder rechtlich fixierte Berufsbilder beschränkt, sondern umfasst jede frei gewählte Form der (erlaubten) Erwerbstätigkeit und ist daher für die Entwicklung neuer Berufsbilder offen.
Einem Beruf ist also eine nicht nur kurzfristige Tätigkeit immanent; ebenso muss er auf Einkommenserwerb abzielen (Erwerbstätigkeit). Der Begriff Einkommen ist weit auszulegen, hierunter können neben dem typischen Geldeinkommen auch Naturalleistungen (Deputatlohn wie freie Wohnmöglichkeit, Speisen und Getränke) verstanden werden.
Arten.
Man unterscheidet den "erlernten" und den "ausgeübten" Beruf. Der erlernte Beruf beruht auf einer abgeschlossenen Berufsausbildung und urkundlich bestätigtem Qualifikationsnachweis. Ausgeübter Beruf ist die von einem Arbeitnehmer tatsächlich verrichtete Tätigkeit, für welche keine abgeschlossene Berufsausbildung nachgewiesen werden kann. Wer den Beruf ausübt, für den er eine Berufsausbildung abgeschlossen hat, ist im erlernten Beruf tätig. Wer hingegen in einem Beruf tätig ist, den er ursprünglich nicht erlernt hat, arbeitet in einem ausgeübten Beruf. Freie Berufe sind überwiegend selbständige Tätigkeiten, die nicht der Gewerbeordnung unterliegen. Auch diese sind auf eine gewisse Dauer angelegt und beruhen auf fachlicher Vorbildung, unterscheiden sich von den anderen Berufen jedoch durch wirtschaftliche Selbständigkeit.
Beruf, Identifikation und Status.
Ein Berufstätiger kann sich sowohl mit seinem Arbeitgeber als auch mit seinem Beruf identifizieren. Wird eine Tätigkeit als wichtig für den Selbstwert einer Person erachtet, spricht man von der Identifikation mit dem Beruf („“). Eine hohe Berufsidentifikation kann zu höheren Zielen bei der Arbeitsleistung beitragen. Während die Arbeit an die technisch-wirtschaftliche Dimension des Leistungsvollzugs anknüpft, kennzeichnet der Berufsbegriff deren qualitative Voraussetzungen sowie deren soziale Integration und die daraus resultierende Identitätsfindung.
Der Beruf ist auch ein bedeutender Mechanismus für den sozialen Status einer Person. Dabei gilt der berufliche Status in modernen Gesellschaften als der beste Einzelindikator für den sozialen Status einer Person. Das Prestige von Berufen hängt von der Qualifikation und dem erzielten Einkommen ab. Der formale Status ergibt sich aus der Einteilung in Arbeiter, Angestellte, Beamte und Selbständige, während der materielle Status meist auf die Einkommenshöhe reduziert wird.
Berufsklassifikationen.
Die Angabe des Berufs ist in allen Statistiken und Erhebungen zum Arbeitsmarkt oder zur sozioökonomischen Lage weltweit unverzichtbar. Der Beruf ist nach wie vor ein dominierender Aspekt in der Beschreibung von Arbeitsmarktentwicklungen. Auch in der Vermittlungsarbeit der Arbeitsämter hat die Angabe des Berufs eine zentrale Bedeutung. Eine Berufsklassifikation schafft für die Vermittlung die Möglichkeit, über sinnvolle und praxisgerechte Zusammenfassungen von ähnlichen beruflichen Tätigkeiten zu verfügen und anzuwenden.
International verwendet die Internationale Standardklassifikation der Berufe (ISCO) seit 1957 ein Schema für die Eingruppierung von Berufen. In Deutschland nutzt die Bundesagentur für Arbeit seit Januar 2011 eine mit diesem Schema weitgehend kompatible Neusystematisierung der Berufe, die auch vom Statistischen Bundesamt als Klassifizierung der Berufe übernommen wurde.
Reglementierung der Berufsausübung.
Heute wird die Berufsausbildung (Inhalte, Dauer) in den meisten europäischen Ländern staatlich festgelegt. Die staatliche Reglementierung der Berufswahl findet aber in Deutschland und den meisten anderen Ländern ihre Grenzen im Grundrecht der Berufsfreiheit.
Wer welchen Beruf ausüben darf, wurde und wird in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich gehandhabt. In Europa gilt prinzipiell das Recht der freien Berufsausübung, das jedoch einigen Einschränkungen unterliegt. Bei so genannten reglementierten Berufen ist für die Ausübung eine entsprechende Ausbildung und Qualifikation erforderlich: Als Arzt oder Rechtsanwalt darf beispielsweise nur tätig sein, wer ein medizinisches bzw. juristisches Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen, entsprechende Praxiserfahrung (Referendariat) nachweisen kann und die Zulassung einer Ärztekammer oder Rechtsanwaltskammer besitzt. Ebenfalls unterliegt die Ausübung handwerklicher Berufe bestimmten Einschränkungen: So ist beispielsweise zur selbständigen Ausübung eines Handwerks in Deutschland ein Fachschulabschluss zum Staatlich geprüften Techniker, Abschluss zum Handwerksmeister (Meisterbrief) oder Hoch- bzw. Universitätsabschluss erforderlich. (Novellierung der Handwerksordnung § 7.2)
Erfolgreich sozial herausgebildete Berufe entwickeln eine mehr oder minder ausgeprägte Berufsethik.
Abgrenzung.
Die Abgrenzung zum Job wird meist durch den Aspekt der Dauerhaftigkeit vorgenommen. Job ist eine temporäre, kurzfristige Tätigkeit ohne innere Beziehung und Verantwortung zur Tätigkeit, eine Gelegenheitsarbeit. Das kommt beim Wort „jobben“ zum Ausdruck, mit dem eine vorübergehende Tätigkeit zwecks Einkommenserzielung umschrieben wird. Diese Abgrenzung findet auch in angelsächsischen Ländern statt, wo bei Beruf von „profession“ (lat. "professio") oder „occupation“ die Rede ist und „job“ eher als Nebentätigkeit klassifiziert wird.
Der Berufsbegriff wird auch benutzt, um Einkommenserwerb und fachliche Qualifikation zu betonen. Berufsmusiker (Berufssportler, Berufssoldaten, Berufsrichter) sind fachlich ausgebildet und werden für ihre Arbeitsleistung bezahlt, Amateurmusiker oder Laienrichter hingegen mehr oder weniger nicht.
Größte Berufsordnungen in Deutschland.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes werden die Berufe in 369 so genannte Berufsordnungen unterschieden, in der alle existierenden Berufe eingruppiert sind, wodurch eine Klassifizierung der Berufe entsteht. Vgl. Frauenanteile in der Berufswelt.
Sonstiges.
Wer einen Beruf erlernt hat (z. B. über eine Lehre oder über eine akademisches Studium) und diesen ausübt ist Berufsträger. Manche Berufsbezeichnungen sind gesetzlich geschützt (z. B. Arzt, Rechtsanwalt).
Weblinks.
Deutschland:
Österreich: |
464 | 48005 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=464 | Biologie | Biologie (von „Leben“ und hier: „Lehre“, siehe auch -logie) oder historisch auch Lebenskunde ist die Wissenschaft von der belebten Materie, den Lebewesen. Sie ist ein Teilgebiet der Naturwissenschaften und befasst sich sowohl mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen als auch mit den Besonderheiten der einzelnen Lebewesen: zum Beispiel mit ihrer Entwicklung, ihrem Bauplan und den physikalischen und biochemischen Vorgängen in ihrem Inneren. Im Fach "Biologie" wird in zahlreichen Teilgebieten geforscht. Zu den ganz allgemein auf das Verständnis des Lebendigen ausgerichteten Teilgebieten gehören insbesondere Biophysik, Genetik, Molekularbiologie, Ökologie, Physiologie, Theoretische Biologie und Zellbiologie. Mit großen Gruppen der Lebewesen befassen sich die Botanik (Pflanzen), die Zoologie (Tiere) und die Mikrobiologie (Kleinstlebewesen und Viren).
Die Betrachtungsobjekte der Biologie umfassen u. a. Moleküle, Organellen, Zellen und Zellverbände, Gewebe und Organe, aber auch das Verhalten einzelner Organismen sowie deren Zusammenspiel mit anderen Organismen in ihrer Umwelt. Diese Vielfalt an Betrachtungsobjekten hat zur Folge, dass im Fach Biologie eine Vielfalt an Methoden, Theorien und Modellen angewandt und gelehrt wird.
Die Ausbildung von Biologen erfolgt an Universitäten im Rahmen eines Biologiestudiums, von Biologie-Lehramtsstudierenden zumindest zeitweise auch im Rahmen der Biologiedidaktik.
In neuerer Zeit haben sich infolge der fließenden Übergänge in andere Wissenschaftsbereiche (z. B. Medizin, Psychologie und Ernährungswissenschaften) sowie wegen des interdisziplinären Charakters der Forschung neben der Bezeichnung "Biologie" weitere Bezeichnungen für die biologischen Forschungsrichtungen und Ausbildungsgänge etabliert wie zum Beispiel "Biowissenschaften", "Life Sciences" und "Lebenswissenschaften".
Geschichte.
Allgemeines.
Überlegungen zum Leben gab es bereits um 600 v. Chr. bei dem griechischen Naturphilosophen Thales von Milet, der das Wasser als den Anfang – den Urgrund – aller Dinge bezeichnet haben soll. Von der Antike bis ins Mittelalter beruhte die Biologie allerdings hauptsächlich auf der "Beobachtung" der Natur, also nicht auf Experimenten. In die Interpretation der Beobachtungen flossen zudem häufig Theorien wie die Vier-Elemente-Lehre oder verschiedene spirituelle Haltungen ein, so auch der Schöpfungsmythos der biblischen Genesis, demzufolge „Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde“ formte (Adam) und ihm „den Odem des Lebens in seine Nase“ blies – „und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“
Erst mit Beginn der wissenschaftlichen Revolution in der frühen Neuzeit begannen Naturforscher, sich vom Übernatürlichen zu lösen. Im 16. und 17. Jahrhundert erweiterte sich zum Beispiel das Wissen über die Anatomie durch die Wiederaufnahme von Sektionen und Erfindungen wie das Mikroskop ermöglichten ganz neue Einblicke in eine bis dahin nahezu unsichtbare Welt. Der Brüsseler Arzt und Philosoph Johan Baptista van Helmont gelangte, Gedanken von Paracelsus weiterentwickelnd, im 17. Jahrhundert zu einer biologischen Lebens- und Krankheitsauffassung. Die Entwicklung der Chemie brachte auch in der Biologie Fortschritte. Experimente, die zur Entdeckung von molekularen Lebensvorgängen wie der Fermentation und der Fotosynthese führten, wurden möglich. Im 19. Jahrhundert wurden die Grundsteine für zwei große neue Wissenschaftszweige der Naturforschung gelegt: Gregor Mendels Arbeiten an Pflanzenkreuzungen begründeten die Vererbungslehre und die spätere Genetik und Werke von Jean-Baptiste de Lamarck, Charles Darwin und Alfred Russel Wallace begründeten die Evolutionstheorien.
Die Bezeichnung Biologie, im modernen Sinne verwendet, scheint mehrfach unabhängig voneinander eingeführt worden zu sein. Gottfried Reinhold Treviranus ("Biologie oder Philosophie der lebenden Natur", 1802) und Jean-Baptiste Lamarck ("Hydrogéologie", 1802) verwendeten und definierten ihn erstmals. Das Wort selbst wurde schon 1797 von Theodor Gustav August Roose (1771–1803) im Vorwort seiner Schrift "Grundzüge der Lehre von der Lebenskraft" verwendet und taucht im Titel des dritten Bands von Michael Christoph Hanows "Philosophiae naturalis sive physicae dogmaticae: Geologia, biologia, phytologia generalis et dendrologia" von 1766 auf. Zu den Ersten, die „Biologie“ in einem umfassenden Sinn prägten, gehörte der deutsche Anatom und Physiologe Karl Friedrich Burdach.
Mit der Weiterentwicklung der Untersuchungsmethoden drang die Biologie in immer kleinere Dimensionen vor. Im 19. Jahrhundert erhielt die Medizin mit der von Theodor Schwann begründeten tierischen Zellenlehre eine neue biologische Grundlage. Weitere Errungenschaften des Jahrhunderts waren die Anwendung der Deszendenztheorie, der vergleichenden Morphologie und Entwicklungsgeschichte auf die Anatomie sowie wegbereitende Erkenntnisse biochemischer und biophysikalischer Lebensvorgäng. Im 20. Jahrhundert kamen die Teilgebiete Physiologie und Molekularbiologie zur Entfaltung. Grundlegende Strukturen wie die DNA, Enzyme, Membransysteme und die gesamte Maschinerie der Zelle können seitdem auf atomarer Ebene sichtbar gemacht und in ihrer Funktion genauer untersucht werden. Zugleich gewann die Bewertung von Datenerhebungen mit Hilfe statistischer Methoden immer größere Bedeutung und verdrängte die zunehmend als bloß anekdotisch empfundene Beschreibung von Einzelphänomenen. Als Zweig der Theoretischen Biologie begann sich seit den 1920er Jahren zudem, eine "mathematische Biologie" zu etablieren.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts befassten sich Biologen neben Themen der Vererbung, Entwicklung und Beeinflussung des Menschen durch die Umwelt auch mit Fragen nach dem Wesen und Sinn des Lebens. So breitete sich der von Hans Driesch vertretene Neovitalismus aus. Jakob Johann von Uexküll stellte 1909 seine Umwelttheorie auf, Hans Spemann und seine Schüler lieferten ab 1921 bahnbrechende Untersuchungen zum Organisatoreffekt, es erfolgten experimentelle Studien zu den biologischen Trägern der Erbmasse in der Zelle und 1927 wurden Mutationen als Folge von Röntgenbestrahlung von Hermann Joseph Muller nachgewiesen.
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts entwickeln sich aus der Biologie neue angewandte Disziplinen: Beispielsweise ergänzt die Gentechnik unter anderem die klassischen Methoden der Tier- und Pflanzenzucht und eröffnet zusätzliche Möglichkeiten, die Umwelt den menschlichen Bedürfnissen anzupassen.
Die praktische Biologie und Medizin gehörten zu den Disziplinen, in denen im Deutschen Reich noch Ende des 19. Jahrhunderts im Vergleich mit anderen Disziplinen am vehementesten Gegenwehr gegen die Zulassung von Frauen geübt wurde. So versuchten unter anderem E. Huschke, C. Vogt, P. J. Möbius und T. a.L. a.W. von Bischoff die geistige Inferiorität von Frauen nachzuweisen, um deren Zulassung zum Studium zu verhindern. Hingegen waren die beschreibenden biologischen Naturwissenschaften (aber auch andere beschreibende Naturwissenschaften wie Physik und Mathematik) weiter. Hier zeigten sich die noch ausschließlich männlichen Lehrenden in einer Studie A. Kirchhoffs (1897) zumeist offen für die Zulassung von Frauen zum Studium.
Einteilung der Fachgebiete.
Die Biologie als Wissenschaft lässt sich durch die Vielzahl von Lebewesen, Untersuchungstechniken und Fragestellungen nach verschiedenen Kriterien in Teilbereiche untergliedern: Zum einen kann die Fachrichtung nach den jeweils betrachteten Organismengruppen (Pflanzen in der Botanik, Bakterien in der Mikrobiologie) eingeteilt werden. Andererseits kann sie auch anhand der bearbeiteten mikro- und makroskopischen Hierarchie-Ebenen (Molekülstrukturen in der Molekularbiologie, Zellen in der Zellbiologie) geordnet werden.
Die verschiedenen Systeme überschneiden sich jedoch, da beispielsweise die Genetik viele Organismengruppen betrachtet und in der Zoologie sowohl die molekulare Ebene der Tiere als auch ihr Verhalten untereinander erforscht wird. Die Abbildung zeigt in kompakter Form eine Ordnung, die beide Systeme miteinander verbindet.
Im Folgenden wird ein Überblick über die verschiedenen Hierarchie-Ebenen und die zugehörigen Gegenstände der Biologie gegeben. In seiner Einteilung orientiert er sich an der Abbildung. Beispielhaft sind Fachgebiete aufgeführt, die vornehmlich die jeweilige Ebene betrachten.
Mikrobiologie.
Sie ist die Wissenschaft und Lehre von den Mikroorganismen, also von den Lebewesen, die als Individuen nicht mit bloßem Auge erkannt werden können: Bakterien und andere Einzeller, bestimmte Pilze, ein- und wenigzellige Algen (Mikroalgen) und Viren.
Botanik / Pflanzenwissenschaft.
Die Botanik (auch Pflanzenwissenschaft) ging aus der Heilpflanzenkunde hervor und beschäftigt sich vor allem mit dem Bau, der Stammesgeschichte, der Verbreitung und dem Stoffwechsel der Pflanzen.
Zoologie / Tierbiologie.
Die Zoologie (auch Tierbiologie) beschäftigt sich vor allem mit dem Bau, der Stammesgeschichte, der Verbreitung und den Lebensäußerungen der Tiere.
Humanbiologie.
Die Humanbiologie ist eine Disziplin, die sich im engeren Sinn mit der Biologie des Menschen sowie den biologischen Grundlagen der Humanmedizin und im weiteren Sinn mit den für den Menschen relevanten Teilbereichen der Biologie befasst. Die Humanbiologie entstand als eigenständige Wissenschaftsdisziplin erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Ihr verwandt ist die biologische Anthropologie, welche jedoch zur Anthropologie gezählt wird. Ziel der biologischen Anthropologie mit ihren Teilgebieten Primatologie, Evolutionstheorie, Sportanthropologie, Paläoanthropologie, Bevölkerungsbiologie, Industrieanthropologie, Genetik, Wachstum (Auxologie), Konstitution und Forensik ist die Beschreibung, Ursachenanalyse und evolutionsbiologische Interpretation der Verschiedenheit biologischer Merkmale der Hominiden. Ihre Methoden sind sowohl beschreibend als auch analytisch.
Molekularbiologie.
Die grundlegende Stufe der Hierarchie bildet die Molekularbiologie. Sie ist jene biologische Teildisziplin, die sich mit Molekülen in lebenden Systemen beschäftigt. Zu den biologisch wichtigen Molekülklassen gehören Nukleinsäuren, Proteine, Kohlenhydrate und Lipide. Die Nukleinsäuren DNA und RNA sind als Speicher der Erbinformation ein wichtiges Objekt der Forschung. Es werden die verschiedenen Gene und ihre Regulation entschlüsselt sowie die darin codierten Proteine untersucht. Eine weitere große Bedeutung kommt den Proteinen zu. Sie sind zum Beispiel in Form von Enzymen als biologische Katalysatoren für beinahe alle stoffumsetzenden Reaktionen in Lebewesen verantwortlich. Neben den aufgeführten Gruppen gibt es noch viele weitere, wie Alkaloide, Terpene und Steroide. Allen gemeinsam ist ein Grundgerüst aus Kohlenstoff, Wasserstoff und oft auch Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel. Auch Metalle spielen in sehr geringen Mengen in manchen Biomolekülen (z. B. Chlorophyll oder Hämoglobin) eine Rolle.
Biologische Disziplinen, die sich auf dieser Ebene beschäftigen, sind:
Zellbiologie.
Zellen sind grundlegende strukturelle und funktionelle Einheiten von Lebewesen. Man unterscheidet zwischen prokaryotischen Zellen, die keinen Zellkern besitzen und wenig untergliedert sind, und eukaryotischen Zellen, deren Erbinformation sich in einem Zellkern befindet und die verschiedene Zellorganellen enthalten. Zellorganellen sind durch einfache oder doppelte Membranen abgegrenzte Reaktionsräume innerhalb einer Zelle. Sie ermöglichen den gleichzeitigen Ablauf verschiedener, auch entgegengesetzter chemischer Reaktionen. Einen großen Teil der belebten Welt stellen Organismen, die nur aus einer Zelle bestehen, die Einzeller. Sie können dabei aus einer prokaryotischen Zelle bestehen (die Bakterien), oder aus einer eukaryotischen (wie manche Pilze).
In mehrzelligen Organismen schließen sich viele Zellen gleicher Bauart und mit gleicher Funktion zu Geweben zusammen. Mehrere Gewebe mit Funktionen, die ineinandergreifen, bilden ein Organ.
"Biologische Disziplinen, vornehmlich auf dieser Ebene (Beispiele)":
Entwicklungsbiologie.
Jedes Lebewesen ist Resultat einer Entwicklung. Nach Ernst Haeckel lässt sich diese Entwicklung auf zwei zeitlich unterschiedlichen Ebenen betrachten:
Physiologie.
Die Physiologie befasst sich mit den physikalischen, biochemischen und informationsverarbeitenden Funktionen der Lebewesen. Physiologisch geforscht und ausgebildet wird sowohl in den akademischen Fachrichtungen Biologie und Medizin als auch in der Psychologie.
Genetik.
Als Begründer der Genetik gilt Gregor Mendel. So entdeckte er die später nach ihm benannten Mendelschen Regeln, die in der Wissenschaft allerdings erst im Jahr 1900 rezipiert und bestätigt wurden. Der heute weitaus wichtigste Teilbereich der Genetik ist die Molekulargenetik, die in den 1940er Jahren begründet wurde.
Verhaltensbiologie.
Die Verhaltensbiologie erforscht das Verhalten der Tiere und des Menschen. Sie beschreibt das Verhalten, stellt Vergleiche zwischen Individuen und Arten an und versucht, das Entstehen bestimmter Verhaltensweisen im Verlauf der Stammesgeschichte zu erklären, also den „Nutzen“ für das Individuum.
Ökologie / Umweltbiologie.
Das Fachgebiet Ökologie (auch Umweltbiologie) setzt sich mit den Wechselwirkungen zwischen den Organismen und den abiotischen und biotischen Faktoren ihres Lebensraumes auf verschiedenen Organisationsebenen auseinander.
Eine Population ist eine Fortpflanzungsgemeinschaft innerhalb einer Art in einem zeitlich und räumlich begrenzten Gebiet. Die Populationsökologie betrachtet vor allem die Dynamik der Populationen eines Lebensraumes auf Grund der Veränderungen der Geburten- und Sterberate, durch Veränderungen im Nahrungsangebot oder abiotischer Umweltfaktoren. Diese Ebene wird auch von der Verhaltensbiologie und der Soziobiologie untersucht.
Im Zusammenhang mit der Beschreibung und Untersuchung sozialer Verbände wie Herden oder Rudel können auch die auf den Menschen angewandten Gesellschaftswissenschaften gesehen werden.
Die Lebewesen können sich positiv (z. B. Symbiose), negativ (z. B. Fressfeinde, Parasitismus) oder einfach gar nicht beeinflussen.
Lebensgemeinschaft (Biozönose) und Lebensraum (Biotop) bilden zusammen ein Ökosystem.
Biologische Disziplinen, die sich mit Ökosystemen beschäftigen (Beispiele):
Da die Evolution der Organismen zu einer Anpassung an eine bestimmte Umwelt führen kann, besteht ein intensiver Austausch zwischen beiden Fachdisziplinen, was insbesondere in der Disziplin der Evolutionsökologie zum Ausdruck kommt.
Evolutionsbiologie und Systematik.
Die "Phylogenese" beschreibt die Entwicklung einer Art im Verlauf von Generationen. Hier betrachtet die Evolutionsbiologie die langfristige Anpassung an Umweltbedingungen und die Aufspaltung in neue Arten.
Auf der Grundlage der phylogenetischen Entwicklung ordnet die biologische Taxonomie alle Lebewesen in ein Schema ein. Die Gesamtheit aller Organismen wird in drei Gruppen, die Domänen, unterteilt, welche wiederum weiter untergliedert werden:
Mit der Klassifizierung der Tiere in diesem System beschäftigt sich die Spezielle Zoologie, mit der Einteilung der Pflanzen die Spezielle Botanik, mit der Einteilung der Archaeen, Bakterien und Pilze die Mikrobiologie.
Als häufige Darstellung wird ein "phylogenetischer Baum" gezeichnet. Die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Gruppen stellen dabei die evolutionäre Verwandtschaft dar. Je kürzer der Weg zwischen zwei Arten in einem solchen Baum, desto enger sind sie miteinander verwandt. Als Maß für die Verwandtschaft wird häufig die Sequenz eines weitverbreiteten Gens herangezogen.
Als in gewissem Sinne eine Synthese von Ökologie, Evolutionsbiologie und Systematik hat sich seit Ende der 1980er Jahre die Biodiversitätsforschung etabliert, die auch den Brückenschlag zu Schutzbestrebungen für die biologische Vielfalt und zu politischen Abkommen über Schutz und Nachhaltigkeit bildet.
Synthetische Biologie.
In diesem Fachgebiet versuchen Bio-Ingenieure, künstliche lebensfähige Systeme herzustellen, die wie naturgegebene Organismen von einem Genom gesteuert werden.
Theoretische Biologie.
Die Theoretische Biologie (auch Systemische Biologie) befasst sich mit mathematisch formulierbaren Grundprinzipien biologischer Systeme auf allen Organisationsstufen.
Systembiologie.
Die Systembiologie versucht, Organismen in ihrer funktionellen Gesamtheit zu verstehen. Sie folgt der Systemtheorie und nutzt neben mathematischen Modellen auch Computersimulationen. Sie überschneidet sich mit der Theoretischen Biologie.
Arbeitsmethoden der Biologie.
Die Biologie nutzt viele allgemein gebräuchliche wissenschaftliche Methoden, wie strukturiertes Beobachten, Dokumentation (Notizen, Fotos, Filme), Hypothesenbildung, mathematische Modellierung, Abstraktion und Experimente. Bei der Formulierung von allgemeinen Prinzipien in der Biologie und der Knüpfung von Zusammenhängen stützt man sich sowohl auf empirische Daten als auch auf mathematische Sätze. Je mehr Versuche mit verschiedenen Ansatzpunkten auf das gleiche Ergebnis hinweisen, desto eher wird es als gültig anerkannt. Diese pragmatische Sicht ist allerdings umstritten; insbesondere Karl Popper hat sich gegen sie gestellt. Aus seiner Sicht können Theorien durch Experimente oder Beobachtungen und selbst durch erfolglose Versuche, eine Theorie zu widerlegen, nicht untermauert, sondern nur untergraben werden (siehe Unterdeterminierung von Theorien durch Evidenz).
Einsichten in die wichtigsten Strukturen und Funktionen der Lebewesen sind mit Hilfe von Nachbarwissenschaften möglich. Die Physik beispielsweise liefert eine Vielzahl Untersuchungsmethoden. Einfache optische Geräte wie das Lichtmikroskop ermöglichen das Beobachten von kleineren Strukturen wie Zellen und Zellorganellen. Das brachte neues Verständnis über den Aufbau von Organismen und mit der Zellbiologie eröffnete sich ein neues Forschungsfeld. Mittlerweile gehört eine Palette hochauflösender bildgebender Verfahren, wie Fluoreszenzmikroskopie oder Elektronenmikroskopie, zum Standard.
Als eigenständiges Fach zwischen den Wissenschaften Biologie und Chemie hat sich die Biochemie herausgebildet. Sie verbindet das Wissen um die chemischen und physikalischen Eigenschaften von den Bausteinen des Lebens mit der Wirkung auf das biologische Gesamtgefüge. Mit chemischen Methoden ist es möglich bei biologischer Versuchsführung zum Beispiel Biomoleküle mit einem Farbstoff oder einem radioaktiven Isotop zu versehen. Das ermöglicht ihre Verfolgung durch verschiedene Zellorganellen, den Organismus oder durch eine ganze Nahrungskette.
Die Bioinformatik ist eine sehr junge Disziplin zwischen der Biologie und der Informatik. Die Bioinformatik versucht mit Methoden der Informatik biologische Fragestellungen zu lösen. Im Gegensatz zur theoretischen Biologie, welche häufig nicht mit empirischen Daten arbeitet, um konkrete Fragen zu lösen, benutzt die Bioinformatik biologische Daten. So war eines der Großforschungsprojekte der Biologie, die Genomsequenzierung, nur mit Hilfe der Bioinformatik möglich. Die Bioinformatik wird aber auch in der Strukturbiologie eingesetzt, hier existieren enge Wechselwirkungen mit der Biophysik und Biochemie. Eine der fundamentalen Fragestellungen der Biologie, die Frage nach dem Ursprung der Lebewesen (auch als phylogenetischer Baum des Lebens bezeichnet, siehe Abbildung oben), wird heute mit bioinformatischen Methoden bearbeitet.
Die Mathematik dient als Hauptinstrument der theoretischen Biologie der Beschreibung und Analyse allgemeinerer Zusammenhänge der Biologie. Beispielsweise erweist sich die Modellierung durch Systeme gewöhnlicher Differenzialgleichungen in vielen Bereichen der Biologie (etwa der Evolutionstheorie, Ökologie, Neurobiologie und Entwicklungsbiologie) als grundlegend. Fragen der Phylogenetik werden mit Methoden der diskreten Mathematik und algebraischen Geometrie bearbeitet.
Zu Zwecken der Versuchsplanung und Analyse finden Methoden der Statistik Anwendung.
Die unterschiedlichen biologischen Teildisziplinen nutzen verschiedene systematische Ansätze:
Anwendungsbereiche der Biologie.
Die Biologie ist eine naturwissenschaftliche Disziplin, die sehr viele Anwendungsbereiche hat. Durch biologische Forschung werden Erkenntnisse über den Aufbau des Körpers und die funktionellen Zusammenhänge gewonnen. Sie bilden eine zentrale Grundlage, auf der die Medizin und Veterinärmedizin Ursachen und Auswirkungen von Krankheiten bei Mensch und Tier untersucht. Auf dem Gebiet der Pharmazie werden Medikamente, wie beispielsweise Insulin oder zahlreiche Antibiotika, aus genetisch veränderten Mikroorganismen statt aus ihrer natürlichen biologischen Quelle gewonnen, weil diese Verfahren preisgünstiger und um ein Vielfaches produktiver sind. Für die Landwirtschaft werden Nutzpflanzen mittels Molekulargenetik mit Resistenzen gegen Schädlinge versehen und unempfindlicher gegen Trockenheit und Nährstoffmangel gemacht. In der Genussmittel- und Nahrungsmittelindustrie sorgt die Biologie für eine breite Palette länger haltbarer und biologisch hochwertigerer Nahrungsmittel. Einzelne Lebensmittelbestandteile stammen auch hier von genetisch veränderten Mikroorganismen. So wird das Lab zur Herstellung von Käse heute nicht mehr aus Kälbermagen extrahiert, sondern mikrobiell erzeugt.
Weitere angrenzende Fachgebiete, die ihre eigenen Anwendungsfelder haben, sind Ethnobiologie, Bionik, Bioökonomie, Bioinformatik und Biotechnologie. |
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467 | 343610 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=467 | Bruce Willis | Walter Bruce Willis (* 19. März 1955 in Idar-Oberstein, Deutschland) ist ein ehemaliger US-amerikanischer Schauspieler. Seinen Durchbruch als Filmschauspieler hatte er 1988 mit dem Kinofilm "Stirb langsam" in der Rolle des John McClane, die er auch in mehreren Fortsetzungen verkörperte. Zuvor war er bereits durch die Fernsehserie "Das Model und der Schnüffler" bekannt geworden. Er profilierte sich insbesondere in actionbetonten Rollen und spielte in Hollywood-Filmen wie "Pulp Fiction", "12 Monkeys", "Das fünfte Element", "The Sixth Sense" und "Sin City" mit. Er gewann unter anderem einen Emmy und einen Golden Globe Award.
Nachdem bei Willis Aphasie diagnostiziert worden war, gab seine Familie Ende März 2022 kurz nach seinem 67. Geburtstag das Ende seiner Schauspielkarriere bekannt. Im Februar 2023 machte seine Familie zudem öffentlich, dass er an fortschreitender frontotemporaler Demenz leide.
Biografie.
Kindheit und Jugend.
Bruce Willis wurde 1955 in Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz als Sohn des US-Soldaten David Willis und dessen deutscher Frau Marlene aus Kaufungen bei Kassel geboren. Er verbrachte die ersten zwei Jahre mit den Eltern in Deutschland, ehe die Familie 1957 in die Vereinigten Staaten übersiedelte. Zusammen mit seinen drei jüngeren Geschwistern wuchs er in New Jersey auf. Als Therapie gegen sein Stottern kam er während der Schulzeit zur Schauspielerei. Nach Abschluss der High School nahm er Schauspielunterricht am Montclair State College und arbeitete nebenher in einer Chemiefabrik, um den Unterricht zu finanzieren.
Schauspielkarriere.
Erste Erfahrungen als Schauspieler sammelte er an Theatern in New York City und als Darsteller in Werbespots. Ab 1985 spielte er die Hauptrolle in der Detektivserie "Das Model und der Schnüffler" "(Moonlighting)", die unter anderem mit einem Emmy und einem Golden Globe ausgezeichnet wurde. Eine Gastrolle hatte er in "Miami Vice". Anschließend arbeitete er zweimal mit dem Regisseur Blake Edwards zusammen.
1988 gelang Willis mit dem Kinoerfolg "Stirb langsam" der Durchbruch. Die Rolle des Polizisten "John McClane" – der nur die eigenen Regeln befolgt und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat – machte ihn zum Star des Actionfilms. Abgesehen von weiteren Actionfilmen wie "Stirb langsam 2" und "Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben" hatte er bis Mitte der 1990er-Jahre kaum kommerziellen Erfolg, was unter anderem daran lag, dass er durch Rollen in Komödien wie "Der Tod steht ihr gut" versuchte, sein Action-Image zu relativieren.
1994 wurde er von Quentin Tarantino in "Pulp Fiction" in der Rolle des Boxers "Butch" besetzt, dessen Darstellung von der Kritik gelobt wurde. Es folgten weitere Kassenschlager wie "12 Monkeys" (1995), "Das fünfte Element" (1997) oder "Armageddon – Das jüngste Gericht" (1998). Mit Filmen wie "The Sixth Sense" (1999) oder "Unbreakable – Unzerbrechlich" (2000) widmete er sich anschließend verstärkt Dramen, blieb aber auch Komödien und Actionfilmen treu.
Im Oktober 2006 wurde Willis mit einem Stern auf dem Hollywood Walk of Fame geehrt. Er zählte laut dem US-amerikanischem "Forbes Magazine" zu dieser Zeit zu den bestbezahlten Schauspielern Hollywoods. Zwischen Juni 2007 und Juni 2008 erhielt er Gagen in Höhe von insgesamt 41 Millionen US-Dollar und rangierte damit hinter Will Smith, Johnny Depp, Eddie Murphy, Mike Myers und Leonardo DiCaprio auf Platz sechs.
Es folgten bis zuletzt weitere Kinoproduktionen, aber insbesondere seit Mitte der 2010er-Jahre spielte Willis vermehrt in Filmen mit, die nur eine eingeschränkte oder überhaupt keine Kinoauswertung erfuhren. Außerdem trat er in solchen zweitklassigen Produktionen häufig nur als Nebendarsteller auf. Mit den Regisseuren Steven C. Miller und Brian A. Miller arbeitete er mehrfach bei B-Actionfilmen zusammen. Häufiger Produzent war Randall Emmett. Rückblickend wird dieser Qualitätsabfall mit Willis’ bereits einsetzender Erkrankung erklärt. Sein Schaffen umfasst rund 140 Produktionen für Film und Fernsehen.
Am 30. März 2022 gab die Familie das Ende von Willis’ Schauspielkarriere bekannt, nachdem bei ihm eine aphasische Störung mit kognitiven Einschränkungen diagnostiziert worden war. Kollegen berichteten, er habe in den Jahren zuvor an Filmsets wiederholt Probleme u. a. mit Texten und Abläufen gehabt und sei auf Unterstützung angewiesen gewesen. Im Februar 2023 teilte die Familie die endgültige Diagnose mit; er leidet an frontotemporaler Demenz, auch FTD genannt. Die Krankheit ist nicht therapierbar.
Weitere Aktivitäten.
Willis war auch als Theaterschauspieler und Produzent tätig. Darüber hinaus veröffentlichte er zwei Musik-Alben; das sehr erfolgreiche "The Return of Bruno", das mit Platin ausgezeichnet wurde und "If It Don’t Kill You, It Just Makes You Stronger". Chartplatzierungen erreichte er mit den Singleauskopplungen "Respect Yourself" – dem Cover eines Songs der Staple Singers – und "Under the Boardwalk". 2010 hatte er einen Gastauftritt im Musikvideo zu "Stylo", der 2010 erschienenen Single der Gorillaz.
Willis ist Mitgründer der Restaurantkette Planet Hollywood. 2007 ernannte die Stadt Idar-Oberstein den hier geborenen Willis zum Sonderbotschafter.
Privatleben.
Mit der Schauspielkollegin Demi Moore – mit der Willis von 1987 bis 2000 verheiratet war – hat er drei Töchter: Rumer (* 1988), Scout LaRue (* 1991) und Tallulah Belle (* 1994). Alle Töchter standen schon selbst vor der Kamera, zunächst in Filmen, in denen auch ein Elternteil mitspielte. Rumer war an der Seite ihres Vaters in "Hostage – Entführt" zu sehen; Scout LaRue und Tallulah Belle spielten erstmals in dem Film "Der scharlachrote Buchstabe", danach 2001 in "Banditen!."
Beim Sundance Film Festival in Utah im Januar 2008 präsentierte sich Willis mit seiner neuen Partnerin, dem Fotomodell Emma Heming; die Hochzeit fand am 21. März 2009 auf den Caicos-Inseln statt. Am 1. April 2012 wurde die erste gemeinsame Tochter geboren. Am 5. Mai 2014 bekam das Paar eine weitere Tochter.
Äußerungen zu Politik und Zeitgeschehen.
In einem Interview Anfang 2006 dementierte Willis das Gerücht, er sei Anhänger der Regierung von George W. Bush. Er sagte, er sei kein Republikaner und hasse Regierungen: „Wir können unsere Politiker nicht beeinflussen. Die interessieren sich einen Dreck für uns.“ Außerdem rechtfertigte er sich, den Krieg im Irak zu befürworten: „Ich bin kein gewalttätiger Mensch. Aber wir leben in einer gewalttätigen Welt. Dieses Land wurde auf Gewalt aufgebaut.“ Anlässlich des Films "Stirb langsam 4.0" meinte er in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", dass er ein politisch schwer einzuordnender Mensch sei, der differenziert denke.
Auszeichnungen für Musikverkäufe.
Platin-Schallplatte
Deutsche Synchronstimmen.
Ronald Nitschke lieh ihm in "Das Model und der Schnüffler", "Der Tod steht ihr gut", "Blind Date" und "Four Rooms" seine Stimme. In fast allen anderen Filmen wurde er von Manfred Lehmann synchronisiert. In "" bekam er ausnahmsweise die Stimme von Thomas Danneberg, da Lehmann zu diesem Zeitpunkt mit Dreharbeiten beschäftigt war. |
468 | 568 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=468 | Benchmarking in der Betriebswirtschaft | Benchmarking (engl. "Benchmark" = „Maßstab“, steht für eine Bezugs- oder Richtgröße) bezeichnet in der Betriebswirtschaft eine Managementmethode, mit der sich durch zielgerichtete Vergleiche unter mehreren Unternehmen das jeweils beste als Referenz zur Leistungsoptimierung herausfinden lässt. Dazu ist es notwendig, durch Vergleich bessere Methoden und Praktiken "(Best Practices)" zu identifizieren, zu verstehen, auf die eigene Situation anzupassen und zu integrieren. Benchmarking ist eine Weiterentwicklung des Betriebsvergleichs.
Grundlagen.
Die Durchführung eines Benchmarkings beruht auf der Orientierung an den Besten einer vergleichbaren Gruppe. Diese Vorgehensweise bezeichnet man als „Best Practice“ (wörtlich: "bestes Verfahren" oder „die beste Lösung“). Best Practice existiert auf verschiedenen Betrachtungsebenen und tritt in folgenden Formen auf:
Auf der obersten Betrachtungsebene werden Konzepte in Frage gestellt. Es geht darum, die „richtigen Dinge zu tun“. Auf der untersten Betrachtungsebene der Detailprozesse wird der Prozess in Frage gestellt. Hier geht es darum, die „Dinge richtig zu tun“ – also die Prozesseffizienz zu verbessern.
Ein häufiger Fehler beim Benchmarking besteht darin, die Betrachtungsebenen im Vorfeld nicht klar zu definieren. Erfahrungen zeigen, dass ein Benchmarking auf Konzeptebene sich kaum mit einem auf Detailprozessebene kombinieren lässt. Die für ein Benchmarking benötigten Ansprechpartner für die beiden Ebenen sind allzu verschieden und die Methoden zur Identifikation geeigneter Benchmarking-Partner unterscheiden sich je nach Betrachtungsebene.
Benchmarking ist einer der effektivsten Wege, externes Wissen rasch in das eigene Unternehmen einzubringen. Das in einem Benchmarking-Projekt erarbeitete Wissen ist in höchstem Maße praxisorientiert – denn es stammt aus der Praxis und hat sich im Alltag bewährt.
In der Europäischen Union wird das Benchmarking seit Ende 1996 als eine Methode angewandt, um die Leistungskraft der einzelnen Arbeitsmärkte der EU-Länder zu vergleichen. Dabei sollen Schwächen einzelner Mitgliedstaaten offengelegt und die jeweiligen Regierungen in die Lage versetzt werden, dringend benötigte Reformen durchzuführen. Entsprechende Vergleichsmethoden sind auf den nationalen Ebenen der Politik bisher eher unüblich, der Drang nationaler oder regionaler Politik zu mehr Transparenz ist steigerungsfähig.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es im Bereich der öffentlichen Verwaltungen und Organisationen zum einen gesetzliche Vorschriften für das Benchmarking (z. B. Krankenhäuser, Rentenversicherung), zum anderen auch freiwillige Aktivitäten in sogenannten Benchmarking-Clubs. So sind beispielsweise die gesetzlichen Unfallversicherungsträger mit wissenschaftlicher Begleitung dabei ein Prozessbenchmarking durchzuführen und weiterzuentwickeln, das sowohl qualitative, als auch quantitative Ziele und Wirkungen berücksichtigt.
Es gibt bisher keine Beispiele international genormter (ISO) Benchmarks, industrielle Standards werden beispielsweise durch SPEC gesetzt.
Benchmarking-Grundtypen.
Benchmarking-Methoden unterscheiden sich meist nur im Detaillierungsgrad und in den Bezeichnungen. Das Grundschema bleibt in etwa gleich: Vergleiche zeigen Unterschiede zwischen der eigenen Organisation und den Benchmarking-Partnern. Daraus lassen sich Folgerungen für die eigene Organisation ableiten, ein Lernprozess beginnt.
Aus praktischer Sicht hat sich eine Einteilung von Benchmarking in vier Grundtypen bewährt. Die Klassifizierung erfolgt auf Grund der Eigenschaften der Benchmarking-Partner. Diese können in der eigenen oder in einer fremden Branche gefunden werden und sie gehören entweder zur eigenen oder zu einer fremden Organisation.
Typ 1: Internal Benchmarking (internes Benchmarking).
Internes Benchmarking findet innerhalb der eigenen Organisation und Branche statt. Ein Beispiel ist ein internationaler Zementhersteller, der den Produktionsprozess aller seiner Werke periodisch miteinander vergleicht.
Der große Vorteil dieses Benchmarking-Typs ist es, dass erstens die Daten gut erhältlich und zweitens Vergleiche auf Kennzahlenebene möglich sind. Ein möglicher Nachteil kann mangelnde Akzeptanz sein, die auf das Phänomen zurückgeht, dass „der Prophet im eigenen Land“ oft nichts gilt.
Eine besondere Form des internen Benchmarkings ist das Konzern-Benchmarking. Dabei zählen Benchmarking-Anstrengungen innerhalb von Konzernen, Holdings oder Konglomeraten. Das interne Benchmarking beschränkt sich also nicht mehr auf die gleiche Branche, sondern wird auf das ganze Unternehmen ausgedehnt. Der Vorteil beim Konzern-Benchmarking ist die gute Verfügbarkeit von Informationen. Abhängig von der Betrachtungsebene ist kennzahlenorientiertes Benchmarking allerdings nur noch beschränkt möglich, da die beteiligten Unternehmenseinheiten anderen Branchen angehören. Spielt sich das Benchmarking auf der Konzeptebene ab, sind Successful Practices oft nicht mehr 1:1 übertragbar.
Typ 2: Competitive Benchmarking (Wettbewerbsbenchmarking).
Die Benchmarking-Partner sind Unternehmen aus derselben Branche. Die Benchmarking-Partner können denselben Markt oder unterschiedliche Märkte bearbeiten. In beiden Fällen gilt das Hauptinteresse oft dem Vergleich von Kennzahlen, der allerdings aus Wettbewerbsgründen nur eingeschränkt möglich ist.
Wettbewerbs-Benchmarking bedingt eine besonders gute Vorbereitung und eine sehr offene Kommunikation. Jeder Teilnehmer muss die Sicherheit erhalten, dass die abgegebenen und erhaltenen Informationen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Dies lässt sich kaum mehr realisieren, sobald einer der Wettbewerber die Federführung übernimmt und für „sein“ Projekt Partner sucht.
Der Vorteil dieses Benchmarking-Typs ist die klare Positionierung des eigenen Unternehmens im Wettbewerb. Dem stehen zwei Nachteile gegenüber: Erstens ist es schwierig, Kennzahlen oder sogar Prozesse mit der direkten Konkurrenz zu benchmarken. Zweitens zeigt die Erfahrung des "Transferzentrums für Technologiemanagement (TECTEM) an der Universität St. Gallen", dass die Erkenntnisse aus Wettbewerbs-Benchmarking einen geringen Neuigkeitsgrad haben.
Typ 3: Functional Benchmarking (funktionales oder markt-übergreifendes Benchmarking).
Hier erfolgt der Vergleich mit Unternehmen der gleichen Branche in getrennten Märkten. Man vergleicht den Organisationsbereich bezüglich seiner Funktion, wie beispielsweise die interne Logistikabteilung mit einem Versandunternehmen. Es ist die universelle Art des Benchmarkings. Es bietet ein sehr hohes Lernpotenzial, da es am meisten neue Ideen und Anregungen bietet. Dieses Potenzial kann insbesondere bei Benchmarking auf Konzeptebene voll ausgeschöpft werden.
Typ 4: Generic Benchmarking (generisches Benchmarking) oder auch Best-Practice-Benchmarking.
Das generische Benchmarking ist die reinste Form des Benchmarkings. Hier findet ein branchen- und funktionsübergreifender Vergleich von Prozessen und Methoden statt. Es wird hier ein Vergleich zwischen unverwandten Unternehmen angestrebt.
Ein immer wieder zitiertes Beispiel für das generische Benchmarking ist der Vergleich der Zeiten für Be- und Entladung, Betankung, Reinigung und Sicherheitschecks von Flugzeugen mit den Boxenstopps beim Indy-500-Autorennen, den die Southwest Air Lines durchgeführt hat. Durch das Benchmarking soll eine Zeitreduzierung um 50 % möglich gewesen sein.
Standardphasen des Benchmarkings.
Der grundlegende Ablauf eines Benchmarking-Projekts, den zuerst Robert Camp beschrieben hat, bildet die Grundlage der meisten Veröffentlichungen zum Thema Benchmarking. Er kann grob in die folgenden Phasen eingeteilt werden
Diese Schritte können wiederum zum Ausgangspunkt für ein neuerliches Benchmarking werden, das erneut in die Vergleichsphase eintritt.
Ursprünge des Begriffs „Benchmarking“.
Zur "Etymologie" des Wortes „Benchmarking“ siehe Benchmark.
Der betriebswirtschaftliche Begriff „Benchmarking“ geht zurück auf die US-amerikanische Firma Xerox Corporation. Obwohl die beim Benchmarking angewandten Methoden schon sehr viel früher in der Praxis der modernen industriellen Produktion entstanden sind – zum Beispiel lässt sich die Übertragung des Fließbandprinzips aus einer Großschlachterei in die Automobilproduktion durch Henry Ford als sehr erfolgreiches Benchmarking bezeichnen –, hat sich der Begriff des Benchmarkings erst in den 1980er Jahren mit den Veröffentlichungen von Robert C. Camp zu Benchmarking-Projekten bei Xerox durchgesetzt. Diese Schriften haben der Benchmarking-Idee zum Durchbruch verholfen.
Der Kopiererhersteller Xerox befand sich Ende der 1970er Jahre bedingt durch Qualitäts- und Kostenprobleme in einer schwierigen Wettbewerbsposition. Der japanische Konkurrent Canon brachte einen Kopierer zu einem Verkaufspreis auf den Markt, der wesentlich unter den Herstellkosten für vergleichbare Geräte bei Xerox lag. Die Marktanteile von Xerox fielen auf dem Kopierermarkt steil ab. Aus diesem Grund wandte Xerox 1979 zum ersten Mal ein Benchmarking an: Es wurde ein Kopierer der Konkurrenz gekauft, zerlegt und die einzelnen Komponenten mit jenen der eigenen Kopierer verglichen. So konnten die niedrigeren Herstellungskosten von Canon zu einem großen Teil erklärt werden.
In einem nächsten Schritt wurden die Aktivitäten der einzelnen Wertschöpfungsketten im Unternehmen analysiert, mit dem Ergebnis, dass erhebliche Probleme in den Logistik- und Vertriebsprozessen aufgedeckt werden konnten. Unter anderem wurden die logistischen Prozesse der Materialentnahme bei dem Kopiergerätehersteller mit dem des Outdoor-Artikel-Versenders L.L.Bean verglichen. Dies veranlasste Xerox zu Folgeprojekten, wobei unter anderem Pharmagroßhändler und Haushaltsgerätehersteller als Benchmark dienten. Aufgrund dieser ersten Erfolge wurde Benchmarking bald zu einer Hauptsäule der Xerox-Strategie.
1992 erfolgte die erste Gründung eines IBC ("international benchmarking clearing house"), einer Einrichtung, die als Dienstleistung anbietet, Benchmarkingpartner zu vermitteln. 1994 gründete das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) das Informationszentrum Benchmarking (IZB). Das Global Benchmarking Network (GBN) wurde 1994 aus der Taufe gehoben.
Für Camp stand die Identifikation und Implementation von „Best Practices“ im Mittelpunkt. Einem rein quantitativen Benchmarking, also dem bloßen Vergleich von Kennzahlen, sprach er nur in Verbindung mit einer vertieften Analyse der Praktiken einen Nutzen zu. Seither hat sich das Benchmarking über mehrere Generationen weiterentwickelt und zu unterschiedlichen Erscheinungsformen geführt.
Best Practices oder Successful Practices.
Der im Benchmarking häufig verwendete Begriff der Best Practices ist nur dann korrekt, wenn ein Benchmarking eine vollständige, weltweite Analyse beinhaltet. Dies ist nur in den wenigsten Fällen praktikabel. Ein Beispiel wäre der Herstellungsprozess von Mikrochips für hoch integrierte Prozessoren. Hier sind alle „Global Players“ bekannt und könnten in ein Benchmarking einbezogen werden.
In der Regel ist eine globale Analyse aus Zeit- und Kostengründen allerdings kaum möglich oder sinnvoll. Der Anspruch des Benchmarking besteht in den meisten Fällen nicht darin, die besten Praktiken zu finden, sondern erfolgreiche (wobei die Kriterien für den Erfolgsnachweis im Vorfeld definiert werden müssen). Die Literatur spricht hier von Successful Practices.
Benchmarking in der Volkswirtschaftslehre.
Auch in der Volkswirtschaftslehre wird Benchmarking betrieben. Hier geht es um die Wettbewerbsfähigkeit von:
Benchmarking-Ergebnisse werden u. a. im Global Competitiveness Report des World Economic Forum veröffentlicht. |
469 | 365403 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=469 | Beobachter | Beobachter steht für:
Siehe auch: |
470 | 64825 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=470 | Binär | binär (von lateinisch "bina" „doppelt, paarweise“) steht für:
Mathematik:
Naturwissenschaft:
Weiteres:
Siehe auch: |
472 | 94148 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=472 | Black Box | Black Box oder Blackbox (engl. [], ‚schwarzer Kasten‘) steht für:
Umgangssprachlich für Datenschreiber verschiedener Verkehrsmittel:
Werke: |
473 | 779406 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=473 | Brainstorming | Brainstorming ist eine von Alex F. Osborn 1939 entwickelte und von Charles Hutchison Clark modifizierte Methode zur Ideenfindung, die die Erzeugung von neuen, ungewöhnlichen Ideen in einer Gruppe von Menschen fördern soll. Er benannte sie nach der Idee dieser Methode, nämlich "using the brain to storm a problem" (wörtlich: „das Gehirn verwenden, um ein Problem zu stürmen“). Hilbert Meyer verwendet in "Unterrichtsmethoden" als Übersetzungsangebot den Begriff „Kopfsalat“, der VDS schlägt „Denkrunde“ und „Ideensammlung“ vor.
Technik und Einsatzgebiet.
Der Name "Brainstorming" hat sich schnell verbreitet, wird heute aber auch für andere Techniken als die von Osborn beschriebene verwendet.
Anwendung findet dieses Verfahren bevorzugt im gesamten Bereich der Werbung. Es wird aber mit mehr oder weniger Erfolg auch bei sämtlichen Problemen eingesetzt, zum Beispiel bei der Produktentwicklung oder beim Konstruieren neuer technischer Geräte. Die Ergebnisse eines Brainstormings können in weiteren Arbeitsschritten verwendet werden, es kann aber auch das (ergebnislose) Brainstorming allein als kreative Lockerungsübung eingesetzt werden. Das ursprüngliche Verfahren sieht zwei Schritte vor:
Vorbereitung.
Es wird eine Gruppe aus beliebig vielen Personen zusammengestellt. Je nach Problemstellung kann sie aus Experten/Mitarbeitern, Laien oder Experten anderer Fachgebiete bestehen. Die Gruppenleitung bereitet Anschauungsmaterial vor und führt die Gruppe in das Problem ein, das dabei analysiert und präzisiert wird. Dabei sollte die Frage- bzw. Aufgabenstellung weder zu breit und allgemein gehalten sein („Wie können wir die Welt retten?“) noch zu kleinteilig bzw. spezifisch („Welches Klebeverfahren um Bauteil A an B zu befestigen?“). Den Gruppenmitgliedern wird im Vorfeld der Ablauf des Brainstormings mitgeteilt, ob es sich um ein moderiertes oder nicht moderiertes Brainstorming handelt. Ein Protokollant kann ernannt werden. Vier grundsätzliche Regeln gelten beim Brainstorming:
Phase Eins: Ideen finden.
Nun nennen die Teilnehmer spontan Ideen zur Lösungsfindung, wobei sie sich im optimalen Fall gegenseitig inspirieren und untereinander Gesichtspunkte in neue Lösungsansätze und Ideen einfließen lassen. Die Ideen werden protokolliert. Alle Teilnehmenden sollen ohne jede Einschränkung Ideen produzieren und mit anderen Ideen kombinieren. Auch sollte die Phase in einem Zeitrahmen um die 30 bis 45 Minuten liegen. Die Gruppe sollte in eine möglichst produktive und erfindungsreiche Stimmung versetzt werden. In dieser Phase gelten folgende Grundregeln:
Phase Zwei: Ergebnisse sortieren und bewerten.
Nach einer Pause werden nun sämtliche Ideen (von der Gruppenleitung) vorgelesen und von den Teilnehmern bewertet und sortiert. Hierbei geht es zunächst nur um bloße thematische Zugehörigkeit und das Aussortieren von problemfernen Ideen. Die Bewertung und Auswertung kann in derselben Diskussion durch dieselben Teilnehmer erfolgen oder von anderen Fachleuten getrennt vorgenommen werden.
Aspekte der Gruppendynamik beim Brainstorming.
Nach einer Studie aus dem Jahr 2002 von Henk Wilke und Arjaan Wit spielt die Gruppendynamik beim Brainstorming eine große Rolle. Als bekannteste und weit verbreitete Kreativitätstechnik ist es für einen effektiven und effizienten Einsatz von Brainstorming sinnvoll, gruppendynamische Prozesse und Problemfelder zu kennen und ihnen gegebenenfalls entgegenzuwirken. Es geht hierbei um Auswirkungen der Gruppenstruktur, aber auch um potentielle Prozess- sowie Motivationsverluste, die Einfluss auf die Ergebnisse des Brainstormings nehmen können. Dabei sind Aspekte der Gruppenstruktur, der Rollendifferenzierung, der Statusdifferenzierung und der Kommunikationsmuster zu beachten, ansonsten können Prozess- und Motivationsverluste entstehen.
Schwächen – Varianten – Kritik.
Untersuchungen behaupten, dass schon die Äußerung einer Idee die Ideenfindung der anderen Teilnehmenden beeinflusst. Daher sei es sinnvoll, alle Teilnehmenden vor dem eigentlichen Brainstorming ihre Ideen aufschreiben zu lassen, um danach zunächst gänzlich unbeeinflusst davon berichten zu können.
Laut einem Bericht in „Bild der Wissenschaft“ 1/2005 nützt die traditionelle Brainstorming-Methode jedoch nachweislich nichts: 50 Studien zeigten ein vernichtendes Ergebnis, die Kandidaten konnten es in Gruppen nicht besser, weil sie sich gegenseitig blockierten. Meist mussten sie warten, bis ein anderer ausgeredet hatte, was ihre Kreativität hemmte. Dieses Phänomen wird "Produktionsblockierung" genannt. Einzelkämpfer hingegen hatten nicht nur mehr, sondern auch bessere Eingebungen als die Gruppe. Kreativität hinge somit eher vom Bewusstseinsstand der Einzelnen ab.
Anders verhält es sich mit elektronischem Brainstorming, das mit Hilfe elektronischer Meetingsysteme online durchgeführt wird. Diese Systeme setzen wesentliche Grundregeln des Brainstormings auf technischer Ebene durch und hebeln schädliche Einflüsse der Gruppenarbeit dank Anonymisierung und Parallelisierung der Eingaben aus. Die positiven Effekte elektronischen Brainstormings verstärken sich mit wachsender Gruppengröße.
Um weniger ausdrucksstarke, aber gleichwertig qualifizierte Mitarbeiter einzubeziehen, kann auch auf Brainwriting oder die Collective-Notebook-Methode ausgewichen werden. Auch hier gilt, dass jede Variation in Umgebung und Art der Durchführung neue Impulse liefert. Als hilfreich erweist sich bei Brainstormings auch, sogenannte "Outsider" in das Brainstorming einzubeziehen. Mitglieder innerhalb einer Organisation blockieren zumeist bei der Ideenfindung, weil sie zu sehr in bestimmten Strukturen denken und darin gefangen sind. Leute von außerhalb können die Denkprozesse beschleunigen und positiv beeinflussen.
Andererseits sind wiederum geübt kreative Menschen in der Lage, sich innerhalb einer Brainstorming-Sitzung gegenseitig anzuregen und zu beflügeln. Die Brauchbarkeit der Ideen hängt wesentlich von der Vertrautheit der Teilnehmenden mit dem Problemgebiet ab, vielfältige Interessen und breite Allgemeinbildung sind ebenfalls vorteilhaft.
Brainstorming und verwandte Methoden werden manchmal nur deshalb angewendet, um möglichst viele Personen an der Problemlösung zu beteiligen, also aus (betriebs-)politischen Gründen. In solchen Fällen spielt die Effektivität keine große Rolle. Wird Brainstorming streng ergebnisorientiert eingesetzt und auch nur von für diese Methode geeigneten Personen ausgeübt, kann es sehr schnell zu guten Teilergebnissen führen, die wiederum weitere Arbeitsschritte befruchten.
Ein Sozialpsychologe der Universität Utrecht machte bezüglich Brainstorming ein Experiment, in dem 20 allein nachdenkende Menschen bis zu 50 % mehr und originellere Einfälle hatten als „Teams“, die klassisches Brainstorming betrieben. |
474 | 178175 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=474 | Buckminster Fuller | Richard Buckminster Fuller (oft abgekürzt zu "R. Buckminster Fuller," auch "Bucky Fuller" genannt; * 12. Juli 1895 in Milton, Massachusetts; † 1. Juli 1983 in Los Angeles) war ein US-amerikanischer Architekt, Konstrukteur, Visionär, Designer, Philosoph und Schriftsteller.
Leben und Wirken.
Fuller stammte aus einer wohlhabenden Familie. Er war eines von vier Kindern des Lederwarenhändlers Richard Buckminster Fuller und dessen Frau Caroline Wolcott Andrews. Er war zudem der Großneffe von Margaret Fuller, einer amerikanischen Journalistin und Bürgerrechtlerin. Sein Cousin war der Journalist und Schriftsteller John Phillips Marquand, der 1938 den Pulitzer-Preis für seinen Roman "Der selige Mister Apley" erhielt.
1914 lernte er Anne Hewlett (1896–1983), Tochter des prominenten New Yorker Architekten James Monroe Hewlett, kennen. Die beiden heirateten in New York am 12. Juli 1917, seinem 22. Geburtstag. Sie hatten zwei Töchter, Alexandra (1918–1923) und Allegra (1927–2021). Alexandra starb mit vier Jahren an Kinderlähmung und spinaler Meningitis. Allegra Fuller Snyder gründete das Board of Directors des Buckminster Fuller Institute und wurde dessen Vorsitzende.
Buckminster Fuller begann 1912 in Harvard zu studieren, brach das Studium jedoch ab und wurde Marinesoldat. 1927, im Alter von 32 Jahren, war er bankrott, arbeitslos und nach dem Tode seines ersten Kindes nahe daran, sich das Leben zu nehmen. Er beschloss, sein weiteres Leben als Experiment zu verstehen: Er wollte feststellen, was eine einzelne Person dazu beitragen kann, die Welt zum Nutzen der Menschheit zu verändern. Er begann, sein Leben peinlich genau in einem Tagebuch zu dokumentieren, das er dann ein halbes Jahrhundert lang führte.
Nach mehreren Anstellungen in der Industrie, unter anderem in der Exportabteilung eines fleischverarbeitenden Unternehmens, begann er als Architekt zu arbeiten. In den späten zwanziger Jahren hatte er einigen Erfolg mit neuen Gebäudekonzepten, die er unter dem Namen Dymaxion (Dymaxion-Globus) der Öffentlichkeit vorstellte. Weitere Entwürfe energie- und/oder materialeffizienter Konstruktionen (zum Beispiel ein stromlinienförmiges Auto, ein Badezimmer, Tensegrity) folgten, wurden patentiert und teilweise ebenfalls unter dem Warenzeichen "Dymaxion" vermarktet. 1970 wurde Fuller zum Mitglied ("NA") der National Academy of Design gewählt.
Bekannt wurde Fuller durch seine "Domes" oder geodätischen Kuppeln, auch Fuller-Kuppeln genannt, die man meist auf Ausstellungen, in Science-Fiction-Filmen oder als Teil von Militäranlagen (Radarkuppeln) sehen kann und die er 1948 mit Studenten am Black Mountain College im Projektstudium zusammen mit Josef Albers baute. Die bekannteste ist die Biosphère, der Ausstellungspavillon der Vereinigten Staaten an der Expo 67 in Montreal. Auch Achterbahnen fanden in diesen Kugeln Platz (zum Beispiel der Eurosat im Europa-Park bei Rust). Sie basieren auf einer Weiterentwicklung von einfachsten geometrischen Grundkörpern (Tetraeder als 3-Simplex, Oktaeder und dichteste Kugelpackungen) und sind extrem stabil sowie mit geringem Materialaufwand realisierbar. Das Konstruktionsprinzip wurde 1954 patentiert. Ebenso bekannt ist auch sein ab 1965 entworfener Fly’s Eye Dome.
Fuller sah als einer der Ersten das Wirken der Natur als durchgängiges systemisches Wirken unter wirtschaftlichen Prinzipien (Material- und Energieeffizienz und die damit verbundene Tendenz zur Ephemerisierung). Als Maß der Verfügbarkeit von (fossiler) Energie prägte er 1940 den Begriff „energy slave“. Ein anderer wichtiger Aspekt war für ihn das Entdecken von nutzbaren Synergien, ein Begriff, den er mitprägte.
Er wirkte als Designer, Wissenschaftler, Forscher, Entwickler und Schriftsteller und propagierte dabei frühzeitig globale und kosmische Sichtweisen, wie in „Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde“. Den Sinn des Lebens in der Moderne untersuchte er mit der Frage nach der „Integralfunktion des Menschen im Universum“. Seine in späteren Jahren entwickelten Methoden und technischen Konstruktionen versuchen Minimalprinzipien in den Bereichen der Technik fortzuentwickeln, um zur Vermeidung des „kosmischen Bankrottes“ Mittel zur nachhaltigen Fortentwicklung unserer Zivilisation bereitzustellen. Diesem Zweck diente auch 1961 die Propagierung des Spieles "World Game," das – im Gegensatz zu Konfliktsimulationen – praktisch aufzeigen sollte, wie spontane Kooperation das Leben aller Menschen verbessern kann.
R. Buckminster Fuller starb 1983 in Los Angeles, keine 36 Stunden vor seiner Frau Anne. Das Grab der beiden befindet sich auf dem Friedhof Mount Auburn in Cambridge, Massachusetts.
Preise und Auszeichnungen.
1968 wurde Fuller Professor an der Southern Illinois University Carbondale, später auch an der University of Pennsylvania. Zwischen 1954 und 1981 erhielt Fuller 47 Ehrendoktorate sowie über 100 Auszeichnungen und Preise.
Nach ihm wurde die dritte bekannte elementare Modifikation des Kohlenstoffs benannt, die Fullerene, deren chemische Struktur an seine Kuppelbauten erinnert. Das bisher am besten erforschte Fulleren C60 wird auch als "Buckminster-Fulleren" beziehungsweise "Bucky Ball" bezeichnet.
Fuller war Mitglied und später auch Vorsitzender des Vereins für Hochbegabte Mensa International. Außerdem wurde er 1963 in die American Academy of Arts and Letters und 1968 in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen.
2004 ehrte ihn der United States Postal Service mit einer Briefmarke zum 50. Jahrestag der Patentierung der geodätischen Kuppeln.
Trivia.
Der amerikanische Künstler Matthew Day Jackson ehrte Fuller durch das im Jahre 2007 entstandene Porträt "Bucky" aus Holz mit einem aus Perlmutt eingelegten Auge. Das Objekt wurde im Jahre 2010 bei Christie’s in New York an den Juwelier Laurence Graff verkauft.
Das Buckminster-Fulleren ist nach ihm benannt.
Werke (Auswahl).
Konzepte und Gebäude: |
475 | 1684142 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=475 | Bayern | Bayern (; "BY"; amtlich Freistaat Bayern) ist das flächengrößte der 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland und liegt in deren Südosten. Mit rund Millionen Einwohnern ist er das zweitbevölkerungsreichste deutsche Land. Die Landeshauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt ist München mit rund Millionen Einwohnern.
Der Freistaat hat im Süden Anteil am Hochgebirge der Ostalpen und an dem bis zur Donau reichenden flachen Alpenvorland. Nördlich der Donau bestimmen Mittelgebirge wie der Bayerische Wald oder das Fichtelgebirge das Landschaftsbild.
Seine staatsrechtliche Ordnung beruht auf der Verfassung des Freistaates Bayern. Die Bezeichnung Freistaat trägt Bayern seit 1918 mit der Ausrufung als Republik und dem damit verbundenen Ende des Königreichs Bayern.
Bereits im Jahre 555 n. Chr. und damit rund 500 Jahre vor der Verwendung des Begriffs "deutsch" im heutigen Sinn ist das ältere bayerische Stammesherzogtum nachgewiesen, das Teil des fränkischen Herrschaftsbereichs wurde. Unter den Karolingern entstand erstmals ein baierisches Königtum. Nach dem Ende der Herrschaft der Karolinger erstarkte die baierische Eigenständigkeit im jüngeren bayerischen Stammesherzogtum. Mit Beginn der Herrschaft der Wittelsbacher 1180 folgte der Übergang zum Territorialstaat. Sie regierten Bayern über 700 Jahre bis 1918. Baiern war Kurfürstentum des Heiligen Römischen Reiches und ab 1806 Königreich. Durch die Verfassungen von 1808 und 1818 wurde Bayern konstitutionelle Monarchie. Bayern konnte auf dem Wiener Kongress 1814 als eine der Siegermächte einen großen Teil der Gebietsgewinne behalten; unter anderem kamen Teile Frankens, Schwabens und die neugeschaffene linksrheinische Pfalz zu Bayern. 1918 brach die Wittelsbachermonarchie in der Novemberrevolution zusammen. In der Weimarer Republik verlor Bayern seine Reservatrechte weitgehend zugunsten des Reichs. Nach der NS-Machtergreifung erfolgte schrittweise die Aushebelung sämtlicher politischen Möglichkeiten Bayerns, so des Bayerischen Landtags, aber auch der bayerischen Staatsbürgerschaft. Die Amerikanische Besatzungsmacht stellte Bayern 1945 offiziell wieder als unabhängigen Staat her. Die Pfalz wurde 1946 von Bayern abgetrennt und ist heute Teil von Rheinland-Pfalz. 1949 gründete der Freistaat unter Vorbehalten die Bundesrepublik mit.
Traditionell gliedert es sich in die drei Landesteile und „Stämme“ Altbayern (Bezirk und Regierungsbezirk Oberpfalz, Ober- und Niederbayern), Franken (Ober-, Mittel- und Unterfranken) und Schwaben. Die Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten werden als vierter Stamm bezeichnet.
Geographie.
Der Freistaat hat im Süden Anteil am Hochgebirge der Ostalpen und an dem bis zur Donau reichenden flachen Alpenvorland. Nördlich der Donau bestimmen Mittelgebirge wie der Bayerische Wald oder das Fichtelgebirge das Landschaftsbild. Auch besitzt Bayern im Westen, zwischen Nördlinger Ries und dem Donauried bei Dillingen an der Donau noch Anteile an der schwäbischen Alb, auch als Riesalb bekannt. Östlich vom Nördlinger Ries erstreckt sich die fränkische Alb. Mit Mainfranken besitzt Bayern auch eine der wichtigsten Weinregionen Deutschlands.
Gebiet und Landschaft.
Als Binnenland grenzt Bayern an folgende Staaten: im Osten an Tschechien, im Südosten und Süden an Österreich, im Südwesten über den Bodensee an die Schweiz und an die deutschen Bundesländer Baden-Württemberg (im Westen), Hessen (im Nordwesten), Thüringen (im Norden) und Sachsen (im Nordosten). Die Landesgrenze Bayerns ist insgesamt 2705 Kilometer lang. Bayern grenzt, im Westen beginnend, im Uhrzeigersinn an Baden-Württemberg (829 Kilometer Grenzlänge), Hessen (262 Kilometer), Thüringen (381 Kilometer), Sachsen (41 Kilometer), an die tschechischen Regionen Karlsbad, Pilsen und Südböhmen (357 Kilometer), an die österreichischen Bundesländer Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg (816 Kilometer) sowie an den Schweizer Kanton St. Gallen (19 Kilometer), wobei der Grenzverlauf im Bodensee nicht festgelegt ist.
Bis 1990 bildete die Grenze zu Thüringen, Sachsen und der damaligen Tschechoslowakei einen Abschnitt des Eisernen Vorhangs. Sie stellte durch die Grenzsicherungsanlagen eine physisch nahezu unüberwindbare Trennung zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt dar. Bei Prex gab es ein Dreiländereck. Nicht zum bayerischen Staatsgebiet und daher nicht zum deutschen Bundesgebiet gehören die im privatrechtlichen Eigentum Bayerns stehenden Saalforsten in Österreich. Andererseits gehört der Egerer Stadtwald, der historisch zur böhmischen Stadt Eger (tschechisch Cheb) gehört, zum bayerischen Staatsgebiet und wird von einer Stiftung verwaltet.
Bayern liegt in Süddeutschland und umfasst:
Die Bayerischen Alpen im äußersten Süden Bayerns gehören zu den Nördlichen Kalkalpen. Bayern ist das einzige deutsche Bundesland, das Anteil an den Alpen hat. Meist werden unter den Bayerischen Alpen nur die zwischen den Flüssen Lech und Saalach gelegenen Gebirgsteile verstanden. In diesem engeren Sinn zählen daher die Allgäuer Alpen, auf die sich das bayerische Staatsgebiet erst seit jüngerer Zeit erstreckt, und die Berchtesgadener Alpen nicht zu den Bayerischen Alpen, nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Bayerischen Voralpen, die nördlich an das Gebirge angrenzen. Letztere umfassen den bayerischen Anteil der Voralpen zwischen der Loisach im Westen und dem Inn im Osten. Während die Voralpen nur vereinzelt ausgeprägte Kalkfelswände haben, sind die Alpen durch die im Jungpleistozän entstandenen Kare, Seen und die typischen U-Täler durch Gletscher geprägt. Ablagerungen der eiszeitlichen Flüsse sowie vor allem die Gletscher ließen insbesondere im Alpenvorland eine hügelige Landschaft mit Seen und Mooren entstehen. Dort liegen etwa der Chiemgau, das Fünfseenland und das Allgäu.
Während zwischen den Alpen und südlich der Donau das Gelände flach bis hügelig ist, liegen nördlich davon mehrere Gebirge, die eine Höhe von über tausend Metern erreichen, darunter beispielsweise der Bayerische Wald mit dem Großen Arber als höchstem Berg Bayens außerhalb der Alpen und das Fichtelgebirge mit dem Schneeberg als höchstem Berg Frankens. Die Fränkische Alb als geologische Fortsetzung des Schweizer Juras und der Schwäbischen Alb zieht sich um einen Bogen durch den Norden Bayerns und schirmt Teile Frankens von Altbayern ab. Nördlich davon liegen zahlreiche Zeugenberge wie der Hesselberg. Der äußerste Südwesten der Alb grenzt ans Nördlinger Ries, Rest eines beim Ries-Ereignis vor etwa 14,6 Millionen Jahren entstandenen Einschlagkraters. Das Fränkische Keuper-Lias-Land, in dem etwa Aischgrund, Steigerwald und Frankenhöhe liegen, geht in die Mainfränkischen Platten über. Südwestlich davon liegen die Mittelgebirge Odenwald, Spessart und Rhön. Die östliche Hälfte Bayerns wird von Mittelgebirgen wie dem Bayerischen Wald oder dem Frankenwald geprägt. Dort befindet sich das größte, nicht zerschnittene Waldgebiet Mitteleuropas. Auch Teile des Vogtlands liegen in Bayern. Der westliche Teil Unterfrankens als Bestandteil der Tiefebene des Rheins gehört zum Bayerischen Untermain.
Die niedrigste Stelle Bayerns liegt mit ca. am Ufer des Mains auf Höhe von Kahl am Main (Unterfranken), die höchste im Wettersteingebirge auf dem Gipfel der Zugspitze (), dem höchsten deutschen Berg. Alle 30 höchsten Berggipfel Deutschlands liegen in den Bayerischen Alpen, konzentriert im Wettersteingebirge, in den Berchtesgadener Alpen und den Allgäuer Alpen. Der höchste bayerische Gipfel der Berchtesgadener Alpen ist der Watzmann () und der höchste bayerische Gipfel in den Allgäuer Alpen ist die Hochfrottspitze ().
Der geographische Mittelpunkt Bayerns liegt etwa 500 Meter östlich des Marktes Kipfenberg im Landkreis Eichstätt (). Historisch betrachteten sich mehrere Orte in Bayern als Mittelpunkt Europas. Seit dem EU-Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 lag der geographische Mittelpunkt der Europäischen Union im Landkreis Aschaffenburg, im Ortsteil Oberwestern der bayerischen Gemeinde Westerngrund (). Seit dem Austritt des Vereinigten Königreiches am 31. Januar 2020 liegt der EU-Mittelpunkt im Landkreis Würzburg, im Ortsteil Gadheim der Gemeinde Veitshöchheim ().
Gewässer.
Der bedeutendste Fluss des Landes ist die Donau, diese fließt in der Südhälfte des Landes von West nach Ost, gelangt bei Ulm auf das Landesgebiet und tritt bei Passau nach Österreich über. Ihre größten Nebenflüsse sind (stromabwärts):
Die vier südlichen Nebenflüsse entspringen in den Alpen und sind wasserreicher. Inn und Lech führen (wegen des langen Oberlaufs) bei ihrer Mündung meist etwas mehr Wasser als die Donau.
Im Heimatkundeunterricht wird zur Donau vielerorts folgender Merkspruch aufgesagt: „Brigach und Breg bringen die Donau zu weg. Iller, Lech, Isar, Inn, fließen rechts zur Donau hin. Wörnitz, Altmühl, Naab und Regen fließen links dagegen.“
Der größte Teil Frankens wird durch den Main von Ost nach West in den Rhein entwässert. In seinem markant geschwungenen Lauf bildet er das sogenannte Maindreieck und Mainviereck. Seine größten Nebenflüsse sind Regnitz und Tauber von links und Fränkische Saale von rechts. Im Nordosten Oberfrankens bzw. Niederbayerns entspringen die linken Nebenflüsse der Elbe, die „Sächsische“ Saale, die Eger und die Kalte Moldau als Quellfluss der Moldau.
In den Endmoränenlandschaften im südlichen Teil des nördlichen Alpenvorlandes gibt es viele Seen, die teilweise ins Gebirge hineinragen, etwa der Tegernsee, der Starnberger See und der Schliersee. Bayern hat Anteil am Bodensee, dem größten See des westlichen Mitteleuropas. Der größte See innerhalb Bayerns ist der Chiemsee. Nördlich der Fränkischen Alb wurden die Stauseen des Fränkischen Seenlands gebildet. Sie dienen zur Wasserregulierung Nordbayerns, insbesondere der Wasserversorgung des Main-Donau-Kanals, einer wichtigen Wasserstraße in Nordbayern. In den Alpen wurde 1924 das Walchenseekraftwerk in Betrieb genommen, das das natürliche Gefälle zwischen dem als „Oberbecken“ fungierenden Walchensee und dem „Unterbecken“ Kochelsee zur Stromerzeugung nutzt.
Durch Teile Bayerns führt die Europäische Hauptwasserscheide. Sie trennt das zum Rhein gehörende Flusssystem von dem der Donau.
Details sind beschrieben in der Liste der Flüsse in Bayern sowie in der Liste der Seen in Bayern.
Schutzgebiete.
In Bayern liegen der Nationalpark Bayerischer Wald und der Nationalpark Berchtesgaden. Von der UNESCO anerkannte Biosphärenreservate sind das Biosphärenreservat Berchtesgadener Land und das Biosphärenreservat Rhön. Es gibt 18 Naturparke in Bayern, das älteste ist der 1969 gegründete Naturpark Altmühltal.
In Bayern sind 603 Naturschutzgebiete, 702 Landschaftsschutzgebiete, 674 Fauna-Flora-Habitat-Gebiete, 84 Europäischen Vogelschutzgebiete, 160 Naturwaldreservate und über 3.400 Geotope vom Bayerischen Landesamt für Umwelt ausgewiesen (Stand: März 2017). Hundert besonders sehenswerte Geotope sind als Bayerns schönste Geotope ausgewiesen. Größtes Naturschutzgebiet sind die Allgäuer Hochalpen, kleinstes ist der Drabafelsen.
Siehe auch:
Ausdehnung und Flächennutzung.
Mit 70.541,57 Quadratkilometern ist Bayern das flächenmäßig größte deutsche Bundesland und hat damit knapp 22.000 Quadratkilometer mehr Fläche als Niedersachsen. Der Freistaat entspricht etwa 19 Prozent der deutschen Staatsfläche. Die Fläche Bayerns ist größer als die vieler Staaten Europas, etwa die der Niederlande oder Irlands.
Das Staatsgebiet Bayerns erstreckt sich von 47° 16′ bis zu 50° 34′ nördlicher Breite und von 8° 58′ bis 13° 50′ östlicher Länge. Bayern erstreckt sich in west-östlicher Richtung über maximal 260, in nord-südlicher über 366 Kilometer. Der südlichst gelegene Ort in Bayern ist Einödsbach, der westlichste Großwelzheim, der nördlichste Weimarschmieden und der östlichste Breitenberg. Die südlichste Stelle Bayerns und ganz Deutschlands ist das Haldenwanger Eck.
Etwa 86,1 Prozent der Fläche werden land- und forstwirtschaftlich genutzt. 12,0 Prozent sind Siedlungs- und Verkehrsflächen.
Klima.
Das Klima geht vom Nordwesten (relativ ausgeglichen) nach Osten vom Seeklima "(Cfb)" ins Kontinentalklima "(Dfb)" über. An etwa 100 Tagen sind die Temperaturen unter null Grad Celsius, die Westwinde bringen durchschnittlich 700 mm Niederschlag, im Nordstau der Alpen lokal bis 1800 mm pro Jahr. Die mittlere jährliche Sonnenscheindauer beträgt 1600 bis 1900 Stunden. Der wärmste Monat ist meist der Juli, kältester der Januar. Der Föhn beeinflusst das Wetter im gesamten Alpenvorland und kann stellenweise bis an die Fränkische Alb reichen. Der Norden Bayerns ist trockener und wärmer als der Süden; die Region um Würzburg weist die meisten Sonnentage Süddeutschlands auf.
Auswirkungen des Klimawandels.
Die Auswirkungen der globalen Erwärmung zeigen sich auch in Bayern. Die Sommermonate werden dabei tendenziell heißer und trockener. Zuletzt war der Juni 2019 der wärmste Juni in Bayern seit Beginn der Beobachtungen und der Winter 2019/2020 lag bayernweit drei Grad Celsius über dem langjährigen Mittel. Am 20. Dezember 2019 wurde in Piding eine Rekordtemperatur von 20,2 °C gemessen. Die Wintermonate werden tendenziell niederschlagsreicher, wobei der Niederschlag vermehrt in Form von Regen statt Schnee fällt. Extreme Wetterlagen, wie etwa das Hochwasser in Mitteleuropa 2013 oder das Starkschneeereignis im Januar 2019, nehmen zu. Eine Folge der Erwärmung ist u. a. die fortschreitende Schmelze aller bayerischer Alpengletscher: Von den vier bayerischen Gletschern wird mit dem Höllentalferner mittelfristig nur einer bestehen. Beispielsweise ist seit den 1980er-Jahren der Südliche Schneeferner, von Überresten abgesehen, bereits vollständig verschwunden.
Flora.
Bayern wäre von Natur aus hauptsächlich von Wäldern bedeckt. Im Flach- und Hügelland würden buchendominierte Mischwälder vorherrschen, in den Gebirgen in Bergmischwälder übergehend. In den höheren Gebirgslagen kämen Fichtenwälder vor und die Flüsse würden von ausgedehnten Auwäldern begleitet werden. Nur die Gewässer und die Gebirgslagen oberhalb der Waldgrenze sowie Sonderstandorte wie Hochmoore wären natürlicherweise nicht bewaldet. Durch umfangreiche Rodungen für landwirtschaftliche Flächen und Siedlungen hat der Mensch bereits im Mittelalter die Waldfläche in Bayern zurückgedrängt. Aktuell sind mit 2,6 Millionen Hektar 36,9 Prozent der bayerischen Landesfläche bewaldet. Damit befindet sich rund ein Viertel der deutschen Wälder in Bayern. Die Baumartenzusammensetzung der Wälder in Bayern ist stark von der forstwirtschaftlichen Nutzung geprägt. Die häufigste Baumart in Bayerns Wäldern ist die Gemeine Fichte mit 41,8 Prozent Flächenanteil, gefolgt von der Waldkiefer mit 17,9 Prozent, der Rotbuche mit 13,9 Prozent und den Eichen mit 6,8 Prozent Anteil. Besonders große Waldgebiete befinden sich noch in den Mittelgebirgen in Nord- und Ostbayern, wie zum Beispiel im Spessart, im Fichtelgebirge, im Steigerwald und im Bayerischen Wald sowie in den Bayerischen Alpen.
Dagegen sind insbesondere die Gegenden mit fruchtbaren Böden im Voralpenland, im Hügelland und in den Flussniederungen von überwiegend landwirtschaftlich genutzten Offenlandschaften mit Wiesen, Äckern und nur wenigen Einzelbäumen und kleineren Wäldern geprägt. Franken weist gebietsweise für Süddeutschland einzigartige Sandlebensräume auf, die als Sandachse Franken geschützt sind. In den Flusstälern entlang von Main und Tauber wurde die Landschaft für den Weinanbau umgestaltet. Weit verbreitet sind Magerrasen, ein extensiv genutztes Grünland an besonders nährstoffarmen, „mageren“ Standorten. Besonders die Südliche Frankenalb mit dem Altmühltal ist gekennzeichnet von solchen Magerrasen. Viele dieser Gebiete sind als Schutzgebiet ausgewiesen.
Fauna.
In den Wäldern Bayerns leben, wie in anderen Teilen Deutschlands, nur noch relativ wenige Großtierarten. Es gibt unter anderem verschiedene Marderarten, Dam- und Rothirsche, Rehe sowie Wildschweine und Füchse. In naturnahen Gebieten, wie dem Fichtelgebirge, leben Luchse und Auerhähne, aber auch Biber und Otter verbreiten sich wieder. Vereinzelt gibt es Sichtungen von seit längerem in Mitteleuropa ausgerotteten Tieren in Bayern, beispielsweise vom Wolf. In hochalpinen Regionen leben der wieder eingebürgerte Alpensteinbock und das Alpenmurmeltier. Seltener ist die Gämse in einigen Mittelgebirgen, wie der Fränkischen Alb, beheimatet. In den Bayerischen Alpen kommt der Steinadler vor. Es wurden 19 verschiedene Amphibienarten nachgewiesen.
Geschichte.
Antike.
Ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. gründeten keltische Stämme im Alpenvorland erste befestigte, stadtähnliche Siedlungen. In dem Oppidum von Manching lebten damals bereits etwa 5.000 bis 10.000 Kelten innerhalb einer Stadtbefestigung. Zur Zeit des Kaisers Augustus wurde das keltisch besiedelte Gebiet Altbayerns südlich der Donau Teil des Römischen Reiches und seiner Provinzen Raetia und Noricum. Nach Zusammenbruch der römischen Herrschaft bildete sich das Volk der Bajuwaren. Vermutlich haben sich die Bajuwaren aus verschiedenen Volksgruppen gebildet:
Es wird von einer Stammesbildung der Bajuwaren im eigenen Land, also dem Land zwischen Donau und Alpen, ausgegangen.
Älteres Stammesherzogtum.
Für das Jahr 555 n. Chr. ist die Existenz eines bairischen Stammesherzogtumes mit Sitz in Freising und Regensburg unter den Agilolfingern belegt, das unter den Merowingern Teil des fränkischen Herrschaftsbereichs "Austrasien" wurde. Mit der Lex Baiuvariorum entstand das erste kodifizierte bairische Stammesrecht (um 741/743). Der Sieg Karls des Großen über den Bayernherzog Tassilo III. 788 markiert das Ende des sogenannten älteren Stammesherzogtums. Seit 788 bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts gab es keinen baierischen Herzog. Die Karolinger regierten als baierische Könige oder Unterkönige und setzten zur Herrschaftsausübung bisweilen Statthalter (Präfekten) ein.
Jüngeres Stammesherzogtum.
Der Niedergang der Karolinger ermöglichte ein Wiederaufleben der Eigenständigkeit der baierischen Herzöge im sogenannten jüngeren Stammesherzogtum. Nach Ende der Herrschaftsperiode der Karolinger kam es erneut dazu, dass die Eigenständigkeit der einzelnen Gebiete allmählich erstarkte. Unterstützt wurde dies durch die Bedrohung von außen durch die Ungarneinfälle ab etwa 862. Markgraf Luitpold von Bayern fiel 907 in der Schlacht von Pressburg in einer Niederlage gegen die Ungarn, jedoch wird das Datum durch den Antritt seines Sohns Arnulf I. als Herzog von Bayern gleichzeitig als Beginn des jüngeren baierischen Stammesherzogtums gesehen. Nach dem Sieg in der Schlacht auf dem Lechfeld erfolgte eine zweite Welle baierischer Ostsiedlung mit Gewinn von Gebieten im heutigen Niederösterreich, Istrien und der Krain. Der Streit mit den Ottonen führte wieder zu einer starken Abhängigkeit vom deutschen Königtum. 976 wurde der Südosten Bayerns als Teil eines neu geschaffenen Herzogtums Kärnten abgetrennt. Zusätzlich regierte das Geschlecht der Babenberger in der "Marcha Orientalis" (Ostarrichi) zunehmend unabhängiger vom bayerischen Herzog. 1014 wurde Herzog Heinrich IV. aus der baierischen Linie der Ottonen als Heinrich II. römisch-deutscher Kaiser.
Ab 1070 kam es unter den Welfen zu einem Wiedererstarken der Macht der baierischen Herzöge. 1156 wurde die Mark Österreich losgelöst und unter den Babenbergern, die zuvor nach dem Sturz des Welfen Heinrichs des Stolzen kurzzeitig ganz Bayern regiert hatten, selbst zum Herzogtum erhoben. 1180 stürzte Friedrich I. Barbarossa auf Betreiben der Fürsten den Welfen Heinrich den Löwen, den Herzog von Bayern und Sachsen. Das Herzogtum Baiern wurde durch die Abtrennung der Steiermark und der andechsischen Markgrafschaft Istrien weiter verkleinert. Auch die Grafen von Tirol agierten zunehmend unabhängiger vom baierischen Herzog und profitierten später wie die Wittelsbacher vom Aussterben der Grafen von Andechs, die zuletzt auch das von Bayern abgetrennte Herzogtum Meranien
besessen hatten.
Territorialherzogtum.
Ab 1180 wurde das verkleinerte Bayern als Territorialherzogtum von den Wittelsbachern regiert, die bis zum Ende der Monarchie 1918 an der Macht blieben. 1214 fiel auch die Pfalz von den Welfen an die Wittelsbacher. Der herzogliche Vorort hatte sich in dieser Zeit mehrfach verschoben, zunächst von Regensburg bis 1231 nach Kelheim und dann bis 1255 nach Landshut.
Bayern erlebte von 1255 bis 1503 eine Periode zahlreicher Teilungen in Einzelherzogtümer. Kurz vor der ersten Wiedervereinigung erlangte Ludwig IV. 1328 als erster Wittelsbacher die Kaiserwürde, was für Bayern einen neuen Höhepunkt der Macht bedeutete. Gleichzeitig löste sich jedoch das Erzstift Salzburg endgültig vom Mutterland Bayern. Im Hausvertrag von Pavia von 1329 teilte Ludwig den Besitz in eine pfälzische Linie mit der Rheinpfalz und der später sogenannten Oberpfalz und in eine altbayerische Linie auf. Die von ihm neu hinzugewonnenen Gebiete Brandenburg, Tirol, die niederländischen Provinzen Holland, Seeland und Friesland sowie der Hennegau gingen unter seinen Nachfolgern sehr bald wieder verloren. Tirol fiel 1363 an die Habsburger, Brandenburg 1373 an die Luxemburger. Mit der Goldenen Bulle 1356 ging die Kurwürde für die altbayerische Linie an die der Pfalz verloren.
1429 wurde nach dem Aussterben der Linie Straubing-Holland das Herzogtum Bayern-Straubing unter den Linien München, Ingolstadt und Landshut aufgeteilt. 1447 fiel Bayern-Ingolstadt an Bayern-Landshut, das seinerseits im Landshuter Erbfolgekrieg von Bayern-München gewonnen wurde. Mit dem Kölner Schiedsspruch, der den Krieg beendete, verlor Bayern 1505 das Gebiet um Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg sowie das Zillertal und das Mondseeland an die Habsburger. Auch entstand damals aus weiteren Landshuter Gebieten mit Pfalz-Neuburg ein unabhängiges Fürstentum. Durch das Primogeniturgesetz von Herzog Albrecht IV. von 1506 fanden die Landesteilungen ein Ende.
Das Herzogtum Bayern öffnete sich unter der Herrschaft von Wilhelm IV. und Albrecht V. der Renaissance und wurde zu einem Hort der Gegenreformation. Die an Bayern angrenzenden Freien Reichsstädte Nürnberg und Augsburg waren vom Beginn der Neuzeit bis zum Ende der Renaissance bedeutende Handels- und Wirtschaftszentren, was in Augsburg vor allem auf den Einfluss der Kaufmannsfamilien Fugger und Welser zurückging. In dieser Zeit zählten beide Orte zusammen mit Köln und Prag und zu den vier größten Städten des Heiligen Römischen Reiches und hatten Regensburg eingeholt, das ebenfalls Freie Reichsstadt war.
Herzog Wilhelm V. beteiligte sich 1583 erfolgreich am Krieg gegen den protestantisch gewordenen Erzbischof von Köln, für fast 200 Jahre stellten seither bayerische Prinzen den Kölner Kurfürsten und regierten zahlreiche weitere Bistümer in Nordwestdeutschland.
Kurfürstentum.
In der Gegenreformation nahm Bayern weiterhin eine führende Stellung ein und ging aus dem Dreißigjährigen Krieg mit Gebietsgewinnen und dem Aufstieg zum Kurfürstentum hervor: 1620 besiegten die Truppen der Katholischen Liga unter Führung des bayerischen Feldherrn Tilly in der Schlacht am Weißen Berge bei Prag die Protestanten. Anschließend ließ Tilly die Pfalz besetzen. Zum Dank erhielt Maximilian I. 1623 die Kurwürde und 1628 die von ihm besetzten kurpfälzischen Teile der Oberpfalz als Kriegsentschädigung.
Durch verschiedene Reformen sanierte Maximilian das Land finanziell und machte es wirtschaftlich leistungsfähig. Durch die Ausschaltung der ständischen Mitwirkungsrechte wurde er der eigentliche Begründer der absolutistischen Herrschaft in Bayern. Er schuf eine wirksame Landesverwaltung, eine neue Gesetzessammlung ("Codex Maximilianeus") und war in merkantilistischen Maßnahmen seiner Zeit bereits voraus. Auch für die Kunstpolitik und das fürstliche Mäzenatentum entstanden neue finanzielle Spielräume. Nach dem Krieg widmete sich auch der Nachfolger Kurfürst Ferdinand Maria dem Wiederaufbau des verwüsteten Landes und verfolgte eine vorsichtige Neutralitätspolitik. Sowohl in Altbayern als auch besonders in den fränkischen Hochstiften Würzburg und Bamberg begann eine glanzvolle Zeit der barocken Kunst. Ab 1663 wandelte sich der Reichstag zu einem permanenten Gesandtenkongress (Immerwährender Reichstag), der in Regensburg tagte.
Während des Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieges und im Zuge der Großmachtpolitik Maximilian II. Emanuels und später seines Sohnes Karl Albrecht wurde das absolutistische Bayern mehrfach vorübergehend von Österreich besetzt. 1705 erhob sich das bayerische Volk gegen die kaiserliche Besatzung. Die bayerische Volkserhebung umfasste weite Gebiete Niederbayerns, das Innviertel und das östliche Oberbayern. Ein Landesdefensionskongress tagte im Dezember 1705 im damals noch bayerischen Braunau am Inn. Erst die Schlacht von Aidenbach am 8. Januar 1706 endete mit der völligen Niederlage der Volkserhebung. Nach der Kaiserkrönung Karl Albrechts wurden weite Teile des Kurfürstentums bis 1744 erneut besetzt. Karl Albrechts Sohn Maximilian III. Joseph beendete 1745 endgültig die Großmachtpolitik seiner Vorgänger und widmete sich inneren Reformen.
Nach dem Aussterben der altbayerischen Linie der Wittelsbacher entstand Ende 1777 das Doppel-Kurfürstentum Kurpfalz-Bayern (zeitgenössisch Churpfalz-Baiern oder Pfalz-Baiern), zu dem auch die Herzogtümer Jülich und Berg gehörten, unter der Regentschaft des Kurfürsten Karl Theodor aus der pfälzischen Linie der Wittelsbacher. Im Bayerischen Erbfolgekrieg und mit dem Fürstenbund verhinderte Preußen den Anschluss Bayerns an Österreich und konnte sich dafür im Gegenzug für das an Österreich gefallene bayerische Innviertel die Ansprüche auf die beiden hohenzollernschen Markgraftümer Ansbach und Bayreuth sichern, die später dann an Bayern fielen. Graf Rumford begann unter Karl Theodor mit weiteren Reformen, unter anderem auch bei der Bayerischen Armee. Ab 1794 war auch Kurpfalz-Bayern in die Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich verwickelt.
Königreich.
Zur Zeit Napoleons stand Bayern anfangs auf der Seite Frankreichs und konnte durch Säkularisation und Mediatisierung große Gebietsgewinne verzeichnen. So fielen Tirol, Vorarlberg sowie das 1779 verlorene Innviertel an Bayern, später auch Salzburg. Im Frieden von Pressburg, der am 26. Dezember 1805 zwischen Frankreich und dem deutschen Kaiser Franz II. abgeschlossen wurde, wurde das mit Napoleon verbündete Bayern zum Königreich proklamiert. König Max I. Josephs Minister Maximilian Graf von Montgelas gilt dabei als Schöpfer des modernen bayerischen Staates. Das neue Königreich beseitigte alle Relikte der Leibeigenschaft, die das alte Reich hinterlassen hatte. Durch das Religionsedikt von 1803 wurden alle drei christlichen Bekenntnisse gleichberechtigt – Katholiken, Reformierte und Lutheraner. 1807 wurden die ständischen Steuerprivilegien abgeschafft. 1805 wurden alle erblichen und käuflichen Ämter durch die große Dienstespragmatik abgeschafft. Das Münchner Regulativ von 1805 und das Juden-Edikt von 1813 gewährte den Israeliten im neuen Bayern erste Freiheiten. Am 27. August 1807 führte Bayern als erstes Land der Welt eine Pockenimpfung ein. 1812 wurde die bayerische Gendarmerie gegründet. Durch ein neues Strafgesetzbuch, das Anselm von Feuerbach entworfen hatte, wurde 1813 die Folter abgeschafft. Das Fürstentum Ansbach fiel 1806 durch einen von Napoleon erzwungenen Gebietstausch an das Königreich Bayern, das protestantische Fürstentum Bayreuth wurde 1810 von Napoleon an Bayern verkauft. Durch den rechtzeitigen Wechsel auf die Seite der Gegner Napoleons im Vertrag von Ried konnte Bayern auf dem Wiener Kongress 1814 als Siegermacht einen Teil der Gebietsgewinne behalten. Für den Verlust Tirols und der rechtsrheinischen Pfalz wurde es durch wirtschaftlich weiter entwickelte Gebiete um Würzburg und Aschaffenburg entschädigt. Der neugeschaffene linksrheinische Rheinkreis kam im Tausch gegen Salzburg 1816 durch den Vertrag von München zu Bayern und war ab 1837 die bayerische Rheinpfalz.
König Ludwig I., der seit 1825 regierte, baute die bayerische Hauptstadt München zur Kunst- und Universitätsstadt aus. In seine Regierungszeit fiel die Hinwendung Bayerns zu Griechenland sowie die Einrichtung zahlreicher Kunstsammlungen und klassizistischer Bauten. Er führte ab 1830 die Zensur wieder ein und beseitigte die Pressefreiheit. Das Hambacher Fest 1832 in der Pfalz auf dem Hambacher Schloss bei Neustadt an der Weinstraße hatte seine Wurzeln in der Unzufriedenheit der pfälzischen Bevölkerung mit der bayerischen Verwaltung. Wegen einer Affäre mit der Tänzerin Lola Montez musste er 1848 im Zuge der Märzunruhen abdanken. Unter seinem Sohn und Nachfolger Max II. Joseph kam es zu einer schrittweisen Liberalisierung aber auch zum Pfälzer Aufstand. Der König war ein Anhänger der Trias-Politik, die vorsah, die deutschen Mittelstaaten unter Führung Bayerns zur dritten Kraft neben den beiden Großmächten Preußen und Österreich zu entwickeln. 1861 erfolgte im Inneren mit der Abschaffung der alten Landgerichte die Trennung von Justiz und Verwaltung, bereits zuvor war die Ministerverantwortlichkeit eingeführt worden.
1864 wurde Ludwig II. zum König von Bayern proklamiert. Er ging wegen des Baues von Neuschwanstein und anderer Schlösser als "Märchenkönig" in die Geschichte ein. Im Deutschen Krieg 1866 erlitt Bayern an der Seite Österreichs eine Niederlage gegen Preußen. 1868 erfolgte die Gründung der konservativen, großdeutschen Patriotenpartei (1887 umbenannt in Bayerisches Zentrum).
1871 wurde Bayern Teil des neu gegründeten Deutschen Reiches, erhielt dabei sogenannte Reservatrechte (eigenes Post-, Eisenbahn- und Heereswesen sowie eigene Diplomatie). 1886 übernahm Prinzregent Luitpold die Regentschaft. Die „Prinzregentenzeit“, wie die Epoche Prinz Luitpolds häufig bezeichnet wird, gilt aufgrund der politischen Passivität Luitpolds als Ära der allmählichen Rückstellung bayerischer Interessen hinter die des Reichs. 1893 erfolgte der erste Einzug der SPD in den bayerischen Landtag, 1906 die Angleichung des Landtagswahlgesetzes an das Reichswahlrecht. 1913 wurde Ludwig III. König, im Jahr darauf brach der Erste Weltkrieg aus. Noch am 2. November 1918 kam es zu einer Wahlrechts- und Parlamentsreform. Im Rahmen der Novemberrevolution 1918 wurde jedoch kurz darauf die Wittelsbacher Monarchie abgesetzt.
Freistaat (Bamberger Verfassung).
Im Verlauf der Novemberrevolution rief am 8. November 1918 Kurt Eisner, Schriftsteller und Journalist, Gründungsmitglied der USPD, Bayern als Volksstaat bzw. Freistaat aus, den "Freien Volksstaat Bayern". Nach dem Staatsgrundgesetz der Republik Bayern vom 4. Januar 1919 wurde die Bamberger Verfassung vom 14. August 1919 zur ersten demokratischen Verfassung Bayerns und beendete das 1806 gegründete Königreich Bayern. (Zwischenzeitlich vermochten jedoch noch ab dem 7. April 1919 sozialistische Gruppen für vier Wochen die „Münchner Räterepublik“ zu installieren.)
Durch eine Volksabstimmung kam am 1. Juli 1920 der Freistaat Coburg zu Bayern (→ Landkreis Coburg). Durch die Bestimmungen des Versailler Vertrags mussten am 10. Januar 1920 das Bezirksamt St. Ingbert sowie Teile der Bezirksämter Homburg und Zweibrücken an das neu geschaffene, unter Völkerbundsverwaltung stehende Saargebiet abgetreten werden. Erst 1930 erfolgte der Abzug der Besatzung der Franzosen und die vollständige Rückgliederung der Pfalz an Bayern.
Nach der Niederschlagung der „Münchner Räterepublik“ wurde Bayern zur Hochburg ultra-konservativer sowie reaktionärer Kräfte und in den ersten Jahren der Weimarer Republik als „Ordnungszelle“ bezeichnet. Am 8. und 9. November 1923 wurde Bayern Schauplatz des Hitlerputsches, der aber von der bayerischen Landespolizei niedergeschlagen werden konnte. Stärkste Partei war die Bayerische Volkspartei, die meist auch den Ministerpräsidenten stellte.
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg.
Als Verwaltungseinheit bestand Bayern auch während der Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1945), war aber weitgehend bedeutungslos. Die Stadt München, in der Adolf Hitler seit 1913 lange gelebt und seinen politischen Aufstieg begonnen hatte, wurde von den Nationalsozialisten allerdings propagandistisch zur Hauptstadt der Bewegung stilisiert. Mit dem KZ Dachau errichtete das NS-Regime nur wenige Wochen nach der sogenannten Machtergreifung das erste durchgehend betriebene Konzentrationslager. Im fränkischen Nürnberg hielt die NSDAP von 1933 bis 1938 auf dem Reichsparteitagsgelände ihre Reichsparteitage und andere Propagandaveranstaltungen ab; 1935 wurden hier die "Nürnberger Gesetze" bekanntgegeben. Auf dem Obersalzberg nahe Berchtesgaden ließ Hitler den Berghof errichten, der ihm als zweiter Regierungssitz diente und sich zu einem zentralen Ort der Macht im nationalsozialistischen Deutschen Reich entwickelte. 1939 wurde der Regierungsbezirk Niederbayern-Oberpfalz um ein bis zum Münchner Abkommen 1938 zur Tschechoslowakei gehörendes Gebiet, die Landkreise Bergreichenstein, Markt Eisenstein und Prachatitz, erweitert, das 1945 wieder abgetrennt wurde.
Im Zweiten Weltkrieg erlitten bayerische Städte wie Aschaffenburg, Augsburg, München, Nürnberg und Würzburg starke Zerstörungen (siehe Luftangriffe auf Aschaffenburg, Augsburg, München, Nürnberg und Würzburg).
Teil der amerikanischen Besatzungszone.
Die Besatzungsmächte leiteten Vertriebene aus Schlesien und dem Sudetenland gezielt in das dünn besiedelte Bayern. Dadurch wuchs die Bevölkerung bis 1949 um ein Viertel. Es entstanden mehrere Vertriebenenstädte.
General Eisenhower stellte mit der Proklamation Nummer 2 vom 28. September 1945 Bayern offiziell als Staat wieder her; die Exekutive lag zwischen 1945 und 1952 in den Händen von US-amerikanischen Militärgouverneuren. Nach der Besetzung durch US-Truppen wurde Bayern Bestandteil der amerikanischen Besatzungszone, während im Jahr 1946 die in der französischen Besatzungszone gelegene stark industrialisierte Rheinpfalz dem neugebildeten Land Rheinland-Pfalz eingegliedert wurde. Andererseits fiel 1945 Ostheim vor der Rhön an Bayern.
Da die US-Militärregierung entschieden gegen die Wiederherstellung einer Monarchie eingestellt war, verbot sie 1946 die wiedergegründete Bayerische Heimat- und Königspartei. (Nach dem Ende der Militärregierung 1949 konnte die Partei jedoch neu konstituiert werden.)
Ab dem 30. Juni 1946 tagte in München eine "Verfassungsgebende Versammlung". Eine neue, republikanische Verfassung des Freistaates Bayern wurde 1946 mit großer Mehrheit durch das Volk angenommen (Näheres im Artikel Bayerische Verfassungsgeschichte).
Freistaat (innerhalb der Bundesrepublik Deutschland).
1948 entschied der Landtag auf Antrag der Staatsregierung, das Grundgesetz abzulehnen, es jedoch in dem Fall als verbindlich anzuerkennen, wenn zwei Drittel der Bundesländer es annehmen würden. 1949 wurde Bayern auf dieser Basis als Land Teil der Bundesrepublik Deutschland. Die Rückgliederung des Landkreises Lindau nach Bayern erfolgte am 1. September 1955.
Der langanhaltende Wirtschaftsaufschwung („Wirtschaftswunder“) trug dazu bei, dass ein tiefer Strukturwandel Bayerns folgte. In den 1960- und 1970er-Jahren wurden Bildung, Infrastruktur und Industrie modernisiert: Neue Gymnasien und Universitäten wurden eröffnet; auf dem Land wurden viele Straßen asphaltiert, zukunftsträchtig erscheinende Branchen wie Fahrzeug- und Maschinenbau, Luft- und Raumfahrt-, sowie Atomindustrie wurden gefördert. Damit wurde das von der Agrarwirtschaft geprägte Bayern zu einem führenden Industriestandort innerhalb der Bundesrepublik Deutschland; 1971 begann die Gebietsreform in Bayern. Von 1962 bis 2008 sowie von 2013 bis 2018 hatte die CSU die absolute Mehrheit in Bayern inne. Bayern wechselte 1987 erstmals im Länderfinanzausgleich vom Nehmerland zum Geberland und ist seit 2008 ununterbrochen das größte Geberland.
Bevölkerung.
Demografie.
Rund 13 Millionen Einwohner oder 16 Prozent der deutschen Bevölkerung leben im Freistaat Bayern. Nach Nordrhein-Westfalen ist Bayern die bevölkerungsreichste subnationale Entität der Europäischen Union und einer der bevölkerungsreicheren Gliedstaaten in der westlichen Welt.
Bayerns Bevölkerung wächst. Seit 1840 hat sich die Einwohnerzahl Bayerns mehr als verdreifacht. Zur Volkszählung 1970 wurden erstmals mehr als zehn Millionen Einwohner gezählt. Zum 31. Dezember 2016 belief sich der Bevölkerungsstand auf 12.930.751 Personen, davon waren rund 50,5 % weiblich. Obwohl im Freistaat mehr Menschen sterben als geboren werden, erhöht sich aufgrund einer deutlich höheren Zuwanderung im Vergleich zur Abwanderung die Bevölkerungszahl seit 2012 kontinuierlich um insgesamt mehr als 400.000. Ende 2012 entsprach der Ausländeranteil 9,6 Prozent. Bayern hatte mit 1,55 Kinder pro Frau im Jahr 2017 eine zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer, die leicht unter dem Bundesdurchschnitt von 1,57 lag.
Wie in ganz (West-)Deutschland kam es ab den 1950er Jahren vor dem Hintergrund des deutschen Wirtschaftswunders zu Zuwanderung insbesondere aus der Türkei, dem damaligen Jugoslawien und Italien und verstärkt um 1990 nach dem Ende des Kalten Krieges aus ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Ländern.
„Vier Stämme Bayerns“.
Anfang 1778 wurden das Kurfürstentum Bayern und die Kurpfalz durch Erbfolge der Wittelsbacher wiedervereinigt. Während in napoleonischer Zeit die rechtsrheinische Pfalz an Baden kam, fielen große Teile der linksrheinischen Pfalz 1816 als Rheinkreis an Bayern zurück. Gleichzeitig kamen durch Napoleon weitere schwäbische Gebiete und große Teile Frankens an das Königreich Bayern. Bis zum Zweiten Weltkrieg verstand man unter den vier Stämmen Bayerns die Altbayern, Franken, Schwaben und Pfälzer. Zahlreiche Monumente aus dieser Zeit betonen diesen Sachverhalt.
Nach 1945 gelangten über zwei Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene, vor allem die als Sudetendeutsche bezeichneten Deutschböhmen, Deutschmährer und Sudetenschlesier, nach Bayern. Die Sudetendeutschen wurden von Franz Josef Strauß als „vierter Stamm“ bezeichnet, wobei die deutschböhmische, -mährische und sudetenschlesische Bevölkerung aus unterschiedlichen Dialekt- und Kulturräumen des deutschen Sprachraumes innerhalb der damaligen Tschechoslowakei stammte und somit heterogen ist. Sinti und Jenische haben ebenfalls eine staatlich bisher nicht anerkannte lange Tradition in Bayern.
Seit dem Zweiten Weltkrieg und dem endgültigen Verlust der Rheinpfalz 1946 wird nun die ursprünglich ansässige und die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zugewanderte deutsch-böhmische Bevölkerung Bayerns in „Vier Stämme“ (siehe Deutsche Stämme für die Wortherkunft) untergliedert und setzt sich zusammen aus den drei traditionell ansässigen Stämmen, den Franken, den Schwaben und den für den Freistaat namensgebenden Altbayern sowie als viertem Stamm den Sudetendeutschen, für die Bayern die „Schirmherrschaft“ übernahm.
Unterscheidungsmerkmale der drei ursprünglich ansässigen Stämme sind etwa eigene Dialekte (bairisch, ostfränkisch, alemannisch), eigene Küchen (bayerisch, fränkisch, schwäbisch), eigene Traditionen, Trachten und teilweise Architekturstile. Es werden gelegentlich den einzelnen Stämmen sogar unterschiedliche Mentalitäten zugeschrieben, so etwa sind laut Bayerischer Staatsregierung die Altbayern weltoffen, beharrlich und musisch begabt, Franken hingegen zeichnen ein ausgeprägter „Gemeinschaftssinn, Organisationstalent, Heiterkeit und ein schnelles Auffassungsvermögen“ aus, während man Schwaben als sparsame Menschen sieht, die einen „Hang zur Untertreibung“ haben. Bei Kabinettsbildungen werden aus Proporzgründen die Ämter nach den Stämmen verteilt. Auch die drei CSU-Ministerposten des Bundeskabinetts Merkel III waren auf die drei Stämme Franken, Baiern und Schwaben verteilt.
Bekannt ist vor allem der lange Streit zwischen den Franken und den Altbayern um die angebliche Ungleichbehandlung der Franken durch die Bayern. Franken sei einigen Organisationen gemäß in den Parteistrukturen unterrepräsentiert und bekomme weniger Steuermittel. Auch werde sich generell weniger um Belange und Probleme der fränkischen Regierungsbezirke gekümmert. Gelegentlich wird auch die Rückgabe von sogenannter "Beutekunst", Kunstwerke aus fränkischen Städten und Schatzkammern, die vom Königreich Bayern im 19. Jahrhundert konfisziert und nach München gebracht wurden, gefordert. Viele derartige Beschwerden gelten allerdings als gegenstandslos. So sind beispielsweise fränkische Politiker in den Strukturen der großen Parteien nicht unterrepräsentiert. Auch ist die Forderung der Rückgabe von Kunstschätzen problematisch, da etwa der "Hofer Altar" in München und einige Dürer-Gemälde in der Alten Pinakothek nicht geraubt, sondern freiwillig abgegeben wurden.
Religion und Weltanschauung.
Bayern ist mit 45,7 % (Stand: 2021) nach dem Saarland das Bundesland mit dem höchsten römisch-katholischen Bevölkerungsanteil in Deutschland. Weitere 16,8 % (Stand: 2021) der Bevölkerung sind evangelisch-lutherisch. Diese beiden Konfessionen verteilen sich ungleich über die Bezirke. So sind Altbayern und Unterfranken überwiegend katholisch, Teile Mittelfranken und Oberfrankens eher protestantisch geprägt.
Die Zahl der Katholiken und Protestanten hat sich seit 1970 deutlich verringert. Sowohl die Markgraftümer Ansbach und Bayreuth als auch die Mehrzahl der freien Reichsstädte (wie etwa Nürnberg oder Rothenburg ob der Tauber) zählten zum lutherischen Kernland und waren Hochburgen der Reformation.
Der bayerische Staat zahlt der römisch-katholischen Kirche jährlich 65 Millionen Euro und der evangelischen Kirche 21 Millionen Euro Staatsdotationen aus dem allgemeinen Haushalt. Die katholischen Pfarreien gehören dem Bistum Würzburg, dem Bistum Eichstätt und dem Erzbistum Bamberg in der Kirchenprovinz Bamberg sowie dem Bistum Regensburg, dem Bistum Passau, dem Bistum Augsburg und dem Erzbistum München und Freising in der Kirchenprovinz München und Freising an. Weitere katholische Gemeinden unterstehen der Jurisdiktion katholischer Ostkirchen.
Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern ist eine Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und gliedert sich in sechs Kirchenkreise Ansbach-Würzburg, Augsburg, Bayreuth, München, Nürnberg und Regensburg. Zur EKD gehören ebenfalls die zehn bayerischen Gemeinden der Evangelisch-reformierten Kirche.
Evangelische Freikirchen gibt es vor allem in den Ballungsräumen. Die altkatholische Kirche verfügt über ein bayerisches Dekanat.
Jüdische Gemeinden gab es bis zum 19. Jahrhundert vor allem in ländlichen Gebieten Frankens und Schwabens sowie den freien Reichsstädten wie etwa in Nürnberg (Ansiedlungsverbot 1499 bis 1850) und Regensburg. Im wittelsbachischen Altbayern gab es so gut wie keine Juden, seit der Judenemanzipation aber zunehmend in bayerischen Städten. Von fast 200 jüdischen Gemeinden vor dem Holocaust existieren in Bayern noch oder wieder 13 Gemeinden. Sie sind in der IKG München und Oberbayern sowie im Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern organisiert.
Von wachsender Bedeutung ist insbesondere in Großstädten der Islam. Viele Moscheegemeinden versuchen, ihre bisherigen Hinterhofmoscheen durch repräsentative Neubauten zu ersetzen. Eine Studie des Bundesministeriums des Innern beziffert den Anteil der Muslime an der bayerischen Gesamtbevölkerung im Jahr 2008 auf ungefähr 4 Prozent (etwa 13 Prozent der in Deutschland wohnhaften Muslime).
Wie in vielen Gegenden Deutschlands wächst auch in Bayern der Anteil konfessionell ungebundener Einwohner. Die Humanistische Vereinigung versteht sich als Weltanschauungsgemeinschaft und Interessenvertretung nichtreligiöser Menschen. Der Verband, der im März 2019 rund 2100 Mitgliedern ausgewiesen hatte, ist in Bayern unter anderem Träger des Humanistischen Lebenskundeunterrichts, er betreibt seit 2008 eine Grundschule in freier Trägerschaft sowie über ein Dutzend Kindertagesstätten. Er unterhält ein eigenes Sozialwerk und den Turm der Sinne in Nürnberg.
Besonders in Ballungszentren gibt es kleinere buddhistische, alevitische, hinduistische und Bahai-Gemeinden, Königreichssäle der Zeugen Jehovas und Gemeinden kleinerer christlicher Kirchen wie der Siebenten-Tags-Adventisten. In München hat die fast ausgestorbene Religionsgemeinschaft der Mandäer Zuflucht gefunden und eine Gemeinde gegründet. Aufgrund des Konflikts mit dem deutschen Staat um die Schulpflicht gerieten die Zwölf Stämme bei Nördlingen negativ in die Schlagzeilen. Seit 1966 hat Bayern auch eine mittlerweile große assyrisch-aramäische Gemeinde, die größtenteils der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien angehört. Die meisten dieser Suryoye kommen aus dem Kalksteingebirge Tur Abdin im Südosten der Türkei.
Bevölkerungsreichste Städte.
Bevölkerungsreichste Stadt sowie einzige Millionenstadt Bayerns ist die Landeshauptstadt München mit rund Millionen Einwohnern (). Sie ist deutschlandweit die drittgrößte Stadt und die elftgrößte Stadt der Europäischen Union und zählt zu den Weltstädten der Kategorie "Beta+". Sie ist die größte Stadt Deutschlands, die kein Stadtstaat ist. Zudem ist München mit Einwohnern je Quadratkilometer () die am dichtesten bevölkerte Gemeinde Deutschlands sowie mit dessen höchstgelegene Großstadt. Nürnberg ist mit seinen Einwohnern () landesweit die zweitgrößte Stadt, belegt bundesweit den 14. sowie in der Europäischen Union den 51. Platz und zählt zu den Weltstädten der Kategorie "Gamma−". Aufgrund der Bedeutung Nürnbergs stellt München in Bayern keine Primatstadt dar. Augsburg ist mit Einwohnern () landesweit die drittgrößte Stadt und belegt bundesweit den 23. Platz. In Bayern gibt es insgesamt acht Großstädte. Jüngste Großstadt (mindestens 100.000 Einwohner) Bayerns ist Fürth (seit 1990), das zuvor bereits von 1951 bis 1956 und von 1972 bis 1976 eine Großstadt war. Nürnberg bildet zusammen mit Erlangen, Fürth und Schwabach ein ausgeprägtes Städteband mit rund 800.000 Einwohnern. Metropolregionen in Bayern stellen die Metropolregion München und die Metropolregion Nürnberg dar. Des Weiteren sind Teile zum Rhein-Main-Gebiet zugehörig.
Gesundheitswesen.
In Bayern gibt es über 400 Krankenhäuser, davon fünf Universitätskliniken. Sie verfügen insgesamt über rund 73.000 Betten und rund 4000 teilstationäre. Etwa 60 Prozent der Krankenhäuser befinden sich in öffentlicher Trägerschaft. In Bayern gibt es zudem über 3.200 Apotheken und rund 60.000 Ärzte. Die Arztdichte beträgt 208 Einwohner je Arzt, damit hat Bayern nach dem Saarland einen Spitzenwert unter den Flächenländern. Dennoch wird vor den Folgen eines Ärztemangels in Bayern, vor allem auf dem Land und unter Fachärzten, gewarnt. Die meisten Bewohner Bayerns sind bei der AOK Bayern krankenversichert.
Die durchschnittliche Lebenserwartung lag im Zeitraum 2017/19 bei 79,5 Jahren für Männer und bei 83,9 Jahren für Frauen. Die Männer belegen damit unter den deutschen Bundesländern Rang 2, während Frauen Rang 3 belegen. Regional hatten 2013/15 Starnberg (Erwartung der Gesamtbevölkerung: 83,39 Jahre), München (Stadt) (83,02) und der Landkreis München (82,97) die höchste, sowie Amberg (79,04), Straubing (78,80) und Hof (Saale) (78,75) die niedrigste Lebenserwartung.
Sprache und Dialekt.
Amts- und Verkehrssprache ist Deutsch. Zahlreiche weitere Sprachen werden von jenen gesprochen, die aus anderen Sprachregionen kommen bzw. den entsprechenden Migrationshintergrund haben.
In Bayern dominieren Dialekte der oberdeutschen Dialektfamilie. Daneben werden räumlich eng begrenzt besonders im westlichen Unterfranken mitteldeutsche Mundarten gesprochen.
Die Dialekte in Bayern lassen sich folgenden Dialektgruppen zuordnen (von Nord nach Süd):
"Mitteldeutsche Dialekte:"
"Oberdeutsche Dialekte:"
Zwischen diesen Mundarträumen bestehen nicht zu unterschätzende Übergangsgebiete, die sich nicht ohne Bruch einem dieser Gebiete zuordnen lassen. Es existieren bairisch-fränkische (etwa Nürnberg und Umgebung), bairisch-schwäbische (unter anderem Lechrain) und schwäbisch-fränkische (Gebiet um Dinkelsbühl und Hesselberggebiet) Übergangsgebiete, in manchen Orten sogar bairisch-schwäbisch-fränkische Mischdialekte (zum Beispiel Treuchtlingen, Eichstätt).
Die Dialekte sind bei den Einheimischen, besonders außerhalb der großen Städte, sehr verbreitet, wobei in Ballungsgebieten wie München ein Aussterben der Dialekte zu beobachten ist.
Lexikographisch erfasst werden die bairischen Dialekte durch das Bayerische Wörterbuch, die schwäbischen durch das Schwäbische Wörterbuch und die ostfränkischen durch das Fränkische Wörterbuch, wozu noch zahlreiche Wörterbücher über Orts- und Regionalmundarten kommen. Areallinguistisch werden die Dialekte Bayerns vom Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben, dem Sprachatlas von Mittelfranken, dem Sprachatlas von Niederbayern, dem Sprachatlas von Nordostbayern, dem Sprachatlas von Oberbayern und dem Sprachatlas von Unterfranken aufgearbeitet.
Zahlreiche weitere deutsche und nichtdeutsche Dialekte werden von jenen gesprochen, die aus anderen Dialekt- oder Sprachregionen kommen.
Politik.
Staatsaufbau.
Grundlage der Politik in Bayern ist die durch Volksabstimmung am 1. Dezember 1946 angenommene Verfassung des Freistaates Bayern. Die Verfassung trat am 8. Dezember 1946 in Kraft. Bayern ist demnach Freistaat (Republik) und Volksstaat (Demokratie). Seit dem 1. Januar 2000 existiert nach der Abschaffung des Senats ein parlamentarisches Einkammersystem.
Die gesetzgebende Gewalt liegt beim Bayerischen Landtag, dessen Abgeordnete alle fünf Jahre (bis 1998: alle vier Jahre) gewählt werden. Bis Ende 1999 existierte mit dem Senat eine zweite Kammer, mit der Vertreter sozialer und wirtschaftlicher Interessenverbände ein politisches Gegengewicht zum Landtag schaffen sollten. In einem Volksentscheid wurde am 8. Februar 1998 die Abschaffung dieser Kammer beschlossen. Bis dahin war Bayern das einzige deutsche Land mit einer zweiten Kammer. Sie hatte jedoch nur bedingten Einfluss, weil sie keine Gesetze einbringen durfte, sondern nur das Recht der Mitwirkung besaß.
Die Staatsregierung wird vom Bayerischen Ministerpräsidenten geführt. Er leitet die Geschäfte, bestimmt die Richtlinien der Politik, vertritt Bayern nach außen und ernennt die Staatsminister und -sekretäre.
Außer vom Landtag können in Bayern Gesetze und Verfassungsänderungen durch Volksbegehren und Volksentscheid beschlossen werden. Zwingend notwendig ist ein Volksentscheid bei jeder Änderung der Bayerischen Verfassung.
Legislative.
Der Bayerische Landtag ist das Landesparlament des Freistaates Bayern. Sein Sitz ist das Maximilianeum in München. Eine Legislaturperiode dauert fünf Jahre. Die aktuelle Legislaturperiode dauert von 2018 bis 2023. Im Bayerischen Landtag sind momentan sechs Parteien vertreten. Nach der Wahl vom 14. Oktober 2018 ergaben sich folgende Sitzverteilung und Stimmenanteile (insgesamt 205 Sitze):
Exekutive.
Die Staatsregierung ist die oberste Behörde des Freistaates Bayern. Der vom Landtag gewählte Ministerpräsident beruft und entlässt die Staatsminister und die Staatssekretäre mit Zustimmung des Landtags. Er weist den Staatsministern einen Geschäftsbereich oder eine Sonderaufgabe zu, den diese nach dem Ressortprinzip und den vom Ministerpräsidenten bestimmten Richtlinien der Politik (Richtlinienkompetenz) eigenverantwortlich verwalten. Die Staatssekretäre sind gegenüber ihren Staatsministern weisungsgebunden. Die Bayerische Staatskanzlei unterstützt den Ministerpräsidenten und die Staatsregierung in ihren verfassungsmäßigen Aufgaben. Die verfassungsrechtliche Höchstgrenze der 18 Mitglieder im Kabinett der Staatsregierung wird meist voll ausgeschöpft.
Judikative.
Das oberste bayerische Gericht ist der Bayerische Verfassungsgerichtshof. Des Weiteren gibt es diverse obere Landesgerichte, darunter drei Oberlandesgerichte in München, Nürnberg und Bamberg, den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, zwei Landesarbeitsgerichte (München und Nürnberg), das Bayerische Landessozialgericht sowie die restliche Judikative. Das Bayerische Oberste Landesgericht als oberstes bayerisches Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurde mit Wirkung zum 1. Juli 2006 aufgelöst, zum 15. September 2018 wiedererrichtet, jedoch mit weniger Kompetenzen.
Wahlrecht.
Im Vergleich zu Wahlen auf Bundesebene weist das bayerische Wahlrecht mehrere Besonderheiten auf: "Direktkandidaten", die in ihrem Wahlbezirk (Stimmkreis) die Wahl gewonnen haben, können nur in den Landtag einziehen, wenn auch ihre Partei die Hürde von fünf Prozent erreicht hat.
Darüber hinaus ergibt sich die Sitzverteilung im Landtag aus der Summe der Erst- und Zweitstimmen. In anderen Bundesländern und bei Bundestagswahlen entscheidet die Erststimme über die Wahl des Direktkandidaten im Wahlbezirk und allein die Zweitstimme bestimmt die Zahl der Sitze im Parlament, was üblicherweise dazu führt, dass Erststimmen häufiger den großen Parteien mit aussichtsreichen Direktkandidaten gegeben werden. Wer bei einer bayerischen Landtagswahl eine kleinere Partei mit beiden Stimmen wählt, verschenkt seine Erststimme also nicht, da beide Stimmen dieser Partei zugutekommen, selbst wenn der entsprechende Stimmkreiskandidat den Einzug in den Landtag nicht schaffen sollte. Zudem besteht bei der Zweitstimme die Möglichkeit diese einem bestimmten Kandidaten einer Partei zu geben, sodass sich die Reihung der Bewerber gegenüber den von den Parteien aufgestellten Listen ändern kann.
Eine weitere Besonderheit findet sich im Kommunalwahlrecht. Es besteht die Möglichkeit des Kumulierens („Häufeln“, bis zu drei Stimmen können für einen Kandidaten abgegeben werden) und des Panaschierens (Stimmen können auf Kandidaten verschiedener Listen verteilt werden).
Direkte Demokratie.
In Bayern gibt es zahlreiche direktdemokratische Elemente. Neben Volksbegehren und Volksentscheid auf Landesebene wurde am 1. Oktober 1995 durch einen Volksentscheid die direkte Demokratie auf Kommunalebene eingeführt. Das bayerische Verfassungsgericht hat die Regelungen 1997 zwar verschärft (unter anderem durch Einführung eines Abstimmungsquorums), dennoch initiieren die Bayern jährlich rund 100 Bürgerentscheide.
Landräte und Bürgermeister.
Bei den Kommunalwahlen sind die drei größten Kräfte meist CSU, SPD und Freie Wähler. Von den 71 Landräten werden 50 von der CSU, 6 von der SPD, 13 von den Freien Wählern und zwei von den Grünen gestellt; fünf Landräte sind weiblich. Von den Oberbürgermeistern der 25 kreisfreien Städte werden elf von der CSU und elf von der SPD, darunter in Nürnberg (Marcus König) und München (Dieter Reiter) gestellt. Ferner sind je ein CDU-Mitglied, eine Parteilose und ein Kandidat der Wählervereinigung Bayreuther Gemeinschaft ins Amt gewählt worden. Die letzte Bayerische Kommunalwahl fand am 15. März 2020 statt.
Parteienlandschaft.
Die Parteienlandschaft im Freistaat Bayern weist Merkmale auf, die in der übrigen Bundesrepublik nicht vorhanden sind: die CDU als Volkspartei ist mit keinem eigenen Landesverband vertreten und nimmt nicht an Wahlen teil. Stattdessen überlässt sie der CSU als Schwesterpartei den Vortritt. Ungewöhnlich für ein deutsches Flächenland ist auch, dass die CSU seit 1957 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellt; des Öfteren in Verbindung mit einer absoluten Mehrheit im Landtag.
Die SPD hat in Bayern mit den geringsten Zuspruch aller SPD-Landesverbände. Sie war die größte Oppositionspartei mit einem Fünftel bis zu einem Drittel der Stimmen bei Landtagswahlen bis zur Landtagswahl in Bayern 2018. Bei dieser Wahl erreichte sie nur noch knapp 10 % und wurde damit nach CSU, Grünen (17,5 %), den Freien Wählern und der AfD fünftstärkste Partei. Hingegen zogen in der Vergangenheit die bayerischen Grünen stets mit etwas unter zehn Prozent der Stimmen ins Parlament ein. Bei der letzten Landtagswahl erhielten sie erstmals sechs Direktmandate. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern und zur Bundesebene ziehen in Bayern die Freien Wähler regelmäßig ins Landesparlament ein, während Die Linke, die Piratenpartei und die FDP politisch kaum eine Rolle spielen und nur selten bzw. noch nie in den Landtag gewählt wurden. Der AfD gelang es 2018, als sie das erste Mal zur Wahl antrat, in den neuen bayerischen Landtag einzuziehen.
In Bayern sind mehrere Regionalparteien aktiv. Die Bayernpartei z. B. setzt sich für die Möglichkeit einer Volksabstimmung über den Austritt Bayerns aus dem deutschen Staatsverband ein. Während sie in den 1950er und 1960er Jahren in den Landtag und Bundestag einzog und sich von 1962 bis 1966 an der Staatsregierung beteiligte, verlor diese Partei nach ihrem Ausscheiden aus dem Landtag vollkommen an Bedeutung. 2009 gründete sich in Bamberg die Partei für Franken, eine regionale Kleinpartei, die sich unter anderem für eine bessere wirtschaftliche Gleichstellung Frankens innerhalb des Freistaates einsetzt. Außer bei den Kommunalwahlen 2014 konnte diese Partei bisher keine besonderen Wahlerfolge vorweisen.
Partner- und Patenschaften.
Am 5. Juni 1954 übernahmen der Freistaat Bayern und die Bayerische Staatsregierung unter Hans Ehard die Patenschaft für die sudetendeutsche Volksgruppe, die nach der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik zogen.
Mit folgenden Partnerregionen pflegt der Freistaat Bayern Kontakte:
Staatsverschuldung.
Die Staatsverschuldung des Freistaates Bayern erhöhte sich wie auf Bundesebene und in anderen Bundesländern langfristig. Seit 2011 werden jährlich Schulden getilgt. 1992 lagen die Schulden noch bei rund 15 Milliarden, 2010 wurde ein Höchststand von 29 Milliarden erreicht. 2016 waren es 19 Milliarden Euro Schulden, Ende 2018 15 Milliarden Euro und Ende 2019 13 Milliarden Euro. Die Staatsregierung beabsichtigt mittelfristig bis 2030 alle Schulden zu tilgen.
Innere Sicherheit.
Die bayerische Polizei ist der größte Polizeiverband der Bundesrepublik. Im Jahr 2007 wurden in Bayern 666.807 Straftaten statistisch erfasst. 428.766 Fälle (64,3 Prozent) konnten aufgeklärt, 305.711 Tatverdächtige ermittelt werden. Dies stellt die höchste Aufklärungsquote im Bundesgebiet dar. Die bayerische Polizei unterhält mit der Polizeihubschrauberstaffel Bayern außerdem die größte Polizeihubschrauberstaffel einer Landespolizei.
Militär.
Eine Bayerische Armee existierte als stehendes Heer von 1682 bis zu seiner Auflösung im Jahre 1919. Über eine gewisse Eigenständigkeit verfügte bis 1924 die Bayerische Reichswehr. In der Gegenwart hat die Bundeswehr rund 60 Standorte in Bayern mit insgesamt 50.700 Dienstposten, im Zuge der Neuausrichtung der Bundeswehr schließen in Bayern drei Standorte und die Anzahl an Dienstposten sinkt auf 31.000. Größte Kaserne Bayerns ist die Hochstaufen-Kaserne in Bad Reichenhall.
In München und Würzburg befinden sich Bundeswehrfachschulen. Die aus der Division Süd entstandene 10. Panzerdivision der Bundeswehr sitzt in Veitshöchheim. In München haben die Sanitätsakademie der Bundeswehr, das Truppendienstgericht Süd und die Universität der Bundeswehr, in Erding das Wehrwissenschaftliches Institut für Werk- und Betriebsstoffe ihren Sitz. Oberste Kommandobehörde Bayerns ist das Landeskommando Bayern. Im Freistaat gibt es über 150.000 verbandlich organisierte Reservisten.
In Bayern gibt es mehrere US-amerikanische Militärbasen. Drittgrößter Truppenübungsplatz Europas ist der Truppenübungsplatz Grafenwöhr.
Die einst für die Landesverteidigung zuständigen Gebirgsschützen nehmen heute in der Regel nur noch repräsentative Aufgaben war, so bilden sie beispielsweise auf Bitte der Staatsregierung bei offiziellen Besuchen ausländischer Staatsoberhäupter in Bayern eine Ehrenformation.
Bayern in Europa.
Mit der Verbindung zur Europäischen Politik und Verwaltung ist die Staatsministerin für Europaangelegenheiten und Internationales Melanie Huml betraut. Die Bayerische Staatskanzlei besitzt eine Vertretung bei der Europäischen Union in Brüssel.
Bayern hat viele Beziehungen und Kooperationen zu den europäischen Nachbarstaaten, unter anderem zur Koordinierung der Alpen- und Donaupolitik. Der Freistaat Bayern wird durch Politiker im Ausschuss der Regionen vertreten. Dem Europäischen Parlament gehören zwölf Abgeordnete aus Bayern an: fünf von der CSU, drei von der SPD jeweils einer von Bündnis 90/Die Grünen, Freie Wähler, ÖDP und Linkspartei.
Der Freistaat Bayern erhält zahlreiche Förderungen von der Europäischen Union, etwa 495 Millionen Euro aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) und knapp 300 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF), jeweils in der Förderperiode 2014 bis 2020.
Bayern im Bund.
Im Bundesrat hat Bayern ebenso wie Niedersachsen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen die höchstmögliche Anzahl von sechs Stimmen. Vertreten wird Bayern durch den Ministerpräsidenten Markus Söder sowie Hubert Aiwanger, Florian Herrmann, Joachim Herrmann, Thorsten Glauber und Georg Eisenreich. Die Arbeit im Bundesrat wird von der Vertretung des Freistaates Bayern beim Bund koordiniert. Für Bundesangelegenheiten zuständig ist im bayerischen Kabinett Florian Herrmann als Staatsminister für Bundesangelegenheiten und Medien.
Konsulate.
Die wirtschaftliche Bedeutung Bayerns für den Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland sowie die Bedeutung als wichtiges Zentrum von Industrie, Handel und Logistik, als Sitz von ausländischen Unternehmen und mit einer Bevölkerung, in der zahlreiche verschiedene Staatsangehörigkeiten vertreten sind, hat dazu geführt, dass auf dem Gebiet des Freistaats Bayern 127 Staaten mit ihren Konsulaten vertreten sind. Darunter sind 45 berufs- sowie 82 honorarkonsularische Vertretungen (Stand 2022). Die meisten Vertretungen befinden sich in München und seinem Umland. Ferner sind ausländische Vertretungen in Nürnberg, Fürth und Regensburg vorhanden. Doyen des bayerischen Corps Consulaire ist der ungarische Generalkonsul Gábor Tordai-Lejkó.
Auszeichnungen.
Die höchste Auszeichnung, die der Freistaat Bayern verleiht, ist der 1853 gestiftete Bayerische Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst. Zur Anerkennung für hervorragende Verdienste werden etwa der Bayerische Verdienstorden, die Bayerische Verfassungsmedaille und zahlreiche weitere Orden, Medaillen und Ehrenzeichen verliehen. Auf Vorschlag von Jurys verleiht der Freistaat zahlreiche Auszeichnungen wie etwa den Bayerischen Filmpreis oder den Bayerischen Printpreis.
Hoheitliche Symbole.
Das Bayerische Staatswappen besteht aus sechs heraldischen Komponenten: Der goldene Löwe, ursprünglich mit der wittelsbachischen Pfalz am Rhein verbunden, steht für die Oberpfalz, der „fränkische Rechen“ für die drei fränkischen Bezirke, der blaue Panther für die Altbayern und die drei schwarzen Löwen für Schwaben. Der weiß-blaue Herzschild deutet den Gesamtstaat Bayern an, die Volkskrone bezeichnet nach dem Wegfall der Königskrone die Volkssouveränität. Das kleine Staatswappen zeigt die bayerischen Rauten und die Volkskrone. Als Wappenzeichen fungieren die bayerischen Rauten und der fränkische Rechen.
Der Freistaat Bayern besitzt zwei gleichgestellte Staatsflaggen, die weiß-blau gerautete Flagge und die Flagge mit horizontalen Streifen in den Farben Weiß und Blau. Die Rautenflagge hat immer vom Betrachter aus gesehen links oben (heraldisch rechte, obere Ecke) eine angeschnittene, weiße Raute (auch im Wappen) und mindestens 21 (angeschnittene) Rauten. Die gleichen weiß-blauen Rauten sind in vielen Stadt- und Kreiswappen in den Gebieten der historischen Kurpfalz zu finden, da die Wittelsbacher auch in der Pfalz begütert waren. Ein Flaggenstreit besteht um die "Frankenfahne".
Die Landeshymne ist das "Bayernlied". Der Ursprungstext umfasst drei Strophen und wurde von Michael Öchsner verfasst, die Melodie stammt von Konrad Max Kunz. Dieser historisch-korrekte Text ist auch heute noch die offizielle Version (ersten beiden Strophen), wird in Schulen gelehrt sowie zu offiziellen und staatlichen Veranstaltungen gespielt. Das Bayernlied (Originalfassung) hat seit 1966 Hymnen-Status der Bundesrepublik Deutschland.
Die Bavaria (der latinisierte Ausdruck für Bayern) ist die weibliche Symbolgestalt Bayerns und tritt als personifizierte Allegorie für das Staatsgebilde Bayern in verschiedenen Formen und Ausprägungen auf. Sie stellt damit das säkulare Gegenstück zu Maria als religiöser Patrona Bavariae dar. Der Bayerische Löwe ist Symbolfigur des Freistaats Bayern, unter anderem auf Denkmälern und Auszeichnungen. Die Landesfarben sind weiß-blau.
Etymologie und Schreibweise.
Die allein verwendete Schreibweise des Landesnamens mit „y“ geht auf eine Anordnung von König Ludwig I. von Bayern vom 20. Oktober 1825 zurück, mit der die seit 1806 geltende Schreibweise „Königreich Baiern“ abgelöst wurde. Diese Anordnung des Königs zur Schreibung mit dem „griechischen“ Ypsilon steht im Zusammenhang mit dessen Philhellenismus. Bis dahin wurde der Landesname oft mit „i“ geschrieben, wenngleich es auch viele ältere Belege der Schreibung mit einem „y“ gibt. Während der Münchner Räterepublik kehrte man vorübergehend zur Schreibweise „Baiern“ zurück.
Auch zur Kaiserzeit war die Schreibweise nicht reichseinheitlich: Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck verwendete im Briefwechsel mit Ludwig II. um 1880 die alte i-, der Bayernkönig hingegen die y-Schreibweise.
Der Stamm der einheimischen Bevölkerung Altbayerns (ohne Franken und bayerisches Schwaben) wird weiterhin als "die Baiern" (in anderen Abschnitten auch Altbayern genannt) bezeichnet, ebenso lautet die Bezeichnung für den Dialekt auf Bairisch (in dieser Schreibung bezeichnet das Wort auch die in Österreich gesprochenen Dialekte).
Der Begriff "Bayern" bzw. "Baiern" ist auf das Volk der Bajuwaren zurückzuführen. Der volle Name der Bajuwaren wird hergeleitet aus einem mutmaßlichen germanischen Kompositum *"Bajowarjōz" (Plural). Überliefert ist dieser Name als althochdeutsch "Beiara, Peigira," latinisiert "Baiovarii". Es wird angenommen, dass es sich dabei um ein Endonym handelt. Hinter dem Erstglied "Baio" steckt das Ethnikon des zuvor bewohnenden keltischen Stammes der Boier, der im althochdeutschen Landschaftsnamen "Bēheima" ‚Böhmen‘ (, spätlateinisch dann "Boiohaemum") und im onomastischen Anknüpfungspunkt ("Baias, Bainaib" usw.) erhalten ist. Das Zweitglied "-ware" bzw. "-varii" der Bewohnerbezeichnung "Bajuwaren" stammt aus urgermanisch *"warjaz" ‚Bewohner‘ (vgl. , ), das zu "wehren" (urgermanisch *"warjana-") gehört (vgl. auch walisisch "gwerin" ‚Menschenmenge‘). Der Name ‚Baiern‘ wird deshalb als ‚Bewohner Böhmens‘ gedeutet. Die Namensdeutung ist allerdings weiterhin umstritten.
Verwaltungsgliederung.
Regierungsbezirke und Bezirke.
Das Staatsgebiet des Freistaates Bayern ist für den Bereich der allgemeinen und inneren Verwaltung in Verwaltungssprengel eingeteilt, die Regierungsbezirke (laut Verfassung "Kreise") genannt werden. Die Regierungsbezirke werden durch die Regierungen geleitet, denen je ein Regierungspräsident vorsteht, der vom Innenminister ernannt wird. Die Regierungen sind die Mittelbehörden der allgemeinen und inneren Verwaltung und unterstehen dem Staatsministerium des Inneren. Nachstehend sind die Regierungsbezirke sortiert nach dem Amtlichen Gemeindeschlüssel (AGS) und mit den Abkürzungen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern.
Geografisch deckungsgleich mit den Regierungsbezirken sind in Bayern die "Bezirke" gleichen Namens. Anders als die Regierungsbezirke, welche die örtliche Zuständigkeit der Regierungen festlegen, sind die Bezirke kommunale Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts. Der Bezirk ist in Bayern die dritte kommunale Ebene über den Gemeinden (erste Ebene) und Landkreisen (zweite Ebene). Sie sind Selbstverwaltungskörperschaften und haben daher demokratisch gewählte Verwaltungsorgane, den Bezirkstag, der alle fünf Jahre von den Wahlberechtigten des Bezirks direkt gewählt wird und einen Bezirkstagspräsidenten, der aus der Mitte des Bezirkstags gewählt wird. Sie können anders als die Regierungsbezirke Wappen und Flaggen wie eine Gemeinde oder ein Landkreis führen.
Planungsregionen.
Bayern hat 18 Planungsregionen. Sie sind regionale Planungsräume, in denen nach dem Bayerischen Landesentwicklungsprogramm ausgewogene Lebens- und Wirtschaftsbeziehungen erhalten oder entwickelt werden sollen. Hierzu wird für jede Region ein Regionalplan aufgestellt. Die Region Donau-Iller (15) ist die erste länderübergreifende Planungsregion Deutschlands mit einem östlichen Teil in Bayern und einem westlichen Teil in Baden-Württemberg.
Landkreise und kreisfreie Städte.
Die sieben Regierungsbezirke unterteilen sich in 71 Landkreise und 25 kreisfreie Städte. Die Landkreise und die kreisfreien Städte sind kommunale Gebietskörperschaften mit Selbstverwaltungsrecht. Die Landkreise haben als Verwaltungsorgane den Kreistag und den Landrat. Die kreisfreie Stadt handelt durch den Stadtrat und den Oberbürgermeister. Sowohl der Landrat beziehungsweise der Oberbürgermeister als auch der Kreistag beziehungsweise der Stadtrat werden von den Wahlberechtigten auf die Dauer von sechs Jahren gewählt (süddeutsche Ratsverfassung).
Die Landkreise bilden gleichzeitig Sprengel, welche die örtliche Zuständigkeit der Unterbehörden der allgemeinen und inneren Verwaltung festlegen. Anders als auf der Ebene der Regierungsbezirke hat der Staat hier jedoch keine eigenen inneren Behörden errichtet, sondern bedient sich durch Organleihe des Landrates zur Erfüllung der Aufgaben der staatlichen Verwaltung; der Landrat ist insoweit Kreisverwaltungsbehörde. Bei den kreisfreien Städten ist im Gegensatz dazu eine Vollkommunalisierung gegeben, da ihnen die Aufgaben der unteren staatlichen Verwaltungsbehörde zur selbstständigen Erledigung übertragen werden.
Flächengrößter Landkreis Bayerns ist der Landkreis Ansbach (Mittelfranken). Der Landkreis München (Oberbayern) ist mit Einwohnern () der bevölkerungsreichste Landkreis des Freistaates. Schwabach (Mittelfranken) ist Bayerns bevölkerungsärmste kreisfreie Stadt mit Einwohnern ().
Gemeinden.
Der Freistaat Bayern besteht aus 2.056 politisch selbständigen Gemeinden (Stand: 1. Juli 2021) sowie 172 gemeindefreien Gebieten, meist Seen und Forste (Stand: 1. Juli 2023). Von den 2031 kreisangehörigen Gemeinden sind 985 Mitgliedsgemeinden in einer der 311 Verwaltungsgemeinschaften (Stand: 1. Juli 2021).
Die Gemeinden verteilen sich (Stand: 1. Juli 2021) auf 25 kreisfreie Städte und 29 Große Kreisstädte. Zum 1. Januar 2009 gab es 262 sonstige Städte, 386 Märkte und 1.355 sonstige Gemeinden. Zusätzlich sind 13 Orte zu leistungsfähigen kreisangehörigen Gemeinden ernannt worden, die bestimmte Aufgaben der Bauaufsicht übernehmen. Während kreisfreie Städte die gleichen Aufgaben wie Landkreise übernehmen, haben Große Kreisstädte nur einige Aufgaben, die über die einer „normalen“ kreisangehörigen Gemeinde hinausgehen. Obwohl das Marktrecht heute keine rechtliche Bedeutung hat, können größere kreisangehörige Gemeinden auf deren Antrag auch heute noch von der Bayerischen Staatsregierung offiziell zum „Markt“ erklärt werden. Der Begriff „Marktgemeinde“ ist in Bayern keine offizielle Bezeichnung für eine Kommune. Es kommt dort aber vor, dass der Begriff „Markt“ offizieller Bestandteil des Gemeindenamens ist, zum Beispiel Markt Berolzheim oder Markt Einersheim.
Flächengrößte und einwohnerstärkste Gemeinde Bayerns ist München, flächenkleinste Gemeinde ist Buckenhof im Landkreis Erlangen-Höchstadt, einwohnerärmste Gemeinde ist Chiemsee im Landkreis Rosenheim. Unterhaching ist die einwohnerstärkste Gemeinde Bayerns ohne eigenes Markt- oder Stadtrecht.
Verwaltungsreformen.
Die einzige Kreisreform in Bayern fand mit Wirkung vom 1. Juli 1972 statt. Alle weiteren Änderungen der Kreisgrenzen sind auf kleinere, nicht grundlegende Reformen zurückzuführen, bei denen es sich hauptsächlich um Gemeindegebietsreformen handelte. Manchmal wurden Gemeinden in bestehende Gemeinden eingemeindet, manchmal wurde auch eine neue Gemeinde gebildet. Von 1971 bis 1980 wurden in Folge von Gemeindefusionen die Effizienz der Gemeinden stark vergrößert. Die Zahl der Gemeinden wurde von etwa 7000 auf rund 2050 reduziert, die Zahl der Landkreise sank von 143 auf 71, die Zahl der kreisfreien Städte sank von 48 auf 25. Zugleich wurde die Verwaltungseinheit der Großen Kreisstadt eingeführt.
Wirtschaft und Verkehr.
Bayern gilt als sehr wirtschaftsstarker und reicher Staat, er hat sich in den letzten Jahrzehnten vom Agrar- zum Technologiestandort entwickelt. Der Anteil Bayerns an der deutschen Wirtschaftsleistung betrug 2021 18,5 Prozent. Die wirtschaftlich stärkste Region ist der Großraum München mit Automobilindustrie (BMW, Audi, MAN, Knorr-Bremse), IT-Sektor (Siemens, Nokia Networks, Infineon, Microsoft, Nemetschek SE), Medien und Verlagen (ProSiebenSat.1 Media, Vodafone Kabel Deutschland, Hubert Burda Media), Rüstungsindustrie (Airbus, Krauss-Maffei) und Touristik (Museen, Oktoberfest, Kongressen, Messen). Weitere bedeutende Wirtschaftsstandorte in Südbayern sind Augsburg (Airbus, Fujitsu Technology Solutions, MAN, KUKA, UPM-Kymmene, Verlagsgruppe Weltbild), Ingolstadt (Audi, MediaMarktSaturn Retail Group) und das Bayerische Chemiedreieck zwischen Chiemsee, Inn und Salzach.
Ein weiterer wichtiger Wirtschaftsstandort ist der Großraum Nürnberg mit Industrieunternehmen (Siemens, Leistritz Group, Dehn, Schmitt + Sohn), Sportartikelherstellern (Adidas, Puma, uvex), Spielwarenproduzenten (Playmobil, Simba-Dickie-Group, Trix, Herpa, Bruder), Schreibwarenherstellern (Faber-Castell, Lyra, Staedtler, Schwan-Stabilo), Automobilindustrie (Alcan/Nüral, Leoni, MAN, Schaeffler), Rüstungsunternehmen (Diehl, RUAG Ammotec), Dienstleistern (DATEV, Ergo Direkt, GfK, Nürnberger Versicherung), Druckereien und Verlagen (Olympia-Verlag, Tessloff Verlag, Verlag Nürnberger Presse) sowie Touristik (Museen, Christkindlesmarkt, Kongressen und Messen).
Daneben kann in Nordbayern der Raum zwischen Aschaffenburg und Würzburg/Schweinfurt sehr gute Wirtschaftsdaten aufweisen, etwa eine Arbeitslosigkeit von durchschnittlich unter sechs Prozent und eine florierende Wirtschaft. Gleiches gilt für Regensburg (Continental Automotive, Maschinenfabrik Reinhausen, BMW, Siemens, Infineon, Osram Opto Semiconductors), das seit Jahren an Wirtschaftskraft zunimmt.
Ein weiterer Wirtschaftsraum ist Hochfranken. Vertreten sind dort Nexans, Dennree, Scherdel und Netzsch.
Manche Grenzregionen sind durch Wettbewerbsvorteile in den Nachbarstaaten einesteils und mangelnde Infrastruktur andernteils von Subventionen abhängig. Speziell der Bayerische Wald hatte zu Zeiten des Kalten Krieges durch seine abseitige Lage im Zonenrandgebiet wenig Standortattraktivität besessen. Zwar fiel nach 1990 dort der Eiserne Vorhang zur Tschechoslowakei, gleichzeitig wurde im wiedervereinigten Deutschland die Zonenrandförderung aufgehoben, und zugleich bot das angrenzende Tschechien – ab 2004 Mitglied der Europäischen Union – oft bessere Investitionsanreize.
Eine große Bedeutung haben in Bayern die Familienunternehmen. In der Platzierung der 1000 größten Unternehmen dieses Typus liegt Bayern mit 193 Unternehmen im Bundesländervergleich (nach Nordrhein-Westfalen) auf Rang zwei. Die größten Unternehmen in maßgeblichem Unternehmerbesitz sind BMW, Schaeffler und Knauf.
Im Vergleich mit dem Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union, ausgedrückt in Kaufkraftstandards, erreichte Bayern 2014 einen Index von 151 (EU-28: 100; Deutschland: 131). Die Arbeitslosenquote beträgt .
Die höchste Arbeitslosenquote Bayerns hatte 2019 die Stadt Schweinfurt.
Bayern – insbesondere der Raum Nürnberg – erfuhr des Öfteren Werkschließungen und die Verlagerung von Arbeitsplätzen. Mitte der 1980er Jahre begann der Niedergang des Büromaschinenherstellers Triumph-Adler; 2003 löste sich die Grundig AG auf. Von 2005 bis 2007 erfolgte die Schließung und Verlagerung des AEG-Stammwerks ins Ausland. Der ehemals weltgrößte Versandhaus-Konzern Quelle GmbH ging im 2009 in Insolvenz und wurde aufgelöst.
International bedeutende Messen befinden sich in München und Nürnberg.
Tourismus.
Der Tourismus gilt aufgrund seines hohen Beitrags zur bayerischen Wirtschaft als „Leitökonomie“. So betrug der Bruttoumsatz der Tourismuswirtschaft 2016 fast 24 Milliarden Euro, die Tagesreisen stellten mit 63 Prozent den größten Anteil davon. Die Beherbergungsindustrie spielt in Bayern mit 13.400 Beherbergungsbetrieben mit mindestens neun Betten und 548.000 Gästebetten eine große Rolle. Das bedeutet, dass sich etwa jeder vierte deutsche Beherbergungsbetrieb in Bayern befindet. Nach Mecklenburg-Vorpommern war Bayern im Jahre 2014 das zweitbeliebteste innerdeutsche Urlaubsziel (gemessen an Reisen ab fünf Tagen Dauer). 2018 hat der Tourismus in Bayern mit 39,1 Millionen Ankünften und 98,7 Millionen Übernachtungen den achten Ankunfts- und Übernachtungsrekord in Folge erzielt. Bayern war 2018 das beliebteste Reiseziel ausländischer Gäste in Deutschland.
Touristisch sind neben München besonders die Regionen um die bayerischen Seen und in den Alpen, die kulturhistorisch bedeutenden Städte Nürnberg (mit der historischen Meile, Reichsparteitagsgelände und seinen Museen), Augsburg (mit der Fuggerei, Stadtmauer, Renaissancebauten) sowie Regensburg (mit der historischen Altstadt als UNESCO-Welterbe seit 2007) stark. Oberbayern nimmt mit 38,0 Millionen Übernachtungen einen Spitzenplatz unter den Regierungsbezirken ein, die zweitstärkste Destination ist Bayerisch Schwaben mit 15,5 Millionen. Die offizielle Marketinggesellschaft der bayerischen Tourismus- und Freizeitwirtschaft ist seit Jahresbeginn 2000 die Bayern Tourismus Marketing GmbH (München). Das Motto lautet: „Bayern – traditionell anders“. Zuständig für die touristischen Angebote und die zugehörige Qualitätssicherung sind die vier regionalen Tourismusverbände: Tourismusverband Allgäu/Bayerisch Schwaben, Tourismusverband Franken, Tourismusverband Ostbayern und der Tourismus Oberbayern München.
Energie.
Verbrauch.
Der Primärenergieverbrauch im Land ist recht konstant und lag im Jahr 2010 bei 578,2 Milliarden Kilowattstunden, nach 556,8 Milliarden Kilowattstunden im Jahr 2009 und 566,6 Milliarden Kilowattstunden im Jahr 2008. Dies kann einer steigenden Energieproduktivität zugeschrieben werden, also einer verbesserten wirtschaftlichen Produktivität im Verhältnis zur eingesetzten Energie. Diese ist seit 1995, das als Basisjahr angelegt wird, fast durchgehend gestiegen. Die Jahre 2008 und 2009 fallen hinter den Bestwert im Jahr 2007 zurück.
Die größten Energieverbraucher im Jahr 2010 waren die Privathaushalte, die 29 Prozent des Endenergieverbrauches ausmachten. Die Bereiche Industrie und Verkehr benötigten gleichermaßen 28 Prozent der Endenergie und damit nur geringfügig weniger als die Haushalte. Etwas abgeschlagen war der Bereich Gewerbe, Handel, Dienstleistungen mit insgesamt 15 Prozent am Endenergieverbrauch.
Energieversorger.
In Bayern waren im Jahr 2013 ungefähr 420 Energieversorger in einem oder mehreren Bereichen angesiedelt: Circa 350 dieser Versorger engagierten sich in der Stromversorgung, ungefähr 100 wirtschafteten im Bereich der Wärme- und Kälteversorgung, etwa 140 befassten sich mit der Erdgas-Sparte.
Strommix.
Die Kernenergie bildet mit 48,7 Prozent den größten Anteil an der Nettostromerzeugung. Auf dem zweiten Platz folgen erneuerbare Energien mit 29,2 Prozent. Beide Anteile sind damit im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt (18 bzw. 21 Prozent) überdurchschnittlich groß. Konventionelle Gase tragen mit 15,5 Prozent zur Nettostromerzeugung bei – dieser Anteil liegt nahezu im Bundesdurchschnitt (14 Prozent). Die Stromerzeugung aus Kohlekraftwerken ist relativ unbedeutend, ihr Anteil beträgt 4,1 Prozent (Bundesweiter Durchschnitt von Braun- und Steinkohle insgesamt 42 Prozent). Einen noch geringeren Anteil besitzen mineralische Öle mit 2,6 Prozent, die bundesweit im Schnitt seltener genutzt werden (Heizöl, Pumpspeicher und andere hier insgesamt 5 Prozent) (Stand: jeweils 2011).
Kernenergie.
An zwei Standorten in Bayern befinden sich Kernkraftwerke (KKW Isar und KKW Gundremmingen), außerdem wird in Garching bei München ein Forschungsreaktor betrieben (FRM II). Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) stellte 2015 fest, dass der Atomausstieg die Versorgungssicherheit in Bayern und Deutschland nicht gefährdet.
Erneuerbare Energien.
Erneuerbare Energien trugen 2014 mit 36,2 % zur Bruttostromerzeugung bei. Der hohe Anteil erneuerbarer Energien an der Nettostromerzeugung fußt vor allem auf dem bedeutenden Anteil der bereits seit Jahrzehnten genutzten Wasserkraft: Ihr Anteil an der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien liegt bei 35,3 Prozent. Zweitwichtigster regenerativer Energielieferant ist mittlerweile die Photovoltaik mit 35,2 Prozent am Gesamtanteil der erneuerbaren Energien, die mit im Rahmen der Energiewende stark ausgebaut wurde. Die Stromerzeugung aus Biomasse hatte einen Anteil von 25,4 Prozent. Weiterhin eher unbedeutend ist die Nutzung der Windenergie – der Beitrag beläuft sich auf 5,6 Prozent der erneuerbaren Stromerzeugung (Stand: jeweils 2014). Im Bundesländervergleich „Erneuerbare Energien“ belegte Bayern im Jahr 2012 den zweiten Platz nach Brandenburg. Bis 2021 sollten erneuerbare Energien dem Bayerischen Energiekonzept (2011) zufolge einen Anteil von 20 Prozent am Endenergieverbrauch und 50 Prozent am Stromverbrauch erreichen.
Nach diesem Energiekonzept sollte die Windenergie bis 2025 ca. 6 bis 10 Prozent des Strombedarfes decken, was etwa dem Neubau von 1000 bis 1500 zusätzlichen Windkraftanlagen entspricht. Im Widerspruch zu diesem Ziel wurden 2014 deutlich verschärfte restriktive Abstandsregelungen in Form der 10-H-Regelung eingeführt und ein Jahr später das Windenergieausbauziel auf 5 bis 6 Prozent des Strombedarfes reduziert. Daraufhin brachen die Zahl der Baugenehmigungen von 336 im Jahr 2014 auf 25 im Jahr 2015 ein. Bei einer Gesamthöhe von 200 m stehen für die Windenergienutzung theoretisch nur 0,05 % der Landesfläche zur Verfügung; unter Berücksichtigung, dass nur manche Standorte auch genügend Wind aufweisen nur 0,01 %. Bis Mitte 2018 waren 1159 Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 2510 MW installiert.
Medien.
Bayern ist Sitz mehrerer bedeutender Medienunternehmen, insbesondere in der Landeshauptstadt München. Dort, beziehungsweise im Umland von München, befinden sich etwa öffentlich-rechtliche Medien wie der Bayerische Rundfunk und die Programmdirektion des ARD-Gemeinschaftsprogramms Das Erste und des ZDF-Landesstudios Bayern sowie private Fernseh- und Hörfunkanbieter wie Antenne Bayern, ProSiebenSat.1 Media, Sport1 oder Sky Deutschland. Des Weiteren sind in München etwa 250 ansässige Verlage und große Zeitungen wie etwa die Süddeutsche Zeitung (SZ) angesiedelt. Nürnberg bildet einen der größten Verlagsstandorte Deutschland; dort werden beispielsweise das bundesweit erscheinende Sportmagazin Kicker des Nürnberger Olympia-Verlags und die Nürnberger Nachrichten, eine der größten deutschen Tageszeitungen mit einer Auflage von rund 300.000 Exemplaren, herausgegeben.
BayernWLAN.
Der Freistaat Bayern betreibt ein großflächiges Netz von über 40.000 kostenfrei angebotenen BayernWLAN-Hotspots mit der WLAN SSID "@BayernWLAN". Im Bereich des ÖPNV unterstützt der Freistaat Bayern die Kommunen bei der Einrichtung von WLAN-Angeboten finanziell und organisatorisch.
Verkehr.
Internationaler Verkehr.
Im internationalen Straßen- und Bahnverkehr sind die Verbindungen von Deutschland nach Österreich und darüber hinaus nach Italien und Südosteuropa von überragender Bedeutung. Beispielhaft sind hier die Verbindungen von Nürnberg über Regensburg und Passau nach Linz, die Verbindungen von Würzburg bzw. Nürnberg und München über Rosenheim nach Salzburg beziehungsweise Innsbruck sowie die Verbindung von München über Lindau nach Bregenz und Zürich zu erwähnen. Hingegen sind die Verkehrsverbindungen ins benachbarte Tschechien bei weitem nicht von vergleichbarer Relevanz, lediglich die Bundesautobahn 6 wurde nach der politischen Wende in der Tschechischen Republik verwirklicht. Insbesondere die Bahnverbindungen in die Tschechische Republik sind bis heute nicht sehr leistungsfähig. Eine Elektrifizierung wurde bisher auf keiner nach Tschechien führenden Verbindung umgesetzt. Vor dem Zweiten Weltkrieg befand sich in der tschechoslowakischen Stadt Cheb "(Eger)" ein Bahnknotenpunkt, der mittels Korridorverbindungen im deutschen Binnenverkehr genutzt wurde. Seit seinem Bestehen unterstand er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bayerischen beziehungsweise deutschen Bahnverwaltungen. Zu Zeiten des Kalten Krieges besaß die Verbindung von Nürnberg über Cheb nach Prag eine vergleichsweise wichtige Bedeutung. Heute bestehen von Nürnberg aus nur noch Umsteigeverbindungen mit Regionalzügen über Cheb und Furth im Wald, während von München aus mit dem Alex eine Direktverbindung über Regensburg (Richtungswechsel), Schwandorf (erneuter Richtungswechsel) und Furth im Wald nach Prag besteht. Für die Zukunft wird im Rahmen des Projektes Donau-Moldau-Bahn eine Elektrifizierung der Verbindung geplant. Für den Fernverkehr von Nürnberg nach Prag bietet die Deutsche Bahn Fernbusse an.
Straßen.
Durch Bayern führen unter anderem die Autobahnen A 3, 6, 7, 8, 9 und 70 sowie die seit dem Herbst 2005 fertiggestellte A 71 und die im August 2008 fertiggestellte A 73, die Bayern mit Thüringen verbinden. Anbindung an das Bundesland Hessen besteht über die A 3, die A 7 sowie ein kleines Teilstück der A 45. Über die A 72 erhält man Anschluss an den Freistaat Sachsen. Sternförmig von München aus führen die A 95 nach Garmisch-Partenkirchen, die A 96 über Memmingen nach Lindau, die A 93 über Regensburg nach Hof, die A 92 über Landshut nach Deggendorf und die A 94 in Abschnitten nach Passau. Von der A 95 zweigt die A 952 als Verbindung zum Starnberger See ab. Südlich verbindet ein Stück der A 93 die A 8 mit der Brenner Autobahn. Seit den 1970er Jahren geplant, bisher wegen Streitigkeiten um die Trassenführung nur in Abschnitten fertiggestellt ist die A 94 von München über Altötting nach Passau. Daneben führt auch eine große Anzahl an Bundesstraßen durch Bayern. Den Münchner Ring bilden die Autobahnen A 99 mit der Eschenrieder Spange (auch A 99a genannt) und die A 995. Ergänzt werden diese durch Staats-, Kreis- und Gemeindestraßen.
Bayern ist damit straßenverkehrsmäßig gut erschlossen. Dennoch stammen mit 344 Projekten zu Bundesautobahnen und Bundesstraßen 18,5 Prozent der Anmeldungen zum Bundesverkehrswegeplan 2030 aus Bayern.
Bayern bekam vom seit 2009 CSU-geführten Bundesverkehrsministerium im Zeitraum von 2009 bis 2018 vermehrt Investitionen aus Bundesmitteln zugewiesen. Gemessen an Infrastruktur und Einwohnerzahl waren dies überproportional viele Gelder vor allem für Fernstraßen. Von 2014 bis 2019 wurden beispielsweise in Bayern 243 Brücken von insgesamt ca. 4.700 saniert, in Nordrhein-Westfalen 100 von fast 4.400. In die Fernstraßen in Bayern wurden 2 Milliarden Euro investiert, im bevölkerungsreichsten Land Nordrhein-Westfalen 1,4 Milliarden Euro. Bayern erhielt auch über den Gesamtzeitraum die höchste Mittelzuweisung und hatte dabei die größte Aufstockung der Mittel. So konnten in Bayern (bzw. im Vergleich dazu in NRW) von 2011 bis 2018 an neu gebauten Straßenkilometern fertig gestellt werden: für Autobahnen 13 km (24 km) und für Bundesstraßen 120 km (0 km).
Im Süden wird Bayern überdies gerne als Abkürzung im "innerösterreichischen" Verkehr benutzt, da aufgrund der geographischen Gegebenheiten der Weg durch die Alpen bei weitem länger ist als von Innsbruck über die A 8 oder von Lofer über die B 21 oder B 305 nach Salzburg („Großes“ bzw. „Kleines Deutsches Eck“).
Schienen-, Flug- und Schiffsverkehr.
Bayern verfügt über ein dichtes Streckennetz im Eisenbahnverkehr mit zahlreichen Bahnhöfen. Der Münchener und der Nürnberger Hauptbahnhof sind zwei der größten in Deutschland und stellen dabei wichtige Knotenpunkte im transeuropäischen Verkehr dar. Die Städte München und Nürnberg verfügen über U- und S-Bahnen mit einem weiten Einzugsgebiet.
Eines der größten europäischen Drehkreuze für den Flugverkehr ist der Flughafen München „Franz Josef Strauß“. Neben dem internationalen Flughafen Nürnberg „Albrecht Dürer“, gibt es noch den Flughafen Memmingen und zahlreiche Verkehrslandeplätze.
2018 kam es viermal zu einem Treibstoffschnellablass über Bayern. Dabei wurden insgesamt 107 Tonnen Kerosin abgelassen.
Die meisten Binnenschifffahrten finden auf der Donau, dem Main sowie auf dem Main-Donau-Kanal statt. Hierfür gibt es zahlreiche Güterhäfen. Mit einer jährlichen Umschlagleistung von rund 15 Millionen Tonnen ist das trimodale Güterverkehrszentrum am Nürnberger Hafen das größte und bedeutendste multifunktionale Güterverkehrs- und Logistikzentrum Süddeutschlands.
Kultur.
Theater, Schauspiel und Oper.
Bayern verfügt über mehrere Staatstheater. Die Bayerische Staatsoper im Nationaltheater München gilt als das national und international renommierteste Haus in Bayern. Des Weiteren spielen in München das Bayerische Staatsschauspiel, das Residenztheater München, das Bayerische Staatsballett und das Staatstheater am Gärtnerplatz. Daneben bestehen das Staatstheater Nürnberg und das Staatstheater Augsburg, die aus den jeweiligen städtischen Bühnen hervorgegangen sind.
Sechzehn Theater werden von bayerischen Kommunen getragen. Mehrspartenhäuser sind hierbei die Theater in Regensburg, Würzburg, Hof und Coburg. Vorwiegend oder ausschließlich Sprechtheater bieten das E.T.A.-Hoffmann-Theater in Bamberg, Das Theater Erlangen, das Stadttheater Fürth und das Stadttheater Ingolstadt sowie in der bayerischen Landeshauptstadt die Münchner Kammerspiele und das Münchner Volkstheater. Die vier Landesbühnen sind in Memmingen, Landshut/Passau/Straubing, Coburg und Dinkelsbühl beheimatet.
Theater für Kinder und Jugendliche bieten neben den Kinder- und Jugendsparten der kommunal geförderten Häuser unter anderem die Schauburg in München oder das Theater Pfütze und das Theater Mummpitz in Nürnberg an. Internationale Bekanntheit erlangte die Augsburger Puppenkiste durch ihre Fernsehproduktionen, das Figurentheater bietet jedoch auch ein Programm für Erwachsene an.
Des Weiteren gibt es eine Vielzahl an freien und privaten Theatern sowie Volks- und Bauerntheatergruppen.
Die von Richard Wagner gegründeten Bayreuther Festspiele sind ein international bedeutendes Festival. Jährlich finden in wechselnden Städten die Bayerischen Theatertage statt.
Musik.
Bayern wird traditionell als die Heimat der Volksmusik, der Jodler und Schuhplattler angesehen. Aus Bayern stammen bekannte Komponisten wie Max Reger, Carl Orff, Wilfried Hiller, Richard Strauss und Christoph Willibald Gluck. Die Regensburger Domspatzen, die Augsburger Domsingknaben, der Tölzer Knabenchor und der Windsbacher Knabenchor sowie der Münchener Bach-Chor sind weltweit bekannte Chöre. Zu den bekanntesten in Bayern beheimateten klassischen Orchestern zählen die Münchner Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Bamberger Symphoniker, das Bayerische Staatsorchester am Nationaltheater, die Augsburger Philharmoniker am Staatstheater Augsburg, das Münchener Bach-Orchester, die Bayerische Kammerphilharmonie in Augsburg, die Münchner Symphoniker, das Münchener Kammerorchester, das Georgische Kammerorchester in Ingolstadt, die Nürnberger Philharmoniker am Staatstheater Nürnberg, die Nürnberger Symphoniker und die Hofer Symphoniker, die als einziges Orchester auch Musikschüler ausbilden.
Unter den Musikfestspielen herausragend sind die Bayreuther Festspiele und die Münchner Opernfestspiele. Ein weiteres Highlight in der Musikszene sind die Thurn-und-Taxis-Schlossfestspiele, die in Regensburg seit mehreren Jahren unter dem Protektorat von Gloria von Thurn und Taxis gegeben werden. In den letzten Jahren stieg die Zahl der Besucher stetig an. Ebenfalls beachtenswert ist der Münchner Kaiserball sowie der Nürnberger Opernball.
Film.
Bayern ist zusammen mit der Stadt München, dem Bayerischen Rundfunk sowie der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft Gesellschafter der "Internationalen Münchner Filmwochen GmbH", die sowohl das alljährliche Filmfest München als auch das Internationale Festival der Filmhochschulen München organisieren.
In Nürnberg finden im jährlich wechselnden Turnus das Nuremberg International Human Rights Film Festival sowie der Deutsche Menschenrechts-Filmpreis statt. Zusätzlich beheimatet die Stadt neben dem Filmfestival Türkei/Deutschland auch das Fantasy Filmfest.
In Hof (Saale) finden alljährlich die Hofer Filmtage statt. Ihr Gründer Heinz Badewitz starb 2016, das Festival existiert aber weiterhin. Bei den Filmtagen stehen vor allem deutsche, aber auch internationale Weltpremieren im Vordergrund.
Küche.
Durch das Nebeneinander der zwei Stämme Altbayern und Franken, dazu kulturelle Teile von Schwaben, ist die Küche im Freistaat Bayern sehr vielfältig:
Veranstaltungen.
Volksfeste und Kirchweihen sind in Bayern weit verbreitet. Anfänglich gedachte man damit der Kirchenweihe. Vielerorts gibt es viele Kirchweih-Traditionen, wie etwa das Aufstellen eines Kirchweihbaumes. In größeren Städten wird meist anstatt einer Kirchweih ein Volksfest begangen. Das größte Volksfest der Welt ist das Münchner Oktoberfest "(Wiesn)" mit 6,3 Millionen Besuchern im Jahr 2014. Weitere große Volksfeste in Bayern sind das Gäubodenvolksfest in Straubing, die Erlanger Bergkirchweih, das Karpfhamer Fest, das Nürnberger Volksfest, der Augsburger Plärrer, das Würzburger Kiliani-Volksfest, die Regensburger Dult, die Fürther Michaeliskirchweih und der Hofer Schlappentag.
Bayern hat offiziell kein Landesfest, jedoch hat der Tag der Franken, der seit 2006 in Franken begangen wird, den Charakter eines Landesfesttags. Der Nürnberger Christkindlesmarkt ist ein Weihnachtsmarkt auf dem Hauptmarkt und gehört mit über zwei Millionen Besuchern jährlich zu den größten Weihnachtsmärkten Deutschlands und den bekanntesten weltweit.
Aushängeschild unter den traditionellen Dorfkirchweihfesten ist die "Limmersdorfer Lindenkirchweih" im oberfränkischen Thurnau (Landkreis Kulmbach), in deren Mittelpunkt der Tanz in der Lindenkrone zählt. Sie wird seit mindestens 1729 als fränkische "Plankirchweih" ununterbrochen durchgeführt. 2014 wurde sie deshalb als Sinnbild dörflicher fränkischer Festkultur als einer von 27 Bräuchen in Deutschland in die Nationale Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen.
Kartenspieltradition.
"Siehe:" Schafkopf, Watten
Kleidung.
"Siehe:" , Fränkische Tracht
Industriekultur.
Mit der Maxhütte (Sulzbach-Rosenberg) verfügt Bayern über eines der bedeutendsten Industriedenkmale Europas. Die technik- und architekturhistorisch einmalige Anlage wird trotz bestehenden Denkmalschutzes teilweise demontiert. Aktuell wird versucht, das Industriedenkmal vor einem endgültigen Abriss zu bewahren.
Sehenswürdigkeiten.
Bayern kann auf eine über 1000 Jahre alte Kultur- und Geistesgeschichte zurückblicken.
Laut Artikel 3 der Verfassung des Freistaates Bayern ist Bayern ein Kulturstaat. Der Freistaat Bayern fördert in seinem Haushalt 2003 Kunst und Kultur mit jährlich über 500 Millionen Euro, zusätzlich kommen erhebliche Leistungen der bayerischen Kommunen und privater Träger hinzu.
Die ersten Steinbauten in Bayern entstanden in der Römerzeit. Beispielsweise wurde in Weißenburg eine römische Therme ausgegraben.
Zeugnisse aus dem Frühmittelalter gibt es nur wenige. Ein Beispiel ist jedoch die Krypta des Bamberger Doms aus der Zeit Kaiser Heinrichs II.
Im Hochmittelalter wurden Augsburg, Nürnberg, Würzburg und Regensburg zu wohlhabenden Handelsstädten. In Regensburg und Nürnberg entstanden wie in Italien mächtige Geschlechtertürme. Der Regensburger Dom ist ein Hauptwerk der gotischen Architektur in Süddeutschland. Da die Steinerne Brücke lange Zeit die einzige Brücke zwischen Ulm und Wien an der Donau war, führte sie den Handel hierher. Zu den historischen Stadtkernen gehören neben den großen Städten auch Rothenburg ob der Tauber, Dinkelsbühl, Straubing und Nördlingen. Die Stadt Landshut ist für die Martinskirche, den größten Backsteinturm der Welt sowie für die Stadtresidenz mit ihren Renaissancemalereien bekannt. In Augsburg errichteten die Fugger die Fuggerei, die älteste Sozialsiedlung der Welt. Das Rathaus der Stadt gilt als das Paradestück dieser Zeit. Zu den Sehenswürdigkeiten in München gehören das Siegestor und die Antikensammlungen. In Nürnberg zählen die historischen Sehenswürdigkeiten der Altstadt, das Reichsparteitagsgelände aus der Zeit des Nationalsozialismus sowie das Memorium Nürnberger Prozesse zu den bedeutendsten touristischen Anlaufpunkten. Unter König Ludwig II. entstanden Schloss Neuschwanstein, Schloss Linderhof und Herrenchiemsee.
UNESCO-Welterbe.
Zum Welterbe der UNESCO innerhalb Bayerns gehört unter anderem seit 1981 die Würzburger Residenz, ein Schlossbau des süddeutschen Barocks, samt Hofgarten und angrenzendem Residenzplatz. Die bemerkenswert prächtig ausgestattete Wieskirche bei Steingaden wurde 1983 zum Welterbe erklärt. 1993 wurde die Altstadt von Bamberg zum Weltkulturerbe erklärt. Seit 2005 gehört der Obergermanisch-Raetische Limes, mit insgesamt 550 Kilometern Länge das längste Bodendenkmal Europas, zum Welterbe. Teil des Welterbes sind mehrere zum Limes gehörende Bauten wie die Thermen in Weißenburg. 2006 wurde die Altstadt von Regensburg mit Altem Rathaus, Dom und Steinerner Brücke aufgenommen, 2011 die prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen mit mehreren urgeschichtlichen Siedlungen, 2012 folgte das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth. Der letzte bayerische Neuzugang als UNESCO-Welterbe war 2019 das Augsburger Wassermanagement-System.
Zum Weltdokumentenerbe der UNESCO gehören seit 2003 die "Bamberger Apokalypse", eine Handschrift des Klosters Reichenau, sowie seit 2013 das "Lorscher Arzneibuch". Beide Schriften werden in der Staatsbibliothek Bamberg aufbewahrt. In der Bayerischen Staatsbibliothek in München liegen das 2003 aufgenommene "Perikopenbuch Heinrichs II.", die 2009 aufgenommene "Hohenems-Münchener Handschrift A", das 2003 aufgenommene "Evangeliar aus dem Bamberger Dom", das 2003 aufgenommene "Evangeliar Ottos III." und die 2005 aufgenommene "Bibliotheca Corviniana". Eine "Goldene Bulle" (aufgenommen 2013) lagert im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, eine weitere im Staatsarchiv Nürnberg.
Museen.
Bayern ist mit rund 1350 Museen das museumsreichste Bundesland Deutschlands und eine der museumsreichsten Regionen des Kontinents. Zur vielfältigen Museumslandschaft zählen Sammlungen, Schlösser, Gärten und private Sammlungen. Zu den größten und bekanntesten gehören das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg und das Bayerische Nationalmuseum in München. Größtes naturwissenschaftlich-technisches Museum der Welt ist das Deutsche Museum in München. Zu den größten und bedeutendsten ihrer Art gehören das seit 1976 bestehende Fränkische Freilandmuseum in Bad Windsheim und das seit 1990 bestehende Fränkische Freilandmuseum in Fladungen. Einen wesentlichen Teil des Gemälde- und Kunstbesitzes des Freistaates Bayern betreuen die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.
Bibliotheken und Archive.
Größte Bibliothek des Freistaates ist die Bayerische Staatsbibliothek in München. Sie ist die zentrale Landesbibliothek Bayerns und eine der bedeutendsten europäischen Forschungs- und Universalbibliotheken mit internationalem Rang. Mit 10,22 Millionen Medieneinheiten ist sie die drittgrößte Bibliothek Deutschlands und besitzt eine der größten Sammlungen im deutschsprachigen Raum. Größte Universitätsbibliothek ist die Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München. Älteste öffentliche Bibliothek ist die Stadtbibliothek Nürnberg, größte die Münchner Stadtbibliothek. Die zweitgrößte Bibliothek Bayerns ist die Bibliothek der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Um die Versorgung mit wissenschaftlicher Literatur in allen Regionen zu gewährleisten, existieren zehn staatliche Regionalbibliotheken, die größte ist die Staatsbibliothek Bamberg.
Das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München ist das größte bayerische Staatsarchiv und aufgrund der langen staatlichen Existenz Bayerns auch eines der bedeutendsten Archive in Europa. Daneben gibt es zahlreiche andere Staatsarchive.
Gartenschauen.
In Bayern fand zweimal die Bundesgartenschau statt: Die Bundesgartenschau 1983, die mit der Internationalen Gartenbauausstellung zusammenfiel, und die Bundesgartenschau 2005, die beide jeweils in München stattfanden.
Bayern konzipierte als eines der ersten Bundesländer eine eigene Landesgartenschau, die erstmals 1980 zusammen mit dem Land Baden-Württemberg in Neu-Ulm/Ulm stattfand.
Münzen.
Seit 2006 erscheinen jährlich 2-Euro-Gedenkmünzen mit einem Motiv des Landes, das den Präsidenten des Bundesrates stellt. 2012 war dies Bayern, somit wurden mit dem Ausgabedatum 3. Februar 2012 rund 30 Millionen 2-Euro-Münzen mit dem Schloss Neuschwanstein als Motiv geprägt, die als offizielles Zahlungsmittel im Umlauf sind und beim Münzen sammeln beliebt sind.
Feiertage.
Neben den bundesweit gültigen Feiertagen Neujahr (1. Januar), Karfreitag, Ostersonntag und Ostermontag, Tag der Arbeit (1. Mai), Christi Himmelfahrt, Pfingstsonntag und Pfingstmontag, Tag der Deutschen Einheit (3. Oktober) sowie 1. und 2. Weihnachtsfeiertag (25./26. Dezember) gibt es im Freistaat Bayern gemäß dem "Gesetz über den Schutz der Sonn- und Feiertage" noch weitere Feiertage. In ganz Bayern als Feiertag gültig sind Heilige Drei Könige (6. Januar), Fronleichnam und Allerheiligen (1. November). Aus Anlass des 500. Reformationsjubiläums im Jahr 2017 war der Reformationstag am 31. Oktober 2017 ein einmaliger gesetzlicher Feiertag. Mariä Himmelfahrt (15. August) ist nur in Gemeinden mit überwiegend katholischer Bevölkerung ein gesetzlicher Feiertag. Das Augsburger Friedensfest (8. August) ist nur in der Stadt Augsburg ein gesetzlicher Feiertag. Ebenso ist der Schlappentag nur in der Stadt Hof ein Feiertag. Buß- und Bettag war bis 1994 Feiertag. Seitdem ist der Tag zwar Werktag, jedoch haben Schüler unterrichtsfrei.
Mit zwölf landesweit gültigen Feiertagen ist Bayern das Bundesland mit den meisten Feiertagen, inklusive Mariä Himmelfahrt sind es in katholischen Gebieten 13 Feiertage, in Augsburg sind es 14.
Neben den Feiertagen sind stille Tage, an denen besondere Einschränkungen zu beachten sind, festgelegt. Es sind öffentliche Unterhaltungsveranstaltungen verboten, die nicht dem ernsten Charakter dieser Tage entsprechen, beispielsweise herrscht an Karfreitag Tanzverbot. Die stillen Tage in Bayern sind Aschermittwoch, Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag, Allerheiligen, Volkstrauertag, Totensonntag, Buß- und Bettag sowie der Heilige Abend (24. Dezember).
Bildung.
Schulsystem.
Es sind etwa 5500 Schulen im Freistaat Bayern vorhanden, die nach dem Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen arbeiten. Es folgt nach der vierjährigen Grundschule das dreigliedrige Schulsystem mit Mittelschule, Realschule und Gymnasium mit Abitur nach der 12. Klasse. Ab der 7. Klasse gibt es die Möglichkeit, die Wirtschaftsschule, und ab der 10., die Berufliche Oberschule (Fachoberschule und Berufsoberschule) mit Erlangung des bayerischen Abiturs nach der 13. Klasse zu besuchen.
Schüler mit einem Abschlusszeugnis der Realschule, der Wirtschaftsschule oder des M-Zuges an Mittelschulen können an ausgewählten Gymnasien in so genannte "Einführungsklassen" und bei erfolgreichem Bestehen in die 11. Jahrgangsstufe des Gymnasiums übertreten. Unter bestimmten Voraussetzungen ist ein Übertritt in die 11. Klasse auch ohne Besuch der Einführungsklasse bzw. ein Übertritt in die reguläre 10. Jahrgangsstufe des Gymnasiums möglich. Hinzu treten sonderpädagogische Förderschulen sowie Schulen für Kranke. Das Schulsystem ist generell durchlässig, und jedem Schüler steht mit jedem erreichten Abschluss der Weg zum nächsthöheren schulischen Abschluss offen.
Als Schulen besonderer Art sind in Bayern fünf Gesamtschulen vorhanden. Ferner gibt es in Bayern zahlreiche Internate, Privatschulen sowie Einrichtungen des zweiten Bildungswegs. Eine Besonderheit im bayerischen Bildungswesen sind Schulvorbereitende Einrichtungen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die es in dieser Form in keinem anderen Bundesland gibt. Weitere Besonderheiten des bayerischen Schulsystems sind Jahrgangsstufentests, Absentenheftführer sowie das Elitenetzwerk Bayern zur akademischen Spitzenausbildung.
In den von der OECD durchgeführten PISA-Studien erreichen die Schüler Bayerns regelmäßig Spitzenplätze.
Im gesamtdeutschen Bildungsvergleich liegt Bayern (stand 2019) auf dem zweiten Platz hinter Sachsen.
Universitäten und Hochschulen.
In Bayern existieren neun staatliche Universitäten des Freistaates sowie die Universität der Bundeswehr München. Bis 1962 existierten lediglich vier Universitäten in München (LMU, TU), Würzburg und Erlangen (ab 1966 Erlangen-Nürnberg). Zwischen 1962 und 1975 wurden in Regensburg, Augsburg, Bamberg, Bayreuth und Passau fünf weitere durch den Freistaat gegründet. Hinzu kam 1973 noch die neu gegründete Bundeswehruniversität. Seit 2018 befindet sich mit der Technischen Universität Nürnberg die zehnte staatliche Universität im Aufbau.
Daneben gibt es 18 staatliche Fachhochschulen in Bayern, wie etwa in Aschaffenburg, Hof, Landshut, Kempten und Nürnberg
die zwischen 1971 und 1996 gegründet wurden. Darüber hinaus existiert mit der 1980 gegründeten Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt eine kirchliche Universität, sowie vier weitere private bzw. kirchliche Hochschulen und 10 Kunsthochschulen.
Sport.
Ballsportarten.
Zu den beliebtesten Sportarten gehört der Fußball. Der Bayerische Fußball-Verband zählt rund 1,5 Millionen Mitglieder und ist damit der mitgliederstärkste Verband des Deutschen Fußball-Bunds. International bekannt ist der FC Bayern München, er ist Rekordmeister der Fußball-Bundesliga, der er seit 1965 angehört, und darüber hinaus mehrfacher Gewinner von internationalen Fußballwettbewerben wie der UEFA Champions League. Ebenfalls in der höchsten deutschen Spielklasse spielt seit 2011 der FC Augsburg. In der zweithöchsten Spielklasse, der 2. Fußball-Bundesliga, spielen aktuell drei bayerische Vereine: der neunfache deutsche Meister und langjährige Rekordmeister 1. FC Nürnberg, der dreifache deutsche Meister SpVgg Greuther Fürth und der SSV Jahn Regensburg. In der Saison 2022/23 spielen der langjährige Erstligist TSV 1860 München, der FC Ingolstadt 04 und die SpVgg Bayreuth in der 3. Fußball-Liga. Der 1. FC Nürnberg belegt bei der Anzahl der gewonnenen Meistertitel den zweiten Platz.
Bei den Frauen ist ebenfalls die Mannschaft des FC Bayern München, deutscher Meister 1976, 2015, 2016 und 2021, in der Bundesliga vertreten.
Im Volleyball sind in der 1. Bundesliga der mehrmalige deutsche Meister der Frauen Rote Raben Vilsbiburg und NawaRo Straubing sowie die Herren von WWK Volleys Herrsching und dem TSV Unterhaching aktiv.
Die Basketballmannschaften von Brose Bamberg, medi Bayreuth, Bayern München und s.Oliver Würzburg spielen in der höchsten deutschen Spielklasse. Brose Bamberg wurde 2005, 2007, 2010, 2011, 2012, 2013 und 2015 deutscher Meister und 2010, 2011 und 2012 Pokalsieger. Im Damen-Basketball konnte die in der 1. Bundesliga spielende Mannschaft des TSV Wasserburg in den Jahren 2004 bis 2007 den deutschen Meistertitel erringen und wurde zudem 2005 bis 2007 deutscher Pokalsieger.
Derzeit (Saison 2020/21) sind der HC Erlangen und der HSC 2000 Coburg (beide Bundesliga) die höchstklassig spielenden Handballvereine der Männer im Freistaat Bayern. Die Handballabteilung des TV Großwallstadt aus dem Landkreis Miltenberg spielte lange Jahre in der 1. Handball-Bundesliga und spielt heute in der 2. Bundesliga, in der auch die DJK Rimpar vertreten ist. Bekannt, wenn auch ebenso nicht mehr erstklassig, sind die Münchener Vereine TSV Milbertshofen und MTSV Schwabing.
Im Damenhandball ist der 1. FC Nürnberg das erfolgreichste bayerische Team. In der jüngeren Vergangenheit wurden sie 2005, 2007 und 2008 Deutscher Meister und stießen 2007/2008 bis in die Hauptrunde der EHF Champions League vor.
Jedes Jahr findet in München das Tennisturnier ATP München statt. Für weibliche Tennisspieler findet seit 2013 jährlich das WTA Nürnberg in Nürnberg statt.
Bayern steht mit 163 Golfplätzen deutschlandweit an der Spitze. Stand 2008 waren 110.000 aktive Golfer registriert.
Im Baseball haben in den vergangenen Jahren immer mehr Mannschaften erfolgreich in der 1. und 2. Baseball-Bundesliga gespielt. Dazu zählt unter anderem der deutsche Meister der Saison 2008, 2010 und 2011, die Regensburg Legionäre. Zu den weiteren erfolgreichen bayerischen Teams gehören die Gauting Indians, die Ingolstadt Schanzer und die Haar Disciples. Auf Landesverbandsebene gehören unter anderem die Augsburg Gators, die Erlangen White Sox, die Fürth Pirates, die Deggendorf Dragons und die Garching Atomics zu den bayerischen Vereinen. Mit rund 60 angemeldeten Vereinen ist der Bayerische Baseball- und Softball-Verband (BBSV) einer der größten in Deutschland.
Auch im American Football ist Bayern mit einigen Mannschaften in den höchsten Spielklassen vertreten. In der German Football League spielen die Munich Cowboys, die Ingolstadt Dukes und die Allgäu Comets aus Kempten. In der zweithöchsten Spielklasse, GFL2, sind drei bayerische Mannschaften vertreten, die Kirchdorf Wildcats, die Straubing Spiders und die Fursty Razorbacks. Im Damenfootball sind die Munich Cowboys Ladies und die München Rangers Ladies in der Bundesliga vertreten, sowie die Allgäu Comets Ladies, die Nürnberg Rams Ladies und die Regensburg Phoenix Ladies in der zweiten Liga.
Korbball wird vor allem in Franken, aber auch im Allgäu gespielt. Schweinfurt gilt seit 1937 als Zentrum des Korbballs. In der Region nehmen mehr als 80 Vereine am Spielbetrieb teil.
Wintersport.
Speziell im alpinen Raum hat der Wintersport eine traditionell große Bedeutung. Die Bayerischen Alpen bieten günstige Bedingungen für den Ski-Rennlauf. Die herausragenden Vertreter dieser Sportart sind Mirl Buchner, Heidi Biebl, Rosi Mittermaier, Marina Kiehl, Christa Kinshofer, Martina Ertl, Hilde Gerg, Maria Höfl-Riesch, Franz Pfnür und Markus Wasmeier. Aus dem Biathlon-Bundesleistungszentrum in Ruhpolding gingen zahlreiche Gewinner internationaler Wettbewerbe hervor, die bekanntesten unter ihnen sind Fritz Fischer, Michael Greis, Uschi Disl, Martina Glagow und Magdalena Neuner. Im Langlauf erreichten Tobias Angerer und Evi Sachenbacher-Stehle bedeutende Resultate.
In Bayern gibt es fünf Eishockey-Vereine in der Deutschen Eishockey Liga; die Augsburger Panther, den ERC Ingolstadt, den EHC Red Bull München, die Nürnberg Ice Tigers und die Straubing Tigers.
In der DEL2 spielen die Mannschaften des EHC Bayreuth, des EV Landshut, des ESV Kaufbeuren, des EV Regensburg und der Selber Wölfe. In der Oberliga Süd sind alle 13 Mannschaften aus Bayern, obwohl die Süd-Gruppe theoretisch auch Baden-Württemberg und das südliche Sachsen umfasst. Weitere, besonders durch ihre Nachwuchsarbeit bekannte Vereine sind die Starbulls Rosenheim sowie der EV Füssen.
Vor allem im Gebiet des Oberallgäuer Orts Oberstdorf und in Garmisch-Partenkirchen finden zahlreiche Sportveranstaltungen statt, etwa die ersten beiden Springen der Vierschanzentournee. In Garmisch fanden die Olympischen Winterspiele 1936 statt. Auch zahlreiche Welt- und Europameisterschaften, etwa im Bereich Rennrodeln, Eiskunstlauf, Curling oder Skiflug, fanden dort stat
Weitere Sportarten.
Nicht zuletzt durch den Dokumentarfilm "Am Limit" wurden die Sportkletterer Thomas und Alexander Huber einem größeren Publikum ein Begriff. Auch früher waren Bayern unter den weltbesten Gipfelstürmern, unter anderen Johann Grill, Josef Enzensperger, Otto Herzog, Anderl Heckmair oder Toni Schmid. Bouldern wurde unter anderem durch den Nürnberger Wolfgang Fietz bekannt und wird indoor und im Klettergebiet Nördlicher Frankenjura und Klettergebiet Kochel betrieben.
In Bayern haben sich einige Brauchtumssportarten wie Fingerhakeln und Eisstockschießen erhalten, die in organisierten Ligen betrieben werden.
Auch das Sautrogrennen gehört zu den bayerischen Brauchtumssportarten. Besondere Beliebtheit erfreut sich diese Sportart im Süden Bayerns an den Flüssen Donau, Iller, Isar und Lech. In Franken wird anlässlich von Volksfesten in den meist noch vorhandenen örtlichen Dorf- bzw. Löschwasserteichen diesem Sport gehuldigt. Unter größter Belustigung der Zuschauer werden ernste regionale und überregionale Meisterschaften bestritten, seit 2010 in Schwarzenbach an der Saale sogar echte Weltmeisterschaften.
Im Bereich des Motorsports gibt es die alljährlichen Tourenwagenrennen zur DTM auf dem Norisring in Nürnberg-Dutzendteich. Speedwayrennen gibt es in Landshut, Pocking, Abensberg und Olching, Sandbahnrennen in Mühldorf am Inn, Pfarrkirchen, Vilshofen, Dingolfing und Plattling. In Inzell finden internationale Eisspeedwayrennen statt. Sportschießen wird in den Disziplinen Gewehr, Pistole, Bogen, Wurfscheibe, Laufende Scheibe und Armbrust im gesamten Land ausgeübt. Die Sportschützen stellen mit dem Bayerischen Sportschützenbund (BSSB) den viertgrößten Sportfachverband im Land. Viele bayerische Teilnehmer bei Olympischen Spielen konnten Erfolge erzielen.
Im Tanzsport ist das Rot-Gold-Casino Nürnberg einer der erfolgreichsten Vereine weltweit. So tritt der amtierende Einzelweltmeister Latein für das RGC Nürnberg an. Im Formationstanz stellt der Verein im Bereich Standard den amtierenden Vize-Europameister, sowie im Bereich Latein die beste Mannschaft Bayerns. Darüber hinaus sind viele weitere Tänzerinnen und Tänzer für den Verein in verschiedenen Leistungsklassen erfolgreich.
Viele Turnvereine haben in Bayern eine lange Tradition. Das Landesleistungszentrum war in Nürnberg, wurde aber mit dem Bundesleistungszentrum in Frankfurt am Main zusammengelegt. Zentren sind Augsburg, Würzburg, Schweinfurt, Nürnberg, Landshut, Passau und Rosenheim.
Bayerische Turnerinnen belegten in den 1920er Jahren oftmals weltweit Spitzenplätze. Seit 2000 gibt es für Kinder eine Bayerische Kinderturnolympiade.
Statistik und Studien.
Kriminalitätsrate.
Im deutschlandweiten Vergleich weist Bayern eine sehr niedrige Kriminalitätsrate auf. 2017 wurden laut polizeilicher Kriminalstatistik 4.868 Straftaten pro 100.000 Einwohner registriert. Das war der niedrigste Wert unter allen Bundesländern.
Privatinsolvenzen.
Bayern hatte 2017 unter allen Bundesländern die niedrigste Quote an Privatinsolvenzen. Auf 100.000 Bürger gerechnet waren nur 86 zahlungsunfähig. Der deutschlandweite Durchschnitt liegt bei 123 privaten Insolvenzen je 100.000 Einwohner. In Bremen waren es mit 212 am meisten. |
476 | 2055335 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=476 | Bliss (Familienname) | Bliss ist ein englischer Familienname. |
477 | 3033335 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=477 | Baden-Württemberg | Baden-Württemberg ( "BW"; amtlich Land Baden-Württemberg) ist ein Land im Südwesten von Deutschland. Gemäß seiner Verfassung hat es die Staatsform einer parlamentarischen Republik und ist ein teilsouveräner Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland. Das Land wurde 1952 durch Zusammenschluss der kurzlebigen Nachkriegsländer Württemberg-Baden, (Süd-)Baden und Württemberg-Hohenzollern gegründet und befindet sich somit in der Tradition der alten Länder Baden und Württemberg mit Einschluss der Hohenzollernschen Lande. Baden-Württemberg ist naturräumlich geprägt von seinen Anteilen an der Oberrheinischen Tiefebene und Mittelgebirgen wie dem Schwarzwald, dem Südwestdeutschen Schichtstufenland mit der Schwäbischen Alb und dem Alpenvorland nördlich des Bodensees. Sowohl nach Einwohnerzahl als auch bezüglich der Fläche steht Baden-Württemberg an dritter Stelle der deutschen Länder. Bevölkerungsreichste Stadt Baden-Württembergs ist die Landeshauptstadt Stuttgart, gefolgt von Mannheim und Karlsruhe. Weitere Großstädte sind Freiburg im Breisgau, Heidelberg, Ulm, Heilbronn, Pforzheim und Reutlingen.
Baden-Württemberg ist das deutsche Land mit den höchsten Exporten (2021), der zweitniedrigsten Arbeitslosenquote (April 2022), dem vierthöchsten Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf (2021) sowie den meisten angemeldeten Patenten pro Kopf (2021) und den absolut und relativ höchsten Forschungs- und Entwicklungsausgaben (2019). Die durchschnittliche Lebenserwartung lag im Zeitraum 2018/20 bei 79,9 Jahren für Männer und bei 84,2 Jahren für Frauen, womit beide unter den deutschen Bundesländern jeweils den ersten Rang belegen.
Geographie.
Im Süden grenzt Baden-Württemberg mit dem Klettgau und dem Hotzenwald an den Hochrhein, im Hegau und Linzgau an den Bodensee und im Westen mit dem Breisgau und dem Markgräflerland an den Oberrhein. Im Norden zieht sich die Landesgrenze über Odenwald und Tauberland, im Osten über Frankenhöhe und Ries, entlang von Donau und Iller sowie durch das westliche Allgäu.
Benachbarte deutsche Länder sind im Osten und Nordosten Bayern, im Norden Hessen und im Nordwesten Rheinland-Pfalz. Im Westen grenzt Baden-Württemberg an die elsässischen Départements Bas-Rhin und Haut-Rhin in der französischen Region Grand Est. Die Schweizer Grenze im Süden wird von den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau, Zürich, Schaffhausen und Thurgau gebildet. Der Kanton St. Gallen ist nur über den Bodensee verbunden. Über den Bodensee ist Baden-Württemberg außerdem mit dem österreichischen Bundesland Vorarlberg verbunden. Mit diesem teilt es – weil dort ebenfalls alemannischer Dialekt gesprochen wird – den manchmal umgangssprachlich verwendeten Beinamen "Ländle" respektive alemannisch "Ländli".
Der geographische Mittelpunkt Baden-Württembergs bei wird von einem Denkmal in einem Waldstück auf der Gemarkung von Tübingen markiert. Es handelt sich dabei um den Schwerpunkt der Landesfläche.
Im Gegensatz dazu wurde die Mitte von Baden-Württemberg aus den Extremwerten (nördlichster, südlichster, östlichster und westlichster Landpunkt) ermittelt. Das Mittel aus der geographischen Breite des nördlichsten und südlichsten Punktes und das Mittel aus der geographischen Länge des östlichsten und westlichsten Punktes im Bezugssystem WGS84 errechnet sich zu . Diese vier Extremkoordinaten Baden-Württembergs sind: im Norden in der Stadt Wertheim, im Süden in der Gemeinde Grenzach-Wyhlen, im Westen in der Gemeinde Efringen-Kirchen und im Osten in der Gemeinde Dischingen. Die Mitte von Baden-Württemberg befindet sich 14,3 km nördlich vom Tübinger Schwerpunkt in Böblingen in einem kleinen Waldstück, dem Hörnleswald, an der Tübinger Straße von Böblingen nach Holzgerlingen und ist mit einem Steinpfeiler markiert.
Die höchste Erhebung des Landes ist der Feldberg im Schwarzwald mit . Der tiefste Punkt liegt im Mannheimer Naturschutzgebiet Ballauf-Wilhelmswörth am Rheinufer und an der Grenze zu Hessen auf .
Naturräumliche Gliederung und Geologie.
Innerhalb Baden-Württembergs werden nach geologischen und geomorphologischen Kriterien fünf Großräume unterschieden:
Klima.
Baden-Württemberg liegt in einem Übergangsgebiet zwischen Seeklima im Westen und Kontinentalklima im Osten. Das bewirkt, dass abwechselnd ozeanische und kontinentale Klimaeinflüsse wirksam werden. Aufgrund der vorherrschenden Westwinde überwiegen die ozeanischen Klimaeinflüsse, wobei diese in den östlichen Landesteilen abnehmen. Die Vielgestaltigkeit der Oberflächenformen, also das Nebeneinander hoher Bergländer und abgeschirmter Beckenräume, führt zu deutlichen klimatischen Unterschieden schon auf kurzen Entfernungen.
Temperaturen.
Durch die südliche Lage ist Baden-Württemberg gegenüber anderen Ländern hinsichtlich der Temperaturen begünstigt. Das Oberrheinische Tiefland weist Jahresmitteltemperaturen von 10 °C auf und gehört damit zu den wärmsten Gebieten Deutschlands. Klimatisch begünstigt sind auch der Kraichgau, das Neckartal nördlich von Stuttgart, das Bodenseegebiet, das Hochrheingebiet und das Taubertal. Mit der Höhe sinkt die Durchschnittstemperatur, und der Südschwarzwald ist mit durchschnittlich 4 °C eines der kältesten Gebiete Deutschlands. Eine Ausnahme von dieser Regel ist die im Winter vorkommende Inversionswetterlage, bei der höhere Lagen wärmer sind als tiefer gelegene, weil bei windstillem Hochdruckwetter die von den Höhen abfließende Kaltluft sich in Beckenräumen sammelt. Extreme Kältewerte lassen sich deshalb auf der Baar beobachten. Hier kann es im Winter zu Temperaturen von unter −30 °C kommen.
Niederschlag.
Die mit dem Westwind herantransportierten Luftmassen stauen sich vor allem an Schwarzwald und Odenwald, daneben auch an der Schwäbischen Alb, den höheren Lagen der Keuperwaldberge und den Voralpen. Deshalb fällt auf der Luvseite reichlich Niederschlag (über 1000 mm pro Jahr, im Südschwarzwald stellenweise über 2000 mm). Auf der Leeseite im Regenschatten fällt wesentlich weniger Niederschlag. Hier gibt es ausgeprägte Trockengebiete: Im nördlichen Oberrheinischen Tiefland, der Freiburger Bucht (Leeseite der Vogesen) und dem Taubergrund fallen etwa 600 mm, im mittleren Neckarraum und der Donauniederung bei Ulm etwa 700 mm pro Jahr.
Folgen der globalen Erwärmung.
Im Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung wurden seit Ende der 1990er Jahre mehrere Studien zu den regionalen Folgen der globalen Erwärmung durchgeführt. Laut einer Zusammenfassung dieser Ergebnisse aus dem Jahr 2012 stieg die Jahresdurchschnittstemperatur in Baden-Württemberg im Zeitraum 1906 bis 2005 um 1,0 °C an (weltweit 0,7 °C), von durchschnittlich 8 °C auf 9 °C. Der größte Anstieg erfolgte dabei in den letzten 30 Jahren. Die Anzahl der Höchstniederschläge im Winter und die Zahl der Hochwasserereignisse haben in diesem Zeitraum um 35 Prozent zugenommen, die Anzahl der Tage mit Schneedecke in tiefer gelegenen Regionen haben um 30 bis 40 Prozent abgenommen. Von 1953 bis 2009 nahm die Anzahl der Eistage (Höchsttemperatur unter 0 °C) in Stuttgart von 25 auf 15 ab, die Anzahl der Sommertage (Höchsttemperatur mindestens 25 °C) dagegen erhöhte sich von 25 auf 45 (vgl. auch Hitzewelle 2003). Die Wahrscheinlichkeit einer ausgeprägt trockenen Vegetationsperiode im Sommer hat sich seit 1985 versechsfacht. Klimamodelle prognostizieren eine Weiterführung dieser Trends. Im Juli 2013 wurde ein Klimaschutzgesetz für Baden-Württemberg verabschiedet.
Gewässer.
Aufgrund der bergigen Topographie spielten und spielen die Flüsse und ihre Täler eine erhebliche Rolle für Besiedlung, Verkehrswesen und Geschichte des Landes. Die Europäische Hauptwasserscheide zwischen Rhein und Donau hat im Hochschwarzwald ihre westlichste Ausbuchtung und verläuft über die Baar im Norden entlang der Schwäbischen Alb, im Süden durch das Alpenvorland. Das Einzugsgebiet des Rhein-Zuflusses Neckar nimmt mit etwa 14.000 km² fast zwei Fünftel der Landesfläche ein.
Der Rhein ist der wasserreichste Fluss des Landes. Mit ihm ist Baden-Württemberg an eine der bedeutendsten Wasserstraßen der Welt angeschlossen. Sein Einzugsgebiet (ohne Neckar) im Land ist etwa 11.000 km² groß. Im 19. Jahrhundert wurde der Oberrhein ausgehend von den Plänen des badischen Ingenieurs Tulla begradigt. Er bildet mit wenigen Ausnahmen die westliche Landesgrenze zu Frankreich und zu Rheinland-Pfalz. Hochrhein, Seerhein und Bodensee bilden den größten Teil der südlichen Landesgrenze zur Schweiz.
Der Neckar entspringt am Ostrand des Schwarzwalds bei Villingen-Schwenningen und durchfließt das Zentrum des Landes, bis er im Nordwesten in Mannheim in den Rhein mündet. Er wird durch zahlreiche Schleusen reguliert und dient als Verkehrsweg für die industriereiche Landesmitte.
Die Donau entsteht bei Donaueschingen aus den vom Schwarzwald kommenden Quellflüssen Brigach und Breg und fließt etwa ostnordöstlich, wobei sie die Schwäbische Alb nach Süden und Oberschwaben nach Norden begrenzt und hinter Ulm nach Bayern fließt. Sie entwässert etwa 9400 km² und damit mehr als ein Viertel des Landes.
Während der Rhein das Land bei Mannheim auf einer Höhe von etwa verlässt, liegt die Donau an der bayerischen Grenze bei Ulm noch über hoch. Die zum Rhein entwässernden Flüsse haben daher eine größere Erosionskraft und vergrößern ihr Einzugsgebiet langfristig auf Kosten der Donau.
Unter den übrigen Flüssen sind die längsten die Zwillingsflüsse Kocher und Jagst, die den Nordosten des Landes durchfließen und in den Neckar münden. Ganz im Nordosten fließt die Tauber. Hier grenzt das Landesgebiet an den Main.
Mit dem Bodensee hat das Land Anteil am zweitgrößten Alpenrandsee. Über die Bodensee-Wasserversorgung erhalten mehrere Millionen Einwohner vor allem im mittleren Neckarraum ihr Trinkwasser.
Schutzgebiete.
Der 2014 gegründete Nationalpark Schwarzwald ist der erste Nationalpark in Baden-Württemberg. Die größten der mehr als 1000 Naturschutzgebiete des Landes sind die eiszeitlich überprägten Gebiete Feldberg und Gletscherkessel Präg im Hochschwarzwald, das Hochmoorgebiet Wurzacher Ried im ebenfalls glazial geprägten Alpenvorland und das Auengebiet Taubergießen am Oberrhein. Etwa 22,8 Prozent der Landesfläche sind als Landschaftsschutzgebiete ausgewiesen. Sieben Naturparke nehmen zusammen ein Drittel der Fläche Baden-Württembergs ein. Die Biosphärengebiete Schwäbische Alb und Schwarzwald sind als Biosphärenreservate der UNESCO anerkannt.
Flächenaufteilung.
Nach Daten des Statistischen Landesamtes, Stand 2017.
Mitte 2023 wurde in Bad Säckingen die Grenze zwischen Baden-Württemberg und der Schweiz aufgrund der Sanierung einer Holzbrücke neu vermessen und im Einvernehmen um acht Meter zugunsten Baden-Württembergs verschoben. Somit hat sich die Fläche des Landes entsprechend vergrößert.
Verdichtungsräume.
Baden-Württemberg liegt innerhalb des als "Blaue Banane" bezeichneten, von London nach Norditalien verlaufenden europäischen Agglomerationsbandes. Der gültige Landesentwicklungsplan aus dem Jahr 2002 unterscheidet zwischen den Raumkategorien „Verdichtungsräume“, „Randzonen der Verdichtungsräume“ und „ländlicher Raum“, wobei letzterer eigene Verdichtungsbereiche enthält. Außer dem größten und zentralen Raum Stuttgart liegen die sieben Verdichtungsräume in grenzüberschreitenden Gunsträumen entlang der Peripherie des Landes. Die meisten sind als Teil Europäischer Metropolregionen ausgewiesen:
Der Oberrheinraum von Karlsruhe über Offenburg und Freiburg bis Lörrach/Weil am Rhein ist Teil der 2010 mit den angrenzenden südpfälzischen, französischen und Schweizer Regionen gebildeten Trinationalen Metropolregion Oberrhein.
Die fünf Verdichtungsbereiche im ländlichen Raum sind:
Großstädte.
Neun Städte im Land haben mindestens 100.000 Einwohner und gelten als Großstädte.
Geschichte.
Vorgeschichte.
Das Gebiet des heutigen Baden-Württemberg war nachweislich bereits vor mindestens einer halben Million Jahren von Vertretern der Gattung "Homo" besiedelt. Der bei Mauer gefundene Unterkiefer von Mauer und der bei Steinheim an der Murr entdeckte "Homo steinheimensis", die heute beide zur Hominini-Art "Homo heidelbergensis" eingeordnet werden, zählen mit einem Alter von rund 500.000 beziehungsweise 250.000 Jahren zu den ältesten Funden der Gattung "Homo" in Europa überhaupt.
Bedeutende paläolithische Nachweise kulturellen Lebens in Baden-Württemberg reichen circa 35.000 bis 40.000 Jahre zurück. So alt sind die Funde der ältesten bekannten Musikinstrumente der Menschheit (eine Elfenbeinflöte, ausgegraben 1979 im Geißenklösterle) und Kunstwerke (Löwenmensch), die in Höhlen der Schwäbischen Alb entdeckt wurden, vor allem in denen des Lonetals. Die wichtigsten dieser Höhlen sind die sogenannten Höhlen der ältesten Eiszeitkunst.
Vor allem aus dem Neolithikum finden sich zahlreiche Belege von Siedlungen und Bestattungen von der frühesten Zeit an, die ab der Bandkeramik auf die unterschiedlichsten Kulturkomplexe zurückgehen und eine ununterbrochene Linie bis zum Beginn der Bronzezeit und bis zur Eisenzeit repräsentieren. Bei Kleinkems in Südbaden befindet sich das älteste deutsche Jaspisbergwerk aus der Jungsteinzeit.
In der Hallstattzeit besiedelten die Kelten große Teile des Landes. Dies ist durch die zahlreichen Hügelgräber belegt, deren bekanntestes das Grab des Keltenfürsten von Hochdorf ist, und durch hallstattzeitliche Siedlungen wie der Heuneburg oder dem Münsterhügel von Breisach.
Antike.
Seit Caesars Gallischem Krieg 55 v. Chr. bildete der Rhein im Norden die Ostgrenze des römischen Reiches. Um 15 v. Chr. überschritten die Römer unter Tiberius die Alpen. Die neu gegründete Provinz Raetia erstreckte sich bis an die Donau und umfasste damit auch das heutige Oberschwaben.
Der Landweg zwischen Mainz und Augsburg war strategisch sehr wichtig. Um diesen zu verkürzen, bauten die Römer um 73/74 n. Chr. eine Straße durch das Kinzigtal im mittleren Schwarzwald; zum Schutz dieser Straße gründeten sie Rottweil. Weitere Gründungen dieser Zeit sind Ladenburg, Bad Wimpfen, Rottenburg am Neckar, Heidelberg und Baden-Baden; eine Siedlungskontinuität ist jedoch nur für Baden-Baden, Ladenburg und Rottweil wahrscheinlich. Die später gebaute Straße über Bad Cannstatt verkürzte den Weg zwischen Mainz und Augsburg noch weiter. Die Landnahme in Südwestdeutschland sicherten die Römer durch Feldzüge im heutigen Hessen ab. Um 85 n. Chr. gründete Kaiser Domitian die Provinz Germania superior (Obergermanien).
Die Grenze des römischen Reiches verlief von ungefähr 98–159 n. Chr. entlang des Neckar-Odenwald-Limes, später entlang des Obergermanisch-Rätischen Limes. Den vom Limes umschlossenen Teil des Gebietes rechts des Rheines und links der Donau bezeichneten die Römer als Dekumatland. Der nordöstliche Teil des heutigen Baden-Württemberg war nie Teil des römischen Reiches.
Um 233 n. Chr. plünderten Alamannen das Dekumatland; in der Zeit der Reichskrise des 3. Jahrhunderts gaben die Römer um 260 n. Chr. nach erneuten Überfällen die bisherige Grenze auf und zogen sich hinter Rhein, Donau und Iller, den Donau-Iller-Rhein-Limes, zurück. Sie hielten die Rheingrenze noch bis zum Rheinübergang von 406.
Mittelalter.
Im 5. Jahrhundert kam das Gebiet des Herzogtums Alemannien zum Fränkischen Reich. Die Nordgrenze Alemanniens wurde nach Süden verschoben und deckte sich grob mit dem Verlauf der heutigen alemannisch-fränkischen Dialektgrenze. Das nördliche Drittel Baden-Württembergs lag somit im direkten fränkischen Einflussbereich (Bistümer Mainz, Speyer, Worms, Würzburg), die südlichen zwei Drittel verblieben im alemannischen Einflussbereich (Bistümer Konstanz, Augsburg, Straßburg). Im 8. Jahrhundert wurden Grafschaften (Gaue) als Verwaltungseinheiten installiert. Mit der Neubildung der Stammesherzogtümer gehörten die südlichen Gebiete des heutigen Bundeslandes bis zum Ausgang des Hochmittelalters zum Herzogtum Schwaben, die nördlichen Gebiete befanden sich beim Herzogtum Franken.
Im Hochmittelalter gehörte das Gebiet zu den zentralen Landschaften des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Es ist Heimat zahlreicher aufstrebender Adelsdynastien und lag im Schnittpunkt einiger wichtiger Fernhandelsrouten. Der Hochadel und die Klöster lenkten einen intensiven Landesausbau, in dessen Verlauf die Mittelgebirge erschlossen und zahlreiche Städte gegründet wurden, und erweiterten so ihre Machtbasis. Wichtige Familien waren neben den Herzogshäusern vor allem die fränkischen Salier und die schwäbischen Staufer, die sich zu ihrer Zeit den Kaiserthron erkämpften. Weitere wichtige Adelshäuser waren die – ursprünglich aus Oberschwaben stammenden – Welfen, die Zähringer und die Habsburger und auch die unterschwäbischen Hohenzollern.
Nach dem Ende der Stauferdynastie im 13. Jahrhundert kam es zu einer bleibenden Dezentralisierung des Reiches. Die ohnehin traditionell schwache Zentralmacht von Kaisern und Königen verlor zunehmend Rechte und Befugnisse an aufstrebende Regionalmächte. Dieser langfristige Trend wurde auch und gerade in Südwestdeutschland spürbar. Es kam zur territorialen Zersplitterung in Hunderte von kleinen Grafschaften, Reichsstädten, geistlichen Gebieten oder gar einzelnen ritterschaftlichen Dörfern.
Die sich auf dem Gebiet der alten Stammesherzogtümer Franken und Schwaben im Hoch- und Spätmittelalter entwickelnden Territorien erwiesen sich zumeist als beständig und dominierten bis zu den Umbruchsjahren 1803/1806. Zu den bedeutendsten unter ihnen zählen:
Zur horizontalen Diversifizierung trat die vertikale Aufteilung von Rechten an einem Ort in verschiedene Rechteinhaber. So konnten die zahlreichen finanziellen, wirtschaftlichen, militärischen und jurisdiktionalen Rechte innerhalb eines Dorfes in den Händen mehrerer Staaten, Herren oder Familien liegen.
Frühe Neuzeit.
Die frühe Neuzeit war geprägt von der Reformation und den Expansionsbestrebungen der entstehenden Flächenstaaten Österreich, Preußen, Frankreich und Schweden. Aus diesen resultierten Konflikte wie der Bauernkrieg, der Dreißigjährige Krieg und der Pfälzische Erbfolgekrieg. Im heutigen Baden-Württemberg, das territorial außerordentlich stark zersplittert blieb, lag dabei einer der Schwerpunkte der Kampfhandlungen mit entsprechenden Folgen für Bevölkerung und Wirtschaft.
Reformation und Bauernkrieg.
Das spätere Baden war Schauplatz der Bundschuh-Verschwörungen. Der aus Untergrombach stammende Joß Fritz führte von 1501 bis 1517 im Hochstift Speyer und in Vorderösterreich insgesamt drei Verschwörungen an.
Bereits 1518 lernten junge südwestdeutsche Gelehrte bei der Heidelberger Disputation Martin Luther und seine Lehren kennen. Der Brettener Philipp Melanchthon folgte Luther nach Wittenberg und wurde zu einem der führenden Köpfe der lutherischen Reformation. Johannes Brenz ging von Heidelberg nach Schwäbisch Hall, führte dort die Reformation ein und unterstützte später Herzog Christoph von Württemberg beim Aufbau der evangelischen Landeskirche.
Der Deutsche Bauernkrieg hatte einen seiner Schwerpunkte im deutschen Südwesten. Bereits 1524 versammelten sich in Stühlingen, Furtwangen und Biberach mehrere tausend Bauern.
Am Ostersonntag 1525 stürmten und besetzten schwäbische Bauern die Burg Weinsberg und töteten den Grafen Ludwig von Helfenstein, der ein Schwiegersohn Kaiser Maximilians I. war. Diese Weinsberger Bluttat kostete die Bauern viele Sympathien. In der Folge zogen sie unter anderem in Stuttgart ein und zerstörten zahlreiche Burgen und Klöster, darunter die Burg Hohenstaufen, das Kloster Lorch und das Kloster Murrhardt. Am 24. April 1525 übertrugen die Aufständischen dem Hauptmann Götz von Berlichingen die militärische Führung. Am 23. Mai 1525 nahmen südbadische Bauern Freiburg ein.
Der Bauernaufstand wurde durch ein Söldnerheer, das im Auftrag des Schwäbischen Bundes unter der Führung von Georg Truchsess von Waldburg-Zeil kämpfte, noch im Sommer 1525 brutal niedergeschlagen. Man schätzt, dass dabei ca. 100.000 Aufständische zu Tode kamen.
Besonders in den südwestdeutschen Reichsstädten verbreitete sich die Reformation schnell. Der Protestation zu Speyer gehörten 1529 fünf Reichsstädte aus dem heutigen Baden-Württemberg an. Als Markgraf Philipp von Baden 1533 kinderlos starb, wurde die Markgrafschaft unter seinen Brüdern Ernst und Bernhard III. in das protestantische Baden-Durlach und das katholische Baden-Baden aufgeteilt. Herzog Ulrich von Württemberg führte die Reformation ein, als er 1534 durch die siegreiche Schlacht bei Lauffen nach fünfzehnjähriger Habsburgischer Zwangsverwaltung wieder auf den Stuttgarter Thron zurückkehrte.
In der Kurpfalz führte Kurfürst Ottheinrich 1557 die Reformation lutherischer Prägung ein. Unter seinem Nachfolger Friedrich III., der 1563 den Heidelberger Katechismus ausarbeiten ließ, wurde die Kurpfalz calvinistisch.
Dreißigjähriger Krieg.
Hauptschauplätze des Dreißigjährigen Kriegs im deutschen Südwesten waren die Kurpfalz und Vorderösterreich, aber auch die übrigen Gebiete wurden durch Plünderungen und Mundraub der durchziehenden und lagernden Heere schwer getroffen.
Nach der Schlacht am Weißen Berg verlagerte sich der Böhmisch-Pfälzische Krieg in die Kurpfalz. Die vereinigten Heere der Grafen Peter von Mansfeld und Georg Friedrich von Baden-Durlach besiegten Tilly 1622 bei Mingolsheim. Wenig später unterlag der von Mansfeld getrennte Markgraf von Baden Tilly in der Schlacht bei Wimpfen.
Während sich die Kriegsereignisse danach nach Norden verlagerten, blieb die Kurpfalz von den Spaniern links des Rheines und den Bayern rechts des Rheines besetzt. 1632 wurden beide durch die Schweden unter König Gustav Adolf vertrieben. 1634 eroberten die Schweden die Festung Philippsburg und zogen noch im selben Jahr bis an den Hochrhein. Nach der Schlacht bei Nördlingen floh Herzog Eberhard III. ins Exil nach Straßburg. Die siegreichen kaiserlichen und spanischen Truppen besetzten das Territorium Württembergs und es kam in diesen evangelischen Landstrichen zu verheerenden Übergriffen, Plünderungen und Brandschatzungen. 1635 eroberte Johann von Werth Philippsburg und Heidelberg zurück, Bayern besetzte erneut die Kurpfalz.
1638 feierten die protestantisch-schwedischen Verbände unter Bernhard von Sachsen-Weimar in Vorderösterreich bei der Schlacht bei Rheinfelden, in Breisach und in Freiburg Erfolge. 1643/44 schlug das Schlachtenglück in Schlachten bei Tuttlingen und Freiburg zugunsten der kaiserlich-katholischen Truppen um. Die Kämpfe im Südwesten dauerten noch bis Kriegsende an.
Im Jahre 1647 unterzeichneten Bayern, Schweden und Frankreich in Ulm ein Waffenstillstandsabkommen, in dessen Folge sich die in Bayern eingefallenen schwedischen und französischen Truppen nach Oberschwaben und Württemberg zurückzogen. Im Westfälischen Frieden 1648 erhielt Karl I. Ludwig die Pfalz sowie die 1623 im Regensburger Reichstag verlorene Kurwürde zurück und Breisach wurde französisch.
Als Folge des Dreißigjährigen Kriegs war die Bevölkerung um mehr als die Hälfte, regional um zwei Drittel, zurückgegangen, der Viehbestand war fast völlig vernichtet, ein Drittel des Nutzlandes lag brach. Die Region brauchte lange, um sich davon zu erholen.
Zeitalter des Absolutismus.
→ Hauptartikel für die Zeit von 1693–1733 in Württemberg: Eberhard Ludwig
Nach dem Ende des Holländischen Kriegs 1679 annektierte Frankreich Freiburg im Breisgau. Die vorderösterreichische Regierung verlegte während der französischen Herrschaft über Freiburg ihren Sitz nach Waldshut.
Im Pfälzischen Erbfolgekrieg verwüsteten französische Truppen unter der Führung von General Ezéchiel de Mélac den nordwestlichen Teil des heutigen Baden-Württembergs. Vor allem in den Jahren 1689 und 1693 ließ Mélac jeweils auf dem Rückzug systematisch Verteidigungsanlagen sprengen und flächendeckend Dörfer und Städte in Brand setzen, dabei wurden unter anderem die Residenzstädte Heidelberg mitsamt dem Schloss, Durlach und Baden zerstört, aber auch Mannheim, Bretten, Pforzheim oder Marbach. Nach Kriegsende musste Frankreich Freiburg und Breisach am Rhein an Österreich zurückgeben.
In der Folge zogen mehrere der Landes- und Kirchenfürsten aus den alten Residenzstädten aus und errichteten neue Barockresidenzen nach dem Vorbild von Versailles. So entstanden barocke Planstädte mit großen Schlössern in Karlsruhe, Ludwigsburg und Rastatt, die kurpfälzische Residenz Schloss Mannheim und Sommerresidenz Schloss Schwetzingen sowie Schloss Bruchsal als Sitz des Hochstifts Speyer.
Von 1703 bis 1713 war die Oberrheinebene zwischen Freiburg und Heidelberg im Spanischen Erbfolgekrieg Aufmarschgebiet der kaiserlichen Truppen und mehrfach Schauplatz von Kämpfen zwischen diesen und denen Frankreichs.
Im österreichischen Erbfolgekrieg belagerten und eroberten französische Truppen unter dem persönlichen Kommando Ludwigs XV. 1744 Freiburg.
1782 wurde in den vorderösterreichischen Gebieten, d. h. in großen Teilen des südlichen heutigen Landesteils, die Leibeigenschaft im Zuge der Reformen Kaiser Josephs II. abgeschafft.
1806 bis 1918.
Hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch etwa 300 Staaten im Gebiet des heutigen Baden-Württembergs territoriale Rechte inne, so reduzierte sich deren Zahl nach der Auflösung des Alten Reiches auf vier. Vor allem das Königreich Württemberg und das Großherzogtum Baden gehörten zu den Gewinnern der Koalitionskriege. Die beiden Fürstentümer Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen überlebten aufgrund besonderer Beziehungen zu Napoleon die Mediatisierung. Zudem war die Stadt Wimpfen eine hessische Exklave.
1849 wurde die Badische Revolution durch preußische Interventionstruppen niedergeschlagen, die Badische Armee aufgelöst und unter preußischer Führung neu aufgebaut. 1850 wurden die beiden hohenzollerischen Staaten zur preußischen Provinz "Hohenzollernsche Lande". Im Deutschen Krieg 1866 standen Baden und Württemberg auf der Seite Österreichs und mussten nach Kriegsende eine Entschädigung an das siegreiche Preußen zahlen und militärische Geheimverträge mit dem Norddeutschen Bund schließen. Dies führte 1870 zum Eintritt dieser Staaten in den Deutsch-Französischen Krieg. Infolge des Kriegs schlossen sich Baden und Württemberg dem neu gegründeten und von Preußen angeführten Deutschen Kaiserreich an.
1918 bis 1933.
1919 gaben sich die Republik Baden und der Volksstaat Württemberg demokratische Verfassungen.
Zeit des Nationalsozialismus.
Machtergreifung und Terror.
1933 wurden die selbständigen Landesregierungen mittels Gleichschaltungsgesetzen zu Gunsten nationalsozialistischer Gauleiter und Reichsstatthalter entmachtet. Die Machtergreifung wurde von Terror gegen die politischen Gegner begleitet und unterstützt.
In Baden ernannte sich Gauleiter Robert Wagner am 11. März 1933 selbst zum Staatspräsidenten. Diese Selbsternennung legalisierte Reichspräsident Hindenburg am 5. Mai 1933 nachträglich durch Wagners Ernennung zum Reichsstatthalter. Das Amt des badischen Ministerpräsidenten übernahm Walter Köhler. Der württembergische Landtag wählte am 15. März 1933 Wilhelm Murr mit den Stimmen der NSDAP, DNVP und des Bauernbundes zum Staatspräsidenten. Am 6. Mai 1933 wurde er zum Reichsstatthalter ernannt, während das Amt des Ministerpräsidenten auf Christian Mergenthaler überging. Diese Dualität in der Machtausübung blieb bis Kriegsende erhalten.
Die Regimegegner, vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten, wurden ab März 1933 in einer Verhaftungswelle der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen und in den Lagern Kislau (bei Bad Schönborn), Ankenbuck (bei Villingen) und Heuberg (bei Stetten am kalten Markt) interniert. Regimekritische Frauen wurden im Frauengefängnis Gotteszell festgehalten. Die badische SPD-Führung wurde am 16. Mai 1933 von Karlsruhe nach Kislau verschleppt, wobei der Abtransport öffentlich inszeniert wurde.
Nach der Umbildung der Landtage gemäß dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 5. März 1933 beschlossen die Landtage am 8. Juni 1933 in Württemberg bzw. am 9. Juni 1933 in Baden Landesermächtigungsgesetze. An den Abstimmungen durften sich die Abgeordneten der inzwischen verbotenen KPD nicht mehr beteiligen. Die SPD-Abgeordneten enthielten sich in Württemberg der Stimme, während die fünf verbliebenen in Baden offen mit „Nein“ stimmten. Alle anderen Abgeordneten – in Württemberg waren dies Zentrum, DNVP, Bauernbund, CSVD und NSDAP – stimmten der Selbstentmachtung zu.
Das Lager Heuberg wurde Ende 1933 wegen Überfüllung geschlossen. Die Insassen wurden auf das Fort Oberer Kuhberg in Ulm verlegt. Mitglieder von Gestapo, SS und SA ermordeten den führenden badischen Sozialdemokraten Ludwig Marum am 29. März 1934 in Kislau. 1936 meldete die Gestapo, sie habe die „illegalen“ Strukturen von SPD und KPD zerschlagen.
Verfolgung der Juden und anderer Minderheiten.
Dem Massenmord der Nationalsozialisten an der deutschen Zivilbevölkerung fielen in Baden und Württemberg ca. 12.000 Juden, eine große Zahl von Angehörigen der Roma-Minderheit, 10.000 Kranke sowie eine unbekannte Anzahl von Regimegegnern zum Opfer.
Bis 1939 waren zwei Drittel der ca. 35.000 Juden, die 1933 in Baden und Württemberg gelebt hatten, ausgewandert. Am 22. Oktober 1940 leiteten der badische Gauleiter Robert Wagner und Josef Bürckel, Gauleiter der Westmark, die „Wagner-Bürckel-Aktion“, bei der noch vor dem eigentlichen Holocaust ca. 6000 badische Juden in das Lager Gurs verschleppt wurden. Von dort aus wurden die meisten von ihnen in deutsche Vernichtungslager in Osteuropa gebracht und dort ermordet. Die württembergischen Juden wurden ab November 1941 in mehreren Direktzügen zu je ca. 1000 Personen nach Riga, Izbica, Auschwitz und Theresienstadt deportiert, wo sie umgebracht wurden.
In der Tötungsanstalt Grafeneck bei Gomadingen ermordeten die Machthaber im Rahmen der Aktion T4 mehr als 10.000 Patienten psychiatrischer Kliniken in einer Gaskammer. Roma, und unter ihnen viele Sinti, wurden z. T. in lokalen „Zigeunerlagern“ interniert, zum Beispiel im Zigeunerzwangslager in Ravensburg, und 1940 nach Polen und 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. Zahlreiche Insassen baden-württembergischer Konzentrationslager starben bei der Zwangsarbeit. Beispielsweise kostete im KZ Bisingen bei Hechingen der Versuch, Schieferöl zu gewinnen, 1000 Menschen das Leben. Andere Häftlinge kamen auf den sogenannten "Todesmärschen", mit denen die Machthaber kurz vor Kriegsende die Konzentrationslager angesichts der anrückenden amerikanischen Truppen räumen wollten, ums Leben.
Widerstand.
Mit dem in Stuttgart aufgewachsenen Graf von Stauffenberg, den Geschwistern Scholl, die ihre Kindheit in Forchtenberg, Ludwigsburg und Ulm verbracht haben, sowie dem Hitler-Attentäter Georg Elser, der auf der Ostalb und in Konstanz lebte, haben vier der bekanntesten deutschen Widerstandskämpfer ihre Wurzeln im Südwesten.
Weitere Beispiele sind die Freiburgerin Gertrud Luckner, die Juden bei der Ausreise unterstützte, 1943 verhaftet wurde und das KZ Ravensbrück überlebte, der Mannheimer Georg Lechleiter, der eine Untergrundorganisation der KPD anführte und 1942 in Stuttgart hingerichtet wurde sowie der Karlsruher Reinhold Frank und die Stuttgarter Fritz Elsas und Eugen Bolz, die als Mitglieder der Verschwörung vom 20. Juli 1944 im Jahre 1945 hingerichtet wurden.
Ebenfalls zum Widerstand rechnet man die Wirtschaftswissenschaftler des Freiburger Kreises um Walter Eucken, den Rottenburger Bischof Joannes Sproll, der 1938 seiner Diözese verwiesen wurde, nachdem er sich an der Volksabstimmung um den „Anschluss“ Österreichs nicht beteiligt hatte, und Robert Bosch, der Juden und andere Verfolgte in seinem Unternehmen unterbrachte.
Kriegsende und Kriegsfolgen.
Im Oktober 1944 wurde die Regierung des Vichy-Regimes unter Marschall Pétain auf Befehl Hitlers von Vichy nach Sigmaringen verlegt. Das Schloss Sigmaringen blieb bis Kriegsende Sitz der aus Sicht der Nationalsozialisten "offiziellen" französischen Regierung.
Die alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg trafen die Städte in Südwestdeutschland nicht alle in gleichem Maße. Beim Luftangriff auf Pforzheim am 23. Februar 1945 starben innerhalb von wenigen Minuten 17.600 Menschen. Sehr schwer getroffen wurden auch Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Friedrichshafen, Freiburg und Ulm. Schwere Schäden trugen Karlsruhe, Reutlingen, Böblingen, Sindelfingen, Offenburg und Göppingen davon. Andere Städte, z. B. Rottweil, Heidelberg, Baden-Baden, Esslingen, Ludwigsburg, Tübingen, Villingen, Konstanz, Aalen oder Schwäbisch Gmünd blieben nahezu unversehrt und haben deshalb noch heute intakte Altstädte.
Im Frühjahr 1945 besiegten amerikanische und französische Bodentruppen auch auf dem Gebiet Baden-Württembergs diejenigen der Wehrmacht. Die Amerikaner besetzten Mannheim am 29. März 1945. Stuttgart eroberten die französischen Truppen am 22. April 1945. Teilweise schwere Kämpfe führten dazu, dass in den letzten Kriegswochen noch Crailsheim, Waldenburg, Bruchsal und Freudenstadt zerstört wurden.
Der Weg zum Südweststaat.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die nördlichen Teile von Baden und Württemberg zur US-amerikanischen Besatzungszone, die südlichen Teile sowie Hohenzollern zur französischen. Die Aufteilung erfolgte entlang der Kreisgrenzen, wobei zur US-amerikanischen Zone bewusst alle die Kreise geschlagen wurden, durch die die Autobahn Karlsruhe-München (heutige A 8) verlief. Die Militärregierungen der Besatzungszonen gründeten 1945/46 die Länder Württemberg-Baden in der amerikanischen sowie Württemberg-Hohenzollern und Baden in der französischen Zone. Diese Länder wurden am 23. Mai 1949 Teil der Bundesrepublik Deutschland.
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland traf in Regelungen zu einer Neugliederung des Bundesgebiets mithilfe von Volksabstimmungen. Dieser Artikel trat jedoch wegen Vorbehalten der Besatzungsmächte zunächst nicht in Kraft. Abweichend davon wurden in Artikel 118 die drei Länder im Südwesten dazu angehalten, eine Neugliederung durch gegenseitige Vereinbarung zu regeln. Dieser Artikel beruhte auf der noch vor Beginn der Beratungen über das Grundgesetz getroffenen Entscheidung vom 31. August 1948 bei der Konferenz der Ministerpräsidenten auf Jagdschloss Niederwald zur Schaffung eines Südweststaats. Für den Fall, dass eine solche Regelung nicht zustande käme, wurde eine Regelung durch ein Bundesgesetz vorgeschrieben. Als Alternativen kamen entweder eine Vereinigung zu einem "Südweststaat" oder die separate Wiederherstellung Badens und Württembergs (einschließlich Hohenzollerns) in Frage, wobei die Regierungen Württemberg-Badens und Württemberg-Hohenzollerns für Ersteres, diejenige Badens für Letzteres eintraten. Eine Übereinkunft der Regierungen über eine Volksabstimmung scheiterte an der Frage des Abstimmungsmodus. Das daraufhin am 4. Mai 1951 verabschiedete Bundesgesetz sah eine Einteilung des Abstimmungsgebiets in vier Zonen vor (Nordwürttemberg, Nordbaden, Südwürttemberg-Hohenzollern, Südbaden). Die Vereinigung der Länder sollte als akzeptiert gelten, wenn sich eine Mehrheit im gesamten Abstimmungsgebiet sowie in drei der vier Zonen ergab. Da eine Mehrheit in den beiden württembergischen Zonen sowie in Nordbaden bereits abzusehen war (hierfür wurden Probeabstimmungen durchgeführt), favorisierten diese Regelung die Vereinigungsbefürworter. Die (süd-)badische Regierung strengte eine Verfassungsklage gegen das Gesetz an, die jedoch erfolglos blieb.
Vor der Volksabstimmung, die am 9. Dezember 1951 stattfand, bekämpften sich Befürworter und Gegner des geplanten "Südweststaates". Die führenden Vertreter der Pro-Seite waren der Ministerpräsident Württemberg-Badens Reinhold Maier und der Staatspräsident Württemberg-Hohenzollerns Gebhard Müller, Anführer der Südweststaat-Gegner war der Staatspräsident Badens Leo Wohleb. Bei der Abstimmung votierten die Wähler in beiden Teilen Württembergs mit 93 Prozent für die Fusion, in Nordbaden mit 57 Prozent, während in Südbaden nur 38 Prozent dafür waren. In drei von vier Abstimmungsbezirken gab es eine Mehrheit für die Bildung des Südweststaates, so dass die Bildung eines Südweststaates beschlossen war. Hätte das Ergebnis in Gesamtbaden gezählt, so hätte sich eine Mehrheit von 52 Prozent für eine Wiederherstellung des (separaten) Landes Baden ergeben.
Gründung des Landes.
Am 9. März 1952 wurde die "Verfassunggebende Landesversammlung" gewählt. Auf einer Sitzung am 25. April 1952 wurde der erste Ministerpräsident gewählt. Damit war das Land Baden-Württemberg gegründet.
Reinhold Maier (FDP/DVP) bildete als erster Ministerpräsident eine Koalition aus SPD, FDP/DVP und BHE. Nach Inkrafttreten der Verfassung wirkte die "Verfassunggebende Landesversammlung" bis 1956 als erster Landtag von Baden-Württemberg.
Der Name des Landes war Gegenstand eines längeren Streites. Der im "Überleitungsgesetz" vom 15. Mai 1952 genannte Name "Baden-Württemberg" war zunächst nur übergangsweise vorgesehen, setzte sich jedoch letztlich durch, da kein anderer Name von allen Seiten akzeptiert wurde. Die am 19. November 1953 in Kraft getretene Landesverfassung wurde lediglich von der Verfassunggebenden Landesversammlung beschlossen, anschließend aber nicht durch eine Volksabstimmung bestätigt.
Reinhold Maier hatte mit seiner schnellen Regierungsbildung 1952 die CDU als stärkste Fraktion ausgeschlossen. Das erzeugte Unmut, sowohl bei den zwei südlichen Landesteilen Südbaden und Südwürttemberg-Hohenzollern, die sich in der neuen Regierung nicht oder nur unzureichend vertreten fühlten, als auch bei Gebhard Müller, dem neuen CDU-Fraktionsvorsitzenden, der die Nichtbeteiligung der CDU als persönlichen Affront empfand. Bei der Bundestagswahl vom 6. September 1953, die von Reinhold Maier zugleich zum Plebiszit über seine Politik erklärt worden war, errang die CDU in Baden-Württemberg die absolute Mehrheit der Stimmen. Reinhold Maier zog die Konsequenzen und trat als Ministerpräsident zurück. Sein Nachfolger wurde Gebhard Müller, der eine Koalition aus CDU, SPD, FDP/DVP und BHE bildete. Dieselbe Konstellation regierte auch nach der Wahl 1956 (die KPD hatte den Einzug in den Landtag nicht mehr geschafft, somit wurde die Koalition zur Allparteienregierung) und hatte bis 1960 Bestand. Nachfolger Müllers wurde 1958 Kurt Georg Kiesinger als dritter Ministerpräsident des Landes.
Erneute Abstimmung in Baden.
Die badischen Vereinigungsgegner gaben den Kampf gegen den Südweststaat auch nach 1952 nicht auf. Im "Heimatbund Badnerland" organisiert, erstrebten sie weiterhin die Wiederherstellung Badens. Abs. 2 GG sah vor, dass in Gebieten, deren Landeszugehörigkeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs ohne Volksabstimmung geändert worden war, ein Volksbegehren über die Neugliederung möglich sei. Nachdem dieser Passus infolge des Deutschlandvertrags 1955 in Kraft trat, stellte der Heimatbund einen Antrag auf ein Volksbegehren zur Wiederherstellung des Landes Baden in den Grenzen von 1945. Das Bundesinnenministerium lehnte diese Forderung unter anderem mit der Begründung ab, das neue Bundesland sei bereits durch eine Volksabstimmung zustande gekommen. In der darauf folgenden Klage vor dem Bundesverfassungsgericht bekam der Heimatbund 1956 Recht. Das Gericht argumentierte, dass die Abstimmung von 1951 keine Abstimmung im Sinne von GG gewesen sei, da hierbei die zahlenmäßig stärkere Bevölkerung Württembergs und Hohenzollerns die zahlenmäßig schwächere Badens habe überstimmen können. Der Wille der badischen Bevölkerung sei durch die Besonderheit der politisch-geschichtlichen Entwicklung überspielt worden, weshalb ein Volksbegehren nach GG zulässig sei.
Das Bundesverfassungsgericht setzte in seinem Urteil keine Frist für die Abstimmung, weshalb sie immer wieder verschleppt wurde. Es bedurfte einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im Jahre 1969, in der es die Abstimmung bis spätestens zum 30. Juni 1970 anordnete. Diese wurde am 7. Juni 1970 durchgeführt und ergab mit 81,9 Prozent eine große Zustimmung zum Verbleib von Baden im gemeinsamen Land Baden-Württemberg. Die Wahlbeteiligung lag bei 62,5 Prozent.
Die Ablehnung des Volksbegehrens machte den Weg frei zu einer administrativen Neugliederung des Landes. 1971 wurde eine Reform der Landkreise und der Regierungsbezirke eingeleitet, die 1973 in Kraft trat. Seitdem sind die ehemaligen Landesgrenzen kaum noch im Kartenbild zu erkennen.
Bevölkerungsentwicklung.
Die Bevölkerungsentwicklung in Baden-Württemberg war zwischen 1950 und 2008 im Allgemeinen von einem stetigen Anstieg geprägt. In den 1950er Jahren stieg die Bevölkerung Baden-Württembergs um knapp 1,3 Millionen Menschen an. Auch in den 1960er Jahren stieg die Bevölkerung nochmals um knapp 1,2 Millionen Menschen an. 1971 überstieg die Bevölkerungszahl erstmals die Neun-Millionen-Marke. Die 1970er Jahre waren dagegen bevölkerungsmäßig weitgehend von Stagnation geprägt.
Vor allem in den zehn Jahren von 1977 bis 1987 trat die Bevölkerungsentwicklung weitgehend auf der Stelle. Ein Rückgang Anfang der 1980er Jahre wurde zwar ausgeglichen, in den zehn Jahren nach 1977 nahm die Bevölkerung jedoch nur um rund 165.000 Menschen auf knapp 9,3 Millionen zu. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zustrom von Menschen aus Zentral- und Osteuropa änderte sich dies jedoch sehr deutlich.
Die zwanzig Jahre von 1988 bis 2008 waren von einem kontinuierlichen Bevölkerungsanstieg geprägt. Die Bevölkerung nahm in dieser Zeit um fast 1,5 Millionen Menschen zu. In den Jahren 1990 und 1991 wuchs die Bevölkerung jeweils um fast 200.000 Personen.
Insgesamt ist in den 50 Jahren zwischen 1952 und 2002 die Bevölkerung Baden-Württembergs um knapp vier Millionen von 6,7 auf 10,7 Millionen Menschen gewachsen, das ist eine Zunahme um knapp 60 Prozent. In den Jahren 2008 und 2009 gab es einen kleinen Bevölkerungsrückgang im ansonsten von Wachstum geprägten Baden-Württemberg. Auch bisher ist die Bevölkerung stets höchstens drei Jahre in Folge geschrumpft, um dann wieder und weiter anzuwachsen. Dennoch prognostizierte das Statistische Landesamt im Jahr 2010 einen Rückgang der Bevölkerung bis zum Jahr 2030 um 3,5 Prozent auf rund 10,3 Millionen Menschen.
Die Studie „Wegweiser Kommune“ der Bertelsmann-Stiftung geht in einer Prognose aus dem Jahr 2011 von einem Bevölkerungsrückgang von 0,4 Prozent für Baden-Württemberg bis 2030 (gegenüber 2009) aus, womit Baden-Württemberg nach Bayern das Flächenland mit der stabilsten Bevölkerungsgröße ist.
Hoheitssymbole.
Das Wappen zeigt drei schreitende Löwen auf goldenem Grund. Dies ist das Wappen der Staufer und Herzöge von Schwaben. Über dem großen Landeswappen befinden sich die sechs Wappen der historischen Landschaften, aus denen oder aus deren Teilen Baden-Württemberg gebildet worden ist. Diese sind: Vorderösterreich (rot-weiß-rot geteilter Schild), Kurpfalz (steigender Löwe), Württemberg (drei Hirschstangen), Baden (roter Schrägbalken), Hohenzollern (weiß-schwarz geviert) und Franken (drei silberne Spitzen auf rotem Grund). Dabei sind die Wappen Badens und Württembergs etwas größer dargestellt. Schildhalter sind der badische Greif und der württembergische Hirsch. Auf dem kleinen Landeswappen ruht stattdessen eine Blattkrone.
Die Benutzung des Landeswappens ist genehmigungspflichtig und grundsätzlich nur den Behörden im Land Baden-Württemberg gestattet.
Seit der letzten Änderung des Landeshoheitszeichengesetzes am 4. November 2020 (gültig seit 14. November 2020) wird auf der Landesdienstflagge mit großem Wappen das große Landeswappen einschließlich der Schildhalter verwendet, auf welche vorher verzichtet wurde.
Die Landesflagge ist schwarz-gold; die Landesdienstflagge trägt zusätzlich das kleine Landeswappen.
Verwaltungsgliederung.
Baden-Württemberg ist seit dem 1. Januar 1973 in vier Regierungsbezirke, zwölf Regionen (mit je einem Regionalverband) sowie 35 Landkreise und neun Stadtkreise eingeteilt. Die Regierungsbezirke werden durch ihre Behörden, den Regierungspräsidien, verwaltet.
Regierungsbezirke und Regionen.
Die Region Donau-Iller umfasst auch angrenzende Gebiete in Bayern. Die Region Rhein-Neckar umfasst auch angrenzende Gebiete in Hessen und Rheinland-Pfalz.
Stadt- und Landkreise.
Im Land bestehen die folgenden neun Stadtkreise (in Klammern die jeweiligen Kfz-Kennzeichen):
Die 35 Landkreise sind:
Zum Landkreis Konstanz gehört die Exklave Büsingen am Hochrhein, die in der Nähe von Schaffhausen liegt und völlig von Schweizer Gebiet umschlossen ist.
Die Landkreise haben sich 1956 zum Landkreistag Baden-Württemberg zusammengeschlossen.
Gemeinden.
"Siehe auch: Liste der Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg, Liste der größten Städte in Baden-Württemberg (alle Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern) sowie Gemeindeordnungen in Deutschland"
Seit dem Abschluss der Gebiets- und Verwaltungsreform und dem Zusammenschluss weiterer Gemeinden gliedert sich das Land Baden-Württemberg in insgesamt 1101 Gemeinden (89 davon sind Große Kreisstädte, 311 Gemeinden werden als Stadt bezeichnet) sowie die zwei unbewohnten gemeindefreien Gebiete Gutsbezirk Münsingen und Gemeindefreier Grundbesitz Rheinau.
Die Rechte und Pflichten der Gemeinden werden vor allem in der baden-württembergischen Landesverfassung (§§ 69–76) und in der baden-württembergischen Gemeindeordnung (GemO) festgelegt. In § 1 GemO sind die Gemeinden als „Grundlage und Glied des demokratischen Staates“ beschrieben, und die „Teilnahme an der […] Verwaltung der Gemeinde“ als „Recht und Pflicht“ der Gemeindebewohner.
Als ein Gemeindegebiet wird in § 7 GemO die Gesamtheit der zur Gemeinde gehörenden "Grundstücke" definiert. Diese Grundstückseinheit ist als Gemarkung im Grundbuch dokumentiert. Ferner ist festgelegt, dass alle Grundstücke Baden-Württembergs zu einer Gemeinde gehören sollen – „besondere Gründe“ rechtfertigen aber den Verbleib von Grundstücken außerhalb eines gemeindlichen Markungsverbandes. Solche „gemeindefreien Grundstücke“ existieren in Baden-Württemberg in zwei unbewohnten gemeindefreien Gebieten – Gutsbezirk Münsingen und Gemeindefreier Grundbesitz Rheinau.
Hinter den neun Großstädten des Landes sind die größten Mittelstädte Ludwigsburg, Esslingen, Tübingen, Villingen-Schwenningen und Konstanz.
In § 3 GemO sind als besondere Gemeindetypen Stadtkreise (außerhalb Baden-Württembergs "Kreisfreie Stadt" genannt) und Große Kreisstädte erwähnt. Sie unterscheiden sich von den verbleibenden Gemeinden durch die ganze oder teilweise Übernahme von Kreisaufgaben. In Baden-Württemberg sind neun Gemeinden zu Stadtkreisen und 91 Gemeinden zu Großen Kreisstädten erklärt worden.
Von den in § 8 GemO genannten Gemeindegebietsänderungen haben "Eingliederung" (Eingemeindung) und "Neubildung" (Gemeindefusion/Zusammenlegung) das Ende der politischen Selbständigkeit einer Gemeinde zur Folge. Umfangreiche derartige Gebietsänderungen wurden unter dem Stichwort "Gebietsreform" in den 1970er Jahren verfügt. Die Eingliederung von Tennenbronn nach Schramberg am 1. Mai 2006 war die erste Aufgabe der Selbstständigkeit einer Gemeinde seit 1977.
Die alle fünf Jahre stattfindenden Kommunalwahlen wurden zuletzt am 26. Mai 2019 durchgeführt. Bei den Wahlen im Jahr 2009 waren 18.233 Gemeinderäte und 1.960 Kreisräte zu wählen.
Gemarkungen.
Die 1101 Gemeinden gliedern sich in 3380 Gemarkungen. Diese sind keine Verwaltungseinheiten, sondern Flächeneinheiten des Liegenschaftskatasters. In vielen Fällen entsprechen die aktuellen Gemarkungen den ehemaligen Gemeinden vor der Gebietsreform bzw. den heutigen Gemeinden in ihren Grenzen vor der Gebietsreform.
Politik.
Der Ministerpräsident ist Vorsitzender der Landesregierung von Baden-Württemberg, die aus Ministern, Staatssekretären und ehrenamtlichen Staatsräten besteht. Die Ministerpräsidenten seit 1952:
Baden-Württemberg ist politisch bürgerlich-konservativ geprägt, die CDU und die FDP/DVP sind in Baden-Württemberg verhältnismäßig stark und haben die meisten Regierungen des Landes gestellt. Aus diesem Grund hatte die SPD dort stets einen schweren Stand; ihre Ergebnisse lagen bislang immer unter dem Bundesdurchschnitt. Die CDU ging bis 2011 bei jeder Wahl als stärkste Partei hervor, während das Bundesland für die FDP das bislang einzige darstellt, bei dem sie bei Landtagswahlen noch nie an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Seit den 1980er Jahren ist Baden-Württemberg auch eine Hochburg der in Karlsruhe gegründeten Grünen, deren Wahlergebnisse im Land stets über dem Bundesdurchschnitt lagen; ihr erstmaliger Einzug in den Landtag im Jahr 1980 war gleichzeitig der erste in einem Flächenland; seit dem Erfolg bei den Landtagswahlen 2011 stellen die Grünen hier ihren ersten Ministerpräsidenten überhaupt. Während der Ministerpräsident von 1953 bis 2011 immer von der CDU gestellt wurde, waren an der Regierung teilweise die FDP/DVP beziehungsweise die SPD (Große Koalition) beteiligt. Während der 1990er Jahre waren die Republikaner im Landtag vertreten (10,9 Prozent 1992 und 9,1 Prozent 1996), die in diesem Bundesland ihren größten Zulauf hatten. Zuvor saß zwischen 1968 und 1972 ebenso die NPD mit 9,8 Prozent der Wählerstimmen im Landtag. 2016 zog die AfD mit 15,1 Prozent in den Landtag ein. In keinem anderen der alten (westdeutschen) Länder erreichten Parteien rechts von CDU und CSU derart hohe Wahlergebnisse.
Die CDU erreichte bei allen Wahlen zwischen 1972 und 1988 die absolute Mehrheit im Landtag. Aufgrund des Austrittes des Landtagsabgeordneten Ulrich Maurer aus der SPD am 27. Juni 2005 und seinem Eintritt in die WASG am 1. Juli war diese im Landtag vertreten. Stefan Mappus wurde am 10. Februar 2010 zum Ministerpräsidenten gewählt, verlor allerdings seine schwarz-gelbe Regierungsmehrheit nach der Landtagswahl 2011. Die CDU selbst fuhr mit 39,0 Prozent das zweitschlechteste Wahlergebnis in der Geschichte der Landespartei ein, die FDP schaffte nur knapp den Sprung in den Landtag (5,3 Prozent). Die Grünen dagegen erreichten mit 24,2 Prozent das zu dem Zeitpunkt beste Ergebnis der Partei auf Landesebene. Die SPD erreichte mit 23,1 Prozent ihr in Baden-Württemberg bis dahin schlechtestes Wahlergebnis und trat als Juniorpartner in eine grün-rote Koalition unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann ein. Bei der Landtagswahl 2016 setzte sich der Trend fort: Sowohl CDU als auch SPD verschlechterten sich nochmals auf ihre bis dahin jeweils schlechtesten Ergebnisse im Land, wohingegen die Grünen weiter zugewinnen konnten. Die neu angetretene AfD konnte 15,1 Prozent der Stimmen erzielen. In der Folge bildeten die Grünen zusammen mit der CDU eine Koalition unter Ministerpräsident Kretschmann (Kabinett Kretschmann II). Bei der Landtagswahl 2021 konnten die Grünen erneut bei Verlusten der CDU Stimmenanteile dazugewinnen. Die FDP konnte ihr Ergebnis verbessern, während die SPD und AfD Verluste hinnehmen musste. Die Regierungsbildung mündete erneut in der Bildung einer grün-schwarzen Regierung (Kabinett Kretschmann III).
Das Land unterhält zwei Landesvertretungen außerhalb von Baden-Württemberg. Seit 1954 existiert die Vertretung des Landes Baden-Württemberg beim Bund, welche ihren Sitz bis zum Umzug der Bundesregierung in der Bundesstadt Bonn hatte und heute in der Bundeshauptstadt Berlin sitzt. Im Jahre 1987 kam die Vertretung des Landes Baden-Württemberg bei der Europäischen Union dazu, welche als Bindeglied zwischen dem Bundesland Baden-Württemberg und der Europäischen Union fungiert. Zudem besteht seit November 2021 das "BW-UK Office", die Auslandsrepräsentanz Baden-Württembergs im Vereinigten Königreich.
Baden-Württemberg und die japanische Präfektur Kanagawa pflegen seit 1989 eine bilaterale Partnerschaft. Innerhalb Europas bildet Baden-Württemberg zusammen mit den Regionen Katalonien, Lombardei und Rhône-Alpes die multilaterale Arbeitsgemeinschaft "Vier Motoren für Europa".
Mit service-bw steht den Bürgern eine E-Government-Plattform zur Verfügung.
Im landeseigenen Umweltinformationssystem Baden-Württemberg sind aktuelle Messergebnisse zur Luftqualität, zum Bodensee, Unwetterwarnungen, Geoinformationen, und ein Informationssystem für Wasser, Immissionsschutz, Boden, Abfall und Arbeitsschutz abrufbar.
Staatshaushalt
Am 26. Oktober 2022 wurde vom Minister für Finanzen des Landes Baden-Württemberg, Danyal Bayaz (Grüne), der Haushaltsplan als Entwurf für die Jahre 2023 und 2024 (sogenannter Doppelhaushalt) in den Landtag eingebracht.<ref name="Staatshaushalt_2023/2024"></ref> Aufgrund der Vorlage des Haushaltsentwurfs im Landtag wurde dieser von den Abgeordneten debattiert. Der Landtag von Baden-Württemberg hat am 20. Dezember 2022 den Haushaltsplan für 2023 und 2024 beschlossen. Der Staatshaushalt des Landes Baden-Württemberg sieht für das Jahr 2023 Aufwendungen (Ausgaben) in Höhe von 61.049.405.700 Euro und für das Jahr 2024 in Höhe von 60.405.007.300 Euro vor.
Der Haushaltsplan gliedert sich in ein Vorheft und in folgende 17 Einzelpläne, die von 01 bis 18 (mit Ausnahme der Zahl 15) nummeriert sind:
Die Staatsverschuldung Baden-Württembergs bezifferte sich am 31. Dezember 2021 auf 59,7 Milliarden Euro.
Wirtschaft.
Baden-Württemberg zählt zu den wirtschaftsstärksten und wettbewerbsfähigsten Regionen Europas. Insbesondere im Bereich der industriellen Hochtechnologie sowie Forschung und Entwicklung gilt Baden-Württemberg als die innovativste Region der Europäischen Union. Die Forschungsstärke spiegelt sich in den Ausgaben für Forschung und Entwicklung wider, welche 2005 bei 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen, der höchste Wert unter den EU-Regionen (NUTS 1).
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt, das 2021 rund 536 Milliarden Euro betrug, gehört Baden-Württemberg zu den wohlhabenderen Regionen der EU mit einem Index von 144 (EU-28: 100, Deutschland: 126) (2014). Nach Hamburg und Bayern belegt Baden-Württemberg den dritten Platz im Kaufkraftvergleich 2016 mit 23.368 Euro pro Einwohner. Die durchschnittlichen Bruttolöhne je Arbeitnehmer im Jahr 2020 variierten je nach Land- bzw. Stadtkreis zwischen 32.000 bis über 50.200 Euro. So weist der Landkreis Böblingen mit 50.244 Euro je Arbeitnehmer den höchsten Durchschnittsverdienst im Jahr 2020 auf, gefolgt von den Stadtkreisen Stuttgart (49.375 Euro) und Karlsruhe (43.514 Euro). Die Arbeitslosenquote betrug . Sie ist dabei in den eher ländlich geprägten Regionen traditionell niedriger als in den Städten. So betrug die Arbeitslosenquote im März 2023 im Landkreis Biberach lediglich 2,4 Prozent, im Alb-Donau-Kreis 2,5 Prozent und im Landkreis Ravensburg 2,7 Prozent, während sie in den Stadtkreisen Baden-Baden mit 5,8 Prozent, Pforzheim mit 5,9 Prozent und Mannheim mit 7,1 Prozent deutlich höher lag. Ungefähr 50.000 Baden-Württemberger gehen als Grenzgänger einer Arbeit in der Schweiz nach.
Charakteristisch für die Wirtschaft des Landes sind seine Familienunternehmen. Unter den 1000 größten Familienunternehmen Deutschlands befinden sich 190 in Baden-Württemberg, das ist Platz drei im Bundesländervergleich. Auch im Verhältnis zur Einwohnerzahl kann das Land damit die drittmeisten Familienunternehmen in Deutschland vorweisen. Umsatzstärkstes baden-württembergisches Familienunternehmen ist der Handelsmulti Schwarz-Gruppe, gefolgt von der Robert Bosch GmbH und der Merckle Unternehmensgruppe.
Ab 1999 warb die Landesregierung mit dem Motto „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ für Baden-Württemberg als Wirtschaftsstandort und Lebensumfeld. Ziel der von der Landesregierung als äußerst erfolgreich eingeschätzten Kampagne war es, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes bekannter zu machen und sie mit den kulturellen, landschaftlichen und gastronomischen Vorzügen zu assoziieren. Das Motto wurde von einer Werbeagentur erfunden und zunächst dem Freistaat Sachsen angeboten, der seine Nutzung jedoch ablehnte. Es wurde zum geflügelten Wort. Ein weiteres, ebenfalls von der Agentur entworfenes Motto, ist „Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“. Seit 2021 wirbt die Landesregierung mit der Bezeichnung " Länd" (Eigenschreibweise in Majuskeln), die von einer anderen Werbeagentur erschaffen wurde.
Landwirtschaft.
Das Land weist für die Landwirtschaft höchst unterschiedliche natürliche Bedingungen auf (vgl. Abschnitt Geographie). In der Bilanz sind die tiefer gelegenen Tal- und Beckenräume des Landes wie Oberrheintiefland und Neckartal oder auch das Bodenseegebiet ausgesprochene Gunsträume für die Landwirtschaft. Hier finden sich neben Ackerbau auch Intensivkulturen wie z. B. Obst- und Weinbau mit den Weinbaugebieten Baden und Württemberg. In der Landeshauptstadt Stuttgart wird – ungewöhnlich für eine Großstadt – im verhältnismäßig größeren Umfang Weinbau betrieben (siehe Weinbau in Stuttgart). Der überwiegende Teil des Landes weist mittlere Höhenlagen auf, die für den Getreidebau günstig sind, der in unterschiedlichen Kombinationen mit Grünlandwirtschaft und Futterbau auftritt. Ungünstige Wuchsklimate finden sich in den Höhengebieten des Schwarzwalds und der Schwäbischen Alb sowie in der Baar, hier herrschen Futterbau und Viehhaltung auf Grünland oder Forstwirtschaft vor. Die ökologische Landwirtschaft ist 2018 auf 9.290 Betriebe (11 Prozent der Betriebe) und 197.751 Hektar Ökofläche (14 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche) angestiegen.
Der allgemeine Strukturwandel der Landwirtschaft, ihre betriebliche Konzentration und die Intensivierung der Produktion, vollzieht sich in Baden-Württemberg aufgrund seiner kleinteiligeren Landwirtschaft mit einiger Verzögerung letztlich in gleicher Geschwindigkeit. Indikatoren sind z. B.
Produzierendes Gewerbe.
Industrie und Gewerbe beschäftigten 2005 in 8.600 Betrieben gut 1,2 Millionen Menschen, was 38,3 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten darstellt. Damit ist Baden-Württemberg das deutsche Bundesland mit dem höchsten Anteil der Industriebeschäftigten und dem höchsten Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt. Die international hohe Wettbewerbsfähigkeit der Industriebranchen des Landes wird maßgeblich durch hohe Forschungsleistungen der Unternehmen begünstigt (Wirtschaftsanteil an Forschung und Entwicklung: 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts).
Die drei nach Beschäftigtenzahlen wichtigsten Branchen sind
Im Schwarzwald war früher die Feinmechanik sehr bedeutend, insbesondere die Uhrenindustrie sowie später die Unterhaltungselektronik (Junghans, Kienzle, SABA, Dual).
Auf der Schwäbischen Alb war und ist hauptsächlich die Textilindustrie (mit Hugo Boss, Trigema und Steiff) von Bedeutung.
Die Mineralölraffinerie Oberrhein in Karlsruhe ist die zweitgrößte Mineralölraffinerie in Deutschland.
In Walldorf hat das größte europäische Software-Unternehmen SAP seinen Sitz. Aus Baden-Württemberg stammen die bekannten Programme VirtualBox, TeamSpeak und TeamViewer. Mit Lexware ist ein weiterer Softwareentwickler in Baden-Württemberg beheimatet und vor allem durch kaufmännische Softwarelösungen bekannt.
Relevant und bedeutend für die Wirtschaft einiger Städte und Gemeinden ist die Rüstungsindustrie mit etwa 120 Unternehmen. So ist Oberndorf am Neckar baden-württembergisches Zentrum für Schusswaffen, bspw. von Heckler & Koch, Rheinmetall oder ehemals Mauser. Darüber hinaus zu erwähnen ist Junghans Microtec in Seedorf als Hersteller von Zündern und Leitsystemen für Flugkörper. Die Bodenseeregion ist ebenfalls zentral für die Produktion von Verteidigungsgerät.
Energie.
Das Kernkraftwerk Neckarwestheim wurde im April 2023 als eines der drei letzten in Deutschland, das Kernkraftwerk Philippsburg 2019 und das Kernkraftwerk Obrigheim 2005 stillgelegt. 2011 waren bereits die jeweils ältesten Blöcke der Kernkraftwerke Neckarwestheim und Philippsburg abgeschaltet worden.
Die Flüsse des Landes weisen zahlreiche Laufwasserkraftwerke auf. Mitte der 1970er-Jahre wurde das Rheinkraftwerk Iffezheim gebaut. Es wurde 2013 erweitert und ist seitdem mit 148 MW das größte dieser Art in Deutschland.
Mit Stand Ende 2015 waren in Baden-Württemberg 515 Windkraftanlagen mit einer Leistung von insgesamt 880 Megawatt installiert, von denen 186 Megawatt im ersten Halbjahr 2016 errichtet wurden. Die Zahl der Anlagen erhöhte sich bis 2018 auf 720, die Leistung auf 1.534 Megawatt. Allerdings hat Baden-Württemberg weiterhin die niedrigste installierte Windenergieleistung aller deutschen Flächenländer mit Ausnahme des Saarlandes. Mit Stand August 2020 ist der Windpark Harthäuser Wald mit 18 Anlagen und 54,9 Megawatt der größte und leistungsstärkste Windpark des Landes.
Medien.
In Baden-Württemberg produzieren fast 50 Zeitungsverlage täglich mehr als 220 unterschiedliche Tageszeitungen mit einer Auflage von mehr als zwei Millionen Exemplaren. Im Zeitungsbereich gibt es 17 Regionalzeitungen. Die auflagenstärksten (mindestens 80.000 Exemplare) sind die "Südwest Presse", die "Stuttgarter Nachrichten", die "Schwäbische Zeitung", der "Mannheimer Morgen", die "Badische Zeitung", die "Badischen Neuesten Nachrichten", die "Rhein-Neckar-Zeitung", die "Heilbronner Stimme" und die "Stuttgarter Zeitung". Die meisten Lokalzeitungen beziehen den Mantel von einer Regionalzeitung.
Über 500 Verlage in Baden-Württemberg produzieren jährlich über 10.000 Neuerscheinungen. Viele traditionsreiche Unternehmen wie beispielsweise der Ernst Klett Verlag, die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck oder die Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm haben ihren Stammsitz im Land. Weiterhin befindet sich in Offenburg der Sitz der Hubert Burda Media, einer der größten Verlags- und Medienkonzerne Deutschlands, der auch auf dem internationalen Markt von Bedeutung ist.
Die wichtigsten wissenschaftlichen Bibliotheken Baden-Württembergs sind die Württembergische Landesbibliothek und die Badische Landesbibliothek. In den 800 öffentlichen Bibliotheken des Landes in kommunaler Trägerschaft werden etwa 16 Millionen Medien verfügbar gehalten. Hinzu kommen mehrere hundert Bibliotheken in kirchlicher Trägerschaft.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird vom Südwestrundfunk betrieben, der auch Klangkörper unterhält, die zu den führenden in Europa gehören: das SWR Symphonieorchester, das SWR Vokalensemble Stuttgart sowie die SWR Big Band Stuttgart.
Im privaten Hörfunk gibt es neben 13 Lokalsendern drei regionale Bereichssender (Radio Regenbogen, Antenne 1, Radio 7) und einen überregionalen Sender vorwiegend für junge Menschen (bigFM). Zwölf nichtkommerzielle private Hörfunkveranstalter, wie beispielsweise Bermudafunk, Querfunk oder radioaktiv, und fünf Lernradios ergänzen das Angebot.
Die Sender BWeins, HD Campus TV und Baden TV bieten ein privates Fernsehlandesprogramm. Darüber hinaus gibt es 14 regionale Fernsehsender wie das Rhein-Neckar Fernsehen, Regio TV Schwaben oder RTF.1 Neckar-Alb. Acht private bundesweite Veranstalter senden aus Baden-Württemberg.
Tourismus.
Pro Jahr werden im Fremdenverkehrsgewerbe Baden-Württemberg rund 49 Millionen Übernachtungen gezählt. Das mittelständisch geprägte Tourismusgewerbe trägt rund fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Der Tourismus bietet etwa 200.000 Arbeitsplätze sowie 8000 Ausbildungsplätze. Da die Arbeitsplätze standortgebunden sind, gelten sie als relativ sicher.
Der Schwarzwald ist die wichtigste Erholungsregion in Baden-Württemberg und das meistbesuchte Urlaubsziel unter den deutschen Mittelgebirgen. Er ist insbesondere für seine romantischen Täler, Schluchten, Mühlen und die typischen Bauernhöfe sowie als Herkunftsort der Kuckucksuhr bekannt. Er ist auch wegen seines guten Wegenetzes mit Fernwanderwegen wie dem Westweg ein beliebtes Wandergebiet. Rund um den Feldberg (1493 m), dem höchsten Berg im Schwarzwald, sowie in vielen anderen Orten des Schwarzwalds hat der Wintersport eine lange Tradition.
Der Bodensee mit der Alpenkette im Hintergrund ist ebenfalls ein gut besuchtes Reiseziel und auch Naherholungsziel für die Städter; hier finden sich mit den Pfahlbauten Unteruhldingen und der zum UNESCO-Welterbe zählenden Klosterinsel Reichenau Zeugnisse unterschiedlichster Epochen. Am See haben die Blumeninsel Mainau und die alten Städte Konstanz und Meersburg die höchsten Besucherzahlen. Nicht weit von der Region um den Bodensee liegen das Donautal sowie Oberschwaben mit den alten reichsstädtisch geprägten Kleinstädten Biberach an der Riß und Ravensburg. Die Oberschwäbische Barockstraße führt durch dieses Zentrum des Barocks nördlich der Alpen.
Das württembergische Allgäu lockt mit seiner Landschaft und vielen Wandermöglichkeiten, ebenso wie weiter nördlich der Naturpark Schwäbisch-Fränkischer Wald.
Die Schwäbische Alb ist für ihre kleinen romantischen Städte (z. B. Bad Urach), die Heidelandschaften, die ausgedehnten Wälder, die Höhlen, Burgen und Schlösser bekannt (Burg Hohenzollern, Schloss Lichtenstein, Schloss Sigmaringen). Baden-Württemberg hat rund 60 Heilbäder und Kurorte, insbesondere im Schwarzwald und in Oberschwaben.
Anziehungspunkte für Städtereisende sind auch die Kurstadt Baden-Baden mit ihrer berühmten Spielbank, die von ihrer akademischen Bevölkerung geprägten alten Universitätsstädte Heidelberg (Heidelberger Schloss und Altstadt), Freiburg im Breisgau (Münster und „Bächle“ in der Altstadt) und Tübingen (am Rande des idyllischen Waldes Schönbuch gelegen, auch bekannt für seine Stocherkähne auf dem Neckar), die alten Reichsstädte Esslingen am Neckar, Reutlingen und Ulm und die zentral gelegene Landeshauptstadt Stuttgart mit dem zoologisch-botanischen Garten Wilhelma, der Staatsgalerie und den Automobilmuseen (Mercedes-Benz, Porsche). Neben der Wilhelma gibt es weitere Botanische Gärten in Freiburg, Heidelberg, Hohenheim, Karlsruhe, Konstanz, Tübingen, und in Ulm, der Stadt mit dem höchsten Kirchturm der Welt.
Der Europa-Park im südbadischen Rust ist Deutschlands größter Freizeitpark mit über fünf Millionen Besuchern im Jahr. Auch der Erlebnispark Tripsdrill bei Cleebronn, der erste Freizeitpark in Deutschland, ist sehr bekannt.
Beliebt sind auch die badische und die schwäbische Gastronomie sowie die badischen und württembergischen Weine. Im Schwarzwaldort Baiersbronn befinden sich mit der Schwarzwaldstube und dem Restaurant Bareiss zwei Restaurants, die vom Guide Michelin mit drei Sternen ausgezeichnet sind. Insgesamt befinden sich 74 Sternelokale in Baden-Württemberg.
Verkehr.
Straßenverkehr.
Die wichtigsten Autobahnen sind in Süd-Nord-Richtung die A 5 (von Basel über Karlsruhe bis Weinheim und weiter Richtung Frankfurt am Main) und die A 81 (von Singen am Hohentwiel über Stuttgart nach Würzburg). Weiter östlich stellt die A 7, die allerdings nur auf einem kurzen Abschnitt zwischen Ulm und Ellwangen durch baden-württembergisches Gebiet verläuft, eine weitere Süd-Nord-Verbindung dar.
In West-Ost-Richtung haben die A 6 (von Saarbrücken kommend über Mannheim und Heilbronn nach Crailsheim und weiter Richtung Nürnberg) und die A 8 (von Karlsruhe über Stuttgart nach Ulm und weiter Richtung München) die größte Bedeutung. Besondere straßenbauliche Herausforderung war und ist der Albaufstieg, der auf 16 km Länge rund 380 m Höhendifferenz vom Albvorland bis zur Albhochfläche überwindet.
Beide West-Ost-Autobahnen liegen weitgehend in der nördlichen Hälfte des Landes, in der bergigen Südhälfte fehlt eine durchgehende West-Ost-Autobahn. Der Verkehr in diesen Richtungen wird hier durch Bundesstraßen aufgenommen, wie z. B. durch die B 31, welche durch den Südschwarzwald sowie am nördlichen Bodenseeufer entlangführt und dabei die Autobahnen 5, 81 und 96 miteinander verbindet. Letztere erschließt den äußersten Südosten des Landes. Lediglich am Rande des Hochrheins entsteht derzeit nach und nach eine neue Autobahn, die A 98, von der es bereits einige Teilstücke gibt.
Gerade die Autobahnen um die Großstädte Baden-Württembergs werden vor allem während der Stoßzeiten von sehr starkem Verkehr belastet. Staus von über 25 Kilometern Länge sind auch außerhalb von Urlaubszeiten keine Seltenheit.
Die meistbefahrene Kreuzung Baden-Württembergs ist die als "Echterdinger Ei" bekannte Anschlussstelle Stuttgart-Degerloch, welche die Kreuzung der A 8 mit der autobahnähnlich ausgebauten B 27 bildet. Es liegt einige Kilometer östlich des Autobahnkreuzes Stuttgart und wird jeden Tag von 170.000 bis 180.000 Fahrzeugen befahren.
Die Länge der Autobahnen im Land beträgt 1039 km, die Länge der Bundesstraßen 4410 Kilometer. Die Landesstraßen sind 9893 Kilometer lang, die Kreisstraßen 12.074 Kilometer. (Stand 2007)
Schienenverkehr.
Das Schienennetz der DB Netz AG im Land umfasst 3400 Kilometer Strecke, auf denen 6400 Kilometer Gleise verlegt und 9500 Weichen eingebaut sind. Rund 1400 Bahnübergänge sind vorhanden. Auf diesem Netz finden täglich 6500 Zugfahrten statt, die dabei 310.000 Kilometer zurücklegen.
Weitere Strecken werden von anderen Eisenbahninfrastrukturunternehmen betrieben; die bedeutendsten sind die Württembergische Eisenbahn-Gesellschaft, die SWEG Südwestdeutsche Landesverkehrs-GmbH, die seit 2018 zur SWEG gehörende Hohenzollerische Landesbahn und die Karlsruher Albtal-Verkehrs-Gesellschaft. Die Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg bestellt im Auftrag des Landes den Schienenpersonennahverkehr in Baden-Württemberg. Das Karlsruher Modell als Innovation verbindet technologisch die Systeme Eisenbahn und Straßenbahn und wird an vielen Stellen weltweit nachgeahmt.
Das Land Baden-Württemberg fördert die Realisierung von Schienenwegeprojekten, die in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fallen. Bis 2017 wurden Förderungen in Höhe von 2,4 Milliarden Euro erteilt, was mehr als der Summe der Förderungen aller übrigen Bundesländer entsprach. Zu den geförderten Vorhaben zählten Stuttgart 21, die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm, die Ausbau- und Neubaustrecke Karlsruhe–Basel sowie die Südbahn.
Schifffahrt.
Der Rhein hat bis Basel und der Neckar bis Plochingen den Status von Bundeswasserstraßen. Am Zusammenfluss in Mannheim liegt der Hafen Mannheim, einer der bedeutendsten Binnenhäfen Europas. Weitere große Häfen sind die Rheinhäfen Karlsruhe mit dem größten Ölbinnenhafen Europas, der Hafen Heilbronn und der Hafen in Kehl. Auf den Flüssen wird auch Fahrgastschifffahrt im Ausflugs- und Freizeitverkehr betrieben. Auf dem Bodensee verkehren die Autofähren, Personenschiffe und Ausflugsboote der "Weißen Flotte".
Luftverkehr.
Baden-Württemberg verfügt über vier Verkehrsflughäfen. Der internationale Flughafen Stuttgart ist der sechstgrößte Deutschlands. Der Flughafen Karlsruhe/Baden-Baden bei Rastatt erfuhr einen Aufschwung durch die Angebote von Billigfluglinien und ist der zweitgrößte im Bundesland. Ein weiterer Regionalflughafen befindet sich in Friedrichshafen. Die Regionen Oberrhein und Hochrhein-Bodensee profitieren zudem von den grenznahen Flughäfen Flughafen Basel-Mülhausen, Flughafen Straßburg und Flughafen Zürich. Der Flughafen Lahr ist ein Frachtflughafen; im Personenluftverkehr hat er zudem die Lizenz als Zubringerflughafen für den Europapark Rust. Mannheim besitzt mit dem Flugplatz Mannheim City einen bedeutenden Verkehrslandeplatz.
Kultur.
Mit der Klosterinsel Reichenau im Bodensee, der Zisterzienserabtei Kloster Maulbronn und den Höhlen der ältesten Eiszeitkunst liegen drei Stätten des UNESCO-Welterbes vollständig in Baden-Württemberg. An vier weiteren Welterbestätten hat das Land Anteil: An den Prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen mit Fundstätten überwiegend um Bodensee und Federsee; am Obergermanisch-Raetischen Limes im Norden und Osten des Landes; zwei Häuser in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung wurden 2016 als Teil des architektonischen Werks von Le Corbusier in die Welterbeliste aufgenommen; Baden-Baden erhielt den Welterbe-Status 2021 als eine der bedeutenden Kurstädte Europas.
In der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe wird die Ausgabe C des Nibelungenlieds aufbewahrt. Die drei vollständigen Handschriften aus dem 13. Jahrhundert wurden gemeinsam im Juli 2009 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe ernannt.
Der Barbarastollen ist ein stillgelegter Versorgungsstollen bei Oberried in der Nähe von Freiburg im Breisgau. Als einziges Objekt in Deutschland unterliegt der Barbarastollen dem Sonderschutz nach den Regeln der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. Er dient seit 1975 als "Zentraler Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland" zur Lagerung von fotografisch archivierten Dokumenten mit hoher national- oder kulturhistorischer Bedeutung. In Europa ist er das größte Archiv zur Langzeitarchivierung. Seit 1978 ist der Bergungsort auch in das Internationale Register der Objekte unter Sonderschutz bei der UNESCO in Paris eingetragen.
Im Creative Cities Network der UNESCO sind die Städte Heidelberg (UNESCO City of Literature), Karlsruhe (UNESCO City of Media Arts) und Mannheim (UNESCO City of Music) vertreten.
Im Süden und entlang des Rheins wird die schwäbisch-alemannische Fastnacht gefeiert. Das Cannstatter Volksfest wird nach dem Münchner Oktoberfest als zweitgrößtes Volksfest der Welt bezeichnet. Seit 1978 werden im Land die Heimattage Baden-Württemberg veranstaltet.
Religionen und Weltanschauungen.
Während 2001 noch 74 Prozent einer der beiden großen Konfessionen angehörten, waren es 2019 noch 60 Prozent und 2022 nur noch 57 Prozent. Wie überall in Deutschland steigt die Zahl von Menschen, die keiner oder anderen Religionen (z. B. Islam) zugehörig sind.
Für Baden-Württemberg wurden folgende Mitgliederzahlen der Religionsgemeinschaften veröffentlicht:
Unabhängig von der Kirchensteuer zahlt Baden-Württemberg jährlich über 130 Millionen Euro an Staatsleistungen an die römisch-katholische und die evangelische Kirche.
"Siehe auch: Erzbistum Freiburg, Bistum Mainz und Diözese Rottenburg-Stuttgart, Evangelische Landeskirche in Baden und in Württemberg, Neuapostolische Kirche Süddeutschland, Alt-Katholische Kirche in Deutschland #Verbreitung nach Bundesländern"
Sprachen und Dialekte.
Amts- und Verkehrssprache ist Deutsch. Zahlreiche weitere Sprachen und Dialekte werden von jenen gesprochen, die aus anderen Sprach- oder Mundartregionen kommen oder einen entsprechenden Migrationshintergrund haben.
Die angestammten Dialekte werden von Sprachwissenschaftlern in oberdeutsche und mitteldeutsche Mundarten gruppiert:
Zwischen den Mundarträumen bestehen Übergangsgebiete, die sich keinem der Räume eindeutig zuordnen lassen. Es existieren vor allem südfränkisch-schwäbische (unter anderem um Calw, um Pforzheim, Strohgäu, Zabergäu), südfränkisch-niederalemannische (um Baden-Baden und Rastatt) und schwäbisch-niederalemannische (Oberschwaben) Übergangsgebiete. Vor allem in diesen Gegenden wird die Unschärfe der germanischen Dialektgliederung deutlich. Neuere Entwicklungen sind das Eindringen schwäbischer Dialektmerkmale nach Heilbronn und Schwäbisch Hall.
Das Land wird auch außerhalb der Landesgrenze mit (vor allem schwäbischen) Dialektsprechern assoziiert, so etwa bei der klischeehaften Identifizierung von Schwaben in Berlin. Die Landesregierung unter Erwin Teufel griff dies 1999 auf, indem sie den Werbespruch „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ prägte. Bekannte Mundartkünstler sind z. B. die Dichter bzw. Schriftsteller Thaddäus Troll und Harald Hurst, der Volksschauspieler und Komiker Willy Reichert, der Schauspieler Walter Schultheiß und der Kabarettist Christoph Sonntag. Es gibt Fernsehsendungen im Dialekt wie z. B. Hannes und der Bürgermeister. Auch der Kinofilm bzw. die Fernsehserie "Die Kirche bleibt im Dorf" wurden in Mundart verfilmt. Eine Verschriftlichung der Mundart wie in Luxemburg steht hingegen nicht zur Debatte.
Sport.
Als Dachorganisationen für den Sport in Baden-Württemberg gibt es die drei Landessportbünde Württembergischer Landessportbund (WLSB), Badischer Sportbund Freiburg (BSB) und Badischer Sportbund Nord (BSB Nord). Übergeordneter Verband ist der Landessportverband Baden-Württemberg (LSV), der auch Mitglied im Deutschen Olympischen Sportbund ist.
Fußball.
Stuttgart war Spielort der Fußball-Weltmeisterschaften 1974 und 2006. In der Fußball-Bundesliga spielen mit dem fünfmaligen deutschen Meister und dreifachen Pokalsieger VfB Stuttgart, dem SC Freiburg und der TSG 1899 Hoffenheim drei Vereine aus Baden-Württemberg. In der 2. Bundesliga spielen der 1. FC Heidenheim, der Karlsruher SC sowie der SV Sandhausen. In der 3. Liga ist der SV Waldhof Mannheim und die 2. Mannschaft des SC Freiburg aktiv. Die ehemaligen Bundesligisten SSV Ulm 1846 und Stuttgarter Kickers spielen derzeit in der Regionalliga Südwest bzw. in der Oberliga Baden-Württemberg. Aus dem heutigen Baden-Württemberg kommen auch die ehemaligen Deutschen Meister Freiburger FC (1907), FC Phönix Karlsruhe (1909), Karlsruher FV (1910) und VfR Mannheim (1949). In der Frauen-Bundesliga spielen der SC Freiburg und die TSG 1899 Hoffenheim. Ehemalige Bundesligisten sind: SC Sand, VfL Sindelfingen, TSV Crailsheim, SC Klinge Seckach, TSV Ludwigsburg, TuS Binzen und VfL Ulm/Neu-Ulm.
Der baden-württembergische Fußball wird von drei regionalen Landesverbänden organisiert: Badischer Fußballverband (BFV), Südbadischer Fußball-Verband (SBFV) und Württembergischer Fußball-Verband (WFV).
Handball.
Frisch Auf Göppingen gewann 1960 und 1962 den Europapokal der Landesmeister, zwischen 1954 und 1972 neun Mal die Deutsche Meisterschaft und in den 2010er Jahren viermal den EHF-Pokal. Die Rhein-Neckar Löwen wurden 2016 und 2017 Deutscher Meister und 2018 Pokalsieger. In der Handball-Bundesliga der Männer spielt außerdem der TVB 1898 Stuttgart. In der Frauen-Bundesliga sind mit der SG BBM Bietigheim (Deutscher Meister 2017, 2019 und 2022, Vizemeister 2018 und 2020), dem TuS Metzingen (Vizemeister 2016), der Sport-Union Neckarsulm und dem VfL Waiblingen vier Teams vertreten.
Basketball.
In der Basketball-Bundesliga sind die die MHP Riesen Ludwigsburg, Ratiopharm Ulm, die Crailsheim Merlins und die MLP Academics Heidelberg beheimatet. In der ProA (zweite Basketball-Bundesliga) spielen die Kirchheim Knights, die PS Karlsruhe Lions, die Wiha Panthers Schwenningen und das Team Ehingen Urspring.
Volleyball.
Die Männer-Mannschaft des VfB Friedrichshafen gewann 2007 die Volleyball Champions League und wurde 13-mal Deutscher Meister und 17-mal Pokalsieger. Die Frauen-Mannschaft von Allianz MTV Stuttgart wurde 2019 und 2022 Deutscher Meister sowie von 2015 bis 2018 und 2021 Vizemeister. Zudem gewann sie viermal den DVV-Pokal. CJD Feuerbach gewann von 1989 bis 1991 die Deutsche Meisterschaft der Frauen und wurde viermal Pokalsieger.
Eishockey.
In der Deutschen Eishockey Liga spielen der achtfache deutsche Meister Adler Mannheim, die Schwenninger Wild Wings und die Bietigheim Steelers. In der DEL2 sind die Ravensburg Towerstars, die Heilbronner Falken sowie der EHC Freiburg vertreten.
Wintersport.
Internationale Skisprung-Wettbewerbe werden auf der Hochfirstschanze in Titisee-Neustadt und im Adler-Skistadion in Hinterzarten veranstaltet. Eine traditionsreiche Veranstaltung in der Nordischen Kombination ist der Schwarzwaldpokal in Schonach. Aus dem Schwarzwald stammen Olympiasieger und Weltmeister in nordischen Disziplinen wie Georg Thoma, Dieter Thoma und Martin Schmitt. Alpine Skiwettbewerbe finden im Feldberg-Gebiet bei Todtnau-Fahl statt, in der Heimat des ältesten deutschen Skiclubs, des Skiclub Todtnau 1891 e. V.
Tennis.
In Stuttgart finden zwei international bedeutende Tennisturniere statt: Der "MercedesCup" der Männer auf der Anlage des TC Weissenhof ist Teil der ATP Tour 250. Der "Porsche Tennis Grand Prix" der Frauen in der Porsche-Arena gehört zur WTA Tour.
Das Männerteam des TK Grün-Weiss Mannheim spielt in der 1. Bundesliga. Das Frauenteam des TEC Waldau Stuttgart wurde 2005 Sieger der Bundesliga, das des TC Weissenhof zwischen 1975 und 1989 vier Mal Deutscher Mannschaftsmeister. Der TC Rüppurr aus Karlsruhe gehörte lange der 1. Herren- und aktuell der 1. Damen-Bundesliga an.
Aus dem nordbadischen Landesteil stammen die ehemaligen Weltranglistenersten Steffi Graf und Boris Becker.
Leichtathletik.
Stuttgart war Austragungsort der Leichtathletik-Europameisterschaften 1986 und -Weltmeisterschaften 1993. Von 2006 bis 2008 fand hier das Leichtathletik-Weltfinale statt. Danach wurde die Mercedes-Benz Arena in ein reines Fußballstadion umgebaut. Das Internationale Hochsprung-Meeting Eberstadt wurde von 1979 bis 2018 jährlich ausgetragen.
Motorsport.
Der Hockenheimring zählt zu den bedeutendsten Motorsport-Rennstrecken in Deutschland. Er gehörte bis 2019 zu den Austragungsorten für den Großen Preis von Deutschland in der Formel 1 und ist Schauplatz des Eröffnungsrennens sowie des Finales der DTM.
In Holzgerlingen, Gaildorf und Reutlingen fanden Läufe zur Motocross-Weltmeisterschaft statt. In Rudersberg werden WM-Läufe mit Seitenwagen veranstaltet. In Berghaupten und Hertingen fanden Läufe zur Langbahn-Welt- und Europameisterschaft statt.
Weitere Sportarten.
Erfolgreichster Hockeyverein ist der HTC Stuttgarter Kickers, welcher 2005 die deutsche Meisterschaft und 2006 den Europapokal der Landesmeister gewann. Aktuell spielt der Mannheimer HC sowohl bei den Damen als auch bei den Herren in der Feldhockey-Bundesliga, außerdem der TSV Mannheim bei den Damen. In der Deutschen Wasserball-Liga sind der der SV Cannstatt (Deutscher Meister 2006), der SSV Esslingen und der SV Ludwigsburg 08. Die Frauen der TSG Backnang 1920 Schwerathletik wurden 2017 und 2018 Deutscher Judo-Mannschaftsmeister. Bei den Männern belegte der KSV Esslingen seit 2011 sechsmal den zweiten Platz.
In der Baseball-Bundesliga Süd spielen der deutsche Rekordmeister Mannheim Tornados, der vierfache Deutsche Meister Heidenheim Heideköpfe, die Stuttgart Reds und die Ulm Falcons. Im American Football gewannen die Schwäbisch Hall Unicorns 2011, 2012, 2017 und 2018 den German Bowl. Außerdem spielen in der German Football League die Stuttgart Scorpions. Heidelberg ist neben Hannover das Zentrum des Rugbysports in Deutschland. Die dortigen Vereine Heidelberger RK, RG Heidelberg und SC Neuenheim holten in der Bundesliga insgesamt 18 deutsche Meisterschaften. Im Schach gewann die OSG Baden-Baden von 2006 bis 2015 sowie 2017 und 2018 zwölf Mal die deutsche Meisterschaft. In der Bundesliga ist Baden-Württemberg außerdem mit dem SV 1930 Hockenheim, den SF Deizisau und dem SK Schwäbisch Hall vertreten. Pferderennen werden seit 1858 auf dem Rennplatz Iffezheim bei Baden-Baden ausgetragen.
Bildung.
Schulen.
In Baden wurde mit dem Mannheimer Schulsystem der Vorläufer des modernen Schulsystems entwickelt. Heute folgt in Baden-Württemberg nach der vierjährigen Grundschule ein vielgliedriges Schulsystem mit Hauptschule und Werkrealschule, Realschule, Gymnasium und Gemeinschaftsschule. Schüler mit und ohne Behinderung werden gemeinsam erzogen und unterrichtet (inklusive Pädagogik). Die sonderpädagogische Beratung, Unterstützung und Bildung findet in den allgemeinen Schulen statt, soweit Schüler mit Anspruch auf ein entsprechendes Bildungsangebot kein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum besuchen. In ganz Baden-Württemberg gibt es lediglich drei integrierte Gesamtschulen in Freiburg, Heidelberg und Mannheim, die als Schulen besonderer Art im Schulgesetz für Baden-Württemberg eine Sondergenehmigung erhalten haben.
Des Weiteren führt Baden-Württemberg als einziges Land in Deutschland die besondere Form des „sechsjährigen Wirtschaftsgymnasiums“, welches das bundesweit einzige berufliche Gymnasium ist, das bereits mit der gymnasialen Mittelstufe beginnt. Der Besuch beginnt in der achten Klassenstufe und endet in Jahrgangsstufe 13 mit der allgemeinen Hochschulreife. Nach dem Regierungswechsel 2011 führte die Landesregierung (Kabinett Kretschmann I) als neue Schulform in Baden-Württemberg die Gemeinschaftsschule ein, die meist aus ehemaligen Hauptschulen (bzw. Werkrealschulen), vereinzelt auch aus Realschulen gebildet wurden. Zum Schuljahr 2013/14 gab es 129 Gemeinschaftsschulen im Land, weitere 81 folgen 2014.
Hochschulen.
Baden-Württemberg verfolgt eine dezentrale Bildungs-, Hochschul- und Forschungsinfrastruktur. Die Hochschulen sind über das ganze Land verteilt. Insgesamt liegen über ein Viertel aller Hochschulstandorte im ländlichen Raum.
In Baden-Württemberg gibt es neun staatliche Universitäten, sechs pädagogische Hochschulen (Universitäten gleichgestellt) sowie die private Zeppelin-Universität und 73 staatliche und private Hochschulen.
Die baden-württembergischen Hochschulen gehören zu den renommiertesten in Deutschland. In einer Hochschulplatzierung des Magazins "Focus" (2005) wurden sechs baden-württembergische Universitäten unter die besten zehn eingestuft. In Heidelberg befindet sich die älteste Universität in Deutschland; außerdem gibt es noch Universitäten in Freiburg, Konstanz, Mannheim, Stuttgart, Tübingen, Stuttgart-Hohenheim, Ulm, in Nachfolge der Universität Karlsruhe das Karlsruher Institut für Technologie sowie die private Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. 2006 wurde die ehemalige Universität Karlsruhe bei der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder als eine von bundesweit drei zu fördernden Universitäten mit „Zukunftskonzepten“ ausgewählt. In der zweiten Runde der Exzellenzinitiative folgten 2007 die Universitäten Heidelberg, Konstanz und Freiburg als zu fördernde Hochschulen nach, sodass zeitweise vier von insgesamt neun der durch die Exzellenzinitiative in allen drei Förderlinien geförderten deutschen Universitäten in Baden-Württemberg lagen. Im Zuge der dritten Runde der Exzellenzinitiative im Jahr 2012 verloren das Karlsruher Institut für Technologie und die Universität Freiburg diesen Status, während die Universität Tübingen erstmals diese Auszeichnung erlangte. Im Jahr 2019 konnten vier baden-württembergische Universitäten im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder den Titel „Exzellenzuniversität“ erringen (welcher insgesamt elf Mal vergeben wurde) und somit deutlich mehr als in jedem anderen Bundesland. Bei den ausgezeichneten Universitäten handelt es sich um die Universität Heidelberg, das Karlsruher Institut für Technologie, die Universität Konstanz und die Universität Tübingen. Zwei weitere – die Universitäten in Freiburg und Stuttgart – erreichten darüber hinaus das Finale der Exzellenzstrategie.
Die staatlichen Fachhochschulen tragen in Baden-Württemberg seit 2006 den Titel "Hochschule". Seit 2022 gehören diese Hochschulen dem Promotionsverband der Hochschulen für angewandte Wissenschaften Baden-Württemberg an, der das Promotionsrecht besitzt. Neben einer Vielzahl von weiteren Hochschulen, wie "Kunst- und Musikhochschulen" oder "pädagogischen Hochschulen" wird der tertiäre Bildungsbereich durch die Duale Hochschule Baden-Württemberg ergänzt. Bundesweit einzigartig ist die Popakademie Baden-Württemberg. In Ludwigsburg befindet sich die renommierte Filmakademie Baden-Württemberg. |
478 | 3511398 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=478 | Betriebssystem | Ein Betriebssystem, auch OS (von ) genannt, ist eine Zusammenstellung von Computerprogrammen, die die Systemressourcen eines Computers wie Arbeitsspeicher, Festplatten, Ein- und Ausgabegeräte verwaltet und diese Anwendungsprogrammen zur Verfügung stellt.
Das Betriebssystem bildet dadurch die Schnittstelle zwischen den Hardware-Komponenten und der Anwendungssoftware des Benutzers. Betriebssysteme bestehen in der Regel aus einem Kernel (deutsch: Kern), der die Hardware des Computers verwaltet, sowie speziellen Programmen, die beim Start unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Zu diesen Aufgaben gehört unter anderem das Laden von Gerätetreibern. Betriebssysteme finden sich in fast allen Arten von Computern: Als Echtzeitbetriebssysteme auf Prozessrechnern und eingebetteten Systemen, auf Personal Computern, Tabletcomputern, Smartphones und auf größeren Mehrprozessorsystemen wie z. B. Servern und Großrechnern.
Die Aufgaben eines Betriebssystems lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Benutzerkommunikation; Laden, Ausführen, Unterbrechen und Beenden von Programmen; Verwaltung und Zuteilung der Prozessorzeit; Verwaltung des internen Speicherplatzes für Anwendungen; Verwaltung und Betrieb der angeschlossenen Geräte; Schutzfunktionen z. B. durch Zugriffsbeschränkungen. Die Gewichtung zwischen diesen Aufgaben wandelte sich im Laufe der Zeit, insbesondere wird Schutzfunktionen wie dem Speicherschutz oder begrenzten Benutzerrechten heute eine höhere Bedeutung zugemessen als noch in den 1990er Jahren. Dies macht Systeme allgemein robuster, reduziert z. B. die Zahl der Programm- und Systemabstürze und macht das System auch stabiler gegen Angriffe von außen, etwa durch Computerviren.
"Dieser" Artikel behandelt den Begriff „Betriebssystem“ hauptsächlich im Kontext „allgemein zur Informationsverarbeitung verwendete Computersysteme“. Daneben sind Betriebssysteme (mit ggf. spezialisierter Funktionalität) grundsätzlich in nahezu allen Geräten im Einsatz, in denen Software betrieben wird (wie Spielecomputer, Mobiltelefone, Navigationssysteme, Maschinen der Maschinenbaubranchen u. v. a.). Auch viele Steuerungssysteme (eingebettetes System) die z. B. in Flugzeugen, Autos, Zügen, oder in Satelliten zu finden sind, besitzen spezialisierte Betriebssysteme.
Definitionen und Abgrenzung.
Ein Betriebssystem übernimmt zwei wesentliche Aufgaben, die im Grunde in keinem direkten Zusammenhang zueinander stehen:
Die Gesamtheit aller Programme und Dateien, die sämtliche Abläufe bei Betrieb eines Rechners steuern, wird Systemsoftware genannt. Dazu gehören Betriebssysteme, aber auch systemnahe Software wie Compiler, Interpreter und Editoren. Anwendungssoftware wie beispielsweise Browser oder Buchhaltungssoftware benutzen die Systemsoftware für einen ordnungsgemäßen Ablauf. In der Literatur wird der Begriff „Betriebssystem“ innerhalb der Systemsoftware unterschiedlich breit interpretiert.
In der DIN-Sammlung 44300 (veraltet, ersetzt durch ISO/IEC 2382:2015 siehe: Liste der DIN-Normen/DIN 1–49999 unter DIN 44300) geht die Definition von seiner Aufgabe und Stellung in einer Programmhierarchie aus:
Für Andrew S. Tanenbaum beschränkt sich der Begriff Betriebssystem im Wesentlichen auf den Kernel: „Editoren, Compiler, Assembler, Binder und Kommandointerpreter sind definitiv nicht Teil des Betriebssystems, auch wenn sie bedeutsam und nützlich sind.“ Viele Lehrbücher folgen dieser engeren Sichtweise. Andere Autoren zählen unter anderem auch eine Kommandosprache zum Betriebssystem: „Außer die Hardware zu verwalten […], bieten moderne Betriebssysteme zahlreiche Dienste an, etwa zur Verständigung der Prozesse untereinander, Datei- und Verzeichnissysteme, Datenübertragung über Netzwerke und eine Befehlssprache.“ Eine noch weitere Fassung des Begriffes, die beispielsweise auch Editoren und Compiler umfasst, geht zum Teil auf ältere Werke des deutschen Sprachraums zurück, lässt sich aber auch in aktueller Literatur noch finden. So zählen die Autoren des Informatik-Dudens auch Übersetzungsprogramme und Dienstprogramme zu den wesentlichen Komponenten eines Betriebssystems. In jüngerer Zeit kann der GNU/Linux-Namensstreit als Beispiel für die Abgrenzungsprobleme angesehen werden.
Der Begriff des Betriebssystems ist in Artikel 3 der Richtlinie (EU) 2019/882 legal definiert.
Ungeachtet dessen, wie weit oder wie eng man den Begriff „Betriebssystem“ fasst, enthalten die Installationsmedien für Betriebssysteme für gewöhnlich zusätzliche Dienst- und Anwendungsprogramme.
Entwicklungsstufen.
Die Entwicklung von Computer-Betriebssystemen verlief und verläuft parallel zur Entwicklung und Leistungsfähigkeit verfügbarer Hardware: Beide Linien bedingten sich gegenseitig und ermöglichten bzw. erforderten Weiterentwicklungen auf der ‚anderen‘ Seite. Die Entwicklung verlief zum Teil in kleinen, manchmal in größeren Sprüngen:
Lochkarten verarbeitende Systeme (gilt sinngemäß auch für Lochstreifen) gehören mittlerweile (seit Anfang der 1970er Jahre) der Vergangenheit an. Jedoch sind sie ein guter Ansatz zur Betrachtung der Systementwicklung: In diesen räumlich relativ großen Systemen gab es noch keine externen elektronischen Speichermedien. Die Programme lagen (in Maschinensprache) in Form von Lochkartenstapeln vor und wurden durch den Operator über den Lochkartenleser in den internen Speicher ‚eingelesen‘. Nach der „Ende-Karte“ wurde das Anwendungsprogramm gestartet, das seine Eingabedaten je nach Aufgabenstellung ebenfalls über den Kartenleser lesen (deshalb der Begriff Stapelverarbeitung, engl. "batch processing", "queued systems") und seine Ergebnisse direkt über einen Drucker und/oder über den Kartenstanzer ausgeben musste. Vor- und nachgelagert waren, mithilfe elektro-mechanischer Geräte (Kartenlocher, Mischer, Sortierer) ausgeführt, Erfassungs-, Misch- und Sortiervorgänge erforderlich. Bereits zu diesem Zeitpunkt war die interne Verarbeitung deutlich schneller als die Ein-/Ausgabegeräte; das Lesen eines Lochkartenstapels (Karton mit 2000 Karten) dauerte ca. 5–10 Minuten, die Arbeitsspeichergrößen solcher Rechner lagen bei ca. 16 bis 64 kB (Beispiel siehe System/360).
Diese Maschinen besaßen kein konventionelles Betriebssystem, wie es heute geläufig ist. Lediglich ein Kontrollprogramm (resident monitor) wurde im Speicher gehalten und sorgte für den reibungslosen Ablauf, indem es die Kontrolle an die momentan auszuführenden Programme übergab. Der Rechner konnte stets nur ein Programm nach dem anderen ausführen.
Eine Weiterentwicklung – Multiprogrammed Batch Systems – konnte zusätzliche Geräte unterstützen (Magnetbandeinheiten, erste Magnetplatten mit z. B. 7,25 MB Speichervolumen), mehrere Programme gleichzeitig ausführen (z. B. in 3 'Partitionen') sowie Programme und Daten auf externen Speichern halten. Eine schnellere Abarbeitung war möglich, da die Zeit für das Lesen und Ausgeben der Kartenstapel entfiel – und die Prozessoren schneller wurden. Hier wurden Mechanismen wie das Spooling (Zwischenausgabe von Druckerdaten auf Magnetband mit verzögertem, parallel möglichem Drucken) und die Möglichkeit des Offline-Betriebs bereits ausgiebig genutzt. Jedoch war ein Programm nötig, welches sich der Aufgaben E/A-Verwaltung, Speicherverwaltung und vor allem CPU-Scheduling etc. annimmt. Ab diesem Zeitpunkt konnte man von ersten Betriebssystemen reden.
Die nächsten Schritte waren dann Folgen der jeweiligen Aufgabenbereiche, die den Systemen zukamen. Folgende Systeme sind entstanden und bis zum heutigen Tage im Einsatz: Parallele Systeme, Verteilte Systeme, Personal-Computer-Systeme, Time-Sharing-Systeme, Real-Time-Systeme und in neuester Zeit auch die Personal Digital Assistants und Smartphones.
Im PC-Bereich sind derzeit die meistgenutzten Betriebssysteme die verschiedenen Varianten von Windows von Microsoft (führend bei Systemen mit GUI), BSD inkl. macOS von Apple (am weitesten verbreitetes Desktop-Unix) und GNU/Linux (führend bei Servern). Für spezielle Anwendungen (Beispiel: industrielle Steuerung) werden auch experimentelle Betriebssysteme für Forschungs- und Lehrzwecke eingesetzt.
Neben den klassischen Varianten gibt es noch spezielle Betriebssysteme für verteilte Systeme, bei denen zwischen dem logischen System und den physischen System(en) unterschieden wird. Der logische Rechner besteht aus mehreren physischen Rechnereinheiten. Viele Großrechner, Number-Cruncher und die Systeme aus dem Hause Cray arbeiten nach diesem Prinzip. Eines der bekanntesten Betriebssysteme im Bereich verteilte Systeme ist Amoeba.
Aufgaben.
Zu den Aufgaben eines Betriebssystems gehören meist:
Als Gerät aus der Sicht eines Betriebssystems bezeichnet man aus historischen Gründen alles, was über Ein-/Ausgabekanäle angesprochen wird. Dies sind nicht nur Geräte im herkömmlichen Sinn, sondern mittlerweile auch interne Erweiterungen wie Grafikkarten, Netzwerkkarten und anderes. Die (Unter-)Programme zur Initialisierung und Ansteuerung dieser „Geräte“ bezeichnet man zusammenfassend als Gerätetreiber.
Betriebsmittelverwaltung und Abstraktion.
Als Betriebsmittel oder Ressourcen bezeichnet man alle von der Hardware eines Computers zur Verfügung gestellten Komponenten, also den Prozessor (bei Mehrprozessorsystemen die Prozessoren), den physischen Speicher und alle Geräte wie Festplatten-, Disketten- und CD-ROM-Laufwerke, Netzwerk- und Schnittstellenadapter und andere. Die "Hardware Compatibility List" enthält alle Hardware-Produkte, die im Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebssystem auf ihre Funktionalität hin getestet wurden.
Einführendes Beispiel: Zeitgeberbausteine.
Moderne Rechnersysteme besitzen Zeitgeberbausteine (Timer). In frühen PCs wurde z. B. der Baustein 8284 des Unternehmens Intel eingesetzt. Dieser Baustein muss zunächst initialisiert werden. Er kann dann nach Ablauf einer Zeitspanne oder periodisch den Prozessor unterbrechen und ihn zur Abarbeitung einer eigenen Routine veranlassen. Neben der Initialisierung ist eine Unterbrechungsroutine zu erstellen, deren Aufruf in einer dafür geeigneten Sprache (meist Assembler) programmiert werden muss. Da Unterbrechungen asynchron auftreten, sind komplexe Verhältnisse hinsichtlich der Datenstrukturen zu berücksichtigen. Genaue Kenntnisse des Bausteins (Datenblatt), der Computerhardware (Unterbrechungsbehandlung) und des Prozessors sind erforderlich. Die einzelnen Komponenten, die an diesem Prozess beteiligt sind, fasst man unter dem Begriff Rechnerarchitektur zusammen.
Virtuelle Prozessoren.
Ein modernes Mehrprogrammbetriebssystem verwendet einen solchen Zeitgeberbaustein, um den normalerweise einzigen Prozessor periodisch (normalerweise im Millisekundenbereich) zu unterbrechen und eventuell mit einem anderen Programm fortzufahren (sogenanntes präemptives Multitasking). Die Initialisierung und die Unterbrechungsroutine werden dabei vom Betriebssystem implementiert. Auch wenn nur ein einzelner Prozessor zur Verfügung steht, können mehrere Programme ausgeführt werden, jedes Programm erhält einen Teil der Prozessorzeit (Scheduling). Jedes Programm verhält sich, bis auf die verlangsamte Ausführungszeit, so, als hätte es einen eigenen "virtuellen Prozessor".
Virtuelle Zeitgeber.
Über einen Systemruf, zum Beispiel "alarm", wird jedem Programm darüber hinaus ein eigener "virtueller Zeitgeber" zur Verfügung gestellt. Das Betriebssystem zählt die Unterbrechungen des Original-Zeitgebers und informiert Programme, die den "alarm"-Systemruf verwendeten. Die einzelnen Zeitpunkte werden über eine Warteschlange verwaltet.
Abstraktion.
Die Hardware des Zeitgebers ist damit vor den Programmen verborgen. Ein System mit Speicherschutz erlaubt den Zugriff auf den Zeitgeberbaustein nur über den Kernel und nur über exakt definierte Schnittstellen (meist Systemrufe genannt, die über spezielle Prozessorbefehle wie TRAP, BRK, INT realisiert werden). Kein Programm kann somit das System gefährden, die Verwendung des "virtuellen Zeitgebers" ist einfach und portabel. Der Anwender oder Programmierer braucht sich nicht um die (komplexen) Details zu kümmern.
Virtualisierung weiterer Betriebsmittel.
So wie Prozessoren und Zeitgeber "virtualisiert" werden, ist dies auch für alle anderen Betriebsmittel möglich. Dabei werden einige Abstraktionen teilweise nur als Software implementiert, andere erfordern spezielle Hardware.
Dateisysteme.
Über Dateisysteme werden die Details der externen Speichersysteme (Festplatten-, Disketten- oder CD-ROM-Laufwerke) verborgen. Dateinamen und Verzeichnisse erlauben den bequemen Zugriff, die eigentlich vorhandene Blockstruktur und die Geräteunterschiede sind vollkommen unsichtbar.
Interner Speicher.
Der interne Speicher (RAM) wird auch Arbeitsspeicher genannt und vom Betriebssystem in Blöcke (Kacheln) aufgeteilt, die den geladenen Programmen auf Anforderung zur Verfügung gestellt werden. Meist wird der Speicher initialisiert, das bedeutet, dass dabei allenfalls noch vorhandene Daten zuvor gelöscht werden. Über "virtuellen Speicher" wird bei vielen Systemen jedem Programm ein kontinuierlicher (zusammenhängender) Bereich zur Verfügung gestellt. Die Virtuelle Speicherverwaltung erlaubt einen flexiblen Ansatz, bei dem der reale physisch vorhandene Speicher weder zusammenhängend sein muss (Segmentierung), noch muss er in Summe real wirklich so groß sein, wie es aus Sicht der Programme scheint. Stattdessen werden einzelne Speicherblöcke, , nach Bedarf zwischen Arbeitsspeicher (RAM) und externem Speicher (z. B. die Auslagerungsdatei) hin und her geschoben (Paging).
Netzwerk.
Die Details der Netzwerkzugriffe werden verborgen, indem auf die eigentliche Hardware (Netzwerkkarte) ein Protokollstapel aufgesetzt wird. Die Netzwerksoftware erlaubt beliebig viele "virtuelle Kanäle". Auf der Ebene der Sockets (Programmierung) ist die Netzwerkkarte vollkommen unsichtbar, das Netzwerk hat viele neue Fähigkeiten (bidirektionale, zuverlässige Datenströme, Adressierung, Routing) bekommen.
Bildschirm.
Als Grafische Benutzeroberfläche (GUI, Abk. für engl. "Graphical User Interface") wird generell eine Bildschirmausgabe beschrieben, wenn sie über eine Eingabeaufforderung hinausgeht.
Mit den richtigen Grafikkarten und Bildschirmen ist die Darstellung von geometrischen Objekten (Linien, Kreisen, Ellipsen, aber auch Schriftattributen und Farben) auf dem Bildschirm möglich, aus denen sich komplexere geometrische Elemente wie Knöpfe, Menüs, Benutzeroberflächen etc. zum einfachen Steuern von Programmen erstellen lassen.
Die Grafikkarte als Hardware ist für den Programmierer und Anwender vollkommen verborgen.
Geschichte.
Erste Betriebssysteme (bis 1980).
Die ersten Computer kamen ohne echtes Betriebssystem aus, da lediglich ein einziges Programm im Stapelbetrieb geladen sein konnte und die unterstützte Hardware noch sehr überschaubar war. Der erste Digitalrechner wurde von Charles Babbage (1792–1872) entwickelt. Er sah bereits die Notwendigkeit, seine „Analytische Maschine“ mit Software zu betreiben. Er stellte die Tochter des bekannten Dichters Lord Byron Ada Lovelace ein, um erste Programme zu schreiben. Ada Lovelace gilt als die erste Programmiererin. Charles Babbage gelang es nie, seine „Analytische Maschine“ vernünftig zum Laufen zu bringen. Zahnräder, Gestänge und andere mechanische Teile konnten nicht in der notwendigen Präzision hergestellt werden.
Nach den erfolglosen Versuchen von Charles Babbage wurden wenige Anstrengungen unternommen, ein weiteres Projekt Digitalrechner auf die Beine zu stellen. Erst vor dem Zweiten Weltkrieg wurden Babbages Ideen wieder aufgegriffen. Erste digitale Rechner wurden auf Basis von elektrischen Relais und Röhren realisiert. Zu den ersten Wissenschaftlern gehörten Howard Aiken von der Havard Universität, John von Neumann an der Princeton-Universität, John William Mauchly, John Presper Eckert in Pennsylvania und Konrad Zuse in Berlin. Die ersten Computer wurden von einem Team von Technikern entwickelt, welche für den Entwurf, den Bau, die Programmierung und Wartung solcher Maschinen verantwortlich waren. Programmiersprachen waren unbekannt und die Programme wurden mithilfe von Steckkarten realisiert, auf welchen die Programme mithilfe von elektrischen Drähten programmiert wurden. Da ein Computer nur ein einziges Programm ausführen konnte, waren Betriebssysteme unnötig. Eine Berechnung einer einzigen Aufgabe dauerte Sekunden, und die Ausführung eines Programmes Stunden, aber nur dann wenn die Computer mit Tausenden von Röhren oder Relais einwandfrei funktionierten. In den frühen 1950er Jahren wurden elektrische Drähte durch Lochkarten ersetzt.
Als Betriebssystem-Vorläufer gilt der 1956 in Gestalt des GM-NAA I/O bei General Motors für die IBM 704 erfundene "resident monitor," ein Stück Software, das nach Beendigung eines Stapelauftrags den Folgeauftrag automatisch startete. 1959 entstand daraus das SHARE Operating System (SOS), das bereits über eine rudimentäre Ressourcenverwaltung verfügte. Dessen Nachfolger IBSYS verfügte bereits über eine einfache Shell mit Kommandosprache.
1961 entstand mit dem Compatible Timesharing System (CTSS) für die IBM 7094 am MIT das erste Betriebssystem für Mehrbenutzerbetrieb. Das ermöglichte die quasi-gleichzeitige Benutzung der Rechenanlage durch mehrere Anwender mittels angeschlossener Terminals. Eine Vielzahl gleichzeitig geladener Programme erforderte es, die von ihnen beanspruchten Speicherbereiche voneinander abzugrenzen. Als Lösung entstand 1956 an der TU Berlin der Virtuelle Speicher und wurde Mitte der 1960er Jahre erstmals in Großrechner-Betriebssystemen umgesetzt.
Damals lieferte meist der Hersteller der Hardware das Betriebssystem, das nur auf einer bestimmten Modellreihe oder sogar nur auf einem bestimmten System lief, sodass Programme weder zwischen verschiedenen Computern, noch über verschiedene Generationen hinweg portierbar waren. Mit der Einführung der Modellreihe System/360 von IBM führte IBM 1964 das Betriebssystem OS/360 in verschiedenen Versionen (OS/360 für rein lochkartenbasierte Systeme, TOS/360 für Maschinen mit Bandlaufwerken, DOS/360 für solche mit Festplatten) ein. Es war das erste Betriebssystem, das modellreihenübergreifend eingesetzt wurde.
Ab 1963 wurde Multics in Zusammenarbeit von MIT, General Electric und den Bell Laboratories (Bell Labs) von AT&T entwickelt, das jedoch erst ab 1969 bis 2000 im Einsatz war. Multics wurde in PL/I programmiert.
Inspiriert von den Arbeiten an Multics startete eine Gruppe um Ken Thompson und Dennis Ritchie an den Bell Labs 1969 mit der Entwicklung von Unix. In den Jahren 1970 bis 1972 wurden mit RSX-15 und RSX-11 frühe Vorläufer des heutigen Windows NT entwickelt. Unix wurde in den Jahren 1972–1974 bis auf wenige Teile in der höheren Programmiersprache C mit dem Ziel der Portabilität neu implementiert, um auf der damals neuen PDP-11 lauffähig zu sein. In weiterer Folge entwickelte sich UNIX zu einer ganzen Familie von Systemen für verschiedene Hardwareplattformen.
Die ersten PCs wie der Altair 8800 von 1975 verfügten zunächst über kein Betriebssystem. Daher mussten sämtliche Aktionen in einem reinen Maschinencode eingegeben werden. Sein erstes Betriebssystem erhielt der Altair 8800 in Form eines BASIC-Interpreters. Dieser stellte sowohl eine Programmierumgebung dar als auch die allgemeine Schnittstelle zwischen dem Benutzer und der Hardware (die dieser Interpreter direkt ansteuerte). Er war Laufzeitumgebung und Benutzerschnittstelle zugleich; über bestimmte Befehle konnte der Benutzer beispielsweise Daten laden und speichern und Programme ausführen. 1974 erfand Gary Kildall CP/M, das als erstes universelles PC-Betriebssystem gilt. Durch seine modulare Bauweise (der plattformunabhängige Kernel BDOS setzte auf einer Hardware-Treiberschicht namens BIOS auf) ließ es sich mit vertretbarem Aufwand auf zahlreiche zueinander inkompatible PC-Plattformen portieren. Eine Programmierumgebung steuerte nun (meistens) nicht mehr die Hardware direkt an, sondern nutzte die Schnittstellen des Betriebssystems. Daher war auch die Programmierumgebung nicht mehr nur auf einer bestimmten Hardware lauffähig, sondern auf zahlreichen PCs.
Für die aufkommende Computergrafik reichten rein textbasierte Benutzerschnittstellen nicht mehr aus. Die 1973 eingeführte Xerox Alto war das erste Computersystem mit einem objektorientierten Betriebssystem und einer grafischen Benutzeroberfläche, was diesen Rechner für Desktop-Publishing geeignet machte und einen großen Fortschritt in Sachen Benutzerfreundlichkeit darstellte.
Meilensteine.
Der C64, ein Heimcomputer der 1980er Jahre.
In den 1980er Jahren wurden Heimcomputer populär. Diese konnten neben nützlichen Aufgaben auch Spiele ausführen. Die Hardware bestand aus einem 8-Bit-Prozessor mit bis zu 64 KiB RAM, einer Tastatur und einem Monitor- bzw. HF-Ausgang. Einer der populärsten dieser Computer war der Commodore 64 (kurz „C64“) mit dem Mikroprozessor 6510 (einer Variante des 6502). Dieser Computer verfügte über einen in einem eigenen 8 KiB-ROM-Baustein befindlichen Systemkern namens Kernal mitsamt einem BIOS ("Basic Input/Output System"), das die Geräte Bildschirm, Tastatur, serielle IEC-Schnittstelle für Diskettenlaufwerke bzw. Drucker, Kassetteninterface initialisierte und über ein Kanalkonzept teilweise abstrahierte. Über ein separates 8 KiB-ROM-BASIC, das auf die Funktionen des BIOS aufsetzte, konnte das System bedient und programmiert werden. Das Betriebssystem dieses Computers kann auf der Ebene des BASIC-Interpreters als gute Hardwareabstraktion angesehen werden. Natürlich sind weder Kernel, Speicher- oder sonstiger Hardwareschutz vorhanden. Viele Programme, vor allem auch Spiele, setzten sich über das BIOS hinweg und griffen direkt auf entsprechende Hardware zu.
Abstraktionsschichten im Betriebssystem des Heimcomputers C64
Die grafische Benutzeroberfläche (GUI) von Apple.
Xerox entwickelte im Palo Alto Research Center (PARC) das Smalltalk-Entwicklungssystem (Xerox entwickelte mit ALTO (1973) und Star (1981) erste Rechner mit grafischer Benutzeroberfläche). Das Unternehmen Apple bot Xerox an, die Technologie zu kaufen; da PARC aber vor allem ein Forschungszentrum war, bestand kein Interesse an Verkauf und Vermarktung. Nachdem Apple-Chef Steve Jobs Xerox Aktienanteile von Apple anbot, wurde ihm erlaubt, einigen Apple-Entwicklern die Xerox-Demos zu zeigen. Danach war den Apple-Entwicklern auf jeden Fall klar, dass der grafischen Benutzeroberfläche die Zukunft gehörte, und Apple begann, eine eigene grafische Benutzeroberfläche zu entwickeln.
Viele Merkmale und Prinzipien jeder modernen grafischen Benutzeroberfläche für Computer, wie wir sie heute kennen, sind originale Apple-Entwicklungen (Pull-down-Menüs, die Schreibtischmetapher, Drag and Drop, Doppelklicken). Die Behauptung, Apple habe seine GUI von Xerox illegal kopiert, ist ein ständiger Streitpunkt; es existieren jedoch gravierende Unterschiede zwischen einem Alto von Xerox und der Lisa/dem Macintosh.
Der Mac-OS-Nachfolger.
Mitte der 1990er Jahre steckte das Unternehmen Apple in einer tiefen Krise; es schien kurz vor dem Ruin. Ein dringliches Problem war dabei, dass Apples Betriebssystem Mac OS als veraltet galt, weshalb sich Apple nach Alternativen umzusehen begann. Nach dem Scheitern des wichtigsten Projektes für ein modernes Betriebssystem mit dem Codenamen Copland sah sich Apple gezwungen, Ausschau nach einem für die eigenen Zwecke verwendbaren Nachfolger zu halten. Zuerst wurde vermutet, dass Apple das Unternehmen Be, mit ihrem auch auf Macs lauffähigen Betriebssystem BeOS, übernehmen würde. Die Übernahmeverhandlungen scheiterten jedoch im November 1996, da der frühere Apple-Manager und Chef von Be Jean-Louis Gassée im Falle einer Übernahme 300 Millionen US-Dollar und einen Sitz im Vorstand verlangte. Da Gil Amelio versprochen hatte, bis zur Macworld Expo im Januar 1997 die zukünftige Strategie zu Mac OS zu verkünden, musste schnell eine Alternative gefunden werden. Überraschend übernahm Apple dann noch im Dezember 1996 für 400 Mio. US-Dollar das Unternehmen NeXT des geschassten Apple-Gründers Steve Jobs mitsamt dem Betriebssystem NeXTStep bzw. OPENSTEP, das Apples Grundlage für die nachfolgende neue Betriebssystem-Generation werden sollte. Unter dem Codenamen Rhapsody wurde es weiterentwickelt zu einem UNIX für Heim- und Bürocomputer mit dem Namen „Mac OS X“; von Version 10.8 (2012) bis 10.11 hieß es einfach „OS X“, seit Version 10.12 (2016) „macOS“. Ab Version 10.5 ist es konform mit der Single UNIX Specification.
Das Betriebssystem OPENSTEP war die erste Implementierung der OpenStep-Spezifikationen, die zusammen mit Sun entwickelt wurden. Deren Entwicklung hatte Einfluss auf Java und somit letztlich auf Android.
Disk Operating System (DOS).
Seinen Ursprung hat das „Disketten-Betriebssystem“ auf Großrechnern () wie dem System/360 von IBM aus den 1960er Jahren. Der Ansatz wurde in den 1970ern mit CP/M von Digital Research auf den damals aufkommenden Personal Computern übernommen, das sich seinerseits u. a. an TOPS-10, einer Weiterentwicklung von DOS auf Großrechnern, orientierte. Ähnliche Systeme gab es daraufhin auch für den Commodore PET (Commodore DOS), den Apple II (Apple DOS) und den Atari (Atari DOS). Die Portierung von CP/M auf den Motorola 68000, genannt CP/M-68k, selbst kein großer kommerzieller Erfolg, wurde zur Grundlage für TOS, dem Betriebssystem des Atari ST. 86-DOS erschien 1980 als Nachbildung von CP/M für den Intel 8086, wurde von Microsoft gekauft und für den IBM PCs als PC DOS eingesetzt. Es setzt auf das PC-BIOS des IBM PC auf und stellt Dateisystemoperationen zur Verfügung. Microsoft vertrieb ein fast identisches System auch als MS-DOS für IBM-kompatible PCs und x86-PCs.
Die ersten IBM PCs waren ganz ähnlich wie der C64 aufgebaut. Auch sie verfügten über ein eingebautes BIOS zur Initialisierung und Abstraktion der Hardware. Sogar ein BASIC-Interpreter im ROM war vorhanden. Da der IBM PC im Grundsatz ein offenes Design verwendet, wurde anfangs von der Konkurrenz versucht, ohne BIOS und BASIC dazu kompatible DOS-PCs zu bauen. Es wurde jedoch schnell klar, dass das BIOS ein unverzichtbarer Teil des IBM PC war, ohne den auch keine vollständige Kompatibilität möglich war. Nachdem das BIOS durch Reverse Engineering nachprogrammiert worden war, wurde auch in IBM-PC-kompatiblen Computern ein BIOS eingesetzt, allerdings wurde auf das ROM-BASIC verzichtet.
Die auf anderen PCs und Heimcomputern eingesetzte Varianten von DOS sind nicht zu MS-DOS kompatibel, etwa AmigaDOS.
PC-kompatibles DOS.
Der PC konnte mit seinem Intel-8088-Prozessor (16-Bit-Register) bis zu 1 MiB Speicher adressieren, die ersten Modelle waren jedoch nur mit 64 KiB ausgestattet. Diskettenlaufwerke lösten die alten Kassettenrekorder als Speichermedium ab. Sie erlauben vielfaches Schreiben und Lesen einzeln adressierbarer 512-Byte-Blöcke. Die Benutzung wird durch ein "Disk Operating System (DOS)" vereinfacht, das ein abstraktes Dateikonzept bereitstellt. Blöcke können zu beliebig großen Clustern (Zuordnungseinheit – kleinste für das Betriebssystem ansprechbare Einheit) zusammengefasst werden. Dateien (logische Informationseinheiten) belegen einen oder mehrere dieser (verketteten) Cluster. Eine Diskette kann viele Dateien enthalten, die über Namen erreichbar sind.
Auf den ersten PCs war kein Speicherschutz realisiert, die Programme konnten daher an DOS vorbei direkt auf BIOS und sogar auf die Hardware zugreifen. Erst spätere PCs wurden mit dem Intel-80286-Prozessor ausgestattet, der Speicherschutz ermöglichte. MS-DOS stellte auch keine für alle Zwecke ausreichende Abstraktion zur Verfügung. Es ließ sich nur ein Programm gleichzeitig starten, die Speicherverwaltung war eher rudimentär. Ein Teil der Hardware wurde nicht unterstützt und musste von Programmen direkt angesprochen werden, was dazu führte, dass beispielsweise für jedes Spiel die Soundkarte neu konfiguriert werden musste. Die Performance einiger Routinen, speziell zur Textausgabe, war verbesserungswürdig. Viele Programme setzten sich daher über das Betriebssystem hinweg und schrieben z. B. direkt in den Bildschirmspeicher. MS-DOS wurde mit einem Satz von Programmen (sogenannten Werkzeugen) und einem Kommandointerpreter (COMMAND.COM) ausgeliefert.
Abstraktionsschichten eines PC unter DOS
Windows.
1983 begann das Unternehmen Microsoft mit der Entwicklung einer grafischen Betriebssystem-Erweiterung („Grafik-Aufsatz“) für MS-DOS namens Windows. Das MS-DOS und BIOS-Design der PCs erlaubten keine Weiterentwicklung in Richtung moderner Serverbetriebssysteme. Microsoft begann Anfang der 1990er Jahre, ein solches Betriebssystem zu entwickeln, das zunächst als Weiterentwicklung von OS/2 geplant war (an dessen Entwicklung Microsoft zwischen 1987 und 1991 beteiligt war): Windows NT 3.1 (Juli 1993). Für den Consumer-Markt brachte Microsoft am 15. August 1995 Windows 95 heraus; es setzt auf MS-DOS auf. Dieser „Consumer-Zweig“, zusammengefasst Windows 9x, wurde mit der Veröffentlichung von Windows Me (August/September 2000) abgeschlossen.
Aufbau von Windows NT: Über die Hardware wurde eine Abstraktionsschicht, der "Hardware Abstraction Layer (HAL)" gelegt, auf den der Kernel aufsetzte. Verschiedene Gerätetreiber waren als Kernelmodule ausgeführt und liefen wie der Kernel im privilegierten "Kernel Mode". Sie stellten Möglichkeiten der E/A-Verwaltung, Dateisystem, Netzwerk, Sicherheitsmechanismen, virtuellen Speicher usw. zur Verfügung. Systemdienste "(System Services)" ergänzten das Konzept; wie ihre Unix-Pendants, die daemons, waren sie in Form von Prozessen im "User-Mode" ausgeführt.
Abstraktionsschichten unter Windows NT (etwas vereinfacht)
Über sogenannte "Personalities" wurden dann die Schnittstellen bestehender Systeme nachgebildet, zunächst für Microsofts eigenes, neues Win32-System, aber auch für OS/2 (ohne Grafik) und POSIX.1, also einer Norm, die eigentlich Unix-Systeme vereinheitlichen sollte. Personalities liefen wie Anwenderprogramme im unprivilegierten "User-Mode". Das DOS-Subsystem war in Form von Prozessen implementiert, die jeweils einen kompletten PC mit MS-DOS als virtuelle Maschine darstellten; darauf konnte mit einer besonderen Version von Windows 3.1, dem "Windows-on-Windows", auch Win16-Programme ausgeführt werden. "Windows-on-Windows" blendete dazu die Fenster der Win16-Programme in das Win32-Subsystem ein, das die Grafikausgabe verwaltete. Das System erlaubte daher die Ausführung von Programmen sowohl für MS-DOS wie für die älteren Windows-Betriebssysteme, allerdings unter vollkommener Kontrolle des Betriebssystems. Dies galt aber nur für die Implementierung für Intel-80386-Prozessoren und deren Nachfolger.
Programme, die direkt auf die Hardware zugreifen, blieben aber außen vor. Insbesondere viele Spiele konnten daher nicht unter Windows NT ausgeführt werden, zumindest bis zur Vorstellung von WinG, das später in DirectX umbenannt wurde. Ohne die Möglichkeit eines direkten Zugriffs auf die Grafikhardware bzw. -treiber war die Programmierung von leistungsfähigen Actionspielen zunächst auf die älteren Windows-Versionen beschränkt.
Windows NT erschien in den Versionen 3.1, 3.5, 3.51 und 4.0. Windows 2000 stellte eine Weiterentwicklung von Windows NT dar. Auch Windows XP, Windows Server 2003, Windows Vista, Windows Server 2008, Windows 7, Windows Server 2012, Windows 8/8.1 und Windows 10 bauen auf der Struktur von Windows NT auf.
Linux (GNU/Linux).
1991 begann Linus Torvalds in Helsinki/Finnland mit der Entwicklung des Linux-Kernels, den er bald danach der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte.
Es läuft als portables Betriebssystem auf verschiedenen Rechnerarchitekturen, wurde aber zunächst für PCs mit Intel-80386-Prozessor entwickelt. Das in diesen Rechnern verwendete BIOS dient nur noch zum Initialisieren der Hardware und zum Starten des Bootloaders, da die Routinen des BIOS für Multitaskingsysteme wie Linux ungeeignet sind. Dies kommt zustande, da insbesondere der Prozessor durch Warten belastet wird anstatt durch eine – in der Hardware durchaus vorhandene – geschickte Unterbrechungsverwaltung "(interrupt handling)" auf Ereignisse "(events)" zu reagieren. Linux verwendet daher nach dem Starten des Systems eigene Gerätetreiber.
Es verteilt die Prozessorzeit auf verschiedene Programme (Prozesse). Jeder dieser Prozesse erhält einen eigenen, geschützten Speicherbereich und kann nur über Systemaufrufe auf die Gerätetreiber und das Betriebssystem zugreifen.
Die Prozesse laufen im Benutzermodus "(user mode)", während der Kernel im Kernel-Modus "(kernel mode)" arbeitet. Die Privilegien im Benutzermodus sind sehr eingeschränkt. Ein direkter Zugriff wird nur sehr selten und unter genau kontrollierten Bedingungen gestattet. Dies hat den Vorteil, dass kein Programm z. B. durch einen Fehler das System zum Absturz bringen kann.
Linux stellt wie sein Vorbild Unix eine vollständige Abstraktion und Virtualisierung für nahezu alle Betriebsmittel bereit (z. B. virtueller Speicher, Illusion eines eigenen Prozessors).
Fast vollständige Abstraktion unter Linux
Verbreitung.
Das Unternehmen StatCounter analysiert die Verbreitung von Endanwender-Betriebssystemen anhand von Zugriffsstatistiken diverser Websites.
Viele Jahre lang lag Windows an der Spitze, bis es laut StatCounter 2017 von Android überholt wurde.
Die laut StatCounter am weitesten verbreiteten Endanwender-Betriebssysteme sind: |
479 | 397657 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=479 | Billy Wilder | Billy Wilder (* 22. Juni 1906 als "Samuel Wilder" in Sucha, Galizien, Österreich-Ungarn; † 27. März 2002 in Los Angeles, Kalifornien) war ein österreichischer Drehbuchautor, Filmregisseur und Filmproduzent, der nach seiner Emigration die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm.
Wilder wirkte stilbildend für das Genre Filmkomödie und schuf als Regisseur und Drehbuchautor von Komödien wie "Sabrina" (1954), "Manche mögen’s heiß" (1959), "Eins, Zwei, Drei" (1961) und "Das Mädchen Irma la Douce" (1963), aber auch von dramatischen Filmen wie "Frau ohne Gewissen" (1944), "Das verlorene Wochenende" (1945), "Boulevard der Dämmerung" (1950) oder "Zeugin der Anklage" (1957) Filme von zeitloser Relevanz. Sein Werk umfasst mehr als 60 Filme, die in einem Zeitraum von über 50 Jahren entstanden sind. Er wurde als Autor, Produzent und Regisseur 21-mal für einen Oscar nominiert und sechsmal ausgezeichnet. Allein bei der Oscarverleihung 1961 wurde er als Produzent, Drehbuchautor und Regisseur für den Film "Das Appartement" dreifach ausgezeichnet, was bis heute nur insgesamt zehn Regisseuren gelungen ist.
Leben und Werk.
Herkunft.
Samuel Wilder war der Sohn jüdischer Eltern. Sein Vater Max Wilder betrieb in Krakau das Hotel „City“ sowie mehrere Bahnhofsrestaurants in der Umgebung. Die Mutter rief den Sohn von jeher „Billie“. Samuel nannte sich daher „Billie Wilder“ (deutsch ausgesprochen); in den USA änderte er die Schreibweise dann in „Billy“.
Mitten im Ersten Weltkrieg zog die Familie aus Angst vor der herannahenden russischen Armee 1916 nach Wien. In seiner Jugend war er dort eng mit dem späteren Hollywood-Regisseur Fred Zinnemann befreundet, mit dem er zeitweise in dieselbe Klasse ging (Privatgymnasium Juranek im 8. Gemeindebezirk) und zu dem er sein Leben lang Kontakt hielt. Nach seiner Matura arbeitete er als Reporter für die Wiener Boulevardzeitung "Die Stunde". Als er 1926 den Jazzmusiker Paul Whiteman interviewte, war dieser von ihm so begeistert, dass er ihn einlud, nach Berlin mitzukommen, um ihm die Stadt zu zeigen. Eine Woche später stellte sich heraus, dass "Die Stunde" Wiener Geschäftsleute und Prominente zu jener Zeit mit der Drohung erpresste, unvorteilhafte Artikel über sie zu veröffentlichen. Die Angelegenheit wurde zum größten Medienskandal der Ersten Republik in Österreich und Wilder beschloss, in Berlin zu bleiben und für eine andere Zeitung zu arbeiten.
In Berlin.
Wilder wohnte 1927 in Berlin-Schöneberg (Viktoria-Luise-Platz 11) zur Untermiete: „Eineinhalb Jahre. Ein winziges Zimmer mit düsterer Tapete. Wand an Wand mit einer ständig rauschenden Toilette.“ Hier begann auch seine Filmkarriere, als der Direktor einer Filmgesellschaft, Maxim Galitzenstein, in Unterhosen aus dem Schlafzimmer der Nachbarin in Wilders Zimmer flüchten musste und deshalb nicht umhin kam, dessen erstes Drehbuch zu kaufen.
Als Ghostwriter für bekannte Drehbuchautoren wie Robert Liebmann und Franz Schulz konnte Wilder sich neben seiner Tätigkeit als Reporter eine zusätzliche Einkommensquelle erschließen. So trug er zu dem Filmklassiker "Menschen am Sonntag" bei (unter anderem mit Curt Siodmak, Robert Siodmak, Fred Zinnemann und Edgar G. Ulmer). Gemeinsam mit Erich Kästner schrieb er 1931 das Drehbuch für "Emil und die Detektive," die Erstverfilmung von Kästners Roman – damals noch als „Billie Wilder“.
Emigration und Arbeit in den USA.
Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten übersiedelte Wilder 1933 nach Paris, wo er sich als Ghostwriter für französische Drehbuchautoren seinen Lebensunterhalt verdiente. Hier inszenierte er auch seinen ersten Film, "Mauvaise graine," mit Danielle Darrieux. 1934 konnte er, von Joe May mit einem Besuchervisum ausgestattet, in die Vereinigten Staaten einreisen. Er nannte sich nun „Billy“, wurde 1936 von Paramount Pictures unter Vertrag genommen und schrieb die Drehbücher zu Komödien wie "Ninotschka," bei dem sein Vorbild Ernst Lubitsch Regie führte, und "Enthüllung um Mitternacht," die beide 1939 veröffentlicht wurden. 1942 führte Wilder in der Komödie "Der Major und das Mädchen" mit Ginger Rogers erstmals in Hollywood Regie, da er mit den ständigen Änderungen an seinen Drehbüchern unzufrieden war und selbst das Heft in die Hand nehmen wollte. Sein zweiter Film "Fünf Gräber bis Kairo" mit Franchot Tone diente 1943 im Zweiten Weltkrieg als Propagandafilm gegen das NS-Regime. Im folgenden Jahr inszenierte er mit "Frau ohne Gewissen" einen bedeutenden Klassiker des Film noir, der Barbara Stanwyck als Femme fatale zeigt. Der Film erhielt sieben Oscar-Nominierungen, unter anderem für Wilder in den Kategorien "Beste Regie" und "Bestes adaptiertes Drehbuch".
1945 erhielt Wilder vom U.S. Army Signal Corps den Auftrag, das umfangreich vorhandene Material des amerikanischen und britischen Militärs u. a. über die Befreiung des KZ Bergen-Belsen zu einem Kurzfilm zu verdichten. Es wurde der einzige Dokumentarfilm unter seiner Aufsicht, "Die Todesmühlen". Trotz aller persönlichen Betroffenheit – seine nächsten Verwandten waren im Holocaust ermordet worden – wollte er keinen „Gräuelfilm“, da er sofort erkannte: „Objektiv gesehen: So unsympathisch die Deutschen sein mögen, sie sind – und jetzt zitiere ich Wort für Wort den guten Onkel in Washington – unsere logischen Verbündeten von morgen.“
Nach seinen Nominierungen für "Frau ohne Gewissen" erhielt er 1946 als Regisseur und als Drehbuchautor je einen Oscar für den Film "Das verlorene Wochenende". Das Drama um einen erfolglosen Schriftsteller (Ray Milland) setzte sich ungewöhnlich realistisch mit den Problemen eines Alkoholikers auseinander. Kurz danach kam Wilder im Auftrag der amerikanischen Regierung im Rang eines Colonels nach Deutschland und inszenierte im kriegszerstörten Berlin 1947/48 den Film "Eine auswärtige Affäre" mit Jean Arthur und Marlene Dietrich in den Hauptrollen, der sich kritisch mit der NS-Vergangenheit im besetzten Deutschland auseinandersetzte. Im selben Jahr führte er zudem Regie beim Filmmusical "Ich küsse Ihre Hand, Madame" mit Bing Crosby.
Nach 1950 war Wilder meist als Produzent an seinen Filmen beteiligt. Er schuf Klassiker wie "Boulevard der Dämmerung" (1950), mit Gloria Swanson als verblendeter Ex-Diva, "Das verflixte 7. Jahr" (1955) und "Manche mögen’s heiß" (1959), beide mit Marilyn Monroe, "Zeugin der Anklage" (1958), erneut mit Marlene Dietrich, sowie "Das Appartement" (1960) und "Das Mädchen Irma la Douce" (1963), beide mit Shirley MacLaine, und die Komödie "Eins, Zwei, Drei" (1961) mit James Cagney, Liselotte Pulver und Horst Buchholz in den Hauptrollen. Ein 1960 geplantes Filmprojekt mit den Marx Brothers, die Antikriegssatire "A Day At The United Nations", kam wegen des schlechten Gesundheitszustands von Chico Marx letztlich nicht zustande.
Billy Wilders Alter Ego auf der Leinwand verkörperten Jack Lemmon und William Holden. Während Holden vor allem in dramatischen Werken wie "Boulevard der Dämmerung, Stalag 17" oder "Fedora" wirkte, war Lemmon in Komödien wie "Manche mögen’s heiß, Das Mädchen Irma la Douce, Der Glückspilz" und "Extrablatt" zu sehen.
Wilders spätere Werke konnten an die Erfolge seiner Glanzzeit nicht mehr anknüpfen. Ab Mitte der 1980er Jahre beschränkte er sich auf Beratertätigkeiten für United Artists. Wilder, dessen Familie im Holocaust umkam (siehe auch Privatleben), war ursprünglich als Regisseur für "Schindlers Liste" im Gespräch. Aufgrund seines hohen Alters übernahm dann jedoch Steven Spielberg selbst die Regie. Wilder war von Spielbergs Werk tief berührt und ließ ihn das in einem Brief wissen, was Spielberg in seinem Antwortbrief als große Ehrerbietung durch den Altmeister bezeichnete.
1999 übernahm Billy Wilder die Schirmherrschaft über das Bonner „Billy-Wilder-Institute of Film and Television Studies oHG“, das 2002 kurz vor seinem Tod geschlossen werden musste.
Billy Wilder starb am 27. März 2002 in Los Angeles im Alter von 95 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung. Er hatte schon länger mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt, aber immer noch Interviews gegeben. Sein Grab befindet sich im Westwood Village Memorial Park Cemetery.
Im 3. Wiener Bezirk wurde im Jahr 2008 die "Billy-Wilder-Straße" und in Berlin-Lichterfelde 2007 eine neue Straße "Billy-Wilder-Promenade" nach ihm benannt.
Privatleben.
Wilder war von 1936 bis 1947 mit Judith Coppicus-Iribe verheiratet. Sie hatten eine gemeinsame Tochter, Victoria (* 1939). 1949 heiratete Wilder die Schauspielerin und Sängerin Audrey Young (1922–2012).
1989 ließ Wilder, der insbesondere Werke Picassos und europäischer Impressionisten gesammelt hatte, seine umfangreiche Gemäldesammlung versteigern. Der Erlös betrug 32,6 Millionen US-Dollar.
Seine Mutter Gitla starb 1943 im KZ Plaszow, sein Stiefvater Bernhard (Berl) Siedlisker wurde im Vernichtungslager Belzec ermordet.
Namensaussprache.
Billy Wilder ist als "Weilder" geläufig. Wolfgang Glück berichtete jedoch, Wilder habe sich ihm 1987 als "Wilder" bekanntgemacht und seinen Namen immer in dieser Form ausgesprochen.
Regiestil.
Der Drehbuchautor als Regisseur.
Als er bereits zahlreiche Drehbücher geschrieben und sich oft über die Umsetzung geärgert hatte, entschied sich Wilder, bei der Realisierung seiner Drehbücher selbst die Regie zu übernehmen. Die Idee sei ihm gekommen, als sich Charles Boyer bei den Dreharbeiten zu "Das goldene Tor" weigerte, ein Zwiegespräch mit einer Kakerlake zu führen, wie Wilder es im Drehbuch vorgesehen hatte, und Regisseur Mitchell Leisen danach Wilders Proteste zurückwies. Die Szene war ihm besonders wichtig, weil er Erinnerungen an seine eigene Situation verarbeitet hatte, als er 1934 in Mexicali an der amerikanisch-mexikanischen Grenze darauf warten musste, wieder in die USA einreisen zu dürfen, um endgültig die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen. In einem seiner späteren Filme griff Wilder das Motiv in abgewandelter Form auf, als er mit James Stewart in "Lindbergh – Mein Flug über den Ozean" (1957) den berühmten Piloten bei seinem Flug über den Atlantik zu einer zufällig im Cockpit mitreisenden Fliege sprechen ließ.
Zuvor war es Preston Sturges als erstem Drehbuchautor gelungen, ins Regiefach zu wechseln und das strenge „Kastendenken“ des alten Hollywood zu durchbrechen. Preston Sturges verkaufte sein Drehbuch für "Der große McGinty" für zehn Dollar an Paramount Pictures unter der Bedingung, es selbst verfilmen zu dürfen. Der Film wurde ein Kassenschlager.
Wilders Regiestil ist von seiner Herkunft aus dem schreibenden Fach geprägt; er glaubte wie kaum ein anderer an Macht und Bedeutung des Drehbuchs. Wie Alfred Hitchcock ließ er bei den Dreharbeiten kaum Änderungen zu. Er lehnte allzu extravagante Kameraeinstellungen ab, weil sie das Publikum von der Handlung ablenken könnten. Nur wenn das Publikum sich nicht mehr bewusst sei, dass ein Kamerateam anwesend ist, entstehe der Zauber eines guten Films. Dennoch war ihm die Bildgestaltung sehr wichtig. In "Das Appartement" nutzte er das Cinemascope-Breitwandformat geschickt aus, um etwa die Einsamkeit seines Protagonisten filmisch darzustellen. Er liebte den Schwarzweißfilm und nutzte diesen noch, als der Farbfilm längst Standard war. Seine erfolgreichsten Filme hat er in Schwarzweiß gedreht.
Wilder setzte gern die sogenannte „Narration“ ein, also die Stimme eines der Filmhelden, die aus dem Off die Handlung kommentiert, zumeist um in die Handlung eines Filmes einzuführen bzw. sie voranzutreiben – so in "Frau ohne Gewissen", "Boulevard der Dämmerung", "Stalag 17", "Das Appartement", "Das Privatleben des Sherlock Holmes" oder in "Fedora". Dabei ist es laut Wilder wichtig, dass die Stimme nicht etwas erzählt, was der Zuschauer ohnehin schon sieht, sondern dem Zuschauer zusätzliche Informationen vermittelt.
Grundsätze.
In Volker Schlöndorffs TV-Dokumentation "Billy Wilder, wie haben Sie’s gemacht?" erläuterte Wilder einige seiner Grundsätze, die beim Filmemachen zu beachten seien; so beispielsweise, wann Nahaufnahmen "(close-ups)" nicht gemacht werden dürften. Ein Darsteller, der versuche, eine plötzliche Erkenntnis, eine Eingebung darzustellen, sehe immer dumm aus (“looks stupid”). Auch die Nahaufnahme des Gesichts eines Menschen, der gerade eine Todesnachricht erhält, sei unpassend. Es gebe zwei wichtige Elemente eines guten Drehbuchs, die Konstruktion einer Geschichte und die Dialoge. Agatha Christie sei eine ausgezeichnete Konstrukteurin von Geschichten, aber eher schwach in ihren Dialogen gewesen. Raymond Chandler dagegen habe sehr gute Dialoge verfassen können, jedoch von der Konstruktion einer Geschichte keine Ahnung gehabt. Als sein Vorbild betrachtete Wilder Ernst Lubitsch, für den er einige Drehbücher ("Ninotchka") verfasst hat. In seinem Büro hing ein Schild mit der Aufschrift: „How would Lubitsch have done it?“ (Wie hätte Lubitsch es gemacht?)
Wilder selbst hat in Gesprächen mit dem Regisseur Cameron Crowe zehn Regeln postuliert (1999 veröffentlicht):
Merkmale.
In der Struktur bevorzugte Billy Wilder den Aufbau der Handlung in drei Akten aus klassischen Theaterstücken. Wilder legte seine Dreiakter so an, dass die Hauptakteure am Ende des dritten Aktes eine moralische Entscheidung treffen mussten.
Wilders Filme zeichnen sich durch eine straffe Handlung und spritzige, griffige Dialoge aus. In den Handlungen gelang es ihm oft die Grenzen des Unterhaltungsfilmes zu durchstoßen und schlüpfrige Details oder als anstößig geltende Themen in seinen Filmen zu realisieren, um der bigotten Gesellschaft den moralischen Spiegel vor die Nase zu halten. Dabei bediente er sich einer ausgefeilten Symbolsprache und vermeintlich harmloser Formulierungen, um das Hays Office, die Zensurstelle der amerikanischen Filmindustrie, hinters Licht zu führen. Er thematisierte gleich in seiner ersten Regiearbeit ein Liebesverhältnis eines Erwachsenen mit einer (vermeintlich) Minderjährigen, was besonders im Wortspiel des Originaltitels "The Major and the Minor (Der Major und das Mädchen)" deutlich wurde. Er ließ Männer in Frauenkleidern spielen "(Manche mögen’s heiß)" und schuf so die Grundlage, um eine Fülle anzüglicher und hintergründiger Anspielungen unterzubringen. Ehebruch kommt in seinen Filmen in zahlreichen Variationen vor, ebenso Prostitution und Homosexualität.
Seine Protagonisten sind keine strahlenden moralischen Helden, sondern oft eher Durchschnittsmenschen mit Fehlern und Schwächen, die aber aufgrund besonderer Herausforderungen in bestimmten Situationen über sich hinauswachsen.
Selbstzitate.
Bestimmte Versatzstücke aus seinen Filmen hat Wilder mehrfach verwendet, zum Beispiel:
Auszeichnungen.
Academy Awards
Golden Globes
Writers Guild of America
Directors Guild of America
Cannes Film-Festival 1946
Laurel Awards
PGA Golden Laurel Awards
British Academy Film Award
Blue Ribbon Award
Bodil
Boulevard der Stars
David di Donatello
Deutscher Filmpreis
Europäischer Filmpreis
Internationale Filmfestspiele Berlin
Fotogramas de Plata
gemeinsam mit "Atlantic City" (1980)
Sindacato Nazionale Giornalisti Cinematografici Italiani
Los Angeles Film Critics Association Award
Venedig Film Festival
American Film Institute
Walk of Fame
Weitere Auszeichnungen und Ehrungen
Würdigung.
Zur 60-Jahr-Feier der Filmakademie Wien stiftete Rudolf John den „Billy Wilder Award“, der von der Filmakademie vergeben wird.
Im Jahr 2003 legte die österreichische Post eine Sonderbriefmarke zu seinen Ehren auf.
Von 2000 bis 2016 gab es direkt neben der Deutschen Kinemathek im Berliner Sony Center eine Bar namens „Billy Wilder’s“.
Des Weiteren wurde im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf eine Straße mit dem Namen „Billy-Wilder-Promenade“ nach ihm benannt. |
481 | 224982265 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=481 | Barry Levinson | Barry Levinson (* 6. April 1942 in Baltimore, Maryland) ist ein US-amerikanischer Filmregisseur. Für "Rain Man" gewann er 1989 den Oscar in der Kategorie "Beste Regie".
Leben.
Der Sohn eines Kaufmanns studierte Rundfunk- und Fernsehjournalismus an der American University. Während seines Studiums hatte Levinson unterschiedliche Jobs beim Fernsehen in Baltimore. Um endgültig in der Film- und Fernsehbranche zu arbeiten, ging er ohne Abschluss nach Los Angeles und nahm Schauspielunterricht. Erste Jobs als Komödiant in Comedy-Clubs brachten ihn zum Schreiben von Drehbüchern.
Anfang der 1970er Jahre begann er Drehbücher für Sitcoms und Kinofilme zu schreiben, die unter anderem von Mel Brooks realisiert wurden. Sein Debüt als Regisseur gab er dann 1982 mit "American Diner". 1989 gewann er für "Rain Man" den Oscar für die beste Regie. Obwohl er in seiner Karriere auch immer wieder Flops wie "Toys", "Avalon" oder "Sphere – Die Macht aus dem All" landete, gelangen ihm ebenfalls häufig spektakuläre Erfolge wie "Rain Man" und "Banditen!".
Viele seiner Filme spielen in Baltimore, der Stadt seiner Jugend: "American Diner", "Tin Men", "Avalon" und "Liberty Heights". Im Jahr 1990 gründete er mit dem Produzenten Mark Johnson die Firma "Baltimore Pictures".
Barry Levinson ist zum zweiten Mal verheiratet und Vater zweier leiblicher Söhne. Sam Levinson ist als Drehbuchautor und Regisseur tätig. |
482 | 2416026 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=482 | Bernardo Bertolucci | Bernardo Bertolucci (* 16. März 1941 in Parma; † 26. November 2018 in Rom) war ein italienischer Filmregisseur. Zwischen 1962 und 2012 inszenierte er 16 Spielfilme. Sein dem Geheimnis verpflichteter Erzählstil war oft opernhaft und melodramatisch und ließ Mehrdeutigkeiten viel Raum. Bertolucci inszenierte vielfach mit Bezugnahmen auf Musik, Malerei und Literatur. Zu seinen meistbeachteten Werken gehören "Der große Irrtum/Der Konformist, Der letzte Tango in Paris, 1900 (Novecento)" sowie "Der letzte Kaiser".
Leben.
Herkunft und Jugend.
Bertolucci wurde Anfang der 1940er Jahre in der Emilia-Romagna geboren. Die Familie wohnte außerhalb Parmas im ländlichen Dorf Baccanelli, wo er viel Kontakt mit den Kindern einfacher Bauern hatte. Seine Mutter war Lehrerin für Literatur, der Vater Attilio war ein landesweit bekannter Dichter und lehrte Kunstgeschichte. Bertolucci kam noch vor dem Schulalter mit Poesie in Berührung, die er alltäglich vermittelt bekam, denn die Gedichte des Vaters rankten sich oft um die häusliche Umgebung. Mit sechs Jahren begann Bernardo Gedichte zu schreiben.
Daneben war der Vater als Filmkritiker für die "Gazzetta di Parma" tätig und fuhr regelmäßig nach Parma, um sich Filme anzusehen, über die er schreiben sollte. Oft nahm er Bernardo mit, der daraufhin „Parma“ mit „Kino“ gleichsetzte. Mit 15 Jahren drehte er zwei 16-mm-Amateurkurzfilme.
Als die Familie nach Rom umzog, verlor er die Bezugspunkte und fühlte sich entwurzelt. Er hatte es nun mit Kindern aus dem Kleinbürgertum zu tun: „Was als gesellschaftlicher Aufstieg gedacht war, erlebte ich als Herabstufung des Lebenswandels, denn schließlich haben die Bauern etwas Älterhergebrachtes und daher Aristokratischeres als das Kleinbürgertum.“ In den ersten Jahren in Rom habe er die Stadt abgelehnt. Zum Freundeskreis der Familie zählte dort der Dichter und spätere Filmemacher Pier Paolo Pasolini. Der Vater arbeitete für einen Verleger und half Pasolini 1955, dessen ersten Roman und danach auch Gedichte zu veröffentlichen.
Als Belohnung für den erfolgreichen Schulabschluss durfte Bertolucci 1959 einen Monat in Paris verbringen, wo er öfter die Cinémathèque française aufsuchte. Mit zwanzig habe er den Eindruck gehabt, es sei selbstverständlich, Filme zu drehen. Er brach sein Literaturstudium an der Universität Rom ab und wurde Regieassistent bei Pasolinis Erstling "Accattone". Da Pasolini als Literat im Film unerfahren war und sich dessen Ausdrucksmittel erst aneignen musste, hatte Bertolucci dabei das Gefühl, der „Geburt der filmischen Sprache“ beizuwohnen. Im Jahr darauf veröffentlichte Bertolucci den Gedichtband "In cerca del mistero" und erhielt dafür bei einem der angesehensten Literaturpreise Italiens, dem Premio Viareggio, die Auszeichnung in der Sektion für das beste Erstlingswerk. Dennoch wandte er sich endgültig von der Schriftstellerei ab.
Familie und Privatleben.
Bernardos jüngerer Bruder Giuseppe war Theaterregisseur. Sein Cousin Giovanni ist Filmproduzent und hat diese Funktion bei einigen seiner Filme wahrgenommen. Bernardo Bertolucci lernte bei der Entstehung von "Accattone" Adriana Asti kennen, die für die nächsten Jahre seine Lebensgefährtin wurde. Sie spielte in seinem zweiten Spielfilm "Vor der Revolution" die weibliche Hauptrolle.1980 heiratete er die britische Drehbuchautorin Clare Peploe.
Bertolucci litt viele Jahre unter Rückenproblemen. Eine misslungene Bandscheibenoperation zwang ihn ab 2003 in den Rollstuhl. Dadurch wurde er der schlechten Situation für Rollstuhlfahrer in Rom gewahr, u. a. dadurch, dass dort viele öffentliche Gebäude nicht barrierefrei sind.
2012 rief er eine Kampagne zur Verbesserung der Lage ins Leben.
Er erkrankte an Krebs, an dessen Folgen er am 26. November 2018 im Alter von 77 Jahren in Rom starb.
Politische Haltung.
Wie mehrere andere bedeutende italienische Filmregisseure auch, etwa Pasolini, Visconti und Antonioni, bekannte sich Bertolucci zum Marxismus. Er erzählte, dass er von Kindheit an Kommunist gewesen sei, als er viel Zeit unter Bauern verbrachte. Zunächst aus sentimentalen Gründen; als die Polizei eines Tages einen Kommunisten erschoss, habe er sich für deren Seite entschieden. Er trat jedoch erst 1968 der Kommunistischen Partei bei. Trotz der marxistischen Einstellung sprach er sich für Individualismus aus. „Die wichtigste Entdeckung, die ich nach den Ereignissen vom Mai 1968 machte, war, dass ich die Revolution nicht für die Armen gewollt hatte, sondern für mich. Die Welt hätte sich für mich ändern sollen. Ich entdeckte den individuellen Aspekt politischer Revolutionen.“ Er grenzte sich von jenen unter den Marxisten ab, die dem Volk dienen wollen, und fand, es sei dem Volk am besten gedient, wenn er sich selber diene, denn nur dann könne er Teil des Volkes sein. Kino, auch politisches, habe keine politischen Auswirkungen. Ende der 1970er Jahre sprach er von Schuldgefühlen, sich nicht genügend am Leben der Partei zu beteiligen.
Schöpferischer Ansatz und Stil.
Zu Beginn seines filmischen Schaffens postulierte Bertolucci: „Ich sehe keinen Unterschied zwischen Kino und Gedichten. Damit meine ich, dass es von der Idee zum Gedicht keine Vermittlung gibt, so wie keine zwischen einer Idee und einem Film besteht.“ Bereits die Idee selbst müsse poetisch sein, sonst könne keine Poesie entstehen. Später schwächte er diese Aussage ab, indem er postulierte, der Film sei dem Gedicht näher als dem Roman.
Als er im Alter von 15 Jahren mit einer 16-mm-Kamera bei den Bauern eine traditionelle Schweineschlachtung filmte, stach der Schlachter am Herz vorbei und das toll gewordene Tier entwand sich. Es rannte blutend über den verschneiten Hof, was selbst in Schwarzweiß imposant erschien und in ihm die Überzeugung weckte, beim Drehen dem Zufall so viel Raum wie möglich zu gewähren. Die Drehbücher betrachtete er nur als Skizzen, die er beim Drehen ebenso an die Schauplätze anpasste wie an die Darsteller, die sich nicht in die geschriebenen Figuren verwandeln sollten.
Der visuelle Stil seiner Filme ist gekennzeichnet von langen Kamerafahrten und sehr bewusst gestalteten Farben. Bildausschnitte und Kamerabewegungen legte er als Bestandteil seines Regiestils, seiner persönlichen „Handschrift“ jeweils selbst fest. Sein langjähriger Kameramann Vittorio Storaro, zwischen 1969 und 1993 an acht Werken beteiligt, war nur für die Beleuchtung zuständig. Typisch für Bertoluccis Erzählstil sind Bezüge zu Werken der Malerei, der Oper, der Literatur und des Films oder Zitate daraus. Der Vorspann einiger seiner Filme besteht aus der Einblendung eines oder mehrerer Gemälde. Sämtliche Filme bis 1981 enthalten eine Tanzszene, von denen manche der Handlung eine neue Wendung geben. Die Tänze drücken politische oder sexuelle Konflikte aus, dabei stehen ausgelassener Freudentaumel und strenger Regelgehorsam einander gegenüber. Häufig wird sein Stil als der Oper verwandt beschrieben, weil er deren zur Schau gestellte Melodramatik und musikalische Lyrik anklingen lässt und ganze Handlungen von Verdi-Opern inspiriert sein können.
Das Singen von Arien und andere Anspielungen auf Verdi dienen als ironischer Kommentar zum Geschehen. Seine Filme fallen in die unterschiedlichsten Genres, wenn der Genre-Begriff überhaupt angemessen ist. Die Schlüsse seiner Werke sind, zum Missfallen vieler Zuschauer, meist offen, „Rückzüge, Auflösungen ins Unwirkliche, um keinen Punkt setzen zu müssen.“ Die vordergründige Handlung ist von untergeordneter Bedeutung, sofern sie im Einzelnen überhaupt nachvollziehbar ist.
Inhaltliche Schwerpunkte.
Autobiografische Elemente haben häufig Eingang in Bertoluccis Filme gefunden; dennoch entwickelte er Drehbücher oft mit Koautoren. Er gewährte unzählige Gespräche, bevorzugt mit Filmfachzeitschriften, in denen er seine Werke und seine darin verfolgten Absichten erklärte. Oft zeigte er die Einflüsse in seinen Filmen auf, solche aus der Kunst wie aus seinem persönlichen Leben und aus seiner Psychoanalyse. Er bemühte sich, als Autor seiner Filme wahrgenommen zu werden.
Mehrdeutigkeit.
In Mehrdeutigkeiten, Widersprüchen und Paradoxa sah Bertolucci etwas Positives, weil Freiheit total sein müsse, sogar wenn dies zu inkohärenten Haltungen führe. „Wir sollten gegen das arbeiten, was wir gemacht haben. Man macht etwas, dann widerspricht man dem, dann widerspricht man dem Widerspruch und so weiter. Lebendigkeit entsteht genau kraft der Fähigkeit, sich selber zu widersprechen …“
Der Titel seines einzigen veröffentlichten literarischen Werks, des Gedichtbandes "In cerca del mistero," bedeutet „Auf der Suche nach dem Geheimnis“. Diese Suche zog sich durch sein ganzes filmisches Schaffen. Er bewegte sich sowohl in der erfahrbaren Welt wie auch im Traum, lotete die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus, zwischen dem, was man ist, und dem, was man zu sein hat. „Er jongliert zwischen den Genres, Stilen und Theorien und mischt zu jedem Spiel die Karten aufs Neue.“ Er spielte mit allen Formen, meidet Einförmigkeit und versucht beständig Neues, das erstaunt und befremdet.
Er wollte für sein Publikum möglichst unvorhersehbar sein und es überraschen, wie er auch sich selbst von Werken anderer gerne überraschen ließ. Überzeugt, dass ein Film erst durch den Zuschauer vollendet werde, hielt er jede Deutung eines Werkes für richtig. Bertolucci war Kosmopolit, was sich insbesondere in seinen internationalen Großproduktionen ausdrückte, die auf vier Kontinenten spielten. „Bertoluccis Protagonisten sind Gefangene, die aus ihrer Heimat ausbrechen können, aber noch in der Fremde Gefangene ihrer Sehnsucht werden.“
Identität und Doppelgängermotiv.
In mathematischen Größen wäre sein Werk durch die Zahl 2 am besten umschrieben, geometrisch durch die Ellipse, die statt eines einzigen Zentrums deren zwei hat. Der Zuschauer, gewohnt seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu richten, ist gezwungen, zwei Zentren zu beachten. Bertolucci stellte häufig Identitäten infrage; wiederholt tauchen die Motive der Schizophrenie, gespaltener Persönlichkeiten und des Doppelgängers auf. So manche Figuren führten parallele Leben oder wurden vom selben Schauspieler verkörpert. Am offensichtlichsten ist das Prinzip in "Partner," das auf Dostojewskis Roman "Der Doppelgänger" basiert. Auch in der "Strategie der Spinne" spielt derselbe Darsteller zwei Rollen, Vater und Sohn. Die beiden Figuren Olmo und Alfredo in "1900" sind am selben Tag geboren und Bertolucci unterzog ihre parallel geschilderten Leben einem Vergleich.
In den "Träumern" kommt ein Zwillingspaar vor, ein Bruder und eine Schwester, die voneinander nicht loskommen. Aber auch Ereignisse innerhalb eines Films fanden oft in gewandelter Form zweimal statt. Manchmal enthielten die Bilder Spiegelungen, und Wirklichkeit und Einbildung bestanden nebeneinander. In Bertoluccis Universum war eben auch nichts einzigartig.
Vergänglichkeit und Tod.
In Bertoluccis Universum ist nichts fest. Menschen, Gesellschaften, Situationen und die Moral sind allmählichen Verwandlungen unterworfen und vergänglich. Großen Raum nehmen Alterung und körperlicher Verfall ein. Der Tod ist nicht ein brutal eintretender Endpunkt des irdischen Lebens, sondern innerhalb des Lebens präsent als eine in zahlreiche Fragmente zerstückelte Agonie, „ein langer, keuchender Schrei.“ Bertolucci zitierte den Ausspruch, Film zeige den Tod bei der Arbeit.
Grundlage aller Poesie sei das Vergehen von Zeit. In auffallend vielen Titeln seiner Filme kommt die Zeit vor, am offensichtlichsten in "Vor der Revolution" und "1900". Der Mond in "La Luna" ist für die Gezeiten verantwortlich. Es gibt den "Letzten Tango" und den "Letzten Kaiser," und der Tod ist präsent in "Todeskampf" und "La Commare Secca".
Ödipale Konflikte mit Vaterfiguren.
Seine Figuren unterliegen oft einem Determinismus und können der Vergangenheit nicht entkommen. Es sind zum Beispiel junge Menschen, die aus ihrer Familie und sozialen Klasse ausbrechen wollen, aber unweigerlich nach den Mustern der Vergangenheit leben. Ihnen steht eine männliche Autoritätsfigur gegenüber, die gemischte Gefühle hervorruft und die sie letztlich ablehnen. Die aufbegehrenden Söhne erringen nur vorübergehend Siege, die Strategien der Väter überdauern. Der Vatermord taucht als Motiv mehr oder minder offen in fast allen Filmen der ersten Schaffenshälfte auf.
Bertolucci hatte es in jungen Jahren mit mehreren Vaterfiguren zu tun, die auf sein Leben und Werk Einfluss hatten, von dem er sich befreien wollte. Sein Vater Attilio Bertolucci war ein in Italien bekannter Dichter. Zwar veröffentlichte Bernardo Bertolucci einen eigenen Gedichtband, doch blieb dieser sein einziges literarisches Werk. Er habe mit dem Vater wettstreiten wollen und dann gespürt, dass er den Kampf verlieren würde. Daher sei er auf ein anderes Gebiet ausgewichen, das Kino. Ein anderes Mal begründete er das Ende seiner dichterischen Arbeit damit, in Gedichten und in Filmen nicht dasselbe mitteilen zu wollen.
Die zweite Figur war Pier Paolo Pasolini. Er wohnte einige Jahre im selben Gebäude; der junge Bernardo war mit ihm befreundet und las ihm regelmäßig seine Gedichte vor; es entwickelte sich eine Beziehung wie zwischen Lehrer und Schüler. Diese setzte sich fort, als ihn Pasolini 1961 zu seinem Regieassistenten ernannte. Stilistisch blieb Pasolinis Einfluss bescheiden.
Die künstlerisch beherrschende Gestalt war der französische Filmregisseur Jean-Luc Godard. Die Filme aus Bertoluccis ersten zwei Jahrzehnten sind von einer ästhetischen und politischen Auseinandersetzung mit Godard und seinem Werk geprägt. Während er Godards Einfluss in "Vor der Revolution" und "Partner" feierte, verwirklichte er in der "Strategie der Spinne" einen eigenen Stil und schritt darauf im Film "Der große Irrtum" zum symbolischen Vatermord. Im "Letzten Tango in Paris" schließlich karikierte er Godards und seine eigene Kinomanie in der Figur des Jungfilmers Tom. Godard radikalisierte sich Ende der 1960er Jahre politisch wie filmästhetisch und stand Bertoluccis Hinwendung zu konventionelleren Großproduktionen ablehnend gegenüber.
Bertolucci nannte Ende der 1960er Jahre Pasolini und Godard als seine bevorzugten Regisseure, zwei große Poeten, die er sehr bewunderte, und daher habe er gegen beide anfilmen wollen. Denn um Fortschritte zu erzielen und um anderen etwas geben zu können, müsse man mit jenen kämpfen, die man am meisten liebe.
Frauen als Nebenfiguren.
Bertolucci thematisierte häufig die Unterdrückung von Söhnen durch Väter beziehungsweise durch das Patriarchat. Im Mittelpunkt des narrativen und emotionalen Geschehens stehen männliche Figuren, während die weiblichen Rollen Ableitungen männlicher Ängste und Hassgefühle sind. Es sind oft niedere oder gar destruktive Rollen, die meist eine sexualisierte Funktion innerhalb der Erzählung einnehmen. An der Figur Caterina in "La Luna" offenbarte Bertolucci seine Sicht, dass sich kreative Arbeit und Muttersein nicht erfolgreich vereinbaren lassen. Die Frauen haben in der Regel keine intellektuellen Interessen und leben für Instinkte und sinnliches Vergnügen. Es sind die männlichen Figuren, die leiden und diese Leiden geistig verarbeiten.
Filmische Laufbahn.
Anfangsjahre (bis 1969).
Die ersten Jahre seines filmischen Schaffens waren geprägt von der Suche nach einem eigenen Stil und eigenen Themen. Im Alter von nur 21 Jahren erhielt Bertolucci überraschend die Gelegenheit, einen ersten Film zu drehen. Nach dem Erfolg von Pasolinis Film "Accattone" war der Produzent darauf aus, eine seiner Kurzgeschichten zu verfilmen. Da sich Pasolini bereits dem Projekt Mamma Roma zugewandt hatte, beauftragte der Produzent mit der Ausarbeitung des Stoffes zu einem Drehbuch einen anderen Autor und Bertolucci, dem das dargestellte Milieu römischer proletarischer Kleinkrimineller fremd war. Dennoch bemühte er sich, den Erwartungen des Produzenten nach einem „pasolinesken“ Produkt gerecht zu werden. Nach Fertigstellung bot ihm der Produzent auch die Regie an. Bertolucci versuchte, "La Commare Secca" (1962) zu „seinem“ Film zu machen durch einen eigenen Stil, der von Pasolini unbeeinflusst sei. Besonders auffällig sind die zahlreichen Kamerafahrten, von denen der mitwirkende Kameramann behauptete, er hätte noch in keinem Film so viele durchzuführen gehabt.
In dieser Zeit sah er sich nie ganz dem italienischen Kino zugehörig; näher stand er der französischen Kinematografie, die er am interessantesten fand. Mit der Presse sprach er bevorzugt auf Französisch, weil es die Sprache des Kinos sei. Bei seinem zweiten Film "Vor der Revolution" (1964), produziert von einem filmbegeisterten Mailänder Industriellen, konnte er ein eigenes, persönliches Thema behandeln: die Schwierigkeit eines Intellektuellen bürgerlicher Herkunft, gleichzeitig Marxist und für die proletarischen Massen da zu sein, die Angst, auf das eigene Milieu zurückgeworfen zu werden, weil die Wurzeln so stark seien. Er habe für diese Angst vor der eigenen Feigheit noch keine Lösung gefunden, erklärte er später, die einzige Möglichkeit sei, sich der Dynamik und „unglaublichen Vitalität“ des Proletariats anzuschließen, der echten revolutionären Kraft auf der Welt. Der Stil verrät stilistische Einflüsse von Godard und Antonioni. Das Werk wurde in Italien kaum aufgeführt und erntete dort meist ablehnende Kritiken, während das Echo der internationalen Filmkritik besser war. Beim Dreh begegnete er erstmals Vittorio Storaro, der als Kameraassistent mitwirkte. Storaro hatte den Eindruck, dass Bertolucci ein ungeheures Wissen hatte, besonders für jemanden in seinem Alter, jedoch auch viel Überheblichkeit zeigte.
In den folgenden Jahren lehnte Bertolucci immer wieder Angebote ab, Italowestern zu drehen. Er wollte keine Kompromisse eingehen und nicht wie manch anderer Regisseur Filme drehen, an die er nur halb glaubte. So vergingen mehrere Jahre, ohne dass er einen langen Spielfilm verwirklichen konnte. Aus dieser Zeit zu verzeichnen sind lediglich die Mitarbeit am Drehbuch von "Spiel mir das Lied vom Tod," eine Fernsehdoku über den Öltransport sowie der Kurzfilm "Todeskampf," ein Beitrag zum Episodenfilm "Liebe und Zorn".
Das filmische Ideal, das er in den 1960er Jahren verfolgte, war ein Kino, das vom Kino handelte, die eigene Sprache reflektierte und erneuerte, im Geiste Godards. Die Filme sollten sich ihrer selbst bewusst sein und das Publikum, das von Film nichts verstehe, lehren. Seine Drehbücher verfasste er damals zusammen mit Gianni Amico, mit dem er die Weltanschauung teilte und der ihn in einer cinéphilen, experimentellen, das gewöhnliche Publikum wenig berücksichtigenden Arbeitsweise bestärkte. So entstand auch "Partner," wo er inhaltlich und formal Godard imitierte. Der wirre Film stieß auf wenig Verständnis; recht bald distanzierte er sich vom „neurotischen“, „kranken“ Nebenwerk. Später fand er, dass seine intensive Beschäftigung mit Filmsprache ihn zu stilistischer Arroganz verleitet hatte und dass er nach "Partner" ein großes Verlangen nach Publikum für seine Filme verspürte. Er stürzte in eine tiefe Depression und begann 1969 eine Psychoanalyse.
Diese wurde zu einem kreativen Motor und half ihm, sich von den „kranken Theorien“, wie er sie nannte, zu befreien, die sein frühes Schaffen stilistisch geprägt haben. Zwischen der Analyse und der Arbeit bestand eine Ersatzbeziehung: „Wenn ich einen Film drehe, fühle ich mich wohl und brauche keine Analyse.“ Eine erste Frucht seiner neuen Methode war "Die Strategie der Spinne," die er 1969 fürs italienische Fernsehen drehte. Erstmals war Vittorio Storaro für das Licht verantwortlich; Bertolucci sollte fortan für über zwei Jahrzehnte mit ihm arbeiten und sie verband eine enge Freundschaft. Die beiden entwickelten eine unverwechselbare Bildsprache, Bertoluccis spezifischer visueller Stil kam erstmals unverfälscht von Godards Einfluss zur vollen Entfaltung. Dabei befasste er sich mit seinen bevorzugten Themen wie der Verknüpfung von Geschichte und Geschichtsschreibung mit der Gegenwart, dem Ringen des Sohnes mit dem Vater, gespaltenen Identitäten, Faschismus und Widerstand.
Internationale Großproduktionen (1970–1976).
Mit dem "Großen Irrtum," auch bekannt als "Der Konformist," betrat Bertolucci die Bühne der internationalen Großproduktionen. Der Film wurde in Frankreich und Italien in geschichtlichen Kulissen aufwendig gedreht, mit dem Star Jean-Louis Trintignant in der Hauptrolle. Wieder lotete er Italiens faschistische Vergangenheit aus und konstruierte einen psychosexuellen Erklärungsansatz für das Handeln der Hauptfigur. Das Werk zeichnet sich durch eine zeitlich fragmentierte Handlung und einen visuellen Stil aus, der inhaltliche Aussagen mit Hilfe des eingesetzten Lichts unterstreicht. Der große Erfolg etablierte Bertolucci als Filmemacher von Weltrang. Mit dem "Großen Irrtum" begann Bertoluccis Zusammenarbeit mit Franco Arcalli, die bis zu dessen Tod 1978 andauerte. Dank Arcalli erkannte er, dass er mit dem Schnitt neue Sichtweisen gewinnen kann. Da er Arcalli als stimulierend und ideenreich erlebte, der Schnitt gleichsam zu einer Revision des Drehbuchs geriet, avancierte Arcalli auch zum Drehbuchautor.
Einen weiteren Höhepunkt erreichte Bertolucci mit dem Drama "Der letzte Tango in Paris" (1972), mit Marlon Brando in der Hauptrolle. Der nur vordergründig unpolitische Film schildert den Daseinsschmerz eines Mannes im mittleren Alter und sein Leiden an der Unterdrückung des Lustprinzips in der westlichen Kultur. Wegen seiner drastischen, unverblümten Darstellung von Sex war der Film ein beherrschendes Gesprächsthema. Die Skandalisierung und Zensurversuche bewirkten einen enormen Kassenerfolg, in den USA blieb er auf Jahre hinaus der einträglichste europäische Film.
Mit diesen Erfolgen im Rücken konnte Bertolucci ein Vorhaben in Angriff nehmen, das oft als größenwahnsinnig beschrieben wird: die Erzählung eines halben Jahrhunderts italienischer Geschichte in dem über fünfstündigen "1900". Von den US-amerikanischen Filmstudios war der Film auf sieben Millionen US-Dollar veranschlagt, und am Ende kostete er über acht Millionen. Obwohl ganz in Italien angesiedelt, werden mehrere Rollen von internationalen Stars gespielt, darunter Burt Lancaster, Gérard Depardieu, Donald Sutherland, Dominique Sanda und Robert De Niro. Es ist ein Hohelied auf die bäuerliche Schicht und auf den Kommunismus. Der Film überraschte die Kritik mit seiner konventionellen Form; Bertolucci wählte bewusst eine ans Massenkino angelehnte einfache und emotionale Filmsprache, um seine Botschaft breiter streuen zu können.
Wegen des politischen Gehalts wollten die Studios "1900" in den Vereinigten Staaten nicht wie vorgesehen in den Vertrieb nehmen. Um die zu veröffentlichende Fassung kam es zu einem auch gerichtlich ausgetragenen Streit zwischen Bertolucci, dem Produzenten Grimaldi und den Studios. Diese setzten für die US-Version starke Kürzungen durch, werteten den Film dort kaum aus, und bei der US-Kritik stieß das Werk als Propaganda auf völlige Ablehnung. In Europa lief es nur leicht gekürzt. Bertolucci erkannte später den Widerspruch zwischen den kapitalistischen, multinationalen Produktionsbedingungen und der naiven, lokal verwurzelten utopischen Vision.
Kleinere Produktionen (1977–1982).
Mehrere geplante Filmprojekte, darunter die Verfilmung von Dashiell Hammetts Roman "Red Harvest," scheiterten daran, dass er Produzenten nicht von ihnen überzeugen konnte. Er wollte seinen ersten amerikanischen Film auf Basis eines Klassikers der US-Literatur machen.
Das Projekt kam für ihn nur als politischer Film infrage, die amerikanischen Produzenten hatten jedoch kein Verständnis für seine Lesart des Romans. Bei der Dimensionierung seiner nächsten beiden Filmprojekte musste Bertolucci viel bescheidener sein. Das Drama "La Luna" (1979) um eine inzestuöse Mutter-Sohn-Beziehung entstand mit einem wesentlich kleineren Budget und wenigen Darstellern. Gedreht wurde vor allem in Rom, teilweise auch in Parma und New York, und in den Hauptrollen ist es mit US-amerikanischen Darstellern besetzt. Bertolucci hat darauf hingewiesen, dass es in diesem Werk kein ständiges Fragen nach dem Wesen von Film und Kino mehr gibt; "La Luna" schäme sich nicht des Vergnügens. Doch genau dieses Beharren auf einem konventionellen, konsumierbaren Erzählstil enttäuschte die Kritik. Noch stärker auf seine Heimatregion um Parma konzentriert blieb er in der "Tragödie eines lächerlichen Mannes" (1981), wo er die nebulöse politische Lage in Italien in den Vordergrund rückte. Bis auf Anouk Aimée mit Italienern besetzt und in italienischer Sprache, war es innerhalb des Vierteljahrhunderts seiner Zusammenarbeit mit Storaro der einzige Streifen, für den er einen anderen Kameramann beizog. Dem metafilmischen Diskurs ließ er so viel Raum wie seit "Partner" nicht mehr und verweigerte dem Publikum eine nachvollziehbare Handlung und die Identifikation mit einer Figur. Das Werk rief bei der Kritik sehr unterschiedliche Bewertungen hervor – einige stellten eine resignative Haltung fest – und fand beim Publikum kaum Beachtung. Manche Filmpublizisten, die sein ganzes Werk überblicken, meinen, die "Tragödie" sei das möglicherweise am meisten unterschätzte Werk Bertoluccis.
Andere Kulturkreise (1983–1993).
Zu Beginn der 1980er Jahre zeigte sich Bertolucci sehr enttäuscht von Italien und dem politischen System. Er verlor auch das Interesse an der Gegenwart. Das führte ihn auf die Suche nach etwas ganz Anderem und die Besonderheiten nicht-westlicher Kulturen. Als Ergebnis drehte er, wieder mit Storaro, drei Filme, in denen er seine Themen vor dem Hintergrund Chinas, Nordafrikas und des Buddhismus behandeln konnte. Diese drei Filme haben gemein, dass der Regisseur gegenüber Vaterfiguren versöhnlicher geworden war, die nun als Lehrer und Weise erschienen. Das erste Projekt war "Der letzte Kaiser" (1987), bei dem er als cineastischer Marco Polo das Leben des letzten chinesischen Kaisers Pu Yi nachzeichnete – zum ersten Mal hatte es die chinesische Regierung einer westlichen Filmproduktion erlaubt, in der Verbotenen Stadt zu drehen. Mit seinem Erfolg bei Kritik und Publikum stellt das mit Auszeichnungen überhäufte Geschichtsdrama einen weiteren Höhepunkt in Bertoluccis Schaffen dar. Der darauffolgende Film "Himmel über der Wüste" (1990) führte ihn nach Marokko und in die Sahara und ist mit den Stars Debra Winger und John Malkovich besetzt. Er handelt von einem Paar, das vor der westlichen Zivilisation flüchtet und in der Begegnung mit dem Fremden und der Sahara seine Identität verliert. Die Kritik war sich nicht einig, wie gut Bertolucci Themen und Figuren des Romans von Paul Bowles getroffen hat; doch selbst einige der negativen Kritiken bescheinigten dem Werk, sein Blick auf die Landschaften und Städte Nordafrikas sei sinnlich und überwältigend.
Die dritte der „exotischen“ Produktionen ist "Little Buddha" aus dem Jahr 1993, mit dem sich Bertolucci an Kinder jeden Alters wenden wollte. Es ergründet Buddhismus und Reinkarnation. Viele Kritiker empfanden das Werk als zu einfach und vermissten die Vielschichtigkeit seiner bisherigen Werke. Es war sein erster Film, der nicht um einen Konflikt politischer, psychologischer oder zwischengeschlechtlicher Art gebaut ist. Der Regisseur bezeichnete sich als skeptischen Amateur-Buddhisten, als nur an der ästhetischen und poetischen Seite dieser Philosophie interessiert. Nach dem Untergang der kommunistischen Utopie des gewohnten Raums für Träume verlustig gegangen, fand er im Buddhismus ein neues inspirierendes Feld. Die Umstellung sei ihm leichtgefallen, denn der Buddhismus habe mit Marx und Freud gemein, dass sie alle nicht Gottheiten, sondern den Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Spätwerk (ab 1994).
Als er die fünfzig überschritten hatte, waren Konflikte mit Vaterfiguren kein wichtiger Bestandteil mehr. Die Themen seiner früheren Filme kommen in "Gefühl und Verführung" (1995) zwar in Gestalt melancholisch zurückgezogener 68er vor, doch die Hauptfigur ist ein junges unerfahrenes Mädchen. Sein nächstes Werk, das Kammerspiel "Shandurai und der Klavierspieler" (1998), fand bei der Kritik viel Zustimmung, doch in Deutschland zunächst keinen Verleih. Es gelangte erst in die Kinos, als das Interesse an Bertolucci mit dem kommerziellen Erfolg der "Träumer" 2003 wieder erwachte. Die Träumer sind drei junge Menschen, die in Paris 1968 eine Dreierbeziehung leben und sich von den Ereignissen auf der Straße abkapseln. Bertoluccis Spätwerke ernteten bei einem Teil der Kritik den Vorwurf, Film gewordene Altherrenfantasien zu sein, bei denen er sich an den Körpern junger Frauen delektierte.
Nach den "Träumern" konnte er fast zehn Jahre lang keinen weiteren Film vollenden. Das Projekt "Bel Canto," die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ann Patchett über eine Geiselnahme in Südamerika, musste auf unbestimmte Zeit verschoben werden. 2007 wandte er sich einem anderen Vorhaben zu, einem Drama über den italienischen Musiker Carlo Gesualdo, der im 16. Jahrhundert lebte und mordete. Erst 2012 wurde mit "Ich und Du" "(Io e te)" seine erste Spielfilmregiearbeit nach zehn Jahren Pause außer Konkurrenz bei den Filmfestspielen von Cannes uraufgeführt. Im Frühjahr 2018 bekundete Bertolucci, er wolle einen Film über die Liebe und damit verbundene Kommunikationsprobleme drehen, allerdings kam es nicht mehr dazu.
Filmografie.
→ "Erweiterte Filmografie"
Darüber hinaus hat Bertolucci einige Kurz- und Dokumentarfilme gedreht.
Auszeichnungen.
Neben dem 1962 gewonnenen Premio Viareggio für seinen Gedichtband "In cerca del mistero" (Bestes Erstlingswerk) erhielt Bertolucci im Laufe seiner Karriere 49 Film- und Festivalpreise, darunter zwei Oscars und zwei Golden Globe Awards für "Der letzte Kaiser". Für 32 weitere Auszeichnungen war er nominiert.
Eine Auswahl der gewonnenen Preise und Auszeichnungen, inklusive einiger Nominierungen:
Filme
Gesamtwerk |
484 | 3718202 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=484 | Liste von Videofachbegriffen | Alphabetische Aufstellung der im Videobereich verwendeten Fachbegriffe mit deren Abkürzung.
Z.
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8K |
485 | 78178 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=485 | Internationale Filmfestspiele Berlin | Die Internationalen Filmfestspiele Berlin, kurz Berlinale, sind ein jährlich in Berlin stattfindendes Filmfestival. Es zählt neben denen von Cannes und Venedig zu den wichtigsten Filmfestivals und gilt als eines der weltweit bedeutendsten Ereignisse der Filmbranche.
Die letzte Auflage fand vom 16. bis 26. Februar 2023 statt. Im Jahr 2024 soll die 74. Berlinale vom 15. bis 25. Februar veranstaltet werden.
Überblick.
Die im Wettbewerb erfolgreichen Filme werden von einer internationalen Jury mit dem Goldenen und den Silbernen Bären ausgezeichnet. Mehr als 400 Filme werden in verschiedenen Sektionen präsentiert. Mit mehr als 325.000 verkauften Eintrittskarten und etwa 490.000 Kinobesuchern insgesamt (inklusive akkreditierter Fachbesucher) ist die Berlinale das größte Publikumsfestival der Welt. Rund 16.000 Fachbesucher aus 130 Ländern nehmen an dem Festival teil. Etwa 3.700 Journalisten aus mehr als 80 Ländern berichten über die Zeit der Festspiele.
Während der Berlinale findet zeitgleich der European Film Market (EFM) statt. Der EFM gehört zu den international wichtigsten Treffen der Filmindustrie und hat sich zu einem bedeutenden Marktplatz für Produzenten, Verleiher, Filmeinkäufer und Co-Produktionsagenten etabliert.
Gegründet wurde die Berlinale im Jahr 1951. Festivaldirektor war von 2001 bis 2019 Dieter Kosslick. Aktuell wird das Festival von einer Doppelspitze geleitet, der Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und dem Künstlerischen Leiter Carlo Chatrian.
Seit 2002 sind die Internationalen Filmfestspiele Berlin ein Geschäftsbereich der "Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH". Sie erhalten eine institutionelle Förderung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Geschichte.
Die Berlinale findet seit 1951, zunächst im Sommer, seit 1978 im Februar, in Berlin statt. Sie geht auf eine Initiative von Oscar Martay zurück. Martay war Film Officer der Militärregierung der Vereinigten Staaten und beaufsichtigte und förderte in dieser Funktion die Berliner Filmindustrie, unter anderem mit mehreren Darlehen der amerikanischen Militärregierung, mit denen die Finanzierung der Filmfestspiele in den ersten Jahren sichergestellt wurden. Unter dem Motto „Schaufenster der freien Welt“ eröffnete die erste Berlinale am 6. Juni 1951 mit Alfred Hitchcocks "Rebecca" im "Titania-Palast". Zum ersten Festspielleiter wurde der Filmhistoriker Alfred Bauer berufen, der nach dem Krieg die britische Militärregierung in Filmangelegenheiten beraten hatte. Im Ostteil der Stadt gab es als Reaktion auf die Berlinale das Festival des volksdemokratischen Films, auf dem hauptsächlich Filme aus dem damaligen Ostblock gezeigt wurden. Dieses Filmfest fand ebenfalls erstmals 1951, eine Woche nach dem Ende der Berlinale statt.
Seit der ersten Berlinale wird der – nach einer Vorlage der Bildhauerin Renée Sintenis gestaltete – Goldene Berliner Bär verliehen. Die Preisträger wurden in den ersten Jahren teilweise durch Publikumswahl bestimmt. Nachdem die FIAPF (Fédération Internationale des Associations de Producteurs de Films) die Berlinale offiziell mit den Festivals in Cannes, Venedig und Locarno gleichgestellt hatte, änderte sich dies entsprechend den FIAPF-Richtlinien: Die Berlinale wurde zu einem "A-Festival" und berief 1956 erstmals eine internationale Jury ein, die den „Goldenen“ und die „Silbernen Bären“ vergab. Die frühe Berlinale war vor allem ein Publikums- und Glamour-Festival, auf dem sich zahlreiche Filmstars präsentierten (etwa Gary Cooper, Sophia Loren, Jean Marais, Richard Widmark, Jean Gabin, Michèle Morgan, Henry Fonda, Errol Flynn, Giulietta Masina, David Niven, Cary Grant, Jean-Paul Belmondo und Rita Hayworth).
Die Ausrichtung des Festivals änderte sich ab Ende der 1960er Jahre auch aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Polarisierung. So kam es etwa auf der Berlinale 1970 durch den Vietnamkriegs-Film "o.k." von Michael Verhoeven zu heftigem Streit, sodass die Jury zurücktrat und das Wettbewerbsprogramm abgebrochen wurde. Auf der Berlinale 1971 wurde daraufhin neben dem traditionellen Wettbewerb mit dem „Internationalen Forum des jungen Films“ eine ehemalige Gegenveranstaltung in das Festival integriert, das junge und progressive Filme vorstellen sollte. Durch die Veränderungen Infolge der Ostpolitik Willy Brandts, die mit einer kulturellen Öffnung der Ostblockstaaten einherging, kamen 1974 mit "Mit dir und ohne dich" von Rodion Nachapetow und 1975 mit "Jakob der Lügner" zum ersten Mal ein sowjetischer und ein DDR-Film ins Programm.
1976 wurde der bisherige Festivalleiter Alfred Bauer durch den Filmpublizisten Wolf Donner abgelöst. Dieser führte zahlreiche Änderungen und Modernisierungen des Festivals ein, etwa die Verlegung vom Sommer in den Winter. Einer der Gründe für diese Änderung war damals der Termin der "Filmmesse" (heute: "European Film Market"), der sich im Winter weniger mit den Terminen anderer Filmmärkte überschnitt. Donner etablierte neue Sektionen wie die "Deutsche Reihe" und das "Kinderfilmfest", die ehemalige "Informationsschau" wurde zum "Panorama" in seiner heutigen Form. Seit Donners Zeit gilt die Berlinale vor allem als „Arbeitsfestival“ und weniger als Bühne für Stars und „Sternchen“.
Wolf Donner wurde 1979 durch Moritz de Hadeln abgelöst, der die Berlinale bis 2001 leitete. Seit 2000 ist das Theater am Potsdamer Platz mit 1800 Sitzplätzen Hauptspielstätte. Während der Berlinale wird das Theater in "Berlinale Palast" umbenannt. Neben den Filmpremieren der Wettbewerbsfilme findet hier auch der Eröffnungsfilm und die Preisverleihung statt.
Bis einschließlich 2015 hatte Rosa von Praunheim mehr als 20 Filme auf der Berlinale und ist damit Rekordhalter.
Die Berliner Filmfestspiele wurden vom 1. Mai 2001 bis Ende Mai 2019 von Dieter Kosslick geleitet. Auch unter ihm gab es einige Veränderungen: So wurde die neue Reihe "Perspektive Deutsches Kino" eingeführt, 2003 entstand für die Nachwuchsförderung der "Berlinale Talent Campus" und zur Berlinale 2007 wurde mit den "Berlinale Shorts" eine weitere neue Sektion vorgestellt.
Ab 1. Juni 2019 übernahmen Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek offiziell die Leitung des Filmfestivals. Rissenbeek und Chatrian kündigten im Mai 2019 an, die Reihe "Kulinarisches Kino" 2020 nicht fortzusetzen. Mit der Reihe "Encounters" soll eine neue Wettbewerbssektion geschaffen werden, um Werke von unabhängigen Filmemacherinnen zu fördern.
Ab 2020 stieg RBB Media, eine Tochtergesellschaft des RBB, als Co-Partner bei dem Filmfestival ein.
Sektionen.
Wettbewerb.
Der Wettbewerb ist die zentrale Sektion der Filmfestspiele; im Wettbewerbsprogramm werden die Hauptpreise – der Goldene Bär und die Silbernen Bären – verliehen. Im Wettbewerb werden (entsprechend den FIAPF-Richtlinien) ausschließlich Filme gezeigt, die innerhalb der letzten zwölf Monate vor Festivalbeginn produziert und noch nicht außerhalb ihrer Ursprungsländer aufgeführt wurden.
Etwa 20 Filme stehen jedes Jahr im Wettbewerb. Die Nominierung der Filme sowie die Auswahl der Jurymitglieder ist Aufgabe der Festivaldirektion. Die Preisträger werden von einer internationalen Jury unter Führung eines Jury-Präsidenten gewählt und zum Ende des Festivals verkündet. Aktuelle Spielstätten des Wettbewerbs sind u. a. der Berlinale Palast am Potsdamer Platz sowie die Kinos CinemaxX, Kino International und das Haus der Berliner Festspiele. 2009 kam der Friedrichstadtpalast als Spielstätte hinzu. Jury-Präsidentin der Berlinale 2009 war die Schauspielerin Tilda Swinton. 2010 hatte dieses Amt der Regisseur Werner Herzog inne, gefolgt von Isabella Rossellini (2011), Mike Leigh (2012), Wong Kar-Wai (2013), Produzent und Drehbuchautor James Schamus (2014), Darren Aronofsky (2015), Meryl Streep (2016), Paul Verhoeven (2017), Tom Tykwer (2018), Juliette Binoche (2019) und Jeremy Irons (2020).
Forum und Forum Expanded.
Das "Internationale Forum des Jungen Films" (kurz: "Forum") findet seit 1971 statt; der inhaltliche Schwerpunkt liegt traditionell im Bereich des politisch engagierten Kinos. Das "Forum" geht zurück auf eine Initiative des von Gero Gandert 1963 gegründeten Vereins "Freunde der Deutschen Kinemathek". Die Gründer waren Gero Gandert, Erika Gregor, Ulrich Gregor, Heiner Roß und Manfred Salzgeber. Ulrich Gregor war von 1971 bis 1979 der Sprecher des Forums, ab dann Leiter für 20 Festivals. Das Forum bot jungen Regisseuren wie Raúl Ruiz, Derek Jarman und Peter Greenaway eine erste Gelegenheit, sich international zu präsentieren. Es gibt auch Filmen mit ungewöhnlichen Formaten eine Plattform, so etwa den überlangen Produktionen "Taiga" von Ulrike Ottinger (8 h 21 min) oder "Satanstango" von Béla Tarr (7 h 16 min).
Einen weiteren Schwerpunkt des Forums bildet der außereuropäische Film. In den 1970er und 1980er Jahren konzentrierte man sich auf US-Independentfilme, Filme aus Lateinamerika und internationale Avantgarde-Filme. In den 1980er und 1990er Jahren widmete man sich dem unabhängigen Kino Asiens. Leiter des Forums war von 2001 bis 2018 der Berliner Filmjournalist Christoph Terhechte. Nach einer Festivaledition mit Interimsleitung ist seit August 2019 Cristina Nord die Sektionsleiterin des Forums.
„Das Internationale Forum, immer noch das wichtigste Nebenprogramm der Berliner Filmfestspiele, ist für die Neugierigen unter den Cineasten schon seit Jahren zu deren Hauptprogramm geworden.“ (Peter W. Jansen). Spielstätten des Forums sind die Kinos "Delphi Filmpalast", "Arsenal" (mittlerweile am Potsdamer Platz), "CineStar" (bis zur Berlinale 2019), "CinemaxX", "Cubix" und das "silent green Kulturquartier".
2015 wurde erstmals das Gesamtprogramm von "Forum Expanded" in der Akademie der Künste gezeigt, nachdem sie bis 1999 schon einmal Spielort der Berlinale war. Seit Herbst 2021 leiten die Künstlerin Ala Younis und Ulrich Ziemons gemeinsam diese Sektion.
Retrospektive, Hommage und Berlinale Classics.
Die "Retrospektive" ist das filmhistorische Programm der Berlinale. Sie wird seit 1951 durchgeführt und seit 1977 in deutlich nichtkommerzieller Intention von der "Stiftung Deutsche Kinemathek" (heute: "Filmmuseum Berlin – Deutsche Kinemathek)" kuratiert und organisiert. Die Themen der Retrospektive widmen sich zentralen Perioden der Filmgeschichte ebenso wie filmästhetischen oder filmtechnischen Aspekten und einzelnen Genres. Leiter der "Retrospektive" ist Rainer Rother. Aktuelle Spielstätten der "Retrospektive" sind das "CinemaxX" und das "Zeughauskino".
Mit der "Hommage" und dem Goldenen Ehrenbären werden seit 1977 herausragende Persönlichkeiten des Films für ihr Lebenswerk gewürdigt. In einer Filmreihe sind jeweils deren wichtigste Werke zu sehen. Der Goldene Ehrenbär für das Lebenswerk wird im Rahmen einer Galaveranstaltung für den anwesenden Ehrengast verliehen. Die "Internationalen Filmfestspiele Berlin" und die "Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen" bereiten die Hommage gemeinsam vor.
In den "Berlinale Classics" feiern digital restaurierte Filmklassiker und Wiederentdeckungen ihre Erstaufführung. Sie erweitern seit 2013 die Retrospektive.
Verzeichnis der Retrospektiven
Verzeichnis der Hommagen
Panorama.
Das "Panorama" gehört zum offiziellen Programm der Berlinale und wird seit 1986 veranstaltet. Vorläufer war in der Anfangszeit der Berlinale die so genannte "Informationsschau". Leiter war zunächst Manfred Salzgeber, der 1992 von Wieland Speck abgelöst wurde. Schwerpunkte sind das Arthouse-Kino und der Autorenfilm, alle Filme werden als Welt- oder Europa-Premiere gezeigt. Das Hauptprogramm bietet jährlich etwa 18 Spielfilme, zahlreiche weitere Produktionen bilden das Rahmenprogramm. Subsektionen sind die Reihen "Dokumente", "Panorama Special" und "Panorama-Kurzfilme". Inhaltlich widmet sich das Panorama eher gesellschaftlichen als direkt politischen Themen: So werden traditionell viele schwul-lesbische beziehungsweise queere Filme gezeigt. Spielstätten des Panoramas sind das "CinemaxX", das "Kino International" und das "CineStar" (bis zur Berlinale 2019).
Generation.
Seit 1978 widmet die Berlinale eine Sektion speziell Kindern und Jugendlichen und zeigt dort eine aktuelle Auswahl internationaler Spiel- und Kurzfilme. Die Sektion gilt in diesem Bereich als eine der wichtigsten Markt- und kulturellen Plattformen weltweit. Die Sektion wurde 2004 durch den Jugendfilmwettbewerb "14plus" ergänzt. Der frühere Name „Kinderfilmfest“ wurde zur Berlinale 2007 in "Generation" umbenannt. Entsprechend heißen die Wettbewerbe heute "Generation Kplus" und "Generation 14plus".
Im Wettbewerb "Generation Kplus" verleiht eine elfköpfige Kinderjury den Gläsernen Bären an je einen Spiel- und einen Kurzfilm. Eine Internationale Jury von Filmfachleuten vergibt zudem die mit Geld dotierten Preise des Deutschen Kinderhilfswerks. Den Gläsernen Bären für den besten Spielfilm im Wettbewerb "Generation 14plus" vergibt eine siebenköpfige Jury von Jugendlichen.
Die Devise, keinen „Kinderkitsch“ zu zeigen, bedeutet, anspruchsvolle Filme aus der ganzen Welt ins Programm aufzunehmen, die nah am Alltag und am Erleben von Kindern und Jugendlichen bleiben und auch eine Realität abbilden, die manchmal harter Tobak ist.
Mit ihrem Programm möchte die Sektion Generation für ein erweitertes Verständnis von Filmen für junge Menschen werben. Die Wettbewerbsbeiträge beschränken sich nicht auf klassische Kinder- oder Jugendfilmproduktionen; sie schließen vielmehr auch Filme ein, die zwar nicht für diese Zielgruppen konzipiert wurden, aber Kinder oder Jugendliche thematisch und formal ansprechen.
Im Rahmen von "Cross Section" werden seit 2006 für Kinder und Jugendliche geeignete Filme aus den anderen Sektionen der Berlinale außer Konkurrenz in „Generation“ wiederholt und so einem Publikum unter 18 Jahren zugänglich gemacht. Von 2008 bis 2022 wurde "Generation" von Maryanne Redpath geleitet, von 2008 bis 2014 in Zusammenarbeit mit Florian Weghorn als Co-Kurator. Hauptspielstätte von "Generation Kplus" war der "Zoo Palast". Seit 2012 ist das Haus der Kulturen der Welt die Hauptspielstätte von "Generation 14plus". Weitere Vorstellungen gibt es in den Kinos "Colosseum" (Prenzlauer Berg), im "Filmtheater am Friedrichshain" sowie im "Cinemaxx" am Potsdamer Platz. Seit 2023 wird die Sektion vom Filmkritiker Sebastian Markt geleitet. An seiner Seite betreut Melika Gothe das Sektionsmanagement.
Berlinale Special.
"Berlinale Special" ist eine 2004 neu eingeführte Reihe im offiziellen Programm, in der sowohl aktuelle Arbeiten großer Filmemacher als auch Wiederaufführungen von klassischen Werken der Filmgeschichte und Produktionen zu Festivalschwerpunkten oder aktuell-brisanten Themen gezeigt werden sollen. Aufführungsort ist der Friedrichstadt-Palast.
Perspektive Deutsches Kino.
Die unter Dieter Kosslick eingeführte Sektion "Perspektive Deutsches Kino" widmet sich der aktuellen deutschen Filmproduktion und ergänzt die geschlossene Reihe "German Cinema"; gezeigt werden etwa ein Dutzend Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilme, die aus ca. 250 Bewerbungen ausgewählt werden. Linda Söffker war von 2010 bis 2022 die Leiterin. Seit 2023 wird die Sektion von Jenni Zylka geführt.
Berlinale Shorts.
Im Jahr 2006 wurde mit den "Berlinale Shorts" eine eigene Sektion für kurze Filme eingerichtet. Je ein Goldener und ein Silberner Bär werden seit 1955 an die besten kurzen Filme vergeben, seit 2003 von einer eigens dafür einberufenen internationalen Jury. In den "Berlinale Shorts" laufen jährlich ca. 30 Kurzfilme, die um die Bären konkurrieren. Die Sektion wurde von 2007 bis 2019 von Maike Mia Höhne geleitet. Carlo Chatrian als künstlerischer Direktor und Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin, seit dem 1. Juni 2019 offiziell die Leitung der Berlinale, haben Anna Henckel-Donnersmarck zur neuen Leiterin der Sektion berufen. Kurzfilme und mittellange Filme sind darüber hinaus in den Sektionen "Generation", "Perspektive Deutsches Kino" und im "Forum Expanded" zu sehen.
Berlinale Series.
2015 wurde die Berlinale zum ersten A-Festival weltweit, das eine eigene Reihe für Fernsehserien ins offizielle Programm einführte. Zuvor war es bereits ab 2010 zu Premieren von Serienformaten (u. a. "Top of the Lake", "Im Angesicht des Verbrechens") gekommen. Im Rahmen der "Berlinale Special Series" kam es u. a. mit "Better Call Saul", "The Night Manager" oder "4 Blocks" zu Welt- oder internationalen Premieren. 2018 wurde die Reihe in "Berlinale Series" umbenannt und hat mit dem Zoo Palast eine veränderte zentrale Spielstätte erhalten. Seit 2019 ist Julia Fidel die Leiterin von "Berlinale Series".
Encounters.
Zum 70. Jubiläum der Berlinale 2020 wurde die neue, kompetitive Sektion "Encounters" eingeführt.
European Film Market.
Der "European Film Market (EFM)" ist wichtiger Handelsplatz für Produzenten, Verleiher, Filmeinkäufer und Co-Produktionsagenten. Als erster Filmmarkt im Jahr gehört der "EFM" neben dem "Marché du Film" in Cannes im Mai und dem "American Film Market" im November zu den drei bedeutendsten Branchentreffen der Filmindustrie.
Der "EFM" ist die Nachfolgeveranstaltung der "Filmmesse". Sie wurde von 1980 bis 1987 von Aina Bellis geleitet; 1988 übernahm Beki Probst die Leitung für diese im Sinne der Filmwirtschaft an die Berlinale angegliederte Veranstaltung. Von 2014 bis Oktober 2020 leitete der Niederländer Matthijs Wouter Knol den European Film Market. Die langjährige "EFM"-Direktorin Beki Probst stand dem "EFM" dabei bis 2018 als Präsidentin vor. Seit November 2020 ist Dennis Ruh Direktor des "EFM". Veranstaltungsort des "EFMs" waren bis 2000 die Räume in der Budapester Straße, danach fand der Filmmarkt im Atrium des Debis-Hauses am Potsdamer Platz statt, das eine Fläche von rund 2.500 m² bot.
Die stetige Expansion der Veranstaltung führte 2006 zum Umzug in den Martin-Gropius-Bau und das Marriott Hotel am Potsdamer Platz. Beim "EFM" 2020 wurden 971 Vorführungen von 732 angemeldeten Filmen durchgeführt, darunter waren 525 Filme mit ihrer Marktpremiere. Dafür wurden vorwiegend die Kinos "CinemaxX" und "CineStar" genutzt. Es waren über 11.423 Teilnehmer aus 114 Ländern gemeldet. 564 Ausstellern und Anbietern standen 1.649 registrierte Buyer gegenüber.
Preise und Auszeichnungen.
Verliehene Preise.
Außerdem verleihen vom Festival unabhängige Jurys folgende Preise:
Festival-Trailer.
Seit 2002 eröffnet ein 50 Sekunden langer Trailer („Opener“) die Vorführungen in allen Sektionen des Festivals. Die Computeranimation entstand in Zusammenarbeit des Regisseurs Uli M Schueppel mit der Filmproduktionsfirma "Das Werk" Berlin. |
486 | 108395 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=486 | Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen | Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), verkürzend nach den amtierenden Bundesbeauftragten auch Gauck-, Birthler- bzw. Jahn-Behörde genannt, war eine Bundesoberbehörde mit Zentralstelle in Berlin und Außenstellen in den Neuen Ländern. Ihre Aufgabe bestand darin, die Akten und Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit (kurz "MfS" oder „Stasi“) der DDR zu verwalten und zu erforschen. Die Errichtung der Behörde wurde von Mitgliedern der Bürgerkomitees und Freiwilligen der Bürgerrechtsbewegung im Zuge der friedlichen Revolution von 1989 erwirkt. Die Amtszeit des Bundesbeauftragten betrug fünf Jahre, eine einmalige Wiederwahl war gemäß § 35 Abs. 4 Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) möglich. Das 1991 in Kraft getretene StUG bildete die Rechtsgrundlage der Behörde. Die Behörde war Mitglied der Platform of European Memory and Conscience und gehörte dem Geschäftsbereich des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) an. Mit Wirkung zum 17. Juni 2021 wurde die Behörde aufgelöst und in das Bundesarchiv überführt.
Geschichte.
Am 4. Oktober 1990 übernahm der ehemalige Rostocker Pastor Joachim Gauck das Amt des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen. Mit Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes am 29. Dezember 1991 wurde er der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Wegen ihres langen amtlichen Titels wurde die Behörde daraufhin kurz Gauck-Behörde genannt.
Nachdem Marianne Birthler die Leitung der Behörde im Oktober 2000 übernommen hatte, hieß die Behörde in den Medien auch "Birthler-Behörde". Sie wird als "Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen" (BStU) bezeichnet und unterlag der Dienstaufsicht durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Es gibt keine Fachaufsicht durch ein Ministerium, die BStU berichtet regelmäßig an den Deutschen Bundestag.
Der Deutsche Bundestag hat auf Vorlage der Bundesregierung im Rahmen der Fortschreibung des Gedenkstättenkonzeptes<ref name="Bundestags-Drucksache 16/9875">BT-Drs. 16/9875 (PDF)</ref> beschlossen, eine Expertenkommission einzusetzen. Diese sollte die Aufgaben der BStU analysieren und dem Deutschen Bundestag Vorschläge zur Zukunft der Behörde machen. Die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP entschieden, dass die BStU noch mindestens bis 2019 tätig bleiben soll.
In dem Gedenkstättenkonzept ist außerdem festgehalten, dass die Struktur und Anzahl der BStU-Außenstellen in den Regionen zeitnah verändert wird, um trotz zurückgehenden Personalbestands die Arbeitsfähigkeit gewährleisten zu können. Hierzu lagen 2009 erste Planungen vor, die mit dem BKM, dem Deutschen Bundestag und den Ländern diskutiert wurden.
Am 28. Januar 2011 wurde der Journalist Roland Jahn vom Deutschen Bundestag zum neuen Leiter der Behörde gewählt. Das Amt trat er im März 2011 an.
Anfang 2016 kritisierte der Bundesrechnungshof die unzulässige Zahl von Überstunden der Pressesprecherin der Behörde, Dagmar Hovestädt. Laut BStU waren die Überstunden dienstlich notwendig, eine rechtliche Prüfung habe stattgefunden, in der Verwaltung sei es jedoch zu verschiedenen Fehlern gekommen. Die Behörde stellte die Mängel anschließend ab und führte eine verbesserte Prüfmethodik für Finanzentscheidungen ein.
Stasi-Unterlagen-Gesetz.
Am 29. Dezember 1991 trat das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) in Kraft; der Deutsche Bundestag hatte es mit großer Mehrheit verabschiedet. Das zentrale Anliegen dieses Gesetzes ist die Öffnung der Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes für die Aufarbeitung, insbesondere der Zugang der Betroffenen zu den Informationen, die der Staatssicherheitsdienst zu ihnen gespeichert hat. Erstmals bekamen damit Bürger die Gelegenheit, Unterlagen einzusehen, die eine Geheimpolizei über sie angelegt hatte. Das ist in der Geschichte ohne Beispiel. Zudem ist es ein Auftrag des Gesetzes, die Persönlichkeitsrechte der Menschen, über die Stasi-Unterlagen existieren, zu schützen. Vier Tage nach dem Inkrafttreten des Gesetzes, am 2. Januar 1992, begann die Akteneinsicht.
Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR sammelte Material über Millionen von Menschen – in erster Linie über DDR-Bürger, aber auch über viele Bürger der Bundesrepublik Deutschland und über Bürger anderer Staaten. Viele Lebensläufe – nicht nur in der DDR – wurden im Laufe der Jahre durch die Staatssicherheit entscheidend beeinflusst. Das MfS organisierte den beruflichen Erfolg oder Misserfolg, erstellte gründliche Pläne zur so genannten Zersetzung, drang in die Privatsphäre seiner Opfer ein und verwendete auch intime Informationen für seine Zwecke. Die Stasi verletzte Grundrechte der Bürger wie die ärztliche Schweigepflicht, Bank- und Postgeheimnis, die Unverletzlichkeit der Wohnung, auch wenn sie in der Verfassung der DDR festgelegt waren.
Insgesamt wurden bis Ende 2020 7.353.885 Anträge auf Akteneinsicht gestellt, darunter:
Beschäftigung ehemaliger MfS-Angehöriger.
2007 erschien ein als vertraulich deklariertes „Gutachten über die Beschäftigung ehemaliger MfS-Angehöriger bei der BStU“, das der Kulturstaatsminister Bernd Neumann bei dem ehemaligen Verfassungsrichter Hans Hugo Klein und dem Historiker Klaus Schroeder in Auftrag gegeben hatte. Das Gutachten erhebt schwere Vorwürfe gegenüber der Behörde, vor allem bezogen auf die Zeit unter Joachim Gaucks Führung. So sollen 1991 mindestens 79 ehemalige Stasimitarbeiter, darunter fünf ehemalige IMs, in der Behörde tätig gewesen sein. Im Gutachten heißt es: „Nahezu alle ehemaligen MfS-Bediensteten hatten in den ersten Jahren des Aufbaus der Behörde die Möglichkeit des Missbrauchs. Sie konnten Akten vernichten, verstellen oder herausschmuggeln, denn sie hatten als Wachschützer, als Archivare, als Magazinmitarbeiter oder als Rechercheure zum Teil ungehinderten und unbeaufsichtigten Zugang zu erschlossenem, aber auch zu unerschlossenem Material.“ Marianne Birthler begrüßte grundsätzlich die Beauftragung der Bundesregierung zur Erstellung eines Gutachtens, wies aber die im Gutachten angegebenen Zahlen an Mitarbeitern mit MfS-Vergangenheit zurück und bemängelte, dass das Gutachten unbelegte Darstellungen enthalte. Der letzte Amtsinhaber Roland Jahn bezeichnete in seiner Antrittsrede am 14. März 2011 die Beschäftigung ehemaliger MfS-Mitarbeiter als „unerträglich“ und erklärte es zu seinem Ziel, diese Mitarbeiter umsetzen zu lassen.
Rosenholz-Akten.
Unter den Unterlagen der Behörde nimmt die „Rosenholz“-Datenbank in der Öffentlichkeit eine Sonderstellung ein. Sicher haben politische Diskussionen und die Medienberichterstattung um die Verstrickung Westdeutscher in das Staatssicherheitssystem der DDR daran ihren Anteil. Diese Datenbank wird im Karteibereich der Zentralstelle geführt.
Bei den „Rosenholz“-Unterlagen handelt es sich um mikroverfilmte Karteien der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des MfS, die für die Auslandsspionage zuständig war. Diese Verfilmung fertigte das MfS 1988 im Zuge der allgemeinen Mobilmachungsbereitschaft an. Auf unbekanntem Wege gelangten diese Unterlagen 1989/1990 in die USA. Die amerikanische Regierung ermöglichte 1993 Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungsschutz Einblick in diese mikroverfilmten Karteikarten. Die deutschen Behörden sollten in die Lage versetzt werden, Spione zu enttarnen und ggf. unter Anklage zu stellen. Diese Aktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz, in deren Folge tausende Westdeutsche überprüft wurden, lief damals unter dem Codewort „Rosenholz“. Inzwischen wird der Name auch als Bezeichnung für die Unterlagen selbst benutzt.
Nach langwierigen Verhandlungen der Bundesregierung mit den zuständigen Stellen in den USA wurden die Unterlagen mit westdeutschem Bezug seit dem Sommer 2000 bis Mai 2003 schrittweise an die Stasi-Unterlagen-Behörde zurückgegeben. Seit Juni 2003 können die Unterlagen entsprechend dem Stasi-Unterlagen-Gesetz verwendet werden.
In zahlreichen Spionageprozessen und Ermittlungsverfahren, die in den 1990er Jahren stattfanden, hat der Generalbundesanwalt Erkenntnisse aus den „Rosenholz“-Unterlagen verwendet. Daher ist aktuell mit strafrechtlich relevanten Entdeckungen kaum noch zu rechnen. Darüber hinaus ist die Überlieferungslage der „Rosenholz“-Datenbank nicht eindeutig. Oft werden sowohl IM (Inoffizieller Mitarbeiter), also Spione, wie deren Quellen, die von den IM ausgeforscht oder abgeschöpft wurden, unter dem gleichen Vorgang erfasst. Deshalb lässt sich oft nicht mehr eindeutig zuordnen, wer Täter und wer Opfer war. Da die HV A 1990 fast alle wichtigen Akten vernichten konnte, sind auch kaum Möglichkeiten zur Gegenprüfung in den Stasi-Unterlagen gegeben.
Bedeutung und Ende der BStU 2021.
Nach der Auflösung des MfS 1990 und der anschließenden Offenlegung seiner Arbeitsweise wurde das MfS zum Gegenstand eines breiten öffentlichen Interesses und intensiver Forschung seit 1991. Die Dokumentation der BStU über Strukturen, Mitarbeiter und Methoden eines Nachrichtendienstes stellt einen bislang einmaligen Sonderfall und Chance in der deutschen Geschichte dar. Die Behörde eröffnete den Betroffenen erstmals und einzigartig Einsicht in die über sie gespeicherten Informationen.
Im „Fall Kohl“ (2000–2004) ging es darum, ob Protokolle der von der Stasi illegal abgehörten Telefonate des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl herausgabefähig sind. Während Kohl dies ablehnte, drängten insbesondere Journalisten, die zur Spendenaffäre recherchierten, auf Akteneinsicht. Der daraus resultierende „Aktenstreit“ führte nach mehreren Gerichtsverfahren zu einem Kompromiss: Der BStU darf die Unterlagen herausgeben, aber nur unter strengen Auflagen und eingeschränkt.
Überführung ins Bundesarchiv.
Schon als 1991 das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) in Kraft trat, war klar, dass die damit gegründete Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen ihren Aktenbestand irgendwann in das Bundesarchiv überführen würde. Da im Stasi-Unterlagen-Gesetz aber ein Unterschied beim Zugang zu den Täterunterlagen gemacht wird, den es im Bundesarchivgesetz nicht gibt, und weil für die Akten der Stasiopfer ein größerer Datenschutz besteht als im Bundesarchiv, ist diese Überführung nicht ohne Weiteres möglich.
Eine Änderung des StUG und die mögliche Auflösung und Eingliederung der BStU in das Bundesarchiv wurde 2006 und 2007 öffentlich diskutiert. Der Deutsche Bundestag hat auf Vorlage der Bundesregierung im Rahmen der Fortschreibung des Gedenkstättenkonzeptes im Jahr 2008 die Einsetzung einer Expertenkommission durch den 17. Deutschen Bundestag beschlossen. Diese sollte die gesetzlich zugewiesenen Aufgaben der BStU analysieren und Vorschläge zur Zukunft der Behörde unterbreiten. Grundsätzlich haben die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP entschieden, dass die BStU mindestens bis zum Jahr 2019 weiterarbeiten soll. Dies hatte die SPD schon in der vergangenen Legislaturperiode gefordert. Am 27. November 2014 wurde die Expertenkommission zur Zukunft der Behörde des BStU offiziell eingesetzt.
In der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption wurden auch Entscheidungen über die Zukunft der Außenstellen und die Arbeit in der Fläche festgehalten: „Die Struktur der Außenstellen wird zeitnah verändert, um eine effizientere Arbeit trotz zurückgehenden Personalbestandes gewährleisten zu können.“ Da die Außenstellen Rostock, Magdeburg, Gera und Suhl geschlossen werden sollen, setzte eine intensive Diskussion darüber ein. Die Schließung betrifft die Archivstandorte, vor Ort sollen Bürgerbüros die Dienstleistungen für die Bürger – Akteneinsicht, politische Bildungsarbeit, Informationsveranstaltungen etc. – weiter anbieten.
Auflösungsbeschluss 2020 und neue Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur 2021.
Der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages hat am 1. August 2019 über das Konzept des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und des Bundesarchivs vom 13. März 2019 beraten und eine Beschlussempfehlung abgestimmt. Diese wurde in der Plenarsitzung vom 26. September 2019 angenommen.
Der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags hat am 4. November 2020 zur Überführung der Stasi-Akten in die Zuständigkeit des Bundesarchivs und die Einrichtung des Amtes eines Beauftragten für die Opfer der SED-Diktatur nach dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes, des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Einrichtung einer oder eines SED-Opferbeauftragten vom 27. Oktober 2020 eine öffentliche Anhörung durchgeführt.
Am 19. November 2020 stimmte der Bundestag mit der Mehrheit aus CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen für ein Gesetz zur Überführung der Unterlagen in die Zuständigkeit des Bundesarchivs. Die Linksfraktion enthielt sich, die AfD-Fraktion stimmte dagegen.
Der Bundesbeauftragte Jahn äußerte sich zustimmend zu dem Gesetz und zur Nachfolge: „Es ist gut, dass aus dem Beauftragten für die Akten ein Beauftragter für die Menschen wird, der nicht nur die Stasi, sondern die gesamte SED-Diktatur in den Blick nimmt.“
Das Gesetz zur Änderung des Bundesarchivgesetzes, des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Einrichtung einer oder eines SED-Opferbeauftragten wurde am 9. April 2021 ausgefertigt und trat gemäß seinem Artikel 6 am 17. Juni 2021 in Kraft. Am 10. Juni 2021 wählte der Bundestag Evelyn Zupke zur neuen Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur.
Einsichtnahme in Stasi-Unterlagen.
Die Rechtsgrundlage für die Einsichtnahme in die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR bildet das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG). Das Antragsformular für die Einsichtnahme kann auf der Internetseite der BStU heruntergeladen werden.
Der private Akteneinsichtsantrag.
Jeder Einzelne hat das Recht, von dem Bundesbeauftragten Auskunft darüber zu verlangen, ob in den erschlossenen Unterlagen Informationen zu seiner Person enthalten sind. Ist das der Fall, kann er Auskunft, Einsicht in Unterlagen und Herausgabe von Kopien erhalten.
Die Unterlagen zu vermissten oder verstorbenen nahen Angehörigen sind nur für einen festgelegten Personenkreis und nur zu bestimmten Zwecken eingeschränkt zugänglich (§ 15 StUG).
Anträge von Forschern und Medienvertretern.
Der Bundesbeauftragte unterstützt die Forschung, Presse, Rundfunk und Film (Medien) sowie Einrichtungen zur politischen Bildung bei der historischen und politischen Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, der Herrschaftsmechanismen der ehemaligen DDR bzw. der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone sowie bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Im Rahmen eines zulässigen Antrags werden die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zur Verfügung gestellt.
Ersuchen öffentlicher und nicht-öffentlicher Stellen.
Die Überprüfung von Personen auf eine frühere hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst ist auf der Grundlage eines schriftlichen Ersuchens öffentlicher und nicht-öffentlicher Stellen möglich. Das sind etwa die Landtage oder Regierungen, aber auch Kreistage oder Bürgermeister. Der Kreis der überprüfbaren Personen wurde mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vom 21. Dezember 2006 stark eingeschränkt.
Ebenso werden u. a. Ersuchen zu Rentenangelegenheiten, zu offenen Vermögensfragen oder zu Ordensangelegenheiten bearbeitet. Für Zwecke der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr sowie zur Rehabilitierung und Wiedergutmachung stellt der Bundesbeauftragte auch Unterlagen zur Verfügung.
Unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz stellte der Bürgerrechtler Heiko Stamer im Oktober 2012 einen Antrag auf Akteneinsicht bezüglich der Nutzung der vom MfS gesammelten Daten durch nationale und internationale Institutionen. Im Februar 2013 erhielt er eine 63-seitge Liste jener, die beim BStU in den Jahren 2000 bis 2012 Auskunft ersucht hatten. Auf der Liste finden sich allen voran nationale Institutionen wie Landeskriminalämter (519), der Generalbundesanwalt (354), das Bundeskriminalamt (349), die regionalen Polizeibehörden (311) und die regionalen Staatsanwaltschaften (233). Ebenso finden sich auf der Liste internationale Institutionen wie das US-Justizministerium, die NSA, die britische sowie die amerikanische Botschaft und verschiedene Verteidigungsministerien.
Rekonstruktion zerrissener Unterlagen.
Manuelle Rekonstruktion.
Seit 1995 besteht bei der BStU eine Projektgruppe zur manuellen Rekonstruktion zerrissener Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. In ihr arbeiten überwiegend Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Zirndorf bei Nürnberg. Derzeit sind dort sechs Vollzeit- und zwei Teilzeitkräfte unter Leitung eines Archivars der BStU tätig. Seit Beginn der Arbeiten im Jahr 1995 ist Schriftgut aus 400 Säcken im Umfang von 105 laufenden Regalmetern wiederhergestellt worden; etwa 75 Prozent der erschlossenen Unterlagen betreffen Vorgänge aus den letzten fünf Jahren der DDR. Hinzu kommen erhebliche Mengen an Teilrekonstruktionen (Blattfragmente), die erst vervollständigt werden können, wenn in anderen Säcken die zugehörigen Teile gefunden worden sind.
Inhaltlicher Schwerpunkt der Arbeiten war etwa die Wiederherstellung von Schriftgut der Abteilung XV (Auslandsaufklärung) der Bezirksverwaltung Leipzig. Zusammen mit den früheren, seit Beginn der Bearbeitung im Herbst 2004 erfolgten Rekonstruktionen konnte so Schriftgut im Umfang von etwa 8 laufenden Regalmetern wiederhergestellt werden. Diese Unterlagen sind insoweit von besonderer Bedeutung, als 1989/90 beinahe alle Unterlagen zur Auslandsspionage des Staatssicherheitsdienstes vernichtet worden waren. Die rekonstruierten Dokumente haben deshalb nicht nur einen hohen Informationswert, sondern zeichnen sich auch durch ihren Evidenzwert aus, denn sie gehören zu den wenigen Zeugnissen der Tätigkeit, Struktur und Wirkungsweise der Auslandsspionage des Staatssicherheitsdienstes. Die zusammengesetzten Dokumente stammen überwiegend aus der Schlussphase der DDR. Etwa die Hälfte der erschlossenen Unterlagen konnte Vorgängen zugeordnet werden, die 1989 vom MfS noch aktiv geführt wurden. Die rekonstruierten Unterlagen belegen, dass und wie der Staatssicherheitsdienst für Zwecke der Auslandsspionage, insbesondere in der alten Bundesrepublik, auf allen Ebenen inoffizielle Mitarbeiter aus anderen Diensteinheiten des MfS rekrutierte, um sie zusätzlich zum eigenen Agentennetz einzusetzen. Im Juli 2008 wurde entschieden, die manuelle Rekonstruktion der Unterlagen zur Leipziger Abteilung XV zunächst einzustellen, weil einerseits der Arbeits- und Zeitaufwand für die Rekonstruktion der besonders kleinteiligen Schnipsel extrem hoch war und andererseits die Aussicht auf eine computergesteuerte Zusammensetzung der stark zerstörten Unterlagen besteht. Deshalb werden die verbleibenden Materialien – zusammen mit den zerrissenen Akten der Auslandsaufklärung aus den übrigen Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit – in das Pilotverfahren zur virtuellen Rekonstruktion eingebracht. Das Pilotverfahren hat somit auch positive Effekte auf die Arbeitsabläufe der manuellen Rekonstruktion: Erstmals besteht die Aussicht, Material differenziert nach Schadensklassen in verschiedene Arbeitsgänge einsteuern zu können. Durch diese neue arbeitsorganisatorische Option wird dem vom Deutschen Bundestag formulierten Ziel, die Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen zu beschleunigen, zugleich auch bei der manuellen Zusammensetzung der Unterlagen entsprochen. Neben den Materialien der Auslandsaufklärung wurden schwerpunktmäßig weiterhin Unterlagen der HA XX (Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund) des MfS zusammengesetzt.
Einen dritten Arbeitsschwerpunkt bildet seit Ende 2006 die Rekonstruktion von Unterlagen der Bezirksverwaltungen Cottbus und Frankfurt (Oder). Beide Überlieferungen sind durch hohe Verluste von Unterlagen gekennzeichnet, doch ist für einige Bereiche zerrissenes Schriftgut in nennenswertem Umfang erhalten. Daher besteht die Aussicht, Überlieferungslücken im Wege der Rekonstruktion ausgleichen zu können.
Pilotverfahren zur virtuellen Rekonstruktion.
Für die Haushaltsjahre 2007 und folgende bewilligte der Deutsche Bundestag bis zu 6,3 Millionen Euro für ein Pilotverfahren zur virtuellen Rekonstruktion der zerrissen überlieferten Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Das Pilotverfahren lehnt sich an eine Machbarkeitsstudie des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) aus dem Jahr 2003 an. In dem im Frühjahr 2007 zwischen dem Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Innern (für die BStU) und der Fraunhofer-Gesellschaft (für das IPK) abgeschlossenen Forschungsauftrag wird dem Institut eingeräumt, Projektteile von Unterauftragnehmern ausführen zu lassen. Dies trifft insbesondere für das Scannen und die sogenannte Rahmensoftware zur eigentlichen Rekonstruktionssoftware zu. Die für die Verwahrung und Behandlung von MfS-Unterlagen geforderten Sicherheitsstandards werden vom IPK gewährleistet.
Derzeit befindet sich das Pilotverfahren in der Entwicklungsphase. Da die Entwicklung der verschiedenen Module wesentlich zeitaufwändiger war als das IPK beim Projektstart angenommen hat, kam es zu einer bisher über zweijährigen Verzögerung. Dennoch ist das Verfahren weiter auf einem guten Weg. Durch die Verzögerung entstehen keine Mehrkosten, da die Leistungen des IPK zu einem Festpreis erfolgsabhängig vergütet werden.
Das Rekonstruktionsverfahren konnte mittlerweile in der ersten lauffähigen Version, die die Basismodule beinhaltet, abgenommen werden. In der sich daran anschließenden Testphase (Testlauf im Realbetrieb) mit den verbliebenen Säcken sollen die verschiedenen Arbeitsschritte auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüft und verfeinert werden. Auch während des geplanten Testlaufs werden Beschäftigte der BStU beim IPK begleitend eingesetzt.
Das Pilotverfahren besteht aus zwei Hauptbausteinen. Der erste Hauptbaustein umfasst die vom IPK zu realisierende Entwicklungs- und Testphase, in der die Schnipsel aus einigen „Probesäcken“ von insgesamt 400 nach archivfachlichen Kriterien ausgewählten Säcken mit zerrissenen Unterlagen im IPK gescannt und automatisiert bzw. interaktiv (durch Mitarbeiter am Bildschirm) virtuell rekonstruiert werden. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen dienen der Weiterentwicklung der Software und der optimalen Ablaufgestaltung. Mitarbeiter der BStU unterstützen und begleiten die Arbeitsvorbereitung des Scan-Verfahrens sowie die Qualitätssicherung für das Zusammensetzen und die interaktive virtuelle Rekonstruktion.
Der zweite Hauptbaustein ist vom BStU zu realisieren und schließt sich an das technisch erfolgreich abgeschlossene Pilotverfahren an. In der archivischen Bearbeitungsphase werden die vom IPK gelieferten virtuell rekonstruierten Einzelseiten zu Dokumenten bzw. Vorgängen formiert und nach Archivstandards erschlossen. Das Ergebnis der darauf folgenden Auswertungsphase wird ein Bericht an den Deutschen Bundestag sein. Gefordert werden belastbare Aussagen zur Machbarkeit und Prozessmodellierung im Realbetrieb sowie zu den Kosten eines möglichen Hauptverfahrens. Darüber hinaus sollen die im Pilotverfahren gewonnenen Erkenntnisse zum Mehrwert der rekonstruierten Unterlagen im Vergleich zu den vorhandenen Unterlagen bezogen auf die jeweils bearbeiteten Teilbestände dargestellt werden. Auf der Grundlage dieser Aussagen soll das Parlament über den weiteren Umgang mit den zerrissenen Unterlagen entscheiden können.
Der Bundesrechnungshof kritisierte in seinem Jahresbericht 2016 die Kosten der Rekonstruktion zerrissener Stasi-Akten mit der Stasi-Schnipselmaschine. In acht Jahren konnten nur Schnipsel aus 23 Säcken digitalisiert und der Inhalt von 11 Säcken rekonstruiert werden. Dabei lagern rund 15.000 Säcke mit Schnipseln in der Behörde. Der Bundesrechnungshof stellte fest, dass für das Projekt beim BStU Ausgaben von mehr als 14 Millionen Euro angefallen waren, „ohne dass absehbar war, wann und wie eine relevant höhere Zahl von Säcken bearbeitet werden könnte“ und forderte den BStU auf, „in einer Neu-Konzeption die fachlichen, technischen und finanziellen Voraussetzungen für eine Weiterführung des Projekts darzulegen“ und empfahl, weil die 2014 vom Bundestag eingesetzte Expertenkommission für die Zukunft des BStU die „Durchführbarkeit der virtuellen Rekonstruktion skeptisch“ sah, eine Kosten-Nutzen-Abwägung.
Die Behördenorganisation.
Der "Bundesbeauftragte" war bis zur Überführung ins Bundesarchiv am 17. Juni 2021 Roland Jahn, die Funktion des "Direktors beim Bundesbeauftragten" wurde von der Abteilungsleiterin Zentral- und Verwaltungsaufgaben wahrgenommen. Der Stabsbereich umfasste die Sprecherin des BStU und die Pressestelle, das Leitungsbüro sowie die Arbeitsbereiche Rekonstruktion und Prävention und interne Revision. Die Behörde war in fünf Abteilungen und diese wieder in Referate unterteilt; zudem gab es zwölf Außenstellen, welche insgesamt in das Bundesarchiv überführt wurden. Der BStU hatte bis zu Überführung ins Bundesarchiv am 17. Juni 2021 zur Abstimmung und Beratung einen Beirat und ein wissenschaftliches Beratungsgremium.
Abteilung ZV (Zentral- und Verwaltungsaufgaben).
Diese Abteilung ist zuständig für Personalangelegenheiten und Aus- und Fortbildung (Referat ZV 1), Liegenschaften (ZV 2), Organisation (Referat ZV 3), Haushalt und Beschaffung (Referat ZV 4), Informations- und Telekommunikationstechnik (Referat ZV 5) sowie Innerer Dienst (Referat ZV 6), Justiziariat (Referat ZV 7), IT-Organisation / IT-Projekte (Referat ZV 8) sowie eine Projektgruppe Standortplanung. Abteilungsleiterin ist Alexandra Titze.
Abteilung AR (Archiv).
Die Abteilung gliedert sich in das Grundsatzreferat (AR 1), das Karteireferat (AR 2), den Magazindienst (Referat AR 3), Digitalisierung (Referat AR 4), die Erschließungsreferate AR 5 und AR 6. Abteilungsleiterin von AR ist Birgit Salamon.
Abteilung AU (Auskunft).
Die Abteilung besteht aus einem Grundsatzreferat (AU G) sowie verschiedenen Auskunftsreferaten (AU 1–6). Die Abteilung Auskunft bearbeitet die Anträge auf Akteneinsicht der Bürger, aber auch Anträge auf Überprüfung (Sicherheit, Parlamentarier u. a., Ordensangelegenheiten) für Renten-, Rehabilitations- und Wiedergutmachungsfragen. Die Anträge von Forschung und Medien werden in den Referaten AU 5 und AU 6 bearbeitet. Der Abteilungsleiter ist Martin Griese.
Abteilung KW (Kommunikation und Wissen).
Die Abteilung umfasst die digitale Vermittlung (Referat KW 1), die Öffentlichkeitsarbeit / Campusentwicklung (Referat KW 2), die wissenschaftliche Forschung (Referat KW 3), den Forschungsservice wie Publikationslektorat und Bibliothek (Referat KW 4) und Ausstellungen und regionale Schwerpunktstudien (Referat KW 5). Die Abteilungsleitung wird vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen wahrgenommen.
Abteilung R (Regionale Aufgaben).
In der Abteilung R sind die zwölf Außenstellen des Stasi-Unterlagen-Archivs zusammengefasst. Sie befinden sich in den früheren Bezirksstädten der DDR und verwahren die Unterlagen der Bezirksverwaltungen des Staatssicherheitsdienstes. Abteilungsleiter ist Jens Boltze. In folgenden Städten gibt es BStU-Außenstellen:
Beirat des BStU.
Gemäß § 39 StUG (aufgehoben mit Wirkung vom 17. Juni 2021) begleitete bis zur Überführung ins Bundesarchiv am 17. Juni 2021 der Beirat die inhaltliche Arbeit des Bundesbeauftragten in beratender Funktion. Der Bundesbeauftragte unterrichtet den Beirat über grundsätzliche und andere wichtige Angelegenheiten und erörtert sie mit ihm. Dem Beirat gehören acht Mitglieder an, die vom Deutschen Bundestag gewählt werden sowie neun Mitglieder, die von den jeweiligen Landtagen in den neuen Bundesländern gewählt oder von den jeweiligen Landesregierungen ernannt werden. Damit werden in Anbetracht der fachlichen Unabhängigkeit des Bundesbeauftragten eine zusätzliche Begleitung ihrer Tätigkeit ermöglicht und die besonderen Interessen der neuen Bundesländer berücksichtigt.
Mitglieder im Beirat sind folgende vom Deutschen Bundestag gewählte Personen:
Von den neuen Bundesländern wurden
benannt.
Landesbeauftragte der ostdeutschen Länder.
Neben den dem BStU unterstellten Außenstellen mit den Akten von 14 Bezirken der DDR (s. o.) gibt es, worauf StUG Bezug nimmt, sechs Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Folgen der kommunistischen Diktatur als eigenständige Behörden der ostdeutschen Länder, die von der Auflösung 2021 des BStU nicht betroffen sind. Ihre Berufung erfolgt durch die Landesparlamente und ist daher oft auch Gegenstand parteipolitischer Kompromisse. Die Aufgaben der Ländereinrichtungen sind durch Landesgesetze stärker auf individuelle Beratung und psychosoziale Fürsorge der Stasi-Opfer ausgerichtet, auch erfüllen sie landeseigene Bildungsaufgaben, so in Mecklenburg-Vorpommern:
Berlin Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Aktuell: Tom Sello (seit 2017), Franz-Jacob-Str. 4 B, 10369 Berlin, Internet: berlin.de/aufarbeitung/
Früherer Beauftragter: Martin Gutzeit (1993–2017)
Brandenburg
Die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur.
Aktuell: Maria Nooke, Hegelallee 3, 14467 Potsdam, Internet: aufarbeitung.brandenburg.de
Frühere Beauftragte: Ulrike Poppe (Erstberufung nach langer Gründungsdebatte; 2009–2017)
Mecklenburg-Vorpommern
Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Aktuell: Anne Drescher, Bleicherufer 7, 19053 Schwerin, Internet: landesbeauftragter.de
Frühere Beauftragte: Peter Selle (1993–1998), Jörn Mothes (1998–2008), Marita Pagels-Heineking (2008–2013)
Sachsen
Sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Aktuell: Nancy Aris, Devrientstraße 1, 01067 Dresden, Internet: lasd.landtag.sachsen.de
Frühere Beauftragte: Fritz Arendt (1993–1996), Siegmar Faust (1996–1999; abberufen), Michael Beleites (2000–2010), Lutz Rathenow (2011–2021)
Sachsen-Anhalt
Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Aktuell: Birgit Neumann-Becker, Schleinufer 12, 39104 Magdeburg, Internet: aufarbeitung.sachsen-anhalt.de
Frühere Beauftragte: Edda Ahrberg (1994–2005), Gerhard Ruden (2005–2010; zurückgetreten),
Thüringen
Landesbeauftragter des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Aktuell: Peter Wurschi, Jürgen-Fuchs-Straße 1, 99096 Erfurt, Internet: thla.thueringen.de
Frühere Beauftragte: Jürgen Haschke (1993–2003); Hildigund Neubert (2003–2013), Christian Dietrich (2013–2018)
Podcast „111 km Akten“.
Am 1. April 2020 startete die Behörde den wöchentlichen, später zweiwöchentlichen Podcast "111 Kilometer Akten". Dieser lief auch nach dem Übergang des Archivs ins Bundesarchiv weiter und endete im Dezember 2022. Im Podcast kamen Nutzer des Archivs von außen und Archivmitarbeiter zu Wort, zudem wurde über Veranstaltungen des Archivs zur Stasi-Geschichte berichtet. Jede Folge endete mit einem kurzen Originalton aus dem über 20.000 Tondokumente umfassenden Audiobereich des Archivs. Die Themen deckten weite Teile der Stasi- und damit implizit der DDR-Geschichte ab. Der Podcast basiert auf einem Konzept des Journalisten Maximilian Schönherr, der auch Mitgastgeber des Podcast war.
Literatur.
Der BStU hat zahlreiche Dokumentationen und Analysen zu allen möglichen Aspekten rund um die DDR und deren Ministerium für Staatssicherheit veröffentlicht – Angaben dazu sind auf der Internetseite und in der Deutschen Nationalbibliothek zu finden. |
487 | 277879 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=487 | BND (Begriffsklärung) | |
488 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=488 | Bor | Bor ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol B und der Ordnungszahl 5. Im Periodensystem steht es in der 3. Hauptgruppe, bzw. der 13. IUPAC-Gruppe, der Borgruppe, sowie der zweiten Periode. Das dreiwertige seltene Halbmetall kommt in Form seiner Sauerstoffverbindungen als Borax und Kernit in einigen abbauwürdigen Lagerstätten vor. Bor existiert in mehreren Modifikationen: Amorphes Bor ist ein braunes Pulver, von kristallinem Bor sind mehrere allotrope Modifikationen bekannt.
Borverbindungen finden vielfältige Anwendungen in verschiedenen Industriezweigen. Die Waschmittelindustrie verwendet Borverbindungen wie Natriumperborat im großtechnischen Maßstab als Bleichmittel. Die Glasindustrie nutzt Bor in Form seiner Boraxverbindungen für die Produktion von Gläsern und Keramiken mit hoher Chemikalienresistenz und Temperaturwechselbeständigkeit. Elementares Bor wird in der Halbleiterindustrie zur Dotierung eingesetzt. Borpolymere und -keramiken spielen eine Rolle für die Herstellung hochfester Leichtbau- und feuerfester Materialien. Borcarbid weist eine hohe Härte auf und wird als Schleifmittel verwendet. Zum Hartlöten werden Borverbindungen als Flussmittel genutzt. In der Hydroborierung dienen Borreagenzien der Synthese organischer Feinchemikalien. Natürliches Bor besteht aus zwei stabilen Isotopen, von denen 10Bor als Neutronenabsorber geeignet ist.
Die Salze und Ester von Bor (Borate) haben geringe Toxizität für Säugetiere, sind aber giftig für Gliederfüßer und werden als Insektizide verwendet. Borsäure wirkt schwach antimikrobiell; es sind natürliche, Bor enthaltende Antibiotika bekannt. Bor ist möglicherweise ein essentielles Spurenelement. In der Landwirtschaft verbessert Bordüngung die Stabilität der pflanzlichen Zellwände. Bei Pflanzen ist Bor bei der Zellteilung, Zelldifferenzierung, Zellstreckung, Gewebebildung, Nukleinsäurestoffwechsel, der Eiweißsynthese und beim Energiestoffwechsel beteiligt.
Geschichte.
Borverbindungen (von "burah" über "buraq" und griech. βοραχου bzw. lat. "borax" „borsaures Natron“, „Borax“) sind seit Jahrtausenden bekannt. Im alten Ägypten nutzte man zur Mumifikation das Mineral Natron, das neben anderen Verbindungen auch Borate enthält. Seit dem 4. Jahrhundert wird Boraxglas im Kaiserreich China verwendet. Borverbindungen wurden im antiken Rom zur Glasherstellung verwendet.
Erst 1808 stellten Joseph Louis Gay-Lussac und Louis Jacques Thénard Bor durch Reduktion von Bortrioxid mit Kalium, unabhängig hiervon etwas später Sir Humphry Davy durch Elektrolyse von Borsäure her. 1824 erkannte Jöns Jakob Berzelius den elementaren Charakter des Stoffes. Die Darstellung von reinem kristallisiertem Bor gelang dem amerikanischen Chemiker W. Weintraub im Jahre 1909 durch Reduktion von gasförmigem Bortrichlorid mit Wasserstoff im Lichtbogen.
Vorkommen.
Wie die beiden im Periodensystem vorangehenden Elemente Lithium und Beryllium ist auch Bor ein im Sonnensystem auffallend seltenes Element. Die Seltenheit dieser drei Elemente erklärt sich daraus, dass sie keine Produkte der stellaren Kernfusionen sind, die zur Elemententstehung (Nukleosynthese) führen. Das Wasserstoffbrennen führt zu Heliumatomen, das darauffolgende Heliumbrennen (der Drei-Alpha-Prozess) schon zu Kohlenstoffatomen. Bor und Beryllium entstehen ausschließlich bei der Spallation schwerer Atomkerne durch kosmische Strahlung.
Bor kommt auf der Erde nur in sauerstoffhaltigen Verbindungen vor. Große Lagerstätten befinden sich in Bigadiç, einem Landkreis der Provinz Balıkesir im Westen der Türkei. Die größten Boratminen befinden sich bei Boron (Kalifornien) (die "Kramer-Lagerstätte") und in Kırka (Türkei). Abgebaut werden die Mineralien Borax, Kernit und Colemanit. In der Türkei sind 70 % der abgebauten Erze Colemanit und werden für die Herstellung von hitzeresistentem Glas verwendet. Weitere Vorkommen gibt es in der Mojave-Wüste in den USA, sowie in den Anden (Südamerika) und alpinen Regionen im südlichen Eurasien. Staßfurter Kalisalze enthalten geringe Mengen vergesellschafteten Boracit.
Die weltweiten Abbaumengen betrugen im Jahr 2005 geschätzt 4.910.000 t (als) Bortrioxid. Seit dem Jahr 2007 veröffentlichen die USA ihre Abbaumengen nicht mehr, da sie ein Geschäftsgeheimnis darstellen. Die globalen Abbaumengen verteilen sich, wie folgt:
n.bek. = nicht bekannt
In Wasser kommt Bor überwiegend als undissoziierte Borsäure vor.
Bor kommt im Meerwasser in einer Konzentration von 4–5 mg/l vor.
In Meeresluft wurden 0,17 μg/m3 gemessen (WHO, 1996).
In Mineralwässern wurden durchschnittlich 500 μg/l Bor gemessen, mit einem Wertespektrum zwischen weniger als 20 μg/l und 3,23 mg/l.
Der Gehalt im Grundwasser sowie in Binnengewässern liegt in Deutschland im Bereich von 10 bis 50 μg/l, wobei in Baden-Württemberg von einem Hintergrundwert (ohne anthropogene Beeinflussung) im Grundwasser von 50 μg/l ausgegangen wird.
In der Außenluft sind in Deutschland im Durchschnitt 16 ng/m³ und im Trinkwasser Werte von 10 bis 210 μg/l gemessen worden. Im Boden liegt die Konzentration an Borax zwischen 88 und 177 mg/kg bezogen auf das Trockengewicht.
In der Schweiz wird von natürlichen Borgehalten im Flusswasser von rund 10 μg/l und im Grundwasser von bis zu 40 μg/l ausgegangen, während die tatsächlichen Werte in Flüssen und Seen bis über 200 μg/l betragen können und das Trinkwasser durchschnittlich rund 20 μg/l und höchstens 60 μg/l Bor enthält.
Pflanzen benötigen Bor und der Gehalt in der Trockenmasse beträgt 30–75 ppm. Menschen nehmen Bor über Trinkwasser und Nahrung auf. Im Körper liegt ein Gehalt von etwa 0,7 ppm vor.
Gewinnung und Darstellung.
Amorphes Bor wird durch die Reduktion von Bortrioxid, B2O3, mit Magnesiumpulver hergestellt:
Derartig gewonnenes Bor besitzt nach Abtrennen der Beimengungen eine Reinheit von 98 %. Die Reinheit des Stoffes kann erhöht werden, indem das Bor als Reinstoff aus einer Platinschmelze bei 800–1200 °C auskristallisiert wird.
Kristallines Bor lässt sich auch durch andere Verfahren darstellen: Das Element lässt sich meist aus seinen Halogeniden als Reinstoff gewinnen. Mittels eines 1000–1400 °C heißen Wolfram- oder Tantaldrahts kann durch Reduktion von Bortrichlorid oder Bortribromid mit Wasserstoff das Element in sehr hoher Reinheit dargestellt werden. Um Bortrifluorid mit Wasserstoff zu reduzieren, wären Reaktionstemperaturen von 2000 °C erforderlich, sodass diese Verbindung nicht als Ausgangsstoff zur Darstellung genutzt wird.
Eine weitere Möglichkeit stellt die thermische Zersetzung von Diboran bei 600–800 °C bzw. von Bortriiodid bei 800–1000 °C an einer Tantal-, Wolfram- oder Bornitrid-Oberfläche dar.
Modifikationen.
Die vermutlich thermodynamisch stabilste Form ist die β-rhomboedrische Modifikation (β-Bor). Sie hat eine komplizierte Struktur mit mindestens 105 Boratomen pro Elementarzelle, wobei hier noch Boratome hinzukommen, die sich auf teilbesetzten Lagen befinden. Die Anzahl der Boratome pro Elementarzelle wird mit 114 bis 121 Atomen angegeben. Die Struktur dieser Modifikation kann man mit einem 60-Ecken-Polyeder beschreiben.
Die einfachste allotrope Modifikation ist die α-rhomboedrische Form des Bors (α-Bor). Die in dieser Modifikation des Bors dominierende Struktureinheit ist das B12-Ikosaeder mit 12 Boratomen im Ikosaeder. Diese sind in Schichten angeordnet ähnlich wie in einer kubisch flächenzentrierten Packung. Die Ikosaeder einer Schicht sind durch Dreizentrenbindungen und die Ikosaeder benachbarter Schichten durch Zweizentrenbindungen miteinander verknüpft.
α-tetragonales Bor (auch als γ-Bor bezeichnet), die als erstes dargestellte kristalline Form des Bors, enthält 50 Bor-Atome in der Elementarzelle (gemäß der Formel (B12)4B2), kann beispielsweise aber auch, abhängig von den Herstellungsbedingungen, als Einschlussverbindung B50C2 oder B50N2 vorliegen. Im fremdatomfreien α-tetragonalen Bor verbindet ein einzelnes Boratom immer vier B12-Ikosaeder miteinander. Jedes Ikosaeder hat Verbindungen zu je zwei einzelnen Boratomen und zehn anderen Ikosaedern. Seit der ersten Beschreibung dieser Struktur ist es nie wieder gelungen, diese Modifikation rein herzustellen. Man geht mittlerweile davon aus, dass reines α-tetragonales Bor in der beschriebenen Struktur nicht existiert.
Das elementare Bor ist schwarz, sehr hart und bei Raumtemperatur ein schlechter Leiter. Es kommt nicht in der Natur vor.
Forscher an der ETH in Zürich stellten aus äußerst reinem Bor einen ionischen Kristall her. Dazu musste das Material einem Druck von bis zu 30 Gigapascal und einer Temperatur von 1500 °C ausgesetzt werden. Dieselbe Arbeitsgruppe veröffentlichte mittlerweile ein Addendum, wonach sie die Bindungssituation in dieser Modifikation als kovalent bezeichnen.
Einem Forschungsteam an der Universität Bayreuth ist es 2011 gelungen, α-rhomboedrisches Bor eindeutig als thermodynamisch stabile Phase von Bor zu identifizieren.
In Hochdrucklaboratorien wurde eine Serie unterschiedlicher Borkristalle bei Temperaturen bis zu 2300 Kelvin und Drücken bis zu 15 Gigapascal synthetisiert. Von besonderem Interesse für die Forschung und für industrielle Anwendungen, wie die Halbleitertechnik, sind hierbei α-Bor-Einkristalle.
Eigenschaften.
Physikalische Eigenschaften.
Wegen der hohen Ionisierungsenergie sind von Bor keine B3+-Kationen bekannt. Die komplizierten Strukturen in vielen Borverbindungen und deren Eigenschaften zeigen, dass die Beschreibung der Bindungsverhältnisse als kovalent, metallisch oder ionisch stark vereinfachend sind und durch einen Molekülorbital(MO)-Ansatz ersetzt werden müssen.
Die Elektronenkonfiguration 1s22s22p1 des Bors zeigt, dass nur die drei Elektronen der zweiten Schale für die Ausbildung von kovalenten Bindungen mit s-, px-, py- und pz-Orbitalen zur Verfügung stehen. Dieser Elektronenmangel wird durch Ausbildung von Mehrzentrenbindungen, insbesondere einer Dreizentrenbindung, und Elektronenakzeptorverhalten (Lewis-Acidität) kompensiert. Es ist gelungen, eine Borverbindung mit einer Bor-Bor-Dreifachbindung herzustellen.
Bor ist durchlässig für Infrarotlicht. Bei Raumtemperatur zeigt es eine geringe elektrische Leitfähigkeit, die bei höheren Temperaturen stark ansteigt.
Bor besitzt die höchste Zugfestigkeit aller bekannten Elemente sowie die zweithöchste Härte, nur übertroffen von der Kohlenstoffmodifikation Diamant. Bormodifikationen haben physikalische und chemische Ähnlichkeit mit Hartkeramiken wie Siliciumcarbid oder Wolframcarbid.
Chemische Eigenschaften.
Bis 400 °C ist Bor reaktionsträge, bei höheren Temperaturen wird es zu einem starken Reduktionsmittel. Bei Temperaturen über 700 °C verbrennt es in Luft zu Bortrioxid B2O3. Von siedender Salz- und Fluorwasserstoffsäure wird Bor nicht angegriffen. Oxidierend wirkende, konzentrierte Schwefelsäure greift Bor erst bei Temperaturen über 200 °C an, konzentrierte Phosphorsäure hingegen erst bei Temperaturen über 600 °C.
Löst man B2O3 in Wasser, so entsteht die sehr schwache Borsäure. Deren flüchtige Ester, am deutlichsten Borsäuretrimethylester, färben Flammen kräftig grün.
Die Fähigkeit des Bors, über kovalente Bindungen stabile räumliche Netzwerke auszubilden, sind ein weiterer Hinweis auf die chemische Ähnlichkeit des Bors mit seinen Periodennachbarn Kohlenstoff und Silicium.
Eine wichtige Forschungsdisziplin der heutigen anorganischen Chemie ist die der Verbindungen des Bors mit Wasserstoff (Borane) sowie mit Wasserstoff und Stickstoff, die den Kohlenwasserstoffen ähneln (isoelektronisch), z. B. Borazol B3N3H6 („anorganisches Benzol“). Eine Reihe organischer Borverbindungen sind bekannt, beispielsweise Boronsäuren.
Isotope.
Es sind insgesamt 13 Isotope zwischen 6B und 19B des Bors bekannt. Von diesen sind zwei, die Isotope 10B und 11B, stabil und kommen in der Natur vor. Das Isotop mit dem größeren Anteil an der natürlichen Isotopenzusammensetzung ist 11B mit 80,1 %, 10B hat einen Anteil von 19,9 %. Alle künstlichen Isotope haben sehr kurze Halbwertszeiten im Millisekundenbereich.
Verwendung.
Die wirtschaftlich wichtigste Verbindung ist Borax (Natriumtetraborat-Decahydrat, Na2B4O7 · 10 H2O) zur Herstellung von Isolier- und Dämmstoffen sowie Bleichstoffen (Perborate). Weitere Anwendungen:
Physiologie.
Bor ist möglicherweise ein essentielles Spurenelement, das unter anderem positiven Einfluss auf Knochenstoffwechsel und Gehirnfunktion hat.
Menschen nehmen Bor über Trinkwasser und Nahrung auf. Im Körper liegt ein Gehalt von etwa 0,7 ppm vor. Die World Health Organization (WHO) stellte 1998 in einer Studie fest, dass weltweit von einer durchschnittlichen Aufnahme von 1–2 mg Bor pro Tag ausgegangen werden kann, und empfiehlt einen Richtwert (Guideline value) von 2,4 mg/l Trinkwasser.
Pflanzen reagieren zum Teil sehr empfindlich auf Bor, so dass bestimmte sensible Pflanzen (Weiden, Obstbäume, Artischocken) bei Konzentrationen von mehr als 1 mg/l Bor zu Borchlorosen neigen (Krankheitsbild gekennzeichnet durch vermehrte Bildung von braunen Flecken) und schließlich absterben können. Pflanzen reagieren aber auch empfindlich auf zu wenig Bor, der Gehalt in der Trockenmasse liegt meist zwischen 30 und 75 ppm.
Pharmakologie.
Bortezomib ist das erste Arzneimittel, das Bor enthält. Es ist der erste verfügbare Proteasom-Inhibitor, der seit 2008 zur Behandlung des Multiplen Myeloms zugelassen ist. Über das Bor erfolgt die hochspezifische und hochaffine Bindung an die katalytische Stelle des 26S-Proteasoms.
Da die Borversorgung über die Nahrung und das Trinkwasser in der Regel ausreichend ist und ein zusätzlicher Nutzen von borhaltigen Nahrungsergänzungsmitteln unbelegt ist, wird angesichts der möglichen Risiken von deren Verwendung abgeraten.
Sicherheitshinweise.
Elementares Bor ist in geringen Dosen nicht giftig. Für Bor gibt es keine Hinweise auf genotoxische oder kanzerogene Wirkungen; von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ist kein Referenzwert für Bor als Zufuhrempfehlung aufgeführt.
Dosen über 100 mg/Tag können jedoch Vergiftungserscheinungen hervorrufen. Die US-amerikanische Behörde EPA gibt einen täglichen Grenzwert (RfD – Reference Dose) von 0,2 mg pro Kilogramm Körpergewicht für Bor und Borate an, geht jedoch nicht von einer Karzinogenität aus.
Bortrioxid, Borsäure und Borate werden mit der 30. ATP in der EU seit Sommer 2009 als fortpflanzungsgefährdend eingestuft. Bei Borsäure und Borax wurde dieser Effekt bislang jedoch lediglich bei der Verabreichung von höheren Dosen an Mäuse beobachtet.
Einige Borverbindungen wie die Borane (Borwasserstoffverbindungen) sind hochgradig toxisch und müssen mit größter Sorgfalt gehandhabt werden.
Nachweis.
Bor lässt sich in der analytischen Chemie mit der Curcumin-Methode quantitativ in Form des rot gefärbten Komplexes Rosocyanin, bzw. unter zusätzlicher Verwendung von Oxalsäure durch die Farbreaktion zu Rubrocurcumin nachweisen. Hierzu wird eine Probe des Bor-haltigen Materials oxidativ aufgeschlossen. Die durch den Aufschluss gebildete Borsäure kann anschließend kolorimetrisch bestimmt werden. |
489 | 71581 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=489 | Barium | Barium (von , wegen der hohen Dichte des Bariumminerals Baryt) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Ba und der Ordnungszahl 56. Im Periodensystem steht es in der sechsten Periode und der 2. Hauptgruppe bzw. der 2. IUPAC-Gruppe und zählt damit zu den Erdalkalimetallen. Bariumoxid wurde erstmals 1774 von Carl Wilhelm Scheele dargestellt. Barium ist metallisch-glänzend und von silbrig-weißer Farbe. Es kommt in der Natur wegen seiner hohen Reaktivität nicht elementar vor; u. a. ist es leicht entzündlich. Wasserlösliche Bariumverbindungen sind giftig.
Geschichte.
Erstmals wurden bariumhaltige Minerale im Jahr 1602 durch den italienischen Schuhmacher und Alchemisten Vincenzo Casciarolo (1571–1624) untersucht, dem glänzende Steinchen auffielen, die nach dem Erhitzen im Dunkeln leuchteten. Sie wurden durch die Publikationen des Ulisse Aldrovandi einem größeren Publikum als „Bologneser Stein“ bekannt. Es handelte sich dabei um Baryt, der beim Erhitzen mit organischen Substanzen phosphoresziert.
1774 wurde von dem schwedischen Chemiker Carl Wilhelm Scheele bei der Untersuchung von Gips erstmals Bariumoxid (BaO) identifiziert, das zunächst "neue alkalische Erde" genannt wurde. Zwei Jahre später fand Johan Gottlieb Gahn die gleiche Verbindung bei ähnlichen Untersuchungen. Ebenfalls im 18. Jahrhundert war dem englischen Mineralogen William Withering in Bleibergwerken Cumberlands ein schweres Mineral aufgefallen, bei dem es sich nicht um ein Bleierz handeln konnte und dem er die Bezeichnung „“ gab. Es ist heute als Witherit (Bariumcarbonat BaCO3) bekannt.
Metallisches Barium, jedoch nicht in Reinform, wurde erstmals 1808 von Sir Humphry Davy in England durch Elektrolyse eines Gemisches aus Bariumoxid und Quecksilberoxid hergestellt. Daraufhin erfolgte die Namensgebung Barium nach dem Bariummineral Baryt.
Die erste Reindarstellung des Bariums gelang 1855 Robert Bunsen und Augustus Matthiessen durch Schmelzelektrolyse eines Gemisches aus Bariumchlorid und Ammoniumchlorid. 1910 wurde von Marie Curie das schwerere Radium unter Ausnutzung seiner chemischen Ähnlichkeit mit Barium isoliert. Eine wichtige Rolle spielte das Metall auch 1938 bei den kernchemischen Experimenten Otto Hahns und Fritz Straßmanns, die Uran mit langsamen Neutronen beschossen und zu ihrem Erstaunen das viel leichtere Element Barium in den Reaktionsprodukten fanden. Dieser Befund wurde von ihnen korrekt als Spaltung des Urankerns gedeutet.
Vorkommen.
Barium kommt wegen seiner hohen Reaktivität in der Natur nicht elementar, sondern nur in Verbindungen vor. Mit einem Anteil von etwa 0,039 % ist Barium das 14.-häufigste Element der Erdkruste.
Barium wird vor allem in den Mineralen Baryt (Schwerspat = kristallisiertes Bariumsulfat) und Witherit (Bariumcarbonat) gefunden, wobei Baryt die häufigsten Vorkommen hat. Die Weltjahresproduktion an Baryt stieg in den Jahren 1973 bis 2003 von etwa 4,8 Millionen Tonnen auf 6,7 Millionen Tonnen an, die weltweiten Reserven werden auf etwa zwei Milliarden Tonnen geschätzt. Die deutschen Vorkommen von Bariumverbindungen liegen im Sauerland, im Harz und in Rheinland-Pfalz. Die Hauptförderländer von Barium sind die Volksrepublik China, Mexiko, Indien, Türkei, USA, Deutschland, Tschechien, Marokko, Irland, Italien und Frankreich.
Gewinnung und Darstellung.
Nur ein kleiner Teil Baryt wird zu Bariummetall weiterverarbeitet. Hierbei wird das Sulfat zunächst zu Sulfid reduziert. Anschließend wird das Bariumsulfid in Bariumcarbonat und weiter in Bariumoxid überführt, das schließlich mit Silicium oder Aluminium bei 1200 °C im Vakuum zum Reinmetall reduziert wird. Die Reaktionen verlaufen nach folgenden Gleichungen:
Die Metallgewinnung aus Bariumcarbonat ist nach diesem Schema zwar einfacher, allerdings ist es in der Natur seltener zu finden. Hochreines Barium wird aus geschmolzenem Bariumchlorid durch Elektrolyse mit anschließender Hochvakuumsublimation gewonnen.
Eigenschaften.
Physikalische Eigenschaften.
Barium ist ein festes, paramagnetisches Erdalkalimetall, das in einem kubisch-raumzentrierten Gitter kristallisiert. Seine silberweiße Farbe wird an der Luft schnell mattgrau, weil sich eine Oxidschicht bildet.
Barium weist eine grüne bis fahlgrüne Flammenfärbung mit den charakteristischen Spektrallinien von 524,2 und 513,7 nm auf. Barium hat eine Dichte von 3,62 g/cm3 (bei 20 °C) und zählt damit zu den Leichtmetallen. Mit einer Mohshärte von 1,25 ist es vergleichsweise weich und auch das weichste der Erdalkalimetalle. Der Schmelzpunkt liegt bei 727 °C, der Siedepunkt bei 1637 °C. Das elektrochemische Standardpotenzial beträgt −2,912 V.
Chemische Eigenschaften.
In den chemischen Eigenschaften ähnelt es Calcium und den anderen Erdalkalimetallen. Es reagiert heftiger als die meisten anderen Erdalkalimetalle mit Wasser und mit Sauerstoff und löst sich leicht in fast allen Säuren – eine Ausnahme bildet konzentrierte Schwefelsäure, da die Bildung einer Sulfatschicht (Passivierung) die Reaktion stoppt. Barium kann deshalb als eines der unedelsten Metalle bezeichnet werden. Wegen dieser hohen Reaktivität wird es unter Schutzflüssigkeiten aufbewahrt.
Es reagiert direkt mit Halogenen, Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel. Dabei bildet es immer Verbindungen, in denen es als zweiwertiges Kation vorliegt. Beim Erhitzen an der Luft verbrennt das Metall mit der typischen grünen Flammenfärbung zu Bariumoxid.
Als sehr unedles Metall reagiert Barium mit Wasser unter Wasserstoff- und Hydroxidbildung. Bariumhydroxid bildet sich auch schon beim Kontakt des Metalls mit feuchter Luft.
Im Gegensatz zu anderen Erdalkalimetallen bildet Barium nur eine dünne, wenig passivierende Oxidschicht und kann sich daher in feuchter Luft selbst entzünden.
Isotope.
In der Natur kommen sieben stabile Bariumisotope vor, wobei 138Ba mit 71,8 % das häufigste Isotop ist. Des Weiteren sind von Barium 33 radioaktive Isotope mit Halbwertszeiten zwischen 10,5 Jahren bei 133Ba und 150 Nanosekunden bei 153Ba bekannt; die meisten zerfallen innerhalb weniger Sekunden. Die Bariumisotope besitzen zwischen 58 (114Ba) und 97 (153Ba) Neutronen.
Stabile Bariumisotope entstehen bei verschiedenen Zerfallsreihen, beispielsweise des 137I in 137Ba. Die radioaktiven Isotope zerfallen in Lanthan-, Xenon-, Caesium- und Iodisotope.
Folgend zwei Beispiele für Kernspaltungen, bei denen radioaktive Isotope des Bariums entstehen:
Außerdem kann mit einem Cäsium-Barium-Generator das metastabile Isomer Barium-137m aus dem Zerfall von Caesium-137 erzeugt werden. Barium-137m zerfällt mit einer Halbwertszeit von 153,1(1) Sekunden unter Abgabe von Gammastrahlung zu stabilem Barium-137.
Verwendung.
Elementares Barium findet nur in kleinem Umfang Verwendung, und die Produktion liegt bei nur wenigen Tonnen pro Jahr. Die wichtigste Anwendung ist die als Gettermaterial in Vakuumröhren, beispielsweise von Fernsehern oder als Sonnenkollektoren, denn es bindet schnell unerwünschte Restgase wie Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoffdioxid und Wasserdampf; auch unreaktive Gase werden eingeschlossen und so aus der Vakuumröhre entfernt. Der Dampfdruck des Metalls ist bei den verwendeten Temperaturen gering.
Außerdem wird mit Barium legiertes Nickel in Zündkerzen eingesetzt. Weiterhin erhöht es die Härte von Bleilegierungen, die als Lagermetalle verwendet werden.
In Verbindung mit Eisen als Bariumferrit (BaFe) findet es Verwendung als Material für Magnetbänder hoher Kapazität.
Biologische Bedeutung.
Pflanzen nehmen Bariumkationen aus dem Boden auf und reichern sie an. Die höchste Konzentration in einer Nutzpflanze findet sich mit 4g pro kg bei der Paranuss, allerdings größtenteils in wasserunlöslicher Form.
Zieralgen (Desmidiaceae), eine Familie von einzelligen, etwa einen Millimeter großen Grünalgen (Chlorophyta), die in kalten, nährstoffarmen Süßgewässern, insbesondere in Hochmooren, vorkommen, biomineralisieren Barium und Strontium und lagern sie in ihren Zellen in flüssigkeitsgefüllten Hohlräumen ab. Dazu wird Barium auch bei verschwindend geringen Konzentrationen von nur 1 ppb dem Wasser entzogen. Die Algen tolerieren auch für andere Organismen tödliche Bariumkonzentrationen von bis zu 35 ppm (Millionstel Anteile). Die biologische Funktion der Kristalle ist noch unklar; gesichert scheint, dass durch die Ablagerungen die schädliche Wirkung der Stoffe auf den Organismus vermindert wird.
Auch im menschlichen Körper kommt Barium vor, der durchschnittliche Gewebeanteil liegt bei 100 ppb, in Blut und Knochen mit jeweils bis zu 70 ppb etwas niedriger. Mit der Nahrung wird täglich etwa ein Milligramm Barium aufgenommen.
Sicherheitshinweise und Toxikologie.
Alle wasser- oder säurelöslichen Bariumverbindungen sind giftig. Die maximale Arbeitsplatzkonzentration (MAK-Wert) liegt bei 0,5 mg/m3. Eine Dosis von 1 bis 15 Gramm ist abhängig von der Löslichkeit der jeweiligen Bariumverbindung für einen Erwachsenen tödlich. Das in der Röntgenologie verwendete wasserunlösliche Kontrastmittel Bariumsulfat, das zur Darstellung des Magen-Darm-Trakts beziehungsweise des Schluckakts in der Röntgenkinematographie eingesetzt wird, muss deshalb frei von löslichen Bariumverbindungen sein, das heißt, als Reinsubstanz zugeführt werden. Zu beachten ist hier auch die Verwechslungsmöglichkeit bei den im Sprachgebrauch der Apotheken verwendeten lateinischen Begriffen „Barium sulfuricum“ (Bariumsulfat) und „Barium sulfuratum“ (Bariumsulfid). Bariumvergiftungen erfolgen meist am Arbeitsplatz oder in der Nähe Barium verarbeitender Industriebetriebe. Dabei kann es eingeatmet werden oder über das Trinkwasser in den Organismus gelangen.
Abgelagert werden Bariumionen in der Muskulatur, den Lungen und den Knochen, in die es ähnlich wie Calcium, jedoch schneller aufgenommen wird. Seine Halbwertszeit im Knochen wird auf 50 Tage geschätzt. Als Konkurrent von Calcium an den Zellmembranen, erhöht es – bei niedriger Dosierung – die Membrandurchlässigkeit und verstärkt die Muskelkontraktion. Das kann zu Blutdrucksteigerung mit Senkung der Herzfrequenz und zu Muskelkrämpfen führen. Höhere Dosen verursachen Muskelschwäche bis hin zu -lähmung, auch auf Grund einer Beeinträchtigung des Zentralen Nervensystems. Herzrhythmusstörungen (Extrasystolen und Kammerflimmern), Tremor, allgemeines Schwächegefühl, Schwindel, Angst und Atemprobleme können auftreten. Bei akuten wie subakuten Vergiftungen können Störungen des Magen-Darm-Trakts wie Leibschmerzen, Erbrechen und Durchfall auftreten. In hohen Konzentrationen blockiert Barium die passiven Kaliumkanäle in der Zellmembran der Muskelzellen, so dass Kalium die Muskelzellen nicht mehr verlassen kann. Da die Natrium-Kalium-ATPase unvermindert Kalium in die Zellen pumpt, sinkt der Kaliumspiegel im Blut. Die resultierende Hypokaliämie verursacht den Ausfall der Muskelreflexe (Areflexie) mit folgender Muskel- und Atemlähmung.
Erste Hilfe kann durch Gabe von Natriumsulfat- oder Kaliumsulfatlösung erfolgen, wodurch die Bariumionen als schwerlösliches und damit ungiftiges Bariumsulfat gebunden werden. Im Krankenhaus kann Barium durch Dialyse entfernt werden.
Nachweis.
Nasschemische Methoden.
Eine Nachweisreaktion ist das Umsetzen mit verdünnter Schwefelsäure, woraufhin weißes Bariumsulfat ausfällt:
Befindet sich Barium in Gesellschaft mit anderen Elementen, die ebenfalls schwerlösliche Sulfate bilden, so kann dieses Verfahren nicht angewendet werden. Trennung und Nachweis erfolgen dann, sofern nur Erdalkalielemente vorhanden sind, nach dem Chromat-Sulfat-Verfahren (siehe unter Ammoniumcarbonatgruppe). Im Rahmen dieses Verfahrens wird die Bariumlösung mit Kaliumchromatlösung versetzt, und es entsteht ein gelber Niederschlag von Bariumchromat. Sind noch andere Elemente mit schwerlöslichen Sulfaten vorhanden, muss ein geeigneter Kationentrenngang durchgeführt werden.
Instrumentelle Methoden.
Ein zum Nachweis von Barium geeignetes Verfahren ist die Atomspektroskopie. Der Nachweis von Barium und Bariumsalzen erfolgt hierbei über das charakteristische Spektrum. Mit einem Flammenatomabsorptionsspektrometer oder einem Atomemissionsspektrometer mit induktiv gekoppeltem Hochfrequenzplasma lassen sich selbst geringe Spuren von Barium nachweisen. Beim klassischen Nachweis hält man die Probe in eine Bunsenbrennerflamme und beobachtet die grüne Flammenfärbung. Diese Methode ist allerdings nicht eindeutig, wenn Elemente mit ähnlichen Flammenfarben vorhanden sind.
Verbindungen.
Bariumverbindungen liegen fast ausschließlich in der Oxidationsstufe +II vor. Diese sind meist farblose, salzartige Feststoffe. Charakteristisch für Bariumverbindungen ist die grüne Flammenfärbung.
Sauerstoffverbindungen.
Es existieren zwei verschiedene Barium-Sauerstoffverbindungen, Bariumoxid und Bariumperoxid. Bariumoxid adsorbiert Wasser und Kohlenstoffdioxid und wird dementsprechend eingesetzt. Bariumperoxid, das aus Bariumoxid hergestellt werden kann, ist ein starkes Oxidationsmittel und wird in der Pyrotechnik verwendet. Es ist daneben ein mögliches Edukt für die Herstellung von Wasserstoffperoxid. Wird Bariumoxid in Wasser gelöst, bildet sich die starke Base Bariumhydroxid, die zum Nachweis von Carbonationen verwendet werden kann.
Halogenverbindungen.
Mit Halogenen bildet Barium Verbindungen des Typs BaX2, die in der Blei(II)-chlorid-Struktur kristallisieren. Bariumfluorid, das abweichend in der Fluoritstruktur kristallisiert, besitzt einen weiten transparenten Spektralbereich und wird in der optischen Industrie eingesetzt. Das giftige und gut lösliche Bariumchlorid ist Grundstoff für andere Bariumverbindungen und dient als Fällungsmittel für Sulfat, etwa zum Nachweis oder zur Wasserenthärtung.
Verbindungen mit Oxosäuren.
Bariumsulfat ist die technisch wichtigste Bariumverbindung. Es besitzt im Vergleich zu anderen Bariumverbindungen den Vorteil, auf Grund der sehr geringen Löslichkeit ungiftig zu sein. Es wird vor allem in der Erdölförderung für die Erhöhung der Dichte von Bohrschlämmen eingesetzt. Daneben dient es als Füllstoff für Kunststoffe, als Röntgenkontrastmittel und wird als Anstrichfarbe eingesetzt.
Bariumcarbonat ist ein wirksames Rattengift, es wird auch als Rohstoff zur Glasherstellung sowie bei der Produktion hartmagnetischer Ferrite verwendet.
Bariumnitrat, Bariumiodat und Bariumchlorat werden wegen ihrer brandfördernden Eigenschaften und der grünen Flammenfärbung in der Pyrotechnik benutzt.
Weitere Bariumverbindungen finden sich in der |
490 | 1765216 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=490 | Beryllium | Beryllium ist ein chemisches Element mit dem Symbol Be und der Ordnungszahl 4. Sein Name lässt sich vom Mineral Beryll, einem berylliumhaltigen Edelstein, ableiten (, ). In diesem Mineral sowie im Bertrandit ist auch der größte Teil des in der Erdkruste vorhandenen Berylliums gebunden. Beryllium gehört zu den seltener vorkommenden Metallen.
Entdeckt wurde es als Bestandteil des Minerals Beryll bereits 1798 von Louis-Nicolas Vauquelin und wegen des süßlichen Geschmacks der isolierten berylliumhaltigen Verbindungen (z. B. des Hydroxids) zunächst "Glucine" genannt. Elementares Beryllium wurde erstmals 1828 von Friedrich Wöhler und unabhängig davon von Antoine Bussy hergestellt.
Im Periodensystem steht Beryllium in der zweiten Hauptgruppe (2. IUPAC-Gruppe) und zählt daher zu den Erdalkalimetallen. Als Element der zweiten Periode zählt es zu den leichten Erdalkalimetallen. Es hat wegen des Verhältnisses zwischen Ladung und Durchmesser des zweiwertigen Ions aber einige für diese Gruppe ungewöhnliche Eigenschaften; zum Beispiel hat es eine höhere Dichte als seine beiden Homologe Magnesium und Calcium.
Das stahlgraue Leichtmetall ist sehr hart und spröde, hat einen höheren Elastizitätsmodul als Stahl und wird meist als Legierungszusatz verwendet. In Verbindungen ist es zweiwertig. Im Vergleich mit den anderen leichten Alkali- und Erdalkalimetallen (Lithium, Natrium, Kalium, Magnesium und Calcium) ist es außergewöhnlich giftig und gesundheitsschädlich.
Geschichte.
Im Altertum und im Mittelalter dienten durchsichtige Beryllstücke vielfach als Lupe (Sehhilfe beim Lesen oder anderen Tätigkeiten im Nahbereich).
Die erste überlieferte Erwähnung findet sich in der "Naturalis historia" aus dem 1. Jahrhundert, wo Plinius der Ältere die Ähnlichkeit zwischen den Mineralien Beryll und Smaragd (Beryll mit einer Spur Chrom) beschrieb. Er hielt sie für unterschiedliche Stoffe.
Der Abbé R. J. Haüy stellte bei Beryll und Smaragd nach Härte und Dichte die gleichen physikalischen Eigenschaften sowie die gleiche Kristallform fest und veranlasste daraufhin den französischen Chemiker Louis-Nicolas Vauquelin zu einer Untersuchung.
Vauquelin bewies 1798, dass Beryll und Smaragd chemisch nahezu identisch sind. Er isolierte auch ein Oxid aus beiden Mineralen, das er "terre du béril" (Beryllerde) nannte; es war den bekannten Aluminiumverbindungen zwar ähnlich, aber doch deutlich verschieden von diesen. Bis dahin wurde Beryll nach den vorangegangenen Analysen von T. Bergman, F. C. Achard M. H. Klaproth und L. N. Vauquelin für ein Calcium-Aluminiumsilicat gehalten. Dem neu entdeckten Stoff gaben die Herausgeber des Artikels von Vauquelin den Namen "Glucine," wegen des süßen Geschmacks des Berylliumsalzes (griechisch γλυκύς "glykys" ‚süß‘).
Namen wie "Glucinum", "Glucinium" oder "Glycinium" wurden in Frankreich und einigen anderen Ländern noch bis ins 20. Jahrhundert verwendet, obgleich bereits M. H. Klaproth und A. G. Ekeberg 1802 darauf hinwiesen, dass süßer Geschmack durchaus keine spezielle Eigenschaft der Salze des Berylliums ist, dass Salze des Yttriums ebenfalls süß schmecken und dass daher die Bezeichnung "Beryllerde" vorzuziehen sei.
Die ersten Berichte über Versuche, das Element darzustellen, wurden 1809 von H. Davy und 1812 von F. Stromeyer veröffentlicht. Doch erst 1828 gelang es Friedrich Wöhler und kurz darauf Antoine Bussy, das Element durch Reduktion des Berylliumchlorids mit Kalium darzustellen. Wöhler nannte das neue Element "Beryllium". Das 1836 im Davidsonit (einer Beryll-Varietät) entdeckte Element, das von T. Richardson "Donium" und von H. S. Boase "Treenium" genannt wurde, stellte sich als Beryllium heraus. M. Awdejew nahm 1842 die ersten Bestimmungen des genauen Atomgewichtes vor. Julius Weeren (1854) und Henry Debray (1855) führten ebenfalls umfangreiche Untersuchungen des Metalls, seiner elementaren Eigenschaften und seiner Verbindungen durch. Auch Charles Arad Joy (1863) erforschte die Herstellung von Beryllverbindungen. Weiteren Kreisen wurde es wohl auf der Pariser Weltausstellung 1867 bekannt, wo erstmals eine größere Menge ausgestellt wurde.
Das chemische Symbol "Be" wurde 1814 von J. J. Berzelius eingeführt.
Große Fortschritte in der Chemie des Berylliums gelangen zwischen 1873 und 1885 durch Albert Atterberg, L. F. Nilson und O. Pettersson. In diesen Jahren wurde auch über die Valenz des Berylliums und seine Position im Periodensystem intensiv diskutiert. Zahlreiche weitere Forscher trugen später ebenfalls zur Entwicklung der Chemie des Berylliums bei.
Reines Beryllium in kristalliner Form wurde erstmals 1899 von Paul Marie Alfred Lebeau durch Schmelzflusselektrolyse von Natriumtetrafluoridoberyllat (Na2[BeF4]) hergestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Beryllium gleichzeitig von der Siemens & Halske AG (Alfred Stock und Hans Goldschmidt) in Deutschland und von der Union Carbide and Carbon Corporation (Hugh S. Cooper) in den Vereinigten Staaten produziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte in Amerika vor allem die Beryllium Corp. of America in Cleveland hochreines Beryllium her und in England erforschte das National Physical Laboratory das Element.
1945 wurde Beryllium zusammen mit dem Alphastrahler Polonium als Neutronenquelle in der Atombombe "Little Boy" eingesetzt, die über Hiroshima abgeworfen wurde.
Bis in die 1940er Jahre wurden Berylliumverbindungen als Bestandteil von Leuchtstoffröhren verwendet (zum Beispiel Zink-Mangan-Beryllium-Silikate), was aber beendet wurde, als immer mehr Fälle von Berylliose aufgedeckt wurden. Berylliose wurde 1946 auch anhand von Arbeitern dieser Industrie zuerst beschrieben.<ref name="10.1002/3527600418.mb744041verd0034">"Beryllium und seine Verbindungen [MAK Value Documentation in German language, 2002.]" In: "The MAK‐Collection for Occupational Health and Safety." .</ref>
Vorkommen.
Beryllium ist ein sehr seltenes Element: Kurz nach dem Urknall entstand fast nur instabiles 7Be, und in Sternen kommt das Element bei der Kernfusion nur als Zwischenprodukt vor. Abgesehen von weiteren zu vernachlässigenden Quellen wie Supernovae stammt das im Sonnensystem vorhandene Beryllium daher, wie auch Bor, praktisch ausschließlich aus Spallation durch kosmische Strahlung. Unter den Elementen, die leichter als Eisen sind, ist Beryllium am seltensten (siehe gelistete Häufigkeiten im Sonnensystem). In der Erdhülle steht es mit einem Massenanteil von 5,3 ppm an 48. Stelle der Elementhäufigkeit. Es ist dabei in der oberen kontinentalen Lithosphäre stark angereichert, vergleicht man die Konzentrationen von 1,4 ppm in der unteren kontinentalen Kruste und 0,07 ppm im primitiven Mantel.
Beryllium ist ein typisch lithophiles Element. Es bildet eine charakteristische vierfache Koordination mit Sauerstoff im [BeO4]6−-Komplex. Geochemisch wird es in sauren und in alkalischen Magmen während des magmatischen Differenzierungsprozesses angereichert. Bei einem sauren Magma wird es in der pegmatitischen und hydrothermalen Restphase konzentriert, während es bei einem alkalischen Magma in das Gitter mehrerer gesteinsbildender und zusätzlicher Mineralien durch diadoche Einfangtechnik eintritt, was seine Konzentration in der Restphase verhindert.<ref name="DOI10.1080/08827509408914098">N. Krishna Rao, T. Sreenivas: "Beryllium—Geochemistry, Mineralogy and Beneficiation." In: "Mineral Processing and Extractive Metallurgy Review." 13, 1994, S. 19, .</ref>
Mineralien, die Beryllium als wesentlichen Bestandteil enthalten, scheinen relativ spät entstanden zu sein. In terrestrischen Gesteinen älter als etwa 3 Milliarden Jahre wurden solche nicht nachgewiesen, sie treten wohl erst rund 1,5 Milliarden Jahre nach der Entstehung der Erde auf. In außerirdischen Gesteinen wurden bislang keine berylliumhaltigen Minerale gefunden. Meteorite, wie Chondrite, Achondrite, steinige Eisen- und Eisenmeteorite, enthalten Beryllium in Konzentrationen von 0 bis 400 ppb. Dabei werden in lokalen Calcium-Aluminium-reichen Einschlüssen (CAIs) bis zu 560 ppb erreicht, mit maximaler Konzentration in Melilith und Änderungsphasen von CAIs (649 ppb bzw. ≈ 1 ppm); die Affinität von Beryllium zu Melilith wird auf dessen strukturelle Ähnlichkeit mit Gugiait zurückgeführt. Konzentrationen unter 10 ppm reichen selten aus, um ein Mineral mit Beryllium als wesentlichem Bestandteil zu stabilisieren. Normalerweise ist eine weitere Anreicherung erforderlich, damit die häufigeren Berylliummineralien entstehen können, beispielsweise auf rund 70 ppm für einen "Beryll" in granitischen Pegmatiten.
Das seltene Element Beryllium kommt auf der Erde in einer Reihe verschiedener Mineralien vor. Die mengenmäßig wichtigsten sind Bertrandit (Be4Si2O7(OH)2) und Beryll (Be3Al2Si6O18). Auch Phenakit kommt weltweit vor. Beryllium tritt in der Struktur von knapp 40 Mineralien als formelwirksamer Bestandteil und in gut 50 weiteren Mineralien als diadocher Bestandteil auf (einige Quellen geben sogar 112,<ref name="DOI10.2138/am.2014.4675">E. S. Grew, R. M. Hazen: "Beryllium mineral evolution." In: "American Mineralogist." 99, 2014, S. 999, .</ref> die International Mineralogical Association 126 (Stand Juli 2019) Mineralien mit Beryllium als wesentlichem Element an). Von den rund 40 eigentlichen Berylliummineralien sind 26 Silikate (z. B. Beryll, Barylith, Phenakit), welche die enge geochemische Ähnlichkeit des Komplexes [BeO4]6− mit den Komplexen von [SiO4]4− und [AlO4]5− widerspiegeln. Daneben sind Oxide (z. B. Bromellit, Chrysoberyll), Borate (z. B. Hambergit, Rhodizit), Antimonate (z. B. Swedenborgit), Phosphate (z. B. Beryllonit, Hurlbutit) sowie das bisher einzige bekannte Carbonat Niveolanit bekannt. Beryll kommt in heterogenen zonierten Pegmatiten vor, Bertrandit stammt aus nicht-pegmatitischen Quellen.
Die schönsten und wertvollsten berylliumhaltigen Mineralien sind unter anderem die Beryll-Varietäten Aquamarin, Smaragd und weitere „Berylle“, Chrysoberyll und dessen Varietät Alexandrit sowie Euklas, Phenakit und Tugtupit, die überwiegend als Schmucksteine verwendet werden. Beryllium-Lagerstätten finden sich bevorzugt im Äquatorialgürtel. In der Leckbachrinne im Habachtal (Hohe Tauern) südlich von Bramberg in Österreich wurde bis vor wenigen Jahren Smaragd gewonnen (siehe auch Smaragdbergwerk Habachtal). In den USA werden niedrighaltige Lagerstätten von Berylliumoxid-Erz in der Nevada-Wüste abgebaut. Die geschätzten Vorräte an förderbarem Beryllium liegen weltweit bei etwa 80.000 Tonnen. Die (Stand 2022) bekannten globalen Lagerstätten werden auf 100.000 Tonnen Beryllium geschätzt, 60 Prozent der Lagerstätten befinden sich in den USA (hauptsächlich in Form von Bertrandit im Gebiet der Spor Mountain in Utah) und der Rest in Lagerstätten von Beryll in anderen Ländern. Abgebaut werden diese in den USA, Russland, Kanada, Brasilien, der Volksrepublik China, Madagaskar, Mosambik und Portugal.
Beryllium kommt in Spuren in vielen Stoffen vor.
Herstellung.
Das wichtigste Ausgangsmaterial für die Darstellung von Berylliumsalzen als Ausgangsstoff zur Herstellung von Beryllium ist der Beryll, der neben dem durch die Formel gegebenen Aluminiumgehalt meist noch Eisen enthält. Neben dem eigentlichen Aufschluss ist daher die Trennung des Berylliums vom Aluminium und Eisen von Bedeutung. Der Aufschluss erfolgt entweder mittels alkalischer Flussmittel
oder mittels Fluoriden oder Silicofluoriden.
Außer dem Beryll werden noch Gadolinit und Leukophan als Ausgangsmaterial für Berylliumsalze mit Aufschluss durch zum Beispiel Schwefelsäure oder Königswasser benutzt.
Das entstehende Berylliumhydroxid wird mit Ammoniumbifluorid unter Bildung von Ammoniumfluoroberyllat umgesetzt, das wiederum bei erhöhten Temperaturen (> 125 °C) zu Berylliumfluorid und flüchtigem Ammoniumfluorid zersetzt wird. Zur Erzeugung von Berylliumchlorid führt man Berylliumhydroxid durch Erhitzen in Berylliumoxid über, das bei 800 °C mit Kohlenstoff und Chlor unter Bildung des gewünschten wasserfreien Berylliumchlorid reagiert.
Elementares Beryllium wird durch Reduktion von Berylliumfluorid mit Magnesium bei 1300 °C hergestellt. Die Reaktion beginnt schon bei niedrigen Temperaturen, jedoch nimmt über 850 °C die Reaktionsgeschwindigkeit zu, nachdem sowohl Magnesium als auch Berylliumfluoride geschmolzen sind.
Die Herstellung hochreinen, metallischen Berylliums erfolgt durch Schmelzflusselektrolyse von Berylliumchlorid mit Lithiumchlorid bei 500 °C oder Natriumchlorid bei 350 °C oder Berylliumfluorid mit Lithiumfluorid oder Kaliumfluorid bei 500 °C:
Beryllium scheidet sich an der Kathode in Form eines feinen Berylliumpulvers ab, das von Zeit zu Zeit mit der Kathode aus der Schmelze gehoben sowie abgestreift und – nach Befreiung von anhaftendem Salz (Waschen mit Wasser) – durch Sintern bei 1150 °C in kompakte Stücke verwandelt wird.
Die Weltjahresproduktion an Beryllium-Metall betrug 2018 etwa 230 t. Die bisher nachgewiesenen weltweiten Reserven belaufen sich auf über 100.000 t. Der Preis für Beryllium als voll bearbeitete Luft- und Raumfahrtkomponente liegt zwischen 300 und 1500 €/kg. Als Handelsprodukt in Form von Drähten oder Folien aus reinem Beryllium (> 99,5 % Berylliumgehalt) auch deutlich teurer (> 10.000 €/g.)
Eigenschaften.
Physikalische Eigenschaften.
Kristallines Beryllium ist von stahlgrauer Farbe, wobei gut ausgebildete Kristallflächen oft einen helleren Farbton zeigen. Die Mohs-Härte des Metalls liegt zwischen 6 und 7. Es ist diamagnetisch und bei normalen Temperaturen außerordentlich spröde und zerspringt leicht bei Schlagbeanspruchung. Bei höheren Temperaturen ist es verhältnismäßig duktil, jedoch ist eine Bearbeitung bei diesen Temperaturen wegen der sehr hohen Affinität des Metalls zum Sauerstoff sehr schwierig und kann ohne Materialverlust nur in einer Wasserstoff-Atmosphäre oder im Vakuum vorgenommen werden. Das spröde Verhalten hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie Temperatur, Korngröße, Reinheit (vor allem dem Berylliumoxidgehalt) und vom Verarbeitungsprozess. So ist sehr feinkörniges und hochreines (99,999 %) Beryllium bei normalen Temperaturen plastisch verformbar. Beryllium mit technischer Reinheit ist bei Temperaturen über 500 °C verformbar.
Beryllium besitzt für ein Leichtmetall einen bemerkenswert hohen Schmelzpunkt. Neben der sehr hohen spezifischen Wärmekapazität von 1,825 kJ/(kg·K) besitzt es einen um ein Drittel höheren Elastizitätsmodul als Stahl (Elastizitätsmodul 303 GPa, Schubmodul 135 GPa, Kompressionsmodul 110 GPa). Die molare Wärmekapazität ist mit 16,45 J/(mol·K) jedoch deutlich kleiner als die der meisten anderen Metalle. Auch die Schwingungsdämpfung ist sehr hoch. Im sichtbaren Licht und nahen Ultraviolett reflektiert es etwa 50 %, im Infrarotbereich bei einer Wellenlänge von 10,6 µm etwa 98 %. Die Schallgeschwindigkeit in Beryllium ist 2,5 Mal höher als die von Stahl, der Wärmeausdehnungskoeffizient liegt bei Raumtemperatur etwa bei 11 · 10−6 pro K. Da es nur vier Elektronen pro Atom hat, ist die Wechselwirkung mit Röntgenstrahlung sehr gering. Es ist somit sehr durchlässig für Röntgenstrahlung und wird in Röntgenröhren als Austrittsfenster benutzt. Alphastrahlung kann aus Beryllium Neutronen freisetzen: |
491 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=491 | Berkelium | Berkelium ist ein künstlich erzeugtes chemisches Element mit dem Elementsymbol Bk und der Ordnungszahl 97. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Actinoide (7. Periode, f-Block) und zählt auch zu den Transuranen. Berkelium wurde nach der Stadt Berkeley in Kalifornien benannt, in der es entdeckt wurde. Bei Berkelium handelt es sich um ein radioaktives Metall mit einem silbrig-weißen Aussehen. Es wurde im Dezember 1949 erstmals aus dem leichteren Element Americium erzeugt. Es entsteht in geringen Mengen in Kernreaktoren. Seine Anwendung findet es vor allem zur Erzeugung höherer Transurane und Transactinoide.
Geschichte.
So wie Americium (Ordnungszahl 95) und Curium (96) in den Jahren 1944 und 1945 nahezu zeitgleich entdeckt wurden, erfolgte in ähnlicher Weise in den Jahren 1949 und 1950 die Entdeckung der Elemente Berkelium (97) und Californium (98).
Die Experimentatoren Glenn T. Seaborg, Albert Ghiorso und Stanley G. Thompson stellten am 19. Dezember 1949 die ersten Kerne im 60-Zoll-Zyklotron der Universität von Kalifornien in Berkeley her. Es war das fünfte Transuran, das entdeckt wurde. Die Entdeckung wurde zeitgleich mit der des Californiums veröffentlicht.
Die Namenswahl folgte naheliegenderweise einem gemeinsamen Ursprung: Berkelium wurde nach dem Fundort, der Stadt "Berkeley" in Kalifornien, benannt. Die Namensgebung folgt somit wie bei vielen Actinoiden und den Lanthanoiden: Terbium, das im Periodensystem genau über Berkelium steht, wurde nach der schwedischen Stadt Ytterby benannt, in der es zuerst entdeckt wurde: "It is suggested that element 97 be given the name berkelium (symbol Bk) after the city of Berkeley in a manner similar to that used in naming its chemical homologue terbium (atomic number 65) whose name was derived from the town of Ytterby, Sweden, where the rare earth minerals were first found." Für das Element 98 wählte man den Namen "Californium" zu Ehren der Universität und des Staates Kalifornien.
Als schwerste Schritte in der Vorbereitung zur Herstellung des Elements erwiesen sich die Entwicklung entsprechender chemischer Separationsmethoden und die Herstellung ausreichender Mengen an Americium für das Target-Material.
Die Probenvorbereitung erfolgte zunächst durch Auftragen von Americiumnitratlösung (mit dem Isotop 241Am) auf eine Platinfolie; die Lösung wurde eingedampft und der Rückstand dann zum Oxid (AmO2) geglüht.
Nun wurde diese Probe im 60-Zoll-Zyklotron mit beschleunigten α-Teilchen mit einer Energie von 35 MeV etwa 6 Stunden beschossen. Dabei entsteht in einer sogenannten (α,2n)-Reaktion 243Bk sowie zwei freie Neutronen:
Nach dem Beschuss im Zyklotron wurde die Beschichtung mittels Salpetersäure gelöst und erhitzt, anschließend wieder mit einer konzentrierten wässrigen Ammoniak-Lösung als Hydroxid ausgefällt und abzentrifugiert; der Rückstand wurde wiederum in Salpetersäure gelöst.
Um die weitgehende Abtrennung des Americiums zu erreichen, wurde diese Lösung mit einem Gemisch von Ammoniumperoxodisulfat und Ammoniumsulfat versetzt und erhitzt, um vor allem das gelöste Americium auf die Oxidationsstufe +6 zu bringen. Nicht oxidiertes restliches Americium wurde durch Zusatz von Flusssäure als Americium(III)-fluorid ausgefällt. Auf diese Weise werden auch begleitendes Curium als Curium(III)-fluorid und das erwartete Element 97 (Berkelium) als Berkelium(III)-fluorid ausgefällt. Dieser Rückstand wurde durch Behandlung mit Kalilauge zum Hydroxid umgewandelt, welches nach Abzentrifugieren nun in Perchlorsäure gelöst wurde.
Die weitere Trennung erfolgte in Gegenwart eines Citronensäure/Ammoniumcitrat-Puffers im schwach sauren Medium (pH ≈ 3,5) mit Ionenaustauschern bei erhöhter Temperatur.
Die chromatographische Trennung konnte nur aufgrund vorheriger Vergleiche mit dem chemischen Verhalten der entsprechenden Lanthanoide gelingen. So tritt bei einer Trennung das Terbium vor Gadolinium und Europium aus einer Säule. Falls das chemische Verhalten des Berkeliums dem eines Eka-Terbiums ähnelt, sollte das fragliche Element 97 daher in dieser analogen Position zuerst erscheinen, entsprechend vor Curium und Americium.
Der weitere Verlauf des Experiments brachte zunächst kein Ergebnis, da man nach einem α-Teilchen als Zerfallssignatur suchte. Erst die Suche nach charakteristischer Röntgenstrahlung und Konversionselektronen als Folge eines Elektroneneinfangs brachte den gewünschten Erfolg. Das Ergebnis der Kernreaktion wurde mit 243Bk angegeben, obwohl man anfänglich auch 244Bk für möglich hielt.
Im Jahr 1958 isolierten Burris B. Cunningham und Stanley G. Thompson erstmals wägbare Mengen, die durch langjährige Neutronenbestrahlung von 239Pu in dem Testreaktor der National Reactor Testing Station in Idaho erzeugt wurden.
Isotope.
Von Berkelium existieren nur Radionuklide und keine stabilen Isotope. Insgesamt sind 12 Isotope und 5 Kernisomere des Elements bekannt. Die langlebigsten sind 247Bk (Halbwertszeit 1380 Jahre), 248Bk (9 Jahre) und 249Bk (330 Tage). Die Halbwertszeiten der restlichen Isotope liegen im Bereich von Millisekunden bis Stunden oder Tagen.
Nimmt man beispielhaft den Zerfall des langlebigsten Isotops 247Bk heraus, so entsteht durch α-Zerfall zunächst das langlebige 243Am, das seinerseits durch erneuten α-Zerfall in 239Np übergeht. Der weitere Zerfall führt dann über 239Pu zum 235U, dem Beginn der Uran-Actinium-Reihe (4 n + 3).
"→ Liste der Berkeliumisotope"
Vorkommen.
Berkeliumisotope kommen auf der Erde wegen ihrer im Vergleich zum Alter der Erde zu geringen Halbwertszeit nicht natürlich vor.
Über die Erstentdeckung von Einsteinium und Fermium in den Überresten der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe, Ivy Mike, am 1. November 1952 auf dem Eniwetok-Atoll hinaus wurden neben Plutonium und Americium auch Isotope von Curium, Berkelium und Californium gefunden, darunter das 249Bk, das durch den β-Zerfall in 249Cf übergeht. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung wurden die Ergebnisse erst später im Jahr 1956 publiziert.
In Kernreaktoren entsteht vor allem das Berkeliumisotop 249Bk, es zerfällt bereits während der Zwischenlagerung (vor der Endlagerung) fast komplett zum Californiumisotop 249Cf mit 351 Jahren Halbwertszeit. Dieses zählt zum Transuranabfall und ist daher in der Endlagerung unerwünscht.
Gewinnung und Darstellung.
Berkelium wird durch Beschuss von leichteren Actinoiden mit Neutronen in einem Kernreaktor erzeugt. Die Hauptquelle ist der 85 MW High-Flux-Isotope Reactor (HFIR) am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee, USA, der auf die Herstellung von Transcuriumelementen (Z > 96) eingerichtet ist.
Gewinnung von Berkeliumisotopen.
Berkelium entsteht in Kernreaktoren aus Uran (238U) oder Plutonium (239Pu) durch zahlreiche nacheinander folgende Neutroneneinfänge und β-Zerfälle – unter Ausschluss von Spaltungen oder α-Zerfällen.
Ein wichtiger Schritt ist hierbei die (n,γ)- oder Neutroneneinfangsreaktion, bei welcher das gebildete angeregte Tochternuklid durch Aussendung eines γ-Quants in den Grundzustand übergeht. Die hierzu benötigten freien Neutronen entstehen durch Kernspaltung anderer Kerne im Reaktor. In diesem kernchemischen Prozess wird zunächst durch eine (n,γ)-Reaktion gefolgt von zwei β−-Zerfällen das 239Pu gebildet. In Brutreaktoren wird dieser Prozess zum Erbrüten neuen Spaltmaterials genutzt.
Letzteres wird hierzu mit einer Neutronenquelle, die einen hohen Neutronenfluss besitzt, bestrahlt. Die hierbei möglichen Neutronenflüsse sind um ein Vielfaches höher als in einem Kernreaktor. Aus 239Pu wird durch vier aufeinander folgende (n,γ)-Reaktionen 243Pu gebildet, welches durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 4,96 Stunden zu 243Am zerfällt. Das durch eine weitere (n,γ)-Reaktion gebildete 244Am zerfällt wiederum durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 10,1 Stunden letztlich zu 244Cm. Aus 244Cm entstehen durch weitere (n,γ)-Reaktionen im Reaktor in jeweils kleiner werdenden Mengen die nächst schwereren Isotope.
Die Entstehung von 250Cm auf diesem Wege ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da 249Cm nur eine kurze Halbwertszeit besitzt und so weitere Neutroneneinfänge in der kurzen Zeit unwahrscheinlich sind.
249Bk ist das einzige Isotop des Berkeliums, das auf diese Weise gebildet werden kann. Es entsteht durch β-Zerfall aus 249Cm – das erste Curiumisotop, welches einen β-Zerfall eingeht (Halbwertszeit 64,15 min).
Durch Neutroneneinfang entsteht zwar aus 249Bk auch das 250Bk, dies zerfällt aber schon mit einer Halbwertszeit von 3,212 Stunden durch β-Zerfall zu 250Cf.
Das langlebigste Isotop, das 247Bk, kann somit nicht in Kernreaktoren hergestellt werden, so dass man sich oftmals mit dem eher zugänglichen 249Bk begnügen muss. Berkelium steht heute weltweit lediglich in sehr geringen Mengen zur Verfügung, weshalb es einen sehr hohen Preis besitzt. Dieser beträgt etwa 185 US-Dollar pro Mikrogramm 249Bk.
Das Isotop 248Bk wurde 1956 durch Beschuss mit 25-MeV α-Teilchen aus einem Gemisch von Curiumnukliden hergestellt. Seine Existenz mit dessen Halbwertszeit von 23 ± 5 Stunden wurde durch das β-Zerfallsprodukt 248Cf festgestellt.
247Bk wurde 1965 aus 244Cm durch Beschuss mit α-Teilchen hergestellt. Ein eventuell entstandenes Isotop 248Bk konnte nicht nachgewiesen werden.
Das Berkeliumisotop 242Bk wurde 1979 durch Beschuss von 235U mit 11B, 238U mit 10B, sowie 232Th mit 14N bzw. 15N erzeugt. Es wandelt sich durch Elektroneneinfang mit einer Halbwertszeit von 7,0 ± 1,3 Minuten zum 242Cm um. Eine Suche nach einem zunächst vermuteten Isotop 241Bk blieb ohne Erfolg.
Darstellung elementaren Berkeliums.
Die ersten Proben von Berkeliummetall wurden 1969 durch Reduktion von BkF3 bei 1000 °C mit Lithium in Reaktionsapparaturen aus Tantal hergestellt.
Elementares Berkelium kann ferner auch aus BkF4 mit Lithium oder durch Reduktion von BkO2 mit Lanthan oder Thorium dargestellt werden.
Eigenschaften.
Im Periodensystem steht das Berkelium mit der Ordnungszahl 97 in der Reihe der Actinoide, sein Vorgänger ist das Curium, das nachfolgende Element ist das Californium. Sein Analogon in der Reihe der Lanthanoide ist das Terbium.
Physikalische Eigenschaften.
Berkelium ist ein radioaktives Metall mit silbrig-weißem Aussehen und einem Schmelzpunkt von 986 °C.
Die bei Standardbedingungen auftretende Modifikation α-Bk kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der mit den Gitterparametern "a" = 341,6 ± 0,3 pm und "c" = 1106,9 ± 0,7 pm sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle, einem Metallradius von 170 pm und einer Dichte von 14,78 g/cm3. Die Kristallstruktur besteht aus einer doppelt-hexagonal dichtesten Kugelpackung (d. h.c.p.) mit der Schichtfolge ABAC und ist damit isotyp zur Struktur von α-La.
Bei höheren Temperaturen geht α-Bk in β-Bk über. Die β-Modifikation kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Raumgruppe mit dem Gitterparameter "a" = 499,7 ± 0,4 pm, einem Metallradius von 177 pm und einer Dichte von 13,25 g/cm3. Die Kristallstruktur besteht aus einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit der Stapelfolge ABC, was einem kubisch flächenzentrierten Gitter (f.c.c.) entspricht.
Die Lösungsenthalpie von Berkelium-Metall in Salzsäure bei Standardbedingungen beträgt −600,2 ± 5,1 kJ·mol−1. Ausgehend von diesem Wert erfolgte die erstmalige Berechnung der Standardbildungsenthalpie (Δf"H"0) von Bk3+(aq) auf −601 ± 5 kJ·mol−1 und des Standardpotentials Bk3+ / Bk0 auf −2,01 ± 0,03 V.
Zwischen 70 K und Raumtemperatur verhält sich Berkelium wie ein Curie-Weiss-Paramagnet mit einem effektiven magnetischen Moment von 9,69 Bohrschen Magnetonen (µB) und einer Curie-Temperatur von 101 K. Beim Abkühlen auf etwa 34 K erfährt Berkelium einen Übergang zu einem antiferromagnetischen Zustand. Dieses magnetische Moment entspricht fast dem theoretischen Wert von 9,72 µB.
Chemische Eigenschaften.
Berkelium ist wie alle Actinoide sehr reaktionsfähig. Es reagiert allerdings nicht schnell mit Sauerstoff bei Raumtemperatur, was möglicherweise auf die Bildung einer schützenden Oxidschicht zurückzuführen ist. Jedoch reagiert es mit geschmolzenen Metallen, Wasserstoff, Halogenen, Chalkogenen und Penteliden zu verschiedenen binären Verbindungen.
In wässriger Lösung ist die dreiwertige Oxidationsstufe am beständigsten, jedoch kennt man auch vierwertige und zweiwertige Verbindungen. Wässrige Lösungen mit Bk3+-Ionen haben eine gelbgrüne Farbe, mit Bk4+-Ionen sind sie in salzsaurer Lösung beige, in schwefelsaurer Lösung orange-gelb. Ein ähnliches Verhalten ist für sein Lanthanoidanalogon Terbium zu beobachten.
Bk3+-Ionen zeigen zwei scharfe Fluoreszenzpeaks bei 652 nm (rotes Licht) und 742 nm (dunkelrot – nahes Infrarot) durch interne Übergänge in der f-Elektronen-Schale.
Spaltbarkeit.
Berkelium eignet sich anders als die benachbarten Elemente Curium und Californium auch theoretisch nur sehr schlecht als Kernbrennstoff in einem Reaktor. Neben der sehr geringen Verfügbarkeit und dem damit verbundenen hohen Preis kommt hier erschwerend hinzu, dass die günstigeren Isotope mit gerader Massenzahl nur eine geringe Halbwertszeit haben. Das einzig infrage kommende geradzahlige Isotop, 248Bk im Grundzustand, ist nur sehr schwer zu erzeugen, zudem liegen keine ausreichenden Daten über dessen Wirkungsquerschnitte vor.
249Bk ist im Prinzip in der Lage, eine Kettenreaktion aufrechtzuerhalten, und damit für einen schnellen Reaktor oder eine Atombombe geeignet. Die kurze Halbwertszeit von 330 Tagen zusammen mit der komplizierten Gewinnung und dem hohen Bedarf vereiteln entsprechende Versuche. Die kritische Masse liegt unreflektiert bei 192 kg, mit Wasserreflektor immer noch 179 kg, ein Vielfaches der Weltjahresproduktion.
247Bk kann sowohl in einem thermischen als auch in einem schnellen Reaktor eine Kettenreaktion aufrechterhalten und hat mit 1380 Jahren eine ausreichend große Halbwertszeit, um sowohl als Kernbrennstoff als auch Spaltstoff für eine Atombombe zu dienen. Es kann allerdings nicht in einem Reaktor erbrütet werden und ist damit in der Produktion noch aufwendiger und kostenintensiver als die anderen genannten Isotope. Damit einher geht eine noch geringere Verfügbarkeit, was angesichts der benötigten Masse von mindestens 35,2 kg (kritische Masse mit Stahlreflektor) als Ausschlusskriterium angesehen werden kann.
Verwendung.
Die Verwendung für Berkeliumisotope liegt hauptsächlich in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung. 249Bk ist ein gängiges Nuklid zur Synthese noch schwererer Transurane und Transactinoide wie Lawrencium, Rutherfordium und Bohrium. Es dient auch als Quelle für das Isotop 249Cf, welches Studien über die Chemie des Californiums ermöglicht. Es hat den Vorzug vor dem radioaktiveren 252Cf, welches ansonsten durch Neutronenbeschuss im High-Flux-Isotope Reactor (HFIR) erzeugt wird.
Eine 22-Milligramm-Probe 249Bk wurde im Jahr 2009 in einer 250-Tage-Bestrahlung hergestellt und dann in einem 90-Tage-Prozess in Oak Ridge gereinigt. Diese Probe führte zu den ersten 6 Atomen des Elements Tenness am Vereinigten Institut für Kernforschung (JINR), Dubna, Russland, nach einem Beschuss mit Calcium-Ionen im U400-Zyklotron für 150 Tage. Diese Synthese war ein Höhepunkt der russisch-amerikanischen Zusammenarbeit zwischen JINR und Lawrence Livermore National Laboratory bei der Synthese der Elemente 113 bis 118, die 1989 gestartet wurde.
Verbindungen.
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Obwohl das Isotop 247Bk die längste Halbwertszeit ausweist, ist das Isotop 249Bk leichter zugänglich und wird überwiegend für die Bestimmung der chemischen Eigenschaften herangezogen.
Oxide.
Von Berkelium existieren Oxide der Oxidationsstufen +3 (Bk2O3) und +4 (BkO2).
Berkelium(IV)-oxid (BkO2) ist ein brauner Feststoff und kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Fluorit-Struktur in der mit den Koordinationszahlen Cf[8], O[4]. Der Gitterparameter beträgt 533,4 ± 0,5 pm.
Berkelium(III)-oxid (Bk2O3) entsteht aus BkO2 durch Reduktion mit Wasserstoff:
Es ist ein gelbgrüner Feststoff mit einem Schmelzpunkt von 1920 °C. Es bildet ein kubisch-raumzentriertes Kristallgitter mit "a" = 1088,0 ± 0,5 pm.
Halogenide.
Halogenide sind für die Oxidationsstufen +3 und +4 bekannt. Die stabilste Stufe +3 ist für sämtliche Verbindungen von Fluor bis Iod bekannt und auch in wässriger Lösung stabil. Die vierwertige Stufe ist nur in der festen Phase stabilisierbar.
Berkelium(IV)-fluorid (BkF4) ist eine gelbgrüne Ionenverbindung und kristallisiert im monoklinen Kristallsystem und ist isotyp mit Uran(IV)-fluorid.
Berkelium(III)-fluorid (BkF3) ist ein gelbgrüner Feststoff und besitzt zwei kristalline Strukturen, die temperaturabhängig sind (Umwandlungstemperatur: 350 bis 600 °C). Bei niedrigen Temperaturen ist die orthorhombische Struktur (YF3-Typ) zu finden. Bei höheren Temperaturen bildet es ein trigonales System (LaF3-Typ).
Berkelium(III)-chlorid (BkCl3) ist ein grüner Feststoff mit einem Schmelzpunkt von 603 °C und kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem. Seine Kristallstruktur ist isotyp mit Uran(III)-chlorid (UCl3). Das Hexahydrat (BkCl3 · 6 H2O) weist eine monokline Kristallstruktur auf.
Berkelium(III)-bromid (BkBr3) ist ein gelbgrüner Feststoff und kristallisiert bei niedrigen Temperaturen im PuBr3-Typ, bei höheren Temperaturen im AlCl3-Typ.
Berkelium(III)-iodid (BkI3) ist ein gelber Feststoff und kristallisiert im hexagonalen System (BiI3-Typ).
Die Oxihalogenide BkOCl, BkOBr und BkOI besitzen eine tetragonale Struktur vom PbFCl-Typ.
Chalkogenide und Pentelide.
Berkelium(III)-sulfid (Bk2S3) wurde entweder durch Behandeln von Berkelium(III)-oxid mit einem Gemisch von Schwefelwasserstoff und Kohlenstoffdisulfid bei 1130 °C dargestellt, oder durch die direkte Umsetzung von metallischem Berkelium mit Schwefel. Dabei entstanden bräunlich-schwarze Kristalle mit kubischer Symmetrie und einer Gitterkonstanten von "a" = 844 pm.
Die Pentelide des Berkeliums (249Bk) des Typs BkX sind für die Elemente Stickstoff, Phosphor, Arsen und Antimon dargestellt worden. Ihre Herstellung erfolgt durch die Reaktion von entweder Berkelium(III)-hydrid (BkH3) oder metallischem Berkelium mit diesen Elementen bei erhöhter Temperatur im Hochvakuum in Quarzampullen. Sie kristallisieren im NaCl-Gitter mit den Gitterkonstanten 495,1 pm für BkN, 566,9 pm für BkP, 582,9 pm für BkAs und 619,1 pm für BkSb.
Weitere anorganische Verbindungen.
Berkelium(III)- und Berkelium(IV)-hydroxid sind beide als Suspension in 1 M Natronlauge stabil und wurden spektroskopisch untersucht. Berkelium(III)-phosphat (BkPO4) wurde als Feststoff dargestellt, der eine starke Fluoreszenz bei einer Anregung durch einen Argon-Laser (514,5 nm-Linie) zeigt.
Weitere Salze des Berkeliums sind bekannt, z. B. Bk2O2S, (BkNO3)3 · 4 H2O, BkCl3 · 6 H2O, Bk2(SO4)3 · 12 H2O und Bk2(C2O4)3 · 4 H2O. Eine thermische Zersetzung in einer Argonatmosphäre bei ca. 600 °C (um eine Oxidation zum BkO2 vermeiden) von Bk2(SO4)3 · 12 H2O führt zu raumzentrierten orthorhombischen Kristallen von Berkelium(III)-oxisulfat (Bk2O2SO4). Diese Verbindung ist unter Schutzgas bis mindestens 1000 °C thermisch stabil.
Berkeliumhydride werden durch Umsetzung des Metalls mit Wasserstoffgas bei Temperaturen über 250 °C hergestellt. Sie bilden nicht-stöchiometrische Zusammensetzungen mit der nominalen Formel BkH2+x (0 < x < 1). Während die Trihydride eine hexagonale Symmetrie besitzen, kristallisiert das Dihydrid in einer "fcc"-Struktur mit der Gitterkonstanten "a" = 523 pm.
Metallorganische Verbindungen.
Berkelium bildet einen trigonalen (η5–C5H5)3Bk-Komplex mit drei Cyclopentadienylringen, die durch Umsetzung von Berkelium(III)-chlorid mit geschmolzenem Be(C5H5)2 bei etwa 70 °C synthetisiert werden können. Es besitzt eine gelbe Farbe und orthorhombische Symmetrie mit den Gitterkonstanten "a" = 1411 pm, "b" = 1755 pm und "c" = 963 pm sowie einer berechneten Dichte von 2,47 g/cm3. Der Komplex ist bis mindestens 250 °C stabil und sublimiert bei ca. 350 °C. Die hohe Radioaktivität bewirkt allerdings eine schnelle Zerstörung der Verbindungen innerhalb weniger Wochen. Ein C5H5-Ring im (η5–C5H5)3Bk kann durch Chlor ersetzt werden, wobei das dimere [Bk(C5H5)2Cl]2 entsteht. Das optische Absorptionsspektrum dieser Verbindung ist sehr ähnlich zum (η5–C5H5)3Bk.
Sicherheitshinweise.
Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen und eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielen. Auch Letzteres gilt nur, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt. |
492 | 2485651 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=492 | Blei | Blei ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Pb () und der Ordnungszahl 82. Es ist ein giftiges Schwermetall und steht in der 4. Hauptgruppe bzw. der 14. IUPAC-Gruppe (Kohlenstoffgruppe) und 6. Periode des Periodensystems. Blei ist leicht verformbar und hat einen vergleichsweise niedrigen Schmelzpunkt.
Die Isotope 206Pb, 207Pb und 208Pb sind die schwersten stabilen Atome, Blei ist damit das Element mit der höchsten Massen- und Ordnungszahl, das noch stabil ist. Alle Bleiisotope haben die magische Protonenzahl 82, die diese Stabilität bewirkt. Bei 208Pb liegt sogar ein so genannter "doppelt magischer Kern" vor, weil er zusätzlich die magische Neutronenzahl 126 aufweist.
Da die Bleiisotope -206, -207 und -208 die Endprodukte der drei natürlichen Zerfallsreihen radioaktiver Elemente sind, ist relativ viel Blei entstanden; es kommt deshalb in der Erdkruste im Vergleich zu anderen schweren Elementen (Quecksilber, Gold u. a.) häufig vor.
Geschichte.
Der bisher älteste Fund von metallischem Blei wurde in Çatalhöyük, etwa 50 km südöstlich von Konya auf dem Anatolischen Plateau, gemacht. Er besteht aus Bleiperlen zusammen mit Kupferperlen, die auf etwa 6500 vor Christus datiert wurden.
In der frühen Bronzezeit wurde Blei neben Antimon und Arsen verwendet, um aus Legierungen mit Kupfer Bronzen zu erzeugen, bis sich Zinn weitgehend durchsetzte. Bereits die Babylonier kannten Vasen aus Blei. Die Assyrer mussten Blei ("abāru") einführen, was von Tiglat-pileser I. unter anderem als Tribut von Melid belegt ist. Im antiken Griechenland wurde Blei hauptsächlich in Form von Bleiglanz abgebaut, um daraus Silber zu gewinnen. Im römischen Reich dagegen wurde der Stoff für eine Vielzahl von Anwendungsbereichen genutzt. Von besonderer Bedeutung war das Blei beispielsweise in der Architektur, wo Steinblöcke mithilfe von Bleiklammern aneinander befestigt wurden. So wurden für die Errichtung der Porta Nigra schätzungsweise sieben Tonnen Blei verbaut. Weitere wichtige Einsatzbereiche waren die Verkleidung von Schiffsrümpfen zum Schutz vor Schädlingsbefall und die Herstellung von innerstädtischen Wasserleitungen. Hinzu kam die Nutzung von Blei als Rohstoff für die Herstellung von Gefäßen, als Material von Schreibtafeln oder für die sogenannten Tesserae, die zum Beispiel als Erkennungs- oder Berechtigungsmarke dienten. Kleine Bleistücke, die sogenannten „Schleuderbleie“, dienten im römischen Heer als Schleudergeschoss. Aufgrund des hohen Bedarfs fand auch ein Handel mit Blei über weite Strecken statt, der sich unter anderem durch Inschriften auf römischen Bleibarren nachweisen lässt.
In der antiken Literatur war man der Ansicht, Blei und Zinn seien zwei Erscheinungsformen des gleichen Stoffes, sodass man Blei im Lateinischen als (von ), Zinn als (von ) bezeichnete. Daher ist oft unklar, ob ein antiker Text mit "plumbum" Blei oder Zinn meint. Schon der römische Autor Vitruv hielt die Verwendung von Blei für Trinkwasserrohre für gesundheitsschädlich und empfahl, stattdessen nach Möglichkeit Tonrohre zu verwenden. Trotzdem waren Trinkwasserrohre aus Blei bis in die 1970er Jahre gebräuchlich, was beispielsweise auch in dem englischen Wort zum Ausdruck kommt. Aus heutiger Sicht besonders bedenklich war auch die Zugabe von Blei als Süßungsmittel zum Wein (sogenannter „Bleizucker“, siehe Blei(II)-acetat). Die häufige Nutzung von Blei in Rohren und im Wein wurde teilweise auch als Grund für den Untergang des Römischen Reiches diskutiert, eine Hypothese, die heutzutage in der Forschung allerdings abgelehnt wird.
In Westfalen gewannen die Römer bis zu ihrem Rückzug nach der Varusschlacht Blei. Die für unterschiedliche Fundstellen typische Zusammensetzung der Isotope zeigt, dass das Blei für die Herstellung römischer Bleisärge, die im Rheinland gefunden wurden, aus der nördlichen Eifel stammt. Die römische Bleiverarbeitung hat zu einer bis heute nachweisbaren Umweltverschmutzung geführt: Eisbohrkerne aus Grönland zeigen zwischen dem 5. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. einen messbaren Anstieg des Bleigehalts in der Atmosphäre.
Auch später hatte Blei (von ) eine wichtige Bedeutung. Es wurde beispielsweise zum Einfassen von Bleiglasfenstern, beispielsweise in Kirchen oder für das Eindecken von Bleidächern verwendet. Besonders wichtig wurde Blei vor allem nach Erfindung der Feuerwaffen für das Militär als Material für Projektile von Handfeuerwaffen. Da die Soldaten ihre Geschosse selbst herstellten, war es nicht unüblich, dass sie alles Blei stahlen, das sie finden konnten, um Geschosse daraus anzufertigen.
Blei spielte auch in der Alchemie eine wichtige Rolle. Auf Grund seiner Ähnlichkeit zu Gold (ähnlich weich und schwer) galt Blei als guter Ausgangsstoff für die Goldsynthese (Synthese als Farbumwandlung von Grau nach Gelb). Das alchemistische Symbol für Blei ist eine stilisierte Sichel (♄), da es bereits seit dem Altertum als Planetenmetall dem Gott und Planeten Saturn (lateinisch "Saturnus") zugeordnet wurde.
Mit Beginn der industriellen Revolution wurde Blei dann in großen Mengen für die chemische Industrie, zum Beispiel für die Schwefelsäureproduktion im Bleikammerverfahren oder die Auskleidung von Anlagen zur Sprengstoffherstellung, benötigt. Es war damals das wichtigste Nichteisenmetall.
Beim Versuch, das Alter der Erde durch Messung des Verhältnisses von Blei zu Uran in Gesteinsproben zu bestimmen, stellte der US-amerikanische Geochemiker Clair Cameron Patterson etwa 1950 fest, dass die Gesteinsproben ausnahmslos mit großen Bleimengen aus der Atmosphäre verunreinigt waren. Als Quelle konnte er das als Antiklopfmittel in Kraftstoffen verwendete Tetraethylblei nachweisen. Nach Pattersons Befunden enthielt die Atmosphäre vor 1923 fast überhaupt kein Blei. Aufgrund dieser Erkenntnisse kämpfte er zeit seines Lebens für die Verringerung der Freisetzung von Blei in die Umwelt. Seine Bemühungen führten schließlich dazu, dass 1970 in den USA der Clean Air Act mit strengeren Abgasvorschriften in Kraft trat. 1986 wurde der Verkauf verbleiten Benzins in den Vereinigten Staaten, in der Bundesrepublik Deutschland durch das Benzinbleigesetz schrittweise ab 1988, in der EU ab 2001 völlig verboten. Daraufhin sank der Bleigehalt im Blut der Amerikaner fast sofort um 80 Prozent. Da Blei jedoch in der Umwelt praktisch ewig erhalten bleibt, hat dennoch heute jeder Mensch etwa 600-mal mehr von dem Metall im Blut als vor 1923. Pro Jahr wurden um das Jahr 2000 immer noch legal etwa 100.000 Tonnen in die Atmosphäre freigesetzt. Die Hauptverursacher sind Bergbau, Metallindustrie und produzierendes Gewerbe.
Im Jahr 2009 lag die Menge des gewonnenen Bleis bei den Nichteisenmetallen an vierter Stelle nach Aluminium, Kupfer und Zink. Es wird vor allem für Autobatterien (Bleiakkumulatoren) verwendet (60 % der Gesamtproduktion).
Allgemein wird versucht, die Belastung von Mensch und Umwelt mit Blei und damit Bleivergiftungen zu verringern. Außer dem Verbot von verbleiten Benzins wurde ab 2002 durch die RoHS-Richtlinien die Verwendung von Blei in Elektro- und Elektronikgeräten eingeschränkt. 1989 wurden bleihaltige Anstriche und Beschichtungen vollständig verboten, der Einsatz von bleihaltiger Munition wurde ab 2005 in einigen Bundesländern teilweise verboten. Als Material für Wasserrohre wurde Blei schon 1973 verboten; in Deutschland vorhandene Bleirohre müssen bis zum 12. Januar 2026 ausgetauscht werden, wobei die Frist in Ausnahmefällen verlängert werden kann. Seit 1. März 2018 ist das Verwenden (Lagern, Mischen, Gebrauchen zur Herstellung u. a.) und Inverkehrbringen von Blei – massiv (zum Beispiel als Barren oder Pellets) oder als Pulver – ähnlich wie schon länger bei vielen Bleiverbindungen in der EU von wenigen Ausnahmen abgesehen regelmäßig verboten, wenn das zum Verkauf an die breite Öffentlichkeit bestimmt ist und die Bleikonzentration darin 0,3 % oder mehr beträgt; im Übrigen muss der Lieferant gewährleisten, dass das vor dem Inverkehrbringen als „nur für gewerbliche Anwender“ gekennzeichnet ist.
Vorkommen.
Blei kommt in der Erdkruste mit einem Gehalt von etwa 0,0018 % vor und tritt eher selten gediegen, das heißt in elementarer Form auf. Dennoch sind weltweit inzwischen rund 200 Fundorte für gediegen Blei bekannt (Stand: 2017), so unter anderem in Argentinien, Äthiopien, Australien, Belgien, Brasilien, Volksrepublik China, Deutschland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Grönland, Italien, Kanada, Kasachstan, Kirgisistan, Mexiko, der Mongolei, Namibia, Norwegen, Österreich, Polen, Russland, Schweden, Slowenien, Tschechien, der Ukraine, den US-amerikanischen Jungferninseln, im Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA).
Auch in Gesteinsproben des mittelatlantischen Rückens, genauer am nordöstlichen Rand der „Markov-Tiefe“ innerhalb der „Sierra-Leone-Bruchzone“ (Sierra-Leone-Schwelle), sowie außerhalb der Erde auf dem Mond im Mare Fecunditatis konnte Blei gefunden werden.
An jedem Fundort weicht die Isotopenzusammensetzung geringfügig von den oben angegebenen Mittelwerten ab, so dass man mit einer genauen Analyse der Isotopenzusammensetzung den Fundort bestimmen und bei archäologischen Fundstücken auf alte Handelswege schließen kann. Zudem kann Blei ebenfalls fundortabhängig verschiedene Fremdbeimengungen wie Silber, Kupfer, Zink, Eisen, Zinn und/oder Antimon enthalten.
In Bleierzen ist Blei zumeist als Galenit (Bleisulfid PbS, "Bleiglanz") zugegen. Dieses Mineral ist auch die bedeutendste kommerzielle Quelle für die Gewinnung neuen Bleis. Weitere Bleimineralien sind Cerussit (Blei(II)-carbonat, PbCO3, auch "Weißbleierz"), Krokoit (Blei(II)-chromat, PbCrO4, auch "Rotbleierz") und Anglesit (Blei(II)-sulfat, PbSO4, auch "Bleivitriol"). Die Bleiminerale mit der höchsten Bleikonzentration in der Verbindung sind Lithargit und Massicotit (bis 92,8 %) sowie Minium (bis 90,67 %). Insgesamt sind bisher 514 bekannt (Stand: 2017).
Die wirtschaftlich abbaubaren Vorräte werden weltweit auf 67 Millionen Tonnen geschätzt (Stand 2004). Die größten Vorkommen findet man in der Volksrepublik China, den USA, Australien, Russland und Kanada. In Europa sind Schweden und Polen die Länder mit den größten Vorkommen.
Auch in Deutschland wurde in der nördlichen Eifel (Rescheid / Gruben Wohlfahrt und Schwalenbach; Mechernich / Grube Günnersdorf und auch Tagebau /Virginia; Bleialf), im Schwarzwald, im Harz (Goslar/Rammelsberg), in Sachsen (Freiberg/Muldenhütten), an der unteren Lahn (Bad Ems, Holzappel), sowie in Westfalen (Ramsbeck/Sauerland) in der Vergangenheit Bleierz abgebaut, verhüttet und veredelt.
Die bedeutendste Quelle für Blei ist heute das Recycling alter Bleiprodukte. Daher bestehen in Deutschland nur noch zwei Primärhütten, die Blei aus Erz herstellen, die Bleihütte Binsfeldhammer in Stolberg (Rheinland) und Metaleurop in Nordenham bei Bremerhaven. Sämtliche andere Hütten erzeugen so genanntes Sekundärblei, indem sie altes Blei (insbesondere aus gebrauchten Autobatterien) aufarbeiten.
Blei als Mineral.
Natürliche Vorkommen an Blei in seiner elementaren Form waren bereits vor der Gründung der International Mineralogical Association (IMA) bekannt. Als vermutliche Typlokalität wird die manganreichen Eisenerz-Lagerstätte Långban in Schweden angegeben, wo derbe Massen von bis zu 50 kg oder 60 kg gefunden worden sein sollen. Blei ist daher als sogenanntes "grandfathered" Mineral als eigenständige Mineralart anerkannt.
Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Blei unter der System-Nummer "1.AA.05" (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Kupfer-Cupalit-Familie – Kupfergruppe) beziehungsweise in der veralteten 8. Auflage unter "I/A.03" ("Zinn-Blei-Gruppe") eingeordnet. Die vorwiegend im englischsprachigen Raum verwendete führt das Element-Mineral unter der System-Nr. 01.01.01.04 ("Goldgruppe").
In der Natur tritt gediegen Blei meist in Form von zentimetergroßen Blechen und Platten sowie in körnigen, dendritischen, haar- oder drahtförmigen Aggregaten auf. Sehr selten finden sich auch oktaedrische, würfelige und dodekaedrische Bleikristalle, die meist winzig sind, aber gelegentlich eine Größe zwischen 4 cm und 6 cm erreichen können.
Staaten mit der größten Förderung.
Die weltweit bedeutendsten Förderländer für Bleierz im Jahre 2020 waren die Volksrepublik China (1.900.000 Tonnen), Australien (494.000 Tonnen) und die USA (306.000 Tonnen), deren Anteil an den weltweit abgebauten 4,4 Millionen Tonnen zusammen etwa zwei Drittel betrug. In Europa sind Russland, Schweden, Polen und die Türkei als die größten Bleiproduzenten zu nennen.
Die wichtigsten Produzenten von raffiniertem Blei (Hüttenblei mit 99,9 % Reinheit) sind die Volksrepublik China (1,8 Millionen Tonnen), die USA (1,2 Millionen Tonnen) und Deutschland (403.000 Tonnen), deren Anteil zusammen rund die Hälfte der weltweit erzeugten 6,7 Millionen Tonnen beträgt. Weitere bedeutende Produzenten von raffiniertem Blei in Europa sind Großbritannien, Italien, Frankreich und Spanien.
Der weltweite Verbrauch bzw. Produktion von Blei stieg von etwa 7 Millionen Tonnen auf etwa 11 Millionen Tonnen in den Jahren 2013 bis 2016. Der Großteil des Bleis wird dabei für Bleiakkumulatoren verwendet. Ca. 92 % des 2021 in den USA gebrauchten Bleis wurden dieser Verwendung zugeführt.
Gewinnung und Darstellung.
Das mit Abstand bedeutendste Bleimineral ist das Galenit. Dieses tritt häufig vergesellschaftet mit den Sulfiden anderer Metalle (Kupfer, Bismut, Zink, Arsen, Antimon u. a.) auf, die naturgemäß als Verunreinigung des Rohbleis bis zu einem Anteil von 5 % enthalten sind.
Das durch Zerkleinerung, Klassierung und Flotation auf bis zu 60 % Mineralgehalt aufbereitete Erz wird in drei verschiedenen industriellen Prozessen in metallisches Blei überführt. Dabei treten die Verfahren der Röstreduktion und der Röstreaktion zunehmend in den Hintergrund und werden durch Direktschmelzverfahren ersetzt, die sich einerseits wirtschaftlicher gestalten lassen und die andererseits umweltverträglicher sind.
Röstreduktionsarbeit.
Dieses Verfahren verläuft in zwei Stufen, dem Rösten und der Reduktion. Beim Rösten wird das fein zerkleinerte Bleisulfid auf einen Wanderrost gelegt und 1000 °C heiße Luft hindurchgedrückt. Dabei reagiert es mit dem Sauerstoff der Luft in einer exothermen Reaktion zu Blei(II)-oxid (PbO) und Schwefeldioxid. Dieses wird über die Röstgase ausgetrieben und kann für die Schwefelsäureproduktion verwendet werden. Das Bleioxid ist unter diesen Bedingungen flüssig und fließt nach unten. Dort kann es gesintert werden.
Anschließend erfolgt die Reduktion des Bleioxids mit Hilfe von Koks zu metallischem Blei. Dies geschieht in einem Schachtofen, ähnlich dem beim Hochofenprozess verwendeten. Dabei werden schlackebildende Zuschlagsstoffe wie Kalk beigefügt.
Röstreaktionsarbeit.
Dieses Verfahren kommt vor allem bei hochgradig mit PbS angereicherten Bleierzen zum Einsatz und ermöglicht die Bleierzeugung in einem Schritt. Dabei wird das sulfidische Erz nur unvollständig geröstet. Anschließend wird das Bleisulfid/Bleioxid-Gemisch weiter unter Luftabschluss erhitzt. Dabei setzt das Bleioxid sich mit dem verbliebenen PbS ohne Zugabe eines weiteren Reduktionsmittels zu Blei und Schwefeldioxid um:
Direktschmelzverfahren.
Moderne Herstellungsverfahren für Blei basieren auf Direktschmelzverfahren, die auf Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit hin optimiert wurden (zum Beispiel das QSL-Verfahren). Vorteilhaft ist die kontinuierliche Prozessführung mit Beschränkung auf einen Reaktionsraum, der als einziger Emittent für Schadstoffe auftritt – im Vergleich dazu weisen die klassischen Produktionsverfahren das Sintern als zusätzlichen emittierenden Schritt auf. Das Rösten und die Reduktion finden parallel in einem Reaktor statt. Das Bleisulfid wird ähnlich wie beim Röstreaktionsverfahren nicht vollständig geröstet. Ein Teil des Bleis entsteht somit durch Reaktion des Bleisulfids mit Bleioxid. Da der Reaktor leicht geneigt ist, fließen Blei und bleioxidhaltige Schlacke ab. Diese passiert die Reduktionszone, in die Kohlenstaub eingeblasen und das Bleioxid so zu Blei reduziert wird. Beim Rösten wird statt Luft reiner Sauerstoff verwendet. Dadurch verringert sich das Volumen an Abgasen erheblich, die andererseits eine im Vergleich zu konventionellen Verfahren höhere Konzentration an Schwefeldioxid aufweisen. Deren Verwendung für die Schwefelsäureherstellung gestaltet sich somit einfacher und wirtschaftlicher.
Raffination.
Das entstehende Werkblei enthält 2–5 % andere Metalle, darunter Kupfer, Silber, Gold, Zinn, Antimon, Arsen, Bismut in wechselnden Anteilen. Das Aufreinigen und Vermarkten einiger dieser Beiprodukte, insbesondere des bis zu 1 % im Werkblei enthaltenen Silbers, trägt wesentlich zur Wirtschaftlichkeit der Bleigewinnung bei.
Die pyrometallische Raffination des Bleis ist ein mehrstufiger Prozess. Durch Schmelzen in Gegenwart von Natriumnitrat/Natriumcarbonat bzw. von Luft werden Antimon, Zinn und Arsen oxidiert und können als Bleiantimonate, -stannate und -arsenate von der Oberfläche der Metallschmelze abgezogen werden („Antimonabstrich“). Kupfer wie auch eventuell enthaltenes Zink, Nickel und Kobalt werden durch Seigern des Werkbleis aus dem Rohmetall entfernt. Dabei sinkt auch der Schwefelgehalt beträchtlich. Silber wird nach dem Parkes-Verfahren ggf. durch die Zugabe von Zink und das Ausseigern der sich bildenden Zn-Ag-Mischkristalle aus dem Blei abgeschieden („Parkesierung“), während die Bedeutung des älteren Pattinson-Verfahrens stark zurückgegangen ist ("siehe auch" Herstellung von Silber, Güldischsilber). Bismut kann nach dem Kroll-Betterton-Verfahren durch Legieren mit Calcium und Magnesium als Bismutschaum von der Oberfläche der Bleischmelze abgezogen werden.
Eine weitere Reinigung kann durch elektrolytische Raffination erfolgen, jedoch ist dieses Verfahren bedingt durch den hohen Energiebedarf kostenintensiver. Blei ist zwar ein unedles Element, welches in der elektrochemischen Spannungsreihe ein negativeres Standardpotential als Wasserstoff aufweist. Dieser hat jedoch an Bleielektroden eine hohe Überspannung, so dass eine elektrolytische Abscheidung metallischen Bleis aus wässrigen Lösungen möglich wird, siehe elektrolytische Bleiraffination.
Raffiniertes Blei kommt als Weichblei bzw. genormtes Hüttenblei mit 99,9- bis 99,97%iger Reinheit (zum Beispiel Eschweiler Raffiné) oder als Feinblei mit 99,985 bis 99,99 % Blei (DIN 1719, veraltet) in den Handel. Entsprechend dem Verwendungszweck sind auch Bezeichnungen wie Kabelblei für die Legierung mit ca. 0,04 % Kupfer verbreitet. Aktuelle Normen wie DIN EN 12659 kennen diese noch gebräuchlichen Bezeichnungen nicht mehr.
Eigenschaften.
Physikalische Eigenschaften.
Blei ist ein unedles Metall mit einem Standardelektrodenpotential von etwa −0,13 V. Es ist allerdings edler als viele andere Gebrauchsmetalle, wie Eisen, Zink oder Aluminium. Es ist ein diamagnetisches Schwermetall mit einer Dichte von 11,3 g/cm³, das kubisch-flächenzentriert kristallisiert und damit eine kubisch dichteste Kugelpackung mit der aufweist. Der Gitterparameter beträgt bei reinem Blei 0,4950 nm (entspricht 4,95 Å) bei 4 Formeleinheiten pro Elementarzelle.
Darauf gründet die ausgeprägte Duktilität des Metalls und die geringe Mohshärte von 1,5. Es lässt sich daher leicht zu Blechen walzen oder zu Drähten formen, die jedoch wegen ihrer geringen Härte nur wenig beständig sind. Eine diamantartige Modifikation, wie sie von den leichteren Homologen der Gruppe 14 bekannt ist, tritt beim Blei nicht auf. Das liegt an der relativistisch bedingten Instabilität der Pb-Pb-Bindung und an der geringen Tendenz, vierwertig aufzutreten.
Frische Bleiproben sind von grauweißer bis metallisch weißer Farbe und zeigen einen typisch metallischen Glanz, der aber durch oberflächliche Oxidation sehr schnell abnimmt. Die Farbe wechselt dabei ins Dunkelgraue und wird matt. Auf Papier hinterlässt das weiche Metall einen (blei)grauen Strich. Aus diesem Grund wurde früher mit Blei geschrieben und gemalt. Der Name „Bleistift“ blieb bis heute erhalten, obwohl man seit langem dafür Graphit benutzt.
Der Schmelzpunkt des Bleis liegt bei 327 °C, sein Siedepunkt bei 1740–1751 °C (Werte in Fachliteratur unterschiedlich: 1740 °C, 1746 °C, 1751 °C). Blei leitet als typisches Metall sowohl Wärme als auch Strom, dies aber deutlich schlechter als andere Metalle (vgl. elektrische Leitfähigkeit Blei: 4,8 · 106 S/m, Silber: 62 · 106 S/m). Unterhalb von 7,196 K zeigt Blei keinen elektrischen Widerstand, es wird zum Supraleiter vom Typ I. Die Schallgeschwindigkeit in Blei liegt bei etwa 1200 m/s, in der Literatur streuen die Werte etwas, wahrscheinlich bedingt durch unterschiedliche Reinheit oder Bearbeitung.
Chemische Eigenschaften.
An der Luft wird Blei durch Bildung einer Schicht aus Bleioxid passiviert und damit vor weiterer Oxidation geschützt. Frische Schnitte glänzen daher zunächst metallisch, laufen jedoch schnell unter Bildung einer matten Oberfläche an. In feinverteiltem Zustand ist Blei leichtentzündlich ("pyrophores Blei").
Auch in diversen Säuren ist Blei durch Passivierung unlöslich. So ist Blei beständig gegen Schwefelsäure, Flusssäure und Salzsäure, da sich mit den Anionen der jeweiligen Säure unlösliche Bleisalze bilden. Deshalb besitzt Blei für spezielle Anwendungen eine gewisse Bedeutung im chemischen Apparatebau.
Löslich ist Blei dagegen in Salpetersäure (Blei(II)-nitrat ist wasserlöslich), heißer, konzentrierter Schwefelsäure (Bildung des löslichen Pb(HSO4)2-Komplexes), Essigsäure (nur bei Luftzutritt) und heißen Laugen.
In Wasser, das keinen Sauerstoff enthält, ist metallisches Blei stabil. Bei Anwesenheit von Sauerstoff löst es sich jedoch langsam auf, so dass bleierne Trinkwasserleitungen eine Gesundheitsgefahr darstellen können. Wenn das Wasser dagegen viele Hydrogencarbonat- und Sulfationen enthält, was meist mit einer hohen Wasserhärte einhergeht, bildet sich nach einiger Zeit eine Schicht basischen Bleicarbonats und Bleisulfats. Diese schützt das Wasser vor dem Blei, jedoch geht selbst dann noch etwas Blei aus den Leitungen in das Wasser über.
Isotope.
Natürlich vorkommendes Blei besteht im Mittel zu etwa 52,4 % aus dem Isotop 208Pb, zu etwa 24,1 % aus 206Pb, zu etwa 22,1 % aus 207Pb, und zu etwa 1,4 % 204Pb. Die Zusammensetzung ist je nach Lagerstätte geringfügig verschieden, so dass mit einer Analyse der Isotopenzusammensetzung die Bleiherkunft festgestellt werden kann. Das ist für historische Funde aus Blei und Erkenntnisse früherer Handelsbeziehungen von Bedeutung.
Die drei erstgenannten Isotope sind stabil. Bei 204Pb handelt es sich um ein primordiales Radionuklid. Es zerfällt unter Aussendung von Alphastrahlung mit einer Halbwertszeit von 1,4 · 1017 Jahren (140 Billiarden Jahre) in 200Hg. 208Pb besitzt einen doppelt magischen Kern; es ist das schwerste stabile Nuklid. (Das noch schwerere, lange für stabil gehaltene 209Bi ist nach neueren Messungen instabil und zerfällt mit einer Halbwertszeit von (1,9 ± 0,2)· 1019 Jahren (19 Trillionen Jahre) unter Aussendung von Alphateilchen.)
Die stabilen Isotope des natürlich vorkommenden Bleis sind jeweils die Endprodukte der Uran- und Thorium-Zerfallsreihen: 206Pb ist das Endnuklid der beim 238U beginnenden Uran-Radium-Reihe, 207Pb ist das Ende der beim 235U beginnenden Uran-Actinium-Reihe und 208Pb das Ende der beim 244Pu bzw. 232Th beginnenden Thorium-Reihe. Durch diese Zerfallsreihen kommt es zu dem Effekt, dass das Verhältnis der Bleiisotope in einer Probe bei Ausschluss eines stofflichen Austausches mit der Umwelt zeitlich nicht konstant ist. Dies kann zur Altersbestimmung durch die Uran-Blei- bzw. Thorium-Blei-Methode genutzt werden, die auf Grund der langen Halbwertszeiten der Uran- und Thoriumisotope im Gegensatz zur Radiokarbonmethode gerade zur Datierung von Millionen Jahre alten Proben tauglich ist. Außerdem führt der Effekt zu differenzierten Isotopensignaturen im Blei aus verschiedenen Lagerstätten, was zum Herkunftsnachweis herangezogen werden kann.
Weiterhin existieren noch 33 instabile Isotope und 13 instabile Isomere von 178Pb bis 215Pb, die entweder künstlich hergestellt wurden oder in den Zerfallsreihen des Urans bzw. des Thoriums vorkommen, wie etwa 210Pb in der Uran-Radium-Reihe. Das langlebigste Isotop unter ihnen ist 205Pb mit einer Halbwertszeit von 153 Millionen Jahren.
"→ Liste der Blei-Isotope"
Verwendung.
Die größten Bleiverbraucher sind die USA, Japan, Deutschland und die Volksrepublik China. Der Verbrauch ist stark von der Konjunktur in der Automobilindustrie abhängig, in deren Akkumulatoren etwa 60 % des Weltbedarfs an Blei verwendet werden. Weitere 20 % werden in der chemischen Industrie verarbeitet.
Strahlenabschirmung.
Wegen seiner hohen Atommasse eignet sich Blei in ausreichend dicken Schichten oder Blöcken zur Abschirmung gegen Gamma- und Röntgenstrahlung; es absorbiert Röntgen- und Gammastrahlung sehr wirksam. Blei ist hierfür billiger und leichter zu verarbeiten, etwa als weiches Blech, als noch „atom-schwerere“, dichtere Metalle. Deshalb wird es ganz allgemein im Strahlenschutz (zum Beispiel Nuklearmedizin, Radiologie, Strahlentherapie) zur Abschirmung benutzt. Ein Beispiel ist die Bleischürze, welche Ärzte und Patienten bei Röntgenaufnahmen tragen. Bleiglas wird ebenfalls zum Strahlenschutz verwendet.
Im Krankenhausbereich ist als technische Angabe bei baulichen Einrichtungen mit Abschirmfunktion wie Wänden, Türen, Fenster der "Bleidickegleichwert" üblich und oft angeschrieben, um die Wirksamkeit von Strahlenschutz und Strahlenbelastung berechnen zu können.
Blei wird deshalb zum Beispiel auch für Streustrahlenraster eingesetzt.
Einen besonderen Anwendungsfall stellt die Abschirmung von Gamma-Spektrometern für die Präzisionsdosimetrie dar. Hierfür wird Blei mit möglichst geringer Eigen-Radioaktivität benötigt. Der natürliche Gehalt an radioaktivem 210Pb wirkt sich störend aus. Er fällt umso niedriger aus, je länger der Verhüttungszeitpunkt zurückliegt, denn mit der Verhüttung werden die Mutter-Nuklide aus der Uran-Radium-Reihe (Begleiter im Erz) vom Blei abgetrennt. Das 210Pb zerfällt daher vom Zeitpunkt der Verhüttung an mit seiner Halbwertszeit von 22,3 Jahren, ohne dass neues nachgebildet wird. Deshalb sind historische Bleigegenstände wie etwa Trimmgewichte aus gesunkenen Schiffen oder historische Kanonenkugeln zur Gewinnung von strahlungsarmem Blei für die Herstellung solcher Abschirmungen begehrt. Auch gibt es noch andere Forschungseinrichtungen, die aus ähnlichen Gründen dieses alte Blei benötigen.
Metall.
Blei wird vorwiegend als Metall oder Legierung verwendet. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, als Blei eines der wichtigsten und meistverwendeten Metalle war, versucht man heute, Blei durch andere, ungiftige Elemente oder Legierungen zu ersetzen. Wegen seiner wichtigen Eigenschaften, vor allem seiner Korrosionsbeständigkeit und hohen Dichte sowie seiner einfachen Herstellung und Verarbeitung, hat es aber immer noch eine große Bedeutung in der Industrie. Elemente mit einer ähnlichen oder noch höheren Dichte beispielsweise sind entweder noch problematischer (Quecksilber, Uran) oder sehr selten und teuer (Wolfram, Gold, Platin).
Elektrotechnik.
Das meiste Blei wird heutzutage für chemische Energiespeicher in Form von Bleiakkumulatoren (zum Beispiel für Autos) verwendet. Ein Autoakku enthält eine Blei- und eine Blei(IV)-oxid-Elektrode sowie verdünnte Schwefelsäure (37 %) als Elektrolyt. Aus den bei der elektrochemischen Reaktion entstehenden Pb2+-Ionen bildet sich in der Schwefelsäure unlösliches Blei(II)-sulfat. Wiederaufladen ist durch die Rückreaktion von Blei(II)-sulfat zu Blei und Blei(IV)-oxid möglich. Ein Vorteil des Bleiakkumulators ist die hohe Nennspannung einer Akkuzelle von 2,06 Volt.
Maschinenbau.
Da Blei eine hohe Dichte besitzt, wird es als Gewicht benutzt. Umgangssprachlich gibt es deshalb die Bezeichnung „bleischwer“ für sehr schwere Dinge. Bleigewichte wurden unter anderem als Ausgleichsgewichte zum Auswuchten von Autorädern benutzt. Dies ist aber seit dem 1. Juli 2003 bei PKW-Neuwagen und seit dem 1. Juli 2005 bei allen PKW (bis 3,5 t) verboten; die Bleigewichte sind durch Zink- oder Kupfergewichte ersetzt worden. Weitere Anwendungen unter Ausnutzung der hohen Dichte sind: Bleiketten zur Straffung von Gardinen und Tauchgewichte, um beim Tauchen den Auftrieb von Taucher und Ausrüstung auszugleichen. Außerdem wird Blei als Schwingungsdämpfer in vibrationsempfindlichen (Auto-)Teilen, zur Stabilisierung von Schiffen und für Sonderanwendungen des Schallschutzes verwendet.
Apparatebau.
Blei ist durch Passivierung chemisch sehr beständig und widersteht u. a. Schwefelsäure und Brom. Daher wird es als Korrosionsschutz im Apparate- und Behälterbau eingesetzt. Eine früher wichtige Anwendung war das Bleikammerverfahren zur Schwefelsäureherstellung, da damals Blei das einzige bekannte Metall war, das den Schwefelsäuredämpfen widerstand. Auch frühere Anlagen und Räume zur Herstellung von Nitroglyzerin wurden an Boden und Wand mit Blei ausgekleidet. Blei wurde auch häufig zur Ummantelung von Kabeln zum Schutz vor Umwelteinflüssen benutzt, beispielsweise bei Telefonkabeln. Heute ist Blei dabei meist durch Kunststoffe, zum Beispiel PVC, abgelöst worden, wird aber bis heute bei Kabeln in Raffinerien eingesetzt, da es auch gegen Kohlenwasserstoffe unempfindlich ist.
Bauwesen.
Da Blei leicht zu bearbeiten und zu gießen ist, wurde Blei in der Vergangenheit häufig für metallische Gegenstände verwendet. Zu den wichtigsten Bleiprodukten zählten u. a. Rohre. Aufgrund der Toxizität der aus dem Blei evtl. entstehenden chemischen Verbindungen (Bleivergiftung) kommen Bleirohre aber seit den 1970er Jahren nicht mehr zum Einsatz. Trotz einer gebildeten Karbonatschicht in den Rohren löst sich das Blei weiterhin im Trinkwasser. Erfahrungsgemäß wird bereits nach wenigen Metern der Grenzwert der geltenden Trinkwasserverordnung nicht mehr eingehalten.
Weitere Verwendung im Hochbau fand Blei zur Verbindung von Steinen durch eingegossene Metallklammern oder Metalldübel, etwa um Scharniere an einen steinernen Türstock zu befestigen oder ein Eisengeländer an einer Steintreppe. Diese Verbleiungstechnik ist in der Restaurierung noch weit verbreitet. So an der Turmspitze im Wiener Stephansdom oder der Brücke in Mostar. Auch für Fensterfassungen, zum Beispiel an mittelalterlichen Kirchenfenstern, wurden oft Bleiruten verwendet. Blei (Walzblei) findet auch Verwendung als Dachdeckung (zum Beispiel die Hauptkuppeln der Hagia Sophia) oder für Dachabschlüsse (zum Beispiel bei den berühmten „Bleikammern“, dem ehemaligen Gefängnis von Venedig und im Kölner Dom) sowie zur Einfassung von Dachöffnungen. Auch wurde früher Farben und Korrosionsschutzanstrichen Blei beigemischt, insbesondere bei Anstrichen für Metalloberflächen. Noch heute stellt Blei bei Gebäuden im Bestand einen zu berücksichtigenden Gebäudeschadstoff dar, da es in vielen älteren Bau- und Anlageteilen weiterhin zu finden ist.
Pneumatiksteuerungen.
Ein spezieller Anwendungsbereich von Bleirohren waren ab dem späten 19. Jahrhundert pneumatische Steuerungen für Orgeln (pneumatische Traktur), pneumatische Kunstspielklaviere und, als ein spezieller und sehr erfolgreicher Einsatzfall, die Steuerung der Link-Trainer, des ersten weitverbreiteten Flugsimulators. Die Vorteile von Bleirohren (billig, stabil, flexibel, kleiner Platzbedarf für die nötigen umfangreichen Rohrbündel, lötbar, mechanisch leicht zu verarbeiten, langlebig) waren dafür ausschlaggebend.
Militärtechnik.
Ein wichtiger Abnehmer für Bleimetall war und ist das Militär. Blei dient als Grundstoff für Geschosse, sowohl für Schleudern als auch für Feuerwaffen. In sogenannten Kartätschen wurde gehacktes Blei verschossen. Der Grund für die Verwendung von Blei waren und sind einerseits die hohe Dichte und damit hohe Durchschlagskraft und andererseits die leichte Herstellung durch Gießen. Heutzutage wird das Blei meist von einem Mantel (daher „Mantelgeschoss“) aus einer Kupferlegierung (Tombak) umschlossen. Vorteile sind vor allem eine höhere erreichbare Geschossgeschwindigkeit, bei der ein nicht ummanteltes Bleigeschoss aufgrund seiner Weichheit nicht mehr verwendet werden kann, und die Verhinderung von Bleiablagerungen im Inneren des Laufes einer Feuerwaffe. Bleifreie Munition ist jedoch auch verfügbar.
Karosseriereparatur.
Vor dem Aufkommen moderner 2-Komponenten-Spachtelmasse wurden Blei oder Blei-Zinn-Legierungen aufgrund ihres geringen Schmelzpunktes zum Ausfüllen von Schad- und Reparaturstellen an Fahrzeugkarosserien genutzt. Dazu wurde das Material mit Lötbrenner und Flussmittel auf die Schadstelle aufgelötet. Anschließend wurde die Stelle wie beim Spachteln verschliffen. Dies hat den Vorteil, dass das Blei im Gegensatz zu Spachtelmasse eine feste Bindung mit dem Blech eingeht und bei Temperaturschwankungen auch dessen Längenausdehnung mitmacht. Da die entstehenden Dämpfe und Stäube giftig sind, wird dieses Verfahren heute außer bei der Restaurierung historischer Fahrzeuge kaum noch verwendet.
Brauchtum.
Ein alter Orakel-Brauch, den bereits die Römer pflegten, ist das Bleigießen, bei dem flüssiges Blei (heutzutage auch in Legierung mit Zinn) in kaltem Wasser zum Erstarren gebracht wird. Anhand der zufällig entstehenden Formen sollen Weissagungen über die Zukunft getroffen werden. Heute wird der Brauch noch gerne zu Neujahr geübt, um einen (nicht unbedingt ernst genommenen) Ausblick auf das kommende Jahr zu bekommen.
Wassersport.
Beim Tauchen werden Bleigewichte zum Tarieren verwendet; der hohe Dichteüberschuss (gut 10 g/cm³) gegenüber Wasser liefert kompakt den Abtrieb, so dass ein Taucher auch in geringer Wassertiefe schweben kann. Für die Verwendung von Blei als Gewicht ist ferner der vergleichsweise niedrige Preis begünstigend: Ausgehend von den Weltmarktpreisen für Metalle vom Juli 2013 hat Blei ein hervorragendes Preis-Gewichts-Verhältnis. Die Verwendung erfolgt in Form von Platten an den Schuhsohlen eines Panzertauchanzugs, als abgerundete Blöcke aufgefädelt auf einem breiten Hüftgurt oder – modern – als Schrotkugeln in Netzen in den Taschen einer Tarierweste. Öffnen der Gurtschnalle oder der Taschen (unten) erlaubt es, den Ballast notfalls rasch abzuwerfen.
Der Kielballast von Segelyachten besteht bevorzugt aus Blei. Eisenschrott ist zwar billiger, aber auch weniger dicht, was bei den heute üblichen schlanken Kielen nicht optimal ist. Neben der Dichte ist ein weiterer Vorteil, dass Blei nicht rostet und daher auch bei einem Schaden in der Kielverkleidung nicht degeneriert.
Legierungsbestandteil.
Blei wird auch in einigen wichtigen Legierungen eingesetzt. Durch das Zulegieren weiterer Metalle ändern sich je nach Metall die Härte, der Schmelzpunkt oder die Korrosionsbeständigkeit des Materials. Die wichtigste Bleilegierung ist das Hartblei, eine Blei-Antimon-Legierung, die erheblich härter und damit mechanisch belastbarer als reines Blei ist. Spuren einiger anderer Elemente (Kupfer, Arsen, Zinn) sind meist in Hartblei enthalten und beeinflussen ebenfalls maßgeblich die Härte und Festigkeit. Verwendung findet Hartblei beispielsweise im Apparatebau, bei dem es neben der chemischen Beständigkeit auch auf Stabilität ankommt.
Eine weitere Bleilegierung ist das Letternmetall, eine Bleilegierung mit 60–90 % Blei, die als weitere Bestandteile Antimon und Zinn enthält. Es wird für Lettern im klassischen Buchdruck verwendet, spielt heute allerdings in der Massenproduktion von Druckgütern keine Rolle mehr, sondern allenfalls für bibliophile Editionen. Daneben wird Blei in Lagern als so genanntes Lagermetall verwendet.
Blei spielt eine Rolle als Legierungsbestandteil in Weichlot, das unter anderem in der Elektrotechnik Verwendung findet. In Weichloten ist Zinn neben Blei der wichtigste Bestandteil. Die Verwendung von Blei in Loten betrug 1998 weltweit etwa 20.000 Tonnen. Die EG-Richtlinie 2002/95/EG RoHS verbannt Blei seit Juli 2006 weitgehend aus der Löttechnik. Für spezielle Anwendungen gibt es jedoch eine Reihe von Ausnahmen.
Blei ist ein häufiger Nebenbestandteil in Messing. Dort hilft ein Bleianteil (bis 3 %), die Zerspanbarkeit zu verbessern. Auch in anderen Legierungen, wie zum Beispiel Rotguss, kann Blei als Nebenbestandteil enthalten sein. Daher ist es ratsam, nach längerem Stehen das erste aus Messingarmaturen kommende Wasser wegen etwas herausgelösten Bleis eher nicht zu trinken.
Bleifrei.
Mit Ausnahme von AvGas für spezielle Flugzeugmotoren werden bleihaltige Produkte und Anwendungen entweder vollständig ersetzt (wie bei der Verwendung bleifreier Munition oder wie das Tetraethylblei im Benzin; siehe dazu auch Entwicklung der Ottokraftstoffe#Bleifrei), oder der Bleigehalt wird durch Grenzwerte auf einen der technischen Verunreinigung entsprechenden Wert beschränkt (zum Beispiel Zinn und Lot). Diese Produkte werden gern „bleifrei“ genannt. Grenzwerte gibt es u. a. in der Gesetzgebung um die so genannte RoHS (Richtlinie 2011/65/EU), die 1000 ppm (0,1 %) vorsieht. Strenger ist der Grenzwert für Verpackungen mit 100 ppm (Richtlinie 94/62/EG).
Der politische Wille zum Ersetzen des Bleis gilt auch dort, wo die Verwendung aufgrund der Eigenschaften technisch oder wirtschaftlich interessant wäre, die Gesundheitsgefahr gering und ein Recycling mit sinnvollem Aufwand möglich wäre (zum Beispiel Blei als Dacheindeckung).
Bleiglas.
Wegen der abschirmenden Wirkung des Bleis besteht der Konus von Kathodenstrahlröhren (d. h. der „hintere“ Teil der Röhre) für Fernsehgeräte, Computerbildschirme etc. aus Bleiglas. Das Blei absorbiert die in Kathodenstrahlröhren zwangsläufig entstehenden weichen Röntgenstrahlen. Für diesen Verwendungszweck ist Blei noch nicht sicher zu ersetzen, daher wird die RoHS-Richtlinie hier nicht angewendet. Glas mit sehr hohem Bleigehalt wird wegen dieser Abschirmwirkung auch in der Radiologie sowie im Strahlenschutz (zum Beispiel in Fensterscheiben) verwendet. Ferner wird Bleiglas wegen seines hohen Brechungsindexes für hochwertige Glaswaren als sogenanntes Bleikristall verwendet.
Toxizität.
Elementares Blei kann vor allem in Form von Staub über die Lunge aufgenommen werden. Dagegen wird Blei kaum über die Haut aufgenommen. Daher ist elementares Blei in kompakter Form für den Menschen nicht giftig. Metallisches Blei bildet an der Luft eine dichte, schwer wasserlösliche Schutzschicht aus Bleicarbonat. Toxisch sind gelöste Bleiverbindungen sowie Bleistäube, die durch Verschlucken oder Einatmen in den Körper gelangen können. Besonders toxisch sind Organobleiverbindungen, zum Beispiel Tetraethylblei, die stark lipophil sind und rasch über die Haut aufgenommen werden.
Seit 2006 werden einatembare Fraktionen von Blei und anorganische Bleiverbindungen von der MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft als krebserzeugend eingestuft:
Blei reichert sich selbst bei Aufnahme kleinster Mengen, die über einen längeren Zeitraum stetig eingenommen werden, im Körper an, da es zum Beispiel in Knochen eingelagert und nur sehr langsam wieder ausgeschieden wird. Blei kann so eine chronische Vergiftung hervorrufen, die sich unter anderem in Kopfschmerzen, Müdigkeit, Abmagerung und Defekten der Blutbildung, des Nervensystems und der Muskulatur zeigt. Bleivergiftungen sind besonders für Kinder und Schwangere gefährlich. Es kann auch Fruchtschäden und Zeugungsunfähigkeit bewirken. Im Extremfall kann die Bleivergiftung zum Tod führen. Die Giftigkeit von Blei beruht unter anderem auf einer Störung der Hämoglobinsynthese. Es hemmt mehrere Enzyme und behindert dadurch den Einbau des Eisens in das Hämoglobinmolekül. Dadurch wird die Sauerstoff-Versorgung der Körperzellen gestört.
Bleiglas und Bleiglasur eignen sich nicht für Ess- und Trinkgefäße, da Essig(säure) Blei als wasserlösliches Bleiazetat aus dem Silikatverbund herauslösen kann. Als Automotoren noch mit Benzin mit Bleitetraethyl liefen, war die Vegetation in der Nähe von Straßen und in den Städten mit Blei, als Oxidstaub, belastet. Raue und vertiefte Oberflächen, etwa die Einziehung rund um den Stängel eines Apfels, sind Fallen für Staub.
Der Zusatz bleihaltiger Antiklopfmittel im Autobenzin hat nach einer 2022 in der PNAS veröffentlichten Studie der Duke und der Florida State University seit den frühen Sechzigerjahren 170 Millionen Amerikaner um durchschnittlich fast fünf IQ-Punkte dümmer gemacht. Wer Mitte der Sechzigerjahre und vor dem Verbot bleihaltigen Benzins 1996 geboren wurde, hat im Schnitt sogar einen bis zu sechs Punkte niedrigeren IQ, als wenn er in einer Welt ohne Blei in der Umwelt aufgewachsen wäre.
Bleibelastung der Umwelt.
Luft.
Die Bleibelastung der Luft wird hauptsächlich durch bleihaltige Stäube verursacht: Hauptquellen sind die Blei-erzeugende Industrie, die Verbrennung von Kohle und bis vor einigen Jahren vor allem der Autoverkehr durch die Verbrennung bleihaltiger Kraftstoffe in Automotoren – durch Reaktion mit dem Benzin zugesetzten halogenierten Kohlenwasserstoffen entstand aus dem zugesetzten Tetraethylblei neben geringeren Mengen an Blei(II)-chlorid und Blei(II)-bromid vor allem Blei und Blei(II)-oxid. Infolge des Verbotes bleihaltiger Kraftstoffe ist die entsprechende Luftbelastung in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.
Am höchsten ist die Bleibelastung durch Bleistäube derzeit bei der Arbeit in Blei-produzierenden und -verarbeitenden Betrieben. Auch beim Reinigen und Entfernen alter Mennige-Anstriche durch Sandstrahlen entsteht Bleistaub. Die bei der Bleiraffination und der Verbrennung von Kohle entstehenden Bleioxidstäube konnten durch geeignete Filter verringert werden. Eine weitere Quelle, die mengenmäßig aber kaum ins Gewicht fällt, ist die Verbrennung von Hausmüll in Müllverbrennungsanlagen.
Sport- und andere Schützen sind erheblichen Belastungen durch im Mündungs- bzw. Zündfeuer enthaltene (Schwer)metalle ausgesetzt, darunter neben Antimon, Kupfer und Quecksilber eben auch Blei; Vorsorge kann durch den Betrieb entsprechender Absauganlagen auf Schießständen sowie durch den Gebrauch bleifreier Munition getroffen werden.
Boden.
Auch Böden können mit Blei belastet sein. Der mittlere Bleigehalt der kontinentalen Erdkruste liegt bei 15 mg/kg. Böden enthalten von Natur aus zwischen 2 und 60 mg/kg Blei; wenn sie aus bleierzhaltigen Gesteinen entstanden sind, kann der Gehalt deutlich höher sein. Der Großteil der Bleibelastung von Böden ist anthropogen, die Quellen dafür sind vielfältig. Der Großteil des Eintrags erfolgt über Bleistäube aus der Luft, welche mit dem Regen oder durch trockene Deposition in die Böden gelangen. Für Deutschland und das Jahr 2000 wurde der atmosphärische Eintrag in Böden auf 571 t Blei/Jahr geschätzt. Eine weitere Quelle ist belasteter Dünger, sowohl Mineraldünger (136 t Pb/a), insbesondere Ammonsalpeter, als auch Wirtschaftsdünger (182 t Pb/a). Klärschlämme (90 t Pb/a) und Kompost (77 t Pb/a) tragen ebenfalls zur Bleibelastung der Böden bei. Ein erheblicher Eintrag erfolgt auch durch Bleischrot-Munition. Bei Altlasten, wie zum Beispiel an ehemaligen Standorten von bleiproduzierenden Industriebetrieben oder in der Umgebung von alten bleiummantelten Kabeln, kann der Boden ebenfalls eine hohe Bleibelastung aufweisen. Eine besonders große Bleiverseuchung hat beispielsweise im Ort Santo Amaro da Purificação (Brasilien) zu hohen Belastungen bei Kindern geführt.
Wasser.
Die Bleibelastung der Gewässer resultiert hauptsächlich aus dem Ausschwemmen von Blei aus belasteten Böden. Dazu tragen auch geringe Mengen bei, die der Regen aus Bleiwerkstoffen wie Dachplatten löst. Die direkte Verschmutzung von Gewässern durch die Bleiindustrie und den Bleibergbau spielt (zumindest in Deutschland) auf Grund des Baus von Kläranlagen fast keine Rolle mehr. Der Jahreseintrag von Blei in Gewässer ist in Deutschland von ca. 900 t im Jahr 1985 auf ungefähr 300 t im Jahr 2000 zurückgegangen.
In Deutschland beträgt der Grenzwert im Trinkwasser seit dem 1. Dezember 2013 10 µg/l (früher 25 µg/l); die Grundlage der Messung ist eine für die durchschnittliche wöchentliche Wasseraufnahme durch Verbraucher repräsentative Probe (siehe Trinkwasserverordnung).
Nahrung.
Durch die Bleibelastung von Luft, Boden und Wasser gelangt das Metall über Pilze, Pflanzen und Tiere in die Nahrungskette des Menschen. Besonders hohe Bleibelastungen können in verschiedenen Pilzen enthalten sein. Auf den Blättern von Pflanzen lagert sich Blei als Staub ab, das war charakteristisch für die Umgebung von Straßen mit viel Kfz-Verkehr, als Benzin noch verbleit wurde. Dieser Staub kann durch sorgfältiges Waschen entfernt werden. Zusätzliche Quellen können bleihaltige Munition bei gejagten Tieren sein. Blei kann auch aus bleihaltigen Glasuren von Keramikgefäßen in Lebensmittel übergehen. In frischem Obst und Gemüse ist in den allermeisten Fällen Blei und Cadmium nicht oder nur in sehr geringen Spuren nachweisbar.
Wasserleitungen aus Bleirohren können das Trinkwasser belasten. Sie sind in Deutschland erst seit den 1970er Jahren nicht mehr verbaut worden. Besonders in Altbauten in einigen Regionen Nord- und Ostdeutschlands sind Bleirohre immer noch anzutreffen. Bei über 5 % der Proben des Wassers aus diesen Gebäuden lagen die Bleiwerte des Leitungswassers laut Stiftung Warentest über dem aktuellen gesetzlichen Grenzwert. Gleiches gilt für Österreich und betrifft Hauszuleitungen der Wasserversorgers und Leitungen im Haus, die Sache des Hauseigentümers sind. Aus bleihaltigem Essgeschirr kann Blei durch saure Lebensmittel (Obst, Wein, Gemüse) herausgelöst werden.
Wasserleitungsarmaturen (Absperrhähne, Formstücke, Eckventil, Mischer) sind meist aus Messing oder Rotguss. Messing wird für gute Zerspanbarkeit 3 % Blei zugesetzt, Rotguss enthält 4–7 %. Ob Blei- und andere Schwermetallionen (Cu, Zn, Ni) in relevantem Ausmaß ins Wasser übertreten, hängt von der Wasserqualität ab: Wasserhärte, pH-Wert, Sauerstoff, Salzgehalt. Grundsätzlich kann nach längerem Stehen des Wassers in der Leitung, etwa über Nacht, durch Laufenlassen der Wasserleitung von etwa einer Minute (Spülen) vor der Entnahme für Trinkwasserzwecke der Gehalt aller aus der Leitungswandung eingewanderten Ionen reduziert werden.
Rechtliche Regelung.
In der EU wurde der Grenzwert für Blei in Trinkwasser 1998 durch die Richtlinie 98/83/EG (ersetzt durch Richtlinie (EU) 2020/2184) – allerdings mit einer Übergangsfrist von 15 Jahren – auf 10 μg/L festgelegt.
Die Höchstmengen an Blei in Lebensmitteln werden durch die Verordnung (EG) Nr. 1881/2006 geregelt. Die jeweiligen Höchstgrenzen hängen dabei vom Erzeugnis ab und orientieren sich auch daran, was durch gute Herstellungspraxis oder gute landwirtschaftliche Praxis erreichbar ist. Der niedrigste Wert wird für Säuglingsnahrung und Lebensmitteln für Säuglinge und Kleinkinder mit 0,010 mg/kg vorgeschrieben. 0,10 mg/kg ist der Grenzwert etwa für Fleisch, Wurzel- und Knollengemüse, Zuckermais, Wein (ab 2022er Weinlese), Honig oder viele Früchte. Für Krebstiere gilt ein Grenzwert von 0,50 mg/kg, für Muscheln ein Grenzwert von 1,50 mg/kg. In Rindengewürzen und Fleur de Sel sind maximal 2,0 mg/kg und in Nahrungsergänzungsmittel sogar 3,0 mg/kg erlaubt.
Analytik.
Klassische qualitative Bestimmung von Blei.
Nachweis durch Kristallisation.
Bleiionen können in einer mikroskopischen Nachweisreaktion als Blei(II)-iodid dargestellt werden. Dabei wird die Probe in verdünnter Salzsäure gelöst und vorsichtig bis zur Kristallisation eingedampft. Der Rückstand wird mit einem Tropfen Wasser aufgenommen und anschließend mit einem Kristall eines wasserlöslichen Iodids, zum Beispiel Kaliumiodid (KI), versetzt. Es entstehen nach kurzer Zeit mikroskopisch kleine, gelbe, hexagonale Blättchen des Blei(II)-iodids.
Qualitativer Nachweis im Trennungsgang.
Da Blei nach Zugabe von HCl nicht quantitativ als PbCl2 ausfällt, kann es sowohl in der HCl-Gruppe als auch in der H2S-Gruppe nachgewiesen werden. Das PbCl2 kann sowohl durch Zugabe von Kaliumiodid gemäß obiger Reaktion als gelbes PbI2 gefällt werden, als auch mit K2Cr2O7 als gelbes Bleichromat, PbCrO4.
Nach Einleiten von H2S in die salzsaure Probe fällt zweiwertiges Blei in Form von schwarzem PbS aus. Dieses wird nach Digerieren mit (NH4)SX und Zugabe von 4 M HNO3 als PbI2 oder PbCrO4 nachgewiesen.
Instrumentelle quantitative Analytik des Bleis.
Für die Spurenanalytik von Blei und seinen Organoderivaten steht eine Reihe von Methoden zur Verfügung. Allerdings werden in der Literatur laufend neue bzw. verbesserte Verfahren vorgestellt, auch im Hinblick auf die oft erforderliche Vorkonzentrierung. Ein nicht zu unterschätzendes Problem besteht in der Probenaufarbeitung.
Atomabsorptionsspektrometrie (AAS).
Unter den verschiedenen Techniken der AAS liefert die Quarzrohr- und die Graphitrohrtechnik die besten Ergebnisse für die Spurenanalytik von Bleiverbindungen. Häufig wird Blei mit Hilfe von NaBH4 in das leicht flüchtige Bleihydrid, PbH2, überführt. Dieses wird in eine Quarzküvette geleitet und anschließend elektrisch auf über 900 °C erhitzt. Dabei wird die Probe atomisiert und es wird unter Verwendung einer Hohlkathodenlampe die Absorbanz bei 283,3 nm gemessen. Es wurde eine Nachweisgrenze von 4,5 ng/ml erzielt. Gerne wird in der AAS auch eine Luft-Acetylenfackel (F-AAS) oder mikrowelleninduziertes Plasma (MIP-AAS) zur Atomisierung eingesetzt.
Atomemissionsspektrometrie (AES).
In der AES haben sich das mikrowelleninduzierte Plasma (MIP-AES) und das induktiv gekoppelte Argon-Plasma (ICP-AES) zur Atomisierung bewährt. Die Detektion findet bei den charakteristischen Wellenlängen 283,32 nm und 405,78 nm statt. Mit Hilfe der MIP-AES wurde für Trimethylblei, (CH3)3Pb+, eine Nachweisgrenze von 0,19 pg/g ermittelt. Die ICP-AES ermöglicht eine Nachweisgrenze für Blei in Trinkwasser von 15,3 ng/ml.
Massenspektrometrie (MS).
In der Natur treten für Blei insgesamt vier stabile Isotope mit unterschiedlicher Häufigkeit auf. Für die Massenspektrometrie wird häufig das Isotop 206Pb genutzt. Mit Hilfe der ICP-Quadrupol-MS konnte dieses Isotop im Urin mit einer Nachweisgrenze von 4,2 pg/g bestimmt werden.
Photometrie.
Die am weitesten verbreitete Methode zur photometrischen Erfassung von Blei ist die sog. Dithizon-Methode. Dithizon ist ein zweizähniger, aromatischer Ligand und bildet bei pH 9–11,5 mit Pb2+-Ionen einen roten Komplex dessen Absorbanz bei 520 nm (ε = 6,9·104 l/mol·cm) gemessen wird. Bismut und Thallium stören die Bestimmung und sollten vorher quantitativ gefällt oder extrahiert werden.
Voltammetrie.
Für die elektrochemische Bestimmung von Spuren von Blei eignet sich hervorragend die subtraktive anodische Stripping-Voltammetrie (SASV). Dabei geht der eigentlichen voltammetrischen Bestimmung eine reduktive Anreicherungsperiode auf einer rotierenden Ag-Disk-Elektrode voraus. Es folgt die eigentliche Bestimmung durch Messung des Oxidationsstroms beim Scannen eines Potentialfensters von −800 mV bis −300 mV. Anschließend wird die Messung ohne vorangehende Anreicherung wiederholt und die so erhaltene Kurve von der ersten Messung subtrahiert. Die Höhe des verbleibenden Oxidationspeaks bei −480 mV korreliert mit der Menge an vorhandenem Blei. Es wurde eine Nachweisgrenze von 50 pM Blei in Wasser ermittelt.
Bleiverbindungen.
Bleiverbindungen kommen in den Oxidationsstufen +II und +IV vor. Aufgrund des relativistischen Effekts ist die Oxidationsstufe +II dabei – im Gegensatz zu den leichteren Homologen der Gruppe 14, wie Kohlenstoff und Silicium – stabiler als die Oxidationsstufe +IV. Der Sachverhalt der Bevorzugung der um 2 erniedrigten Oxidationsstufe, findet sich in analoger Weise auch in anderen Hauptgruppen und wird Effekt des inerten Elektronenpaares genannt. Blei(IV)-Verbindungen sind deshalb starke Oxidationsmittel. In intermetallischen Verbindungen des Bleis ("Plumbide": MxPby), vor allem mit Alkali- und Erdalkalimetallen, nimmt es auch negative Oxidationsstufen bis −IV an. Viele Bleiverbindungen sind Salze, es gibt aber auch organische Bleiverbindungen, die kovalent aufgebaut sind. Ebenso wie bei Bleimetall wird heutzutage versucht, Bleiverbindungen durch andere, ungiftige Verbindungen zu substituieren. So wurde „Bleiweiß“ (basisches Blei(II)-carbonat) als Weißpigment durch Titan(IV)-oxid ersetzt.
Organische Bleiverbindungen.
Organische Bleiverbindungen liegen fast immer in der Oxidationsstufe +4 vor. Deren bekannteste ist Tetraethylblei Pb(C2H5)4 (TEL), eine giftige Flüssigkeit, die als Antiklopfmittel Benzin zugesetzt wurde. Heute wird Tetraethylblei nur noch in Flugbenzin verwendet. |
493 | 568 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=493 | Brom | Brom [] ( „Gestank“) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Br und der Ordnungszahl 35. Im Periodensystem steht es in der 7. Hauptgruppe, bzw. der 17. IUPAC-Gruppe und gehört damit zusammen mit Fluor, Chlor, Iod, Astat und Tenness zu den Halogenen. Elementares Brom liegt unter Normbedingungen (Temperatur = 0 °C und Druck = 1 atm) in Form des zweiatomigen Moleküls Br2 in flüssiger Form vor. Brom und Quecksilber sind die einzigen natürlichen Elemente, die unter Normbedingungen flüssig sind.
In der Natur kommt Brom nicht elementar, sondern nur in verschiedenen Verbindungen vor. Die wichtigsten Verbindungen sind die Bromide, in denen Brom in Form des Anions Br− auftritt. Die bekanntesten Bromide sind Natriumbromid und Kaliumbromid. Bromide sind ein Bestandteil des Meerwassers und besitzen einige biologische Funktionen.
Entdeckung.
Brom wurde 1826 durch den französischen Chemiker Antoine-Jérôme Balard aus Meeresalgen der Salzwiesen bei Montpellier gewonnen und von diesem als bisher unbekannter Stoff erkannt.
Bereits zwei Jahre vor Balard stellte der deutsche Chemiker Justus von Liebig 1824 unwissentlich elementares Brom her. Er hatte den Auftrag, die Salzsolen von Salzhausen zu analysieren, da die Stadt ein Kurbad plante. Bei der Untersuchung dieser Sole fand Liebig eine neue Substanz, die er als Iodchlorid deutete. 13 Jahre später gab er zu, dass ihn seine nachlässige Analyse um die Entdeckung eines neuen Elements gebracht habe. Liebig schrieb dazu: „Ich kenne einen Chemiker, der, als er in Kreuznach war, die Mutterlaugen der Saline untersuchte.“ Im Weiteren beschrieb er dann sein Missgeschick und schloss mit den Worten: „Seit dieser Zeit hat er keine Theorien mehr aufgestellt, wenn sie nicht durch unzweifelhafte Experimente unterstützt und bestätigt wurden; und ich kann vermelden, dass er daran nicht schlecht getan hat.“
Auch Karl Löwig hat sich mit Brom befasst, das er bereits vor 1825 durch Einleiten von Chlor in Kreuznacher Solewasser gewann, jedoch kam Balard ihm mit der Publikation seiner Entdeckung zuvor.
Eine industrielle Produktion erfolgte ab 1860. Aufgrund seines stechenden Geruchs schlug Joseph Louis Gay-Lussac den Namen „Brom“ (griech. für „Bocksgestank der Tiere“) vor.
Vorkommen.
Brom kommt in Form von Bromiden, den Salzen der Bromwasserstoffsäure, vor. Mengenmäßig finden sich die größten Vorkommen als gelöste Bromide im Meerwasser. Auch Vorkommen natürlicher Salzlagerstätten (Stein- und Kalisalze) enthalten geringe Anteile an Kaliumbromid und Kaliumbromat.
Brom kann auch in der Atmosphäre in der Form von molekularem Brom und Bromoxid vorkommen und kann die atmosphärische Ozonchemie maßgeblich beeinflussen und dabei über weite Distanzen transportiert werden. Während des polaren Frühlings zerstören regelmäßig größere Konzentrationen (>10ppt) BrO fast das gesamte troposphärische Ozon. Diese Ereignisse sind mittels der DOAS-Methode auch von Satelliten zu beobachten. In tropischen Regionen mit hoher Bioaktivität wurden starke Emissionen halogenierter Kohlenwasserstoffe beobachtet, die letztendlich durch Photolyse zur Bildung von BrO und zur Ozonzerstörung beitragen können.
Brom ist für Tiere in Spuren essenziell. Bromid fungiert als Cofaktor bei einer Stoffwechsel-Reaktion, die notwendig zum Aufbau der Kollagen-IV-Matrix im Bindegewebe ist.
Gewinnung und Darstellung.
Die industrielle Herstellung elementaren Broms erfolgt durch Oxidation von Bromidlösungen mit Chlor.
Als Bromidquelle nutzt man überwiegend Sole und stark salzhaltiges Wasser aus großer Tiefe sowie Salzseen, vereinzelt auch Meerwasser. Eine Gewinnung aus den Restlaugen der Kaligewinnung ist nicht mehr wirtschaftlich. Seit 1961 hat sich die jährlich gewonnene Menge an Brom von rund 100.000 Tonnen auf über eine halbe Million Tonnen mehr als verfünffacht. Die größten Brom-Produzenten sind die Vereinigten Staaten, China, Israel, sowie Jordanien. Es wird geschätzt, dass alleine das Tote Meer ungefähr 1 Milliarde Tonnen Brom enthält und sämtliche Meere der Erde ungefähr 100 Billionen Tonnen.
Die globalen Abbaumengen verteilen sich, wie folgt:
Im Labor kann Brom durch Umsetzung von Natriumbromid mit Schwefelsäure und Braunstein in der Hitze dargestellt werden. Das Brom wird dabei durch Destillation abgetrennt.
Eigenschaften.
Physikalische Eigenschaften.
Die Dichte von Brom beträgt 3,12 g/cm3. Die schwere rotbraune Flüssigkeit bildet chlorähnlich riechende Dämpfe, die giftiger sind als Chlor. Festes Brom ist dunkel, bei weiterer Abkühlung hellt es auf. In Wasser ist es mäßig, in organischen Lösungsmitteln wie Alkoholen, Kohlenstoffdisulfid oder Tetrachlorkohlenstoff sehr gut löslich. In Wasser gelöstes Brom reagiert langsam unter Zwischenbildung von Hypobromiger Säure (HBrO) und Sauerstoffabgabe zu Bromwasserstoff (HBr).
Die kinetisch gehemmte Reaktion wird durch (Sonnen-)Licht beschleunigt, Bromwasser wird daher in braunen, wenig lichtdurchlässigen Flaschen aufbewahrt.
Chemische Eigenschaften.
Brom verhält sich chemisch wie das leichtere Chlor, reagiert aber im gasförmigen Zustand weniger energisch. Feuchtigkeit erhöht die Reaktivität des Broms stark. Mit Wasserstoff reagiert es im Gegensatz zum Chlor erst bei höheren Temperaturen unter Bildung von Bromwasserstoff (farbloses Gas).
Mit vielen Metallen (z. B. Aluminium) reagiert es exotherm unter Bildung des jeweiligen Bromids. Feuchtem Brom widerstehen nur Tantal und Platin.
Nachweis.
Bromidionen können qualitativ mit Hilfe von Chlorwasser und Hexan nachgewiesen werden.
Zum nasschemischen Nachweis der Bromidionen kann man sich auch wie bei den anderen Nachweisreaktionen für Halogenide die Schwerlöslichkeit des Silbersalzes von Bromid zu Nutze machen. Das Gleiche gilt für die volumetrische Bestimmung der Halogenide durch Titration.
Zur Spurenbestimmung und Speziierung von Bromid und Bromat wird die Ionenchromatografie eingesetzt. In der Polarografie ergibt Bromat eine kathodische Stufe bei −1,78 V (gegen SCE, in 0,1 mol/l KCl), wobei es zum Bromid reduziert wird. Mittels Differenzpulspolarografie können auch Bromatspuren erfasst werden.
Sicherheitshinweise.
Elementares Brom ist sehr giftig und stark ätzend, Hautkontakt führt zu schwer heilenden Verätzungen. Inhalierte Bromdämpfe führen zu Atemnot, Lungenentzündung und Lungenödem. Auch auf Wasserorganismen wirkt Brom giftig.
Im Labor wird beim Arbeiten mit Brom meist eine dreiprozentige Natriumthiosulfatlösung bereitgestellt, da sie verschüttetes Brom oder Bromwasserstoff sehr gut binden kann. Hierbei bilden sich Natriumbromid, elementarer Schwefel und Schwefelsäure. Durch die entstehende Säure kann weiteres Thiosulfat zu Schwefel und Schwefeldioxid zerfallen:
Die Aufbewahrung von Brom erfolgt in Behältern aus Glas, Blei, Monel, Nickel oder Teflon.
Verbindungen.
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Brom bildet Verbindungen in verschiedenen Oxidationsstufen von −1 bis +7. Die stabilste und häufigste Oxidationsstufe ist dabei −1, die höheren werden nur in Verbindungen mit den elektronegativeren Elementen Sauerstoff, Fluor und Chlor gebildet. Dabei sind die ungeraden Oxidationsstufen +1, +3, +5 und +7 stabiler als die geraden.
Bromwasserstoff und Bromide.
Anorganische Verbindungen, in denen das Brom in der Oxidationsstufe −1 und damit als Anion vorliegt, werden Bromide genannt. Diese leiten sich von der gasförmigen Wasserstoffverbindung Bromwasserstoff (HBr) ab. Diese ist eine starke Säure und gibt in wässrigen Lösungen leicht das Proton ab. Bromide sind in der Regel gut wasserlöslich, Ausnahmen sind Silberbromid, Quecksilber(I)-bromid und Blei(II)-bromid.
Besonders bekannt sind die Bromide der Alkalimetalle, vor allem das Natriumbromid. Auch Kaliumbromid wird in großen Mengen, vor allem als Dünger und zur Gewinnung anderer Kaliumverbindungen, verwendet.
Bleibromid wurde früher in großen Mengen bei der Verbrennung von verbleitem Kraftstoff freigesetzt (wenn dem Benzin Dibrom-Ethan zugesetzt war um das Blei flüchtig zu machen, siehe Tetraethylblei#Antiklopfmittel für Motorenbenzin).
Bromoxide.
Es ist eine größere Anzahl Verbindungen von Brom und Sauerstoff bekannt. Diese sind nach den allgemeinen Formeln BrOx (x = 1–4) und Br2Ox (x = 1–7) aufgebaut. Zwei der Bromoxide, Dibromtrioxid (Br2O3) und Dibrompentaoxid (Br2O5) lassen sich als Feststoff isolieren.
Bromsauerstoffsäuren.
Neben den Bromoxiden bilden Brom und Sauerstoff auch mehrere Säuren, bei denen ein Bromatom von einem bis vier Sauerstoffatomen umgeben ist. Dies sind die Hypobromige Säure, die Bromige Säure, die Bromsäure und die Perbromsäure. Sie sind als Reinstoff instabil und nur in wässriger Lösung oder in Form ihrer Salze bekannt.
Interhalogenverbindungen.
Brom bildet vorwiegend mit Fluor, zum Teil auch mit den anderen Halogenen eine Reihe von Interhalogenverbindungen. Bromfluoride wie Bromfluorid und Bromtrifluorid wirken stark oxidierend und fluoriend. Während Brom in den Fluor-Brom- und Chlor-Brom-Verbindungen als elektropositiveres Element in Oxidationsstufen +1 im Bromchlorid bis +5 im Brompentafluorid vorliegt, ist es in Verbindungen mit Iod der elektronegativere Bestandteil. Mit diesem Element sind die Verbindungen Iodbromid und Iodtribromid bekannt.
Organische Bromverbindungen.
Eine Vielzahl von organischen Bromverbindungen (auch "Organobromverbindungen") wird synthetisch hergestellt. Wichtig sind die Bromalkane, die Bromalkene sowie die Bromaromaten. Eingesetzt werden sie unter anderem als Lösungsmittel, Kältemittel, Hydrauliköle, Pflanzenschutzmittel, Flammschutzmittel oder Arzneistoffe.
Zu den Organobromverbindungen gehören auch die polybromierten Dibenzodioxine und Dibenzofurane. |
494 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=494 | Botanik | Die Botanik (, von "botáne" ‚Weide-, Futterpflanze‘ [epistéme -Wissenschaft], auch Phytologie und Pflanzenkunde) erforscht die Pflanzen. Sie befasst sich mit dem Lebenszyklus, Stoffwechsel, Wachstum und Aufbau der Pflanzen; ferner mit ihren Inhaltsstoffen (siehe Heilkunde), ihrer Ökologie (siehe Biozönose) und ihrem wirtschaftlichen Nutzen (siehe Nutzpflanze) sowie ihrer Systematik.
In jüngerer Zeit wird die Botanik im akademischen Bereich in Anlehnung an den internationalen Sprachgebrauch („Plant Science“) vermehrt als Pflanzenwissenschaft bezeichnet. So wurde beispielsweise das führende universitäre Lehrbuch der Botanik, das auf Eduard Strasburger zurückgeht, ab der 37. Auflage (2014) in "Lehrbuch der Pflanzenwissenschaften" umbenannt, und auch einige Botanik-Studiengänge werden im deutschen Sprachraum heute als Studiengang der Pflanzenwissenschaft geführt.
Geschichte.
In ihren Ursprüngen geht die Botanik auf das medizinisch/heilkundliche Befassen mit Heilpflanzen zurück. Von einer ersten abstrakt-wissenschaftlichen Untersuchung und Systematisierung des Pflanzenreiches zeugen die Schriften von Theophrastos aus dem 3. und 2. Jahrhundert v. Chr.
Der Grieche Dioskurides beschrieb im 1. Jahrhundert zahlreiche Heilpflanzen. Seine genauen, in fünf Bücher (griechisch ὑλικά) aufgeteilten Pflanzenbeschreibungen wurden, insbesondere von arabischsprachigen Autoren, bis in die Neuzeit benutzt. Zuvor verfassten Diokles von Karystos (im 4. Jahrhundert v. Chr.) und Krateuas (im 1. Jahrhundert v. Chr.) vergleichbare Werke (Kräuterbücher). Im Gegensatz zu den eher (natur)philosophisch geprägten Betrachtungen etwa des Aristoteles stellte Dioskurides in seiner um das Jahr 60 entstandenen "Materia medica" den Nutzen und die genaue Beschreibung unter anderem der Pflanzen in den Vordergrund und ist mit einem etwa 512 verfassten Manuskript die erste noch erhaltene abendländische Abhandlung über Heilpflanzen.
Die moderne wissenschaftliche Botanik wurde im 16. Jahrhundert durch Konrad Gesner und Leonhard Fuchs begründet. Zu den herausragenden Botanikern des 17. und 18. Jahrhunderts gehörten etwa der Arzt Nehemiah Grew in England und Carl von Linné in Schweden sowie der Universalgelehrte Albrecht von Haller in der Schweiz.
Abgrenzung.
Zu den Pflanzen im engeren Sinne zählen neben den Gefäßpflanzen auch die Moose und Grünalgen. Früher wurden auch Pilze, Flechten und die Prokaryoten (Bakterien und Archaeen) als Pflanzen angesehen. Obwohl man heute erkennt, dass diese (ebenso wie alle Algen außer den Grünalgen) phylogenetisch nicht näher mit den Pflanzen verwandt sind, werden Algengruppen wie Rotalgen, Braunalgen, Kieselalgen sowie Pilze und Flechten weiter in der Botanik behandelt.
Prokaryoten (einschließlich der darin enthaltenen Cyanobakterien, früher als "Blaualgen" bezeichnet), sind – zusammen mit anderen Mikroorganismen – seit längerem Objekte einer eigenen Disziplin, der Mikrobiologie.
Fachgebiete.
Kerngebiete.
Aufgrund der unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden haben sich im Kern folgende Teilgebiete der Botanik entwickelt:
Vielfach gibt es auch die Einteilung in Allgemeine und Spezielle Botanik, wobei sich die Allgemeine Botanik mit den pflanzenbiologischen Grundlagen befasst, die sich über das Pflanzenreich erstrecken, während die Spezielle Botanik vertiefendes Wissen über die Biologie ausgewählter Sippen der pflanzlichen Systematik vermittelt. |
495 | 1765216 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=495 | Barn | Das Barn b (engl. für ‚Scheune‘) ist eine Maßeinheit der Fläche, die zur Angabe von Wirkungsquerschnitten in der Atom-, Kern- und Teilchenphysik verwendet wird.
Das Barn ist keine SI-Einheit. Es ist in den Staaten der EU und in der Schweiz eine gesetzliche Einheit für die Angabe von Wirkungsquerschnitten, also keine allgemeingültige Flächenmaßeinheit.
Ein Barn liegt in der Größenordnung des geometrischen Querschnitts schwerer Atomkerne wie etwa Uran. Die Definition ist:
Übliche dezimale Teile.
Kleine Wirkungsquerschnitte werden in Millibarn (mb), Mikrobarn (µb), Nanobarn (nb) oder Pikobarn (pb) angegeben. Beispielsweise ist
Shed.
Die Einheit Shed (engl. für ‚Schuppen‘) war zur Beschreibung sehr kleiner Wirkungsquerschnitte, vor allem von Neutrino-Reaktionen, gedacht, konnte sich aber nie richtig durchsetzen. Es gilt
Inverse Barn.
Bei Experimenten mit kollidierenden Teilchenstrahlen verwendet man als Maß für die über die Zeit aufsummierte (integrierte) Luminosität formula_1 oft den Kehrwert der Einheit, insbesondere inverse Pikobarn und inverse Femtobarn:
Wortherkunft.
Die Bezeichnung "barn" für die bereits übliche Wirkungsquerschnitt-Einheit 10−24 cm2 wurde im Dezember 1942 von zwei Wissenschaftlern der Purdue University eingeführt, die an der US-amerikanischen Kernwaffenentwicklung (Manhattan-Projekt) mitwirkten. Dabei spielte es eine Rolle, dass ein Wirkungsquerschnitt dieser Größe für Kernreaktionen erschien. |
496 | 7671 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=496 | Bar | Bar steht für:
Bar ist der Name folgender geographischer Objekte:
Verwaltungsgebiete:
Orte:
historisch:
sowie:
bar steht für:
BAR steht als Abkürzung für:
Siehe auch: |
498 | 2022044 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=498 | Becquerel (Einheit) | Becquerel [], Einheitenzeichen Bq, ist die SI-Einheit der Aktivität formula_1 einer bestimmten Menge einer radioaktiven Substanz. Angegeben wird die mittlere Anzahl der Atomkerne, die pro Sekunde radioaktiv zerfallen:
Da 1 Bq eine extrem geringe Aktivität ist, treten in der Praxis sehr große Zahlenwerte auf. Daher verwendet man oft Vorsätze für die Größenordnung (Mega-, Giga-, Tera-, …). Zum Beispiel enthält ein menschlicher Körper bei Erwachsenen je nach Geschlecht, Größe und Gewicht rund 4 kBq radioaktives 40K.
Die Einheit ist nach dem französischen Physiker Antoine Henri Becquerel benannt, der 1903 zusammen mit Pierre Curie und Marie Curie den Nobelpreis für die Entdeckung der Radioaktivität erhielt.
Geschichte.
Das Becquerel wurde 1975 auf dem 15. Treffen der Generalkonferenz für Maß und Gewicht als abgeleitete SI-Einheit mit besonderem Namen in das Internationale Einheitensystem aufgenommen. Dass ein eigener Einheitenname geschaffen werden sollte, wurde unter anderem damit begründet, dass das einfache „s−1“ bei der Verwendung von SI-Präfixen zu Verwirrung führen könnte. Zum Beispiel ist ein Kilobecquerel (kBq) eine inverse Millisekunde (ms−1), d. h., ein verkleinerndes Präfix bei s−1 kennzeichnet ein Vielfaches der Aktivität.
Bezug zu anderen Einheiten.
Die Einheit "Becquerel" ersetzt im Internationalen Einheitensystem (SI) das "Curie", das zwar nie Teil des SI war, aber bis 1998 noch als „temporär zugelasse Einheit“ galt. Zwischen diesen beiden Einheiten besteht folgender Zusammenhang:
Außerdem gilt folgender Zusammenhang:
Die Einheiten Rutherford (1 rd = 106 Bq) und Stat (1 Stat = 1,345 · 104 Bq) sind weitere veraltete, nicht SI-konforme Einheiten für die Aktivität.
Auf den ersten Blick scheint das Becquerel identisch mit der Einheit Hertz zu sein, beide sind definiert als s−1. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass in Becquerel die mittlere Häufigkeit eines zufälligen Ereignisses (wie des radioaktiven Zerfalls), in Hertz hingegen eine nichtzufällige, periodische Größe (wie die Frequenz einer Radiowelle) gemessen wird. |
499 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=499 | Barrel | Das Barrel (; : , "Fass") ist die gebräuchlichste Einheit für Rohöl und beschreibt ein historisches Fass mit ca. 159 Litern. Es ist eine Maßeinheit des Hohlraums, siehe "Raummaß". Man unterscheidet zwischen dem gebräuchlichen US-amerikanischen Barrel und dem Imperialen (d. h. britischen), beide gibt es für Erdölprodukte und Bier mit unterschiedlichen Maßen.
Geschichte des Barrels.
Erdölindustrie.
Der Ort im europäischen Kulturkreis, an dem zuerst Erdöl gewonnen wurde, war Pechelbronn im Elsass. Die dortige Erdpechquelle ist seit 1498 belegt. Das aus den so genannten Pechelbronner Schichten stammende Erdöl wurde zunächst medizinisch bei Hauterkrankungen benutzt. Die kommerzielle Nutzung aber begann 1735 und endete 1970. Generationen von Technikern besuchten das Gebiet, um das Fördern und Raffinieren von Erdöl zu lernen. Von dort stammt auch die Methode, Erdölprodukte (Rohprodukte, medizinische Produkte, Lampenöl, Schmieröl) in Fässer abzufüllen.
Unter den im Großhandel genormten Fässern wählte man nicht Wein- oder Bierfässer, sondern gereinigte Heringstonnen. Gesalzener Hering wurde damals in großen Mengen in Fässern ins Binnenland verkauft, so dass diese Fässer günstig erworben werden konnten. Um Verwechslungen und spätere Befüllung mit Nahrungsmitteln zu verhindern, wurde der Fassboden blau gestrichen. Mit zunehmender Produktion wurden bei örtlichen Küfern Fässer der eingeführten Größe bestellt. Nachdem 1858/59 in Wietze und anschließend 1859 in den USA in Titusville, Pennsylvania die ersten Erdölquellen erbohrt wurden, übernahmen die Unternehmer nicht nur die Techniken aus Pechelbronn, sondern ließen auch von örtlichen Küfern Tonnen aus Eichenholz in den Abmessungen wie in Pechelbronn herstellen. Neben den alten Maßen der Heringstonne von 158,987 Litern übernahmen die US-Produzenten auch die Angewohnheit, den Fassboden blau zu streichen.
Die zwei massiven Eisenringe um das Fass werden „Sicken“ genannt, auf ihnen konnten „Rollsickenfässer“ gerollt werden.
Komplexität und Vielfalt alter Fassgrößen.
Die Komplexität und Vielfalt der damaligen Maßsysteme mit unterschiedlichen Maßen (Fassgrößen) für verschiedene Flüssigkeiten, die sich auch von Land zu Land unterschieden, zeigt der folgende Eintrag in der Oeconomischen Encyclopädie:
Hier geht es um das englische Muid. Die Vergleichsmaße im Zitat unterscheiden sich von Land zu Land und sogar von Region zu Region stärker noch als das Barrel. Das Muid (lat. "" ‚reichlich‘) reichte von 268 Liter in Paris bis 1500 Liter in Skandinavien. Gebräuchlich ist das Muid heute nur noch als die 1300-Litergröße in Châteauneuf-du-Pape.
Begriffe, Einheiten und Umrechnungsfaktoren.
Die Einheitenzeichen für Barrel sind: bl., bbl. (US-Volumen) bzw. bl. Imp., bbl. Imp. (Imperial-Volumen). Die Abkürzung bbl. steht für "blue barrel", ein blau gekennzeichnetes Fass mit genormtem Inhalt.
Erdöl- und Gasindustrie.
Im internationalen Gebrauch wird das US-amerikanische Barrel mit 158,987 Litern verwendet. Das imperiale Barrel wird nicht verwendet.
Umrechnung.
Gas.
1 Kubikfuß Gas liefert eine Energiemenge zwischen 1010 BTU und 1070 BTU, was ungefähr 1065 bis 1129 Kilojoule entspricht. Definiert ist ein Barrel of oil equivalent BOE mit:
Demnach entsprechen:
Andere Flüssigkeiten.
Für Bier, Wein und ähnliches gelten folgende Umrechnungsfaktoren:
Barrel als historisches Flüssigkeitsmaß in England.
Handelsgewicht.
Das Barrel als Masseneinheit (Handelsgewicht) hatte für viele Produkte unterschiedliche Werte.
Beispiele:
Zählmaß.
Als britisches Zählmaß für Heringe |
500 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=500 | Bushel | Das Bushel ist eine von den Britischen Inseln stammende angloamerikanische Maßeinheit zur Bestimmung des Volumens von Waren. Das Wort "Bushel" ist eine Anglifizierung des altfranzösischen ' und ' „Fässchen“. Abgekürzt wird diese Einheit mit "bu" oder "bsh". Eine typologisch vergleichbare Maßeinheit ist das Scheffel.
Obwohl das Bushel eigentlich ein Raummaß ist, wurde es auch als äquivalentes Gewichtsmaß für bestimmte Waren benutzt, beispielsweise für Äpfel. Hierzu wurden Umrechnungstabellen erlassen, die – je nach Art der Ware – das "bushel weight" festlegten, also die Masse, die einem Bushel einer bestimmten Warenart entsprach.
Heutzutage wird das Bushel nur noch als äquivalentes Getreidemaß in den Vereinigten Staaten verwendet; eine andere Anwendung hat diese Einheit praktisch nicht mehr.
Es gibt das – mittlerweile historische – britische Bushel (imp bu) mit grob 36,4 Liter und das US-amerikanische Bushel (US bu), welches mit grob 35,2 Liter ca. 3 % kleiner ist.
Britisches Bushel.
1 bu = 36,3687 l
Mit dem "Weights and Measures Act" von 1963 und 1976 wurde das britische Hohlmaßsystem bereinigt und unter anderem auch das Bushel abgeschafft. Definiert wurde dieses Bushel im "Weights and Measures Act" von 1824 als das achtfache einer Gallone. Das britische Imperial Bushel wurde nur bei Schüttgütern (z. B. Getreide, Kohle, Obst) eingesetzt, obwohl es aus der Gallone abgeleitet wurde, die sowohl bei Schüttgütern als auch bei flüssigen Waren anwendbar ist.
US-amerikanisches Bushel.
1 bu = 35,23907016688 l
In den USA hat das Bushel seinen Ursprung im historischen englischen "Winchester bushel," welches zum Zeitpunkt der Abschaffung 1824 in England einem zylindrischen Volumen mit 18½ Zoll Durchmesser und 8 Zoll Höhe entsprach. Aus dieser Einheit wurde das US-Bushel abgeleitet und mit exakt 2150,42 Kubikzoll definiert, welches damit um ca. 1,1 Liter kleiner ist als das mittlerweile abgeschaffte britische Bushel und im Gegensatz zu diesem in keinem Verhältnis zur Gallone steht. Das amerikanische Bushel wird nur für Schüttgüter verwendet und ist das Grundmaß für das heutzutage ungebräuchliche Hohlmaßsystem für Schüttgüter (dry measure).
Nutzung als Verrechnungseinheit für Getreide in den USA.
Im Handel (z. B. an Warenterminbörsen) wird das Bushel heute als äquivalentes Gewichtsmaß verwendet. Die Masse eines Bushels hängt von Art und Feuchte des Getreides ab. Da die USA zu den größten Getreideerzeugern zählen, ist die Einheit „bushel“ als Maß zur Bestimmung der Masse einer Getreidemenge weltweit von Bedeutung. Wenn heutzutage Getreidepreise pro Scheffel angegeben werden, ist damit dieses „bushel“ gemeint.
Ein „bushel“ (als Masseneinheit) einer bestimmten Getreideart entspricht der Masse, die eine Getreidemenge mit dem Volumen eines „bushel“ (als Volumeneinheit) aufweist, unter der Voraussetzung einer definierten Feuchtigkeit.
Die Masse, die der Menge eines „bushel“ Getreide entspricht, wird bezeichnet als „standard weight per bushel“ oder als „standard bushel weight“ oder auch als „standard weight“. Die Basisfeuchte (= Bezugsfeuchte), bei der das „standard bushel weight“ festzustellen ist, wird als „standard moisture“ bezeichnet.
Im metrischen Maßsystem ist die Verrechnungseinheit „bushel“ (als Maß für die Bestimmung einer Getreidemenge) vergleichbar mit der sogenannten Trockenmasse bei Getreide, die anhand der tatsächlichen Masse und Feuchtegehalts sowie der Basisfeuchte der Trockenmasse berechnet wird.
Bestimmung der Verrechnungsmenge in Bushel.
Um die Verrechnungsmenge von Getreide in „bushel“ festzustellen, wird das Getreide gewogen und die Feuchtigkeit gemessen. Sofern die tatsächliche Feuchtigkeit höher als die Basisfeuchtigkeit („standard moisture“) der jeweiligen Getreideart ist, muss die äquivalente Trockenmasse wie folgt berechnet werden:
Im nächsten Schritt wird die Trockenmasse durch das „standard weight per bushel“ dividiert und man erhält die Anzahl der „bushel“.
Bushel als Grundlage zur Bestimmung der Schüttdichte von Getreide.
Der Getreidepreis für eine bestimmte Menge ist nicht nur abhängig von der Trockenmasse (bezogen auf eine Basisfeuchte), sondern unter anderem auch von der Schüttdichte, die bei Getreide im deutschen Sprachraum als Hektolitergewicht bezeichnet wird. Die Feststellung der Schüttdichte ist die einzige Anwendung, bei der die Maßeinheit „bushel“ als Raummaß verwendet wird. Hier wird ein Hohlmaß mit dem Rauminhalt von einem „bushel“ mit Getreide gefüllt, das die Basisfeuchte aufweist. Das festgestellte Gewicht ergibt ein Maß für die Schüttdichte und wird als „test weight/bu“ oder auch als „test weight“ bezeichnet. Im Idealfall stimmt das „test weight/bu“ mit dem „standard weight/bu“ überein.
Bushel als Grundlage von Flächenerträgen.
In Nordamerika wird der Flächenertrag (Englisch: „yield“) von Getreide als „bushel/acre“ angegeben. Bei der Umrechnung von „bushel/acre“ zur metrischen Flächenertragseinheit „dt/ha“ ist zu beachten, dass dies zunächst für die angegebene Basisfeuchte („standard moisture“) der jeweiligen Getreideart gilt und bei anderen Basisfeuchten für die Zieleinheit „dt/ha“ entsprechend umzurechnen ist.
Bushel als Grundlage von Preisangaben.
In den Vereinigten Staaten von Amerika wird der Preis für Getreide aller Arten in "$/bu" angegeben. Der an der Chicago Board of Trade ermittelte Getreidepreis in "$/bu" ist ein weltweit beachteter Preisindikator.
Gesetzliche Festlegungen.
Gesetzliche Definitionen der Masse je Bushel finden sich sowohl auf Bundesebene als auch bei einzelnen Staaten, bspw. in Illinois. Zur Festlegung der Basisfeuchte von Mais ist ein Bundesgesetz vorhanden, doch generell ergeben sich die Basisfeuchten aus den im Getreidehandel herrschenden Usancen. |
501 | 2513391 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=501 | British thermal unit | Die British thermal unit ist eine Einheit der Energie. Ihr Einheitenzeichen ist Btu oder BTU, ihr Formelzeichen W. Die Btu gehört nicht zum internationalen Einheitensystem (SI), sondern zum Angloamerikanischen Maßsystem.
Definition.
Ein BTU ist definiert als die Wärmeenergie formula_1, die benötigt wird, um ein britisches Pfund Wasser um 1 Grad Fahrenheit zu erwärmen.
Aufgrund der temperaturabhängigen spezifischen Wärmekapazität ist diese Energie je nach Temperatur des Wassers unterschiedlich. Daher wurde eine spezifische Wärmekapazität formula_2 von exakt formula_3 festgelegt, was einer Temperatur von ca. 55 °F entspricht.
Zusammen mit formula_4 = 1 pound = 0,45359237 kg und formula_5 = 1 °F = K ergibt sich:
Die "International (Steam) Table"-Btu wurde daher mit 1055,05585262 Joule definiert.
Die Definition einer Btu folgt dem gleichen Prinzip wie die Definition der Kalorie: nur die Masse des zu erwärmenden Wassers und die Temperaturdifferenz unterscheiden sich.
Bei der Spezifizierung von Wärmepumpen (speziell Klimaanlagen) wird bei Importgeräten oft die Kühlleistung in BTU pro Stunde (BTU/h) angegeben. Als Umrechnung ergibt sich:
also ≈ 293 W.
Der Erdgas-Verbrauch wird manchmal in MMBtu angegeben ("million British thermal units"; MM kommt von tausend tausend). 1 MMBtu entspricht 26,4 Kubikmeter Gas, basierend auf einem Energieinhalt von 40 MJ/m³ (11 kWh/m³).
Von Btu abgeleitet sind die Einheiten Quad ("quadrillion British thermal units") und Therm. |
503 | 448576 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=503 | Benoît Mandelbrot | Benoît B. Mandelbrot (* 20. November 1924 in Warschau; † 14. Oktober 2010 in Cambridge, Massachusetts) war ein französisch-US-amerikanischer Mathematiker.
Mandelbrot leistete Beiträge zu einem breiten Spektrum mathematischer Probleme, insbesondere in der theoretischen Physik, der Finanzmathematik und der Chaosforschung. Am bekanntesten aber wurde er als Vater der fraktalen Geometrie. Er beschrieb die Mandelbrot-Menge und prägte den Begriff „fraktal“. Mandelbrot trug selbst stark zur Popularisierung seiner Arbeiten bei, indem er Bücher schrieb und Vorlesungen hielt, die für die Allgemeinheit bestimmt waren.
Mandelbrot verbrachte die meiste Zeit seiner Karriere an IBMs Thomas J. Watson Research Center, wo er die Position eines IBM Fellows innehatte. Später wurde er Sterling Professor für Mathematik ("Mathematical Sciences") an der Yale University. Er war ferner wissenschaftlicher Mitarbeiter am Pacific Northwest National Laboratory, der Universität Lille I, dem Institute for Advanced Study und dem Centre national de la recherche scientifique. Mandelbrot lebte bis zu seinem Tode in den Vereinigten Staaten.
Frühes Leben.
Mandelbrot wurde in Polen in einer litauisch-jüdischen Familie mit akademischer Tradition geboren. Seine Mutter war Ärztin, sein Vater Kleiderhändler. Als Junge wurde Mandelbrot von zwei Onkeln in die Mathematik eingeführt, von denen einer, Szolem Mandelbrojt, am Collège de France Mathematik lehrte. Im Jahr 1936 siedelte die Familie nach Paris über, um der sich ankündigenden Bedrohung durch die Nationalsozialisten zu entgehen.
Mandelbrot besuchte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs das in Paris. Er erwarb den Ruf einer mathematischen Hochbegabung durch seine Fähigkeit, Aufgaben als geometrische Probleme zu visualisieren. Bei einem nationalen Test löste er eine Rechenaufgabe als einziger Schüler in Frankreich. Nach eigener Angabe versuchte er dazu gar nicht erst, das komplizierte Integral zu berechnen, sondern erkannte, dass der Aufgabe eine Kreisformel zugrunde lag, und transformierte die Koordinaten, um den Kreis in der Lösung einzusetzen. Seine Familie flüchtete vor der deutschen Besatzung ins Vichy-Frankreich, nach Tulle, wo ihn der Rabbiner von Brive-la-Gaillarde bei seiner Schulausbildung unterstützte. Von 1945 bis 1947 studierte er Ingenieurwissenschaften an der École polytechnique bei Gaston Julia und Paul Lévy. Anschließend absolvierte er ein Studium der Aeronautik am California Institute of Technology, das er 1949 mit einem Master abschloss.
Nach seinem Studium kehrte Mandelbrot nach Frankreich zurück und promovierte 1952 an der Universität von Paris im Fach Mathematik. Von 1949 bis 1957 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre national de la recherche scientifique. Während dieser Zeit verbrachte Mandelbrot ein Jahr am Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey), wo er von John von Neumann unterstützt wurde. 1955 heiratete Mandelbrot Aliette Kagan, zog mit ihr nach Genf und anschließend zurück nach Frankreich. Nach einem Jahr an Université Lille Nord de France trat Mandelbrot 1958 in die Forschungsabteilung im Thomas J. Watson Research Center bei IBM ein und wurde dort 1974 zum IBM-Fellow ernannt, eine Auszeichnung, die ihm weitgehende Freiheiten für seine Forschungen ermöglichte.
Wissenschaftliche Karriere.
Ab 1951 veröffentlichte Mandelbrot Arbeiten über Probleme der Mathematik, aber auch über Probleme angewandter Gebiete wie der Informationstheorie, Wirtschaftswissenschaften und Strömungsmechanik. Er war zunehmend davon überzeugt, dass eine Vielzahl von Problemen in diesen Gebieten von zwei zentralen Themen bestimmt seien, nämlich „fat tail“-Wahrscheinlichkeitsverteilungen und selbstähnlichen Strukturen.
Mandelbrot fand heraus, dass die Preisschwankungen der Finanzmärkte nicht durch eine Normalverteilung, sondern durch eine Lévy-Verteilung beschrieben werden können, die theoretisch eine unendliche Varianz aufweist. Zum Beispiel zeigte er, dass die Baumwollpreise seit 1816 einer Lévy-Verteilung mit dem Parameter formula_1 folgen, während formula_2 einer Gaußverteilung entsprechen würde (siehe auch alpha-stabile Verteilungen). So lieferte er auch eine mögliche Erklärung für das Equity Premium Puzzle.
Mandelbrot wandte diese Ideen auch im Bereich der Kosmologie an. 1974 schlug er eine neue Erklärung für das Olberssche Paradoxon des dunklen Nachthimmels vor. Er zeigte, dass sich das Paradoxon auch ohne Rückgriff auf die Urknall-Theorie vermeiden lässt, wenn man eine fraktale Verteilung der Sterne im Universum annimmt, in Analogie zum sogenannten Cantor-Staub.
1975 prägte Mandelbrot den Begriff "fraktal", um derartige Strukturen zu beschreiben. Er veröffentlichte diese Ideen in dem Buch "Les objets fractals, forme, hasard et dimension" (1975; eine englische Übersetzung "Fractals: Form, Chance and Dimension" wurde 1977 veröffentlicht). Mandelbrot entwickelte damit Ideen des tschechischen Geografen, Demografen und Statistikers Jaromír Korčák (1895–1989) weiter, die dieser in dem Artikel "Deux types fondamentaux de distribution statistique" veröffentlicht hatte (1938; deutsch "Zwei Grundtypen der statistischen Verteilung").
Während seiner Anstellung als Gastprofessor für Mathematik an der Harvard University 1979 begann Mandelbrot mit dem Studium der fraktalen Julia-Mengen, die gegenüber bestimmten Transformationen in der komplexen Ebene invariant sind und die zuvor von Gaston Julia und Pierre Fatou untersucht wurden. Diese Mengen werden durch die iterative Formel formula_3 erzeugt. Mandelbrot benutzte Computerplots dieser Menge, um ihre Topologie in Abhängigkeit von dem komplexen Parameter formula_4 zu untersuchen. Dabei entdeckte er die Mandelbrot-Menge, die nach ihm benannt ist.
1982 erweiterte Mandelbrot seine Ideen und publizierte sie in seinem wohl bekanntesten Buch "The Fractal Geometry of Nature" (die deutsche Übersetzung erschien 1987 unter dem Titel "Die fraktale Geometrie der Natur"). Dieses einflussreiche Buch machte Fraktale einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und brachte auch viele der Kritiker zum Schweigen, die Fraktale bis dahin als Programmier-Artefakt abgetan hatten.
Mandelbrot verließ IBM 1987 nach 35 Jahren Betriebszugehörigkeit, nachdem IBM beschlossen hatte, seine Abteilung für Grundlagenforschung aufzulösen. Er arbeitete dann in der mathematischen Abteilung der Yale University, wo er 1999 im Alter von 75 Jahren seine erste unbefristete Professorenstelle übernahm. Als er 2005 emeritierte, war er Sterling Professor für Mathematik. Seine letzte Anstellung trat Mandelbrot 2005 als Battelle Fellow am Pacific Northwest National Laboratory an. Im selben Jahr veranstaltete die Deutsche Bundesbank ein Festkolloquium anlässlich seines im Vorjahr begangenen 80. Geburtstags zum Thema "Heavy tails and stable Paretian distributions in finance and macroeconomics", um seine Beiträge zum besseren Verständnis von Finanzmärkten und Finanzmarktstabilität zu würdigen.
Seine jüngste Veröffentlichung zu fraktalen mathematischen Strukturen an den Finanzmärkten "Fraktale und Finanzen" bekam den Wirtschaftsbuchpreis der "Financial Times Deutschland".
Fraktale und Rauheit in der Natur.
Obwohl Mandelbrot den Begriff "fraktal" prägte, wurden einige der in "The Fractal Geometry of Nature" dargestellten Objekte schon früher von Mathematikern beschrieben. Vor Mandelbrot wurden sie allerdings eher als unnatürliche mathematische Absonderlichkeiten angesehen. Es war Mandelbrots Verdienst, die fraktale Geometrie für die Beschreibung realer Objekte anzuwenden, deren „raue“, nicht durch einfache Idealisierungen beschreibbare Objekte sich bis dahin der wissenschaftlichen Untersuchung entzogen. Er zeigte, dass all diese Objekte bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben, wie die Selbstähnlichkeit, Skaleninvarianz und oft eine nicht-ganzzahlige Dimension. Beispiele natürlicher Fraktale sind die Formen von Bergen, Küstenlinien und Flüssen, Verästelungen von Pflanzen, Blutgefäßen und Lungenbläschen, die Verteilung von Sternhaufen in Galaxien und die Pfade der Brownschen Bewegung. Fraktale Strukturen finden sich auch in quantitativen Beschreibungen menschlichen Schaffens und Handelns, etwa in der Musik, der Malerei und der Architektur sowie in Börsenkursen. Mandelbrot war daher der Auffassung, dass Fraktale viel eher der intuitiven Erfassung zugänglich sind als die künstlich geglätteten Idealisierungen der traditionellen euklidischen Geometrie:
Mandelbrot wurde als Visionär und als unabhängiger Geist (engl. „Maverick“) bezeichnet. Sein allgemeinverständlicher und leidenschaftlicher Schreibstil und seine Betonung bildlicher geometrischer Anschauung machten insbesondere sein Buch "The Fractal Geometry of Nature" auch für Nichtwissenschaftler zugänglich. Das Buch löste ein breites öffentliches Interesse an Fraktalen und Chaostheorie aus.
Tod.
Mandelbrot starb im Alter von 85 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der Mathematiker Heinz-Otto Peitgen bezeichnete Mandelbrot anlässlich seines Todes als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der letzten 50 Jahre für die Mathematik und deren Anwendung in der Naturwissenschaft. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy würdigte Mandelbrot als einen großen und originellen Geist, dessen Arbeit vollständig jenseits des wissenschaftlichen Mainstreams verlief. Die Zeitschrift "The Economist" wies zudem auf seine Berühmtheit jenseits der Wissenschaft hin und nannte ihn den Vater der fraktalen Geometrie.
Trivia.
Der Name der deutschen Live-Coding-Band Benoît and the Mandelbrots bezieht sich auf den berühmten Mathematiker. Die Gruppe wurde 2009 in Karlsruhe gegründet. |
504 | 2613170 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=504 | Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland | Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (Apronym BUND) ist eine nichtstaatliche Umwelt- und Naturschutzorganisation mit Sitz in Berlin. Er ist das deutsche Mitglied des internationalen Naturschutznetzwerkes Friends of the Earth und Teil des Deutschen Naturschutzrings (DNR). Der BUND ist einer der größten Umwelt- und Naturschutzverbände in Deutschland; Vorsitzender ist Olaf Bandt.
Der Verein wurde am 20. Juli 1975 als „Bund Natur und Umweltschutz Deutschland e. V.“ von 21 Umweltschützern, darunter Bodo Manstein (1. Vorsitzender), Horst Stern, Bernhard Grzimek, Hubert Weinzierl, Gerhard Thielcke, Herbert Gruhl, Hubert Weiger sowie Enoch zu Guttenberg unter maßgeblicher Mithilfe des Bundes Naturschutz in Bayern in Marktheidenfeld gegründet. 1977 erfolgte die Umbenennung des Vereins in den heutigen Namen.
Der BUND ist mit rund 470.000 Mitgliedern (und rund 180.000 Spendern) (Stand 2019) einer der großen Umweltverbände Deutschlands. Vom Staat ist er als Umwelt- und Naturschutzverband (im Rahmen des Bundesnaturschutzgesetzes) anerkannt und muss daher bei Eingriffen in den Naturhaushalt angehört werden. Außerdem verfügt er aus dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz über ein Verbandsklage-Recht.
Der BUND sieht sich seit Jahren in der Rolle des kritischen Mahners und Beobachters, der umweltpolitische Defizite aufdeckt, politischen Lobbyismus leistet und die Öffentlichkeit aufklärt. Er fragt etwa danach, wie erneuerbare Energien ausgebaut werden können, wie Flüsse und Seen vor Schadstoffen geschützt werden können, wie Strahlenbelastungen reduziert werden können und wie der Naturschutz forciert werden kann. Der Verein fordert eine Kehrtwende in der Agrarpolitik. Aktionen und Kampagnen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene führten zur Erhaltung von Moorgebieten, zur Mobilmachung gegen die Atomkraft und zur Werbung für umwelt- und gesundheitsverträgliche Produkte.
Der BUND ist einer der 78 ausgewählten Verbände in Deutschland, die eine Musterfeststellungsklage durchführen dürfen.
Organisation.
Der BUND ist föderal organisiert. Neben dem Bundesverband gibt es 16 Landesverbände (der bayerische Landesverband führt den Namen „Bund Naturschutz in Bayern e. V.“) und über 2000 regionale Kreis- und Ortsgruppen, die sich mit lokalen ökologischen Problemen beschäftigen. Ehrenamtliche Facharbeitskreise auf Bundes- und Landesebene befassen sich etwa mit der Bio- und Gentechnologie, dem Bodenschutz, umweltfreundlichen Energien, gesundheitlichen und rechtlichen Fragen. Neben den ehrenamtlichen gibt es einige fest angestellte Mitarbeiter, vor allem in der Bundesgeschäftsstelle und in den Landesgeschäftsstellen.
Ältester Landesverband im Bundesverband ist der Bund Naturschutz in Bayern, der 1913 in München gegründet wurde. Zweitältester Landesverband ist der Landesverband Bremen, der aus der "Bremer Naturschutzgesellschaft" hervorging, die ihrerseits aus einem 1914 in Bremen gegründeten Vogelschutzverein entstanden war.
Der Bundesverband wie auch die Landesverbände sind jeweils eigenständige Vereine, während die Regional- und Ortsgruppen rein rechtlich Bestandteile ihres Landesverbands sind. Ein Mitglied des BUND ist somit immer sowohl Mitglied im Bundesverband als auch im entsprechenden Landesverband. Neben den „Vollmitgliedern“ kennt der BUND die „Fördermitglieder“, die regelmäßig spenden, aber nicht an der Verbandsdemokratie teilnehmen.
Der Verband ist intern von unten nach oben organisiert, d. h. die Mitglieder einer Verbandsebene wählen jeweils aus ihrer Mitte die Amtsträger und die Vertreter (Delegierten) für die nächsthöhere Ebene; Mitglieder- und Delegiertenversammlungen sind öffentlich. Den Landesvorständen und dem Bundesvorstand gehören neben den direkt gewählten Mitgliedern außerdem auch je ein Vertreter der BUNDjugend, der Facharbeitskreise („wissenschaftlicher Rat“) sowie der Regional-/Landesverbände („Landesrat“/„Verbandsrat“) an. Auf Bundesebene koordinieren sich der Vorstand, der wissenschaftliche Beirat und der Verbandsrat im "Gesamtrat".
Selbständig innerhalb des BUND agiert die BUNDjugend mit ihren Untergliederungen in den Bundesländern (in Bayern die „Jugendorganisation Bund Naturschutz“) und den einzelnen Jugendgruppen.
Der BUND ist Einsatzstelle für Teilnehmer des FÖJ (freiwilliges ökologisches Jahr) und des BFD (Bundesfreiwilligendienst); es gibt Stellen beim Bundesverband, bei den Landesverbänden und bei der BUNDjugend.
Vorsitzende.
Vorsitzende waren:
Facharbeitskreise.
Es gibt 20 Bundes-Arbeitskreise, in denen sich ehrenamtliche Mitglieder – oft renommierte Wissenschaftler – mit aktuellen Fragen des Umweltschutzes beschäftigen. Zu den Aufgaben der Arbeitskreise gehört die Teilnahme an Anhörungen des Bundestages, die Prüfung neuer Gesetze und das Erarbeiten umweltfreundlicher Konzepte. Darüber hinaus organisieren die Arbeitskreise Seminare und Tagungen und geben ihr Wissen in Informationsbroschüren weiter. Die Landesverbände haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten ebenfalls Facharbeitskreise mit ähnlichen Themen.
Die Sprecher der Arbeitskreise bilden den "Wissenschaftlichen Beirat" des BUND, der den Bundesvorstand fachlich berät. Der Vorsitzende des Beirats ist kraft Satzung Mitglied des Bundesvorstands.
Im Jahr 2015 gab es folgende Bundes-Facharbeitskreise:
Neben den Arbeitskreisen gibt es im BUND zwei Kommissionen: Seit 2012 besteht die Kommission Wissenschaftspolitik im wissenschaftlichen Beirat. Ihre Aufgabe ist die Analyse des Wissenschaftssystems und der Einsatz für eine zukunftsfähige Entwicklung, also eine Querschnittsfunktion über alle Fachgebiete des BUND hinweg. Die Atom- und Strahlenkommission (BASK) wurde 1986 anlässlich der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl eingerichtet, auch als Gegengewicht zur staatlichen Strahlenschutzkommission. Das unabhängige Fachgremium berät den Bundesvorstand ehrenamtlich zur Nutzung der Atomkraft und zum Schutz vor ionisierender Strahlung.
Mitgliedschaften, Kooperationen.
Der BUND ist Mitglied bei zahlreichen Verbänden und Vereinen, unter anderem bei:
Der BUND kooperiert bzw. kooperierte mit
Finanzen.
2019 beliefen sich die Gesamteinnahmen auf 35,9 Millionen Euro. Spenden – der Verein ist als gemeinnützig anerkannt – und Mitgliedsbeiträge machen mehr als zwei Drittel der Gesamteinnahmen aus.
Ziele.
Der BUND setzt sich für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ein.
Im Einzelnen steht er unter anderem für
Kampagnen gegen Großprojekte.
Als Interessenvertreter des Umwelt- und Naturschutzes ist der Bund verschiedentlich insbesondere gegen einige Großprojekte vorgegangen.
So war etwa zum Weltjugendtag 2005 eine Abschlussmesse des Papstes Benedikt XVI. ursprünglich bei Hangelar geplant. Der BUND reichte einen Widerspruch gegen die behördliche Genehmigung ein. Eine vorherige Kampfmittelräumung auf dem Gelände des Flugplatzes Hangelar, der geplante „Papst-Hügel“ und der Wegebau für die Großveranstaltung würden Fauna und Flora im Naturschutzgebiet Hangelarer Heide zu stark belasten. Die Veranstalter verlegten den Schlussgottesdienst auf das Marienfeld in Kerpen.
Im Februar 2003 reichte der BUND zusammen mit dem NABU beim Hamburgischen Oberlandesgericht eine Klage gegen den geplanten Offshore-Windpark Butendiek ein. Für den Standort seien genug ökologisch sinnvollere Alternativen vorhanden. Die Klage wurde abgewiesen mit der Begründung, dass BUND und NABU als Klagende keine Verletzung eigener Rechte geltend machen könnten. Ein Sprecher des Bundesumweltministeriums kritisierte die Klage und erklärte, dass der Bau des Windparks vielmehr positive Auswirkungen auf die Natur haben werde, da beispielsweise die Fischerei in dessen Umkreis eingeschränkt werde.
Seit Ende der 1970er Jahre engagieren sich die damalige „Hambach Gruppe“ und später auch der BUND gegen den Braunkohlentagebau Hambach und für die Erhaltung des „Hambacher Forsts“. Der BUND führte seit 2009 Klagen gegen die Zulassung des 2. Rahmenbetriebsplanes, gegen die tagebaubedingte Verlegung der Autobahn A 4 und gegen die Hauptbetriebsplanzulassung 2011–2014. Mit einer weiteren Klage gegen die Zulassung des 3. Rahmenbetriebsplans 2020–2030 und den Hauptbetriebsplan 2018–2020 scheiterte der BUND im November 2017 zunächst vor dem Verwaltungsgericht Köln. Einen Vergleichsvorschlag der Gerichtskammer zur Schonung des Hambacher Walds lehnten RWE und das beklagte Land ab. Der BUND erhob direkt anschließend Berufung vor dem zuständigen Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG). Mit einem Eilantrag erreichte der BUND am 5. Oktober 2018 beim OVG Münster einen vorläufigen Rodungsstopp für den Hambacher Forst. Am 6. Oktober fand eine vom BUND mitorganisierte Großdemonstration am Wald mit ca. 50.000 Teilnehmern statt. Nach der Zurückweisung der Klage im März 2019 beim Verwaltungsgericht Köln beantragte der BUND im August 2019 die Berufung beim OVG Münster; der Rodungsstopp bleibt vorerst weiter bestehen.
Kritik.
Dem BUND wurde mehrfach die vorzeitige Rücknahme von Klagen gegen naturbedrohende Bauvorhaben aufgrund finanzieller Vorteile vorgeworfen. So warf "Der Spiegel" der Organisation erstmals im Jahr 1997 „Ablasshandel“ vor. Der BUND Thüringen habe 1996 nach einer zweckgebundenen Spende der VEAG in Höhe von 7 Millionen DM eine Klage gegen das Pumpspeicherwerk Goldisthal fallen gelassen. Nach Darstellung des BUND waren die Erfolgsaussichten der Klage gering, gleichwohl stehe der Landesverband Thüringen dem Pumpspeicherwerk aus Naturschutzsicht weiter kritisch gegenüber. Das Geld wurde zur Gründung der Naturstiftung David eingesetzt.
Neben dem "Spiegel" kritisierten auch der NDR und das Magazin "Panorama" Zugeständnisse des BUND und anderer Umweltverbände nach finanziellen Ausgleichsleistungen erneut als „Ablasshandel“ und „Tauschgeschäfte“. So hatte der BUND Niedersachsen (zusammen mit dem WWF) 2006 eine Klage gegen die geplante Vertiefung der Ems für die Überführung von Kreuzfahrtschiffen zurückgezogen, nachdem in einem Vergleich die Zahlung von 9 Millionen Euro in ein neu geschaffenes Sondervermögen "Emsfonds" vereinbart wurde. Über die Verwendung dieser Mittel für Projekte im Ems-Dollart-Gebiet entscheidet ein neugeschaffenes sechsköpfiges Gremium, das auf Dauer mit einem Mitglied des BUND besetzt ist. Der BUND Schleswig-Holstein hatte 2008 ein Klageverfahren gegen den Ausbau des Lübecker Flughafens beendet, nachdem Kompensationsleistungen in eine Naturschutz-Stiftung für die Grönauer Heide ausgehandelt worden waren. Im Jahr 2011 zog der BUND Niedersachsen eine Klage gegen den geplanten Offshore-Windpark "Nordergründe" vor Wangerooge zurück, nachdem in einem Vergleich die Zahlung von rund 800.000 Euro vereinbart wurde, die später in einen zweckgebundenen, vom BUND verwalteten Fonds fließen sollten.
Der Mitbegründer des Verbandes Enoch zu Guttenberg begründete im Mai 2012 seinen Austritt unter anderem mit dem Verdacht der Käuflichkeit des BUND. Seiner Überzeugung nach sei es vor allem um finanzielle Vorteile gegangen, als der BUND Klagen gegen den Windpark in Nordergründe und die Elbvertiefung zurückgezogen und dafür von den Betreibern Stiftungsgelder erhalten habe. Außerdem lehnte er die seiner Meinung nach landschaftszerstörenden Windkraftanlagen außerhalb bebauter Flächen ab. Der BUND habe sein Ziel – die Natur und deren Schutz – verfehlt.
Der BUND wies die Vorwürfe der Bestechlichkeit mehrfach zurück: Im Rahmen von Vergleichen seien sinnvolle Lösungen gefunden worden, die zu naturverträglicheren Planungen geführt hätten. Vergleiche gegen Geld würden zudem nur einen minimalen Anteil an den Verbandsklagen des BUND ausmachen. Die Organisation befürworte den Ausbau der erneuerbaren Energien grundsätzlich und gehe nur in Einzelfällen gerichtlich gegen offenkundige Fehlplanungen vor. Beim Windpark Nordergründe seien neben einer geringeren Anlagenzahl deutlich reduzierte Umweltauswirkungen und umfangreiche Monitoringmaßnahmen zu den Auswirkungen auf den Vogelzug erreicht worden. Auch zum – nicht realisierten – Flughafenausbau in Lübeck sei ein Umfang an Eingriffsminderungen und Kompensationsleistungen ausgehandelt worden, der über eine Klage niemals hätte erreicht werden können.
Verleihung von Umweltpreisen.
Bodo-Manstein-Medaille.
Von 1980 bis 1991 verlieh der BUND die nach dem ersten Vorsitzenden benannte "Bodo-Manstein-Medaille" für besondere Verdienste im Natur- und Umweltschutz. Auf der Medaille war zu seinem Gedenken das Porträt Bodo Mansteins im Profil abgebildet; der Mediziner und Umweltschützer der ersten Stunde war zum Zeitpunkt der ersten Verleihung bereits verstorben.
BUND-Forschungspreis.
Seit 2017 verleiht der BUND jährlich den "Forschungspreis für wissenschaftliche Arbeiten zur Nachhaltigen Entwicklung" an Universitäts-Absolventen. Der Preis wird in den Kategorien Bachelorarbeit, Masterarbeit und Dissertation (auch Forschungsarbeit) verliehen und ist mit Geldpreisen von 500 Euro, 1.000 Euro und 2.500 Euro dotiert. Die Preisträger arbeiteten an unterschiedlichsten Themen, beispielsweise 2019 an biologischer Schädlingsbekämpfung im Ackerbau, am deutschen Schienengüterverkehr des Jahres 2040 oder am Weltaktionsprogramm „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“.
Auszeichnungen von Landesverbänden.
Seit 2009 verleiht der BUND Hessen den Eduard-Bernhard-Preis an Menschen, die sich durch starkes Engagement für Umwelt und Naturschutz auszeichnen. Der Bund Naturschutz in Bayern verleiht seit 1970 die Bayerische Naturschutzmedaille für besonderes Engagement im BN. Mit der Karl-Gayer-Medaille ehrt der Bund Naturschutz Bayern – in Abstimmung mit der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft – seit 1977 Personen, die sich um die naturgemäße Waldwirtschaft verdient gemacht haben. Die höchste Auszeichnung Bayerns im Naturschutzbereich ist der Bayerische Naturschutzpreis des Bund Naturschutz, der seit Anfang der 1970er Jahre verliehen wird.
Der BUND Berlin vergab von 2005 bis 2014 den Berliner Umweltpreis in den Kategorien "Umweltengagement", "Kinder und Jugend" und "Wirtschaft und Innovation".
Der BUND Baden-Württemberg zeichnet seit 2007 Naturschützer mit dem Gerhard-Thielcke-Naturschutzpreis aus. Der Naturschutzpreis entstand zum 75. Geburtstag des BUND-Ehrenvorsitzenden und Mitbegründers Gerhard Thielcke, der auch die Vergabe-Kriterien formuliert hat.
Der Arbeitskreis Energie des BUND Nordrhein-Westfalen vergab 2009 und 2010 den mit 1000 Euro dotierten BUND-Energiepreis für umweltfreundlichen Umgang mit Energie. Für den Preis konnten sich vorzugsweise BUND-Gruppen bewerben, aber auch Bürgerinitiativen, Einzelpersonen und Firmen, sofern das Projekt einen direkten Nutzen für die Umwelt hatte, innovativ war und zum Nachmachen animierte.
Auch Orts- und Kreisgruppen des BUND verleihen regelmäßig regionale Umweltpreise für herausragende Leistungen für die Umwelt – sowohl positive wie auch negative. Unbeliebt bis gefürchtet sind Negativpreise: Verantwortliche werden für Umweltsünden und ökologische Fehltritte öffentlich kritisiert; die Möglichkeit, bei der Verleihung Stellung zu nehmen, wird nur selten genutzt.
Natur & Umwelt Service und Verlags GmbH.
Die Natur & Umwelt Service und Verlags GmbH wurde 1977 gegründet und ist eine hundertprozentige Tochter des BUND. Sie ist Dienstleisterin im Versand und Projektmanagement für den BUND, übernimmt aber auch Funktionen für externe Auftraggeber. Zum Beispiel wickelt sie seit 2002 für das Bundesumweltministerium den Wettbewerb "Don Cato" ab, der Kinder mit Fragen des Natur- und Umweltschutzes vertraut machen soll. Darüber hinaus betreibt sie den BUNDladen, in dessen Internetshop und Katalog "Schön" ökologische Artikel angeboten werden.
Corporate Design.
Der ursprüngliche Name "Bund für Natur- und Umweltschutz Deutschland" wurde 1977 in die heutige Form geändert, so dass aus der Abkürzung "BNUD" das Apronym "BUND" entstand, das Teil der Corporate Identity des Vereins wurde. Das Vereins-Logo zeigt links neben dem Schriftzug BUND ein grafisches Element, das den Erdball symbolisieren soll, der von zwei schützenden Händen umschlossen wird. Der Logo-Entwurf stammte von Rudolf Schreiber, einem Mitglied des Gründungsvorstands des Umweltverbands. Der BUND ist deutsches Mitglied des internationalen Naturschutznetzwerkes Friends of the Earth, weswegen der Zusatz "Friends of the Earth Germany" (früherer Zusatz in deutscher Sprache: "Freunde der Erde") Element der heutigen Marke des Vereins ist.
BUND-Stiftungen.
Dem BUND-Bundesverband steht seit 2005 die gemeinnützige "BUNDstiftung" mit Sitz in Schwerin zur Seite. Die Stiftung startete mit 50.000 Euro Kapital und lag durch Spenden, Zustiftungen, Erbschaften und Stifterdarlehen zehn Jahre nach der Gründung bei drei Mio. Euro. Die Stiftung fördert Großprojekte wie die Arbeit am Grünen Band, die Auenwälder an der Mittelelbe (Hohe Garbe) und die Goitzsche-Wildnis bei Bitterfeld.
Viele der rechtlich eigenständigen BUND-Landesverbände haben ebenfalls für ähnliche Zwecke eine gemeinnützige Stiftung ins Leben gerufen. Das Gründungskapital stammt teils aus eigenen Rücklagen, teils aus Ersatzzahlungen für große Baumaßnahmen. Die Stiftungen agieren rechtlich unabhängig von den BUND-Verbänden; oft sind BUND-Aktive (auch federführend) an der Stiftungsleitung beteiligt. Die Stiftungen nach Gründungsdatum: |
505 | 3609534 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=505 | Betäubungsmittelgesetz (Deutschland) | Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), ehemals Opiumgesetz (s. u.), ist ein deutsches Bundesgesetz, das den generellen Umgang mit Betäubungsmitteln regelt.
Welche Stoffe und Zubereitungen vom Betäubungsmittelgesetz erfasst werden, lässt sich den Anlagen I bis III des Gesetzes entnehmen (§ 1 Abs. 1 BtMG):
Die Anlagen sind jeweils dreispaltig aufgebaut. Spalte 1 enthält die Internationalen Freinamen (INN) der Weltgesundheitsorganisation (etwa Amphetamin), Spalte 2 andere nicht geschützte Stoffbezeichnungen wie Kurzbezeichnung oder Trivialnamen (etwa Amphetamin) und Spalte 3 die chemische Stoffbezeichnung (etwa ("RS")-1-Phenylpropan-2-ylazan).
Eine vollständige Übersicht über die erfassten Stoffe gibt die Liste von Betäubungsmitteln nach dem Betäubungsmittelgesetz.
Inhalt.
Das BtMG ist in acht Abschnitte gegliedert
Tatbestand.
Betäubungsmittel im Sinne des BtMG und Drogen sind nicht gleichzustellen. Alkohol, Nikotin und Coffein werden vom BtMG, weil sie nicht in die Anlagen aufgenommen wurden, nicht erfasst. Sie sind daher in Deutschland legale Drogen. Aber auch andere berauschende Substanzen verschiedener Pflanzen (bspw. Stechäpfel und Engelstrompeten) sowie von Pilzen wie dem Fliegenpilz unterliegen nicht dem BtMG.
Die Vorschriften des Gesetzes regeln die Herstellung, das Inverkehrbringen, die Einfuhr und die Ausfuhr von Betäubungsmitteln nach Anlage I, II und III. Für diese Tätigkeiten bedarf es einer Erlaubnis, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erteilen kann (§ 3 BtMG). Ferner werden der Betrieb von Drogenkonsumräumen geregelt (§ 10a BtMG), die Vernichtung von Betäubungsmitteln und die Dokumentation des Verkehrs.
Das Betäubungsmittelgesetz ist eine Folge der durch die Ratifikation des Einheitsabkommens über die Betäubungsmittel 1961 sowie anderer ähnlicher Abkommen entstandenen Verpflichtung Deutschlands, die Verfügbarkeit mancher Drogen gemäß den Bestimmungen des Übereinkommens einzuschränken.
Der Prohibition unterliegen die Stoffe nach Anlage I (illegale Drogen), deren Besitz und Erwerb nur durch Sondererlaubnis durch das BfArM für wissenschaftliche Zwecke möglich ist oder von einer zuständigen Stelle zur Untersuchung oder Vernichtung entgegengenommen wird.
Es handelt sich bei den in den Anhängen aufgeführten Substanzen um so genannte "res extra commercium", zu deutsch "nicht handelbare Sachen". Werden sie in das Bundesgebiet eingeführt, so hat nur der Staat das Recht, den Besitz an diesen Substanzen durch Sicherstellung oder Beschlagnahme auszuüben.
Grundsätzlich gehört das Betäubungsmittelgesetz in die Kategorie der Verwaltungsgesetze, da Regelungsmaterie der Verkehr der Betäubungsmittel ist. Durch die häufig angewendeten Strafvorschriften in den §§ 29–30a BtMG ist es aber zugleich eines der wichtigsten Gesetze im Bereich des Nebenstrafrechts.
Für die Einfuhr und Ausfuhr der Grundstoffe zahlreicher Betäubungsmittel (insbesondere synthetischer Drogen wie Amphetamin) gilt das Grundstoffüberwachungsgesetz.
Geschichte.
Das Betäubungsmittelgesetz ist der unmittelbare Nachfolger des in der Weimarer Republik erlassenen Opiumgesetzes vom 10. Dezember 1929 (RGBl. I S. 215). Nach der Umformulierung des Kurztitels und umfangreichen inhaltlichen Änderungen durch Gesetz vom 22. Dezember 1971 () wurde am 10. Januar 1972 eine Neubekanntmachung () herausgegeben. Die aktuelle Fassung des BtMG datiert auf den 28. Juli 1981 (); deren Wortlaut wurde zuletzt am 1. März 1994 neu bekannt gemacht ().
Gefährdungspotential.
Grundüberlegung zum Betäubungsmittelgesetz ist die Feststellung
durch einmaligen, mehrmaligen oder anhaltenden Genuss von Betäubungsmitteln.
Sämtliche Pharmaka, welche eine solche irreversible Schädigung erwarten lassen, sind oder werden den Beschränkungen des Betäubungsmittelgesetzes unterworfen. Damit werden auch neue Designerdrogen erfasst. Daneben gilt eine zusätzliche Gefährdung durch medizinisch nicht sachgerechte Zubereitung und Verabreichung von Betäubungsmitteln. Weiter wird durch den Genuss von Betäubungsmitteln ein Gefährdungspotential für Dritte mobilisiert, wenn der Suchtkranke sein Handeln
nicht mehr selbst kontrollieren kann.
Vom Opiumgesetz zum Betäubungsmittelgesetz.
Bis zur Mitte der 1960er Jahre war die Drogenpolitik im Verhältnis zu anderen Bereichen der Politik ein äußerst kleiner und gesellschaftlich kaum beachteter Politikbereich. Wohl vor allem auf Grund der geringen Zahl der sozial auffälligen Drogenkonsumenten blieb das Opiumgesetz weithin papierenes Gesetz ohne akute Verfolgungsrealität. Entsprechend niedrig war die Zahl der auf Grund des Opiumgesetzes verurteilten Personen. Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts lag diese Zahl zwischen 100 und 150 pro Jahr, das heißt zwei bis drei Verurteilungen pro Woche in der ganzen Bundesrepublik Deutschland.
Ende der sechziger Jahre änderte sich der Stellenwert der Drogen- und speziell der Cannabispolitik schlagartig. Dies geschah vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklung (internationale Abkommen) und vor allem dem in den USA wahrgenommenen „Jugend-Drogen-Problem“. In Deutschland vermittelte die Presse nach dem reißerischen Vorbild in den Vereinigten Staaten von Amerika ab Ende der sechziger Jahre den Eindruck einer gewaltigen „Haschisch- und Drogenwelle“, die das Land zu überrollen drohte. Gleichzeitig wurde in der öffentlichen Meinung das Bild eines dramatischen sozialen Problems vorgezeichnet, das zudem mit dem vermutlich wichtigsten innenpolitischen Ereignis jener Zeit in Verbindung gebracht wurde, nämlich der hauptsächlich von Studenten getragenen Protestbewegung, die sich während der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD von 1966 bis 1969 als „Außerparlamentarische Opposition (APO)“ formiert hatte.
Auf internationaler Ebene trat die Bundesrepublik Deutschland einer Reihe von Übereinkommen im Rahmen der Vereinten Nationen (UNO) zur Drogenpolitik bei. Es handelt sich hierbei um das Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel vom 30. März 1961 über Suchtstoffe in der Fassung des Protokolls vom 25. März 1972 zur Änderung des Einheitsabkommens über die Betäubungsmittel von 1961 (sogenannte Single-Convention) und um das Übereinkommen vom 21. Februar 1971 über psychotrope Stoffe (Konvention über psychotrope Substanzen).
Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber (Deutscher Bundestag und Bundesrat) im Dezember 1971 das Opiumgesetz vom 10. Dezember 1929, das vor allem die verwaltungsmäßige Kontrolle der medizinischen Versorgung der Bevölkerung mit Opium, Morphium und anderen Betäubungsmitteln regelte, durch ein neues „Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz, BtMG)“ ersetzt. Dem neuen Gesetz vom 22. Dezember 1971, das am 10. Januar 1972 nach redaktionellen Änderungen neu bekanntgegeben wurde, liegt eine abstrakt-typologische Täterklassifizierung zugrunde, so dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers jedem Tätertypus eine Sanktionsstufe zugeordnet werden kann, wobei die Höchststrafe von drei auf zehn Jahre heraufgesetzt wurde.
Der Gesetzgeber ermächtigte in § 1 Abs. 2 bis 6 BtMG die Bundesregierung (Exekutive), durch Rechtsverordnung weitere Stoffe den betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften zu unterstellen. Die Tatsache, dass nicht nur der Gesetzgeber, sondern ein Verordnungsgeber der Exekutive Straftatbestände schaffen kann, die mit hohen Freiheitsstrafen (seit dem 25. Dezember 1971 bis zu zehn Jahren, seit dem 1. Januar 1982 sogar Höchststrafen bis zu 15 Jahren) geahndet werden können, hat in den vergangenen Jahren immer wieder heftige und kontroverse Debatten im Kreise der Verfassungs- und Strafjuristen ausgelöst. Die Vereinbarkeit der Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes mit dem Grundgesetz ist zudem umstritten, weil einerseits Grundrechtsbegrenzungen nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebotes erfolgen dürfen und andererseits die strafbewehrte Drogenprohibition kaum geeignet scheint, das gesetzgeberische Ziel (Verfügbarkeit der in den Anlagen aufgeführten Stoffe zu unterbinden) zu erreichen.
Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts vom 28. Juli 1981 (), das am 1. Januar 1982 in Kraft trat, wurde nicht nur für die besonders schweren Fälle eine Erhöhung der Strafobergrenze von 10 auf 15 Jahren Freiheitsstrafe vorgenommen, sondern auch die Definition der Betäubungsmittel geändert. In § 1 Abs. 1 BtMG wurde der Anwendungsbereich des Gesetzes auf die in den Anlagen I bis III genannten Stoffe und Zubereitungen beschränkt. Betäubungsmittel im Sinne des Gesetzes sind nur die in den Anlagen I bis III genannten Stoffe und Zubereitungen (Positivliste). Die in den Anlagen I bis III genannten Stoffe und Zubereitungen sind Teil des Gesetzes.
„Cannabis-Beschluss“.
Am 9. März 1994 erging der so genannte Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das BtMG durch die Einfuhr, den Erwerb oder den Besitz von geringen Mengen Cannabis zum Eigenverbrauch nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden ein Strafverfahren eingestellt werden kann, nachfolgend geregelt in BtMG. In der Praxis wird dies in verschiedenen Bundesländern stark unterschiedlich gehandhabt, da insbesondere nicht einheitlich festgelegt ist, was eine „geringe Menge“ ist.
Einziehung von Taterträgen.
Mit Aufhebung der Vermögensstrafe ( BtMG a. F.) wurde der Anwendungsbereich der erweiterten Einziehung von Taterträgen (bisher „erweiterter Verfall“) durch BtMG eröffnet.
Rechtsverwandtschaften.
Im Kontext des BtMG stehen vier Verordnungen:
Thematisch verwandt sind sowohl die gesetzlichen Regelungen zu Grundstoffen als auch zu Arzneimitteln (AMG). Im Juli 2014 urteilte der EuGH, dass nicht als Betäubungsmittel eingestufte, zum Berauschen verwendete Stoffe und Zubereitungen nicht als Arzneimittel anzusehen seien, das Herstellen und Inverkehrbringen zu diesem Zweck könne daher nicht nach dem Arzneimittelgesetz verboten werden. Gegenstand des Urteiles waren sogenannte „Kräutermischungen“, welche synthetische Cannabinoide enthielten. Inwiefern dieses Urteil auf andere berauschenden Substanzen, welche jedoch nicht dem BtMG unterliegen, anwendbar ist, ist strittig. BtMG und AMG werden seit November 2016 durch das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG) ergänzt, welches den Handel mit den im Urteil gegenständlichen synthetischen Cannabinoiden, aber auch mit Phenylethylaminen unter Strafe stellt.
Betäubungsmittel in der Medizin.
Welche Arzneimittel in Deutschland als Betäubungsmittel geführt werden und aufgrund ihres Gefährdungspotenzials strengen Vorschriften unterliegen, ist im Betäubungsmittelgesetz festgelegt. In den Anlagen des Gesetzes sind die Stoffe und Zubereitungen aufgelistet, die hierzulande unter die Gruppe der Betäubungsmittel fallen. Viele von ihnen werden im medizinischen Bereich angewendet, z. B. bei chronisch starken Schmerzen, fortgeschrittenen Krebserkrankungen, bei AIDS-Erkrankungen und während und nach Operationen.
Vernichtung von Betäubungsmitteln.
Die Vernichtung von Betäubungsmitteln ist in § 16 BtMG geregelt. Demnach hat der Eigentümer von nicht mehr verkehrsfähigen Betäubungsmitteln diese auf seine Kosten und in Gegenwart von zwei Zeugen zu vernichten. Die Beseitigung hat dabei so zu erfolgen, dass eine auch nur teilweise Wiedergewinnung der Mittel ausgeschlossen ist. Für die Nachvollziehbarkeit dieser Vernichtung fordert das Betäubungsmittelgesetz eine Niederschrift, die der Eigentümer drei Jahre aufbewahren muss.
Entsorgung von Betäubungsmitteln.
Grundsätzlich muss dafür Sorge getragen werden, dass niemand durch einen zufälligen Kontakt zu Schaden kommt. Die Entsorgung erfolgt über den Rest- bzw. Hausabfall. Dazu werden feste Darreichungsformen wie Tabletten, Dragees, Granulate, Kapseln oder Suppositorien durch Verreiben zerkleinert. Kapseln sind vorher zu öffnen. Wirkstoffpflaster werden aneinandergeklebt und in kleine Stücke zerschnitten, so dass einzelne Pflasterschnipsel nicht mehr kleben können. Flüssige Betäubungsmittel wie Ampulleninhalte oder Tropfen können in Zellstoff aufgenommen und in dieser Form entsprechend nach Abfallschlüsselnummer 180104 entsorgt werden. Eine Ausnahme besteht, wenn laut Packungsbeilage ein anderer Weg der Entsorgung vorgesehen ist.
Literatur.
"zur Geschichte desselben": |
506 | 16639 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=506 | BRD | BRD ist eine nicht offizielle Abkürzung für die Bundesrepublik Deutschland, die mitunter im wissenschaftlichen und insbesondere politischen Kontext verwendet wird, analog zur Abkürzung „DDR“ während der Epoche von 1949 bis 1990. Amtliche Verlautbarungen der Bundesrepublik enthalten die Abkürzung dagegen seit Anfang der 1970er-Jahre nicht mehr.
Entstehung und Verwendung des Begriffs.
Abkürzung in der Bundesrepublik Deutschland.
Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde die Abkürzung „BRD“ dort zunächst wertfrei verwendet. Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) ermittelte 1988 als ältesten Beleg den Aufsatz "Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland" des seinerzeitigen Ordinarius für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Freiburg, Wilhelm Grewe, in der "Deutschen Rechts-Zeitschrift" vom 20. Juni 1949. In gewissem Umfang war diese Abkürzung bereits in den 1950er-Jahren gebräuchlich.
Der Rechtschreibduden – von 1956 bis 1996 in Westdeutschland maßgeblich für die amtliche deutsche Rechtschreibung – führte 1967 die Abkürzung erstmals in seiner 16. Auflage. Im Juli 1965 legte das damalige Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen unter Erich Mende (FDP) „Richtlinien für die Bezeichnung [I.] Deutschlands; [II.] der Demarkationslinien innerhalb Deutschlands; [III.] der Orte innerhalb Deutschlands (Bezeichnungsrichtlinien)“ fest. Darin wurde Folgendes im Gemeinsamen Ministerialblatt (GMBl. S. 227 f.) beschrieben:
Anfang der 1970er-Jahre begann eine Kontroverse um die Abkürzung, als in einigen Bundesländern der Gebrauch untersagt wurde, da sie durch die häufige Verwendung in der DDR als „kommunistische Erfindung“ und „Agitationsformel“ verfemt sei. Mit der Vermeidung der Abkürzung „BRD“ wollte sich die bundesdeutsche Seite vom Sprachgebrauch in der DDR abgrenzen und verhindern, dass west- und ostdeutscher Staat durch analoge Abkürzungen auf eine Stufe gestellt werden. Die Bundesrepublik betrachtete sich trotz aller Lockerungen im deutsch-deutschen Verhältnis stets als völkerrechtlich einzig legitimen deutschen Staat (keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR), da nur die Regierung der Bundesrepublik Deutschland aus demokratischen Wahlen hervorging. Die Bezeichnung „Deutschland“ beanspruchte sie für Gesamtdeutschland und damit stellvertretend für sich selbst. Durch die fortdauernde Verwendung dieses Begriffs sollte die Existenz einer deutschen Nation – "Deutschland als Ganzes" – im öffentlichen Bewusstsein gehalten werden, um das Staatsziel der Wiedervereinigung nicht zu gefährden. Am 31. Mai 1974 empfahlen dann die Regierungschefs des Bundes und der Länder, „dass im amtlichen Sprachgebrauch die volle Bezeichnung ‚Bundesrepublik Deutschland‘ verwendet werden“ solle.
Ab Juni 1974 wurden von der Kultusministerkonferenz Schulbücher mit dem Kürzel „BRD“ nicht mehr zugelassen. In Aufsätzen in West-Berlin durfte das Kürzel, wenn das Thema Deutschland im Unterricht behandelt worden war, als Fehler angestrichen werden.<ref name="Spiegel_39/1978">"„Wer BRD sagt, richtet Unheil an“", Der Spiegel 39/1978 vom 25. September 1978.</ref> Seit dem 4. Oktober 1976 gibt es einen Runderlass des Kultusministers von Schleswig-Holstein (NBl. KM. Schl.-H. S. 274), der jede Abkürzung für nicht „wünschenswert“ erklärt.
Im Jahr 1977 nahm die GfdS die Abkürzung in die Liste der Wörter des Jahres auf.
Andreas von Schoeler, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, gab am 30. November 1979 dem Deutschen Bundestag die Auskunft, dass von dem Gebrauch des Akronyms „BRD“ Abstand zu nehmen sei. Nachdem schon in den siebziger Jahren die Kultusministerien einzelner Länder darauf hingewiesen hatten, dass die volle Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland“ im Schulunterricht benutzt werden sollte, fasste die Kultusministerkonferenz in ihrer 202. Plenarsitzung am 12. Februar 1981 den Beschluss, die Abkürzung „BRD“ in Schulbüchern und kartographischen Werken für den Schulunterricht nicht mehr zu verwenden. Dieser Beschluss wurde in der Folge von einzelnen Ländern durch Bekanntmachung in ihren Amtsblättern in Landesrecht umgesetzt, so unter anderem in Baden-Württemberg am 14. April 1981 und in Schleswig-Holstein am 4. August 1981.
Die amtliche Auffassung zu "BRD" ist einer der wenigen Fälle (siehe auch Orthographie), in denen auf diese Weise versucht wurde, direkt in den bundesdeutschen Sprachgebrauch einzugreifen.
In den 1980er-Jahren verband sich im Zusammenhang mit der Flick-Affäre der „gekauften Republik“ das Kürzel auch mit dem polemischen politischen Schlagwort „Bananenrepublik Deutschland“.
Abkürzung in der Deutschen Demokratischen Republik.
In der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Bundesrepublik in den ersten beiden Jahrzehnten der deutschen Teilung meist "Westdeutschland" genannt. Die SED-Führung vermied damit die amtliche Bezeichnung "Bundesrepublik Deutschland". In offiziellen Schreiben wurden daher zeitweise auch die Bezeichnungen „westdeutsche Bundesrepublik“ und „Deutsche Bundesrepublik“ (DBR) gebraucht. Darin kam vor allem die Analogie zum Staatsnamen "Deutsche Demokratische Republik" (DDR) zum Vorschein, um die von der Sowjetunion postulierte Zwei-Staaten-Theorie zu betonen und den Begriff "Deutschland" für eine gesamtdeutsche Nation offenzuhalten. Als Reflex darauf, dass diese Bezeichnung dann auch in der Bundesrepublik sogar teils von Vertriebenenpolitikern verwendet wurde, wies die Bundesregierung in ihren Bezeichnungsrichtlinien von 1961 „Deutsche Bundesrepublik“ als „terminologisches Pendant zur ‚Zweistaatentheorie‘“ aus, wodurch die Bezeichnung als „inkorrekt“ und „grundsätzlich zu vermeiden“ gebrandmarkt wurde.
Auch die ostdeutsche Literatur nahm diese Bezeichnung auf. Dies änderte sich jedoch 1968 mit dem Inkrafttreten der neuen DDR-Verfassung, mit der sich die Deutsche Demokratische Republik vom Ziel der Wiedervereinigung verabschiedete. Seither wurde in der DDR für die Bundesrepublik neben der amtlichen Staatsbezeichnung "Bundesrepublik Deutschland" offiziell verstärkt die Abkürzung "BRD" verwendet. Dies sollte die Gleichberechtigung der beiden Staaten ausdrücken; die Bezeichnung verbreitete sich auch im allgemeinen Sprachgebrauch.
Konsentierte bundesdeutsche Abkürzungen.
In den alten Bundesländern wurden bis zur Deutschen Einheit und werden teilweise auch danach die Abkürzungen "BR Deutschland" (auch "BRep Deutschland"), "BR Dt.", "BR Dtl.", "BRDt.", "BRep.Dtschl.", "BRep. Dtschld.", "B’Rep. Dt.", "B.Rep. Dtld.", "BRep.D", "BR Dtld." oder vereinzelt – soweit kontextbezogen – einfach "BRep." und "Dtld." bevorzugt; eine Verwendung des Kürzels „BRD“ war hingegen von offizieller Seite nicht erwünscht ("siehe auch Abschnitt" „Heutige Verwendung“). Im mündlichen Sprachgebrauch war und ist der Kurzname "Bundesrepublik" für die Bundesrepublik Deutschland gebräuchlich.
Kfz-Nationalitätszeichen.
Dass beide deutsche Staaten das Nationalitätenkennzeichen "D" verwendeten, hatte 1971 zur gleichnamigen Benennung des westdeutschen Fernsehmagazins "Kennzeichen D" geführt.
Um ihre „Eigenständigkeit zu betonen“, ersetzte die DDR das "D"-Kennzeichen ab dem 1. Januar 1974 durch das Nationalitätskennzeichen "DDR". Daraufhin riefen in der Bundesrepublik linke Gruppierungen, besonders die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), ihre Anhänger dazu auf, an ihren Kraftfahrzeugen das „anmaßende“ Nationalitätenkennzeichen "D", auch „D-Schild“ genannt, durch ein Schild mit den Buchstaben "BRD" zu ersetzen. In solchen Fällen wurden im öffentlichen Straßenverkehr mitunter Bußgeldbescheide verteilt, was damit begründet wurde, dass der „BRD“-Aufkleber mit einem fremden Nationalitätskennzeichen verwechselt werden könnte. Dagegen brachten im Zuge der Wende im Herbst 1989 DDR-Bürger ihr Streben nach nationaler Einheit mit der Umwandlung ihres DDR-Schilds in ein D-Schild durch Tilgung des ersten und letzten Buchstabens zum Ausdruck.
Internationale Abkürzungen.
International waren und teilweise sind die entsprechenden Abkürzungen wie FRG (für "Federal Republic of Germany") im Englischen und RFA "(République Fédérale d’Allemagne)" im Französischen üblich. Die russische Abkürzung ФРГ (für Федеративная Республика Германия, "Federatiwnaja Respublika Germanija") ist auch heute noch sehr gebräuchlich.
Für das vereinigte Deutschland haben sich verschiedene Abkürzungen durchgesetzt:
Heutige Verwendung.
Seit dem Ende des Kalten Krieges Ende des 20. Jahrhunderts und mit der deutschen Wiedervereinigung hat die Diskussion um die Abkürzung "BRD" ihre Brisanz verloren. So setzt der Duden seit den 1990er-Jahren „BRD“ mit „Bundesrepublik Deutschland“ gleich, während er aber darauf hinweist, dass es sich um eine „nicht amtliche Abkürzung“ handelt. Seitdem verwendet zuweilen auch die dem Bundesinnenministerium unterstellte Bundeszentrale für politische Bildung auf ihren Webseiten und bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Publikationen die in ihrer Vergangenheit nicht unumstrittene Abkürzung "BRD". Regelmäßig wird die Abkürzung auch in den Medien verwendet, z. B. in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in der "Süddeutschen Zeitung" oder in der "Welt", auch wenn sie sich inzwischen auf das vereinte Deutschland bezieht.
Der Begriff „alte BRD“ tauchte in den Medien ungefähr ab dem Jahr 2000 als Verweis auf die "Bundesrepublik Deutschland vor 1990" auf, welche sich nicht nur geografisch, sondern auch in der Ausprägung der Sozialen Marktwirtschaft von der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts unterscheidet. Zum Beispiel waren viele Unternehmen, die der Versorgung der Bevölkerung dienen, noch nicht privatisiert, sondern Bundes-, Landes- oder kommunales Eigentum (z. B. Bundespost, Bundesbahn, Krankenhäuser).
Rechtsextreme Verwendung.
Gelegentlich wird heute von Rechtsextremisten wie Horst Mahler sowie von Nationalisten die Abkürzung "BRD" verwendet, um darzustellen, dass aus ihrer Sicht die Bundesrepublik Deutschland zum einen nur einen Teil Deutschlands (jenes in den Grenzen von 1937) umfasse – in revanchistischen Kreisen misst man dem deutsch-polnischen Grenzvertrag zu den ehemaligen deutschen Ostgebieten von 1990 keine Bedeutung zu – und zum anderen kein souveräner Staat sei, sondern lediglich eine „Organisationsform einer Modalität der Feindmächte des Deutschen Reiches“ "(OMF-BRD)" – in Anlehnung an den von Carlo Schmid 1948 geprägten Begriff der „Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft“. Darüber hinaus wird das Kürzel verwendet in Darstellungen, die die Bundesrepublik als illegitimen Staat ansehen, dessen Regierung so genannte „Kommissarische Reichsregierungen“ gegenübergestellt werden, z. B. als „BRD GmbH“.
Ähnlicher Streitfall.
Eine vergleichbar ideologisch geführte Diskussion gab es um die Begriffe "Berlin (West)", "West-Berlin" und "Westberlin" mit der Abkürzung "WB". Die in Berlin (West) und der Bundesrepublik Deutschland („Westdeutschland“) benutzte Klammerkonstruktion sollte die Einheit der Stadt Berlin, die in zwei Teile geteilt war, klarstellen. Seitens der DDR wurde durch die Zusammenschreibung „Westberlin“ versucht, den Eindruck eines eigenständigen geografischen (wie z. B. Westindien) und politischen Gebietes („Selbständige politische Einheit Westberlin“) zu schaffen, und dieses von "Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik" abzugrenzen.
Ebenso ergab sich eine politische Debatte um den Begriff „Westdeutschland“ oder auch hinsichtlich dessen, dass die DDR nicht Ausland zur Bundesrepublik sein könne, sowie um die Abkürzung „DDR“, die z. B. in der Springer-Presse vor dem 2. August 1989 nur in Anführungszeichen verwendet wurde. |
509 | 901616 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=509 | BPjS | |
524 | 2697225 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=524 | Berlin-Alt-Treptow | Alt-Treptow ist ein Ortsteil und einer der Namensgeber des Bezirks Treptow-Köpenick in Berlin.
Alt-Treptow grenzt im Südwesten an den Ortsteil Neukölln, im Nordwesten an Kreuzberg, im Nordosten an Friedrichshain sowie nach Südosten an Plänterwald. Es ist ein alter Knotenpunkt der Straßen-, Wasser- und Schienenwege der Stadt Berlin.
Geschichte.
Ursprung und Entwicklung.
In dem Gebiet sind einige Spuren von Jägern und Sammlern aus der Mittelsteinzeit überliefert. Eines der ältesten Spuren ist eine facettierte Hammeraxt aus dem Neolithikum, die im Schlesischen Busch gefunden wurde. Die Facettierung weist darauf hin, dass sie der mitteldeutschen Schnurkeramik zuzurechnen ist. Eine erste dauerhafte Besiedlung des Gebiets im heutigen Alt-Treptow konnte auf das 6. oder 7. Jahrhundert von Slawen (Wenden) datiert werden. Der Name bezog sich anfangs wohl auf die Flusserweiterung südlich des Rummelsburger Sees und hatte verschiedene Varianten (Trebow, Trebkow, Trebikow, Trepkow). Im Laufe der Zeit ging die Bezeichnung auf eine Fischereisiedlung über, die sich in dem waldreichen Gebiet an einer fischreichen Stelle angesiedelt hatte. Die Bewohner nannten die Siedlung ausweislich einer Kämmereirechnung aus dem Jahr 1568 "Der Trebow". Einige Quellen führen als Ursprung für den Wortstamm die slawischen Worte „drewo“ (‚Laubholz‘) bzw. „drewko“ (‚kleines Laubholz‘) an, während andere Quellen auf das Wasser („Treptau“) abzielen. Überlieferungen zufolge befindet sich heute an der Stelle das Gasthaus "Zenner". Die Rechnung führt weiterhin aus, dass die Bewohner für das Recht, Fischerei zu betreiben, 24 Groschen Wasserzins und 32 Groschen Heidegeld für die Bienenzucht an die Stadt entrichten mussten. 1590 führt ein Protokoll der Stadt aus: „An Trebkow … hat der Rath zu Cölln ein Heußlein und an dem Fließ, so von Rixdorf in die Spree gehet, zwo mehr“. Weitere Ansiedlungen sind nicht bekannt, zumal die Gegend vor der Stadtmauer als unsicher galt. Der Floßgraben, später als "Landwehrgraben" bezeichnet, heute verläuft dort der Landwehrkanal, bildete die Stadtgrenze von Berlin und diente zur Entwässerung der Feldmark. Südlich dieses Grabens erstreckte sich die Cöllnische Heide, früher auch "Mirica" genannt. Markgraf Otto III. von Brandenburg hatte dieses Gebiet entlang der Spree mit allen Rechten und Nutzungen der Bürgerschaft Cölln als vererbbaren Besitz überschrieben, verfügte die damals noch junge Stadt über wenig Bauholz. Zum nördlichen Teil, auch Vorderheide oder Birkheide genannt, gehörte auch das heutige Alt-Treptow; der südliche Teil, einschließlich der 1435 vom Johanniterorden erworbenen Spreeheide (auch "Hinterheide" genannt) dehnte sich bis zum Köpenicker Forst aus, die Grenze bildete das sogenannte "Kannefließ". Dieses Gebiet entspricht ungefähr dem heutigen Ortsteil Baumschulenweg. Bei der Vereinigung von Alt-Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt zur "Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin" 1709 kam die bis dahin auch als "Stadtforst" bezeichnete Cöllnische Heide zu Berlin.
Vorwerk Treptow.
Um 1261 überließ der Ritter Rudolf von Stralau das Vorwerk Treptow, als dessen Vorbesitzer Templer genannt werden und das bis ins 19. Jahrhundert noch als "Burgwall" bezeichnet wurde, der Stadt Cölln. 1568 findet es sich dort auf einer Kämmereirechnung unter dem Namen "Trebow," mit der die Existenz eines Fischerhauses belegt wird. Dieses lag vermutlich an der Mündung des bis heute existierenden Heidekampgrabens und war wahrscheinlich auch der Fischereibetrieb, der ab 1602 von der Stadt Cölln getragen wurde und die dort einen Fischer anstellte. Im 17. Jahrhundert finden sich in den Kämmereirechnungen der Stadt Cölln keine Erwähnungen, sodass zu vermuten ist, dass dieser Betrieb im Zuge des Dreißigjährigen Kriegs aufgegeben wurde. Stattdessen eröffnet 1653 "Erdtmann Schmoll", kurfürstlicher Küchenmeister, einen Wein- und Bierausschank. 1707 kam es durch den ehemaligen Cöllner Bürgermeister "Johann Lauer" zu einer Neuansiedlung mit Stallung, Scheune und Nebengebäude; dieser Flecken wurde als "Vorwerck Trepkow" oder "Vorwerk Treptow" bezeichnet. Er plante, die Siedlung für die kommenden neun Jahre für eine Pacht von 40 Talern pro Jahr zu bewirtschaften. Aus gesundheitlichen Gründen musste er die Siedlung nach vier Jahren jedoch wieder abgeben, woraufhin der Magistrat einen anderen Pächter suchen musste. 1727 eröffnete der damalige Förster einen weiteren Bierausschank und trug damit dem Trend Rechnung, dass immer mehr Berliner die Region vor den Toren der Stadt für Ausflüge und zur Freizeitgestaltung nutzten. 1730 war die Ansiedlung schon erweitert um ein Backhaus, ein Brauhaus und eine Windmühle. Vier Jahre später erweitere der Förster das Gebäude, die "Spreebudike", um eine Kegelbahn, eine Kaffeeschenke und ein zweites Stockwerk. Auf diesem Areal stand später auch das Gasthaus "Zenner". Erweitert um sechs Grundstücke, die 1779 Siedlern zugesprochen wurden, wurde die Ansiedlung als "Kolonie Treptow" bezeichnet. Die Kolonisten betrieben ebenfalls Ausflugslokale und prägten das geflügelte Wort „Hier können Familien Kaffee kochen“. Bereits 1752 entstanden am damaligen Floßgraben auf der Treptower Seite zwei Lohmühlen (Lutze und Busset) im Gebiet der heutigen Lohmühlenstraße. Diese war damals eher ein ausgetretener Pfad, der sich 1783 erstmals als Kohlhorstweg auf einer Karte eingezeichnet findet, vom Schlesischen Tor nach Rixdorf führend.
Gutsbezirk Treptow.
Das Gebiet trug 1808 die amtliche Bezeichnung "Gutsbezirk Treptow." Hierzu gehörten das Alte Vorwerk aus dem Jahr 1779, die drei Doppelhäuser der sächsischen Kolonisten sowie die Gaststätte "Spreebudike". Dieser Komplex wurde 1817 aufgelöst; dort entstand 1821/1822 das "Magistrats-Kaffeehaus Treptow", später dann das heutige "Zenner."
Im Jahr 1823 beschloss der Magistrat, große Teile der Cöllnischen Heide abzuholzen. Als Grund gab man an, dass der Forst unrentabel geworden sei und darüber hinaus der Diebstahl an Bau- und Brennholz überhand genommen habe. Die Kämmereikasse erhoffte sich Einnahmen in Höhe von rund 100.000 Talern; offiziell überliefert sind 99.825 Taler, während andere Quellen von nur 83.325 Talern sprechen. Ausgenommen wurden nur der Schlesische Busch und der Alte Treptower Park. Die freigewordenen Flächen wurden anschließend vom Magistrat vermarktet, wobei es hier zu Grundstücksspekulationen gekommen sein soll. Bauern, die auf den zuvor kommunalen Flächen Ackerbau und Viehzucht betrieben hatten, beriefen sich auf ein Gewohnheitsrecht und forderten vom Magistrat Ersatzansprüche. 1840 war die Rodung abgeschlossen, und da in der Folge die privaten Grundstücke auch erschlossen werden mussten, wurden 1842 erstmals Straßen benannt: der "Lohmühlen-Weg" (heute: Lohmühlenstraße), der nach der Familie Bouché benannte "Bouché-Weg" (heute: Bouchéstraße), der "Kiefholz-Weg" (heute: Kiefholzstraße), die "Elsen-Allee" (heute: Elsenstraße), die "Treptower Allee" (heute: Puschkinallee), die "Park-Allee" (heute: Bulgarische Straße) und die Neue-Krug-Allee. Der Bereich westlich der "Köpenicker Landstraße" (heute: Am Treptower Park) bis zu den später gelegten Eisenbahngleisen und zwischen "Elsen-Allee" und "Bouché-Weg" wurde als Exerzierplatz für die Berliner Garnison der Preußischen Armee genutzt.
Wald, Heide und die Spree waren schon seit dem 18. Jahrhundert Anziehungspunkte für Ausflügler aus Berlin. Seit 1864 gab es dann auch Dampfschifffahrten zwischen der Anlegestelle Jannowitzbrücke und Treptow. Das Gasthaus "Zenner" entwickelte sich zu einem Sammelpunkt der Ausflügler, weitere Kaffee-, Bier- und Gartenlokale kamen hinzu und Treptow wurde zu einem beliebten Ausflugsziel der Berliner.
Als Wohnort war der Gutsbezirk Treptow jedoch lange Zeit nicht beliebt, da der Untergrund sich nicht zum Bauen eignete. Treptow liegt im Tal der Oberspree und ist Teil des Berliner Urstromtals. Es gab zur damaligen Zeit noch alte vertorfte Spreearme und sumpfigen Boden. Im Herbst und Frühjahr waren große Teile Überschwemmungsgebiet. Straßen und Bahnstrecken wurden deshalb auf Dämmen geführt. Dies änderte sich mit der Rodung der Cöllnischen Heide.
Erstmals findet sich 1842 die Bezeichnung "Lohmühlenweg" in einem amtlichen Dokument. Die nach der Abholzung der Cöllnischen Heide entstehenden Grundstücke waren vom Boden her gut für den Pflanzenanbau geeignet, sodass sich entsprechende Betriebe ansiedelten. Um 1875 waren auf dem Gebiet zwischen der heutigen Lohmühlen- und der Elsenstraße, westlich des Exerzierplatzes und der Berlin-Görlitzer Bahnlinie, die in den 1860er Jahren gebaut wurde, hauptsächlich Gärtnereien angesiedelt. Östlich der Bahnlinie, an der heutigen Jordanstraße, befanden sich die Gebäude der 1850 gegründeten "Chemischen Fabrik von Dr. phil. Jordan," dem ersten Industriebetrieb Treptows. Später hatte die "Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation" (Agfa) dort ihren Sitz.
Zwischen der Treptower Chaussee und der Spree, nach Norden hin am Landwehrkanal gelegen, siedelte sich 1859 die Fabrik für Landmaschinen von Carl Beermann an. Seine Söhne, die Gebrüder Hermann und Georg Beermann, verlegten 1872 den erweiterten Firmensitz in die Eichenstraße. 1924 wurde die Beermannsche Fabrikationsstätte von der "Allgemeinen Berliner Omnibus-Aktien-Gesellschaft" (ABOAG) übernommen und für den Bau und die Reparatur von Autobussen genutzt. An diese evangelische Unternehmerfamilie jüdischer Herkunft erinnerte von 1904 bis 1938 die Beermannstraße, die seit 1947 wieder diesen Namen trägt.
Nach 1860 übernahm die "Lederfabrik Kampffmeyer" (später: "Firma Dr. M. J. Salomon & Co.)" eine der beiden dort vorhandenen Lohmühlen, nämlich die Bussetsche Lohmühle.
Die 1866 als Handwerksbetrieb gegründete Firma "Ehrich & Graetz" stellte bis 1902 vor allem Petroleumlampen her und entwickelte sich zu einem international gefragten Unternehmen für Gasbeleuchtungstechnik und Gasbrenngeräte. Mit ihren Grätz-Laternen trug die Firma maßgeblich zur ersten Berliner Straßenbeleuchtung bei. Von 1907 bis 1962 trug die bedeutendste Einkaufsstraße Alt-Treptows den Namen Graetzstraße, nunmehr erinnert diese an den 1943 hingerichteten Treptower Arbeiter und Widerstandskämpfer Karl Kunger.
Landgemeinde Treptow.
Am 22. Januar 1876 wurde der Gutsbezirk Treptow durch einen königlichen Erlass in die Landgemeinde Treptow umgewandelt, die dem Landkreis Teltow angehörte. Das Gebiet entsprach etwa den heutigen Ortsteilen Treptow, Plänterwald und Baumschulenweg. 1876 bestand die Landgemeinde aus 37 Grundstücken und hatte 567 Einwohner.
Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen ersten Industrieansiedlungen brachten zusätzliche finanzielle Mittel, sodass Treptow nicht nur vom Ausflugsverkehr profitierte. Zwischen 1876 und 1878 legte Gustav Meyer den Treptower Park an.
Aufgrund der gestiegenen Popularität der Landgemeinde wurde 1878 eine Pferdebahn vom Spittelmarkt bis nach Alt-Treptow eingerichtet.
Im Zuge der Vorbereitung der Großen Berliner Gewerbeausstellung 1896 kam es in der Landgemeinde Treptow zu zahlreichen Infrastrukturänderungen und -verbesserungen. Viele Straßen wurden angelegt und befestigt, der öffentliche Nahverkehr wurde ausgebaut.
Im Jahr 1895 wurde zwischen Treptow und Stralau, etwas nördlich von der heutigen Insel der Jugend, der eingleisige Spreetunnel Stralau–Treptow gebaut. Er war ein erster Versuch für den Bau einer städtischen Untergrundbahn in Berlin. Der Tunnel hatte eine Länge von 454 Metern, davon verliefen 200 Meter unter der Spree; der tiefste Punkt der Röhre lag zwölf Meter unter dem Wasserspiegel. Am 17. Juli 1899 fand eine erste Probefahrt statt, am 18. Dezember wurde der reguläre Betrieb der sogenannten Knüppelbahn aufgenommen. 1931 wurde der Bahnverkehr wegen gefährdeter Verkehrssicherheit eingestellt. Danach durfte der Tunnel noch von Fußgängern benutzt werden, im Zweiten Weltkrieg diente er als Luftschutzraum. Am 26. Februar 1945 wurde er zerstört und geflutet.
Aus Anlass der Gewerbeausstellung wurde auch eine (zunächst nur temporär vorgesehene) Sternwarte gebaut, ausgestattet mit dem bis heute längsten Linsenfernrohr der Welt (21 Meter Länge). Sie wird nach ihrem Mitgründer Friedrich Simon Archenhold Archenhold-Sternwarte genannt.
In der Lohmühlenstraße 52 entstand 1899 zwischen der Heidelberger Straße und der Isingstraße das Gebäude, in dem sich bis 1945 das Postamt Berlin SO 36 befand. Es war für fast den gesamten Ortsteil Treptow und große Teile von Kreuzberg zuständig und wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Im nördlichen Teil wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Mietshäuser des Wilhelminischen Rings gebaut.
Ebenfalls 1899 zog die Lampen-Fabrik Ehrich & Graetz OHG in den neu gebauten Gebäudekomplex in der Elsenstraße um.
Von 1902 bis 1903 wurde der "Rixdorfer Stichkanal" ausgehoben, der an der heutigen Lohmühlenbrücke begann und bis zur Ringbahn verlief. 1912 bis 1913 wurde er bis zum Teltowkanal verlängert und heißt heute Neuköllner Schifffahrtskanal. Durch den Bau des Kanals senkte sich der Grundwasserspiegel um durchschnittlich etwa zwei Meter, teilweise mehr. Durch die Inbetriebnahme von vielen Tiefbrunnen sank das Grundwasser noch weiter. Der Standort wurde für die Gärtnereien aufgrund der gestiegenen Bewässerungskosten wirtschaftlich uninteressant, die Grundstücke ließen sich jedoch gewinnbringend als Gewerbeflächen oder Bauland verkaufen. Nachdem innerhalb kurzer Zeit viele Gärtnereien ihre Betriebe verlegt oder aufgegeben hatten, entstanden an der Lohmühlenstraße Holzlagerplätze, Sägewerke, Zimmereien und Baustoffgroßhandlungen, später auch Kohlenlagerplätze der "Hedwigshütte Kohlen- und Kokswerke AG". Die Lage am Landwehrkanal war gut geeignet, die Bau- und Brennstoffe bis in die Nähe des Stadtkerns zu transportieren.
Die Metallwaren- und Laternenfabrik "Fritz Weber & Co." als „Laternen-Weber“ bekannt, begann 1907 in der Graetzstraße 68 (heute Karl-Kunger-Straße) mit der Produktion.
Auch der Fabrikkomplex an der Jordanstraße entwickelte sich weiter. 1901 wurden die noch bestehenden Gebäude zwischen der Jordanstraße und dem Görlitzer Damm, zur Lohmühlenstraße hin, erbaut. 1905 waren bei der "Agfa Treptow" fast 2000 Arbeitnehmer beschäftigt. Im Ersten Weltkrieg wurde dort unter anderem auch Giftgas hergestellt. Um die Jahrhundertwende begann die Verlagerung großer Teile der Produktion in die "Agfa-Film- und Farbenfabrik" in Wolfen bei Bitterfeld.
Ab 1908 wandelte sich der Exerzierplatz zwischen Elsenstraße und Bouchéstraße in ein Kasernengelände für die Kavallerie-Telegraphen-Schule und das Königlich-Preußische Telegraphen-Bataillon Nr. 1.
Bildung des Bezirks Treptow.
Die Landgemeinde Treptow hatte auf Grund ihres starken Wachstums finanzielle Probleme, vor allem durch die notwendig werdenden Infrastrukturmaßnahmen (Wasser, Abwasser, Elektrizität, Verkehr). Bereits im Juli 1902 kam es zur Unterzeichnung eines "Anschlussvertrags" zwischen der Stadt Berlin und der Gemeinde Treptow. Darin wurde geregelt, dass Treptow die Berliner Rieselfelder im Bereich Osdorf nutzen darf. Die notwendigen Erschließungs- und Anschlussarbeiten wird Treptow als Gegenleistung selbst ausführen. In den Folgejahren verstärkte sich der Wunsch zur Eingemeindung von Treptow nach Berlin. Nach dem Ersten Weltkrieg verschärften sich diese Probleme zusehends. Im Jahr 1920 wurde der Bezirk Treptow gebildet und nach Groß-Berlin eingemeindet. Er reichte südlich bis Bohnsdorf. Der Ortsteil Treptow umschloss dabei das Gebiet zwischen Kreuzberg, Neukölln, Stralau und der Ringbahn zuzüglich des Treptower Parks. Dieser Ortsteil erhielt 2001 nach der letzten Berliner Verwaltungsreform die Bezeichnung "Alt-Treptow".
Zwischen den Weltkriegen.
Auf dem Kasernengelände, nach dem Ersten Weltkrieg formal dem Berliner Polizeipräsidenten unterstellt, wurde in den 1920er Jahren die Berliner Polizei untergebracht.
Im Jahr 1925 erwarb die "Allgemeine Berliner Omnibus-Actiengesellschaft" (ABOAG) ehemalige Hallen der Landmaschinenfabrik der Gebrüder Beermann und nutzten diese dann als Betriebshof für den Omnibusbetrieb.
Das Gelände zwischen der Hoffmannstraße und der Spree gegenüber dem Bahnhof Treptow diente bis 1926 als Holzlagerplatz der Firma "Kempfer und Lucke". Danach wechselte es den Besitzer und der AEG-Konzern errichtete dort das "Apparatewerk Treptow".
Im Agfa Firmenkomplex verblieben in den 1930er Jahren noch Agfa-Foto und Verkaufseinrichtungen des "I.G.-Farben-Konzerns." Ab 1934 zog dort die Waffenfabrik Treptow der "Gustav Genschow & Co. AG" ein.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde auf dem Gelände der Kaserne die "Heereswaffenmeisterschule" der Wehrmacht untergebracht, die hier Waffen und Munition zur Panzerabwehr erprobte.
Die "Kistenfabrik Reschke" übernahm 1931 den Standort der "Dr. M. J. Salomon & Co."
Von 1935 bis 1940 entstand an der Ecke Kiefholz-/Lohmühlenstraße ein neuer Fabrikkomplex für das Unternehmen "Fritz Weber & Co." Weber selbst war Wehrwirtschaftsführer und Mitglied der NSDAP. Unter anderem fertigten hier mehr als 2300 Arbeiter und Angestellte Kriegsmaterialien. Auch Zwangsarbeiter wurden beschäftigt, die aus den ebenfalls in der Lohmühlenstraße gelegenen Zwangsarbeiterlagern ("Ostarbeiterlager Lohmühlenstraße 23/24" und "Ausländerlager Lohmühlenstraße 55") rekrutiert wurden.
Der Zweite Weltkrieg.
Zum Ende des Zweiten Weltkriegs, bei den Kämpfen um die deutsche Hauptstadt, erfolgten am 21. Juni 1944 und 3. Februar 1945 amerikanische Luftangriffe. Um das schnelle Vordringen der Roten Armee in das Zentrum Berlins zu verlangsamen, sprengten deutsche Wehrmachtsangehörige am 23. oder 24. April 1945 die Wiener Brücke (letzte Straßenbahnfahrt am 21. April 1945). Bis zum 26. April tobten die letzten Kämpfe in Treptow um die Lohmühlenstraße und Umgebung.
Zeit der DDR.
Im Treptower Park befindet sich das ab dem 1. Mai 1946 und 1949 angelegte Sowjetische Ehrenmal, das am 8. Mai 1949 eingeweiht wurde. Die sowjetische Denkmal-Bauverwaltung hatte sich in dem nahen Kasernengelände Am Treptower Park bis 1951 einquartiert. Polizeikräfte waren ebenfalls wieder auf dem Gelände stationiert; nach 1949 die Volkspolizei. Im Jahr 1962 übernahmen die DDR-Grenztruppen die Kaserne.
Die Gebäude des "Apparatewerks Treptow" der AEG dienten in der DDR dem Stammbetrieb des "Volkseigenen Kombinats Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow" (EAW). Im ehemaligen Agfa-Firmenkomplex an der Jordanstraße waren nach der "Waffenfabrik Treptow" später der "VEB Steremat" und Abteilungen des "Großhandelsbetriebs Sport und Kulturwaren" ansässig. Der "Rüstungsbetrieb Weber" wurde nach 1945 enteignet. In dem Komplex Lohmühlen-/Kiefholzstraße siedelte sich der Fertigungsbereich 3 des "VEB Berliner Werkzeugmaschinenfabrik" (BWF) an.
Im Jahr 1954 wurde am Ufer der Spree der Hafen Treptow angelegt, die Reederei der Ost-Berliner "Weiße Flotte" betrieb von hier aus wieder Fahrgastschiffe.
Am 13. August 1961 wurde die Grenze zwischen Alt-Treptow und den West-Berliner Bezirken Kreuzberg und Neukölln hermetisch abgeriegelt. Zwischen dem 13. und 23. August 1961 gab es für zehn Tage an der Puschkinallee und an der Elsenstraße Grenzübergänge nach Kreuzberg bzw. Neukölln. Die Berliner Mauer verlief, um wenige Meter nach hinten versetzt, entlang des Flutgrabens, des Landwehrkanals, der Harzer Straße, der Bouchéstraße, der Heidelberger und der Treptower Straße zur Kiefholzstraße. Kurioserweise lag das nordwestlichste Gebäude des Bezirks, die Fischerei an der Oberen Freiarchenbrücke, somit jenseits der Mauer und war nur vom Westen aus zugänglich.
Die Mauer.
Die Wachtürme waren so angeordnet, dass der Todesstreifen von dort aus durchgängig einzusehen war. Als einer der wenigen in der Stadt ist der – eher untypische – Turm der ehemaligen Führungsstelle im Schlesischen Busch erhalten geblieben. An der Görlitzer Bahn erlaubte ein Tor in der Mauer den Transit von Güterwagen zwischen dem in Neukölln gelegenen Güterbahnhof Berlin-Treptow und auf dem Gelände des Görlitzer Bahnhofs verbliebenen Gewerbebetrieben. Dieser Übergang war mit einer Beschaubrücke und zwei flankierenden Wachtürmen gesichert.
Der Streifen zwischen dem Kanal und der Mauer wurde, insbesondere im etwas breiteren Abschnitt zwischen der über den Flutgraben führenden Treptower Brücke und der Bahntrasse, von den mit Grünanlagen damals nicht verwöhnten Kreuzbergern gern zum Sonnenbaden, in den letzten Jahren des Bestehens der Mauer sogar als "wilder Zeltplatz", genutzt.
Der provisorische Fußgängersteg an der Stelle der ehemaligen Wiener Brücke verlor mit dem Mauerbau seine Funktion. Die Balkone der auf dieser Seite der Lohmühlenstraße stehenden Häuser öffneten sich zum Todesstreifen hin bzw. ragten in diesen hinein.
Am Lohmühlenplatz wurde dem Westteil der Stadt 1988 im Rahmen eines Gebietsaustauschs zwischen der DDR und West-Berlin ein Stück des Bezirks abgetreten, was für West-Berliner über die Lohmühlenbrücke eine bessere Zufahrt zum Neuköllner Gebiet um die Harzer Straße ermöglichte.
Am 11. Juni 1962 gelang 55 Ost-Berlinern die Flucht durch einen etwa 75 Meter langen Tunnel, der von einem Lokal an der Ecke Heidelberger/Elsenstraße gegraben worden war. Dieser Tunnel wurde im Oktober 2004 bei Bauarbeiten wiederentdeckt. Auch andere Fluchtwillige nutzten die günstige Lage des schmalen Todesstreifens an der beidseitig bebauten Heidelberger Straße. So gelang am 17. März 1962 eine Flucht mit Hilfe einer Leiter, 1963 wurde bei einem Fluchtversuch mit einem Schützenpanzer der Flüchtende durch Schüsse schwer verletzt. Eine spektakuläre Flucht gelang 1983 über die Bouchéstraße an einem Seil von Haus zu Haus.
Nahe der Kiefholzstraße Ecke Treptower Straße befand sich das zweite, ebenfalls streng bewachte Tor für die Übergabezüge nach Kreuzberg.
Nach dem Mauerfall.
Das Kasernengelände zwischen Elsenstraße und Bouchéstraße wurde 1990 von der Bundeswehr übernommen. In einem Teil der Kaserne wurden Asylsuchende untergebracht. Von 1996 bis 1999 wurden die Gebäude der Kaserne denkmalgerecht saniert, seitdem ist ein Teil des Bundeskriminalamtes und des Verfassungsschutzes dort untergebracht.
Die Hallen der ehemaligen "Landmaschinenfabrik Gebrüder Beermann" dienten noch bis 1993 als Betriebshof für Berliner Omnibuslinien, sie tragen inzwischen den Namen Arena Berlin und werden als Ort für Großveranstaltungen genutzt. Der Industriekomplex Lohmühlen-/Kiefholzstraße südlich der Lohmühleninsel wurde nach 1990 rekonstruiert und steht unter Denkmalschutz. Dort haben sich Firmen aus dem Bereich des Kommunikationsdesigns angesiedelt. 1992 erfolgte die Sanierung des denkmalgeschützten Agfa-Komplexes an der Jordanstraße durch eine private Stiftung.
Der Hafen Treptow ist seit der Wiedervereinigung Berlins Sitz des Schifffahrtsunternehmens "Stern und Kreisschiffahrt", zu DDR-Zeiten "Weiße Flotte".
Die letzten russischen Truppen wurden 1994 im Treptower Park verabschiedet. 1997 wurde der Ortsteil Plänterwald gebildet. Dafür trat Alt-Treptow mehr als zwei Drittel seines Gebietes an diesen Ortsteil ab.
Ebenfalls in den 1990er Jahren wurden die Treptowers anstelle des Hauptgebäudes der "AEG-Elektroapparatewerke Treptow" errichtet, deren höchstes Gebäude mit 17 Stockwerken und 125 Metern Höhe die Traufhöhe der umliegenden Bebauung deutlich übersteigt und damit eine Landmarke in diesem Gebiet darstellt.
Zwischen 2000 und 2003 erhielt der Ortsteil an der Straßenkreuzung Elsenstraße/ Am Treptower Park ein Einkaufscenter ("Park-Center") südlich und das Multiplex-Kino nördlich von Am Treptower Park. Hinter den Gebäudekomplexen blieb die Reservefläche für die Ausfahrt Treptower Park vom 16. Abschnitt der Stadtautobahn A 100 frei, die bei der Fortführung des Autobahnbaus zur Anschlussstelle wird.
Das Museum des Kapitalismus wurde 2014 gegründet.
Verkehr.
Der Bahnhof Treptower Park an der Berliner Ringbahn ist der einzige S-Bahnhof des Ortsteils. Mehrere Buslinien der BVG erschließen Alt-Treptow.
Durch den Nordosten des Ortsteils verläuft die Bundesstraße 96a. Derzeit wird die Berliner Stadtautobahn durch den Ortsteil gebaut, die an der B 96a eine Anschlussstelle erhalten soll. Dazu sind 2015 die letzten Mieter der Beermannstraße 22 und 24 nach langem Protest ausgezogen und die beiden Häuser abgerissen worden.
Persönlichkeiten.
Söhne und Töchter des Ortsteils |
526 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=526 | Berlin-Schöneberg | Schöneberg ist ein Ortsteil im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Schöneberg war bis 1920 eine eigenständige Stadt und geht auf eine mittelalterliche Dorfgründung im Bereich der heutigen Hauptstraße zurück.
Geographie.
Schöneberg ist ein dicht bebauter innerstädtischer Ortsteil von Berlin und liegt am Übergang des Berlin-Warschauer Urstromtals zur Hochfläche des Teltow. Der damit verbundene Anstieg ist an mehreren Stellen im Ortsteil wahrnehmbar, vor allem auf der Hauptstraße zwischen U-Bahnhof Kleistpark und dem Richard-von-Weizsäcker-Platz. Auf Schöneberger Gebiet erstreckt sich außerdem der östliche Ausläufer eines Nebenarms der glazialen Rinne der Grunewaldseenkette, der im Rudolph-Wilde-Park gut sichtbar ist. Im Norden grenzt Schöneberg an den Ortsteil Tiergarten, im Osten an Kreuzberg und Tempelhof, im Süden an Steglitz, im Westen an Friedenau und Wilmersdorf sowie im Nordwesten an Charlottenburg.
Geschichte.
Gründung und Namensherkunft.
Schöneberg wurde wahrscheinlich im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts als breites Straßendorf durch deutsche Siedler gegründet. Der Siedlungskern Schönebergs lag entlang der Hauptstraße zwischen der heutigen Dominicus- und Akazienstraße. Die Dorfkirche Schöneberg lag auf der nördlichen Straßenseite der Dorfmitte. Das Dorf wurde urkundlich erstmals am 3. November 1264 erwähnt, als Markgraf Otto III. dem Nonnenkloster zu Spandau fünf Hufen Land im Dorf Schöneberg („villa sconenberch“) schenkte.
Obwohl Schöneberg auf einer leichten Erhebung am Nordrand des Teltow liegt, geht der Name wahrscheinlich nicht auf diesen „Berg“ zurück, sondern ist ein sogenannter „Wunschname“. Anders als früher dargestellt war die deutsche Ostsiedlung nicht ausschließlich auf einen ostwärts drängenden Bevölkerungsüberschuss zurückzuführen. Um zum Zwecke der Herrschaftsbildung Siedler anzulocken, warben die Lokatoren für die zu gründenden Dörfer u. a. mit Wunschnamen. Typisch sind Ortsnamen mit "Schön-, Licht-, Grün-, Rosen-, Sommer-" und "Reichen-" in vielen Varianten. Eine Namensübertragung vom Heimatort der Zuzügler ist wenig wahrscheinlich, weil die Wunschnamen weit verbreitet waren.
Im Landbuch Karls IV. (1375) wird "Schonenberge"/"Schonenberch"/"Schonenberg" mit 50 Hufen erwähnt, davon zwei Pfarrhufe und eine Kirchenhufe. Der Bürger Reiche "(Ryke/Rike)" aus Alt-Kölln und sein Bruder hatten zehn abgabenfreie Hufe, die sie selbst bewirtschaften, desgleichen der Köllner Bürger "Parys" mit zwölf Hufen. Die Rechte auf Abgaben und Leistungen waren unter zahlreichen Berechtigten stark aufgeteilt. "Parys" hatte offenbar die meisten Rechte. Es gab 13 Kossätenhöfe und einen Krug.
In den Jahren 1591, 1652 und 1721 wurde ein Setzschulze erwähnt, zunächst mit vier, später mit drei Freihufen. 1652 endete die Grundherrschaft des Spandauer Nonnenklosters.
Schöneberg von 1700 bis 1870.
Um 1750 ließ Friedrich II. entgegen dem Willen der Schöneberger direkt anschließend an Schöneberg ein zweites Dorf für die Ansiedlung böhmischer Weber errichten. Dieses wurde "Neu-Schöneberg" genannt und erstreckte sich an der Hauptstraße bis zur heutigen Grunewaldstraße. Erst als im Siebenjährigen Krieg am 7. Oktober 1760 abziehende russische Truppen Schöneberg niederbrannten, kamen sich deutsche und böhmische Schöneberger näher, als zum Überleben nachbarschaftliche Hilfe notwendig war. Aber erst 1874 erfolgt unter Gemeindevorsteher Adolf Feurig der Zusammenschluss von Alt- und Neu-Schöneberg zu einer Gemeinde.
"Das große Feld" war ein Gebiet östlich der heutigen Naumannstraße, auf dem Schöneberger Bauern Kartoffeln und Getreide anbauten. Es wurde 1828 vom preußischen Militär aufgekauft. 1830 wurde eine Pferderennbahn erbaut, die aber schon 1841 dem Eisenbahnbau weichen musste.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Stadt Berlin über ihre Grenzen in das Schöneberger Gebiet hinein. Trotz Protesten Schönebergs wurde auf Anordnung des Königs Wilhelm I. das Gebiet bis zum südlichen Ende der Potsdamer Straße zum 1. Januar 1861 nach Berlin eingemeindet und bildete dort fortan die "Schöneberger Vorstadt". Die Einwohnerzahl Schönebergs sank durch diese Maßnahme von über 8.000 auf 2.700.
Schöneberg im Kaiserreich.
Nach der Reichsgründung im Jahr 1871 stieg die Einwohnerzahl Schönebergs rasant an: 1871 waren es 4.555, im Jahr 1900 bereits 95.998 und im Jahr 1919 schon 175.093 Einwohner. Viele der ehemaligen Schöneberger Bauern wurden reich, indem sie ihre Felder in begehrtes Bauland umwandelten und verkauften. Man nannte sie die „Millionenbauern“. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde so aus einem märkischen Dorf eine Großstadt.
Am 1. April 1898 bekam Schöneberg die lange ersehnten Stadtrechte verliehen. Exakt ein Jahr später schied es als Stadtkreis aus dem Landkreis Teltow aus. 1898 wurde Rudolph Wilde Bürgermeister (seit 1902 Oberbürgermeister). Unter Wilde gab es erste Planungen für den Bau des Schöneberger Rathauses auf der trockenen Fläche des Mühlenberges neben einem sumpfigen Fenn, das einige Jahre zuvor trockengelegt und zum „Stadtpark“ umgestaltet wurde. Zur Trockenlegung verwendeten die Ingenieure den Aushub aus den Baugruben der Schöneberger Untergrundbahn. Sie verlief als erste kommunale U-Bahn überhaupt mit fünf Stationen zwischen Nollendorf- und Innsbrucker Platz. Damit war Schöneberg nach Berlin die zweite Stadt in Deutschland mit einer U-Bahn. Die U-Bahn sollte die rasant wachsende Stadt und das gezielt für ein großbürgerliches Publikum konzipierte Bayerische Viertel vernetzen und die Attraktivität Schönebergs erhöhen. Sie wurde im Todesjahr Wildes 1910 fertiggestellt. Unter Wildes Nachfolger Alexander Dominicus kam 1914 der Rathausbau zum Abschluss, nachdem bereits zwei Jahre zuvor der Stadtpark fertiggestellt war. Der Rathausvorplatz bekam den Namen "Rudolph-Wilde-Platz".
Nach Entwürfen des langjährigen Stadtbaurats Paul Egeling und des Stadtbaurats Friedrich Gerlach entstanden zwischen 1895 und 1914 weitere bedeutende Bauten, darunter zahlreiche Schulen, Feuerwachen und Verwaltungsgebäude sowie das 1906 eröffnete Auguste-Viktoria-Krankenhaus (AVK).
Im November 1910 wurde der Berliner Sportpalast des Architekten Hermann Dernburg an der Potsdamer Straße eröffnet, in dem ab 1911 die Sechstagerennen stattfanden. Die Halle wurde 1973 abgerissen.
Stadt Berlin-Schöneberg.
Einen ersten Teil der Selbstverwaltungsrechte verlor Schöneberg wieder am 1. April 1912 mit der Einführung des Zweckverbandes Groß-Berlin, dessen Aufgabe die einheitliche Entwicklung von Verkehr, Bebauung und Erholungsfläche in seinem Gebiet war. Von 1912 bis 1920 lautete der amtliche Name der Stadt "Berlin-Schöneberg."
Zwischen den Weltkriegen.
Mit der Bildung von Groß-Berlin am 1. Oktober 1920 verlor Schöneberg seine Selbstständigkeit und bildete von da an gemeinsam mit Friedenau den 11. Berliner Verwaltungsbezirk „Schöneberg“. Die Berliner Gebietsreform mit Wirkung zum 1. April 1938 hatte zahlreiche Begradigungen der Bezirksgrenzen sowie einige größere Gebietsänderungen zur Folge. Das gesamte Gebiet südlich der Kurfürstenstraße gehörte nun wieder – wie schon bis 1861 – zu Schöneberg. Gleichzeitig wurde auch das bis dahin zu Charlottenburg gehörende Gebiet zwischen dem Nollendorfplatz und der Nürnberger Straße in den Bezirk Schöneberg eingegliedert. Von dem Schöneberger Gebiet östlich der Anhalter Bahn kam der Teil nördlich der Ringbahn, der seinerzeit bis etwa zur Gontermannstraße reichte, 1938 zu Tempelhof.
Zweiter Weltkrieg.
Durch die alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg wurden insbesondere der Norden und der Westen Schönebergs stark zerstört; rund ein Drittel des gesamten Wohnungsbestandes ging verloren. Historische Bekanntheit erlangte die berüchtigte Sportpalastrede von Propagandaminister Goebbels am 18. Februar 1943. In der Schlacht um Berlin wurde Schöneberg in den letzten Apriltagen 1945 von Truppen der Roten Armee eingenommen.
Nachkriegszeit.
Schöneberg gehörte von 1945 bis 1990 zum amerikanischen Sektor von Berlin. Im Rathaus Schöneberg hatten während der Teilung Berlins das Berliner Abgeordnetenhaus und der Senat von West-Berlin ihren Sitz. Im Rathaus-Turm befindet sich die Freiheitsglocke, die von gesammelten Spenden der Zivilbevölkerung der USA für die Berliner gestiftet wurde. Das Rathaus, der "Rudolph-Wilde-Platz" und die darauf zulaufenden Straßen waren der Ort vieler Kundgebungen und des Staatsbesuches des US-Präsidenten John F. Kennedy. Dort hielt er am 26. Juni 1963 seine Rede mit dem berühmten Zitat „Ich bin ein Berliner“. Zu seinen Ehren wurde der "Rudolph-Wilde-Platz" im selben Jahr in ‚John-F.-Kennedy-Platz‘ umbenannt; der Stadtpark erhielt daraufhin den Namen Rudolph-Wilde-Park.
Der Alliierte Kontrollrat für ganz Deutschland hatte seinen Sitz im Gebäude des Kammergerichts im Heinrich-von-Kleist-Park. Vom 8. Mai 1945 bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 war dieser Kontrollrat die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Später war dort die „Alliierte Luftsicherheitszentrale“ untergebracht. Seit der deutschen Wiedervereinigung wird das Gebäude wieder für die höchsten Gerichte Berlins genutzt.
Seit 1946 wurden aus Schöneberg die Rundfunkprogramme des RIAS Berlin (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) gesendet. Zunächst als Drahtfunk aus dem Telegrafenamt in der Winterfeldtstraße, ab 1948 aus dem Funkhaus in der Kufsteiner Straße 69 am heutigen Hans-Rosenthal-Platz in der Nähe des Rudolph-Wilde-Parks. Bis 1990 war diese Informationsquelle für die DDR-Bevölkerung von großer Bedeutung und die Adresse sehr bekannt. Heute wird dort das Programm von Deutschlandradio Kultur produziert. Das Haus mit dem denkmalgeschützten „RIAS“-Schriftzug ist weit sichtbar.
Bis 1959 befand sich an der Badenschen Straße in unmittelbarer Nähe zum Rathaus Schöneberg die Deutsche Hochschule für Politik, die jedoch mit ihrer Integration in das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin nach Dahlem zog. Seit 1971 hat die neu gegründete Fachhochschule für Wirtschaft Berlin dort ihren Hauptsitz.
Bis 1966 wurden mehr als 22.000 Wohnungen neu errichtet. Ende der 1970er Jahre sollten viele Altbauten entlang der Berlin-Potsdamer Eisenbahn dem geplanten Weiterbau der Westtangente weichen, was durch das Engagement der Anwohner verhindert werden konnte. Anfang der 1980er Jahre war die Gegend um den Winterfeldtplatz und die Potsdamer Straße einer der Hauptschauplätze der Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und der Berliner Polizei.
Zwischen 1920 und Ende 2000 gab es einen eigenständigen Bezirk Schöneberg, der neben dem namensgebenden Ortsteil noch den Ortsteil Friedenau umfasste. Der Bezirk Schöneberg wurde am 1. Januar 2001 im Rahmen einer Verwaltungsreform mit dem damaligen Bezirk Tempelhof fusioniert. Da der Bezirk Tempelhof mehr Einwohner und eine größere Fläche als der Bezirk Schöneberg hatte, wurde Tempelhof bei der Wahl des Namens für den neu formierten Bezirk Tempelhof-Schöneberg an die erste Stelle des Namens gestellt.
Bevölkerung.
Quelle: "Statistischer Bericht A I 5. Einwohnerregisterstatistik Berlin. Bestand – Grunddaten. 31. Dezember." Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (jeweilige Jahre)
Sehenswürdigkeiten.
Stadtquartiere.
Schöneberg beheimatet mehrere Stadtquartiere und Ortslagen mit einer spezifischen Charakteristik oder Geschichte:
Südöstliche City West.
In dem großstädtisch geprägten Quartier um den Wittenbergplatz und die Tauentzienstraße im Schöneberger Nordwesten dominiert der gehobene Einzelhandel, besonders in der Tauentzienstraße, mit zahlreichen Label-Stores und dem KaDeWe als deutschlandweit führendem Kaufhaus. Das Gebiet ist (ebenso wie die angrenzenden Teile von Tiergarten und Charlottenburg) Teil der Berliner City West. Der größte Teil der City West gehört allerdings zu Charlottenburg-Wilmersdorf.
Die Bezeichnungen ‚Wittenbergplatz‘ und ‚Tauentzienstraße‘ erinnern an die Schlacht von Wittenberg unter General von Tauentzien während der napoleonischen Befreiungskriege.
Erst mit der Berliner Gebietsreform zum 1. April 1938 wurde die Gegend um das KaDeWe zwischen Nürnberger Straße und Nollendorfplatz dem damaligen Bezirk Schöneberg zugeordnet. Vorher hatte sie zum Bezirk Charlottenburg gehört. Grund hierfür war eine Begradigung zahlreicher Bezirksgrenzen innerhalb Berlins.
Bayerisches Viertel.
Im Schöneberger Westen liegt das Bayerische Viertel. Es wurde während der Amtszeit des Schöneberger Oberbürgermeisters Rudolph Wilde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erbaut. Schöneberg überließ die Entwicklung des Bayerischen Viertels der Berlinischen Bodengesellschaft, die 1890 von dem Unternehmer Salomon Haberland und seinem Sohn Georg gegründet wurde. In seinem Ursprungszustand prägten elegante Fassaden im süddeutschen Renaissancestil das Viertel, dessen Straßen teilweise nach bayerischen Städten benannt sind. Viele prominente Persönlichkeiten wie Albert Einstein lebten hier. Aufgrund seines hohen jüdischen Bevölkerungsanteils wurde das Bayerische Viertel auch „Jüdische Schweiz“ genannt. An die Verfolgung der Berliner Juden in der Zeit des Nationalsozialismus erinnert das Denkmal "Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel", das seit 1993 an 80 Straßenbeleuchtungsmasten installiert ist. Das Bayerische Viertel wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und ist größtenteils im typischen Baustil der 1950er Jahre wiederaufgebaut worden.
Kielgan-Viertel.
Das heute nur noch rudimentär erkennbare Kielgan-Viertel nördlich des Nollendorfplatzes war geprägt durch mehrere kleine Stichstraßen und eine Bebauung mit Landhäusern und Stadtvillen. Nach starken Kriegszerstörungen sind heute nur noch wenige der originalen Bauten erhalten, darunter die Villa Ahornstraße 4, in der sich die Botschaft von Kroatien befindet.
Nollendorfkiez.
Im Nollendorfkiez um die Fuggerstraße, die Motzstraße und den Nollendorfplatz befinden sich zahlreiche Kneipen, Bars und Läden, die sich überwiegend an ein homosexuelles Publikum richten. Jährlich am dritten Wochenende im Juli findet in diesem Teil Berlins das homosexuelle „Motzstraßenfest“ statt, das mit einer Mischung aus Informationsständen gleichgeschlechtlicher Gruppen, Show-Bühnen sowie Imbiss- und Verkaufsbuden mittlerweile tausende Besucher anzieht und sich zu einer Touristenattraktion entwickelt hat.
Die Gegend galt bereits in den Goldenen Zwanzigern als sogenanntes "Schwulenviertel", eine Ortsteilgegend, die über eine dichte Infrastruktur und kulturelles Angebot für homo- und transsexuelle Menschen verfügt und auf diese Weise einen diskriminierungsarmen Raum für queere Menschen bieten soll. Einer der ersten Zeitzeugenberichte hierzu ist der autobiografische Roman "Leb wohl, Berlin" des britischen Autors Christopher Isherwood, der zweieinhalb Jahre in der Nollendorfstraße 17 wohnte, wo ein Großteil der Handlung des Buches spielt. Der Roman war unter anderem Vorlage für das Musical "Cabaret".
Die Gegend ist geprägt von teilweise komplett erhaltenen Straßenzügen der Gründerzeit und kaiserzeitlichen Schmuckplätzen, wie dem Winterfeldtplatz oder dem Viktoria-Luise-Platz.
Hauptstraße und Akazienkiez.
Der Bereich der Hauptstraße zwischen Dominicusstraße und Grunewaldstraße ist der Bereich des ehemaligen Dorfes Schöneberg. Der dörfliche Charakter ist kaum noch erkennbar. An das ehemalige Dorf erinnern allerdings noch einige Häuser und insbesondere die Dorfkirche Schöneberg.
Im Bereich des einstigen Dorfes Alt-Schöneberg fällt die große Konzentration von Kirchen und kirchlichen Gemeindezentren auf. Unmittelbar neben der evangelischen Dorfkirche befindet sich die ebenfalls evangelische Paul-Gerhardt-Kirche, dahinter wiederum (zur Dominicusstraße ausgerichtet) die katholische Kirche St. Norbert. Auf der anderen Seite der Hauptstraße angesiedelt ist das Gemeindezentrum der Baptisten Schöneberg sowie Gebäude der von den Baptisten Schöneberg getragenen Immanuel Diakonie. Die Gemeinden der genannten Kirchen arbeiten im Rahmen der "Kleinen Ökumene Schöneberg" zusammen.
Die Hauptstraße ist – ebenso wie die Potsdamer Straße – eine stark befahrene Einkaufsstraße. Ein Schwerpunkt des Einkaufens liegt im Bereich des Richard-von-Weizsäcker-Platzes. Er wurde 2007 umgestaltet und mit einem neuen Brunnen ausgestattet. Auf dem Platz steht eine Gedenktafel für die Opfer der Konzentrationslager mit dem Titel „Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen“ sowie den Namen von zwölf Konzentrationslagern.
Der "Akazienkiez" rund um die von der Hauptstraße abzweigende Akazienstraße mit der Belziger Straße ist ein Kiez mit leicht alternativem Flair und vielen kleinen Läden, Kneipen und Cafés.
Zusammen mit der sich nördlich anschließenden Goltzstraße und dem nördlich angrenzenden Winterfeldtplatz (mit dem großen Wochenmarkt) bildet der Akazienkiez dazu mit vielen Cafés und Kneipen sowie Kunsthandwerksbetrieben ein sehr vitales Gegenstück. Dieses Kiezzentrum reicht in östlicher Richtung über den Richard-von-Weizsäcker-Platz bis zur Roten Insel.
Potsdamer Straße.
Die Stadtquartiere beiderseits der Potsdamer Straße gehören bis 1920 zur ehemaligen Schöneberger Vorstadt von Berlin. Der Bereich der Schöneberger Vorstadt südlich der Kurfürstenstraße ist Teil des Ortsteils Schöneberg.
Während der Teilung Berlins, insbesondere seit dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961, hat der Schöneberger Abschnitt der Potsdamer Straße als Einkaufsstraße an Bedeutung verloren. Gewerbetreibende der einstmals bedeutenden und in der Nachkriegszeit immer unattraktiver gewordenen Potsdamer Straße bemühen sich, das Image als Einkaufsstraße zu verbessern.
Im Haus Potsdamer Straße 188–192 befand sich bis Ende August 2008 die Hauptverwaltung der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG).
Rote Insel.
Die Rote Insel hat sich – eingeschlossen von mehreren Bahnstrecken – im Schöneberger Osten herausgebildet und weist traditionell eine politisch „rote“ – also eine eher linke – Orientierung seiner Arbeiterbevölkerung auf. Die frühere Wohnbevölkerung der 1930er und 1940er Jahre leistete zum Teil erheblichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Baugeschichtliche Bedeutung haben die Königin-Luise-Gedächtniskirche von 1912 und der markante Schöneberger Gasometer. Das Industriedenkmal auf dem heutigen EUREF-Campus überragt als architektonische Landmarke die gesamte Rote Insel.
Der Alte Zwölf-Apostel-Kirchhof gehört zu den kunst- und kulturgeschichtlich bedeutendsten Begräbnisplätzen Berlins und ist unter anderem letzte Ruhestätte für Friedrich von Falz-Fein, dem Gründer des heute noch bestehenden Naturreservats Askanija-Nowa in der Ukraine.
Der 2012 eröffnete Ost-West-Grünzug mit dem zentralen Alfred-Lion-Steg bindet die Insel über die Gleisanlagen hinweg an Tempelhof und die Schöneberger Schleife an den Park am Gleisdreieck an.
Dominicusstraße.
An der Martin-Luther- und der Dominicusstraße dominiert rund um den John-F.-Kennedy-Platz die öffentliche Verwaltung mit dem Bezirksamt, den Senatsverwaltungen für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie Justiz (Nordsternhaus), am Heinrich-von-Kleist-Park, Landesverfassungsgericht und Kammergericht.
Sachsendamm / Schöneberger Linse.
Dieser Bereich umfasst das Areal zwischen Wannseebahn und der Ortsteilgrenze zu Tempelhof sowie zwischen der Ringbahn und dem südlichen Stadtring einschließlich des Autobahnkreuzes Schöneberg. Das Gelände wird von Gewerbegebieten und Verkehrstrassen dominiert. Der Sachsendamm durchzieht das Gebiet als dominante Straße. Der Teilbereich nördlich des Sachsendamms wird auch „Schöneberger Linse“ genannt. Er bezeichnet das Gebiet der sich erweiternden und wieder schließenden Trassenführung der Ringbahn und des Sachsendamms.
Gewerbegebiete befinden sich in der Alboinstraße, am Werdauer Weg, an der Naumannstraße und mit "Möbel Höffner" auf dem Gelände des ehemaligen Radstadions. Auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk Berlin-Tempelhof (RAW Tempelhof) wurden große Filialen von "Bauhaus" und "Ikea" angesiedelt. Fördernd für die Erschließung des Gebietes der „Schöneberger Linse“ ist der 2006 eröffnete Bahnhof Südkreuz, ehemals "Bahnhof Papestraße", sowie die Gründung einer Interessengemeinschaft der Grundstückseigentümer der „Schöneberger Linse“.
Siedlung Ceciliengärten.
Beispielhaften Städtebau kann man in den Ceciliengärten anhand des – in den 1920er Jahren entstandenen und inzwischen denkmalgeschützten – Stadtquartiers begutachten. Der Fassadenschmuck der Gebäude mit den lebensnahen Darstellungen von kindlichem Alltag und dem seinerzeit modernen Verkehr sowie die Formensprache der Türgestaltungen machen die Ceciliengärten zu einem öffentlichen Freilichtmuseum des Art déco. Der als Gartenbaudenkmal ausgewiesene zentrale Platz mit dem großen Fontänen-Springbrunnen, dem kleinen "Fuchsbrunnen" von Max Esser und den zwei Frauenstandbildern "Der Morgen" und "Der Abend" des Künstlers Georg Kolbe vervollständigen die Anlage. Die im April und Mai jeden Jahres rosafarben blühenden japanischen Kirschbäume bilden ein ansehnliches Blütendach über der Straße und machen der stadtbekannten Britzer Baumblüte Konkurrenz.
Quartier um den Grazer Platz.
Das Quartier um den Grazer Platz zwischen den Trassen der S-Bahn-Linien S1 (Wannseebahn) und S2 (Anhalter Bahn), sowie zwischen dem Autobahn-Stadtring und der südwestlichen Ortsteilgrenze von Schöneberg ist überwiegend ein Wohngebiet. Direkt am Grazer Platz und am Grazer Damm ist eine Siedlung aus der Zeit des Nationalsozialismus erhalten. Westlich davon befindet sich Mietwohnungsbau aus der Gründerzeit, östlich der Siedlung Grazer Damm ist ein ausgedehntes Kleingartengebiet. Im südlichsten Zipfel des Bereichs nahe dem S-Bahnhof Priesterweg befindet sich die Grünanlage des Insulaner mit Planetarium und Sternwarte.
Südgelände.
Für das Schöneberger Südgelände zwischen dem Sachsendamm und der Grenze zum Ortsteil Steglitz existierten bereits zur Kaiserzeit Pläne für eine umfangreiche Bebauung. Diese wurden jedoch nicht realisiert; es wurde 1928 lediglich der S-Bahnhof Priesterweg fertiggestellt. Auf den unbebauten Flächen des Südgeländes entstand das bis heute größte zusammenhängende Kleingartengelände Berlins. Am westlichen Rand des Südgeländes entstand Ende der 1930er Jahre die Siedlung am Grazer Damm, ein Beispiel für die Wohnungsbauarchitektur während der Zeit des Nationalsozialismus. Im Osten des Südgeländes erstreckten sich die weitläufigen Anlagen des Rangierbahnhofs Tempelhof entlang der Anhalter und Dresdener Bahn. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein großer Teil der Bahnanlagen stillgelegt und allmählich von der Natur zurückerobert. Auf diesen Flächen befindet sich heute der Natur-Park Schöneberger Südgelände. Direkt westlich der S-Bahn-Strecke Südkreuz – Priesterweg liegt der Hans-Baluschek-Park.
Im Westen liegt der sogenannte "Dürerkiez", auch "Malerviertel" genannt, der fälschlicherweise selbst von den hiesigen Medien oft dem benachbarten Friedenau zugeordnet wird, wie etwa bei der Berichterstattung um die hier lebende Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Dies liegt vermutlich vor allem daran, dass sich hier der S-Bahnhof Friedenau befindet und der eigentliche Ortsteil Friedenau erst einige Straßen weiter westlich beginnt. Hier herrscht eine großzügige bürgerliche Bebauung der Wende zum 20. Jahrhundert vor.
Südlich des Prellerweges liegt der Insulaner, ein in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aufgeschütteter Trümmerberg. An seinem Fuße befindet sich das 1965 eröffnete Planetarium am Insulaner sowie das „Sommerbad am Insulaner“ und auf seinem Gipfel die 1963 eröffnete Wilhelm-Foerster-Sternwarte.
Siedlung Lindenhof.
Die Siedlung Lindenhof im äußersten Südosten Schönebergs ist ein Beispiel für den genossenschaftlichen Wohnungsbau der 1920er Jahre. Ihr Bau wurde durch den sozialdemokratischen Schöneberger Stadtbaurat Martin Wagner maßgeblich vorangetrieben. Die Siedlung sollte das Konzept der genossenschaftlichen Selbsthilfe mit städtebaulichen Anleihen aus der Gartenstadtidee verbinden. Die Martin-Wagner-Brücke über den Lindenhofsee ist die einzige Schöneberger Brücke, die über ein Gewässer führt. In der Nachbarschaft der Siedlung liegen das Gartendenkmal Alboinplatz und der II. Städtische Friedhof Eythstraße.
Wirtschaft und Infrastruktur.
Wirtschaft.
Im Ortsteil dominieren kleine und mittlere Unternehmen in den Bereichen Handel, Dienstleistungen sowie der Gastronomie und Hotellerie.
Verkehr.
Eisenbahn.
Mit dem 2006 eröffneten Bahnhof Südkreuz hat Schöneberg eine direkte Anbindung an den Fern- und Regionalverkehr der Deutschen Bahn. Der Bahnhof wird unter anderem von der ICE-Linie Hamburg – Berlin – Leipzig – München bedient.
S-Bahn.
Schöneberg wird von der Wannseebahn (Linie S1), der Dresdener Vorortbahn (Linie S2), der Anhalter Vorortbahn (Linien S25 und S26) sowie der Berliner Ringbahn (Linien S41, S42, S45 und S46) bedient. Wichtige Knotenpunkte sind die S-Bahnhöfe Schöneberg und Südkreuz. Insgesamt liegen sieben Haltestellen im Ortsteil. Im Zuge der neuen S-Bahn-Linie S21 soll Schöneberg ca. 2030 eine direkte S-Bahn-Anbindung zum Hauptbahnhof erhalten, die derzeit nur durch den Regionalverkehr ermöglicht wird.
U-Bahn.
Schöneberg wird von den U-Bahn-Linien U1, U2, U3, U4 und U7 bedient. Wichtige Knotenpunkte und auch von besonderer architektonischer Bedeutung sind die U-Bahnhöfe Wittenbergplatz und Nollendorfplatz. Östlich des Nollendorfplatzes verläuft die U-Bahn-Linie U2 als Hochbahn. Die dadurch erforderlich gewordene Hausdurchfahrt am Dennewitzplatz war bis zur Zerstörung des „durchfahrenen“ Hauses im Zweiten Weltkrieg ein vielbeachtetes Kuriosum. Die Linie U4, hervorgegangen aus der Schöneberger Untergrundbahn, liegt vollständig auf Schöneberger Gebiet. Eine Besonderheit bildet der U-Bahnhof Rathaus Schöneberg, der oberirdisch liegt und Fenster zum Rudolph-Wilde-Park hat.
Individualverkehr.
Die Stadtautobahnen A 100 (Stadtring) und A 103 (Westtangente) sind im Autobahnkreuz Schöneberg miteinander verbunden. Die A 100 unterquert westlich des Autobahnkreuzes in einem 270 Meter langen Tunnel den Innsbrucker Platz. Weitere wichtige Verkehrsachsen sind der sogenannte „Generalszug“ Tauentzienstraße – Kleiststraße – Bülowstraße, der Straßenzug An der Urania – Martin-Luther-Straße – Dominicusstraße – Sachsendamm sowie die Bundesstraße 1 auf dem Straßenzug Potsdamer Straße – Hauptstraße (– Dominicusstraße – A 103).
Der Hobrechtplan sah ursprünglich eine gradlinige Weiterführung der Bülowstraße in Richtung Osten vor. Die Eisenbahnanlagen auf dem Gleisdreieck-Gelände dehnten sich jedoch so schnell aus, dass der „Generalszug“ nach Süden verschoben werden musste, um das Bahngelände unter den Yorckbrücken durchqueren zu können. Die so entstandene Kurve der Bülowstraße, der „Bülowbogen“, gab der ARD-Fernsehserie "Praxis Bülowbogen" ihren Namen.
Die Aufweitung und der überbreite Grünstreifen im Kreuzungsbereich An der Urania/Lietzenburger Straße gehen auf mittlerweile aufgegebene Pläne für eine autobahnähnliche Hochstraße zurück. Im Rahmen des „Planwerks Innenstadt“ gibt es Überlegungen, diesen Bereich umzugestalten. Weitere Relikte der Verkehrsplanung der Nachkriegszeit findet man in der Hohenstaufenstraße und Pallasstraße. Dieser Straßenzug sollte nach einer mittlerweile aufgegebenen Planung durchgehend mehrstreifig ausgebaut werden. Zu diesem Zweck sollte auch das Haus Hohenstaufenstraße 22 abgerissen werden; es steht jedoch bis heute auf der geplanten Trasse der Hohenstaufenstraße und muss engkurvig umfahren werden. Von den unvollendeten Ausbauplänen für die Pallasstraße zeugt auch die vom Straßenverkehr nicht benutzte nördliche Unterfahrung des Pallasseums.
Sport.
Der in Schöneberg ansässige Fußballverein FC Internationale Berlin wendet sich gegen die Kommerzialisierung des Fußballspiels. |
529 | 43892 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=529 | Brian Eno | Brian Peter George St. John le Baptiste de la Salle Eno (* 15. Mai 1948 in Woodbridge, Suffolk) ist ein britischer Musiker, Musikproduzent, Musiktheoretiker und bildender Künstler. Er gilt als Innovator in vielen Bereichen der Musik.
Leben.
Ausbildung.
Eno besuchte das St. Joseph’s College, Birkfield, Ipswich, die Ipswich Art School und die Winchester School of Art, die er 1969 abschloss. In der Kunstschule begann er damit, Kassettenrekorder als Musikinstrumente zu benutzen und spielte zum ersten Mal in Bands. Dazu wurde er von einem seiner Lehrer, dem Maler Tom Phillips, ermutigt. Dieser vermittelte ihm auch den Kontakt zu Cornelius Cardews "Scratch Orchestra". Die erste veröffentlichte Aufnahme, an der Eno beteiligt war, entstand für die Deutsche Grammophon, die Cardews "The Great Learning" herausbrachte (aufgenommen 1971).
Die 1970er und 1980er Jahre.
Eno begann seine Karriere 1971 als Mitbegründer von Roxy Music, für die der selbsternannte „Nicht-Musiker“ Keyboards und Synthesizer spielte. Besonders auffällig war seine an den Glam-Rock-Chic angelehnte campige Aufmachung mit Federboa, Plateauschuhen und Glitzertüchern, die er mit exaltierten Bewegungen auf der Bühne kombinierte. Nach dem zweiten Album "For Your Pleasure" 1973 stieg er bei Roxy Music wieder aus.
Zu dieser Zeit war Eno Mitglied der Portsmouth Sinfonia, einem ironisch-ernsthaften Projekt, bei dem Nichtmusiker Instrumente spielten und Musiker Instrumente, die sie nicht beherrschten. Eno spielte dort Klarinette.
Enos Soloalben von 1973 bis 1977 ("Here Come the Warm Jets", "Taking Tiger Mountain (By Strategy)", "Another Green World" und "Before and After Science") zeigen ihn als experimentierfreudigen und innovativen Popmusiker, der beinahe keine Grenzen außerhalb seiner jungenhaften Stimme kennt.
Die Erfindung der Ambient-Musik.
1975 wurde Eno auf dem Weg vom Studio nach Hause von einem Taxi angefahren und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Ihm wurden starke Schmerzmittel verabreicht. Später besuchte ihn eine Freundin und brachte einen Schallplattenspieler und eine LP mit Harfenmusik ins Krankenhaus. Da er die Musik nur leise hören konnte und es draußen regnete, vermischte sich die Musik mit der Geräuschkulisse von Regen und Krankenhaus.
Mit seinen ersten Ambient-Arbeiten popularisierte er eine von Robert Fripp entwickelte und als Frippertronics bezeichnete Methode zur Klangerzeugung, mittels der Tonband-Aufnahmen diverser Musiker, vor allem aus der Minimal-Music-Szene, modifiziert wurden. Bei der Klangerzeugung mittels "Frippertronics" werden zwei Tonbandgeräte in einem Rückkopplungssystem wie ein Bandecho miteinander verbunden, wobei die Entfernung der Maschinen zueinander die Frequenz des Echoimpulses bestimmt. Zusammen mit Fripp veröffentlichte Eno die Alben "(No Pussyfooting)" (1973) und "Evening Star" (1975). Mit "Ambient 1: Music for Airports" (1978), die angeblich durch ein negatives Hörerlebnis am Flughafen Köln/Bonn inspiriert wurde, hat er den Ambient getauft und fortan geprägt. Viele seiner Arbeiten bis heute können dem "Ambient" zugeordnet werden.
Kollaborationen.
Eno arbeitete als Musiker und Produzent mit verschiedenen anderen Künstlern. So ist er auf der „Berlin-Trilogie“ – "Low" (1977), "Heroes" (1977) und "Lodger" (1979) – von David Bowie zu hören und ist hier u. a. Co-Autor des Songs "“Heroes”". 1978 produzierte er Devos "Q: Are We Not Men? A: We Are Devo" und die legendäre Kompilation der New-Yorker No-Wave-Szene, No New York. Er produzierte drei Alben der Talking Heads: "More Songs About Buildings and Food" (1978), "Fear of Music" (1979) und "Remain in Light" (1980) als Höhepunkt. Sein Album mit David Byrne (Talking Heads) mit dem Titel "My Life in the Bush of Ghosts" von 1981 ist eines der ersten Nicht-Rap-/Hip-Hop-Alben, das umfangreiches Sampling enthält.
Im Jahr 1984 produzierte er U2s "The Unforgettable Fire" und arbeitete später weiter für die Band als Produzent von "The Joshua Tree" (1987), "Achtung Baby" (1991), "Zooropa" (1993), "All That You Can’t Leave Behind" (2000) und "No Line on the Horizon" (2009). 1990 veröffentlichte er gemeinsam mit John Cale das poporientierte Album "Wrong Way Up".
Die 1990er Jahre.
In den 1990er Jahren produzierte Eno so unterschiedliche Künstler wie den Real-World-Künstler Geoffrey Oryema bis zur Band James, ebenso die Sängerin Jane Siberry und die Performance-Künstlerin Laurie Anderson, mit der er auch die Ausstellung "Self Storage" (1995) gestaltete. 1994/1995 arbeitete Eno wieder mit David Bowie zusammen, dieses Mal an dessen Album "1. Outside". Seit dieser Zeit ist Eno auch "Visiting Professor" am Londoner Royal College of Art.
1994 wurde Eno von Entwicklern des Microsoft-Chicago-Projekts gebeten, die Startmelodie für Windows 95 zu komponieren. Dies geschah ironischerweise auf seinem Apple Macintosh. Im Jahr 1996 gehörte Brian Eno zu den Gründern der Long Now Foundation, die ein Bewusstsein für die Bedeutung langfristigen Denkens fördern will. Er trat 1998 eine Honorarprofessur an der Berliner Universität der Künste an. Im August des gleichen Jahres trat Eno anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung "Brian Eno: Future Light – Lounge Proposal" in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland zweimal auf, und beide Auftritte wurden per Webcast live übertragen.
Die 2000er Jahre.
Brian Eno gründete Anfang 2004 gemeinsam mit Peter Gabriel "MUDDA", die Musikergewerkschaft "Magnificent Union of Digitally Downloading Artists".
Er ist außerdem Co-Produzent des 2006 erschienenen Albums "Surprise" von Paul Simon. 2006 veröffentlichte Brian Eno die DVD "77 Million Paintings," die mit einem generativen Computerprogramm erstellt wurde. Er nutzte den Computer, um – basierend auf realen Gemälden – 77 Millionen visuelle Darstellungen als „Originale“ mittels Überblendungen zu generieren und kombinierte diese mit aus Sound-Layern generierter Musik.
Als Produzent begann er 2006 seine Arbeit am vierten Album "Viva la Vida or Death and All His Friends" der Band Coldplay, das von Eno zusammen mit Markus Dravs und Rik Simpson produziert wurde und im Frühjahr 2008 erschien. U2 teilten Anfang Juni 2007 auf ihrer offiziellen Website mit, dass sich Eno zusammen mit Daniel Lanois zur Aufnahme eines neuen U2-Albums im Studio in Marokko eingefunden habe. Das aus dieser Zusammenarbeit entstandene Album "No Line on the Horizon" wurde im Februar 2009 veröffentlicht.
2006 gestaltete Eno exklusiv für Nokia die Klingel- und Signaltöne des Mobiltelefons "8800 Sirocco Edition". Zusammen mit dem Musiker und Software-Designer Peter Chilvers entwickelte er die beiden Programme "Bloom" und "Trope" für das iPhone. Beide Programme sowie das von Chilvers auf Basis von Enos Ideen entwickelte "Air" erzeugen zufallsbasierte unendliche Musikstücke wie bereits "77 Million Paintings".
Im selben Jahr schrieb er die Filmmusik zu dem Dokumentarfilm "The Pervert’s Guide to Cinema" von Sophie Fiennes über den Philosophen und Psychotherapeuten Slavoj Žižek.
Im Mai und Juni 2009 gestaltete er das zweite "Sound and Light Festival" in dessen Rahmen unter anderem das Sydney Opera House angestrahlt wurde. 2009 lieferte er den Soundtrack zu Peter Jacksons Film "In meinem Himmel" (The Lovely Bones). 2010 veröffentlichte die Indietronic-Band MGMT ein Musikstück mit dem Titel "Brian Eno".
Im November 2010 erschien Enos Album "Small Craft on a Milk Sea" bei Warp Records. Anfang Juli 2011 erschien das in Zusammenarbeit mit dem britischen Dichter Rick Holland entstandene Album "Drums Between the Bells" ebenfalls bei Warp.
Peter Gabriel coverte auf dem 2010 erschienenen Studioalbum mit dem Namen "Scratch My Back" das Lied "Heroes" von David Bowie und Brian Eno in einer orchestralen Fassung. Bowie lehnte es jedoch ab, an dem später im Jahr 2013 erschienenen Kompilations-Album des Folgeprojektes "And I’ll Scratch Yours" teilzunehmen. Stattdessen steuerte sein Co-Autor Brian Eno einen Beitrag bei und coverte das Lied "Mother of Violence" von Peter Gabriel.
Im November 2012, wiederum bei Warp, erschien mit dem Album "Lux" Brian Enos erstes Solowerk nach sieben Jahren. Die knapp 75-minütige Komposition wurde im Rahmen einer Installation im Reggia di Venaria Reale nahe Turin konzipiert und war dort auch erstmals zu hören, ehe sie wenige Tage vor ihrer kommerziellen Veröffentlichung (und in Anspielung auf das Album "Music for Airports") im Tokioter Flughafen Haneda uraufgeführt wurde. Das Album erhielt überwiegend positive Kritiken, und es wurde auf Parallelen zu Enos frühen Ambient-Werken, insbesondere "Thursday Afternoon", hingewiesen.
Brian Eno ist Mitglied der 2016 gegründeten Bewegung Demokratie in Europa 2025 (DIEM25) und engagiert sich für die als antisemitisch kritisierte BDS-Kampagne. |
530 | 3718359 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=530 | BASIC | BASIC ist eine imperative Programmiersprache. Sie wurde 1964 von John G. Kemeny, Thomas E. Kurtz und Mary Kenneth Keller am Dartmouth College zunächst als Bildungsorientierte Programmiersprache entwickelt und verfügte in ihrer damaligen Form noch nicht über die Merkmale der strukturierten Programmierung, sondern arbeitete mit Zeilennummern und Sprunganweisungen (GOTO). Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre entstand eine Vielzahl verschiedener BASIC-Dialekte, von denen einige alle Elemente höherer Programmiersprachen aufweisen, so etwa Objektorientierung.
Das Akronym „BASIC“ steht für „Beginner’s All-purpose Symbolic Instruction Code“, was so viel bedeutet wie „symbolische Allzweck-Programmiersprache für Anfänger“. Die Abkürzung als Wort gesehen bedeutet außerdem „grundlegend“. Dies zeigt das Design-Ziel klar: eine einfache, für Anfänger geeignete Programmiersprache zu erschaffen. Außer in manchen Produktnamen wird das Wort „BASIC“ grundsätzlich in Großbuchstaben geschrieben.
Geschichte.
BASIC wurde 1964 von John G. Kemeny, Thomas E. Kurtz und Mary Kenneth Keller am Dartmouth College entwickelt, um den Elektrotechnikstudenten den Einstieg in die Programmierung gegenüber Algol und Fortran zu erleichtern. Am 1. Mai 1964 um vier Uhr Ortszeit, New Hampshire, liefen die ersten beiden BASIC-Programme simultan auf einem GE-225-Computer von General Electric im Keller des Dartmouth College. BASIC wurde dann viele Jahre lang von immer neuen Informatikstudenten an diesem College weiterentwickelt, zudem propagierten es Kemeny und Kurtz ab den späten 1960er Jahren an mehreren Schulen der Gegend, die erstmals Computerkurse in ihr Unterrichtsprogramm aufnehmen wollten. BASIC war entsprechend dem Wunsch seiner „Väter“ für die Schulen kostenlos, im Gegensatz zu fast allen anderen damals üblichen Programmiersprachen, die meist mehrere tausend Dollar kosteten. Viele der damaligen großen Computerhersteller (wie etwa DEC) boten wegen der leichten Erlernbarkeit der Sprache und ihrer lizenzgebührfreien Verwendbarkeit bald BASIC-Interpreter für ihre neuen Minicomputer an; viele mittelständische Unternehmen, die damals erstmals in größerer Zahl Computer anschafften, kamen so mit BASIC in Berührung.
Einige der so mit BASIC vertrauten Schüler, Studenten und im Mittelstand tätigen Programmierer waren etwas später in der kurzlebigen Bastelcomputer-Szene Mitte der 1970er Jahre aktiv, die den kommerziellen Microcomputern vorausging, und machten BASIC dort bekannt; kaum eine andere damals verbreitete Hochsprache eignete sich so gut wie (ein abgespecktes) BASIC für den extrem beschränkten Speicherplatz dieser ersten Microcomputer. Seinen Höhepunkt erlebte BASIC Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre mit den aus den Bastelcomputern hervorgegangenen ersten Heimcomputern, die nahezu alle als Benutzeroberfläche und Programmierumgebung einen BASIC-Interpreter besaßen. Prominente Beispiele sind Sinclair-Computer der ZX-Reihe mit Sinclair-Basic (ZX80, ZX81 und ZX Spectrum), der Acorn BBC Micro, der Tandy TRS-80, der Texas Instruments TI-99/4A, der Schneider/Amstrad CPC, der Apple II, die Atari 8-Bit-Heimcomputer oder der meistverkaufte Heimcomputer aller Zeiten, der Commodore 64. Aber auch die Vorläufer der Personalcomputer, wie zum Beispiel von Philips, konnten mit CP/M-BASIC interpretierend oder kompiliert arbeiten. Die weitaus meisten dieser BASICs stammten von Microsoft. BASIC war Microsofts erstes und in den frühen Jahren wichtigstes Produkt, mehrere Jahre bevor mit MS-DOS das erste Betriebssystem dieser Firma auf den Markt kam.
Praktisch alle Besitzer von Heimcomputern hatten damals zumindest Grundkenntnisse in BASIC, da die meisten Rechner beim Einschalten den BASIC-Interpreter starteten, welcher das Laden weiterer Programme unter Verwendung von BASIC-Befehlen erlaubte. Auch als Mitte der 1980er Jahre grafische Benutzeroberflächen mit dem Macintosh, Amiga und dem Atari ST Einzug hielten, wurden bei diesen weiter BASIC-Interpreter mitgeliefert. Zudem gab es zusätzliche käufliche Versionen von BASIC-Dialekten. Mittels Compilern konnten einige BASIC-Dialekte direkt in deutlich schnellere Maschinenprogramme übersetzt bzw. unter Umgehung des Interpreters direkt in Aufruflisten der zugrundeliegenden Interpreter-Funktionen übersetzt werden. Das seit 1981 verbreitete MS-DOS enthielt ebenfalls einen BASIC-Interpreter – zunächst BASICA bzw. GW-BASIC, später QBasic – der in Deutschland an vielen Schulen eine Rolle im Unterricht der Informatik spielte. Zu dieser Zeit setzte aber ein Wandel ein, weil andere Hochsprachen wie beispielsweise C für die Heimcomputer verfügbar wurden oder die Ressourcen des jeweiligen Systems vom mitgelieferten BASIC-Interpreter nur unzulänglich unterstützt wurden, was den Programmierer dazu zwang, sich mit Assembler vertraut zu machen.
Microsoft besann sich auf die eigene Tradition und führte 1991 das kommerzielle Visual Basic für die schnelle Entwicklung von Windows-basierten Anwendungen ein. Kommerziell erfolgreich wurde sie ab Version 2, die ODBC-Datenbankunterstützung bot. Dabei entwickelte es sich von einem Interpreter hin zu einer Compiler-Sprache mit objektorientierten Ansätzen, wobei weiterhin strukturell programmiert werden konnte. Mit Visual Basic ab Version 5 war es möglich, mit Klassen zu arbeiten. Im Nachfolger Visual Basic 6 wurde Vererbung eingeführt. Das Visual Basic 6 kompatible VBA löste in Microsoft Office die vorherige Makrosprache ab. Mit der Implementierung von Visual Basic innerhalb des .NET-Systems wurde die Sprache von Grund auf neu konzipiert, wodurch Abwärtskompatibilität nicht mehr möglich war.
Programmiersprache.
Zu Beginn der BASIC-Programmierung bauten sich Befehle wie folgt auf:
Zeilennummer: Ein fortlaufender Wert, der i. d. R. in 10er-Schritten ansteigt, damit später nachträglich Zeilen (mit Befehlen) hinzugefügt werden können, die dann dazwischen liegende Nummern erhalten. Mit dem Befehl codice_1 kann ein Programm unter Berücksichtigung aller Sprungbefehle neu durchnummeriert werden. Um einzelne Befehle direkt im Interpreter auszuführen, darf keine Zeilennummer angegeben werden, da sonst die Zeile unter der angegebenen Zeilennummer im Programmspeicher abgelegt wird.
Befehl: Ein beliebiger Befehl wie codice_2.
Parameter: Ein oder mehrere Werte, die einem Befehl übergeben werden können.
Die Zuweisung von Werten ist in Beispiel 2 unten gezeigt. Die Variable, der ein Wert zugewiesen werden soll, steht vor dem Gleichheitszeichen; der Ausdruck, dessen Wert der Variablen zugewiesen werden soll, steht dahinter. Variablen müssen nur definiert werden, wenn sie Arrays sind. Der Typ der Variable ergibt sich durch ein Sonderzeichen am Ende des Namens, z. B. $ für String (A$, B$, …), % für Integer (A%, B%), & für Long (A&, B&, …). Das % kann weggelassen werden.
Beispiele für übliche Befehle:
INPUT [Text], Variable1 [,Variable2...] - Per Eingabe werden der/den Variablen Werte zugewiesen, auf dem Bildschirm steht: Text
PRINT [Text] - auf dem Bildschirm wird ein Text ausgegeben
LOCATE X,Y - Legt die aktuelle Schreibposition des Cursors fest.
PSET X,Y - Zeichnet einen Punkt auf dem Bildschirm
CLS - Löscht den Anzeigebereich
LET [Variable] = [Ausdruck] - weist einer Variablen einen Wert zu
In derselben Programmzeile können auch mehrere Befehle und Anweisungen angegeben werden. Zur Trennung wird ein Doppelpunkt verwendet:
10 LET A$="Hallo":LET B$="Welt!":PRINT A$;:PRINT " ";:PRINT B$
Eine solche Schreibweise hat allerdings Vorteile. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Sprüngen erhöht sich erheblich (Ausführungszeit ~ Anzahl der Zeilennummern bis zur gewünschten Zeilennummer) und es wird Speicherplatz gespart (5 Byte für jede Zeile vs. 1 Byte für den Doppelpunkt). Die Lesbarkeit von solchem Code ist jedoch schlecht.
Normalerweise wird die erste Anweisung automatisch mit nur einem einzelnen Leerzeichen von der Zeilennummer getrennt eingerückt. Vor allem bei verschachtelten Programmschleifen verliert man jedoch schnell den Überblick. Der Doppelpunkt wird daher oft auch dazu verwendet, um Code eingerückt darzustellen:
10 FOR A=100 TO 200 STEP 10
20 :FOR B=1 TO 10
30 ::PRINT A + B
40 :NEXT B
50 NEXT A
Einige spätere Dialekte, z. B. AmigaBASIC, können sogenannte Labels als Sprungziel verwenden. Labels werden mit einem Doppelpunkt beendet und somit als solche markiert. Mit Labels lassen sich Ziele unabhängig von einer Zeilennummer adressieren. Programme können gänzlich ohne Zeilennummern auskommen, auch wenn es diese Möglichkeit nach wie vor gibt. Ein Beispiel:
Hauptprogramm:
FOR A=1 TO 10
GOSUB Farbwechsel
PRINT "Hallo Welt!"
NEXT A
END
Farbwechsel:
COLOR A,0
RETURN
Programmierbeispiel.
Das folgende Beispiel zeigt einen typischen BASIC-Code. Viele Befehle, die sich in neueren Sprachen und neueren BASIC-Dialekten etabliert haben, gibt es bei dem im Beispiel verwendeten BASIC noch nicht. Dadurch war der Programmierer gezwungen, unstrukturiert zu programmieren. Ein Vorteil auch alter BASIC-Dialekte war allerdings, dass man damit Zeichenketten einfach verarbeiten konnte (siehe die Zeilen 70–90 im Beispielprogramm).
10 INPUT "Geben Sie bitte Ihren Namen ein: ", A$
20 PRINT "Guten Tag, "; A$
30 INPUT "Wie viele Sterne möchten Sie"; S
35 S$ = ""
40 FOR I = 1 TO S
50 S$ = S$ + "*"
55 NEXT I
60 PRINT S$
70 INPUT "Möchten Sie noch mehr Sterne"; Q$
80 IF LEN(Q$) = 0 THEN GOTO 70
90 L$ = LEFT$(Q$, 1)
100 IF (L$ = "J") OR (L$ = "j") THEN GOTO 30
110 PRINT "Auf Wiedersehen";
120 FOR I = 1 TO 10
130 PRINT A$; " ";
140 NEXT I
150 PRINT
Normen und Standards.
Die meisten Interpreter und Compiler halten sich allerdings nur teilweise an diese Vorgaben.
Dialekte.
Neben den Standardbefehlen gibt es bei fast allen Interpretern zusätzliche Funktionalitäten und Spracherweiterungen, um die entsprechende Plattform vollständig und effektiver zu nutzen. Ein so erweiterter Befehlssatz wird als "BASIC-Dialekt" bezeichnet. |
531 | 2178729 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=531 | Body-Mass-Index | Der Body-Mass-Index (BMI []) – auch "Körpermasseindex" ("KMI"), "Körpermassenzahl" ("KMZ") oder "Quetelet-Kaup-Index" – ist eine Maßzahl für die Klassifizierung des Körpergewichts eines Menschen in Relation zu seiner Körpergröße. Sie wurde 1832 von Adolphe Quetelet sowie nach dem Ersten Weltkrieg von Ignaz Kaup entwickelt.
Der BMI bezieht die Körpermasse (englisch "mass", umgangssprachlich ")" auf das Quadrat der Körperlänge. Der BMI ist lediglich eine grobe, schätzende Maßzahl, da sie weder Statur und biologisches Geschlecht noch die individuelle Zusammensetzung der Körpermasse aus Fett- und Muskelgewebe eines Menschen berücksichtigt.
Berechnung.
Der Body-Mass-Index wird folgendermaßen berechnet:
wobei formula_2 die Körpermasse (in Kilogramm) und formula_3 die Körperlänge (in Metern) angibt. Der BMI wird also in der Maßeinheit kg/m² angegeben.
Interpretation.
Bei Erwachsenen.
Werte von normalgewichtigen Personen liegen gemäß der Adipositas-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen 18,5 kg/m² und 25 kg/m². Ab 30 kg/m² gelten Personen als adipös und behandlungsbedürftig. In Deutschland sind das 25 % der Bevölkerung; 9 % der Bevölkerung haben die ärztlich gestellte Diagnose Adipositas und werden deswegen ambulant versorgt.
Gewichtsklassifikation bei Erwachsenen anhand des BMI (nach WHO, Stand 2008):
Alter und Geschlecht spielen bei der Interpretation des BMI eine wichtige Rolle. Männer haben in der Regel einen höheren Anteil von Muskelmasse an der Gesamtkörpermasse als Frauen. Deshalb sind die Unter- und Obergrenzen der BMI-Werteklassen bei Männern etwas höher als bei Frauen. So liegt der Normalwert bei Männern laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung im Intervall von 20 bis 25 kg/m², während er sich bei Frauen im Intervall von 19 bis 24 kg/m² befindet.
Für die Beurteilung eines Untergewichts wird auch der Broca-Index verwendet, etwa bei Magersucht. Die diagnostischen Kriterien der Magersucht sehen bei Erwachsenen einen BMI von ≤ 17,5 kg/m² vor, bei Kindern und Jugendlichen einen BMI unterhalb der 10. Alters-Perzentile.
Bei Kindern und Jugendlichen.
Der BMI kann auch bei Kindern und Jugendlichen als Maß für die gesunde Entwicklung verwendet werden. Der BMI wird nach derselben Formel wie der BMI von Erwachsenen errechnet, jedoch wird bei Kindern unter 25 Monaten die Länge im Liegen anstelle der Höhe im Stehen herangezogen. Diese kann um bis 0,7 cm länger sein als die Höhe im Stehen, daher weisen die BMI-Normalwerte hier in den Tabellen einen charakteristischen Knick auf. Der BMI des Kindes wird in Tabellen mit den Daten anderer Kinder desselben Alters verglichen. Die Weltgesundheitsorganisation gibt BMI-Tabellen für Jungen und Mädchen heraus. Als übergewichtig gilt ein Kind mit mehr als +1 Standardabweichung SD (entsprechend einem BMI von über 25 bei einem Erwachsenen), als adipös mit mehr als +2 SD (entsprechend einem BMI von über 30 bei einem Erwachsenen). Für Kinder unter fünf Jahren gibt es entsprechende Tabellen der WHO.
Für Deutschland werden die von der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) veröffentlichten Altersperzentilen für die Beurteilung des BMI empfohlen. Als Referenzwerte dienen hierbei aktuelle Körpergrößen- und Körpergewichtsdaten von Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 18 Jahren aus verschiedenen Regionen Deutschlands. Als übergewichtig gilt ein Kind, wenn es einen höheren BMI als 90 % (90. Altersperzentil) seiner Altersgenossen hat, als adipös, wenn sein BMI oberhalb der 97. Altersperzentile liegt. Untergewichtig ist ein Kind dann, wenn nur 10 % (10. Altersperzentil) oder weniger einen niedrigeren BMI haben, als stark untergewichtig gilt ein BMI unterhalb der 3. Altersperzentile. Zur Einschätzung des BMI bei Kindern und Jugendlichen stehen BMI-Rechner zur Verfügung.
Das Problem dieser Berechnungsgrundlage ist, dass sich damit auch die Definition für Unterernährung verschieben würde, wenn sich der Ernährungszustand der Kinder in einer Gesellschaft insgesamt verändert, zum Beispiel durch eine Hungersnot viele Kinder unterernährt sind, oder wenn es viele übergewichtige Kinder gibt. Wenn laut Definition immer genau 15 % aller Kinder übergewichtig sind, kann man zum Beispiel nicht zu der Aussage kommen, 25 % aller Kinder seien übergewichtig.
Die Grenzwerte eines angemessenen BMI beziehen sich stark auf den Entwicklungsstand des Kindes. So wird zum Beispiel das rasche Längenwachstum in der Anfangsphase der Pubertät und Ähnliches abgebildet. Macht ein Kind diese Entwicklungsphasen früher oder später durch als der Durchschnitt, so kann trotz Normalgewicht auch ein entsprechend der Altersgruppe zu hoher oder zu niedriger BMI vorliegen.
Statistiken.
Farbgebung entsprechend obiger Einteilung in Untergewicht, Normalgewicht, Präadipositas und die drei Adipositasgrade.
Sterblichkeit.
Der Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und BMI wird unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert.
Eine Metaanalyse unter der Leitung der amerikanischen Epidemiologin Katherine Flegal von bis 2012 veröffentlichten Studien kam zu dem Ergebnis, dass Übergewichtige eine 6 % geringere Sterbewahrscheinlichkeit haben als Normalgewichtige, und dies, obwohl ein höherer BMI mit Erkrankungen korreliert. Man spricht hier vom Adipositas-Paradoxon.
Eine Studie an gesunden Weißen, die niemals geraucht hatten, kam zu dem Ergebnis, dass Menschen mit einem BMI zwischen 20 und 25 die geringste Sterblichkeit haben. Dem widersprachen Flegal und andere: große Gruppen auszusortieren führe zu statistischen Fehlern.
Eine Metaanalyse der Global BMI Mortality Collaboration kam zu dem Ergebnis, dass – wenn man Raucher, chronisch Kranke und innerhalb der ersten 5 Beobachtungsjahre Verstorbene ausschließt – ein BMI zwischen 20 und 25 die geringste Sterbewahrscheinlichkeit aufweist.
Von den 10 Millionen Datensätzen wurden so nur 4 Millionen berücksichtigt.
Korrekturwerte bei fehlenden Gliedmaßen (Amputation).
Berechnungsverfahren.
Liegt eine Amputation vor, so muss man vor der Berechnung des BMI die theoretische Körpermasse formula_4 berechnen:
Beispiel.
Eine Frau sei 56 kg schwer und 1,70 m groß. Der linke Unterschenkel der Frau wurde amputiert, weswegen die Korrekturwerte für einen Unterschenkel "und" einen (durch Amputation des Unterschenkels logischerweise ebenfalls entfernten) Fuß anzuwenden sind. Ihr theoretisches Körpergewicht errechnet sich somit wie folgt:
Geschichte.
Der BMI wurde 1832 von dem belgischen Mathematiker Adolphe Quetelet entwickelt. Die Bezeichnung Body-Mass-Index (BMI) entstammt einem 1972 veröffentlichten Artikel von Ancel Keys. Keys empfahl den BMI allerdings nur für den statistischen Vergleich von Populationen, nicht für die Beurteilung der Übergewichtigkeit von Einzelpersonen. Bedeutung gewann der BMI durch den Einsatz bei US-amerikanischen Lebensversicherern, die diese einfache Einstufung benutzen, um Prämien für Lebensversicherungen so zu berechnen, dass zusätzliche Risiken durch Übergewicht berücksichtigt werden. Seit Anfang der 1980er Jahre wird der BMI auch von der Weltgesundheitsorganisation verwendet. Die jetzige BMI-Klassifikation der WHO besteht im Wesentlichen seit 1995.
In einigen deutschen Ländern (z. B. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen) wird der Body-Mass-Index als Kriterium für die Verbeamtung im öffentlichen Dienst herangezogen. Personen mit zu hohem oder zu niedrigem BMI werden nicht verbeamtet (Stand 2007). Diese Regelung wurde verschiedentlich stark kritisiert.
In der anthropometrischen Geschichte und Historischen Anthropologie wird der mittlere Body-Mass-Index von Bevölkerungsgruppen, ähnlich wie die Körpergröße, als Indikator für den Lebensstandard verwendet. Anhand von historischen Daten, die zum Beispiel bei Rekrutenmusterungen erhoben wurden, sind Rückblicke in die Vergangenheit möglich. In weiter zurückliegende Zeiten führen Schätzungen des BMI zurück, die an Knochen aus archäologischen Zusammenhängen durchgeführt wurden. An ihnen kann eingeschätzt werden, dass die durchschnittliche Ernährung im frühen Mittelalter Europas recht gut war.
Kritik.
Die Verwendung des BMI für die Diagnose von Untergewicht oder von körperfettbedingtem Übergewicht anhand fest definierter Grenzwerte ist sehr umstritten. Denn ein relativ hohes Körpergewicht und damit ein hoher BMI können auch durch viel Muskelmasse, höhere Knochendichte, stärkere Knochen- und Gelenkdurchmesser, größere Schulterbreite (bei Personen mit gleicher Körpergröße durchaus im Dezimeterbereich) und viele andere Faktoren verursacht sein. Besonders stark trifft dies bei Sportlern zu. Austrainierte Kraftsportler ohne viel Körperfett haben allein aufgrund ihrer Muskelmasse einen hohen BMI. Ausdauersportler (5-km-Lauf, 10-km-Lauf, Marathonlauf), die an den Olympischen Spielen 1960 in Rom teilnahmen, hatten einen BMI von 20–21, Kraftsportler (Gewichtheber, Speer-, Hammer- und Diskuswerfer, Kugelstoßer) einen BMI von 26 bis 29. Daher wird für die medizinische Diagnose von Unter- und Übergewicht der Maßstab dessen, was als normalgewichtig gilt, gegebenenfalls angepasst. So wurde beispielsweise für Querschnittgelähmte eine Senkung der Grenze zwischen Normal- und Übergewicht von 30 kg/m² auf 22 kg/m² gefunden.
Andere Indizes zur besseren Erkennung von Gesundheitsrisiken.
Broca-Index, Ponderal-Index und Körperbau-Entwicklungsindex.
Neben dem BMI existieren eine Reihe weiterer Indizes. Am bekanntesten sind der Broca-Index und der Ponderal-Index. Der "Körperbau-Entwicklungsindex" von Wutscherk soll sich sogar zu einer biologischen Altersbestimmung eignen.
Einer über acht Jahre laufenden Studie der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität mit über 11.000 Probanden zufolge ist für die Bewertung von gesundheitlichen Risiken das Verhältnis von Bauchumfang zur Körpergröße („Waist-to-height ratio“, WtHR) besser geeignet, da hier genauere Rückschlüsse auf den gesundheitlich bedenklichen Bauchfettanteil gezogen werden können.
Area Mass Index.
Im Unterschied zum BMI stellt der Area Mass Index (AMI) das Verhältnis der Körpermasse (ugs.: Körpergewicht) zur tatsächlichen Körperoberfläche dar, wobei die Körperoberfläche vom individuellen Körperbau (Statur) und dem Geschlecht einer Person abhängt.
Body-Adiposity-Index.
Der Body-Adiposity-Index (BAI) ist eine andere Methode, mit der der Körperfettanteil berechnet bzw. abgeschätzt werden soll. Dieser ab 2011 populär gewordene Index berücksichtigt neben der Körperlänge auch den Hüftumfang mit der Formel:
Eine Studie des Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke und der Medizinischen Klinik IV der Universität Tübingen im Jahre 2012 kam zu dem Ergebnis, dass der BAI dem BMI in seiner Aussagekraft unterlegen ist und der BMI demgegenüber in engerer Beziehung zur Körperfettverteilung steht – insbesondere bei Männern. Der gemessene Taillenumfang habe dagegen, der gleichen Studie zufolge, eine noch höhere Aussagekraft über den prozentualen Körperfettanteil als der BMI oder der BAI. Auch bei der Abschätzung des Diabetesrisikos war der BMI dem BAI überlegen, allerdings hatte auch hier der Taillenumfang wieder eine noch höhere Aussagekraft. Der BAI komme laut der Studie somit nicht als Alternative zum BMI in Betracht, das Messen des Taillenumfangs als Ergänzung zur Bestimmung des BMI sei dagegen sinnvoll.
Body Shape Index (BSI).
Der Body-Shape-Index ("BSI" oder "ABSI") soll besser als der BMI Gesundheitsrisiken prognostizieren, indem er das besonders schädliche Bauchfett mit in die Berechnung einbezieht. Aussagekräftig ist vor allem der ABSI-z-Wert, welcher den eigenen Wert mit den Durchschnittswerten der Bevölkerung (in den USA) vergleicht und so ein über- oder unterdurchschnittliches Risiko ermittelt. Als Krankheiten, die in Verbindung mit erhöhtem Bauchfett stehen, gelten z. B. Herzinfarkt, Bluthochdruck, Schlaganfall und Arteriosklerose. Für Schwangere ist diese Messmethode nicht geeignet. Die in den USA entwickelte Methode soll für schwarze und weiße, nicht aber für mexikanische Ethnien gelten.
Waist-to-Height Ratio.
Die Waist-to-Height Ratio (WtHR ‚Taille-zu-Größe-Verhältnis‘) bezeichnet das Verhältnis zwischen Taillenumfang und Körpergröße. Es soll im Vergleich zum BMI eine bessere Aussage über die Verteilung des Körperfetts machen und somit eine größere Aussagekraft bezüglich der gesundheitlichen Relevanz von Übergewicht erlauben.
Weitere.
Das ursprünglich primär als körperästhetisches Maß eingeführte Taille-Hüft-Verhältnis sowie auch das Maß der Körperoberfläche nach der Mosteller-Formel sollen ebenfalls eine Abschätzung des Körperfettanteils ermöglichen.
Gesetzlich festgelegter Mindest-BMI für professionelle Models.
Um Magersucht und daraus resultierende Todesfälle unter Models und anderen modeinteressierten Personen zu bekämpfen, haben in den 2010er Jahren einige Länder für professionelle Models einen Mindest-BMI eingeführt, dessen Wert die Models regelmäßig ärztlich überprüfen lassen müssen. In Frankreich und Spanien beträgt dieser Mindestwert 18 kg/m², in Israel und Italien 18,5 kg/m². |
532 | 568 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=532 | Bruchspaltanästhesie | Die Bruchspaltanästhesie ist ein medizinisches Verfahren zur örtlichen Betäubung von Frakturen.
Sie findet vor allem Anwendung bei Behandlung von Radiusfrakturen, selten auch bei Frakturen der Tibia, Ulna und Fibula, wenn eine Allgemeinanästhesie nicht möglich oder erforderlich ist. Es wird hierbei ein Lokalanästhetikum perkutan mit einer Kanüle direkt in den Bruchspalt gespritzt. |
535 | 779406 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=535 | Bill Murray | William James „Bill“ Murray (* 21. September 1950 in Wilmette, Illinois) ist ein US-amerikanischer Schauspieler, Komiker und Produzent. Er ist einem breiten Publikum durch eine Reihe erfolgreicher Filmkomödien in den 1980er Jahren bekannt geworden, wobei seine Arbeit mit dem Regisseur Ivan Reitman herausragt. Ab den 1990er Jahren erweiterte Murray sein Repertoire um tragikomische und ernsthafte Rollen, für die er auch von der Filmkritik zunehmend gewürdigt wurde.
Leben.
Bill Murray wurde in einem Vorort von Chicago als viertes von neun Kindern geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Seine Eltern waren irischer Abstammung. Murray wurde römisch-katholisch erzogen. Schon früh begann er gemeinsam mit seinem Bruder Brian, als Golfcaddy zu arbeiten, um seine Ausbildung bezahlen zu können. Als Teenager spielte er in einer Rockband, und in der High School gehörte er einer Theatergruppe an. Während seiner Zeit am College verdiente er sein Geld als Dealer mit Marihuana. An seinem 20. Geburtstag wurde er deswegen verhaftet und bekam eine Bewährungsstrafe.
Murray begann an der römisch-katholischen Regis University in Denver, Colorado, Medizin zu studieren, brach das Studium jedoch bald ab und kehrte wieder nach Illinois zurück. Im Jahr 2007 verlieh ihm die Regis University die Ehrendoktorwürde.
Mit Miguel Ferrer und Bill Mumy bildete er die Band "The Jenerators".
Bill Murray war zweimal verheiratet, von 1981 bis 1996 mit Margaret Kelly und von 1997 bis 2008 mit Jennifer Butler. Aus den beiden Ehen hat er sechs Söhne. Drei seiner Geschwister (John, Joel und Brian) sind ebenfalls Schauspieler.
Wirken.
Saturday Night Live.
Mitte der 1970er Jahre brach Murray sein Medizinstudium ab und schloss sich dem Improvisationstheater Second City an, wo er von dem Schauspiellehrer Del Close unterrichtet wurde. Murray gehörte zum Ensemble der zwischen 1975 und 1976 ausgestrahlten TV-Show "Saturday Night Live with Howard Cosell". Ab 1977 war er als Nachfolger von Chevy Chase jahrelang fester Bestandteil des Autoren- und Darstellerteams der legendären TV-Sendung "Saturday Night Live" und erhielt seinen ersten Emmy.
Schauspielerei.
Im Jahr 1976 gab Murray sein Spielfilmdebüt in Paul Mazurskys "Ein Haar in der Suppe" in einer kleinen Nebenrolle, allerdings ohne Nennung im Abspann. 1979 begann die Zusammenarbeit mit Ivan Reitman mit der Hauptrolle in dessen Film "Babyspeck und Fleischklößchen". Reitman war es auch, der Murray mit den Komödien "Ich glaub’, mich knutscht ein Elch!" und "Ghostbusters – Die Geisterjäger" zum Durchbruch verhalf. Weitere Erfolge konnte Murray mit "Caddyshack", "Tootsie" und der Dickens-Adaption "Die Geister, die ich rief" verbuchen. 1989 folgte mit "Ghostbusters II" ein weiterer Reitman-Film.
1993 spielte Murray in "Und täglich grüßt das Murmeltier" einen Reporter, der denselben Tag immer wieder von Neuem erlebt. Der Film gilt heute als Klassiker, markierte aber auch das Ende der Zusammenarbeit mit Freund, Regisseur und Drehbuchautor Harold Ramis, mit dem sich Murray erst Jahre später, kurz vor Ramis’ Tod, versöhnte. Nach einer kleinen Flaute ab Mitte der 1990er Jahre gelang ihm 1999 mit der gesellschaftskritischen Komödie "Rushmore", seinem ersten Film mit Wes Anderson, ein Comeback. Seitdem gehört er zum festen Schauspielerensemble Andersons. Obwohl Murrays Rolle in Rushmore wieder eine komische war, bekam er insgesamt sieben Preise dafür, darunter den Preis der Los Angeles Film Critics Association.
Ebenfalls recht erfolgreich war seine zweite Zusammenarbeit mit Anderson, die Tragikomödie "The Royal Tenenbaums" im Jahr 2001. Ein Höhepunkt seiner Karriere war "Lost in Translation" (2003) von Sofia Coppola. Für diese Rolle erhielt er u. a. einen Golden Globe sowie eine Oscar-Nominierung. 2004 folgte mit dem kommerziellen Flop "Die Tiefseetaucher" ein weiterer Anderson-Film. Darauf folgte 2005 die ihm von Jim Jarmusch auf den Leib geschriebene Hauptrolle in dem Film "Broken Flowers", in dem er sich als eingefleischter Junggeselle eher widerwillig quer durch die Vereinigten Staaten auf die Suche nach der Mutter seines angeblichen (19 Jahre alten) Sohnes begibt.
In der Zombie-Komödie "Zombieland" aus dem Jahr 2009, die in Teilen auch als eine Hommage an den Schauspieler interpretiert werden kann, verkörpert Murray sich selbst.
Musik.
Zusammen mit Jan Vogler veröffentlichte Murray 2017 das Album "New Worlds", in welchem er unter anderem klassische Musik aufarbeitet. Dazu führten sie weltweit eine Reihe von Vorstellungen auf.
Regiearbeit.
Mit dem Remake "Ein verrückt genialer Coup" lieferte Murray 1990 seine erste Regiearbeit ab, die nach eigenen Angaben auch seine letzte bleiben soll.
Besonderheit.
Bill Murray hat keinen Agenten; um mit ihm in Kontakt zu treten, muss man eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter hinterlassen.
Bill Murray und seine Brüder entwerfen und vertreiben seit 2017 eine eigene Golfbekleidungskollektion namens „William Murray Golf“.
Synchronstimme.
In den Anfangsjahren seiner Karriere hatte Murray keinen festen Synchronsprecher, so wurde er zwischen 1978 und 1988 von unterschiedlichen Synchronsprechern gesprochen. Bill Murrays bekannteste deutsche Synchronstimme war von 1989 bis 2015 Arne Elsholtz. Er sprach Murray bereits davor zweimal in den Jahren 1980 und 1984. Für die neue Synchronfassung von "Ich glaub mich knutscht ein Elch" lieh ihm Elsholtz im Jahr 2005 ebenfalls die Stimme. In der originalen deutschen Kinofassung von 1981 war noch Sigmar Solbach zu hören. Elsholtz verstarb im April 2016.
Seit 2019 etabliert sich Bodo Wolf als Bill Murrays neuer Synchronsprecher. |
536 | 234342789 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=536 | Billy Bob Thornton | Billy Bob Thornton (* 4. August 1955 in Hot Springs, Arkansas) ist ein US-amerikanischer Schauspieler, Theater- und Drehbuchautor (Oscarpreisträger), Regisseur und Sänger.
Leben.
Thornton hatte seine erste Fernsehrolle in der NBC-Sitcom "Küß’ mich, John" an der Seite von John Ritter und Markie Post. Kritiker wurden zum ersten Mal auf ihn aufmerksam, als er in "One False Move" in die Rolle eines Bösewichts schlüpfte. Kleinere Rollen hatte er in den Filmen "Indecent Proposal", "On Deadly Ground" und "Tombstone".
1996 schrieb er den Film "Sling Blade – Auf Messers Schneide", bei dem er Regie führte und auch mitspielte. Dieser ist eine Erweiterung des Kurzfilms "Some Folks Call It a Sling Blade". Es geht dabei um einen geistig Behinderten namens Karl Childers. Dieser Film machte ihn zum Star: Für das Drehbuch gewann Thornton einen Oscar, außerdem wurde er in der Kategorie Bester Schauspieler nominiert. 1997 und 2002 gewann er je einen Chlotrudis Award als "Bester Schauspieler".
Thornton begann nebenbei eine Karriere als Sänger in dem Rock-’n’-Roll-Stil "Americana". Er veröffentlichte bereits vier CDs: "Private Radio" (2001), "The Edge of the World" (2003), "Hobo" (2005) und "Beautiful Door" (2007). 2008 gründete er mit zwei Freunden die Band "The Boxmasters", die inzwischen drei CDs veröffentlicht hat.
Seine deutschen Synchronstimmen sind meistens Joachim Tennstedt oder Gudo Hoegel, in der Serie "Fargo" wird er von Stephan Benson gesprochen.
Billy Bob Thornton ist zum sechsten Mal verheiratet. Von 1978 bis 1980 war er mit Melissa Lee Gatlin verheiratet. Mit ihr hat er eine Tochter. 1986 ehelichte er die Schauspielerin Toni Lawrence. Das Paar trennte sich 1988. Von 1990 bis 1992 war Thornton mit der Schauspielerin Cynda Williams verheiratet. 1993 trat er mit dem Playboy-Model Pietra Dawn Cherniak vor den Traualtar. Das Paar trennte sich 1997. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne hervor. Von 2000 bis 2003 war Thornton mit der Schauspielerin Angelina Jolie verheiratet, der er den Song "Angelina" widmete.
Am 22. Oktober 2014 heiratete er seine langjährige Lebensgefährtin Connie Angland. Das Paar hat eine 2004 geborene Tochter. |
537 | 3784544 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=537 | Bonsai | (jap. ) ist die japanische Variante einer alten fernöstlichen Art der Gartenkunst, bei der Sträucher und Bäume in kleinen Gefäßen oder auch im Freiland zur Wuchsbegrenzung gezogen und ästhetisch durchgeformt werden. Diese Kunstform entstand ursprünglich im Kaiserreich China, wo sie Penjing (chin. ) genannt wird.
Eine weitere Form sind die Miniatur-Wohnlandschaften der vietnamesischen . Eigenständige Traditionen, die meist auch als "Bonsai" bezeichnet werden, gibt es im indonesischen Raum, zum Beispiel auf Bali. Im Westen entwickeln sich Varianten, die vor allem auf dem Einbezug einheimischer Arten (Olivenbäume in Italien und Spanien, Ponderosa-Kiefern in den USA) beruhen.
Begriffsbestimmung.
Das japanische Wort "bonsai" ( , dt. „Anpflanzung in der Schale“) geht zurück auf den chinesischen Begriff "pénzāi" ( ). So wurde ein Aspekt innerhalb der Kunstform der "penjing" genannt (, , ). Das Wort "bonsai" besteht aus den beiden Wörtern "bon" „Schale“ und "sai" „Pflanzen, Anpflanzen“.
Nach altem chinesischen Verständnis ist Penjing die Kunst, eine "Harmonie zwischen den Naturelementen, der belebten Natur und dem Menschen" in miniaturisierter Form darzustellen: Die belebte Natur wird hierbei meist durch einen Baum dargestellt. Die Naturkräfte vertritt – nach einem anderen chinesischen Ausdruck für Landschaft – ein Stein und feiner Kies, der traditionell in Gärten Wasser symbolisiert. Der Mensch wird in Form seines Werks, einer Pflanzschale, dargestellt. Nur der Einklang dieser drei Elemente macht einen gelungenen Penjing aus. Unterschieden werden:
"Penzai" entsprechen nur teilweise "shumu penjing", wie ohnehin die Grenzen dieser Begriffe fließend sind. So kann die Abbildung ganz oben im Artikel durchaus als "penzai", aber auch als "shanshui penjing" bezeichnet werden, da der Stein als Felskuppe interpretiert werden kann.
In Japan verlegte sich der Schwerpunkt von Landschaftsgestaltungen ganz auf die Baumgestaltung; es existiert zwar der Begriff "saikei", der Miniaturlandschaften mit kleinen Holzpflanzen bezeichnet, diese haben aber keineswegs den Stellenwert der chinesischen Penjing. Es werden auch Gartenbäume nach den formalen Kriterien von Bonsai gestaltet.
Geschichte.
Die heute bekannten Bonsai sind häufig im japanischen Stil gestaltet, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts herausbildete. Doch die Bonsaikunst ist viel älter und entstammt der Gartenkunst des Kaiserreiches China.
China.
In der frühen Han-Dynastie (206–220 n. Chr.) wurden bereits künstliche Landschaften mit Seen, Inseln und bizarren Felsformationen in Palastgärten der Kaiser nachgestaltet, auch die Topfpflanzen-Kultur war bereits bekannt.
Der Mythologie nach lebte in dieser Zeit der Zauberer Jiang-Feng, der die Fähigkeit besaß, ganze Landschaften mit Felsen, Wasser, Bäumen, Tieren und Menschen verkleinert auf ein Tablett zaubern zu können. In dieser Zeit entstand offenbar die Kunst des "Penjing" – auch wenn einige der Bäume zwei und mehr Meter hoch waren und in großen Schalen im Garten gepflegt wurden.
In der Tang-Dynastie (618–907) findet sich die älteste bekannte Darstellung eines Penjing, einer Miniaturlandschaft mit grazilen Bäumchen und Felsen, in den Grabkammern des Prinzen Zhang Huai. Diese Epoche galt als sehr kunstsinnig, Poeten und Maler wandten sich insbesondere der Natur zu.
Die Song-Dynastie (960–1279) brachte die Penjing-Kultur zu einer ersten Blüte. Als besonders beliebt galten nun knorrige Bäume, vor allem Kiefern, die aus Baumwurzeln gezogen wurden.
Parallel dazu bildete sich die Kunst des "Suiseki" heraus, das ohne Bäume auskommt und schön geformte Steine auf wassergefüllten Tabletts platziert. So werden Eindrücke von Küstenlinien oder dramatischen Felslandschaften im Hochgebirge hervorgerufen. Das zeitgenössische Buch "Yunlin Shipu" zählt 116 Steinarten auf, die zur Gestaltung verwendet werden können.
In der Yuan-Dynastie (1280–1368) waren Miniatur-Penjing besonders beliebt. Der Grundsatz, „im Kleinen zugleich das Große“ zu erblicken (He-Nian, ein Dichter, verfasste eine Reihe Gedichte über die „winzigen“ Penjing des Mönches Yun Shangren, daraus das Zitat), wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten zu einem wichtigen Leitsatz.
Seit Ende der Ming-Dynastie (1368–1644) werden Einzelbäume und Schalenlandschaften vermutlich erstmals als "penjing" bezeichnet. In dieser Zeit wurde eine Reihe von Büchern verfasst. Die damals sehr populäre chinesische Landschaftsmalerei gab der Penjing-Kunst neue Impulse. Man bezeichnete sie als „dreidimensionale Gemälde“, „stumme Gedichte“ oder „lebende Skulpturen“, meist waren sie etwa einen halben Meter groß, so dass sie noch auf einem Teetischchen platziert werden konnten – dann galten sie als besonders kostbar.
In der Qing-Dynastie (1644–1911) drangen Bonsai allmählich in die vornehmen Familien des Landes vor, die nicht selten einen eigenen Penjing-Gärtner anstellten. In Suzhou fand alljährlich ein Wettbewerb um die schönsten Bäume des Landes statt. Dabei zeigte sich, dass die unterschiedlichen Regionen verschiedene Stilrichtungen entwickelt hatten:
Es heißt, wer erfolgreich einen Bonsai gezogen und gepflegt hat, müsse sich keine Sorgen um das Wohl seiner Seele nach dem Tod machen.
Japan.
Im 10./11. Jahrhundert brachten buddhistische Mönche die Bonsaikunst nach Japan. Dort entwickelte sich der Bonsai-Stil lange Zeit parallel zu China.
In der Edo-Zeit erfuhr die Mode der Topfkultivierung von Pflanzen und Bäumen einen starken Aufschwung, nicht zuletzt durch das Vorbild des damaligen Shogun Tokugawa Iemitsu (1604–1651). Damals sammelte man vor allem Pflanzen, deren Blüten und Blätter auffällige Mutationen hervorgebracht hatten und so in der Natur nicht vorkamen. Viele dieser Bäume wiesen Krümmungen und Biegungen auf, die heute unnatürlich erscheinen („Oktopus-Stil“, einige Exemplare aus der Iemitsu-Sammlung sind bis heute erhalten). Diese seltenen Pflanzen wurden bald zu Spekulationsobjekten, ganz ähnlich wie beim holländischen Tulpenfieber.
Gegen Ende der Edo-Periode kam das Shogunat ins Wanken. Vor allem die Bunjin (, chin. "wénrén" „Mann des Wortes“, wird aber meist mit „Literat“ übersetzt) taten sich von Kyōto und Osaka aus als Organisatoren von Demonstrationen und anderen anti-monarchistischen Aktionen hervor. Sie wandten sich auch gegen die sehr artifizielle Bonsai-Kultur jener Zeit, und aufgrund ihrer Beschäftigung mit chinesischer Malerei und Literatur fanden sie zu einem neuen Stil, den "Bunjingi" (Der Name ist in Anlehnung an den „Literaten-Stil“ der chinesischen Kunst entstanden). Sie bevorzugten heimische Arten wie Kiefern und Ahorne und nahmen die Natur zum Vorbild für ihre Gestaltungen. In der damaligen kunsttheoretischen Literatur (beispielsweise im chinesischen "Senfkorngarten", im "Yuo Hikusai-gafu" und im "Kaishi-en-kaden") wurden die heute bekannten Stilformen wie Kengai und Chokkan bereits formuliert. Besonders in der Kaiserstadt Kyōto und in Osaka war der Stil bei Gelehrten sehr beliebt und galt als antinational und avantgardistisch.
Während die Herrschenden eine Politik der Isolierung betrieben und eine Reise nach China bei Todesstrafe verboten war, formten sich die japanischen Gelehrten ihr eigenes kleines China aus Felssteinen und Pflanzen nach. Dabei wurden die Bäume immer stärker zum Ausdruck ihrer Vorstellung von einem Leben, in dem man seine Ideale kompromisslos verwirklichen kann.
Anfang der Meiji-Zeit entdeckte auch die Tokioter Oberschicht ihre Liebe zum Bonsai. Das Gestaltungsideal war jedoch nicht länger die Form natürlich wachsender Bäume, sondern ihre Nähe zur chinesischen Malerei. Bonsai wurden in Teehäusern ausgestellt und erreichten allmählich auch die unteren Schichten der Bevölkerung.
Nach dem Sieg im Krieg gegen China und Russland verkörperten sie wieder den Geist des Revolutionären in einem Klima des von oben verordneten Nationalismus und avancierte endgültig zur Kunstform, die auch auf Ausstellungen gezeigt wurde. Man wollte „ein Kunstwerk schaffen, das natürlicher als die Natur selbst ist, wobei stets die Schönheit der Natur als Vorbild dient“. Gegen Ende der Meiji-Zeit formte sich das noch heute gültige Gestaltungsideal aus, wonach Bunjingi einen hohen, geschwungenen Stamm und wenig Äste aufweisen sollen.
1867 stellte Japan auf der Weltausstellung in Paris erstmals Bonsai einer westlichen Öffentlichkeit vor.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich Bonsai als Hobby in der ganzen Welt.
Die Bonsai-Kultivierung.
Der Bonsai-Baum ist ein in einem Pflanzgefäß gezogenes Bäumchen, das durch Kulturmaßnahmen (Formschnitt, Wurzelschnitt, Blattschnitt, Drahtung) klein gehalten wird und in künstlerischer Gestaltung in eine gewünschte Wuchsform gebracht wird. Diese folgt den Prinzipien des Wabi und Sabi der Zen-Kultur und den – teils konfuzianisch, teils taoistisch beeinflussten – Baumdarstellungen der klassischen chinesischen Malerei. In Japan werden Bonsai im Garten oder in der Tokonoma, einer gestalterisch hervorgehobenen Nische im Zimmer aufgestellt. Bonsaibäume können bei guter Pflege viele hundert Jahre alt und sehr wertvoll werden. Im Westen wird unter Bonsai im Allgemeinen nur der "Bonsai-Baum" verstanden. Bonsai, in Japan eingebettet in eine Natur- und Weltanschauung, wird damit auf Formales und Ästhetisches reduziert. Der kulturelle Hintergrund der japanischen Vorbilder wird zwar wahrgenommen und unterschiedlich stark reflektiert, spielt aber insgesamt eine untergeordnete Rolle.
Gehölzarten für Bonsai.
Für Bonsai eignen sich nahezu alle verholzenden, kleinblättrigen oder kleinnadligen Baum- und Straucharten.
Traditionell werden in Japan Kiefern (zum Beispiel Mädchen-Kiefer, "Pinus parviflora"), Wacholder, Ahorne (Dreispitz-Ahorn, "Acer buergerianum", und Fächer-Ahorn, "Acer palmatum"), asiatische Ulmenarten (besonders die Chinesische Ulme, "Ulmus parvifolia"), Azaleen, Fruchtbäume wie Kulturapfel oder Japanische Aprikose ("") verwendet.
In Mitteleuropa verwendet man vorwiegend einheimische Gehölze, die an das regionale Klima angepasst sind, aber auch importierte winterharte Pflanzen aus Japan und anderen Ländern. Beliebt sind kleinblättrige Ahornarten – unter ihnen die rotblättrigen japanischen Ahornsorten – sowie Kiefern, Fichten, Buchen und Wacholder. Allerdings werden einheimische Bonsai, besonders kleinere Exemplare, vor starken Frösten geschützt, indem sie beispielsweise im Boden eingesenkt oder mit einer Mulchschicht bedeckt werden. Bereits Luftfrost könnte zum Durchfrieren des Schaleninhalts führen, dagegen stehen Bäume in der Natur nur sehr selten in dauerhaft gefrorenem Boden.
Im Zuge der Verbreitung der Bonsaikultur im westlichen Kulturkreis wurden die Bonsaitechniken auch auf verholzende Zimmerpflanzen (englisch "indoor plants") übertragen, sodass heute zwischen "Indoor" und "Outdoor" unterschieden wird. Die Kultur von Indoors ist problematisch, da man ihnen die dringend benötigten Lebensbedingungen (durchgehend 2000–3000 Lux 12 Stunden am Tag, Luftfeuchte bei 70–90 Prozent bei einer Temperatur von etwa 15–30 °C) in normalen Haushalten kaum bieten kann und die Pflanzen folglich kränkeln oder eingehen. Schwierig ist erfahrungsgemäß die Zimmerkultur des Fukientees ("Carmona microphylla", auch als "Ehretia microphylla" oder "Ehretia buxifolia" bezeichnet) und des Junischnees ("Serissa foetida"). Einzig kleinblättrige Arten der Gattung "Ficus" haben sich als so robust und anpassungsfähig erwiesen, dass sie problemlos als Indoor-Bonsai gehalten werden können. Sie gelten heute als die typischen Anfängerpflanzen.
Bonsai können aus Sämlingen, aus Jungpflanzen und aus in der Natur gesammelten Pflanzen (Yamadori) geformt werden. Oft eignen sich auch Baumschulpflanzen oder Containerpflanzen aus dem Gartencenter. Genetisch unterscheiden sich Bonsai-Bäume nicht von gewöhnlichen Pflanzen. Daher gibt es auch keine Bonsaisamen. Allein durch die Kulturmaßnahmen behält der Bonsai-Baum seine charakteristische Größe.
Findlinge bzw. Yamadori.
Neben der Vermehrung aus Samen, Stecklingen oder dem Weiterentwickeln von Baumschulpflanzen bietet sich auch das Ausgraben von Bäumen, so genannten Findlingen, an. Besonders wild aussehende Bäume (zum Beispiel aus dem Hochgebirge) werden "Yamadori" genannt. Ein Übersiedeln eines alten Gewächses kann sich aber aufwändig gestalten und erfordert Erfahrung, jedoch kann diese Art der Rohpflanzengewinnung zu besonders schönen und interessanten Bonsai führen.
Bevor man sich einen Findling aneignet, muss unbedingt die Erlaubnis des Grundeigentümers oder des jeweiligen Besitzers eingeholt werden und allenfalls umweltschutzrechtliche Aspekte geklärt werden. Einen Baum ohne Erlaubnis des Eigentümers oder Besitzers auszugraben ist illegal (Waldfrevel) und kann strafrechtlich und auch zivilrechtlich verfolgt werden. Im Westen sind ökologische Folgen der Yamadori-Suche heute noch vernachlässigbar, in Japan dagegen wurden auf diese Weise über lange Zeit ganze Gebiete geplündert (etwa von Wacholdern).
Miniatur-Bonsai/Mame.
Mame-Bonsai sind nur wenige (höchstens 20) Zentimeter groß. Diese Art von Bonsai erfordert langjährige Erfahrung, da es wesentlich schwerer ist, solche Bonsai zu pflegen (Gefahr der Austrocknung, Schwierigkeiten der Gestaltung). Meistens kann man diese Form von Bonsai nicht sehr lange in dieser Größe halten, oft werden sie dann zu größeren Bonsai weiterentwickelt.
„Kaufhaus“-Bonsai.
Auch in Blumengeschäften, Kaufhäusern und Baumärkten werden "Indoor"-Bonsai angeboten. Dem niedrigen Preis entsprechend weisen diese Bäume in der Regel starke ästhetische Kompromisse auf, z. B.:
Gestaltungsrichtlinien.
Zur Bonsaigestaltung bestehen unterschiedliche und teils einander widersprechende Ansichten über die einzelnen Stilelemente, die sich insbesondere auf die Stammform, die Astanordnung, Feinverzweigung und die passende Schale beziehen. Abweichende Standpunkte in unterschiedlichen Regionen und Epochen sowie uneinheitliche Leitlinien zahlreicher Verbände und Vereine führten zu den verschiedenartigen Gestaltungsrichtlinien für Bonsai. Gemeinsam ist ihnen im Allgemeinen, dass ein Bonsai als lebende, dreidimensionale Skulptur, entweder wie ein miniaturisierter freiwachsender Baum oder aber eine stilisierte Interpretation eines solchen Baums auf den Betrachter wirken soll.
Oft sind die festgelegten Gestaltungsrichtlinien für Bonsai bei Wettbewerben und zur finanziellen Wertbestimmung von entscheidender Bedeutung. Dabei ist auch die Gesamterscheinung und Individualität des Baumes im Rahmen der Gestaltungsregeln von großem Einfluss. Viele exzellente und teure Bonsai weisen dagegen nur eine begrenzte Treue zu den strengen Gestaltungsrichtlinien auf, imponieren jedoch durch ihre Einzigartigkeit und Komplexität, was häufig nur ohne Berücksichtigung der Grundregeln möglich ist. Die Gestaltungsregeln für Bonsai werden in der Fachliteratur und bei Verbänden oft und kontrovers diskutiert.
Gestaltungsmaßnahmen.
Grundschnitt und Erhaltungsschnitt.
Der erste Schnitt ist der Gestaltungs- oder Grundschnitt. Hierbei legt man die Gestaltungsform fest. Im Erhaltungsschnitt wird eine dichter werdende Verzweigung angestrebt. Ein regelmäßig durchgeführter Schnitt sorgt für einen kompakten Wuchs, für eine feine Verzweigung, beziehungsweise eine ausreichende Dichte.
Dabei werden die aus der Gestaltungsform hinauswachsenden Triebe zurückgenommen. Wird wenig zurückgeschnitten, so wird weniger Wachstum angeregt als bei einem seltenen, dafür aber starken Rückschnitt. Der jeweilige Neuaustrieb hängt wesentlich von der Jahreszeit ab. Einheimische Arten treiben zumeist im Frühjahr oder im Juni aus. Bei der Entfernung alter Zweige, man spricht dann vom mehrjährigen Holz, werden besonders sogenannte schlafende Knospen zum Austrieb angeregt, was eine Erneuerung aus dem Inneren der Baumkrone bewirkt.
Das Entfernen der Pfahlwurzel fördert die Verzweigung des Wurzelballens, sodass sich ein feines, gleichmäßiges Wurzelsystem bildet.
Auch der Standort der Pflanze ist von Bedeutung. An einem zu dunklen Standort wird sie Langtriebe, die sogenannten Strecktriebe hervorbringen. Meist gibt es kaum Kompromisse in Bezug auf die Lichtbedürfnisse der einzelnen Arten.
Drahtung.
Außer durch die traditionelle Methode des „Zurückschneidens und Wachsenlassens“, können die Äste auch durch Spanndrähte geformt werden. Traditionell wurden Palmfaserschnüre verwendet.
Heute wendet man meist die Methode der Drahtung an. Dazu werden der Stamm, die Äste oder die Zweige (je nachdem, welchen Teil des Baumes man korrigieren möchte) spiralig mit eloxiertem Aluminium- oder weichgeglühtem Kupferdraht umwickelt und vorsichtig in Form gebogen.
Blattschnitt.
Durch einen Blattschnitt wird ein ‚künstlicher Herbst‘ vorgetäuscht. Er wird besonders in starkwüchsigen Zonen des Baumes angewandt, um ihn zur verstärkten Bildung von Seitentrieben anzuregen und die Feinverzweigung zu fördern. Zudem sind die neu ausgetriebenen Blätter meist etwas kleiner und wirken dadurch harmonischer zur Bonsaigröße.
Zum Schutz der Knospe wird dabei in der Blattachsel der Stiel stehen gelassen. Beim Austrieb der Knospe fällt der Stiel später ab.
Entrinden.
Durch das Entrinden von Stamm- oder Astpartien (in der Fachsprache "Shari" für Stammpartien, beziehungsweise "Jin" für Aststümpfe genannt) erhält der Bonsai das Erscheinungsbild eines gealterten Baumes.
Dabei kann das freigelegte Holz auch mit Werkzeugen wie Messer, Fräsen und Meißel weiterbearbeitet und gestaltet werden. Meist werden die bearbeiteten Partien abschließend mit einem Präparat auf Basis von Schwefelkalk behandelt. Das Mittel dient zur Sterilisation und zum Bleichen der Oberflächen.
Abmoosen.
Durch das sogenannte Abmoosen wird eine „Verkürzung“ der Bäume erreicht. Dazu wird die Rinde eines Pflanzenteils, z. B. eines Astes, bis auf das Kambium in einem 2 bis 4 cm breiten Streifen ringförmig abgeschält. Anschließend wird der rindenfreie Ring mit einem Substrat sowie einer Folie umhüllt und regelmäßig befeuchtet. Nach der Bildung von Wurzelmaterial kann der betreffende Pflanzenteil abgetrennt und als eigenständige Pflanze weiter kultiviert werden.
Anplatten.
Durch das Anplatten von Ästen oder Zweigen, vorzugsweise am Stamm der Ausgangspflanze, können Äste und Zweige einem gewählten Teil der Pflanze zugefügt werden.
Schale.
Was für das Bild der Rahmen, ist für den Bonsai die Schale. Sie stellt also einen weiteren wesentlichen Bestandteil des Gesamtkunstwerks Bonsai dar und muss entsprechend zu jedem Baum individuell und sorgfältig ausgesucht werden. In manchen Fällen wird eine Schale auch extra für einen Baum in Handarbeit hergestellt. Für würdevolle alte Kiefern im aufrechten Stil bieten sich beispielsweise rechteckige Schalen in unglasierten Erdtönen an, für blühende oder zart gebaute Bäume würde man eher runde oder ovale Formen in hellen Tönen wählen. Kaskaden und Halbkaskaden wachsen in tieferen Schalen, da sonst das optische Gleichgewicht nicht stimmt und der Baum zu kippen scheint. Für Literatenformen werden oft runde Schalen (sogenannte Trommelschalen) benutzt. Bei der Auswahl der Schale ist zu beachten, dass diese nicht im Mittelpunkt stehen soll, sondern der Bonsai. Eine „zu schöne“ oder zu auffällige Schale lenkt von dem Bonsai ab und erfüllt somit nicht ihren Zweck. Ausnahmen bilden die kleinsten Bonsai, "Mame": Hier werden mit Vorliebe sehr bunte und auffällige Schalen verwendet.
Präsentationstisch.
Bonsaitische als ein Stilelement der Gesamtkonzeption aus Baum, Schale und Tisch haben eine hauptsächlich ästhetische Funktion. Die Aufgabe des Bonsaitisches ist es, den Bonsai höher als die gegebene Oberfläche zu präsentierten, was dem Bonsai zum einen zusätzliche Erhabenheit, Anmut und Förmlichkeit sowie einen stärkeren Charakter verleiht, zum anderen aber auch den Blickwinkel auf den Baum verbessern kann.
Pflege.
Im Vergleich zu anderen Zierpflanzen liegen bei der Bonsaipflege einige Unterschiede vor, welche zur sachgerechten Haltung des Bonsai beachtet werden müssen.
Begrenzter Wurzelraum.
Da das Wurzelwachstum durch die Bonsaischale begrenzt wird, steht dem Baum nur wenig Raum zur Bildung zusätzlicher Wurzeln zur Verfügung. Um dennoch ausreichend Wachstum zu erhalten, ist wesentlich intensivierte Düngung erforderlich. Falls hierfür anstatt moderner mineralischer Substrate klassische Erdmischungen eingesetzt werden, ist eine der Baumart entsprechende, genau gesteuerte Wasserzufuhr notwendig, da das begrenzte Erdvolumen nur wenig Wasser speichert bzw. übermäßiges Gießen nur begrenzt abgefangen wird, so dass die Gefahr von Wurzelfäule oder düngerbedingter Versalzung der Erdmischung besteht. Daher ist der Einsatz mineralischer Substrate auf dem Vormarsch.
Schädlinge und Krankheiten.
Die Folgen eines Befalls, wie z. B. Blatt- oder Astverluste, fallen aufgrund der Baumgröße und der detaillierten Gestaltung stärker ins Gewicht als bei größeren Pflanzen.
Die frühzeitige und fachgerechte Bekämpfung des Befalls ist hier besonders wichtig, wobei Ausfälle zum Teil jedoch auch als Gestaltungsmerkmal genutzt werden können.
Aufstellung des Bonsai.
Tokonoma.
Zur traditionellen Ausstellungssituation in der Tokonoma gehören: Ein Rollbild im Hintergrund, das den Baum um eine weitere Dimension ergänzt (zu Kiefern passen ruhige Bergmotive, zu Ahornen auch Tierszenen), ein Tischchen oder eine lackierte Baumscheibe sowie eine „Akzentpflanze“, die als Kontrapunkt fungiert und das Thema der Szene vertieft und unterstützt (meist Gras, Bambus, kleinwüchsige Stauden in einem flachen Schälchen). Aus dieser Form der Aufstellung ergibt sich auch die im japanischen Gestaltungsstil erforderliche Wahl einer Vorderseite (Betrachtungsseite) des Bonsais.
Auf der jährlich in Tokio stattfindenden "Kokufu-ten", der größten Bonsai-Schau Japans, werden seit 1933 die besten Bäume des Landes prämiert. Schon die Einladung zur Ausstellung gilt als große Ehre.
Europäische Ausstellungssituation.
In Europa hingegen werden Bonsai in der Regel nicht in Tokonoma aufgestellt. Eine ausgewählte Vorderseite ist darum oft weniger wichtig, ebenso die in Japan häufigen Begleitdekorationen (sogenannte Beisteller, kleine Figuren und Rollbilder). Ähnlich wie in chinesischen und japanischen Gärten werden auch Bäume gestaltet, die von allen Seiten betrachtet werden können. In vielen Ausstellungen dominiert aber nach wie vor ein traditionelles Schema, die Bäume werden auf längs aneinandergereihten Tischen vor Stellwänden präsentiert.
Formkunde des asiatischen Bonsaistils.
Die asiatischen Formen der Bonsaigestaltung leiten sich aus fast zweitausendjähriger Tradition ab, die heute noch Anwendung finden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die heutigen Gestaltungsformen für den Bonsai. Dies gilt jedoch hauptsächlich für japanische Bonsai.
In der europäischen Bonsaigestaltung haben sich nach einer anfänglichen Phase der reinen Adaption japanischer Formsprache allmählich Schwerpunkte gebildet: Neben den Verfechtern einer traditionellen Gestaltungsauffassung hat sich beispielsweise eine „naturalistische Bonsaigestaltung“ entwickelt, in der die Bonsai Bäumen in der freien Natur möglichst ähnlich sehen sollen. Daneben gibt es Gestaltungen, die von chinesischen Penjing beeinflusst sind, vereinzelt auch experimentelle, künstlerisch freie Gestaltungen.
Die Gestaltungsziele weichen wesentlich voneinander ab: Während der in Europa vermittelte japanische Stil hauptsächlich auf die Einhaltung bestimmter formaler Vorgaben abzielt (s. u.), konzentriert sich der naturalistische Stil auf die Gestaltung interessanter naturnaher Formen. Künstlerisch freie Arbeiten benutzen den Bonsai dagegen als Gestaltungselement in einem weiteren Zusammenhang. In allen Fällen wird der Bonsai intensiv gestaltet, jedoch mit unterschiedlichem Fokus.
Nachfolgend werden die japanischen Gestaltungsformen definiert:
Die aufrechte Form.
Sōkan.
Eine weitere Variante ist auch der "Dreifachstamm" (, "sankan") oder „Vater, Mutter und Sohn“.
Die Werkzeuge.
Zur Gestaltung und Formerhaltung bei Bonsai sind im Laufe der Zeit eine Vielzahl an spezialisierten Werkzeugen entstanden. Die gebräuchlichsten sind: |
538 | 3717965 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=538 | Bielefeld | Bielefeld (ostwestfälisch und plattdeutsch "Builefeld", "Bielefeld", "Beilefeld" oder "Builefeild") ist eine kreisfreie Großstadt im Regierungsbezirk Detmold im Nordosten Nordrhein-Westfalens. Mit rund 338.000 Einwohnern (Stand 31. Dezember 2022) ist sie die größte Stadt der Region Ostwestfalen-Lippe und deren wirtschaftliches Zentrum. In Nordrhein-Westfalen ist Bielefeld die achtgrößte Stadt. In der Landesplanung ist Bielefeld als Oberzentrum eingestuft. Auf der Liste der Großstädte in Deutschland steht es der Bevölkerung nach an 18. Stelle und der Fläche nach an 11. Stelle.
Die erste Erwähnung lässt sich auf den Anfang des 9. Jahrhunderts datieren, als Stadt wird sie erstmals 1214 bezeichnet. Am Nordende eines Quertals des Teutoburger Waldes gelegen, sollte die Kaufmannsstadt den Handel in der Grafschaft Ravensberg fördern, deren größter Ort sie wurde. Bielefeld war lange Zeit das Zentrum der Leinenindustrie. Heute ist die Stadt vor allem Standort der Nahrungsmittelindustrie, von Handels- und Dienstleistungsunternehmen, der Druck- und Bekleidungsindustrie und des Maschinenbaus. Überregional bekannt sind ihre Universität, die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die Dr. August Oetker KG und die Fußballmannschaft von Arminia Bielefeld.
Geographie.
Geographische Lage.
Bielefeld liegt auf der Wasserscheide zwischen Weser und Ems. Das Stadtgebiet gehört drei unterschiedlichen Naturräumen an. Der Norden und Nordosten einschließlich des Stadtzentrums sind in die Hügellandschaft der Ravensberger Mulde eingebettet. Unmittelbar südlich schließt sich der Gebirgszug des Teutoburger Waldes an, der Bielefeld von Westnordwest nach Ostsüdost durchzieht. Eine wichtige Verkehrsader war seit jeher der Bielefelder Pass, von dem aus sich der Stadtbezirk Gadderbaum mit Bethel in die Längstäler des Kammgebirges hinein erstreckt. Der Süden gehört zur Münsterländer Bucht, deren Randbereich westlich des Bielefelder Passes das Sandgebiet der Senne bildet, in der neben Teilen des Stadtbezirks Brackwede die Stadtbezirke Senne und Sennestadt liegen.
In der Innenstadt fließt der Lutterbach. In der Literatur wird Bielefeld deshalb auch ab und an als am Lutterbach liegend beschrieben. Dieser Bachlauf wurde im 15. Jahrhundert von der im Stadtteil Quelle entspringenden, Richtung Gütersloh fließenden Lutter abgezweigt. 2004 erfolgte eine Freilegung am Gymnasium am Waldhof. Die nördlichen Stadtteile Bielefelds liegen in einer sanft welligen Landschaft des Ravensberger Hügellandes mit Feldern, Wiesen, Bächen sowie kleinen Flüssen. Hier befindet sich der künstlich angelegte Obersee, der die größte Wasserfläche der Stadt darstellt und zur Regulierung des Johannisbaches angelegt wurde. Der nordöstliche Teil der Stadt entwässert über die Bielefelder Aa in die Weser, während das Wasser aus dem südwestlichen Teil der Ems zufließt. Die Wasserscheide bildet der fast völlig bewaldete Höhenzug des Teutoburger Waldes. Er dient als Naherholungsgebiet für die Bevölkerung der Großstadt. Durch den Teutoburger Wald führen zahlreiche Wanderwege inmitten des Bielefelder Stadtgebiets. Der bekannteste unter ihnen ist der Hermannsweg, der vom Hermannsdenkmal bei Detmold über die Sparrenburg nach Rheine führt. Die südlich des Teutoburger Waldes liegende Senne ist aus eiszeitlichen Sandablagerungen entstanden, von deren Heideflächen nur noch Reste im Stadtgebiet von Bielefeld erhalten sind. Heute wird dieses Gebiet von Äckern, Grünland und kleinen Wäldern, jedoch auch von Trockenrasen, Bruchwäldern und Feuchtwiesen geprägt.
Der höchste Punkt im Stadtgebiet liegt auf der Bergkuppe "Auf dem Polle" im Stadtteil Lämershagen auf 320 m NHN, der niedrigste im Stadtteil Brake an der Aa an der Grenze zu Herford auf 71 m NHN. Das Rathaus steht auf einer Höhe von 114 m NHN. Bielefeld hat daher – nach dem Höhenprofil geschieden – Anteil an zwei Landschaftsformationen, dem höheren Hügelland des Ravensberger Berglandes im Norden und dem Flachland der Westfälischen Bucht im Süden. Durch das Stadtgebiet führt der 52. nördliche Breitengrad. Er wird am Hermannsweg durch einen Markierungsstein gekennzeichnet.
Bielefeld ist die nördlichste Großstadt in Nordrhein-Westfalen. Die nächstgelegenen Großstädte sind Gütersloh (18 Kilometer südwestlich), Paderborn (40 Kilometer südöstlich), Osnabrück (45 Kilometer nordwestlich), Hamm (60 Kilometer südwestlich), Münster (65 Kilometer westlich), Hannover (100 Kilometer nordöstlich), Hildesheim (100 Kilometer östlich), Siegen (140 Kilometer südlich) und Bremen (200 Kilometer nördlich). Bielefeld liegt in einer Agglomeration, die sich entlang der Bahnstrecke Hamm–Minden und der parallel verlaufenden Autobahn 2 von Gütersloh über Bielefeld und Herford bis Minden erstreckt.
Stadtgliederung.
Gemäß der Hauptsatzung der Stadt Bielefeld gliedert sich das Stadtgebiet in zehn Stadtbezirke. Die einzelnen Stadtbezirke werden für statistische Zwecke in 72 Statistischen Bezirke unterteilt, die aus 170 Statistischen Raumeinheiten bzw. über 2.800 Baublöcken bestehen. Alle Einheiten der Gliederung sind durch eine eindeutige Nummerierung identifizierbar. Die Neugliederung der Stadt erfolgte zur besseren Statistikerhebung und aus Datenschutzgründen.
Die politische Vertretung eines jeden Stadtbezirkes besteht je Bezirk aus einer von der Bevölkerung gewählten Bezirksvertretung, die aus bis zu 19 Mitgliedern besteht. Vorsitzender der Bezirksvertretung ist der Bezirksbürgermeister (bis 2010 Bezirksvorsteher).
Informelle Stadtgliederung.
Im alltäglichen Sprachgebrauch wird für Ortsangaben in Bielefeld üblicherweise eine informelle Einteilung in Stadtteile verwendet. Diese Stadtteile entsprechen oftmals den ehemals selbstständigen Gemeinden, die bei den Gebietsreformen von 1930 und 1973 nach Bielefeld eingemeindet wurden.
Ausdehnung und Nutzung des Stadtgebiets.
Bielefeld ist als „Kleine Großstadt“ klassifiziert und bedeckt eine Fläche von 258,83 Quadratkilometern. Die größte Ausdehnung des Stadtgebiets beträgt in Nord-Süd-Richtung 22 und in West-Ost-Richtung 19 Kilometer. Für Siedlung und Verkehr werden 43,7 % der Fläche genutzt, Vegetations- und Gewässerfläche nehmen 56,3 % ein, die detaillierte Flächennutzung in Bielefeld ist der folgenden Tabelle zu entnehmen. Der Anteil an der Landwirtschaftsfläche ist um etwa vier Prozentpunkte höher als bei vergleichbaren Städten in NRW. Rund 7,5 % der Stadtfläche sind als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Von den Waldgebieten gehören 2363 ha zum Bielefelder Stadtwald.
Nachbargemeinden.
Bielefeld grenzt an folgende Städte und Gemeinden (im Uhrzeigersinn, beginnend im Norden):
Spenge, Enger und Herford (alle Kreis Herford), Bad Salzuflen, Leopoldshöhe und Oerlinghausen (alle Kreis Lippe) sowie Schloß Holte-Stukenbrock, Verl, Gütersloh, Steinhagen, Halle (Westf.) und Werther (Westf.) (alle Kreis Gütersloh).
Geologie.
In geologischer Hinsicht ist das Stadtgebiet dreigeteilt in einen südlichen Teil, der in der Westfälischen Bucht liegt, das Gebiet des Teutoburger Waldes und einen nördlichen Teil, der im Ravensberger Hügelland liegt.
Das Hügelland besteht im Wesentlichen aus 1000 bis 2000 Meter mächtigen Schichten von Tonmergel-, Kalk- und Sandsteinen des Erdmittelalters (Trias, Jura und Kreide). Charakteristisch für das Hügelland sind die zahlreichen Sättel, Mulden, Horste und Gräben. Im Teutoburger Wald, auch Osning genannt, wurden diese Gesteine in geomorphologischen Prozessen besonders deutlich herausgehoben und dann wie auch im Ravensberger Hügelland in die bereits genannten zahlreichen Sättel, Mulden, Horste und Gräben zerlegt. Der Osning wird daher auch als Bruchfaltengebirge charakterisiert. Die ehemals ungestört übereinander folgenden Gesteinsschichten sind im Osning daher heute nebeneinander oder gar in überkippter Lagerung anzutreffen. Von diesen Prozessen unbeeinflusst lagern im tieferen Untergrund die Gesteine des Erdaltertums (Devon, Karbon und Zechstein).
Die Oberfläche des gesamten flacheren Stadtgebiets ist durch Lockergesteine des Eiszeitalters (Sand, Kies, Löss, Geschiebemergel) bestimmt. Während allerdings im verglichen mit dem nördlichen Hügelland eher flachen Süden (insbesondere in der Senne) die Sande und Kiese dominieren und nur am Rand des Teutoburger Waldes Löss zu finden ist, gibt es im Ravensberger Hügelland insbesondere in den Tälern eine fast durchgehende Bedeckung mit einer fruchtbaren, etwa 1 Meter mächtigen Lössschicht. Dieser Löss wurde im Quartär angelagert und verwitterte im Laufe der Zeit zu fruchtbaren Parabraunerden. Da sich unter dem Löss wasserundurchlässige Schichten befinden, sind insbesondere die Täler des Hügellandes feucht. Die hier vorherrschenden staunassen Pseudogleyen, die oft in den charakteristischen Sieken zu finden sind, eignen sich vielfach nur als Grünland.
An der Grenze zum Münsterland haben sich aus den Schmelzwassersanden des Eiszeitalters Podsole entwickelt. Wie auch im Ravensberger Hügelland mit seinen Sieken und Plaggeneschen hat die historische Landbautechnik Einfluss auf die Böden im südlichen Stadtgebiet. Durch landwirtschaftliche Nutzung (teilweise auch Plaggenauftrag) haben sich teilweise tiefreichende Humusböden gebildet.
In den Hanglagen des Osnings konnte sich eine tiefgründige Bodenbedeckung nicht halten. Hier dominieren die Festgesteine, die überwiegend eine dünne Humusschicht tragen und nur an wenigen Stellen direkt an die Oberfläche treten. Eine Bedeckung dieser Gesteine ist im Kammbereich nur flachgründig. Im nordöstlichen Kammbereich und in einigen dem Kamm südwestlich vorgelagerten Kuppen, wie dem Käseberg und dem Bokelberg, finden sich vorwiegend flachgründige, steinige, tonig-lehmigen Kalkstein-Verwitterungsböden (Rendzinen). Im Bereich des südwestlichen Kammes finden sich eher flachgründige nährstoffarme, saure und steinige Heideböden (Podsole), die durch Verwitterung der Sandsteine des Erdmittelalters entstanden sind.
Klima.
Das Klima in Bielefeld wird durch die Lage im ozeanisch-kontinentalen Übergangsbereich Mitteleuropas und durch seine Lage am Teutoburger Wald bestimmt. Das Gebiet liegt überwiegend im Bereich des subatlantischen Seeklimas mit teils temporären kontinentalen Einflüssen. Die Winter sind unter atlantischem Einfluss meist mild, die Sommer mäßig warm, die Niederschläge relativ gleichmäßig verteilt. Die Jahresmitteltemperatur in der Mitte liegt bei etwa 8,5 °C und im in der Westfälischen Bucht liegenden Süden des Stadtgebiets bei etwa 9 °C. In den Höhenlagen des Osnings ist sie deutlich niedriger und liegt bei etwa 7,5 bis 8 °C.
Die Niederschläge sind maßgeblich durch die Lage am Teutoburger Wald beeinflusst. Insgesamt ist Bielefeld neben den Städten im Bergischen Land und im Siegerland eine der niederschlagsreichsten Großstädte Nordrhein-Westfalens. Die Jahresniederschläge liegen in allen Monaten deutlich über dem Landesschnitt. Die Niederschlagsmengen schwanken jedoch je nach Lage jährlich meist zwischen etwa 800 und 1000 Millimeter. Im Bereich des Stadtzentrums liegt der Jahresniederschlag bei etwa 890 Millimetern. Da die vorherrschenden Winde meist aus Richtung Südwesten wehen und dabei feuchte Luft vom Atlantik mitbringen, kommt es an der Luvseite des Teutoburger Waldes, der die erste Barriere am Rand des Weserberglandes darstellt, zu ausgeprägtem Steigungsregen. Daher erreichen die Jahresniederschläge im und am Südrand des Osning Werte bis deutlich über 1000 Millimeter. Die weiter in der Westfälischen Bucht gelegenen Orte im südlichen Stadtgebiet sind regenärmer. Hier beträgt der Jahresniederschlag nur noch etwa 750 Millimeter. Niedriger sind die Jahresniederschläge mit etwa 800 Millimetern auch in den geschützten Lagen im Aatal im Ravensberger Hügelland und im Lee des Osning.
Geschichte.
2017 wurden Reste eines vermutlich 2000 Jahre alten römischen Militärlagers in einem Waldgebiet von Bielefeld-Sennestadt entdeckt.
Außerdem wurde 1988 ein Ringwall entdeckt, der auf eine römische Baustelle um 32/31 v. Chr. schließen lässt.
Bereits zur Mitte des 9. Jahrhunderts wurde der Ort erwähnt, als dem Kloster Corvey ein Mansus "in Bylanuelde" übertragen wurde. Die erste Erwähnung der Stadt Bielefeld stammt aus dem Jahr 1214. Bielefeld gehörte zu den zahlreichen Stadtgründungen des Hochmittelalters und entstand mit der Absicht, die Herrschaft des Landesherrn zu sichern, da sie an der Südgrenze der Grafschaft Ravensberg lag. Die Landesherren wollten den Ort als Kaufmannsstadt und Hauptstadt der Grafschaft ausbauen.
Aufgrund seiner Lage an der Kreuzung mehrerer alter Handelswege und an einem wichtigen Pass durch den Teutoburger Wald entwickelte sich Bielefeld schnell zum Wirtschafts- und Finanzzentrum der Grafschaft Ravensberg. Um 1240 begann der Bau der Sparrenburg, die nach ihrer Fertigstellung als Wohnsitz des Landesherrn und seines Gefolges diente. Außerdem sollte die Burg die Stadt und den Pass über die Berge des Teutoburger Waldes schützen. Ab 1293 entstand die Neustadt. Bei den Bewohnern, überwiegend Kaufleute und Handwerker, wuchs der Wohlstand, nicht zuletzt durch den Beitritt zur Hanse im 15. Jahrhundert.
Im Vorfeld und im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) wurde die Sparrenburg nacheinander von holländischen, spanischen, schwedischen und französischen Truppen besetzt. In den Jahren 1636 und 1637 wütete die Pest in Bielefeld und forderte rund 350 Opfer. Im 17. Jahrhundert begann die Entwicklung Bielefelds zur „Leinenstadt“, was in der damaligen Zeit vor allem Leinenhandel bedeutete. Die Bauern des Ravensberger Landes bauten auf ihren Ackerflächen anstatt Korn vorzugsweise den staatlich subventionierten Flachs an und verarbeiteten diesen in Heimindustrie zu Leinen. Der Leinenhandel führte zu einem gewissen Wohlstand in der Stadt. Um 1830 geriet das Bielefelder Leinenhandwerk in eine schwere Krise, da in Irland, England und Belgien mit der Produktion maschinell gewebter Stoffe begonnen wurde. Die wirtschaftliche Not vieler Bielefelder führte zu Unruhen während der Revolution von 1848. Darüber hinaus verließen viele Menschen ihre Heimat in Ostwestfalen und wanderten nach Amerika aus.
Um 1860 entwickelte sich die Tabakproduktion im Ravensberger Land. Die Tabakfabrik Gebr. Crüwell in Bielefeld, eine der bedeutendsten ihrer Art in Deutschland, vergab bestimmte Arbeiten in Heimproduktion, so dass die Landbevölkerung neue Verdienstquellen fand. Als 1847 die Anbindung an die Cöln-Mindener Eisenbahn fertiggestellt war, entwickelten sich alsbald Fabriken. Mit der Ravensberger Spinnerei entstand ein Unternehmen, das sich zur größten Flachsspinnerei Europas entwickelte. Schon im Jahr 1870 war Bielefeld das Zentrum der Textilindustrie in Deutschland.
1867 wurden die Von Bodelschwingh'schen Anstalten Bethel im heutigen Stadtteil Gadderbaum gegründet. Neben der Textilindustrie entwickelte sich der Maschinenbau. Heute ist Bielefeld der fünftgrößte Maschinenbaustandort Deutschlands. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Nahrungsmittelindustrie für Bielefeld bedeutsam. Mit dem Oetker-Konzern beherbergt die Stadt einen der europaweit größten Vertreter dieser Branche.
1938 wohnten in Bielefeld rund 900 Bürger jüdischen Glaubens. Die jüdische Gemeinde verfügte über eine prächtige, im Jahr 1905 eingeweihte Synagoge in der Turnerstraße. Sie wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in der Reichspogromnacht von den Nationalsozialisten ausgeraubt und niedergebrannt. Kurz darauf, am 12. November 1938, wurden 406 Männer aus Bielefeld und Ostwestfalen-Lippe nach Buchenwald verschleppt. Im Herbst 1939 wurde den jüdischen Menschen in Bielefeld das Recht auf eigenen Wohnraum genommen, sie wurden in sogenannte Judenhäuser eingewiesen. Im Schlosshof errichtete man ein Zwangsarbeitslager. In der Folgezeit wurden jüdischen Menschen immer mehr Rechte genommen. Am 13. Dezember 1941 folgte dann die erste von insgesamt acht weiteren Deportationen. Für die meisten der Deportierten bedeuteten sie den Tod. Bisher konnten 1604 Menschen jüdischer Herkunft ermittelt werden, die zwischen 1941 und 1945 von Bielefeld aus verschleppt wurden. Die Gesamtzahl der Holocaust-Opfer liegt deutlich höher.
Der schwerste Luftangriff auf die Stadt im Zweiten Weltkrieg erfolgte am 30. September 1944. Er kostete 649 Menschen das Leben und zerstörte den größten Teil der Altstadt sowie viele historische Bauten. Am 4. April 1945 wurde die „Festung“ Bielefeld durch amerikanische Truppen eingenommen. Vorausgegangen waren zweitägige schwere Kämpfe in den Waldgebieten südlich der Stadt. Dem Mut einiger Bielefelder Bürger ist es zu verdanken, dass bei dem Vormarsch der amerikanischen Truppen weiteres Blutvergießen verhindert wurde. Der Brackweder Bürgermeister Hermann Bitter öffnete am 3. April 1945 den Amerikanern die Panzersperren und wurde daraufhin vom NSDAP-Kreisleiter erschossen. Als die amerikanischen Verbände am 4. April 1945 Richtung Innenstadt vorrückten, fuhr der evangelische Pastor Karl Pawlowski auf seinem Fahrrad die kampfbereiten deutschen Abwehrstellungen entlang und bewog die Soldaten zum Abzug. Daraufhin wurde Bielefeld ohne Gegenwehr eingenommen. Als die ersten amerikanischen Jeeps durch Bielefeld fuhren, wehte schon eine weiße Fahne vom Rathaus. Während des Krieges kamen in Bielefeld mehr als 1300 Menschen durch Bomben ums Leben.
Zerstörte historische Bausubstanz wurde nach dem Krieg durch moderne Bauten ersetzt. Die Industrie wurde binnen weniger Jahre wieder aufgebaut und der Wirtschaftsaufschwung begann. Die Textilindustrie verlor jedoch immer mehr an Bedeutung, während sich die Stadt zu einem Dienstleistungszentrum entwickelte.
Eine städtebauliche Besonderheit der Nachkriegszeit bildet die Planstadt Sennestadt.
Die Universität Bielefeld wurde 1969 gegründet.
Eingemeindungen.
Im Jahr 1828 wurde das Gut Niedermühlen in die Feldmark der Stadt Bielefeld eingegliedert. Am 1. April 1900 wurden Teile der Gemeinde Gadderbaum sowie das Gebiet der Sparrenburg nach Bielefeld eingegliedert. Am 31. Januar 1907 folgten Teile der Gemeinde Quelle sowie der Hof Meyer zu Olderdissen und der Schildhof. Am 1. Oktober 1930 kamen die Gemeinden Schildesche Dorf, Sieker und Stieghorst sowie Teile der Gemeinden Gellershagen, Großdornberg, Heepen, Hoberge-Uerentrup, Oldentrup, Schildesche Bauerschaft und Theesen aus dem Kreis Bielefeld zur Stadt Bielefeld. 54 ha der Gemeinde Babenhausen kamen am 31. Dezember 1961 und 56 ha der Gemeinde Brake am 1. Januar 1965 hinzu.
Die bislang umfangreichste Gebietsreform, geregelt im Gesetz zu Neugliederung des Raums Bielefeld, trat zum 1. Januar 1973 in Kraft. Aus dem Kreis Bielefeld kamen die Städte Brackwede und Sennestadt sowie die Gemeinden Gadderbaum, Senne I, Babenhausen, Großdornberg, Hoberge-Uerentrup, Kirchdornberg, Niederdornberg-Deppendorf, Altenhagen, Brake, Brönninghausen, Heepen, Hillegossen, Lämershagen-Gräfinghagen, Milse, Oldentrup, Ubbedissen, Jöllenbeck, Theesen und Vilsendorf zu Bielefeld; außerdem aus dem Kreis Halle (Westf.) die Gemeinde Schröttinghausen. Der Kreis Bielefeld wurde aufgelöst.
Einwohnerentwicklung.
Um das Jahr 1800 hatte Bielefeld rund 5.500 Einwohner. Durch die Industrialisierung stieg diese Zahl in den folgenden Jahrzehnten stetig an und lag 1900 bei über 60.000 Einwohnern. Die Bevölkerungszahl Bielefelds überschritt 1930 in den damaligen Grenzen die Marke von 100.000 und machte die Stadt damit zur Großstadt. In der Nachkriegszeit stieg die Bevölkerungszahl bis 1961 auf über 175.000, von denen etwa 60.000 als Flüchtlinge und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg nach Bielefeld gekommen waren. Nach einem leichten Rückgang bis 1972 wuchs die Einwohnerzahl 1973 durch die Eingemeindung fast aller zum Kreis Bielefeld gehörenden Orte, darunter Brackwede mit 39.856, Sennestadt mit 20.187 und Senne I mit 17.421 Einwohnern (Bevölkerungszahlen von 1970), auf mehr als 320.000. Mit 321.200 Einwohnern zum Jahresende 1973 wurde ein zwischenzeitlicher Höchststand erreicht, der erst seit 1991 dauerhaft überboten wurde. Bielefeld steht unter den deutschen Großstädten an 18. und in Nordrhein-Westfalen an achter Stelle.
Politik.
Kommunalpolitik.
1994 wurde in Bielefeld die Doppelspitze in der Stadtverwaltung aufgegeben. Seitdem gibt es nur noch den hauptamtlichen Oberbürgermeister. Dieser ist oberster Repräsentant der Stadt, Vorsitzender des Rates und Leiter der Stadtverwaltung. Er wird seit 1999 direkt von den Wahlberechtigten gewählt. Seit 2009 bekleidet Pit Clausen von der SPD das Amt. Er wurde zuletzt am 27. September 2020 in einer Stichwahl mit 56,09 Prozent der gültigen Stimmen als Oberbürgermeister bestätigt, sein Herausforderer Ralf Nettelstroth (CDU) erhielt 43,91 %. Die Wahlbeteiligung lag bei 40,69 %. In seiner repräsentativen Funktion wird er durch die ehrenamtlichen Bürgermeister Andreas Rüther (CDU), Karin Schrader (SPD) und Christina Osei (Grüne) vertreten. In seiner Funktion als Verwaltungschef vertritt ihn der Beigeordnete Moss (CDU).
Der Rat der Stadt Bielefeld hat unter Einbeziehung des Oberbürgermeisters, der von Amts wegen eine Stimme besitzt, in der neuen Wahlperiode 67 Mitglieder. Die Schulden der Stadt Bielefeld, ihrer Eigenbetriebe und ihrer Beteiligungen betrugen Ende 2012 1,639 Milliarden Euro. Das sind pro Einwohner 5004 Euro.
Im März 2021 vereinbarten SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die LINKE eine Koalition für die laufende Wahlperiode einzugehen.
Wappen.
Blasonierung: "Das Stadtwappen zeigt im goldenen Feld unter einem roten, zinnenbewehrten und mit zwei Mauertürmchen bestandenen offenen Mauerbogen einen silbernen Schild mit drei roten Sparren."
In der Grundform gibt es dieses Wappen seit 1263; damals galt es als Wappen der Altstadt. Als 1520 die Alt- mit der Neustadt vereinigt wurde, wurde das Wappen offizielles Wappen der nun vereinigten Stadt. Bis ins 19. Jahrhundert hat sich daran nichts geändert, doch dann kamen Löwen innerhalb von Wappen immer mehr in Mode, so dass das Wappen von da an von zwei Löwen getragen wurde. Seit 1973 ist das Wappen in Schildform und ohne Löwen das offizielle Wappen der Stadt Bielefeld. Der Schild mit den Sparren entspricht dem Wappen der Grafschaft Ravensberg, deren Hauptstadt Bielefeld einst war. Die Türme zeigen einen äußeren Teil der Außenmauer.
Städtepartnerschaften.
Bei einem Besuch von Bildungsfachleuten aus dem englischen Rochdale bei Gewerkschaftsvertretern in Bielefeld kam den Beteiligten die Idee einer Städtepartnerschaft, die 1953 eingegangen wurde. Als Symbole der Partnerschaft sind in Rochdale eine Brücke und in Bielefeld der Park vor der Ravensberger Spinnerei nach der jeweiligen Partnerstadt benannt. An der Nicolaikirche in Bielefeld steht darüber hinaus eine englische Telefonzelle.
Der Stadtbezirk Brackwede unterhält seit 1958 eine Partnerschaft mit Enniskillen in Nordirland. Ausgangspunkt der Partnerschaft war der Auftritt der "Royal-Inniskilling-Dragoon-Guards" auf dem Brackweder Schützenfest 1957. Zum Zeichen der Freundschaft wurde eine Straße in Brackwede nach der Partnerstadt benannt. Regelmäßige Schüleraustausche des Brackweder Gymnasiums mit der Portora Royal School gehören zum Partnerschaftsprogramm.
Die Folklore-Gruppe "Cercle Celtic" aus dem französischen Concarneau hatte 1967 einen Auftritt in der damals noch eigenständigen Gemeinde Senne. 1973 entwickelten sich die geschlossenen Freundschaften zu einer festen Partnerschaft mit dem heutigen Stadtbezirk. In den Städten sind heute Straßen nach der jeweiligen Partnerstadt benannt.
Der Bielefelder Gerhard Hoepner pflegte privat Kontakt zu Andreas Meyer, der ins israelische Nahariya ausgewandert war. Daraus entwickelte sich 1980 eine Städtepartnerschaft. Heute gibt es in Bielefeld ein Fenster zwischen den beiden Rathäusern und eine Straße, die nach der Partnerstadt benannt sind. In Nahariya konnte eine Kirche aus dem 6. Jahrhundert mit Spenden aus Bielefeld restauriert werden. Daher wird sie heute "Bielefelder Kirche" genannt. Das Gymnasium Heepen und die Amalschule in Nahariya pflegen ebenfalls eine Partnerschaft.
Als Folge eines Beschlusses des Bundestages zur militärischen Nachrüstung im Winter 1983/84 nahm Bielefeld Kontakt zur russischen Stadt Weliki Nowgorod auf. Aus dem Briefkontakt entwickelte sich eine Städtepartnerschaft, die 1987 eingegangen wurde. Eine Straße im neuen Bahnhofsviertel und eine Eiche an der Sparrenburg wurden nach der Partnerstadt benannt. In den 1990er-Jahren wurden viele Hilfstransporte in die russische Partnerstadt unternommen. Noch heute werden soziale Projekte in Weliki Nowgorod finanziell unterstützt. Regelmäßig tauschen sich Schulen und Universitäten aus.
Die Deutsch-Polnische Gesellschaft in Bielefeld initiierte 1991 eine Partnerschaft mit der polnischen Stadt Rzeszów. Schulen und Universitäten der Städte tauschen sich regelmäßig aus.
Seit 1984 pflegt Bielefeld Kontakte mit Estelí in Nicaragua, die 1995 zu einer festen Städtepartnerschaft ausgebaut wurden. Die Stadt wurde 1998 durch einen Hurrikan verwüstet und konnte mithilfe von Spendengeldern aus Bielefeld und anderen Partnerstädten wieder aufgebaut werden. Die Partnerschaft wird von den Bielefelder Schulen gestützt, die mit den Schulen in Estelí gemeinsame Projekte durchführen. Nachdem Berichten vom Welthaus Bielefeld zufolge im April 2018 Scharfschützen vom Dach des Rathauses in Estelí auf Demonstranten schossen, wohl mit Wissen des Bürgermeisters, legte die Bielefelder Stadtverwaltung die Partnerschaft mit Estelí vorerst auf Eis. Die zivilgesellschaftlichen Projekte laufen indes weiter.
Bielefeld hat Patenschaften für die ehemals ostdeutschen Städte Gumbinnen/Ostpreußen (Gussew, Oblast Kaliningrad, Russland), Wansen/Schlesien (Wiązów, Polen) und Münsterberg/Schlesien (Ziębice, Polen) übernommen. Den heimatvertriebenen Bewohnern dieser Städte gewährte Bielefeld nach dem Zweiten Weltkrieg Hilfe bei der sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung.
Bundespolitik.
Bielefeld befindet sich im Bundestagswahlkreis "132 Bielefeld – Gütersloh II". Bei der Bundestagswahl 2021 konnte Wiebke Esdar (SPD) das Direktmandat gewinnen. Über die Landeslisten ihrer Partei zog außerdem aus Bielefeld Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) in den Bundestag ein.
Landespolitik.
Bei Wahlen zum Landtag von Nordrhein-Westfalen bilden die Stadtbezirke Mitte, Schildesche und Gadderbaum den Wahlkreis "92 Bielefeld I" sowie die Stadtbezirke Heepen, Brackwede, Stieghorst, Sennestadt und Senne den Wahlkreis "93 Bielefeld II". Die Stadtbezirke Dornberg und Jöllenbeck gehören zusammen mit Borgholzhausen, Halle, Steinhagen, Versmold und Werther zum Wahlkreis "94 Gütersloh I – Bielefeld III". Die Direktmandate bei der Landtagswahl 2022 gewannen Christina Kampmann (SPD) im Wahlkreis 92, Tom Brüntrup, (CDU) im Wahlkreis 93 und Thorsten Klute (SPD) im Wahlkreis 94. Außerdem zog aus Bielefeld Christina Osei (Bündnis 90/Die Grünen) über die Landesliste ihrer Partei in den Landtag ein.
Sehenswürdigkeiten.
Sakralbauten.
Die Altstädter Nicolaikirche ist die älteste der Bielefelder Stadtkirchen. Sie war ursprünglich eine dreischiffige gotische Hallenkirche, die Anfang des 14. Jahrhunderts vergrößert und zur Bürger-/Kaufmannskirche ausgebaut wurde. Zuvor wurde sie 1236 vom Paderborner Bischof Bernard zur eigenständigen Pfarrkirche erhoben. Viermal täglich (um 9:58, 12:58, 15:58 und 18:58 Uhr) erklingt ein Glockenspiel. Der wertvollste Besitz dieser Kirche ist ein Antwerpener Retabel, das mit neun geschnitzten Szenen und über 250 Schnitzfiguren verziert ist. In ihrer heutigen Form ist die Kirche bis auf den unteren Teil des Turmes ein Neubau, der in Anlehnung an die am 30. September 1944 zerstörte Vorgängerkirche entstanden ist. Die Kirche verfügt über ein kleines Museum, in dem unter anderem Überbleibsel aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sowie alte Fotografien gezeigt werden.
Die Neustädter Marienkirche ist eine hochgotische Hallenkirche mit zwei Türmen aus dem Jahr 1293. Die Türme wurden jedoch erst Anfang des 16. Jahrhunderts mit gotischen Turmhelmen ergänzt und damit vollendet. Die gotischen Turmhelme wurden später bei einem Sturm zerstört und durch barocke Hauben ersetzt. Diese Kirche ist aus kunsthistorischer Sicht das wertvollste Baudenkmal Bielefelds und hat eine Länge von 52 Metern sowie eine Höhe von 78 Metern. Im Jahr 1553 war sie Ausgangspunkt der Reformation in Bielefeld. Im Gotteshaus befindet sich ein wertvoller Flügelaltar mit 13 verschiedenen Bildern, der sogenannte Marienaltar. Die Bilder wurden von einem anonymen Maler im Jahr 1400 geschaffen. Auf ihnen sind Situationen wie Himmel und Erde, Gott und Mensch oder Christus und Maria zu sehen. Die Kirche diente eine Zeit lang als Grablege der Grafen von Ravensberg. An der Nordseite des Chores befindet sich die Tumba des Grafen Otto III. von Ravensberg und seiner Gemahlin Hedwig zur Lippe, die wohl kurz nach 1320 entstanden ist. Auf der Südseite ist die Tumba des Grafen Wilhelm II. († 1428) und seiner Gemahlin Adelheid von Tecklenburg († 1429). Zur weiteren Ausstattung gehören ein spätgotisches Kruzifix vom Anfang des 16. Jahrhunderts und eine geschnitzte Kanzel, die von 1681 bis 1683 vom Bielefelder Meister Bernd Christoph Hattenkerl geschaffen wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche schwer beschädigt. Unter anderem wurden bei einem Luftangriff die bis dato barocken Turmhelme zerstört. Nach dem Krieg wurden diese 1965 in gotischer Form neu errichtet und erhielten ihre extrem spitze Form.
Mitten in der Altstadt steht die im 16. Jahrhundert entstandene Süsterkirche. An dieser Stelle wurde es im Jahr 1491 zwölf Augustinerinnen gestattet, ein eigenes Kloster zu gründen. Sie widmeten sich der Kranken- und Armenversorgung. Im Jahr 1616 wurde das Kloster jedoch aufgrund mangelnder Wirtschaftlichkeit aufgegeben und an die Stadt übergeben. Heute ist sie die Kirche der einzigen evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Bielefelds. Von den sich anschließenden Gebäuden des ehemaligen Klosters zum Marienthal blieb nur das Haus "Süsterplatz 2" erhalten. Der quadratische zweigeschossige Bau mit Satteldach entstand im Kern bereits zwischen 1500 und 1600 und dient heute als Pfarrhaus. Im 18./19. Jahrhundert wurde er unter Veränderung der Geschosshöhen durchgreifend umgebaut. Der Vordergiebel zum Süsterplatz wurde dabei in neugotischen Formen dekoriert.
Die katholische Pfarrkirche St. Jodokus war ursprünglich die Kirche eines Franziskanerklosters und wurde 1511 erbaut. Zunächst (ab 1498) befand sich dieses Kloster am Jostberg, wurde dort jedoch schon 1507 aufgrund von Schwierigkeiten bei der Wasserversorgung wieder aufgegeben und an den heutigen Klosterplatz verlegt. Von dem alten Kloster am Jostberg sind noch Ruinen erhalten. Das Franziskanerkloster in der Altstadt blieb auch nach der Reformation bestehen. Als die übrigen Kirchen in der Stadt die Reformation annahmen, versahen die Franziskaner die Seelsorge für die wenigen im Ravensberger Land verbliebenen Katholiken. Das Kloster wurde 1829 aufgelöst, die Pfarrseelsorge übernahmen Diözesanpriester. Im Innern der Kirche, die bis heute Pfarrkirche ist, befinden sich die „Schwarze Madonna“ von 1220, eine Holzplastik des heiligen Jodokus von 1480 sowie die Ikonenwand von Saweljew aus dem Jahr 1962.
Die Kirche Heilig Geist an der Spandauer Allee im Bielefelder Ortsteil Dornberg gilt als ein Kleinod unter den modernen Kirchen im ostwestfälischen Raum. Sie wurde Anfang der 1990er-Jahre in Bielefeld-Dornberg als Nachfolgekirche der beiden für die wachsende Gemeinde zu klein gewordenen Kirchen "Heilig Geist im Wellensiek" und "Heilige Familie", Bielefeld-Uerentrup, erbaut.
Profanbauten.
Der Alte Markt bildet das Herzstück der Bielefelder Altstadt. An seiner Nordseite befindet sich das Theater am Alten Markt. Der äußerlich unscheinbare Bau lässt kaum erahnen, dass in ihm noch umfangreiche Reste des mittelalterlichen Rathauses stecken. Das Altstädter Rathaus wurde 1424 erstmals urkundlich erwähnt. Der erste Rathausbau ist an dieser Stelle vermutlich bereits im 13. Jahrhundert entstanden. Von ihm dürften noch Teile im jetzigen Kellergeschoss vorhanden sein. 1538 wurde mit einem Neu- bzw. Erweiterungsbau begonnen, der spätestens 1569 vollendet war. Dabei handelte es sich um einen zweigeschossigen Bruchsteinbau über hohem Sockelgeschoss mit zwei in Werkstein ausgeführten Schaugiebeln. Der auf einer Zeichnung des 19. Jahrhunderts überlieferte westliche Staffelgiebel war in Anlehnung an das Münsteraner Rathaus und das nahe gelegene Crüwellhaus noch in spätgotischen Formen gestaltet. Über dem schon Renaissanceformen aufweisenden Hauptportal an der Niedernstraße war ein 1562 bezeichnetes Adam-und-Eva-Relief (jetzt im Foyer des Neuen Rathauses) angebracht.
1820–1821 erfolgte ein durchgreifender Umbau und die Erhöhung des Wandkastens, um das Innere besser nutzen zu können. Dabei wurden die beiden Giebel abgebrochen. Anschließend wurde der Außenbau in klassizistischen Formen dekoriert und der Haupteingang mit Freitreppe an die Marktseite verlegt. Das hohe Satteldach wurde außerdem durch ein niedriges Krüppelwalmdach ersetzt. Nach der Erbauung des Neuen (heute „Alten“) Rathauses am Niedernwall im Jahre 1904 diente es nur noch als Sitz untergeordneter Behörden und der Stadtbibliothek. 1906 wurde ein Arkadengang an der Niedernstraße, der sogenannte Hochzeitsbogen, für den Fußgängerverkehr eingebaut. Am 30. September 1944 wurde der Bau mehrfach von Brandbomben getroffen und ist völlig ausgebrannt.
Ab 1949 wurde das Alte Rathaus von Hanns Dustmann unter weitgehender Verwendung des spätmittelalterlichen Wandkastens wiederaufgebaut. Seitdem wird es als „Theater am Alten Markt“ und als Volkshochschule „Die Brücke“ genutzt. Um beide Einrichtungen unterbringen zu können, wurde im Norden ein niedrigerer Erweiterungsbau angefügt. Bei der Wiederherstellung der Fassaden wurde das klassizistische Dekor entfernt und das Äußere in schlichten Formen gestaltet, so dass das noch weitgehend aus dem Spätmittelalter stammende Gebäude heute wie ein Nachkriegs-Neubau erscheint, der noch deutliche Anklänge an die so genannte Heimatschutzarchitektur zeigt.
Der jetzige Bau ist ein zweigeschossiger Putzbau von sieben Achsen mit hohem, von zahlreichen Gauben belebtem Walmdach. An der zur Niedernstraße hin orientierten Schmalseite befindet sich der als Laubengang gestaltete Hochzeitsbogen und an der Marktseite ein schlichtes Portal mit doppelläufiger Freitreppe. Die östlichen drei Joche des Kellergewölbes wurden 1995 saniert und dienen seitdem als Weinstube. Die Kreuzgratgewölbe sind noch zum Teil mit den Schlusssteinen von 1538 versehen, die sich allerdings nicht mehr an ursprünglicher Stelle befinden.
Bürgerliche Wohnbauten.
Von den zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch in größerer Zahl vorhandenen bürgerlichen Wohnbauten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sind nur wenige erhalten, jedoch befinden sich noch zahlreiche Villen und Straßenzüge der Gründerzeit und der Wende zum 19. Jahrhundert in der Stadt, auch in den Stadtteilen ist die Bebauung in Teilen älter als in der Innenstadt.
Das derzeit älteste bekannte Bürgerhaus ist das Haus Müller in der Obernstraße. Es wurde nach dendrochronologischer Datierung 1485 errichtet. 1592 kam es zu einem umfassenden Umbau, bei dem es unter anderem mit einem neuen reich beschnitzten Fachwerk-Giebel versehen wurde. Von 1991 bis 1993 wurde das Gebäude durchgreifend erneuert und durch einen modernen Anbau ergänzt. Obwohl auch historische Befunde beseitigt wurden, ist die ursprüngliche Aufteilung des Inneren mit Diele, den seitlichen Stubeneinbauten und dem unterkellerten Saal bis heute nachvollziehbar geblieben. Das zugehörige Hinterhaus "Welle 55", das mit dem Vordergebäude durch eine hölzerne Brücke verbunden ist, dürfte im 17. Jahrhundert errichtet worden sein.
Ebenfalls noch aus dem Spätmittelalter stammt das Haus "Obernstraße 32". Das schlichte zweigeschossige Giebelhaus mit Krüppelwalmdach wird im Äußeren wesentlich durch einen Umbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt. Die ältesten Teile entstanden bereits im frühen 16. Jahrhundert.
Einer der bekanntesten Wohnbauten ist das ab 1530 errichtete "Crüwell-Haus" (Obernstraße 1). Der spätgotische Stufengiebel entstand nach dem Vorbild Münsteraner Bauten. Ähnliche, jedoch später entstandene Beispiele gibt es in Herford (Bürgermeisterhaus, bezeichnet 1538) und Lemgo (Haus Wippermann 1576). Die Front wurde 1901 erneuert und im Erdgeschoss mit Ladeneinbauten versehen. Im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt, wurde das Haus 1948/49 von Paul Griesser unter Erhaltung der historischen Fassade neu errichtet. Beim Wiederaufbau wurden anstelle der großen Schaufenster kleinere Kreuzstockfenster eingesetzt. Im Treppenhaus befinden sich etwa 7000 historische Delfter Kacheln aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Es handelt sich wohl um die größte Sammlung dieser Art in Nordwestdeutschland.
Vom "Battig-Haus" (Alter Markt 3) blieb nach schwerer Kriegszerstörung nur der 1680 bezeichnete Volutengiebel erhalten, der in den von Paul Griesser errichteten Komplex der Lampe-Bank einbezogen wurde. Die Schaufront ist noch stark von der so genannten „Weserrenaissance“ beeinflusst, die Art der Staffelfüllungen ist jedoch schon dem Barock verpflichtet. Beim Wiederaufbau nach 1945 wurde die Fassade erhalten, wobei die Schaufenster durch kleinere Öffnungen ersetzt wurden.
An der "Obernstraße 38" befindet sich ein Fachwerkbau mit klassizistischer Fassade, die dem älteren Hauskörper in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgeblendet wurde. Die Erdgeschosszone ist in jüngerer Zeit durch Ladeneinbauten verändert worden.
Wesentlich mehr Wohngebäude haben den Krieg außerhalb der Innenstadt überdauert. So liegen westlich des Ostwestfalendamms einige Straßenzüge mit nahezu durchgängiger denkmalgeschützter Bebauung aus Villen und Bürgerhäusern. Zu nennen sind hier vor allem die Große-Kurfürsten-Straße, der Goldbach sowie Werther- und Dornberger Straße. Häufig handelt es sich dabei um Wohnstätten ehemaliger Unternehmer wie die Villa Bozi. Ebenso befinden sich in sogenannten "Musikerviertel" zwischen Detmolder Straße und Sparrenburg zahlreiche Gebäude gleicher Art. Im Osten der Innenstadt befinden sich Ensembles aus der Zeit um 1900, so zum Beispiel an der Diesterweg- und Fröbelstraße. Teilweise bis ins Mittelalter zurückgehende Bebauung findet sich in den Kernen der Stadtteile Heepen und Schildesche.
Adelshöfe.
Von den im Jahre 1718 genannten 17 Adelshöfen sind noch einige erhalten:
Als Keimzelle der Stadt gilt der an der Welle gelegene "Waldhof". Er soll aus einem der Höfe hervorgegangen sein, die bereits vor der Stadtgründung bestanden. Das lang gestreckte Gebäude stammt im Kern sicher noch aus dem Mittelalter und wurde im 16. Jahrhundert umgebaut. Damals entstand die 1585 bezeichnete Utlucht mit Volutengiebel. Der östliche Gebäudeteil besaß bis zum Zweiten Weltkrieg ein Fachwerk-Obergeschoss.
Am Klosterplatz befindet sich der auch als Woermanns Hof bezeichnete "Korff-Schmisinger Hof". Das mit Fächerrosetten versehene und reich beschnitzte Fachwerk-Obergeschoss soll um 1640 entstanden sein. Beim Bau der Klosterplatzschule wurde der ehemals etwa doppelt so lange Bau erheblich verkürzt.
In unmittelbarer Nähe liegt der Wendtsche Hof. Der zweigeschossige Bau entstand im 16. Jahrhundert und wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert mehrfach verändert. Die rückwärtigen Teile wurden weitgehend in Fachwerk erneuert. Im Innenhof befindet sich ein polygonaler Treppenturm.
Der 1540 bezeichnete Spiegelshof ist ein zweigeschossiger verputzter Bruchsteinbau im Stil der so genannten Weserrenaissance. Die Schmalseiten werden von Radzinnengiebeln geschmückt. Das Treppenhaus wurde 1682 angefügt. Das Innere wurde im Laufe der Zeit immer wieder verändert; im hinteren Teil des Gebäudes blieb dennoch ein unterkellerter Saal mit Balkendecke erhalten. Heute beherbergt Spiegels Hof das Naturkunde-Museum.
Eine noch aufwendigere Fassade besitzt der "Grestsche Hof". Er wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vielleicht auf den Fundamenten eines Stadtmauerturmes erbaut. Der prachtvolle Renaissancebau bildet seit 1870 den Nordflügel des Ratsgymnasiums. Zu dieser Zeit wurde der Dachbereich verändert.
Als zweigeschossiger Putzbau präsentiert sich "Meinders Hof" (Obernstraße 40). Das originelle barocke Eingangsportal ist mit der Jahreszahl 1669 beschriftet. Weitere Veränderungen erfolgten im 19. Jahrhundert. Im Inneren des Erdgeschosses blieben ein 1670 datierter Kamin und Reste von barocken Stuckdecken erhalten.
Wiederverwendete Reste zerstörter Bauten.
"Alter Markt 5." Den schlichten Nachkriegsbau ziert ein 1593 bezeichneter Volutengiebel in Formen der Weserrenaissance, der ursprünglich zu Obernstraße 29 (Brünger) gehörte. Der kriegsbeschädigte Ursprungsbau wurde 1962 unter Sicherstellung des Giebels abgebrochen. Zunächst auf den städtischen Bauhof verbracht, wurde er 1976 an seinem jetzigen Standort aufgestellt. Er ist in Einzelformen mit Markt 32 in Bad Salzuflen verwandt.
"Niedernstraße 3." In den schlichten Nachkriegsbau wurde ein mittelalterlicher Keller mit Tonnengewölbe integriert.
"Obernstraße 36" (Sparkasse). Dem 1975 entstandenen Gebäude wurde ein Dreiecksgiebel (bezeichnet 1606) vom ehemaligen Haus Obernstraße 9 vorgeblendet.
Die "55er-Kaserne" an der Hans-Sachs-Straße wurde 1775/77 auf dem Gelände des Hatzfeldschen Adelshofes errichtet. Dabei wurden Verblendsteine von den Festungsmauern der Sparrenburg verwendet. Es ist ein lang gestreckter Massivbau, dessen Mittelrisalit ein Wappen krönt. Bei der Erweiterung von 1850 wurde der Hauptflügel um ein Mezzaningeschoss erhöht.
Stadtmauer.
Von der im 13. Jahrhundert errichteten Stadtmauer der Altstadt sind Fundamentreste als Inszenierung im sogenannten Welle-Haus zu besichtigen. Die Reste wurden im Rahmen des Projekts Archäo Welle freigelegt und museal aufbereitet. Im ehemaligen Grestschen Hof (siehe dort) sind Teile eines sehr starken viereckigen Mauerturmes verbaut. In der seit dem frühen 14. Jahrhundert befestigten Neustadt ist außerdem der Stumpf eines mittelalterlichen "Schalenturmes" im Garten eines Hauses an der Kesselstraße vorhanden. Mit dem Aufkommen der Feuerwaffen kam es zur Anlage eines einheitlichen Befestigungssystems um Alt- und Neustadt mit mehreren Rondellen zwischen 1539 und 1545. Ein mehrere Meter langes Mauerstück davon, das die Einmündung von Vossbach und Lutter in den Stadtgraben sichern sollte, ist hinter dem Haus Kreuzstraße 38 (derzeit Verwaltungsgebäude des Naturkundemuseums) erhalten. Auf der Mauerkrone stehen die zwei letzten Exemplare der ab 1856 installierten Gaslaternen.
Weitere Bauten.
Die "Sparrenburg" ist das bekannteste Baudenkmal und Wahrzeichen der Stadt. Sie wurde neuesten Erkenntnissen zufolge um 1200 erbaut und verfügt über einen 37 Meter hohen Burgturm sowie über unterirdische Gänge, die im Rahmen einer Führung besichtigt werden können. Der Turm kann von April bis Oktober von 10 bis 18 Uhr bestiegen werden. Am 22. September 2006 belegte die Sparrenburg Platz 17 bei einem vom ZDF ausgelobten Wettbewerb, in dem die beliebtesten deutschen Plätze gewählt wurden.
Unweit entfernt befindet sich die Römische Kreisgrabenanlage auf der Sparrenberger Egge.
Im Jahr 1535 wurde Niemöllers Mühle, eine oberschlächtige Wassermühle im Bielefelder Stadtteil Quelle, erstmals erwähnt. Sie ist seit der Restaurierung 1994 wieder funktionstüchtig.
Im Ravensberger Park steht die Weiße Villa. Das Gebäude erinnert an die zahlreichen Potsdamer Turmvillen im italienischen Landhausstil, zum Beispiel die Villa Schöningen. Wenige Schritte daneben befindet sich die ehemalige Direktorenvilla der Ravensberger Spinnerei, die heute das Museum Huelsmann beherbergt.
In den Nordpark wurde ein heute als Café genutzter kleiner Pavillon umgesetzt, der um 1830 errichtet wurde und einem Schüler des berühmten Baumeisters Karl Friedrich Schinkel zugerechnet wird.
Das "Alte Rathaus" wurde 1904 erbaut und ist heute repräsentativer Sitz des Bielefelder Oberbürgermeisters. Der größte Teil der Verwaltung befindet sich im "Neuen Rathaus", das direkt daneben liegt. An der Fassade des Alten Rathauses finden sich verschiedene Baustile, unter anderem Elemente der Gotik und der Renaissance.
Das Stadttheater bildet baulich eine Einheit mit dem Alten Rathaus. Es wurde ebenfalls im Jahr 1904 eingeweiht und verfügt über eine bemerkenswerte Jugendstilfassade des Architekten Bernhard Sehring. Es ist das größte Theater der Stadt. 2005–2006 wurde es von Grund auf renoviert.
Auf dem Altstädter Kirchplatz befindet sich das 1909 von Hans Perathoner geschaffene Leineweberdenkmal, eine Brunnenanlage, die an Bielefelds wirtschaftliche Anfänge in der Leinenverarbeitung erinnern soll.
An ein Schloss erinnert die Architektur der von 1855 bis 1857 erbauten Ravensberger Spinnerei, die im 19. Jahrhundert Europas größte Flachsspinnerei war. Heute sind die Volkshochschule, das Historische Museum Bielefeld, ein städtisches Medienzentrum und eine Diskothek in ihr untergebracht. Ihr vorgelagert befinden sich der Rochdale- und der Ravensberger Park, die als Open-Air-Bühne dienen.
"Ehemalige Werkkunstschule", Am Sparrenberg 2. 1913 von Stadtoberbaurat Friedrich Schultz im Sinne der Reformschulbauten des Henry van de Velde errichtet.
Von 1926 bis 1927 entstand das von Friedrich Schultz entworfene Freibad an der Wiesenstraße. Neben der großen zentralen Tribüne und der 100-m-Bahn weist es eine besondere Achsensymmetrie auf. Dazu gehörte seinerzeit auch ein Casinogebäude als Gartenrestaurant an der Bleichstraße. Zufahrt, Sprungturm und Casino liegen in einer eigenen Symmetrieachse. Wegen dieser Besonderheiten sind die historischen Teile des Wiesenbades heute als Denkmal geschützt.
"Haus der Technik" (Stadtwerke), Jahnplatz 5. Der Stahlskelettbau in Backsteinverblendung wurde 1929 von dem Berliner Architekten Heinrich Tischer als erstes „Hochhaus“ der Stadt im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet. Der flach gedeckte, turmartige Hauptbau wurde ursprünglich von einem gläsernen Aufsatz bekrönt. Bei einem Luftangriff am 24. Februar 1945 wurde das Gebäude stark in Mitleidenschaft gezogen. Die oberen Geschosse des Turmbaus wurden wegen Einsturzgefahr wenige Wochen später gesprengt. Beim Wiederaufbau bis 1950 wurde in Anlehnung an die ursprüngliche Form auf den gläsernen Turmaufsatz verzichtet. Der obere Abschluss wurde leicht verändert und um ein Geschoss erhöht. 2012 wurde schließlich der für das Gebäude so charakteristische Lichtturm wiederhergestellt.
"Gloria-Palast", Niedernstraße 12. Ehemaliges Filmtheater, 1927–1928 von Wilhelm Kreis im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet. Das Gebäude wurde 1944 bei der Bombardierung stark beschädigt. Bei der Wiederherstellung 1948 wurde das große Milchglasfenster über dem Eingang durch drei Fenstertüren mit vorgelegtem Balkon ersetzt. Das Innere wurde später in mehrere Kinosäle unterteilt, dabei ging die qualitätsvolle Innenausstattung verloren. Im Jahr 2000 wurde das Kino geschlossen und das Gebäude nochmals für die anschließende Nutzung als Ladengeschäft umgebaut, wobei die Fassade in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt wurde. Der Palast ist einer der wenigen Vertreter der Neuen Sachlichkeit in Bielefeld und zudem der erste Kinobau der Stadt, dessen Zweckbestimmung äußerlich klar erkennbar ist.
Die "Kunsthalle" wurde von 1966 bis 1968 nach den Plänen des amerikanischen Architekten Philip Johnson erbaut. Das Gebäude selbst ist ein roter Sandsteinkubus. Der Eigenbesitz der Kunsthalle zeigt die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, daneben finden regelmäßig Wechselausstellungen zu den verschiedensten Themen statt. Der Kunsthalle vorgelagert ist der Skulpturenpark mit Wasserbecken und Werken unter anderem von Henry Moore, Ólafur Elíasson und Sol LeWitt. Es gibt auch ein Café mit einer Außenterrasse.
Der denkmalgeschützte Ostmannturm ist ein heute als Studentenwohnheim genutzter Rest der industriellen Bebauung im nach ihm benannten Ostmannturmviertel.
Grünflächen und Naherholung.
Teile Bielefelds liegen im Naturpark TERRA.vita sowie im Naturpark Teutoburger Wald/Eggegebirge. Der sich über das Stadtgebiet erstreckende Höhenzug bietet viele Möglichkeiten der Naherholung. Hier liegt gleichzeitig der höchste Flächenanteil der Naturschutzgebiete, weitere wesentliche Teile liegen besonders in den angrenzenden Gebieten von kleinen Bachläufen und in Teilen der Senne. Bezogen auf das ganze Stadtgebiet hat Bielefeld unter den deutschen Städten mit mehr als 250.000 Einwohnern den größten Anteil an Grünfläche. Vergleicht man alle deutschen Großstädte, das heißt Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, so liegt Bielefeld auf Platz 11.
Im oder am Teutoburger Wald liegen der Botanische Garten Bielefeld mit Alpinum, Bambusgärten, einem Steingarten, einer Rhododendron- und Azaleensammlung, einem Arznei- und Gewürzgarten, einem Heidegarten, Buchenwaldflora und rund 200 Arten der roten Liste sowie der 1928 gegründete Heimat-Tierpark Olderdissen, der über 430 Tiere aus 100 heimischen Tierarten beherbergt.
Der Obersee ist ein Stausee im Ortsteil Schildesche im Norden der Stadt. Rund um diesen See befindet sich eine 80 Hektar große Grünanlage. Die aus historischen Gebäuden bestehende Gaststätte "Seekrug" ist ein beliebtes Ausflugsziel. Geplant war auch ein "Untersee" auf der östlichen Seite des Eisenbahnviadukts als Freizeitanlage. Diese Planungen werden zurzeit unter anderem aus Kosten- und Naturschutzgründen nicht weiter verfolgt.
Als größere Parks in der Innenstadt sind der Bürgerpark in direkter Nachbarschaft zur Rudolf-Oetker-Halle, der "Ravensberger Park" und der – der englischen Partnerstadt gewidmete – "Rochdale Park" rund um die Ravensberger Spinnerei sowie der Nordpark mit altem Baumbestand zu nennen. In diesen Park wurde nach dem Krieg aus einem Privatgarten das heutige Gartenhaus versetzt, das von einem Schüler Schinkels 1830 errichtet wurde. Seit 2014 ist der Winzersche Garten am Johannisberg wieder zugänglich.
Seit 2003 gibt es einen Japanischen Garten im Stadtbezirk Gadderbaum.
Rund um die Stadtgrenzen von Bielefeld schlängelt sich der 88,8 km lange Wappenweg, ein Wanderweg, der als Markierungszeichen einen Ausschnitt des Stadtwappens trägt.
Der 1912 eröffnete Sennefriedhof gehört mit knapp 100 ha Fläche zu den größten Friedhöfen Deutschlands. Durch seine besondere Lage in der Naturlandschaft Senne und die außergewöhnliche Größe sind in vielen Bereichen des Sennefriedhofes ökologische Nischen entstanden. So stehen hier 20 der 98 kartierten Moosarten der Roten Liste des Landes Nordrhein-Westfalen. Grabmäler, die von Künstlern wie Käthe Kollwitz, Georg Kolbe, Peter August Böckstiegel und Hans Perathoner gestaltet wurden, deuten auf den kulturellen Wert der Anlage hin. Der Johannisfriedhof wurde 1874 angelegt. Hier sind bedeutende Persönlichkeiten aus Bielefeld und Umgebung wie August Oetker und Carl Bertelsmann begraben. In der Innenstadt befindet sich der 1808 eröffnete Alte Friedhof am Jahnplatz.
Unter den Naturdenkmälern sind vor allem die im Jahr 1648 am Papenmarkt gepflanzte Friedenslinde mit einem Stammumfang von nahezu sechseinhalb Metern, eine Höhle (Zwergenhöhle) im Stadtteil Senne und ein Findling von vier Metern Höhe und einem Gewicht von einhundertsiebzehn Tonnen an der Straße Am Wellbach zu nennen.
Kultur.
Religionsgemeinschaften.
Konfessionsstatistik.
In Bielefeld waren im Mai 2002 insgesamt 152.092 Personen evangelisch, 52.965 römisch-katholisch, und 117.556 gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos.
Laut dem Zensus 2011 waren 59.030 Einwohner Bielefelds römisch-katholisch (18,2 %), 136.780 evangelisch (42,3 %), 9.310 evangelisch-freikirchlich (2,9 %) und 7.510 orthodox (2,3 %). 110.590 Einwohner (34,2 %) gehörten einer sonstigen oder keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft an. Nach einer Berechnung aus den Zensuszahlen für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Bielefeld 2011 bei 10,2 % (rund 33.300 Personen).
Die Zahl der Protestanten und Katholiken ist seitdem gesunken. Am Jahresende 2020 waren von den Einwohnern insgesamt 33,2 % evangelisch, 14,7 % katholisch und 52,0 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder war konfessionslos.
2021 wurden 2606 Kirchenaustritte (1 % der Gesamtbevölkerung) beim Amtsgericht registriert. Zum Stichtag 31. Dezember 2022 waren in Bielefeld von den 343.771 Einwohnern insgesamt 30,8 % evangelisch, 13,7 % katholisch. Die größte Gruppe mit 190.631 oder 55,5 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos.
Christentum.
Bielefeld gehörte seit seiner Gründung zum Bistum Paderborn und war dem Archidiakonat in Lemgo unterstellt. Pfarrkirche war seit der Abpfarrung von der Peter-und-Pauls-Kirche in Heepen 1236 die Altstädter Nicolaikirche, seit Ende des 13. Jahrhunderts entstand eine weitere Pfarrgemeinde in der "Neustadt" unterhalb der Sparrenburg. In der Nachbarschaft bestanden in Dornberg (St. Peter) und bei der Stiftskirche Schildesche noch ältere Kirchspiele.
Protestantismus.
Ausgehend von der Neustädter Marienkirche verbreitete sich um 1553 Luthers Reformation in der Stadt und der gesamten Grafschaft Ravensberg. 1649 fiel die Grafschaft endgültig an das Haus Brandenburg, und nach dem geltenden Gesetz "Cuius regio, eius religio" mussten die Untertanen die Religion des Landesherrn übernehmen. Bis auf das Franziskanerkloster wurden alle Pfarr- und Stiftskirchen protestantisch. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620–1688) war Anhänger des Calvinismus und verfügte durch eine Verordnung, dass in Stadt und Land reformierter Gottesdienst zu halten sei. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der Reformierten stark zu. Nachdem in ganz Preußen 1817 die Union der lutherischen und reformierten Gemeinden vollzogen war, vereinigten sich auch in Bielefeld beide protestantischen Gemeinden zu einer evangelischen Gemeinde. Die Industrialisierung Bielefelds zog viele Menschen aus dem reformierten Lippe in die Stadt, wo sie eher Arbeit fanden als in ihrer bäuerlichen Heimat.
Die Stadt wurde im 19. Jahrhundert Sitz einer Kreissynode mit einem Superintendenten innerhalb der Evangelischen Kirche in Preußen beziehungsweise deren westfälischer Kirchenprovinz. Daraus entstand der heutige Kirchenkreis Bielefeld. 1949 wurde die Verwaltung der nunmehr als Evangelische Kirche von Westfalen bezeichneten Landeskirche von Münster nach Bielefeld verlegt. Heute umfasst der Kirchenkreis Bielefeld 33 evangelische Kirchengemeinden innerhalb der Stadt. Einige Gemeinden im südlichen Stadtgebiet Bielefelds (Brackwede, Senne und Sennestadt) gehören jedoch zum Kirchenkreis Gütersloh. Die meisten Gemeinden des Kirchenkreises Bielefeld verstehen sich als evangelisch-lutherisch, eine Ausnahme ist die evangelisch-reformierte Gemeinde in der Süsterkirche.
Neben den Gemeinden der evangelischen Landeskirche besteht auch eine Gemeinde der altkonfessionellen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie Gemeinden evangelischer Freikirchen. So gibt es mehrere mennonitische Gemeinden, eine Adventistengemeinde, mehrere Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden (Baptisten) sowie eine Evangelisch-methodistische Kirche.
Katholizismus.
Die Zahl der Katholiken war infolge der Reformation auf ganz wenige zurückgegangen, die hauptsächlich in den adeligen Häusern in Tatenhausen und Holtfeld lebten. Die Franziskaner an St. Jodokus in Bielefeld waren jetzt Seelsorger für das gesamte Ravensberger Land; 1696 gründeten sie eine Außenstelle "(Residenz)" in Stockkämpen. Nach der Aufhebung des Klosters Bielefeld 1829 wurde die Seelsorge von Weltpriestern übernommen.
Im 19. Jahrhundert zogen infolge der Industrialisierung wieder Angehörige der römisch-katholischen Konfession in nennenswerter Anzahl in die Stadt. 1890 waren von den rund 40.000 Einwohnern Bielefelds etwa 4600 katholisch. Sie gehören bis heute zum Bistum Paderborn, das 1930 zum Erzbistum erhoben wurde. 1908–1910 wurde die St.-Joseph-Kirche neu errichtet, 1933–1934 die Liebfrauenkirche. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen weiteren Zuwachs an Katholiken, die Mehrzahl davon waren Kriegsflüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten. In den 1950er-Jahren wurden rund zehn neue Pfarrkirchen gebaut. Bielefeld wurde Sitz eines Dekanats, zu dem bis 2006 alle Pfarrgemeinden der Stadt gehörten. Am 1. Juli 2006 wurden die bisherigen Dekanate Bielefeld und Lippe zum neuen Dekanat Bielefeld-Lippe mit Sitz in Bielefeld zusammengelegt.
Andere Konfessionen.
Heute gibt es eine Vielfalt weiterer christlicher Konfessionen und Religionsgemeinschaften in der Stadt. Dazu gehören mehrere neuapostolische Kirchengemeinden, eine griechisch-orthodoxe Gemeinde, zwei russisch-orthodoxe, davon eine im Stadtbezirk Sennestadt und eine in Schildesche, zwei serbisch-orthodoxe Gemeinden (in Sennestadt und in Dornberg), eine ukrainische griechisch-katholische Gemeinde im Ortsteil Hillegossen und die Zeugen Jehovas.
Die ehemals evangelische Martini-Kirche war ab 1975 knapp 30 Jahre lang an die griechisch-orthodoxe Gemeinde verpachtet und wurde dann in ein Restaurant umgewandelt.
Judentum.
Der erste dokumentarische Nachweis über die Ansiedlung von Juden in der Stadt stammt von einer Urkunde aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Während der Pestepidemie von 1348 bis 1350 wurden die Juden in Deutschland verfolgt, weil sie angeblich die Brunnen vergiftet hätten, und wie in zahlreichen anderen Städten aus Bielefeld vertrieben. Der Graf von Ravensberg, Wilhelm von Jülich, gestattete den Juden 1370 die Rückkehr und verbürgte sich für ihre Sicherheit. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde den Juden abermals der Aufenthalt in der gesamten Grafschaft verboten. Erst am Ende des Jahrhunderts durften sich jüdische Kaufleute gegen Zahlung einer Gebühr wieder in Bielefeld niederlassen.
Als 1649 die Hohenzollern, Landesherren in Brandenburg, die Grafschaft Ravenberg in Besitz nahmen, gab es keine Judenverfolgungen mehr. Um 1720 bestand die jüdische Gemeinde der Stadt aus 30 Personen, und 1723 wurden alle Juden verpflichtet, vom Land in die Städte zu ziehen. Für das Wohnrecht in Bielefeld mussten die Juden in jedem Quartal sogenannte Schutz- oder Rekrutengelder bezahlen. Blieb die Zahlung aus oder wurde ein Jude mittellos, so konnte er nach preußischem Recht aus dem Land gewiesen werden. Die Zahlungen waren für die Landesherren so wichtig, dass sie die den Juden gestatteten Handelssparten schützten. Unter Napoleon im Jahr 1808 bekamen die Juden im Königreich Westphalen die gleichen Bürgerrechte wie die Christen, außerdem sollten sie ihrem Namen einen Beinamen hinzufügen. Die mit dem Bürgerrecht verbundene Freizügigkeit bewog viele Juden, in das Ravensberger Land zu ziehen. So wuchs die jüdische Gemeinde bis 1825 auf 134 Personen. Nach dem Ende von Napoleons Herrschaft wurden einige Rechte der Juden wieder eingeschränkt. Erst mit der Reichsgründung 1871 wurden alle Beschränkungen der Juden im Norddeutschen Bund aufgehoben. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Bielefeld eine jüdische Volksschule, und ab 1876 durften die jüdischen Kinder die öffentlichen städtischen Schulen besuchen.
Die erste Synagoge wurde 1847 am Klosterplatz errichtet, erwies sich aber schon bald als zu klein. Die Gemeinde zählte 1874 rund 350 Mitglieder und um die Jahrhundertwende fast 1000 Personen. Im Herbst 1905 wurde eine neue Synagoge an der Turnerstraße fertiggestellt, die 450 Männern und 350 Frauen Platz bot. Während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde sie von den Nationalsozialisten ausgeraubt und niedergebrannt. Dem Holocaust fielen insgesamt 460 der rund 900 Juden in Bielefeld zum Opfer. Vom Bielefelder Hauptbahnhof wurden insgesamt 1849 Juden deportiert. Mit einem Mahnmal auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof wird seit August 1998 ihrer namentlich gedacht.
Bielefeld hat heute wieder eine jüdische Gemeinde mit rund 320 Mitgliedern, die größtenteils aus Staaten der ehemaligen UdSSR zugewandert sind (Stand: 2018). Seit September 2008 verfügt die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld K.d.ö.R. über eine neue Synagoge (Beit Tikwa). Sie ist durch den Umbau der ehemaligen evangelischen Paul-Gerhardt-Kirche an der Detmolder Straße entstanden. Der Friedhof der Gemeinde befindet sich in Gadderbaum.
Islam.
Die meisten Muslime in Bielefeld sind türkischer Herkunft. Während der Wirtschaftswunderzeit wurden in Deutschland dringend Arbeiter gesucht. Nach Anwerbevereinbarungen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) schloss die Bundesrepublik 1961 ein entsprechendes Abkommen mit der Türkei. Seitdem leben viele türkeistämmige Menschen hier schon in der dritten oder vierten Generation.
Im Jahr 2004 wurde im Stadtteil Brackwede die Vatan-Moschee fertiggestellt. Der Gemeinde gehören hier rund 350 Mitglieder an.
Jesidentum.
In Bielefeld gibt es eine jesidische Gemeinde mit einem Gemeindezentrum im Stadtteil Baumheide.
Museen.
Die rund 20 Museen in Bielefeld zeigen neben der Kunst und den Historischen Sammlungen auch die Industriekultur; ebenso greifen sie andere Themen auf. Das Historische Museum zeigt die Geschichte der Stadt Bielefeld und der Region Ostwestfalen-Lippe, insbesondere die Industriegeschichte. Es ist in einigen Hallen der ehemaligen Ravensberger Spinnerei untergebracht, wodurch es den Besucher in die Zeit der Industrialisierung eintauchen lässt. Es wurde hier 1994 eröffnet, die Sammlung greift auf Vorläuferinstitutionen bis auf die Zeit von 1867 zurück. Die Kunsthalle Bielefeld wurde 1966–1968 durch den Amerikaner Philip Johnson erbaut, da es in Bielefeld kein Gebäude für ein reines Kunstmuseum gab. Die Kunsthalle ist der einzige europäische Museumsbau des bekannten Architekten; sie zeigt vorwiegend moderne Kunst aus dem 20. und 21. Jahrhundert.
Des Weiteren finden sich in Bielefeld das Kunstforum Herman Stenner und das Museum Huelsmann. Es ist ein Museum für Kunstgewerbe, wurde 1995 eröffnet und zeigt unter anderem Porzellan und Schmuck, bis hin zu wissenschaftlichen Geräten, wie Sonnenuhren. Zeitgenössische Kunst zeigt der Kunstverein Bielefeld in seinem Museum Waldhof in Form von Malerei, Bildhauerkunst, Fotografie und Zeichnungen. Das Deutsche Fächermuseum zeigt Fächer sowie entsprechende Accessoires und beherbergt eine Fachbibliothek.
Im Spiegelshof ist das Naturkunde-Museum Bielefeld (namu) untergebracht und zeigt den Aufbau der Erdkruste, einheimische Minerale, Fossilien und vieles mehr. Das Bauernhausmuseum im Teutoburger Wald westlich der Innenstadt (nahe Tierpark Olderdissen) ist das älteste Freilichtmuseum Westfalens und zeigt einige gut erhaltene Bauerngebäude aus der Region Ostwestfalen-Lippe und eine Bockwindmühle. Das Hauptgebäude des Museums brannte 1995 vollständig ab und wurde 1998 durch den historischen "Hof Möllering" ersetzt.
Das Museum Wäschefabrik befindet sich in einer im Original erhaltenen Wäschefabrik. Die Wäschefabrik "Juhl & Helmke" wurde 1913 errichtet und 1938 unter dem Druck der Judenverfolgung an die Gebrüder Winkel aus Dresden verkauft. Bis 1980 wurde hier von den "Wäschefabrik Gebr. Winkel" Aussteuerwäsche (Tischwäsche, Leibwäsche, Hemden, Blusen) produziert. Die mit der gesamten Inneneinrichtung und der Unternehmerwohnung erhaltene Fabrik wurde 1987 unter Denkmalschutz gestellt. 1997 wurde das Gebäude als Museum wieder geöffnet.
Der "Museumshof Senne" besteht aus fünf Fachwerkhäusern, die zusammen eine alte westfälische Hofanlage bilden. Das älteste Gebäude stammt aus dem Jahre 1607, das jüngste aus dem Jahr 1903.
Das "Pädagogische Museum" ist in der Universität untergebracht. Es enthält unter anderem viele historische Schulmöbel, Lehrer- und Schülerarbeitsgeräte und Anschauungsobjekte. Außerdem befindet sich in ihm eine historische Schulbuchsammlung. Das Museum Osthusschule ist in einer ehemaligen Schule aus dem Jahr 1895 im Stadtbezirk Senne untergebracht. Es verfügt über einen kompletten historischen Klassenraum aus der Zeit um 1900.
Die "Historische Sammlung" gehört zu den von Bodelschwinghschen Anstalten und verdeutlicht die Baugeschichte und Entwicklung Bethels. Ferner gibt es in Bielefeld ein Krankenhausmuseum.
Die Ausstellung Archäo Welle zeigt ein Bodendenkmal mit Resten der Stadtmauer, Brunnen und Häusern. Es handelt sich dabei um einen ständig offenen Ausstellungsraum in einem Neubau an der "Welle".
Im Januar 2022 wurde im Osten von Bielefeld ein Filmmuseum, das MuMa-Forum, eröffnet, das den in Bielefeld geborenen Filmpionieren Friedrich Murnau und Joseph Massolle gewidmet ist.
Theater.
Das städtische Theater Bielefeld bietet Musiktheater, Tanztheater und Schauspiel. Spielstätten sind das 1904 eingeweihte "Stadttheater" des Architekten Bernhard Sehring mit einer bemerkenswerten Jugendstilfassade und das "Theater am Alten Markt" (TAM). Im ersten und zweiten Stock des TAM befinden sich das "TAM zwei" und das im Februar 2011 eröffnete "TAM drei", dort werden hauptsächlich Stücke zeitgenössischer Autoren aufgeführt. An der Ritterstraße befindet sich die Komödie Bielefeld.
Vorwiegend an Kinder und Jugendliche richten sich das "Alarmtheater", das "Theaterhaus an der Feilenstraße" und das "Zentrum Bielefelder Puppenspiele". Das "Alarmtheater" im westlichen Teil des Zentrums spielt seit 1993 Stücke für Kinder und Jugendliche; es werden aber auch andere Stücke präsentiert. Überregional bekannt geworden ist das Alarmtheater durch seine Aufsehen erregenden Inszenierungen mit großen Gruppen von Jugendlichen zu den Themen Sucht- und Gewaltprävention und Migration. Das "Theaterhaus in der Feilenstraße" bietet anspruchsvolle Stücke für Kinder und Jugendliche, aber auch Stücke für Erwachsene. Es wird neben Gastauftritten von zwei Theatergruppen bespielt, dem Mobilen Theater und dem Trotz Alledem Theater. Im "Zentrum Bielefelder Puppenspiele" finden Aufführungen für Kinder statt. Die Bühne wird von zwei Theatergruppen bespielt. Zudem existiert mit den Kammerpuppenspielen im Kamp ein weiteres Puppenspieltheater.
Das "Theaterzentrum Tor 6" im ehemaligen Dürkopp-Werk ist seit 2000 Heimat des "Theaterlabors", das seit 1983 eigenständig Theaterstücke entwickelt.
Musik.
Es gibt drei sinfonische Orchester: die 1901 gegründeten "Bielefelder Philharmoniker" mit Sitz im Theater Bielefeld, das Anfang 2003 gegründete unabhängige und selbstverwaltete "Freie Sinfonieorchester Bielefeld" und die "Jungen Sinfoniker", das Jugendsinfonieorchester der Region Ostwestfalen-Lippe. Die 1989 gegründete "Cooperative neue Musik" organisiert Konzerte mit der Musik des 20. Jahrhunderts.
Der "Feuerwehr-Musikzug der Stadt Bielefeld", welcher 1956 gegründet wurde und als eines der musikalisch vielseitigsten Orchestern von moderner Unterhaltungs – bis traditioneller Blasmusik spielt, ist neben dem "Stadtorchester Brackwede" eines der zwei traditionellen Blasorchestern.
Das Orchester "Drei Sparren Bielefeld e. V." ist ein modernes symphonisches Blasorchester mit etwa 45 Holz- und Blechbläsern. Es hat eine über 60-jähriger Tradition.
Überregionale Bekanntheit besitzt der Bielefelder Kinderchor. Der 1932 gegründete Chor ist besonders für seine Weihnachtskonzerte und -aufnahmen bekannt. Das unter Mitwirkung des Chors entstandene Weihnachtsalbum der Mannheim Steamroller, "Christmas In The Aire", erzielte Platz 3 der US-Billboardcharts.
Die Musik- und Kunstschule der Stadt Bielefeld (MuKu) zählt mit ihren 7.500 Schülern zu den größten ihrer Art in Deutschland. Sie wurde 1956 gegründet und ist heute in der einem Jugendstilgebäude (1913) am Fuße der Sparrenburg beheimatet, das für die 1906 gegründete staatlich-städtische Handwerker- und Kunstgewerbeschule erbaut wurde.
Der "Musikverein der Stadt Bielefeld" wurde 1820 gegründet. Dreimal pro Saison tritt er mit europäischen Oratorien in der Rudolf-Oetker-Halle auf. Der 1890 gegründete "Oratorienchor der Stadt Bielefeld" (bis 1978 "Volkschor Bielefeld") führt etwa zweimal im Jahr Konzerte in der Rudolf-Oetker-Halle auf. Neben den großen Standardwerken der kirchlichen und weltlichen Chormusik kommen dabei auch immer wieder Stücke etwas abseits des in heutigen Konzertsälen Gewohnten zur Aufführung. Der 1977 von Werner Hümmeke gegründete "Universitätschor Bielefeld" der Universität Bielefeld inszeniert überwiegend Chor- und Solowerke mit orchestraler Begleitung. Seit einigen Jahren finden etwa zweimal im Jahr Konzerte in der Rudolf-Oetker-Halle statt. Von ehemaligen Mitgliedern des Universitätschors wurde 2006 der "Konzertchor Bielefeld" gegründet. Ein weiterer Bielefelder Chor sind die "Young Voices Bielefeld" mit einer Altersspanne zwischen 6 und 34 Jahren. Zum Repertoire gehören geistliche und weltliche Lieder, Rock und Popsongs.
Veranstaltungsorte.
Bielefeld verfügt über mehrere moderne Veranstaltungshallen. Diese werden vielfältig genutzt, zum Beispiel für Konzerte, Messen, Ausstellungen oder Opern. Die größte ist die Seidensticker Halle mit einem Fassungsvermögen von 7500 Zuschauern. Sie wurde 1993 als moderne Großsporthalle eröffnet und bietet neben diversen Sportveranstaltungen (Hallenfußball, Handball etc.) auch Platz für größere Konzerte.
Eine der modernsten Hallen ihrer Art ist die Stadthalle Bielefeld mit Platz für bis zu 4500 Zuschauer. Sie bietet sich durch ihre Multifunktionalität für Veranstaltungen jeglicher Art an. Von Konferenzen über Messen und Kabarettveranstaltungen bis hin zu Konzerten findet hier fast jede Veranstaltungsart statt.
Im Westen Bielefelds liegt die Rudolf-Oetker-Halle. Diese Veranstaltungs- und Konzerthalle wurde 1929–1930 nach Plänen der Düsseldorfer Architekten Hans Tietmann und Karl Haake erbaut und am 31. Oktober 1930 eingeweiht. Die Halle verfügt über 1561 Plätze im Großen Saal und 300 Plätze im Kleinen Saal.
Der unter Denkmalschutz stehende "Lokschuppen", der 2003 unter dem Namen Ringlokschuppen eröffnet wurde, hat seit vielen Jahren seinen festen Platz als multifunktionale Location im Konzert- und Eventbetrieb Ostwestfalens und darüber hinaus. Das 1905 bis 2007 errichtete Gebäude diente ursprünglich als Wartungsschuppen für Dampf- und später auch Diesellokomotiven. Gerade das macht das Flair der Halle aus, denn sie verbindet alte mit moderner Baukunst. Die Zuschauerkapazität beträgt bis zu 3.000 Personen.
Unter der Kreuzung Detmolder Straße/Niederwall befindet sich der Bunker Ulmenwall; er war 1939 als Sanitätsbunker eingerichtet worden. In der Nachkriegszeit betrieb das Jugendamt bis 1996 dort ein Kulturzentrum, das sich zunehmend in einen Jazzkeller verwandelte. Seit 1996 ist der Veranstaltungsort in der Trägerschaft des eigens dafür gegründeten Vereins. In dieser einzigartigen intimen Atmosphäre, wo die Zuschauer bis auf Tuchfühlung an die Künstler herankommen, haben viele international berühmte Musiker Konzerte vor kleinem Publikum gegeben, beispielsweise Archie Shepp, John Surman, Gunter Hampel, Albert Mangelsdorff, aber auch unbekannte und lokale Künstler finden hier eine ideale Plattform. Außerdem ist der Bunker Ulmenwall seit 1987 Veranstaltungsort für Vorträge des Datenschutzvereins Digitalcourage (vormals FoeBuD) zu gesellschaftlichen und technischen Themen.
Das Jugend- und Kulturzentrum Niedermühlenkamp, kurz KAMP, war ein beliebter Veranstaltungsort für Konzerte, Partys und ähnliche Veranstaltungen. Das Musikmagazin Intro zeichnete es 2004 als siebtbesten Musikclub Deutschlands aus. Der Nutzungsvertrag mit dem "Kulturkombinat Kamp" e. V. wurde 2013 nicht vom Hausträger, den Falken Bielefeld, verlängert, was das Aus für die Kulturarbeit bedeutete. Das Kulturkombinat veranstaltet seitdem in größeren Abständen Konzerte und Partys an wechselnden Bielefelder Veranstaltungsorten, vor allem im "Forum Bielefeld" und im Bunker Ulmenwall. Als das Ende der Kulturarbeit im KAMP abzusehen war, gründete sich die Initiative Bielefelder Subkultur, kurz IBS und forderte von der Stadt Räume für nichtkommerzielle Kultur. Die IBS war eigentlich als Unterstützer für den Erhalt des KAMP gedacht, entwickelte sich aber schnell zum Mieter eigener Räumlichkeiten. Das von der IBS betriebene "Nummer zu Platz" (Nr. z. P.) befindet sich in einem Parkhaus in den Räumlichkeiten der alten KFZ Zulassungsstelle. Der Betrieb der Einrichtung wird ausschließlich durch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen gewährleistet. Seit 2013 hat die Bielefelder Subkultur nun nach dem Aus des KAMP wieder einen Platz für Konzerte, Partys und ähnliche Veranstaltungen.
Für Lesungen, Ausstellungen und die Bielefelder Literaturtage werden auch die Räumlichkeiten der Stadtbibliothek genutzt.
Kinos.
Bielefeld besitzt außer einem Multiplex-Kino nur noch wenige kleinere Kinos. Die „traditionellen“ Filmtheater haben inzwischen allesamt geschlossen, so z. B. das "Movie" im Leineweberhaus am Bahnhofsvorplatz, in dem sich heute eine Diskothek mit demselben Namen befindet. Die "Kamera", die 1950 von Carl Aul im "Haus der Technik" gegründet wurde und 1957 in die Feilenstraße umzog, besitzt drei Säle und ist eines der höchstdekorierten Programmkinos der Republik. Ein weiteres Programmkino ist das "Lichtwerk" im Ravensberger Park mit drei Sälen und Freilichtkino-Veranstaltungen im Sommer. In der Aula der Realschule Brackwede finden an zwei Tagen der Woche Filmvorführungen des "Melodie-Filmtheaters" statt. Das kleinste Kino ist das aus der ehemaligen Kinogruppe des Arbeiterjugendzentrums hervorgegangene "Offkino" in den ehemaligen Räumen des Lichtwerks im Filmhaus.
Kulturpreis der Stadt Bielefeld.
Zu den Ehrungen der Stadt Bielefeld gehört der Kulturpreis der Stadt Bielefeld: „Mit dem Kulturpreis werden alle zwei Jahre Persönlichkeiten geehrt, die sich durch ihr kulturelles Engagement für die Stadt Bielefeld in hervorragender Weise verdient gemacht oder durch ihre innovativen Aktivitäten das kulturelle Angebot in Bielefeld bereichert haben. […] Die Verleihung des Kulturpreises erfolgt durch den Rat auf Vorschlag des Kulturausschusses.“
Preisträger seit 2009:
Sport.
Das sportliche Aushängeschild der Stadt ist der DSC Arminia Bielefeld. Die Fußballer des 1905 gegründeten Vereins stiegen 1970 erstmals in die Bundesliga auf und gehörten der höchsten deutschen Spielklasse insgesamt 17 Jahre lang an. Durch seine zahlreichen Ab- und Aufstiege gilt Arminia Bielefeld als Fahrstuhlmannschaft, zuletzt stieg man 2022 wieder in die 2. Bundesliga ab. Der DSC trägt seine Heimspiele in der SchücoArena aus. Bis 2004 offiziell und im Volksmund auch weiterhin "Alm" genannt, verfügt das am westlichen Rand der Innenstadt gelegene reine Fußballstadion über 26.515 Plätze. Ein weiterer traditionsreicher Fußballverein ist der VfB Fichte Bielefeld, dessen Stammverein VfB 03 bis in die 1950er-Jahre ein ebenbürtiger Lokalrivale des DSC Arminia war. Der VfB Fichte spielt in der Westfalenliga und trägt seine Heimspiele im Stadion Rußheide aus. Dieses Multifunktionsstadion mit 12.000 Plätzen wird auch für die Leichtathletik und von den Bielefeld Bulldogs, einem American-Football-GFL2-Club (German Football League 2) genutzt. Mit Arminia Bielefeld und dem VfL Theesen besitzt die Stadt zwei Fußballvereine in der U-19-Bundesliga (Staffel West).
Jedes Jahr im Januar veranstaltet der "TuS Jöllenbeck" unter dem Motto „Weltklasse in Jöllenbeck“ das Internationale Frauen-Hallenfußball-Turnier, eines der bestbesetzten Hallenfußballturniere Europas, an dem nationale und internationale Spitzenvereine des Frauenfußballs teilnehmen. Der "VfL Theesen" im Bielefelder Norden sorgt mit der größten Fußball-Jugendabteilung im Kreis für den Nachwuchs. Beachtenswert ist dort das regelmäßige internationale Pfingst-Jugendturnier, zu dem Jugendmannschaften aus Bundesligavereinen und sogar Jugend-Nationalmannschaften aus der ganzen Welt anreisen.
Siehe auch: "Fußball in Bielefeld"
Der Radsport hat in Bielefeld eine lange Tradition. Das zeigt unter anderem die häufige Rolle als Etappen- (elfmal), Start- (einmal) oder Zielort (zehnmal) der Deutschland Tour. Auf der Bielefelder Radrennbahn, an der Heeper Straße im Stadtbezirk Mitte gelegen, werden unter anderem regelmäßig Steherrennen veranstaltet.
Die höchstklassigen Bielefelder Handballteams sind das Herren- sowie Damenteam des TuS 97 Bielefeld-Jöllenbeck sowie die Herren der TSG Altenhagen-Heepen (zuvor 2014 aus der 3. Liga abgestiegen), die jeweils in der Oberliga Westfalen antreten. Die TSG trägt die Heimspiele in der Sporthalle am Gymnasium Heepen oder in der Seidensticker Halle und der TuS 97 in der Sporthalle der Realschule Jöllenbeck aus.
Die Damen der TSVE Dolphins Bielefeld spielen in der Saison 2008/09 in der 2. Basketball-Bundesliga. Die TSVE-Herren spielen Basketball in der Regionalliga West. Beide Teams tragen ihre Heimspiele in der Sporthalle I der Carl-Severing-Schulen an der Heeper Straße aus.
Die Herren des Telekom Post SV Bielefeld spielen in der Saison 2008/09 in der Volleyball-Regionalliga. Die Heimspiele finden in der Almhalle an der Melanchthonstraße statt.
Der bedeutendste Schachverein der Stadt ist der Bielefelder SK, der in den 1990er-Jahren der Schachbundesliga angehörte. In der Saison 2008/09 spielt der Verein in der NRW-Klasse.
Die Eishockey-Damen des SV Brackwede spielen in der 2. Liga Nord und tragen ihre Heimspiele auf der Oetker-Eisbahn an der Duisburger Straße in Brackwede aus. Dort trainiert auch die Eiskunstlaufabteilung des DSC Arminia.
An der Eckendorfer Straße im Stadtbezirk Heepen befindet sich der Leineweberring, hier veranstaltet der DMSC Bielefeld internationale Motorrad-Grasbahnrennen.
Bielefeld besitzt mehrere Schwimmsportstätten, so u. a. das Freibad Jöllenbeck, das Freibad Schröttinghausen, die Ishara Bade- & Saunawelt, das AquaWede, das Freibad Hillegossen, das Freibad Brackwede, das Freibad Dornberg, das Senner Waldbad sowie das Wiesenbad.
Der 1. Snooker & Billard Club Bielefeld e. V., gegründet 1989, hat sein Vereinsheim in Bielefeld-Stieghorst. Das Vereinsheim gilt mit einem Spielbereich von 450 m² und zurzeit 12 Profi-Snooker-Tischen als das größte private Vereinsheim in Europa.
2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Irland ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
Regionale Spezialitäten.
In Bielefeld gibt es traditionell westfälische Spezialitäten. Dazu gehört zum Beispiel Pumpernickel, ein Roggenbrot, das nicht gebacken, sondern im Dampf gegart wird. Weitere typisch westfälische Spezialitäten sind der westfälische Pickert, westfälischer Schinken und Weizenkorn. Eine Bielefelder Spezialität ist die "Bielefelder Luft", ein Schnaps aus Korn und Pfefferminz.
Bielefeld-Verschwörung.
Der Informatiker Achim Held veröffentlichte im Jahr 1994 im Usenet einen satirischen Beitrag mit dem Titel "Die Bielefeld-Verschwörung", in dem er die Existenz Bielefelds anzweifelte und deren Vortäuschung als Verschwörung bezeichnete. Im Internet hält sich dieser Scherz bis heute in Form der darauf formulierten Antwort von Joerg Pechau: „Bielefeld gibt es nicht“. Die Stadt nahm anlässlich ihrer 800-Jahr-Feier im Jahr 2014 darauf Bezug, indem sie die Feierlichkeiten unter das Motto stellte: „800 Jahre Bielefeld – Das gibt's doch gar nicht!“ Anlässlich des 25-jährigen „Jubiläums“ der Bielefeld-Verschwörung rief die Stadt Bielefeld im Rahmen eines Wettbewerbs dazu auf, einen unwiderlegbaren Beweis für die Nichtexistenz Bielefelds zu erbringen. Das Preisgeld betrug 1 Million Euro.
Am 17. September wurde der Wettbewerb für beendet erklärt: kein Teilnehmer hätte eine Nichtexistenz der Stadt beweisen können und das Geld bleibt daher unangetastet.
Wirtschaft und Infrastruktur.
Wirtschaft.
Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung in Bielefeld ist die seit dem 9. Jahrhundert hier nachweisbare Leinenweberei. 1309 schlossen sich die Kaufleute der Wollweber und Tuchhändler zur „Johannisbrüderschaft“ zusammen.
Mit dem Eisenbahnanschluss im Jahr 1847 begann die Industrialisierung Bielefelds. Der Hauptgrund war die jetzt mögliche preisgünstige Lieferung von Kohle aus dem Ruhrgebiet, die für den Betrieb der Dampfmaschinen benötigt wurde. Die erste Fabrik gründeten 1851 die Gebrüder Bozi mit der "Spinnerei Vorwärts" direkt an der Linie der Köln-Mindener-Eisenbahn. 1854 wurde die Ravensberger Spinnerei von Hermann Delius gegründet, die danach eine Zeit lang zur größten Maschinenspinnerei Europas aufstieg. Das Unternehmen zog sich später vom Markt zurück, der stadtbildprägende Bau steht heute unter Denkmalschutz. 1862 entstand die "Mechanische Weberei", in der die erzeugten Garne zu hochwertigen Stoffen weiterverarbeitet wurden. 1870 liefen rund 11 Prozent aller Spindeln und Webstühle Deutschlands in Bielefeld.
Der nächste Schritt war um 1900 die industrielle Fertigung von Tisch- und Bettwäsche, Oberhemden und Blusen. Inzwischen waren metallverarbeitende Firmen entstanden, in denen die benötigten Maschinen entwickelt und gefertigt wurden, dazu gehören unter anderen die Dürkopp-Werke und die "Kochs Adler Nähmaschinen Werke". Bei Dürkopp wurden zunächst Nähmaschinen und später Fahrräder, Motorräder, Autos, Lastwagen und Autobusse hergestellt.
Der Apotheker August Oetker hatte Ende des 19. Jahrhunderts die Idee, abgepacktes Backpulver industriell herzustellen. Sein Konzept war so erfolgreich, dass aus seiner Apotheke im Laufe der Zeit ein Unternehmen von Weltruf wurde. Im Jahr 1900 baute Oetker die erste Fabrik und verkaufte 1906 bereits 50 Millionen Päckchen Backin.
Heute wird die Wirtschaft der Stadt durch das verarbeitende Gewerbe mit den Sparten Nahrungs- und Genussmittel, Metallverarbeitung, Maschinenbau, Chemie und Bekleidung bestimmt. Die wichtigsten Firmen sind August Oetker, Böllhoff, Dürkopp Adler, Dürkopp Fördertechnik, DMG Mori, Möller Group, Thyssenkrupp, Droop & Rein (Starrag Group), Schüco, Goldbeck und Seidensticker. Der Handel ist unter anderen mit Marktkauf Holding, JAB Anstoetz und EK/servicegroup vertreten und im Dienstleistungssektor sind Kühne + Nagel, Piening Personalservice, TNS Emnid, TNS Infratest, Itelligence und ruf zu nennen. Bedeutende Arbeitgeber sind darüber hinaus die Bereiche Bildung und Erziehung, die Universität, Fachhochschulen und Schulen, sowie das Gesundheits- und das Sozialwesen, hier vor allem die Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel mit 18.449 Arbeitsplätzen in Bielefeld größter Arbeitgeber der Stadt.
Im Jahre 2016 erbrachte Bielefeld innerhalb der Stadtgrenzen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 12,860 Milliarden € und belegte damit Platz 28 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 38.588 € pro Kopf (Nordrhein-Westfalen: 37.416 €/ Deutschland 38.180 €) und damit leicht über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt gibt es 2017 ca. 202.300 Erwerbstätige. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,7 % und damit leicht über dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 %.
Von den rund 126.000 sozialversicherten Beschäftigten in der Stadt pendeln rund 40 Prozent aus dem Umland nach Bielefeld ein.
Im Zukunftsatlas 2016 belegte die kreisfreie Stadt Bielefeld Platz 163 von 402 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „ausgeglichenem Chancen-Risiko Mix“.
Seit 2013 ist Bielefeld als Fair-Trade-Stadt ausgezeichnet. In fast 200 Bielefelder Einzelhandelsgeschäften, Cafés, Kirchengemeinden, Schulen, Vereinen und weiteren Organisationen kann man fair gehandelte Produkte erwerben.
Verkehr.
Schienen- und Busverkehr.
Bielefeld liegt an der elektrifizierten Hauptbahn Köln–Dortmund–Hannover (viergleisige Bahnstrecke Hamm–Minden) der ehemaligen "Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft". Im Stadtteil Schildesche überquert die Strecke auf dem nördlichsten Viadukt Deutschlands (Schildescher Viadukt) das Tal des Johannisbachs. Die Strecke trifft in Löhne auf die internationale Bahnstrecke Richtung Amsterdam (Bahnstrecke Löhne–Rheine, Anschlussgleis ab Herford). Am Hauptbahnhof zweigt eine Nebenbahn nach Lemgo bzw. Altenbeken (ehemalige Bahnstrecke Bielefeld–Hameln „Begatalbahn“) ab. Am Bahnhof Brackwede zweigen eingleisige Nebenstrecken in Richtung Osnabrück (Bahnstrecke Osnabrück–Brackwede „Haller Willem“) und Paderborn („Senne-Bahn“ über Hövelhof) ab. Im Stadtgebiet gibt es elf Bahnhöfe beziehungsweise Haltepunkte: Bielefeld Hbf, Bielefeld-Brackwede, Bielefeld-Senne, Bielefeld-Sennestadt, Bielefeld-Windelsbleiche, Bielefeld Ost, Bielefeld-Ubbedissen, Bielefeld-Oldentrup, Bielefeld-Quelle, Bielefeld-Quelle/Kupferheide, Bielefeld-Brake. Stillgelegte Bahnhöfe auf Stadtgebiet sind Bielefeld-Ummeln, Bielefeld-Brackwede Süd und Bielefeld-Hillegossen.
Östlich des Stadtzentrums an der Bahnstrecke nach Lemgo liegt der stillgelegte Containerbahnhof Bielefeld Ost.
Am Bahnhof Brackwede gibt es einen internationalen Busbahnhof für Fernbuslinien. Von hier bestehen zahlreiche Fernbusverbindungen mit Zielen innerhalb Deutschlands und Europas.
Den öffentlichen Personennahverkehr bedienen vier Stadtbahnlinien, Regionalbahnen und Busse. Die Stadtbahn Bielefeld fährt im Innenstadtbereich unterirdisch. Alle Stadtbahnen halten an den U-Bahnhöfen Hauptbahnhof und Jahnplatz sowie am Rathaus. Am Wochenende (Freitag/Samstag, Samstag/Sonntag) und vor Feiertagen fahren Nachtbusse auf einem besonderen Nacht- und Frühverkehrsnetz (sonntags bis 8:30 Uhr). In allen Stadtbahnen, Regionalbahnen und Bussen (ausgenommen Nachtbusse) gilt der Westfalentarif im Netz TeutoOWL.
Bielefeld ist heute die größte Stadt Deutschlands, die in kein S-Bahn-Netz eingebunden ist. Bis 2030 soll die Stadt allerdings in das geplante S-Bahn-System S-Bahn Münsterland sowie bis 2040 in das geplante S-Bahn-System S-Bahn OWL eingebunden werden. Dann wird Augsburg die größte Stadt ohne S-Bahn sein.
Straßenverkehr.
Durch das Stadtgebiet Bielefelds führen die Bundesautobahnen A 2 und A 33 sowie die Bundesstraßen B 61 und B 66.
In den 1950er-Jahren wurden für die Hauptverbindungen in Richtung Gütersloh, Herford, Lippe und Werther leistungsfähige Straßen geplant, die zum Teil bestehende Straßenzüge verwenden und zum Teil über neue Trassen verlaufen sollten. Die Neubaustücke waren weitgehend anbaufrei vorgesehen.
Etwa ein Jahrzehnt später wurden die geplanten Straßenzüge als Autobahn vorgesehen. Bislang wurde davon lediglich der Ostwestfalendamm im Zuge der B 61 zwischen den Stadtbezirken Brackwede und Mitte verwirklicht (B 61n), der als Autobahnzubringer zur A 33 dient. Immer noch vorgesehen, aber durchaus umstritten, sind Schnellstraßen im Zuge der B 66 im Osten und der Ostwestfalenstraße (L 712) im Nordosten der Stadt. Weitergehende Planungen wurden verworfen und sollen in der nächsten Zeit aus dem Flächennutzungsplan gestrichen werden.
Flugverkehr.
Der nächstgelegene internationale Flughafen ist der Flughafen Paderborn/Lippstadt, der in 45 km Entfernung südwestlich von Bielefeld liegt und über die A 33 zu erreichen ist.
Im Süden der Stadt im Stadtteil Buschkamp liegt in der Nähe der A 2 der Flugplatz Bielefeld. Er verfügt über eine 1256 m lange, befestigte Start-und-Lande-Bahn sowie über eine Startstrecke für den Segelflug. Der Flughafen wird für den Geschäftsflugverkehr sowie von mehreren Luftsportvereinen genutzt.
Fahrradverkehr.
Die Stadt ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen und hat einen Fahrradbeauftragten. Am Hauptbahnhof befinden sich eine Fahrradstation mit Parkhaus, ein Rad-Center mit Werkstatt und Verkauf. In der Stadt sind der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club und der Verkehrsclub Deutschland mit je einer Geschäftsstelle vertreten. Die Aktionsform Critical Mass findet regelmäßig am letzten Freitag im Monat statt und startet um 19 Uhr auf dem zentralen Platz Kesselbrink.
Öffentliche Einrichtungen.
In der Stadt befinden sich die Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe und die Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld.
Zu den elf Krankenhäusern der Stadt gehören unter anderem das Klinikum Bielefeld einschließlich der dazugehörigen Kliniken an der Rosenhöhe und das Evangelische Klinikum Bethel, das aus dem Johanneskrankenhaus und den Kliniken Gilead und Mara besteht. Das Klinikum Bielefeld und das Evangelische Klinikum Bethel sind Teil des Universitätsklinikums OWL. Weitere evangelische Einrichtungen sind die Von Bodelschwinghschen Stiftungen mit dem Hauptsitz im Stadtteil Bethel und das Evangelische Johanneswerk. In katholischer Trägerschaft besteht weiter das Franziskus Hospital Bielefeld. Darüber hinaus ist Bielefeld der Hauptsitz des Arbeitskreises Down-Syndrom e. V., der seit mehr als 30 Jahren bundesweite Beratung und Information zum Thema Trisomie 21 anbietet.
Mehrere überörtliche Behörden haben eine Niederlassung in Bielefeld:
In Bielefeld befinden sich in einem Gerichtszentrum das Amtsgericht Bielefeld, das Arbeitsgericht Bielefeld und das Landgericht Bielefeld.
Die örtliche Filiale der Deutschen Bundesbank ist an der Kavalleriestraße. Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk ist an der Friedrich-Hagemann-Straße in Heepen mit der Regionalstelle Bielefeld vertreten.
Medien.
Das Studio Bielefeld ist eines von elf Regionalstudios des Westdeutschen Rundfunks in Nordrhein-Westfalen. Hier werden die Regionalprogramme in Radio und Fernsehen für Ostwestfalen-Lippe produziert und ausgestrahlt. Im Gebäude finden auch wechselnde Kunstausstellungen statt. Es wurde als eins der ersten Regionalstudios 1962 gegründet, um die Region Ostwestfalen-Lippe zu bedienen.
Als Tageszeitungen erscheinen in Bielefeld die Neue Westfälische und das Westfalen-Blatt. Seit dem 2. Juni 1991 ist das Lokalradio Radio Bielefeld in der ganzen Stadt auf 98,3 MHz und 97,6 MHz zu empfangen. Mit 50 Watt sendet außerdem das Campusradio Hertz 87.9 in weite Teile der Stadt und das nichtkommerzielle Einrichtungsradio Antenne Bethel ist im Stadtteil Gadderbaum werktäglich von 18 bis 19 Uhr auf 94,3 MHz zu hören.
Am 17. November 2005 startete der lokale Fernsehsender Kanal 21, der sein Programm seit Juli 2009 beim landesweiten TV-Lernsender nRWision ausstrahlt. nrwision bündelt in seiner Mediathek diese und viele weitere Fernsehsendungen aus Bielefeld bzw. von Fernsehmachern aus Bielefeld.
Im Ortsteil Brackwede befindet sich das Medienarchiv Bielefeld, das sich zum Ziel gesetzt hat, Spiel- und Dokumentarfilme sowie Tondokumente für spätere Generationen zu erhalten. Der Bestand des Archivs umfasst 2015 etwa 9100 Filme auf ca. 45.000 Rollen und mehrere tausend Magnetbänder.
Es erscheinen in Bielefeld regelmäßig verschiedene Anzeigenblätter, darunter im Panorama-Verlag des Westfalen-Blattes "OWL am Mittwoch" und "OWL am Sonntag". Deren Gesamtdruckauflage beträgt – gemeinsam mit Schwesterblättern im Raum Ostwestfalen – knapp eine Million Exemplare. Seit 1989 erscheint alle 14 Tage die Stadtillustrierte "ULTIMO", seit 1996 auch in Form einer Internetausgabe.
Seit 1998 hat die Redaktion der wöchentlich erscheinenden Zeitung Sixth Sense der Britischen Streitkräfte in Deutschland ihren Sitz in Bielefeld. Die etwa 80 Seiten starke Zeitung hat eine Auflage von 9000 bis 12.000 Exemplaren.
Im Jahr 2000 startet das Internetangebot "WebWecker", das ebenfalls Themen rund um das Bielefelder Stadtleben behandelt. Auch einige Blogs befassen sich mit dem Bielefelder Stadtgeschehen, etwa das hauptsächlich auf Themen rund um den Fußballverein Arminia Bielefeld spezialisierte "blog5".
Bildung.
An der 1969 gegründeten Universität Bielefeld sind circa 22.000 Studenten eingeschrieben. Das 1972 fertiggestellte Hauptgebäude ist nach dem Parlamentspalast in Bukarest das flächenmäßig zweitgrößte Gebäude in Europa. Zurzeit entstehen mehrere Ersatz- und Erweiterungsbauten. Vorgesehen ist eine Grundsanierung des Uni-Hauptgebäudes in den nächsten 10 Jahren.
Die Fachhochschule Bielefeld besitzt Abteilungen in Bielefeld, Minden und Gütersloh. Am Standort Bielefeld werden zahlreiche Studiengänge aus den Feldern Ingenieurwissenschaften, Gestaltung, Soziales/Pflege/Gesundheit und Wirtschaft angeboten. An der 1971 gegründeten Fachhochschule sind circa 6600 Studenten eingeschrieben. Die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen hat seit 1976 in Bielefeld eine Abteilung für die Studiengänge Kommunaler Verwaltungsdienst, Staatlicher Verwaltungsdienst und Polizeivollzugsdienst.
In der Stadt gibt es 47 Grundschulen, elf Hauptschulen, 16 Förderschulen, zehn Realschulen, vier Gesamtschulen, zehn Gymnasien, eine Waldorfschule, eine heilpädagogische Waldorfschule, sieben Berufsbildende Schulen, neun Privatschulen, eine Musikschule, eine Kunstschule, zwei staatliche Versuchsschulen (Oberstufen-Kolleg und Laborschule), das staatliche Westfalen-Kolleg Bielefeld als Institut zur Erlangung der Hochschulreife und zwei Fachschulen (Diätlehranstalt, Fachschule für Altenpflege).
Der Standort Bielefeld der 2007 gegründeten Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel wurde am 13. Februar 2009 geschlossen. Dort wurde der Studiengang Evangelische Theologie angeboten. Der Standort Wuppertal blieb erhalten. Vorgängereinrichtung war die 1905 gegründete Kirchliche Hochschule Bethel, die auf die Ideen Friedrich von Bodelschwinghs zurückging. Die Fachhochschule der Diakonie wurde 2006 von den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, dem Johanneswerk sowie weiteren diakonischen Trägern gegründet. Sie bietet Studiengänge im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie eine Ausbildung zum Diakon an.
Die Fachhochschule des Mittelstands (FHM) wurde im Jahr 2000 in privater Trägerschaft gegründet und bietet speziell auf den Mittelstand ausgerichtete, staatlich anerkannte Studiengänge aus den Bereichen Medien, Journalismus, Marketing, Informatik und Wirtschaft an. Die FHM hat ihren Sitz in Bielefeld mit Niederlassungen in Bamberg, Düren, Hannover, Köln, Frechen, Rostock, Berlin, Waldshut-Tiengen.
Die private und staatlich anerkannte Fachhochschule der Wirtschaft hat seit 2001 einen Standort mit dem Fachbereich Wirtschaft in Bielefeld.
Wasserversorgung.
Das Trinkwasser in Bielefeld wird ausschließlich aus Grundwasser gefördert. Das erste Wasserwerk wurde 1890 im Sprungbachtal in der Senne in Betrieb genommen. 1906 folgte ein zweites Wasserwerk. Das dritte Wasserwerk mit zwölf Brunnen wurde 1929 am späteren Flugplatz Windelsbleiche errichtet. Zehn Jahre später folgte der Bau des Wasserwerkes 4 in Lipperreihe. Weitere Maßnahmen folgten. Die Wassergewinnung und -versorgung wird durch die Stadtwerke Bielefeld übernommen. Aktuell fördern sie in 15 Wasserwerken und 154 Brunnen knapp 20 Millionen Kubikmeter Wasser pro Jahr. Von den Wasserwerken wird das Wasser in Hochbehälter auf den Kamm des Teutoburger Waldes gepumpt.
Open Innovation City.
Open Innovation City ist ein von der Landesregierung NRW und dessen Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart gefördertes Projekt, das den Offene-Innovation-Ansatz in die Stadt Bielefeld implementieren soll. Das im Jahr 2019 begonnene Projekt wird mit 5,4 Millionen Euro gefördert. Bielefeld ist die erste „Open Innovation“-Stadt Deutschlands. Zu den bislang realisierten Projekten gehörten unter anderem der BIE-City-Hackathon.
Die Initiatoren des Projekts sind die Fachhochschule des Mittelstands, die Founders Foundation, Maschinenbau OWL und der Pioneers Club.
Persönlichkeiten.
Ehrenbürger.
Die Stadt Bielefeld hat seit 1856 zehn Personen das Ehrenbürgerrecht verliehen. Es wurde dem Unternehmer Rudolf-August Oetker verliehen, dem Leiter der Oetker-Gruppe und Stifter der Kunsthalle der Stadt Bielefeld. Hermann Delius, der ein Pionier in der technologischen Entwicklung der Leinenweberindustrie war und den mechanisierten Webstuhl sowie andere Verarbeitungsmaschinen einführte, wurde ebenfalls zum Ehrenbürger. Er war lange Jahre der größte Arbeitgeber Bielefelds und begründete ihren Ruf als Leineweberstadt. Gerhard Bunnemann, der als Bürgermeister die Stadt durch zahlreiche Neubauten und einen wirtschaftlichen Aufschwung prägte, erhielt ebenfalls den Status als Ehrenbürger. Alexander Funke, der langjährige Leiter der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel gehört ebenfalls zu den zehn Ehrenbürgern.
Söhne und Töchter der Stadt.
Bekannte Bielefelder sind (nach Geburtsjahr geordnet):
Weitere Persönlichkeiten.
Weitere Persönlichkeiten sind zwar nicht in der Stadt geboren, aber durch ihr Leben, ihre Arbeit und ihr Wirken eng mit Bielefeld verbunden: |
539 | 1308992 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=539 | Baryonyx | Baryonyx ist ein zweibeiniger Dinosaurier aus der Familie Spinosauridae, der in der Unterkreide (Barremium) lebte. Ein nahezu vollständiges Skelett wurde in England gefunden, es gilt als eines der am besten erhaltenen Fossilien von Theropoden in Europa.
Er erreichte eine Länge von etwa 8,5 Metern; charakteristische Merkmale schließen den krokodilähnlichen Schädel und eine ungewöhnlich große Klaue an beiden Daumen der Vordergliedmaßen mit ein. Er ernährte sich von Fisch und anderen Dinosauriern, laut chemischen Analysen von Zähnen war er möglicherweise teils wasserlebend. Das gut erhaltene Skelett aus England gehört zu den wichtigsten Fundstücken von Spinosauriden. Fossil erhaltene Mageninhalte ermöglichten erstmals die heute allgemein akzeptierte Annahme, dass sich diese Gruppe von Fischen ernährte.
Körperbau.
"Baryonyx" wird je nach Quelle mit 8,2 bis 8,5 Meter Länge angegeben, sein Gewicht wird auf 1700 bis 2000 Kilogramm geschätzt. Da das vollständigste Skelett wahrscheinlich von einem noch nicht ausgewachsenen Tier stammt, könnte ein ausgewachsener "Baryonyx" größer gewesen sein.
Der 91 Zentimeter lange Schädel ist proportional lang, schmal und krokodilartig flach gebaut, wie bei anderen Spinosauriden. Er hatte im Oberkiefer 32 und im Unterkiefer 64 Zähne – etwa doppelt so viele wie bei nicht-spinosauriden Theropoden. Die Zahnkronen waren konisch geformt und wiesen an den Schneidekanten sehr feine Sägungen auf, ungefähr sieben pro Millimeter. Damit unterscheiden sie sich markant von typischen Zähnen nicht-spinosaurider Theropoden, die als seitlich abgeflachte, klingenartige Reißzähne mit groben Sägungen ausgebildet waren. An der Schnauzenspitze griffen die Zähne stark ineinander ("terminal rosette"). Als kennzeichnend für "Baryonyx" innerhalb der Spinosauridae gelten die verschmolzenen Nasenbeine, merkliche querverlaufende Einschnürungen der Kreuzbein- sowie der Schwanzwirbel, eine speziell ausgebildete Gelenkverbindung zwischen Schulterblatt und Rabenbein (Coracoid), der ausladende distale Rand der Schambein-Schaufel ("pubic blade") und die nur sehr flache Eindellung des Wadenbeins.
Seine Halswirbel waren vergleichsweise lang und mit kurzen Fortsätzen versehen. "Baryonyx" hatte drei Finger; der Daumen wies eine verlängerte, beim Holotypus 31 Zentimeter lange Kralle auf. Zuzüglich ihres nicht erhaltenen Überzuges aus Keratin wäre sie deutlich größer gewesen. Sein Oberarmknochen war sehr kräftig gebaut und an beiden Enden sehr breit und stark abgeflacht. Im Gegensatz zu anderen Spinosauriden ist für ihn kein Rückensegel nachgewiesen.
Da ein starker Größenunterschied zwischen Vorderbeinen und Hinterbeinen bestand, vermutet man eine bipede (zweibeinige) Fortbewegungsweise. Die im Vergleich zu anderen Theropoden sehr starke Ausbildung der Vorderbeine, speziell des Oberarmknochens, könnte jedoch auch darauf hindeuten, dass er sich gelegentlich auf vier Beinen (quadruped) bewegte oder rastete.
Fundgeschichte.
Der Hobby-Paläontologe William J. Walker entdeckte im Januar 1983 in einer Tongrube in Surrey (England) eine der 30 Zentimeter langen Krallen, das erste bekannte Fossil von "Baryonyx". Er benachrichtigte das British Museum of Natural History; dieses barg im Mai und Juni 1983 in der Nähe der ursprünglichen Fundstelle ein nahezu komplettes Skelett von "Baryonyx" (Exemplarnummer BMNH 9951), dem lediglich der Großteil des Schwanzes fehlte. Die Knochen lagen größtenteils im natürlichen anatomischen Zusammenhang; Verschiebungen und Beschädigungen von Knochen sind größtenteils auf den Einsatz einer Planierraupe bei der Bergung zurückzuführen. Der Fund zog schnell ein großes Medieninteresse auf sich, was ihn einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte. BMNH 9951 gilt als eines der bedeutendsten Fossilien Englands, bis 1983 war ein teilweise erhaltener "Eustreptospondylus" der einzige nennenswerte Fund eines Theropoden aus England.
Rund drei Jahre später folgte die Erstbeschreibung als "Baryonyx walkeri" durch die britischen Paläontologen Alan Charig und Angela Milner. "Baryonyx" bedeutet „schwere Klaue“ (aus dem Altgriechischen, βαρύς ("barys") = schwer, ὄνυξ ("onyx") = Klaue), das Art-Epitheton "walkeri" ehrt William J. Walker. Ebenfalls aus England stammen isoliert gefundene Zähne und Wirbel, die jedoch nicht sicher "Baryonyx" zugeordnet werden können. Alle bisherigen englischen Funde stammen aus der Wealden-Gruppe, einer bedeutenden Fossillagerstätte Südenglands, und werden auf die Zeit des Hauterivium bis Aptium datiert.
Weitere, zweifelsfrei von "Baryonyx" stammende Funde entdeckte man vor allem in Spanien: 1995 beschrieben Paläontologen Schädelreste von "Baryonyx" aus dem Barremium der Encisco-Gruppe in der spanischen Provinz La Rioja, 2001 wurde von einem teilweise erhaltenen Schädel aus dem Hauterivium der Provinz Burgos berichtet. Portugiesische Fundstücke aus dem 19. Jahrhundert, ursprünglich als Überreste eines Krokodils namens "Suchosaurus" gedeutet, wurden 2007 "Baryonyx" zugeschrieben. Sie stammen aus Barremiumschichten in der Umgebung von Lissabon.
Paläobiologie.
Ernährung.
Der Schädel von "Baryonyx" und anderen Spinosauriden zeigt eine Reihe von Merkmalen, die Piscivorie (Ernährung von Fischen) vermuten lassen. Die krokodilähnliche Schnauze war lang, flach und schmal, sie hätte somit weniger Widerstand beim Eintauchen ins Wasser gehabt. Die schmale Schnauze und ein knöchernes Gaumendach verminderten torsionale Belastungen, wie sie von zappelnden Fischen ausgehen. Die allgemeine Schädelmechanik von "Baryonyx" ähnelt mehr der des piscivoren Gavial-Krokodils als der von normalen Theropoden. Ein Knochenkamm der Spinosauriden, der sich dorsal über den gesamten Schädel zieht, ist zudem ein Indiz für eine ausgeprägte Nackenmuskulatur, die notwendig ist, um die Schnauze gegen den Wasserwiderstand durch das Wasser zu ziehen und den Kopf schnell zurückzuziehen. Die verlängerten konischen Zähne, die nur sehr feine Sägekanten besitzen, eigneten sich vor allem zum Zupacken und Festhalten der gesamten Beute und unterscheiden sich dadurch von den Zähnen der Fleischfresser, die nach dem Zupacken Teile der Beute abreißen bzw. schneiden müssen. Weit verbreitet ist die Vorstellung eines "Baryonyx", der ähnlich einem Fischreiher am Ufer oder im seichten Wasser auf Fische lauerte. Womöglich ergriff er auch mit seinen 30 Zentimeter langen Krallen Fische. Die ungewöhnlich großen Vorderextremitäten wiesen auch Knochenkämme als Ansatz für Muskulatur auf; "Baryonyx" Arme waren wohl ungemein kräftig. Womöglich wurde ihre Kraft in Verbindung mit der Klaue bei der Jagd auf größere, landbewohnende Tiere verwendet. Ebenso dienten sie vielleicht zum Aufreißen der Beute.
Im nahezu kompletten Skelett aus England erhielten sich im Hinterleib fossile Mageninhalte: die von Magensäure angegriffenen Schuppen und Zähne eines Fisches ("Lepidotes") und die Knochen eines jungen "Iguanodon" (eines in Europa häufig gefundenen, pflanzenfressenden Dinosauriers). Der Fund bestätigt die Vermutung, dass sich "Baryonyx" piscivor ernährt hat – die These reiner Piscivorie wird jedoch durch den Fund von "Iguanodon" als Mageninhalt widerlegt. Flugsaurier (Pterosauria) gelten ebenfalls als Beutetiere von Spinosauriden, dies schließt man aus Bissspuren in Flugsaurier-Knochen. Meist vermuten Paläontologen eine gemischte, opportunistische Ernährung, die Fisch und Landwirbeltiere einschließt, ähnlich wie bei heutigen Krokodilen. Eine Reihe spanischer Paläontologen spekuliert über ein weit weniger fischlastiges Nahrungsspektrum; sie berufen sich auf Funde von Zähnen baryonychiner Theropoden aus der spanischen Provinz Teruel: Fossile Wasserflöhe in einem Stadium zur Überdauerung von Trockenzeiten aus dieser Region zeigen auf, dass es keine größeren, permanenten Gewässer gab. Dies erklärt auch die Abwesenheit größerer Fische. Somit ernährte sich "Baryonyx" oder ein naher Verwandter in der Unterkreide von Teruel nicht von Fischen.
Im Hinterleib von "Baryonyx" wurden Gastrolithen (verschluckte Steine im Magen) gefunden. Bei einigen Tiergruppen erfüllen sie diverse Zwecke, bei "Baryonyx" geht man von versehentlichem Verschlucken aus.
Semiaquatische Lebensweise.
Einer neueren Studie zufolge waren Spinosauriden semiaquatisch, also teilweise wasserbewohnend. Forscher um Romain Amiot untersuchten das Mineral Apatit aus den Zähnen von Spinosauriden auf das Verhältnis zwischen zwei Isotopen des Sauerstoffs, Sauerstoff-16 und Sauerstoff-18. Die Analyse zeigt ein Verhältnis der beiden Isotope, wie man es typischerweise bei im Wasser lebenden Tieren findet. Das Isotopenverhältnis ist bei Land- und Wassertieren unterschiedlich, da der Körper von Landtieren Wasser durch Verdunstung verliert, wobei sich das schwerere Sauerstoff-18-Isotop im Körper anreichert. Eine semiaquatische Lebensweise erschien den Forschern als plausibelste Erklärung für das Verhältnis der Isotope. Einen Hinweis auf schwimmende Fortbewegung liefern Spuren eines Theropoden aus La Rioja: Sie zeigen, dass ein bipeder Theropode in etwa drei Meter hohem Wasser schwamm; dabei erhielten sich Kratzspuren der Hinterbeine im Sediment.
Allerdings zeigt der Körperbau von "Baryonyx" keine Anpassung an ein semiaquatisches Verhalten, daher verneinen Paläontologen zumeist eine allzu stark ans Wasser gebundene Lebensweise. Sein Körperbau entspricht dem eines landbewohnenden Läufers. Es sind weitere Forschungen notwendig, um die Thesen von Romain Amiot und Kollegen zu untermauern.
Paläoökologie.
Die Fossilien aus Großbritannien fanden sich in den Ablagerungen der Wealden-Gruppe, welche in der Kreidezeit größtenteils ein ausgedehntes Feuchtgebiet mit Flüssen und einem großen Süßwassersee, dem Wealden Lake, darstellte. Das Klima war für heutige Verhältnisse subtropisch. Die spanischen Fundstücke lagen in Gebieten, welche in der Kreidezeit von Seen bedeckt waren, die portugiesischen Fossilien kommen wohl aus dem Gebiet einer Lagune. In solcher Umgebung wäre Piscivorie gut möglich gewesen. Einer der häufigsten europäischen Dinosaurier war zu dieser Zeit "Iguanodon", welcher nachweislich zum Nahrungsspektrum von "Baryonyx" gehörte. Ebenso lebte er zusammen mit einer Reihe anderer, etwa gleich großer Theropoden, beispielsweise "Neovenator" und "Eotyrannus". Man kann davon ausgehen, dass er durch seine womöglich semiaquatische Lebensweise und piscivore Ernährung Konkurrenz mit diesen typischen Theropoden vermied und eine besondere ökologische Nische einnahm. Ein Beispiel hierfür aus heutiger Zeit ist die Koexistenz des vornehmlich piscivoren Australien-Krokodils und des stärker auf Säugetiere und Vögel spezialisierten Leistenkrokodils in australischen Flüssen.
Systematik.
Bei der Erstbeschreibung schlug man eine eigene Familie (Baryonychidae) für die Gattung "Baryonyx" vor, heute stellt man sie in die Familie Spinosauridae. Die Spinosauridae definiert sich über Synapomorphien (Gemeinsamkeiten) im Bau von Schädel sowie in der Anzahl und Größe der Zähne. "Baryonyx" wird seit 1998 der Unterfamilie Baryonychinae zugeteilt, welche der Spinosaurinae mit "Irritator" und "Spinosaurus" gegenübersteht. Die Baryonychinae spaltete sich vor vermutlich mehr als 130 Millionen Jahren von der Spinosaurinae ab. Ihre Synapomorphien sind eine größere Anzahl von Zähnen und stark gekielte Rückenwirbel. 1998 wurde "Suchomimus" aus Afrika erstbeschrieben; er ähnelt "Baryonyx" sehr stark und wird zusammen mit diesem innerhalb der Baryonychinae eingeordnet. Einige Paläontologen halten "Baryonyx" und "Suchomimus" für ein und dieselbe Gattung, der Großteil nutzt die auch von anderen Wissenschaftlern bestätigte Trennung von "Suchomimus" und "Baryonyx" innerhalb der Baryonychinae. Neuere Studien sehen auch die Megaraptora als "Baryonyx" sehr nahe: Fossilien der Megaraptora wurden in Australien und Südamerika gefunden und zeigen eine Reihe von Merkmalen, die eine Verwandtschaft mit "Baryonyx" und "Suchomimus" vermuten lassen; unter anderem besaßen auch die Megaraptora eine stark verlängerte Kralle am Daumen der Vordergliedmaße.
Ein mögliches Kladogramm:
Die einzige anerkannte Art der Gattung "Baryonyx" ist "Baryonyx walkeri", jedoch deuten etliche Funde isolierter Zähne auf verschiedene Arten hin. Sie ähneln den Zähnen von BMNH 9951 sehr stark, zeigen aber leichte Unterschiede. Es ist nicht klar, ob diese Unterschiede auf verschiedene Arten oder individuelle Unterschiede zurückzuführen sind, daher wurde bisher für uneindeutige Funde eine Klassifizierung als "Baryonyx" sp. (nicht näher definierte Art von "Baryonyx") oder baryonychine Überreste bevorzugt.
Nachdem der Paläontologe Eric Buffetaut die 1841 beschriebene Art "Suchosaurus girardi" 2007 als Synonym von "Baryonyx" erkannte, müsste die Gattung "Baryonyx" gemäß den Regeln des ICZN fortan "Suchosaurus" heißen (Prioritätsregel). Da jedoch der Holotypus von "Suchosaurus" nur ein isolierter Zahn ist, von "Baryonyx" hingegen ein nahezu vollständiges Skelett, wird weiterhin der Gattungsname "Baryonyx" verwendet. Dubios bleibt die Zuordnung der zweiten "Suchosaurus"-Art; der englische "Suchosaurus cultridens" ist wohl auch ein Spinosauride, kann jedoch nicht eindeutig "Baryonyx" zugeordnet werden.
Paläobiogeographie.
Die Evolution von "Baryonyx" wird oft durch allopatrische Artbildung erklärt. Zur Zeit der Unterkreide waren der damalige Nordkontinent Laurasia (Europa, Asien, Nordamerika) und der Südkontinent Gondwana (Afrika, Südamerika, Indien, Australien, Antarktis) durch den Tethys-Ozean getrennt. Es scheint sicher, dass sich die Baryonychinae und ihr ältester bekannter Vertreter "Baryonyx" in Europa entwickelten. Basale (urtümliche) Spinosauriden aus Afrika wanderten somit vor der Trennung der beiden Kontinente nach Europa aus und entwickelten sich aufgrund geographischer Isolation zur Baryonychinae. Dies wird gestützt durch Funde von baryonychinen Zähnen aus dem Hauterivium von Spanien und England, welche älter sind als alle afrikanischen Überreste von Baryonychinen. Die in Gondwana verbliebenen, basalen Spinosauriden entwickelten sich zur Spinosaurinae mit "Irritator" und "Spinosaurus". Der geologisch jüngere "Suchomimus" scheint aufgrund einiger Synapomorphien von "Baryonyx" abzustammen oder mit diesem einen gemeinsamen Vorfahr zu teilen, lebte jedoch in Gondwana. Man nimmt an, dass durch eine nicht näher definierte Begebenheit Vorfahren von "Suchomimus" nach Gondwana gelangten, oder dass die Iberische Halbinsel (Spanien & Portugal) eine Landbrücke durch die Tethys bildete. Aufgrund unzureichender Fossilbelege bleibt die Evolution der Spinosauridae unklar.
In der öffentlichen Wahrnehmung.
"Baryonyx" erregte nach seiner Entdeckung 1983 großes öffentliches Aufsehen; anfänglich wurde angenommen, die verlängerte Kralle sei eine normale Kralle des Fußes, und in einer Pressemitteilung wurde von einem gigantischen Tyrannosauriden ausgegangen. Erstmals an die Öffentlichkeit gelangte die Nachricht am 19. Juli 1983, und der Dinosaurier erhielt in der Folge Spitznamen wie „Claws“, „Big Claws“ oder „Superclaws“. Die Zeitung "The Guardian" etwa titelte mit , die "The Times" veröffentlichte am 20. Juli 1983 den Artikel , am folgenden Tag erschien die Schlagzeile . Auch später noch erschien "Baryonyx" in der britischen Presse: Am 27. November 1986 titelte "The Guardian" im Anschluss an die Erstbeschreibung , Anspielung auf das Art-Epitheton "walkeri" und den Beruf von William J. Walker.
Ebenso ist "Baryonyx" ein populärer Dinosaurier in Ausstellungen; Skelettreplikate und Lebendrekonstruktionen sind in zahlreichen Museen und Dinosaurier-Parks zu finden. |
540 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=540 | Bodensee | Der Bodensee ist ein Binnengewässer im südwestlichen Mitteleuropa. Er besteht eigentlich aus zwei Seen und einem sie verbindenden Flussabschnitt des Rheins, namentlich
Das größte Binnengewässer Deutschlands liegt im Bodenseebecken, einem Teil des nördlichen Alpenvorlands; der See wird vom Rhein durchflossen: Der Zufluss heißt Alpenrhein, der Abfluss Hochrhein.
An den Bodensee grenzen die drei Staaten Deutschland, Österreich und Schweiz. Eine anerkannte Grenze gibt es nur im Untersee zwischen Deutschland und der Schweiz. Im Bereich des Obersees wurde kein einvernehmlicher Grenzverlauf festgelegt.
Dieser Artikel behandelt neben dem Bodensee selbst auch die umgebende Bodenseeregion, die sich je nach räumlicher Definition weit ins Hinterland erstreckt.
Geschichte.
Nach dem Ende der letzten Kaltzeit vor circa 10.000 Jahren waren Ober- und Untersee noch in einem See verbunden. Die Tiefenerosion des Hochrheins ließ den Seespiegel nach und nach absinken und die Konstanzer Schwelle hervortreten. In der Antike trugen die beiden Seen noch unterschiedliche Namen, danach entwickelte sich aus unbekannten Gründen der gemeinsame Name.
Namensgeschichte.
Der römische Geograph Pomponius Mela nennt um das Jahr 43 n. Chr. den "Lacus Venetus" und den "Lacus Acronius," die beide vom Rhein durchflossen werden. Man nimmt an, dass es sich um die Namen für den Obersee (nach dem rätischen Stamm der Vennoneten) und den Untersee handelt. Beide Namen kommen sonst in der antiken Literatur nicht mehr vor.
Der Naturforscher Plinius der Ältere bezeichnet den gesamten Bodensee um 75 n. Chr. erstmals als "Lacus Raetiae Brigantinus" nach dem damaligen römischen Hauptort am See, "Brigantium" (Bregenz). Dieser Name ist mit den hier ansässigen keltischen Brigantiern verbunden, wobei offen ist, ob der Ort nach dem Stamm hieß oder sich die Einwohner der Region nach ihrem Hauptort benannten. Bei Ammianus Marcellinus ist später die Form "Lacus Brigantiae" zu finden.
Der heutige deutsche Name „Bodensee“ leitet sich vom Ortsnamen Bodman ab und bedeutet damit „See bei Bodman“. Dieser am Westende des Überlinger Sees gelegene Ort hatte im Frühmittelalter eine große Bedeutung, da er erst ein alemannischer Herzogssitz und dann eine fränkische Königspfalz und überdies eine Münzstätte war. Erstmals bezeugt findet er sich als "Bodungo" (eine Fehlschreibung für "Bodumo") 496/506 (Kopie 13./14. Jahrhundert nach Kopie um 700); weitere frühe Nennungen sind "Bodomo" (839) und "Podoma" (887). Dieser Ortsname geht auf althochdeutsch "bodam" zurück, was als Gattungswort „Boden, Erdboden, Grundfläche“ und als Ortsname „tief gelegener Siedlungsplatz“ oder „Ort auf einer Ebene“ bedeutet. Der Name des Sees ist erstmals 840 in latinisierter Form als "in lacum Potamicum" erwähnt, es folgen 890 (jüngere Kopie) "ad lacum Podamicum", 902 und 905 "prope lacum Potamicum" und 1087 deutsch "Bodinse, Bodemse". Als althochdeutsche Ursprungslautung ist "*Bodamsē" beziehungsweise mit Zweiter Lautverschiebung "*Potamsē" anzusetzen. Die Benennung nach der Königspfalz verdrängte im Mittelalter alle seit der Römerzeit für Teile des Bodensees bezeugten Namen. Der latinisierte Name wurde von klösterlichen Gelehrten wie Walahfrid Strabo fälschlich auf das griechische Wort "potamos" für „Fluss“ zurückgeführt und als "Fluss-See" gedeutet.
Dabei mag auch der Gedanke an den Rhein, der den See durchfließt, eine Rolle gespielt haben. Der deutsche Name "Bodensee" wurde von zahlreichen anderen Sprachen besonders Nord- und Osteuropas übernommen.
Nach dem Konzil von Konstanz 1414–1418 verbreitete sich im (katholisch-)romanischen Sprachraum der alternative Name "Lacus Constantinus," eine schon 1187 als "Lacus Constantiensis" bezeugte Form, welche auf die am Ausfluss des Rheins aus dem Obersee liegende Stadt Konstanz Bezug nimmt. Diese verdankt ihren Namen – lateinisch "Constantia" – dem römischen Kaiser Constantius Chlorus (292–305 n. Chr.). Beispielhaft genannt seien französisch "Lac de Constance" und italienisch "Lago di Costanza".
Die einst poetische und heute scherzhafte Bezeichnung „Schwäbisches Meer“ haben Autoren der frühen Neuzeit und der Aufklärung von antiken Autoren, möglicherweise Tacitus, übernommen. Allerdings lag dieser Übernahme ein Irrtum zu Grunde (ähnlich wie etwa auch beim Teutoburger Wald und dem Taunus): Die Römer hatten nämlich nicht den Bodensee, sondern die Ostsee manchmal als "Mare Suebicum" bezeichnet, da sie den Volksstamm der Sueben in der Nähe eines Meeres verortet hatten. Die Autoren der Frühneuzeit übernahmen die Bezeichnung für den größten See mitten im ehemaligen Herzogtum Schwaben, zu dem unter anderem auch Teile der heutigen Schweiz gehörten.
Eckdaten zur Geschichte.
Aus der Altsteinzeit sind keine Funde in unmittelbarer Seenähe bekannt, da die Bodenseegegend lange Zeit vom Rheingletscher bedeckt war. Fundstellen von Steinwerkzeugen (Mikrolithen) belegen, dass Jäger und Sammler des Mesolithikums (Mittelsteinzeit, 8000–5500 v. Chr.) die Bodenseeregion aufgesucht haben, ohne dort jedoch zu siedeln. Nur Jagdlager sind nachgewiesen. Die frühesten Bauern in der Jungsteinzeit (bandkeramische Kultur) hinterließen dort ebenfalls keine Spuren, denn das Alpenvorland lag abseits der Wege, auf denen sie sich im 6. vorchristlichen Jahrtausend ausgebreitet hatten. Dies änderte sich erst im mittleren und späten Neolithikum mit den Ufersiedlungen (Pfahlbauten und Feuchtbodensiedlungen), die sich nun hauptsächlich am Überlinger See, an der Konstanzer Bucht und am Obersee nachweisen lassen.
Bei Unteruhldingen ist ein solches Pfahlbaudorf rekonstruiert worden und heute als Pfahlbaumuseum Unteruhldingen zugänglich. 2015 wurde in der südwestlichen Uferzone des Sees eine ausgedehnte Reihe künstlich angelegter Steinhügel aus jener Epoche entdeckt.
Vom Beginn der Frühbronzezeit sind Grabfunde aus Singen am Hohentwiel zu nennen. Uferrandsiedlungen wurden während der Jungsteinzeit und der Bronzezeit (bis 800 v. Chr.) mit Unterbrechungen immer wieder errichtet. Siedlungen aus der nachfolgenden Eisenzeit hat man nicht gefunden. Die Besiedlung der Bodenseeufer in der Hallstattzeit wird eher durch Grabhügel bezeugt, die heute meist unter Wald liegen, da sie dort vor der Zerstörung durch die Landwirtschaft geschützt waren. Seit der späten Hallstattzeit wird die Bevölkerung am Bodensee als Kelten bezeichnet. In der Latènezeit ab 450 v. Chr. nimmt die Fundstellendichte ab, was zum Teil daran liegt, dass keine Grabhügel mehr errichtet wurden.
An ihrem Ende sind erstmals schriftliche Nachrichten über den Bodenseeraum erhalten. So werden als Bodenseeanrainer die Helvetier im Süden, die Räter wohl im Bereich des Alpenrheintals und die Vindeliker im Nordosten genannt. Wichtigste Orte am See waren Bregenz (keltisch "Brigantion") und das heutige Konstanz.
Die früheste Erwähnung des Bodensees findet sich in der "Geographica" Strabons und dessen Schilderung des Seegefechtes auf dem Bodensee gegen die Vindeliker im Zuge des Alpenfeldzuges 16 v. Chr.:
Das Bodenseegebiet wurde 16/15 v. Chr. von römischen Truppen erobert (Augusteische Alpenfeldzüge) und später ins Römische Reich eingegliedert. Der Geograph Pomponius Mela erwähnte um das Jahr 43 n. Chr. den Bodensee namentlich als "Lacus Venetus" (Obersee) und "Lacus Acronius" (Untersee), die beide vom Rhein durchflossen würden. Plinius der Ältere nannte den Bodensee "Lacus Brigantinus".
Wichtigster römischer Ort wurde Bregenz, das bald römisches Stadtrecht bekam und später zum Sitz des Präfekten der Bodenseeflotte wurde. Die Römer waren auch in Lindau, besiedelten dort allerdings nur die Hügel rund um Lindau, da am Ufer Sumpfgebiet war. Weitere römische Städte waren Constantia (Konstanz) und Arbor Felix (Arbon).
Nach dem Rückzug des Römischen Reiches auf die Rheingrenze im 3. Jahrhundert n. Chr. besiedelten allmählich Alemannen die Nordufer des Bodensees, später auch die Südufer. Nach deren Christianisierung wuchs die kulturelle Bedeutung der Region durch die Gründung des Bischofssitzes Konstanz (um 585) und der Abtei Reichenau (724). Während der Herrschaft der Staufer wurden am Bodensee Reichstage abgehalten. Außerdem kam es in Konstanz zum Friedensschluss zwischen dem Staufischen Kaiser und dem Lombardenbund. Eine wichtige Rolle kam dem Bodensee auch als Umschlagplatz für Waren im deutsch-italienischen Handel zu.
Um 1580 bereiste Michel de Montaigne den Bodensee über die Städte Konstanz, Friedrichshafen und Lindau:
Während des Dreißigjährigen Kriegs kämpften mehrere Parteien um die Vorherrschaft über das Bodenseegebiet (Seekrieg auf dem Bodensee 1632–1648).
Die Bodenseeregion war 1799 und 1800 vom Zweiten Koalitionskrieg betroffen. Zeitweise agierten eine österreichische und eine französische Flottille auf dem Bodensee. Am 9. Februar 1801 unterzeichneten Frankreich und das Heilige Römische Reich unter dem römisch-deutschen Kaiser Franz II. den Frieden von Lunéville.
Bodensee auf historischen Landkarten.
Die älteste Darstellung des Bodensees stammt aus der Tabula Peutingeriana aus dem 12. Jahrhundert, der Kopie einer römischen Straßenkarte aus dem 3. Jahrhundert. Dort ist der See nur in einer generischen Form, mit Zu- und Ablauf und ohne Namen, abgebildet, durch die bezeichneten Kastelle Arbor Felix und Brigantio aber eindeutig identifizierbar.
Ab 1540 sind genauere Karten vom Bodensee bekannt.
Geographie.
Gliederung.
Der Bodensee ist ein Alpenrandsee im Alpenvorland. Die Uferlänge beider Seen beträgt 273 km. Davon liegen 173 km in Deutschland (Baden-Württemberg 155 km, Bayern 18 km), 28 km in Österreich und 72 km in der Schweiz.
Der Bodensee ist, wenn man Obersee und Untersee zusammenrechnet, mit 536 km² nach dem Plattensee (594 km²) und dem Genfersee (580 km²) flächenmäßig der drittgrößte See Mitteleuropas, gemessen am Wasservolumen (48,5 km³) nach dem Genfersee (89 km³) und dem Gardasee (49,3 km³) ebenfalls der drittgrößte. Er erstreckt sich zwischen Bregenz und Stein am Rhein über 69,2 km. Sein Einzugsgebiet beträgt rund 11.500 km² und reicht im Süden bis zum Ende des Averstals.
Obersee.
Mit einer Fläche von 473 km² ist der Obersee der größte Teil des Bodensees; er erstreckt sich zwischen Bregenz und Bodman-Ludwigshafen über 63,3 km und ist zwischen Friedrichshafen und Romanshorn 14 km breit.
Seine tiefste Stelle zwischen Fischbach und Uttwil misst 251,14 m. Damit ist er der tiefste See Deutschlands.
Die drei kleinen Buchten des Vorarlberger Ufers haben Eigennamen: Vor Bregenz liegt die "Bregenzer", vor Hard und Fußach die "Fußacher Bucht" und westlich davon der "Wetterwinkel". Weiter westlich, bereits in der Schweiz, befindet sich die "Rorschacher Bucht", nördlich auf bayrischer Seite, die Reutiner Bucht. Der Eisenbahndamm vom Festland zur Insel Lindau im Westen und die Landtorbrücke mit der darüber verlaufenden Chelles-Allee im Osten grenzen vom Bodensee den "Kleinen See" ab, welcher zwischen dem Lindauer Ortsteil Aeschach und der Insel liegt.
Überlinger See.
Der nordwestliche fingerförmige Arm des Obersees heißt Überlinger See. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird er als eigenständiger Seeteil betrachtet, die Grenze zwischen Ober- und Überlinger See verläuft in etwa entlang der Linie zwischen der Südostspitze des Bodanrücks (das zur Stadt Konstanz gehörende (Freibad) „Hörnle“) und Meersburg. Östlich vor Konstanz liegt der „Konstanzer Trichter“ zwischen dem deutschen und dem Schweizer Ufer.
Seerhein.
Obersee und Untersee sind durch den Seerhein miteinander verbunden.
Untersee.
Der Untersee, der vom Obersee bzw. von dessen nordwestlichem Arm Überlinger See durch die "Halbinsel Bodanrück" abgetrennt ist, weist eine Fläche von 63 km² auf. Er ist durch die Endmoränen verschiedener Gletscherzungen und Mittelmoränen geprägt und stark gegliedert. Diese Seeteile haben eigene Namen. Nördlich der Insel Reichenau befindet sich der Gnadensee mit dem Markelfinger Winkel ganz im Westen, nördlich der Halbinsel Mettnau. Westlich der Insel Reichenau, zwischen der Halbinsel Höri und Mettnau liegt der Zeller See. Die Drumlins des südlichen Bodanrücks setzen sich am Grund dieser nördlichen Seeteile fort.
Südlich der Reichenau erstreckt sich von Gottlieben bis Eschenz der Rheinsee mit seiner zum Teil ausgeprägten Rheinströmung. Früher wurde dieser Seeteil nach dem Ort Berlingen "Bernanger See" genannt. Auf den meisten Karten ist der Name des Rheinsees auch deshalb nicht aufgeführt, weil sich dieser Platz am besten für die Beschriftung des Untersees eignet.
Entstehung und Zukunft.
Der Bodensee hat seine Gestalt durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren gewonnen:
Wie jeder glaziale See wird auch der Bodensee durch Sedimentation in geologisch naher Zukunft verlanden. Dieser Prozess lässt sich am besten an den Mündungen größerer Flüsse, vor allem der des Alpenrheins, beobachten. Die Verlandung wird beschleunigt durch die stets weitergehende rheinische Erosion und die damit verbundene Absenkung des Seespiegels.
Zuflüsse.
Hauptzufluss des Obersees ist der Alpenrhein. Der Alpenrhein und der Seerhein vermischen sich nur bedingt mit den Seewässern und durchströmen die Seen in meist gleich bleibenden Bahnen. Daneben gibt es zahlreiche kleinere Zuflüsse (236). Die wichtigsten Nebenzuflüsse des Obersees sind (entgegen dem Uhrzeigersinn) Dornbirner Ach, Bregenzer Ach, Leiblach, Argen, Schussen, Rotach, Seefelder Aach, Stockacher Aach, Salmsacher Aach, Aach (bei Arbon), Steinach, Goldach und Alter Rhein. Abfluss des Obersees ist der Seerhein, der wiederum Hauptzufluss des Untersees ist. Wichtigster Nebenzufluss des Untersees ist die Radolfzeller Aach.
Da der Alpenrhein Geschiebe aus den Bergen mitbringt und dieses Material dort sedimentiert, wird die Bregenzer Bucht in einigen Jahrhunderten verlanden. Die Zeit bis zur Verlandung des gesamten Bodensees schätzt man auf zehn- bis zwanzigtausend Jahre.
Abflüsse, Verdunstung, Wasserentnahme.
Der Abfluss des Obersees und Überlinger Sees wird durch den Seerhein begrenzt. Im Seerhein hindert das Schweizer Laichkraut bei Niedrigwasser den Wasserabfluss in den Untersee. Der Abfluss des Untersees ist der Hochrhein mit dem Rheinfall von Schaffhausen. Sowohl die Niederschlagsmenge von durchschnittlich 0,45 km³/a als auch die Verdunstung von durchschnittlich 0,29 km³/a verändern netto den Pegel des Bodensees wenig, verglichen mit dem Einfluss der Zu- und Abflüsse.
Weitere Seewassermengen werden durch die 15 städtischen Wasserwerke rund um den See und die Bodensee-Wasserversorgung entnommen, siehe Abschnitt Trinkwassergewinnung.
Inseln.
Im Bodensee liegen zehn Inseln größer als 2000 m².
Die mit Abstand größte Insel (430 ha) ist die Reichenau im Untersee, die zur Gemeinde Reichenau gehört. Das ehemalige Kloster Reichenau zählt, auch aufgrund dreier früh- und hochmittelalterlicher Kirchen, zum Welterbe der UNESCO. Die Insel ist auch durch intensiv betriebenen Anbau von Obst und Gemüse bekannt.
Die Insel Lindau ganz im Osten des Obersees ist die zweitgrößte Insel (68 ha). Auf ihr befindet sich sowohl die Altstadt als auch der ehemalige Hauptbahnhof der Stadt Lindau.
Die drittgrößte Insel (45 ha) ist die Mainau im Südosten des Überlinger Sees. Die Eigentümer, die Familie Bernadotte, haben die Insel als touristisches Ausflugsziel eingerichtet und dafür botanische Anlagen und Tiergehege geschaffen.
Relativ groß, aber unbesiedelt und (als Naturschutzgebiet) unzugänglich sind zwei Inseln vor dem Wollmatinger Ried: (Triboldingerbohl mit 13 ha und Mittler oder Langbohl mit 3 ha).
Kleinere Inseln im Obersee sind:
Im Untersee die
Halbinseln.
In den Bodensee ragen einige Halbinseln unterschiedlicher Größe.
Ufer.
Das Ufer des Bodensees besteht überwiegend aus Kies. An einigen Stellen findet man aber auch echten Sandstrand, so am Rohrspitz im österreichischen Abschnitt des Sees, am DLRG-Strand in Langenargen und bei der Marienschlucht.
Nach den Angaben der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee beträgt die grobe Uferlänge 273 km. Dieser Wert steigt beliebig mit der Verringerung des Abstandes zwischen den zur Approximation der Uferlinie verwendeten Punkten (siehe Messung von Küstenlängen). Vor allem durch Regen und die Schneeschmelze in den Alpen verändert sich der Wasserzufluss ständig. Die Oberfläche liegt im Mittel circa (in der Schweiz erfolgt die absolute Angabe geringfügig höher in [m ü. M.]). Die mehr oder minder regelmäßigen saisonalen Schwankungen des Wasserpegels führen außerdem zu geringfügig unterschiedlich langen Ufern und zu unterschiedlich belebten Uferzonen (je nach Hoch- und Niedrigwasser).
Der Bodensee ist in Deutschland ein Gewässer erster Ordnung und gehört damit dem Land. Die Wasserlinie ist die Grenze, vorübergehende Änderungen der Wasserlinie durch Hoch- oder Niedrigwasser ändern nichts an den Eigentumsverhältnissen.
Klima, Auswirkungen der globalen Erwärmung.
Das Bodenseeklima ist durch milde Temperaturen mit gemäßigten Verläufen (durch die ausgleichende und verzögernde Wirkung des Wasservolumens) gekennzeichnet. Es gilt allerdings – aufgrund des ganzjährigen Föhneinflusses, häufigen Nebels im Winterhalbjahr und auftretender Schwüle im Sommer – als Belastungsklima.
Bedingt durch die globale Erwärmung kommt es zu substanziellen Veränderungen. So stieg etwa in Konstanz im Zeitraum von 1990 bis 2014 die Oberflächentemperatur des Sees um 0,9 °C und die durchschnittliche Lufttemperatur im gleichen Zeitraum um 1,3 °C.
Der Bodensee gilt bei Wassersportlern aufgrund der Gefahr starker Sturmböen bei plötzlichen Wetterwechseln als nicht ungefährliches und anspruchsvolles Binnenrevier. Gefährlichster Wind ist der Föhn, ein warmer Fallwind aus den Alpen, der sich insbesondere durch das Rheintal auf das Wasser ausbreitet und bei teils orkanartigen Windstärken typische Wellenberge mit mehreren Metern Höhe vor sich hertreiben kann.
Ähnlich gefährlich sind die für Ortsunkundige u. U. völlig überraschend auftretenden Sturmböen bei Sommergewittern. Sie fordern immer wieder Opfer unter den Wassersportlern. Bei einem Sturm im Juli 2006 während eines Gewitters wurde eine Wellenhöhe von bis zu 3,50 Metern erreicht.
Ein Jahrhundertereignis ist die Seegfrörne des Bodensees, wenn Untersee, Überlinger See und Obersee komplett zugefroren sind, so dass man den See überall sicher zu Fuß überqueren kann. Die drei letzten so genannten Seegfrörne waren in den Jahren 1963, 1880 und 1830.
Bestimmte Teile des Untersees frieren hauptsächlich aufgrund der geringen Wassertiefe und der geschützten Lage häufiger zu, wie z. B. der sogenannte "Markelfinger Winkel" zwischen Markelfingen und der Halbinsel Mettnau bei Radolfzell.
Pegelstände.
Die Pegelstände werden unter anderem in Konstanz, Romanshorn und Bregenz ermittelt. Das Pegelhäuschen Konstanz befindet sich an der Hafenausfahrt direkt unterhalb der Statue der Imperia. Pegelstände bzw. Wasserstandsangaben sind Relativmaße und beziehen sich auf den jeweiligen Pegelnullpunkt. Der Romanshorner Pegel (Schweiz) gibt die Höhe des Wasserspiegels als Meter über Meer bezogen auf den Repère Pierre du Niton wieder, der Pegelnullpunkt in Bregenz (Österreich) liegt bei bezogen auf Molo Sartorio/Triest 1875 (+ 7 cm gegenüber der Schweiz) und der Konstanzer Pegel ist definiert auf (bezogen auf den Meeresspiegel Amsterdam, + 32 cm gegenüber der Schweiz).
So zeigen die Pegel in Konstanz und Bregenz bei Mittelwasserstand jeweils 3,56 m, der Romanshorner Pegel 395,77 m an. Zur Umrechnung der Pegel gilt: "„Pegel Romanshorn“ minus 392,21 = „Pegel Konstanz/Bregenz“ in Metern".
Die Tiefenangaben in den offiziellen Seekarten des Bodensees sind auf den Pegel Konstanz bezogen. Dessen Pegelnull ist . Die offizielle Hochwassermarke liegt bei einem Pegel von 4,80 Metern.
Die Pegel sind starken witterungsbedingten (Winddrift) und jahreszeitlichen Schwankungen ausgesetzt. Der Bodensee hat keinen Damm und keine Schleuse am Abfluss, daher ist eine künstliche Regulierung des Wasserstands nicht möglich.
Die Pegelstände weisen im Jahresverlauf typische saisonale Schwankungen auf. Das Mittelwasser erreicht im Januar ca. 3 Meter, steigt im Juni/Juli/August auf ca. 4,2 Meter und fällt zum Dezember hin auf ca. 3 Meter. Langfristig gesehen lag der durchschnittliche Wasserstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um 10 cm höher als in der zweiten Hälfte.
Der Pegelstand des Untersees liegt 18 bis 30 Zentimeter tiefer als der Pegelstand des Obersees. Der Pegelstand des Untersees wird in Radolfzell gemessen und hängt ab vom Zufluss über den Seerhein in Konstanz und dem Abfluss bei der Stiegener Enge (Eschenz/Öhningen). Der Zufluss zum Untersee wird durch die aufstauende Wirkung von Wasserpflanzen an Obersee und Seerhein behindert.
Die Uferlinie des Bodensees bei Mittelwasserstand wurde zuletzt 2006 von der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee festgelegt.
Die Pegelstände werden seit 1817 täglich gemessen. Seit Ende der 1930er-Jahre wird im Einzugsbereich des Alpenrheins Wasser zur Stromgewinnung aufgestaut, und dadurch wird der Pegel beeinflusst.
Die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) betreibt die Messstation im Konstanzer Hafen. Zur Sicherheit wird auf drei Arten gemessen: analog an der Pegellatte (verbindlich); Digitalisierung von Daten eines Schwimmkörpers an der Wasseroberfläche; pneumatischer Druck in einer Leitung, die in den See mündet.
Entwicklungen und Trends.
Die durchschnittlichen Wasserstände am Pegel Konstanz betrugen in den Winterhalbjahren (Oktober–März) von 1910 bis 2007 301,8 Zentimeter. Zwischen 1910 und 1941 stieg der Pegel auf 311,7 Zentimeter um danach leicht und gleichmäßig auf 297,3 Zentimeter abzufallen. Das Gesamtpegelminus beträgt für diesen Zeitraum also 4,5 Zentimeter.
Seit 2012 zeichnen sich für die Winterhalbjahre wieder stabile oder leicht steigende Tendenzen ab, was vor allem durch wärmer werdende Winter und die dadurch verzögerte Schneebindung der Abflüsse erklärt wird. Ein einheitlicher, signifikanter Trend ist aber noch nicht feststellbar.
Anders stellt sich die Lage in den Sommerhalbjahren dar: Zwischen 1910 und 2007 fiel der durchschnittliche Wasserstand von 379,1 auf 356,3 Zentimeter. Das Gesamtminus beträgt also 22,8 Zentimeter. Da in dieser Zeitlinie jedoch zwei Bruchperioden mit steigenden Wasserständen (von 1910 bis 1941 und von 1965 bis 1988) enthalten sind, ist das Gesamtminus in kleineren Zeitabständen noch expressiver.
So sank der durchschnittliche Seepegel in den Sommerhalbjahren von 1988 bis 2007 um 25,6 Zentimeter.
Hochwasser.
Die jahreszeitlich "höchsten Wasserstände" entstehen meist im Frühjahr/Sommer nach der Schneeschmelze über 3000 m in den Alpen. Zusätzliche starke Regenfälle im Sommer im Einzugsgebiet des Alpenrheins (Schweiz), der Bregenzer Ach (Bregenzer Wald) und von Schussen und Argen (Oberschwaben) können den Wasserzufluss noch erhöhen und zu Hochwasser führen.
Erste Warnungen werden von den Behörden ab einem Pegelstand von 4,50 m in Konstanz abgegeben. Bei 4,80 m Pegelstand ist die Hochwasservorwarnstufe erreicht, und es können kleinere Schäden vorkommen.
Die kritische Grenze liegt bei Wasserständen ab 5 Meter. Der zweijährliche Hochwasserstand (HW 2) liegt im Durchschnitt bei 4,62 Meter, der zehnjährliche (HW 10) bei 5,12 Meter, der 20-jährliche (HW 20) bei 5,31 Meter, der 50-jährliche (HW 50) bei 5,53 Meter und der 100-jährliche bei 5,68 Meter.
Die absolut höchsten Wasserstände am Pegel Konstanz wurden gemessen mit
Das "Hochwasser vom 7. Juli 1817" ging zurück auf den Ausbruch eines Vulkanes 1809 in den Tropen und des Tamboras im April 1815, die Asche und Schwefelteilchen in die Atmosphäre brachten und dadurch die Sonnenstrahlung abhielten. Dies führte im Jahr ohne Sommer 1816 zu viel Regen und Schnee.
1817 schmolz der kumulierte Schnee aus den Jahren 1810 bis 1817.
Dazu kam ein tagelanger Gewitterregen ab 4. Juli 1817 und verursachte dieses außergewöhnliche Hochwasser des Bodensees. In Konstanz lag das Tägermoos, der Briel, das Paradies (Konstanz) und weit über die Hälfte der Marktstätte unter Wasser. Der Maler Nikolaus Hug hielt dies im Bild "Hochwasser auf der Marktstätte im Sommer 1817" fest. Eine schwarze Tafel an der Wand des Hauses Marktstätte 16 in Konstanz in Wadenhöhe erinnert an diese Flut.
Beim "Hochwasser von 1890" trat das Wasser in Konstanz über das Hafenbecken hinaus und reichte bis zu den Güterabfertigungsgebäuden der Hafenstraße. Die Uferpromenaden wurden ebenfalls überschwemmt und ein scharfer Ostwind ließ das Hochwasser weiter steigen.
Beim Hochwasser von Juni 1926 ging die Bevölkerung in Steckborn über Hochwasserstege.
Das "Hochwasser vom Mai/Juni 1999" war das stärkste der jüngeren Vergangenheit. Es entstand durch das Zusammentreffen der Schneeschmelze in den Alpen und von zwei Starkregenfällen.
Innerhalb eines Tages stieg der Pegel um bis zu 47 cm an. Durch Aufschwimmen wurde dabei der Landesteg von Hagnau zerstört. In Stein am Rhein wurden Holzstege für die Fußgänger in den ufernahen Straßen errichtet. Das Anlegen der Schiffe in Bregenz und Konstanz war erschwert. Unterführungen, Keller und Garagen wurden überschwemmt.
Am 2. Juni 1999 kam ein Sturm der Stärke 11 zum Hochwasser hinzu. Dieser türmte bis zu 4 m hohe Wellen auf und lagerte große Mengen Treibholz auf dem Lindauer Bodenseedamm, auf welchem der Zugverkehr dadurch vorübergehend zum Erliegen kam, ab.
Typische Begleiterscheinung von Hochwasser sind die teppichartigen Ansammlungen von Treibgut. Durch Alpenrhein, Bregenzer Ach und Argen werden Baumstämme und anderes Treibgut aus den Alpen in den See geschwemmt. Das Treibgut lagert sich je nach Wind und Wasserströmung am Ufer zwischen Lindau und Langenargen an, besonders um Wasserburg, Nonnenhorn oder auch in der Bregenzer Bucht. Das abgelagerte Treibgut ist durch viele Steine und massive Baumstämme durchsetzt.
Die Verwertung wird dadurch erschwert. Das Treibgut kann die Bodenseeschifffahrt und die Nutzung der Sportboothäfen ernsthaft behindern. Treibgutteppiche gab es in den Jahren 1999, 2005, 2016 und 2019.
Bei Seeuferwegen werden einerseits Steine und Kies aus dem See angeschwemmt, andererseits der Wegbelag weggeschwemmt.
Niedrigwasser.
Die jahreszeitlich "niedrigsten Wasserstände" treten in der Regel im Winter in den Monaten Januar, Februar und März auf. Voraussetzung dafür ist, dass der Dezember im näheren Einzugsgebiet von geringen Niederschlägen geprägt ist und in den Alpen der Niederschlag in Form von Schnee erfolgt. Die Folgen zeigen sich dann auch durch Niedrigwasser am Rheinfall von Schaffhausen mit weit herausragenden Felsen. Die Trennung zwischen Überlinger See und Konstanzer Trichter ist dann am Hörnle in Konstanz durch eine freiliegende Kies-Landzunge gut zu erkennen. Die Verbindung der Insel Werd (Bodensee) mit ihren beiden Nachbarinseln wird sichtbar.
Die niedrigsten am Pegel Konstanz gemessenen Wasserstände waren:
Beim "Niedrigwasser vom Februar 1858" fiel die Konstanzer Bucht nahezu trocken. Ein Fest wurde zu diesem Ereignis gefeiert. Auf dem trockenen Grund waren Buden aufgestellt.
Beim "Jahrhundertniedrigwasser 1972" wurde auf einer mehrere 100 Meter vor der Insel Reichenau gelegenen Sandbank ein Fest gefeiert und ein Granitstein gesetzt. Die Inschrift lautet: Zwei dieser bei höherem Wasserstand überspülten Sandbänke sind mit zwei unter dem Wasserspiegel liegenden Dämmen mit der Insel Reichenau verbunden. Bei extrem starkem Niedrigwasser bildet eine sichtbar werdende Kiesbank, die so genannten "Kaiserstraße" oder "Königsbrücke" zwischen Hornstaad der Halbinsel Höri bzw. der Spitze der Halbinsel Mettnau und der Insel Reichenau eine Verbindung. Dies ist zugleich die Grenze zwischen Untersee und Gnadensee.
Als Nebenwirkung extremen Niedrigwassers haben die Fische weniger Fläche zum Laichen und die Brutgebiete der Wasservögel werden knapp. Rund um den Reichenauer Inseldamm werden Sandbänke und trocknender Schlick sichtbar.
Die Schiffsanlegestellen in Bad Schachen und in Langenargen können durch die Schiffe der Bodensee-Schiffsbetriebe nicht mehr angefahren werden.
Wassertemperatur.
Die mittlere Wassertemperatur beträgt im Juli 20 °C, im Oktober 15 °C – nach mehreren Hitzetagen kann sie aber auch bis über 25 °C ansteigen. Die Durchschnittstemperatur des Sees hat sich durch die globale Erwärmung im Zeitraum 1990 bis 2014 verglichen mit dem Zeitraum 1962 bis 1989 um ca. 0,9 °C erwärmt, eine weitere Erwärmung um 2 bis 3 °C gilt als wahrscheinlich. Damit einher geht eine schlechtere Durchmischung des Wassers, wodurch tiefere Wasserschichten weniger Sauerstoff erhalten, sowie eine Veränderung der Artenzusammensetzung, mit einer Begünstigung nicht-heimischer Spezies.
Eine 2015 erschienene Studie nennt verschiedene negative Folgen eines Temperaturanstieges in Seen. Demnach kann eine Zunahme der Gewässertemperaturen vermehrt Algenblüten auslösen, einen Anstieg der Methanemissionen auslösen, den Wasserspiegel absenken, was wiederum die Versorgungssicherheit mit Trinkwasser gefährden kann, bedeutende ökonomische Verluste bewirken sowie negative Auswirkungen auf das Ökosystem haben, die bis zu dessen vollständiger Zerstörung reichen können.
Der Hochwassernachrichtendienst am Bayerischen Landesamt für Umwelt veröffentlicht im Internet eine stündlich aktualisierte Temperaturkurve. Über Erdbeobachtungssatelliten, wie dem Sentinel-3, wird der See täglich beobachtet. So werden etwa Daten über Temperatur, Algenverteilung etc. generiert, welche wiederum u. a. vom Wasserforschungsinstitut Eawag ausgewertet werden.
Tiefenbereiche.
Die Tiefenbereiche des Bodensees sind von der Wasseroberfläche bis zum Seegrund in verschiedene Sektionen aufgeteilt. Vom Ufer aus gesehen sind dies der "Hang", bis ca. 3 bis 5 Meter Tiefe, gebildet von der Erosion durch Wellenschlag. Im Winter, bei Tiefwasserstand, liegt dieser Bereich mehrheitlich trocken. Bis ca. 20 Meter folgt anschließend die "Wysse", abgeleitet von der Farbe "Weiß". Durch Wellengang aufgewirbelter Ton und Mergel gibt dem See in diesem Bereich eine weißliche Tönung. "Halde" wird die steil abfallende Moränenflanke genannt, die bis etwa 100 Meter folgt. Ab ca. 150 Meter wird der Seegrund "Schweb" genannt, die abfallenden Grundsektionen um 200 Meter nennt man "Tiefhalde" und der unterste Seegrund bei rund 250 Metern heißt "Tiefer Schweb".
Das ab 2012/13 durchgeführte Projekt Tiefenschärfe hat mit der hochauflösenden Vermessung des Bodensees von Schiff und Flugzeug aus ein detailgetreues 3D-Modell des Seebeckens erstellt. Das Projekt wurde vom Institut für Seenforschung in Langenargen geplant. Es wurde getragen von der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB). Die tiefste Stelle wurde nun auf 251,14 Meter festgelegt. Auf Schweizer Seite zwischen Romanshorn und Güttingen wurden Steinhaufen in der Richtung von Nordwest Richtung Südost dokumentiert.
In der fiktiven Verlängerung verläuft diese Linie von der Rheinmündung im Osten zum Rheinausfluss im Westen bei Konstanz.
Territoriale Zugehörigkeit.
Anrainerstaaten sind die Schweiz (Kantone Thurgau, St. Gallen und Schaffhausen), Österreich (Bundesland Vorarlberg) sowie Deutschland (Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern).
Seit 1972 kooperieren die an den See angrenzenden Länder und Kantone in den Gremien der Internationalen Bodenseekonferenz (IBK). Diese hat das Ziel, die Bodenseeregion als attraktiven Lebens-, Natur-, Kultur- und Wirtschaftsraum zu erhalten, zu fördern und die regionale Zusammengehörigkeit zu stärken.
Im westlichen Abschnitt des Obersees zwischen Konstanz und dem heutigen Kreuzlingen gibt es seit dem 16. Jahrhundert eine komplizierte Grenzziehung. Der Konstanzer Trichter im Obersee, der Seerhein sowie der Untersee sind durch Grenzverträge zwischen Baden und der Schweiz (20. und 31. Oktober 1854 sowie am 28. April 1878) und zwischen dem Deutschen Reich und der Schweiz (24. Juni 1879) klar aufgeteilt. Der Überlinger See zählt vollständig zum deutschen Hoheitsgebiet.
Der Rest des Obersees bleibt neben der Emsmündung vorläufig die einzige Gegend in Europa, in der zwischen den Nachbarstaaten nie Grenzen festgelegt wurden. Hier gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen, die alle auf Gewohnheitsrecht zurückgeführt werden. Die auf Karten oft zu sehende Grenzziehung in Seemitte beruht auf der so genannten "Realteilungstheorie", nach der 32 % der Seefläche auf die Schweiz und 9,7 % auf Österreich entfallen.
Die andere gängige Auffassung ist die "Haldentheorie", nach der das Gebiet des Obersees außerhalb des Uferstreifens als Kondominium gemeinschaftliches Hoheitsgebiet aller Anrainer ist.
Klar und unstrittig war und ist, dass auch in einem Bereich in unmittelbarer Ufernähe der entsprechende Staat Hoheitsrechte ausüben kann. Bei kleineren Gewässern ergibt sich daraus zwangsläufig die Realteilung mit einer Grenzziehung in Gewässermitte, was allgemein auch für größere Gewässer praktiziert wird.
Für den Bodensee werden die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Anrainerstaaten faktisch bereits seit den 1890er Jahren eng abgestimmt und in der Regel wortgleich erlassen. Darüber hinaus wird durch internationale Bevollmächtigtenkonferenzen und internationale Kommissionen eine einheitliche Anwendung und ggf. auch Fortschreibung sichergestellt. Dies betrifft je nach Gegenstand der Regelungen zum Teil auch die Länder bzw. Kantone.
Nach der im Wesentlichen von der Schweiz getragenen Auffassung der "Realteilungstheorie" widerspricht eine solche Abstimmungspraxis nicht der allgemein üblichen gewohnheitsrechtlichen Realteilung. Andererseits lässt sich aus dieser Praxis auch die insbesondere von Österreich vertretene Auffassung gewohnheitsrechtlich ableiten, dass die Wasserfläche des Obersees mit Ausnahme des Bereiches von weniger als 25 m Tiefe, in diesem Zusammenhang als "Hoher See" bezeichnet, als Kondominium gemeinschaftlich verwaltetes Hoheitsgebiet aller drei Staaten sei.
Diese Auffassung wird wegen ihrer Beschränkung auf die Seefläche innerhalb des als Halde bezeichneten Tiefenbereiches als "Haldentheorie" bezeichnet. Sie gilt insofern als Erweiterung der so genannten Kondominiumstheorie ohne die exakte Definition des Uferstreifens.
Insgesamt scheint die Haldentheorie gegenüber der Realteilungstheorie langsam an Boden zu gewinnen. So hat das Land Vorarlberg 1984 bei einer Neufassung seiner Verfassung den Hohen See in Artikel 2 explizit als Bestandteil des Landesgebietes festgeschrieben, ergänzt durch die Einschränkung „im Gebiet des Hohen Sees ist die Ausübung von Hoheitsrechten des Landes durch ebensolche Rechte der anderen Uferstaaten beschränkt“.
Dies wird von Vorarlberger Seite lediglich als „Klarstellung“ aufgefasst, und offenbar wurde dieser Verfassungsänderung von den anderen Beteiligten nicht widersprochen. Ebenfalls gehen die deutschen Länder von der hier ohne genauere Unterscheidung auch als "Kondominiumstheorie" bezeichneten Haldentheorie aus. Die Rechtsprechung ist allerdings uneinheitlich, auch deswegen, weil eine Entscheidung zwischen den Theorien in der Praxis wegen der engen Abstimmung der Anrainer nur sehr selten notwendig wird.
Durch das Fehlen staatsvertraglicher Regelungen über den Grenzverlauf sowie mangels Ausbildung einer gewohnheitsrechtlichen Regelung oder Übereinstimmung auf eine gemeinsame Auffassung ist somit weder ein Kondominium noch eine Realteilung anzunehmen.
Der „Hohe See“ (d. h. der Obersee mit mehr als 25 Meter Wassertiefe) ist daher eher als „staatsfreies Gebiet“ und als „internationaler Gemeinschaftsraum“ "ohne" Klärung der Hoheitsgewalt anzusehen, wobei alle in der Praxis auftretenden Fragen durch zahlreiche zwischenstaatliche Verträge auch über die Aufteilung exekutiver Zuständigkeiten ausreichend geregelt sind und diese intensive regionale Zusammenarbeit eine Klärung der Souveränitätsfrage überflüssig macht. Alle drei Staaten gehören zudem dem Schengen-Raum an, was eine eindeutige Grenzziehung wenig dringlich macht.
Erdkrümmung.
Aufgrund der Erdkrümmung verfügt der Bodensee in seiner (maximalen) Südost-Nordwest-Ausdehnung (ca. 65 km) über eine Aufwölbung der Oberfläche von rund 80 m.
Konstanz am Westufer des Obersees und Bregenz ganz im Osten sind etwa 46 km Luftlinie voneinander entfernt. Die Aufwölbung der Wasseroberfläche dazwischen beträgt hier rund 41,5 m. Ebenso hoch müssten an beiden Seiten die Augen über dem Wasserspiegel angehoben sein, um sich wechselweise in die Augen sehen zu können.
Wer also in Konstanz am Ufer steht, sieht aus seiner rund 2 m hoch liegenden Perspektive nichts von Bregenz, jedoch die dahinter aufragenden Berge. Umgekehrt sieht man von Bregenz in Richtung Konstanz nur Wasser bis zur Höhe des Horizonts, da es um Konstanz keine ausreichend hohen Berge gibt.
Ökologie.
Flora.
Landpflanzen.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt der Bodensee als naturbelassenes Gewässer. Seitdem wurde die Natur stark durch Rodungen und die Bebauung zahlreicher Uferteile beeinflusst. Dennoch sind einige naturnahe Bereiche vor allem in den Naturschutzgebieten erhalten geblieben oder wurden renaturiert. Daher weist die Bodenseeregion einige Besonderheiten auf.
Dazu zählen die große Waldlandschaft am Bodanrück, das Vorkommen des Lungen-Enzians und der Knabenkraut-Arten aus den Gattungen "Dactylorhiza" und "Orchis" im Wollmatinger Ried sowie das der Sibirischen Schwertlilie "(Iris sibirica)" im Eriskircher Ried, das daher seinen Namen erhalten hat. Eine Besonderheit der Bodensee-Flora ist das Bodensee-Vergissmeinnicht ("Myosotis rehsteineri"), dessen Vorkommen auf ungestörte Kalkschotter-Strände beschränkt ist.
Wasserpflanzen.
Die Wasserpflanzen wachsen in einer Wassertiefe von einem bis zu zehn Meter in Pflanzenfeldern. Es sind jedoch keine rankenden Schlingpflanzen, einige wachsen bis zur Oberfläche hinauf.
Das Laichkraut hat winzige Blüten, die Stängel werden vier Millimeter dick und haben Lufteinschlüsse. Das Kamm-Laichkraut wächst in Uferbereichen bis zu fünf Meter Wassertiefe. Die Armleuchteralge ist im Überlinger See und im Untersee tiefer angesiedelt und bildet dort Wiesen. Das Tausendblatt hat rote Stängel mit faserartigen Blättern. Die Fadenalge bildet schwimmende Felder, die letztendlich ans Ufer getrieben werden.
Fauna.
Vögel.
Der Bodensee ist mit seinen Naturschutzgebieten, wie dem Wollmatinger Ried oder der Halbinsel Mettnau, auch die Heimat vieler Vogelarten. 412 Arten sind bislang nachgewiesen.
Von 1980 bis 2012 sind die Brutpaare am Bodensee, von 465.000 auf 345.000, um rund 25 Prozent zurückgegangen.
Die Bodenbrüter waren besonders stark vom Rückgang betroffen.
Singvögel.
Die zehn häufigsten Brutvogelarten am Bodensee sind nach einer Erhebung in den Jahren 2000 bis 2003 in absteigender Reihenfolge: Amsel, Buchfink, Haussperling, Kohlmeise, Mönchsgrasmücke, Star, Rotkehlchen, Zilpzalp, Grünfink und Blaumeise.
Wasservögel.
Im Frühjahr ist der Bodensee ein bedeutendes Brutgebiet, vor allem für Blässhuhn und Haubentaucher. Aufgrund der stark schwankenden Wasserstände bevorzugen manche Arten jedoch andere Brutgebiete. Als typische Wasservögel werden Löffelente, Schellente, Gänsesäger, Tafelente, Graureiher, Spießente, Reiherente und Stockente genannt.
Die Standortbedingungen sind mit der in den 1960er-Jahren eingeschleppten Dreikantmuschel als Futterangebot, dem sauberen Seewasser und den ausgewiesenen Ruhezonen günstig.
Die Wasservögel ruhen auf dem See zusammen in einem großen Gebilde, um Fressfeinde zu irritieren und entfernt von Schilf und Ufer, um für Füchse unerreichbar zu sein.
Im Dezember 2014 wurden 1.389 Kormorane gezählt. Der Internationale Bodensee-Fischereiverband (IBF) schätzt den Nahrungsbedarf der Kormorane am Bodensee auf jährlich 150 Tonnen Fische.
Überwinterung.
Der Bodensee ist ein wichtiges Überwinterungsgebiet für rund 250.000 Vögel jährlich. Vogelarten wie der Alpenstrandläufer, der Große Brachvogel und der Kiebitz überwintern am Bodensee.
Mitte Dezember 2014 hielten sich am See 56.798 Reiherenten, 51.713 Blässhühner und 43.938 Tafelenten auf. Im November/Dezember sind etwa 10.000 bis 15.000 Kolbenenten und 10.000 Haubentaucher am Bodensee.
Rast der Zugvögel.
Auf dem Zug im Spätherbst finden sich auf dem See auch zahlreiche Seetaucher ein (Pracht- und Sterntaucher, einzelne Eistaucher). Dem Bodensee kommt auch als Rastgebiet während des Vogelzuges eine große Bedeutung zu. Der Vogelzug verläuft dabei oft unauffällig und ist am ehesten bei besonderen Wetterlagen als sichtbarer Tagzug erkennbar. Erst bei länger anhaltenden, großräumigen Tiefdrucklagen kommt es nicht selten zu einem Stau mit großen Ansammlungen von Zugvögeln.
Dies lässt sich im Herbst oft gut am Eriskircher Ried am nördlichen Bodensee beobachten. Hier stößt der Breitfrontzug direkt an den See und Vögel versuchen dann dem Ufer entlang Richtung Nordwest zu ziehen. Die Bedeutung des Bodensees als wichtiges Rast- und Überwinterungsgebiet wird unterstrichen durch das "Max-Planck-Institut für Ornithologie – Vogelwarte Radolfzell", das als Beringungszentrale für die deutschen Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Rheinland-Pfalz und das Saarland sowie für Österreich zuständig ist und den Vogelzug erforscht.
Fische.
Im Bodensee leben rund 45 Fischarten. Eine Besonderheit für die Lage des Sees ist das Vorkommen von Felchen ("Coregonus" spec.) und des Seesaiblings ("Salvelinus alpinus"). Besonders hervorzuheben sind die Fischarten:
Der Bodenseefelchen ("Coregonus wartmanni"), der aufgrund seines großen Vorkommens im Bodensee nach diesem benannt wurde, wird oft ganz oder als Filet (nach Müllerin Art) in den Fischlokalen rund um den Bodensee ähnlich wie die sonst bekannten Forellen zubereitet. Oft wird er auch geräuchert angeboten.
Die ehemals im Bodensee endemische Fischart Bodensee-Kilch ("Coregonus gutturosus") gilt als verschollen. Gleiches galt zeitweise für den Bodensee-Tiefensaibling ("Salvelinus profundus"), der jedoch in den 2010er-Jahren wieder gesichtet wurde.
Neozoen.
Seit Langem siedeln sich „gebietsfremde“ bzw. „invasive Arten“, sogenannte Neozoen im Ökosystem Bodensee an: neue Tiere bzw. fremde Arten, die sich in einem neuen Umfeld behaupten und vermehren – teils massenhaft. Dabei gefährden oder verdrängen sie zum Teil einheimische Arten. Die weltweite menschengemachte Erderhitzung spielt hier ebenfalls eine Rolle.
Im Bodensee werden Neozoen wie Fische, Krebse, Muscheln oder auch ganz kleine Organismen wie Kieselalgen dabei seit 1955 und von Jahr zu Jahr mit mehr Arten nachgewiesen – einige davon wurden als „blinde Passagiere“ an Ankertauen bzw. -ketten oder der Außenseite von Booten, mit Tauchausrüstungen oder Schwimmwesten usw. aus anderen Gewässern eingeschleppt. Andere wie der Süßwasser-Borstenwurm haben sich seit Eröffnung des Main-Donau-Kanals 1992 aus dem Schwarzen Meer oder der Donau vorgearbeitet. Weitere wurden ausgesetzt.
Bei einer Befischung des Obersees 2019 wurden 30 Fischarten gefunden, fünf davon waren gebietsfremd. Man geht davon aus, dass man mit den Neozoen im See leben muss. Die Kampagne „Vorsicht blinde Passagiere“ gibt Hinweise, wie ein weiteres Einbringen oder die Verbreitung im Bodensee und anderen Seen verhindert bzw. verlangsamt werden kann – vor allem durch gründliche Reinigung der entsprechenden Gerätschaften.
Bekanntere Neozoen.
Auch die inzwischen zur heimischen Fauna gezählte Regenbogenforelle ("Oncorhynchus mykiss") ist hier nicht ursprünglich zuhause: Sie wurde um 1880 zur Bereicherung und aus wirtschaftlichen Überlegungen im Bodensee eingesetzt.
Zu den gebietsfremden Tierarten zählt die Wandermuschel ("Dreissena polymorpha", umgangssprachlich „Dreikantmuschel“, auch „Zebramuschel“), die ausgehend vom Schwarzmeergebiet seit Ende des 18. Jahrhunderts fast ganz Europa erobert und zwischen 1960 und 1965 in den Bodensee eingeschleppt wurden. Nach einer Massenvermehrung während der 1980er-Jahre im Rhein und zuvor in größeren Seen ist die Art heute wieder im Rückgang begriffen. Probleme traten durch die Dreikant- oder Wandermuschel unter anderem dadurch auf, dass der Besatz Wasserentnahmerohre verstopfte. Außerdem kann die Art den heimischen Großmuscheln zum Verhängnis werden, weil sie in Nahrungskonkurrenz tritt. Heute ist laut Aussage des Instituts für Seenforschung (ISF) die Dreikantmuschel aber auch eine wichtige Nahrungsbasis für überwinternde Wasservögel. Tatsächlich hat die Anzahl der Überwinterer sich in rund 30 Jahren mehr als verdoppelt.
Seit 2016 breitet sich die Quagga-Dreikantmuschel ("Dreissena rostriformis bugensis") massenhaft im Bodensee aus; sie hat gegenüber der Zebramuschel mehrere Vorteile: Sie siedelt – in Tiefen bis zu 240 m – auch auf Feinsubstrat wie Sand, außerdem ist sie Kälte-resilienter und vermehrt sich über das ganze Jahr. Auf diese Weise ist sie dabei, die Zebramuschel langsam zu verdrängen. In der Bodensee-Uferzone ist das bereits weitgehend der Fall. Die Quaggamuschel ist von daher problematisch, als dass sie die Entnahme-Vorrichtungen und Leitungen der Bodensee-Wasserversorgung bei Sipplingen besiedeln kann.
Ihr rasantes Ausbreiten erregte neben dem des Dreistachligen Stichlings bislang wohl das meiste öffentliche Aufsehen – der Stichling ist mittlerweile die im Bodensee dominierende Fischart.
Der Große Höckerflohkrebs ("Dikerogammarus villosus") breitete sich seit 2002 ausgehend von zwei Uferabschnitten bei Hagnau und Immenstaad über das Ufer des Überlinger Sees (2004), die des ganzen Obersees (2006) auf beinahe das ganze Bodensee- und Rheinseeufer (2007) aus – als „Killer shrimp“ eilt ihm der schlechte Ruf eines gefräßigen Räubers von Fischlarven und Fischeiern voraus.
Ein neueres Beispiel ist die nur sechs bis elf Millimeter kleine Schwebegarnele ("Limnomysis benedeni"), die 2006 im vorarlbergischen Hard aufgefunden wurde und heute nahezu im ganzen Bodensee zu finden ist: Sie stammt aus den Gewässern rund um das Schwarze Meer und ist vermutlich zunächst von Schiffen donauaufwärts transportiert worden, bevor sie sich im Rheinsystem verbreiten konnte und in den Bodensee gelangte. Die Schwebegarnelen, die im Winter an manchen Stellen in Schwärmen von mehreren Millionen Tieren auftreten, sind schon jetzt ein einflussreiches Glied der Nahrungskette im Bodensee. Sie verzehren abgestorbenes Tier- und Pflanzenmaterial sowie Phytoplankton, werden aber auch selbst von Fischen gefressen.
Mittlerweile findet sich im westlichen Bodensee z. B. auch der aus Nordamerika stammende Kamberkrebs ("Orconectes limosus"), der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Ertragssteigerung in europäische Gewässer eingesetzt wurde, seit 1982 vereinzelt die Chinesische Wollhandkrabbe ("Eriocheir sinensis") und in den Zuflüssen des Sees seit 2011 der Signalkrebs ("Pacifastacus leniusculus"). Da diese Großkrebsarten zwar selbst gegen die Krebspest immun sind, den Erreger aber weiterverbreiten, geht von ihnen eine große Gefahr für die heimischen Arten wie Edelkrebs, Dohlenkrebs oder Steinkrebs aus. Die eingeschleppten bzw. eingewanderten Tiere sind oft anspruchslos, vermehren sich schnell und leben räuberisch, so dass sie auch für verschiedene Kleinfischarten eine Bedrohung darstellen. Im ISF wird seit 2003 systematisch zum Thema geforscht.
Weitere Neozoen.
Von 1956 bis 2013 wurden 19 Neozoen geortet:
Der Süßwasser-Borstenwurm ("Hypania invalida") wurde im Bodensee erstmals im Oktober 2020 (ufernah bei Langenargen) bzw. im Sommer 2021 entdeckt (bei Langenargen in 20–30 m Wassertiefe vor der Schussenmündung).
Naturschutzgebiete.
Der damalige Konstanzer Landrat Ludwig Seiterich setzte sich in den 1960er Jahren stark für den Naturschutz ein, die Landschaftsschutzgebiete Bodanrück und Höri sind sein Verdienst, er war auch wesentlich an der Ausweisung des Naturschutzgebietes Bodenseeufer beteiligt.
Obersee.
Das größte Naturschutzgebiet des Bodensees ist das Rheindelta, das sich entlang des Bodenseeufers zwischen der Mündung des alten Rheinlaufes bis zur Dornbirner Ach bei Hard erstreckt. Seit ihm ab 1982 internationale Bedeutung zukommt, wurden dort 340 Vogelarten beobachtet. Auf der Schweizer Seite des Alten Rheins liegt das "Naturschutzgebiet Altenrhein".
Am Bodensee gibt es viele weitere Naturschutzgebiete, die hier vom Rheindelta an gegen den Uhrzeigersinn (entsprechend der Fließrichtung des Rheines durch den Bodensee) zum Teil aufgelistet werden.
Das "Naturschutzgebiet Wasserburger Bucht" zwischen Nonnenhorn und Wasserburg hat einen dichten Schilfgürtel bewahrt.
Das Gebiet des Flusses Argen zwischen Zusammenfluss von Oberer und Unterer Argen und der Mündung in den Bodensee.
Das "Eriskircher Ried", das seit 1939 geschützt ist, ist das größte Naturschutzgebiet am Nordufer und liegt zwischen Rotachmündung bei Friedrichshafen und Schussenmündung bei Eriskirch. Eine besondere Bedeutung hat das Gebiet für den Haubentaucher, der dort bevorzugt nistet, und die Singschwäne. Auch die vorgelagerte Flachwasserzone ist seit 1983 unter Schutz gestellt.
Zwischen Fischbach und Immenstaad liegt am (ehemalig badischen) Grenzbach ein sehr kleines Naturschutzgebiet.
Untersee.
Das Wollmatinger Ried bei Konstanz ist seit 1973 Europareservat und seit 1976 "Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung". Durch seine Lage am Seerhein ist es eine wichtige Brutzone und darf daher teilweise nur bei Führungen betreten werden.
Naturbelassene Gebiete am Schweizer Ufer des Untersees befinden sich zwischen Konstanz und Gottlieben, weiter das Naturschutzgebiet „Espenriet“ zwischen Gottlieben und Ermatingen sowie das „Wasser- und Zugvogelreservat Untersee und Rhein“ oberhalb der Rheinbrücke in Stein am Rhein.
Zum Naturschutzgebiet Bodenseeufer (Konstanz) gehören auch die Naturschutzgebiete des Untersees bei Horn (Hornspitze) sowie um Gaienhofen, Wangen, Öhningen.
Zeller See.
Der Halbinsel Mettnau mit dem Naturschutzgebiet Mettnau sowie dem Mündungsgebiet der Radolfzeller Aach am Zeller See kommt als Brutzone für Enten regionale Bedeutung zu. Der große Ententeich der Mettnau entstand zufällig bei Aufschüttungsarbeiten. An der Mündung befindet sich ein Schlafplatz für Bergpieper.
Gnadensee.
Der Streifen zwischen Bahntrasse und Autostraße zwischen Radolfzell, Markelfingen und Allensbach hat den Charakter eines Naturschutzgebietes.
Wracks auf dem Bodenseegrund.
Nach einer Kollision mit der "Stadt Zürich" liegt das Wrack der "Jura" seit 1864 in 39 Meter Tiefe vor dem schweizerischen Ufer.
Im Obersee wurden Anfang des 20. Jahrhunderts vier Schiffe nach ihrer Außerdienststellung versenkt: im Jahr 1931 die "Baden", vormals "Kaiser Wilhelm", 1932 die "Helvetia", 1933 die "Säntis" und 1934 die "Stadt Radolfzell".
Der Rumpf der ausgebrannten "Friedrichshafen" wurde 1944 vor der Argen-Mündung in 100 bis 150 Meter Seetiefe versenkt.
Wasserqualität.
Heute hat der Bodensee eine sehr gute Wasserqualität. Nach dem Zweiten Weltkrieg war eine zunehmende Verunreinigung des Bodensees festzustellen, die ab 1959 zu konkreten Maßnahmen führte.
Die Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) stellte 1963 den Phosphateintrag als Hauptursache einer bereits erkennbaren Eutrophierung fest. Ursachen des Phosphateintrags waren Düngemittelausschwemmungen und kommunale Abwässer, die durch Fäkalien und in zunehmendem Maße durch Phosphate aus Waschmitteln belastet waren. Die dabei relevante Fläche ist das gesamte 11.000 km² große hydrologische Einzugsgebiet des Bodensees.
Besonders in den 1970er Jahren wurden hier in großem Umfang Kläranlagen errichtet, die Phosphatreinigungsleistung der vorhandenen Anlagen wurde verbessert. 1975 wurden in Deutschland Höchstmengen für Phosphate durch das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz verordnet, 1986 brachte die Waschmittelindustrie durch den Einsatz von Zeolithen vollständig phosphatfreie Waschmittel auf den Markt.
Die Einträge aus der Landwirtschaft lassen sich nur durch eine Extensivierung im Einzugsgebiet langfristig verringern, entsprechende gesetzliche und Förder-Maßnahmen wurden umgesetzt. Trotz dieser Maßnahmen erreichte die Phosphorkonzentration im Bodensee um 1980 das Zehnfache des natürlichen Wertes. In den frühen 1980er Jahren wurden in Grundnähe zeitweise gefährlich niedrige Sauerstoffkonzentrationen gemessen (eine vollständige Sauerstofffreiheit des Seegrundes führt zum Umkippen eines Sees).
Seit 1979 ging die Phosphorkonzentration wieder zurück und hat mittlerweile fast wieder den natürlichen Wert erreicht. Die nicht ganz so bedeutsame Nitratkonzentration liegt nach einem kontinuierlichen Anstieg bis 1985 seither konstant bei ca. 4,4 g/m³. Durch die bessere Wasserqualität wird der See wieder zu einem nährstoffarmen Voralpensee, der er ursprünglich einmal war.
Dies hat allerdings auch negative Auswirkungen auf die Fischerei: Die Fische werden aufgrund der nun herrschenden Nährstoffarmut nicht mehr so groß wie früher, was geringere Erträge bedeutet. Dafür sind die bestehenden Fischpopulationen jedoch stabiler. Ein Indiz für die Gesundung des biologischen Gleichgewichts im See stellt das Wiedererstarken der Seeforelle dar, deren Bestände sich seit der Verbesserung der Wasserqualität merklich erhöht haben.
Bei Messungen im Jahr 2015 wurde im Bodensee Mikroplastik im Spurenbereich gefunden.
Wirtschaft der Region.
Von Bedeutung für das wirtschaftliche Gefüge der Anrainer sind heutzutage vor allem die Funktionen des Bodensees als Transportweg, als Erholungsgebiet und als Trinkwasserspeicher.
Im Bereich des Primärsektors spielt vor allem der Weinbau und Obstbau eine gewisse Rolle. Die Fischerei hingegen hat ihre führende Rolle verloren. Die größten Industriestandorte sind Friedrichshafen (Metallverarbeitung) und Bregenz (Textilindustrie). Wichtigste Dienstleistungsstandorte sind Konstanz, Bregenz, Friedrichshafen und Lindau. Der Bodenseeraum profitiert in bedeutendem Maß von der Wirtschaftskraft des angrenzenden Alpenrheintals mit der dort vorherrschenden Maschinenindustrie.
Der Bodenseeraum ist Teil der "Interreg Alpenrhein-Bodensee-Hochrein". Dem Interreg-IV-Programm Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein standen für die Förderperiode 2007 bis 2013 insgesamt 23.871.170 Euro an Fördermitteln aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) zur Verfügung. Davon wurden rund 22.941.000 Euro tatsächlich ausbezahlt, es konnte somit eine Auszahlungsquote von ca. 96 % erreicht werden.
Auf Schweizer Seite betrug das Budget an Fördermitteln 7.745.000 Euro, tatsächlich ausbezahlt wurden rund 7.200.000 Euro, d. h. also ca. 93 % des zur Verfügung stehenden Gesamtbetrages. Projektträger aus dem Fürstentum Liechtenstein beteiligten sich mit knapp 800.000 Euro am Programm.
Obst- und Weinbau.
Durch die Wassermenge des Bodensees wird das regionale Klima ausgleichend beeinflusst (siehe Artikel Bodenseeklima).
2011 gab es rund um den See etwa 1600 Obstbaubetriebe.
Die "Marktgemeinschaft Bodenseeobst" erwartete für die Saison dieses Jahres eine Ernte von insgesamt 280.000 Tonnen Äpfel. Bei einer bundesweiten Produktion von rund 900.000 Tonnen, bedeutet dies, dass fast jeder dritte deutsche Apfel vom Bodensee stammt. „Obst vom Bodensee“ ist dabei nicht nur eine regionale Warenbezeichnung, sondern auch der Name eines Unternehmens, dessen genossenschaftlich oder in Vereinen organisierte Gesellschafter rund 8000 Hektar Anbaufläche bewirtschaften.
Neben dem Kulturapfel spielt der Weinbau eine wichtige Rolle in der "Obstregion Bodensee": Es können Weine der Rebsorten Spätburgunder, Müller-Thurgau und Weißburgunder angebaut werden. Aufgrund der regionalen politischen Grenzen gehören diese Weine gleicher Sorten jedoch zu verschiedenen Weinbaugebieten; ihre Ähnlichkeiten innerhalb der Region sind jedoch größer als jene mit den Eigenschaften der Weine aus den teils weit entfernten Stamm-Anbaugebieten.
Die Region weist das höchstgelegene deutsche Weinbaugebiet mit Lagen in einer Höhe von 400 bis 560 m ü. NN auf.
Namentlich bezeichnete Weinbaugebiete um den Bodensee sind der Bereich "Bodensee" des "Weinbaugebiets Baden", die Bereiche "Württembergischer Bodensee" und "Bayerischer Bodensee" des "Weinbaugebiets Württemberg", die Regionen "Rheintal" (im Kanton St. Gallen) und "Untersee" (im Thurgau) im Weinbaugebiet "Ostschweiz" sowie für einzelne Betriebe in Vorarlberg die kleinste österreichische Weinbauregion "Bergland Österreich".
Fischerei.
Internationaler Bodensee-Fischereiverband.
Im Internationalen Bodensee-Fischereiverband (IBF) sind seit 1909 Berufs- und Angelfischer und -fischerinnen aus Baden-Württemberg, Bayern, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz zusammengeschlossen.
Der Umsatz der rund 150 Berufsfischer am Bodensee, davon rund 100 in Baden-Württemberg und 16 in Vorarlberg, dürfte damit in der Größenordnung von 3 Mio. Euro liegen. Die Zahl der Fischer-Patente ist rückläufig: In den 1990er-Jahren waren es 175 Fischer-Patente, in den 2010er-Jahren 116 Fischer-Patente.
2017 wurden im Obersee noch 79 Hochseepatente registriert. Der Internationale Bodensee-Fischerei-Verband vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber der Internationalen Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei (IBKF).
Fischarten.
Hauptarten sind der Blaufelchen mit 57 %, andere Felchen (Gangfische und Sandfelchen) mit 19 % und der Flussbarsch (regional Kretzer oder Egli) mit 17 %. Dazu kommen 4 % Weißfische wie Brachse und 3 % sonstige wie Seeforelle, Aal, Hecht und Seesaibling.
Fischertrag.
Die Bedeutung der Bodenseefischerei ist mittlerweile relativ gering, obwohl die Fangerträge sich seit Mitte der 1950er-Jahre im langjährigen Mittel lange Zeit kaum verändert haben. So wurden im Fünfjahreszeitraum 1996–2000 durchschnittlich 1.130 t Fisch pro Jahr gefangen.
Dieser Fang deckt bei 1,5 kg Jahresverzehr pro Person den Süßwasserfischbedarf von ca. 750.000 Menschen. Der Fischfang im Jahr 2015 war der bis anhin schlechteste seit 1954. Das schlechte Fangergebnis wird zurückgeführt auf die Kombination von niedrigem Nährstoffgehalt des Wassers, hohe Wassertemperaturen, Kieselalgenblüte und die Invasion der Stichlinge.
Das Jahr 2018 schnitt noch schlechter ab. Letztmals wurden im Jahr 1910 so wenig Felchen gefangen wie 2018. Es waren 127 Tonnen auf eine Gesamtfangmenge von 263 Tonnen.
Bodenseefischereiverordnung.
Die IBFK stellt für den Bodensee mit Obersee und Überlinger See bis zur Rheinbrücke Konstanz einheitliche Regeln für den Fischfang auf. Die Bevollmächtigten werden von der jeweiligen Regierung entsandt.
Die IBFK geht auf die Bregenzer Übereinkunft vom 5. Juli 1893 zurück. zwischen den Anliegerstaaten (auf deutscher Seite die Bundesländer). Die entsprechenden Verordnungen schreiben Schonzeiten und Mindestgrößen für gefangene Fische vor und spezifizieren zugelassene Fanggeräte z. B. durch Maschenweiten, Netzgrößen und -anzahl usw. Darüber hinaus existiert eine Internationale Bevollmächtigtenkonferenz, die für eine einheitliche Anwendung sowie die Fortschreibung der Regelungen sorgt.
Fischfang durch Berufsfischer.
Mit einem Patent sind einem Fischer fünf Fangnetze erlaubt. Zwei Netze dürfen eine Maschenbreite von 38 Millimeter, die restlichen mehr als 40 Millimeter haben. Die Netze werden abends ausgelegt.
Mehrere Netze werden miteinander verbunden und am Anfang und Ende mit jeweils einer Boje mit Licht gekennzeichnet. Die Netze bewegen sich mit dem See und können dadurch weitertreiben. Die Berufsfischer dürfen frühestens eine Stunde vor Sonnenaufgang die Netze wieder einholen.
Laichfischfang und Fischschutz.
Ergänzend zur natürlichen Erbrütung im See wird der Laichfischfang durch die Fischer und das Ausbrüten in Fischbrutanstalten vorgenommen. Zwischen Ende November bis Mitte Dezember streifen die Berufsfischer von den gefangenen Fischen Rogen (Eier) und Milch (Samen) ab, mischen sie und liefern sie in einer der Fischbrutanstalten ab.
Besatzfische u. a. für den Bodensee und seine Zuflüsse werden von den Anliegerländern und -kantonen in den sieben Fischbrutanstalten Reichenau, Konstanz, Langenargen, Nonnenhorn, Hard, Romanshorn, Ermatingen erbrütet. Die Fische werden im Frühjahr im Bodensee ausgesetzt.
Die Eutrophierung des Bodensees in den 1960er- bis 1990er-Jahren hatte Einfluss auf das Vorkommen der einzelnen Arten sowie auf die Größe der Fische. So wurden bei unveränderter Mindestgröße nun Blaufelchen gefischt, die sich noch nicht hatten fortpflanzen können, was zu erheblichen Ertragsschwankungen führte. Durch Heraufsetzung der Mindestgröße konnte das Problem zunächst behoben werden.
Die Fangerträge bei Barschen stiegen aufgrund deren Vermehrung an, was andererseits möglicherweise das Vorkommen des Hechtbandwurms in Barschen und Hechten gefördert hat. Mittlerweile normalisiert sich die Situation insgesamt wieder. Für die Barschpopulation wird noch ein weiterer Rückgang erwartet.
Ähnliche Probleme gab es bei den Seeforellen, deren Bestand zwischenzeitlich durch Baumaßnahmen an den Zuflüssen dezimiert war. Insbesondere die Einrichtung von Fischtreppen und der Besatz der Zuflüsse brachte Verbesserungen.
Fischimport.
Die Berufsfischer fürchten jedoch bei einem weiteren Rückgang des Phosphatgehaltes im Bodensee auf unter 8 mg/m³ Gesamtphosphor deutliche Einbußen, da dann auch ein Ertragsrückgang bei Felchen zu erwarten ist. Der am Bodensee wieder häufiger werdende Kormoran wird von den Fischern naturgemäß als „Plage“ gesehen. Ferner wird die wirtschaftliche Lage der Bodenseefischer durch Importe von Felchen aus Vietnam, Russland und Kanada geschmälert.
Verkehr.
Überblick.
Die Gesamtheit aller Anbieter im öffentlichen Schiffsverkehr auf dem Bodensee wird als Weiße Flotte bezeichnet.
Die Kursschifffahrt wird geprägt von den beiden Autofährlinien Konstanz–Meersburg und Friedrichshafen–Romanshorn, der Katamaranverbindung Friedrichshafen–Konstanz und den überwiegend saisonal verkehrenden Personenschiffen. Daneben gibt es ein dichtes Angebot an Sonderfahrten (Brunch- und Dinnerfahrten, Tanz- und Partyfahrten, Fahrten zu bestimmten Ereignissen, themenbezogene Fahrten u. a.).
Die private Schifffahrt wird zum einen geprägt von den Fischern, zum anderen von den in der warmen Jahreszeit verkehrenden Privatbooten (Segelschiffe, Yachten u. ä.). In manchen Häfen kann man Tret- und Ruderboote ausleihen.
Fast überall am Bodenseeufer existieren Verkehrswege aller Arten. Neben zahlreichen Fuß- und Radwegen sind nahezu alle Uferbereiche gut an das öffentliche Straßen- und Schienennetz angeschlossen. Mit der Bahn nicht direkt zu erreichen sind vor allem die Uferorte der Höri, das Südufer des Überlinger Sees, das Ufer zwischen Uhldingen und Friedrichshafen (mit Meersburg) sowie die Gegend zwischen den beiden Rheinmündungen des Alpenrheins.
Die Ufer von Obersee und Untersee werden fast überall von überregionalen Straßen begleitet. Ausnahmen bilden vor allem die Höri und das unzugängliche Südufer des Überlinger Sees. Die überregionalen Straßen führen vielerorts durch die Ufergemeinden, da Umgehungsstraßen oft nicht vorhanden sind. Von größeren Straßenbauten ist das Bodenseeufer bisher wenig tangiert worden. Vierspurige Straßentrassen gibt es bisher nur bei Radolfzell (B 33/A 81), Stockach (A 98), Konstanz/Kreuzlingen (A7), Rorschach (A1), Bregenz (A 14) und Lindau (A 96).
Sie verlaufen alle nicht direkt entlang des Ufers, genauso wie die größeren Bauten für zweispurige Umgehungsstraßen (A23 bei Arbon, B 31 bei Lindau und zwischen Meersburg und Überlingen).
Die Deutsche Alleenstraße, nutzbar für Rennrad und Kraftfahrzeuge, endet als Ferienstraße nach 2.900 Kilometern am Bodensee.
Kursschifffahrt.
In der nach Fahrplänen verkehrenden Kursschifffahrt ist zu unterscheiden zwischen den ganzjährigen Linien, die eher auf die Bedürfnisse der Anwohner und Pendler ausgerichtet sind, und den saisonalen „Kursen“ (das ist planmäßiger Linienverkehr im Unterschied zu Rundfahrten, in der Regel von Frühjahr bis zum Spätherbst), deren zahlenmäßig bedeutsame Zielgruppe eher die Ausflugstouristen des Sommerhalbjahrs darstellen.
Allerdings regte sich gegen diesen Plan Widerstand in der Schweiz, was die SBB zu einem öffentlichen Bieterwettbewerb zwang, bei dem Ende 2006 eine Investorengruppe aus der Schweiz und Österreich den Zuschlag erhielt – darunter auch der österreichische Tourismusunternehmer Walter Klaus, der 2005 schon die Bodenseeschifffahrt der ÖBB übernommen hatte.
Weiter gibt es mehrere kleinere Anbieter von Kursschifffahrt. Alle diese Anbieter befördern Personen und Fahrräder. Die meisten dieser Verbindungen sind nur im Sommerhalbjahr in Betrieb.
Ein schwimmendes Technikdenkmal ist das Dampfschiff RD Hohentwiel, das zwar nicht mehr Kurs fährt, aber viele Gesellschaftsfahrten macht und zur Festspielzeit den Zubringerverkehr nach Bregenz mit viel Nostalgie bereichert. Die Hohentwiel lief 1913 in Friedrichshafen als Yacht der württembergischen Könige vom Stapel, wurde 1962 von der Bundesbahn ausgemustert und 1988 erfolgreich restauriert. Sie ist heute einer der letzten Raddampfer (RD) mit Originalmaschine in Europa; Heimathafen ist das österreichische Hard.
Eisenbahn.
Die "Bodenseegürtelbahn" genannten Bahnstrecken auf der Nordseite des Sees, das heißt die Stahringen–Friedrichshafen und die Friedrichshafen–Lindau, entstanden zwischen 1895 und 1901 aus der Verbindung von Endpunkten der Bahngesellschaften der ehemaligen Länder Baden, Württemberg und Bayern.
Sie werden heute im Schienenpersonennahverkehr von zwei Linien bedient, auf denen unterschiedliche Züge eingesetzt werden. Die gesamte Strecke wird hingegen täglich nur noch von zwei Zugpaaren durchgängig befahren.
Auf der Ost- und Südseite des Sees schließen in Österreich die Bahnstrecke Lindau–Bludenz und in der Schweiz die Seelinie "Rorschach–Kreuzlingen/Konstanz–Schaffhausen" (1869–1895) an. Wichtig sind dort auch die Verbindungen via Kreuzlingen in die Schweiz und nach Süden. Die Aufnahme des elektrischen Betriebes auf der Seelinie erfolgte in der Nachkriegszeit.
Eine technische Besonderheit war vor 1976 der Transport ganzer beladener Eisenbahnwagen (Güter- oder Personen-) auf speziellen Fähren im Trajektverkehr insbesondere zwischen Lindau/Friedrichshafen und Romanshorn.
Freizeit, Tourismus, Sport.
Für die Region ist die Tourismusindustrie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor: Der jährliche Umsatz beträgt in etwa 1,8 Mrd. Euro, dabei tragen die Übernachtungs- sowie Tagesgäste jeweils zur Hälfte des touristischen Umsatzes bei.
Ausschlaggebend sind eine ausgeprägte touristische Infrastruktur sowie ein Netz an Attraktionen und Ausflugszielen. Von übergeordneter Bedeutung sind dabei insbesondere die Städte Konstanz, Überlingen, Meersburg, Friedrichshafen und Lindau, aber auch der Rheinfall bei Schaffhausen, die Insel Mainau, die Wallfahrtskirche Birnau, Burgen und Schlösser wie Schloss Salem oder die Burg Meersburg, die gesamte Museenlandschaft, wie beispielsweise das Zeppelin Museum, das Dornier Museum, das Seemuseum (Kreuzlingen), das Jüdische Museum Hohenems sowie die UNESCO-Welterbestätten Insel Reichenau und die prähistorischen Pfahlbauten in Unteruhldingen.
Im Osten, wo die Voralpen dem Obersee sehr nahe kommen, gibt es einige Bergbahnen, deren Talstationen recht nahe am Ufer liegen. Bei der Fahrt hat man so Aussicht auf den See. Die einzige Seilbahn am Bodensee ist die Pfänderbahn (von Bregenz aus), Zahnradbahnen führen von Rorschach nach Heiden und von Rheineck nach Walzenhausen.
Über dem See und dem nahen Hinterland sind seit 2001 wieder Zeppeline neuer Technologie bei regelmäßigen Rundfahrten ab dem Flughafen Friedrichshafen zu sehen.
In Zusammenarbeit mit den touristischen Leistungsträgern, Tourismusorganisationen und den öffentlichen Institutionen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein übernimmt die Internationale Bodensee Tourismus GmbH (IBT GmbH) die touristische Vermarktung des Bodenseeraums.
Wander- und Pilgerwege.
Der Bodensee-Rundwanderweg, ausgeschildert als "Bodensee-Rundweg", führt rund um den Bodensee durch die Staatsgebiete Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Er ist vor allem für das Wandern bestimmt, Radfahrer weichen auf den stellenweise etwas anders geführten Bodensee-Radweg aus.
Der Bodensee ist auch eine Drehscheibe für Fernwanderer und Pilger. Er ist seit Alters ein entscheidender Bezugspunkt von wichtigen Pilgerwegen:
Auch die Europäischen Fernwanderwege mit ihrer Idee der europäischen Völkerverbindung suchen den Bezug zum See und verlaufen zum Teil am Seeufer:
Im Sommer 1972 wurden in Konstanz die ersten europäischen Fernwanderwege der Öffentlichkeit übergeben. An diese Geburtsstunde der Fernwanderwege am Bodensee erinnert bis heute eine Bronzetafel in Konstanz.
Radwege und Fernradwege.
Rund um den Bodensee verläuft der Bodensee-Radweg. Zum See führen sternförmig verschiedene Fernradwege, etwa
Die ausgeprägte Fahrradkultur am Bodensee fand neben diesen zahlreichen Radwegen auch einen Niederschlag in der Eurobike, einer international bedeutsamen Messe rund ums Fahrrad.
Sie fand zwischen 1991 und 2021 jährlich Ende August auf dem Gelände der Messe Friedrichshafen statt, ab 2022 wird sie auf dem Gelände der Messe Frankfurt stattfinden.
Bootsport, Freizeitschifffahrt.
Rechtliche Grundlage für die gesamte Schifffahrt auf dem See ist die "Verordnung über die Schifffahrt auf dem Bodensee", kurz Bodensee-Schifffahrtsordnung. Sie wird auf dem Bodensee sowie auf dem Hochrhein durch die deutsche Wasserschutzpolizei, die schweizerische und die österreichische Seepolizei überwacht.
Für den Bodensee gibt es ein eigenes Bodenseeschifferpatent. Es wird in Deutschland von den Schifffahrtsämtern des Kreises Konstanz, des Bodenseekreises und des Kreises Lindau vergeben, in der Schweiz von den kantonalen Behörden und in Österreich durch die Bezirkshauptmannschaft Bregenz.
Für Sportschiffer sind die Kategorien A für Motorboote über 4,4 kW Leistung und D für Segelboote über 12 m² Segelfläche sowie kurzzeitige Gast-Lizenzierungen von Interesse. Unabhängig davon, ob für ein Boot ein Bodenseeschifferpatent erforderlich ist, müssen alle Boote mit Maschinenantrieb (einschließlich Elektromotoren) oder mit Wohn-, Koch- oder sanitärer Einrichtung, bei der zuständigen Schifffahrtsbehörde für den Bodensee zugelassen werden.
Die Bedeutung der Freizeitschifffahrt ist enorm. Anfang 2009 waren 57.000 so genannte Vergnügungsfahrzeuge für den Bodensee zugelassen. Weil die Zulassung aber generell für drei Jahre erteilt wird, entsprechen diese Zahlen nicht der Menge der tatsächlich am Bodensee befindlichen Boote.
Die große wirtschaftliche Bedeutung des Wassersports zeigt eine Studie der Internationalen Wassersportgemeinschaft Bodensee, die die vom Wassersport herrührende Beschäftigung auf 1600 Beschäftigte und die wirtschaftlichen Umsätze auf 270 Millionen Euro schätzt.
In der Freizeit bietet der Bodensee eine Fülle von Möglichkeiten im Bereich Wassersport. Über 100 Vereine sind dem Segelsport verbunden und veranstalten Regatten, bei denen dem sportlichen Wettkampf auf dem Wasser gefrönt wird. Der Betrieb von Wassermotorrädern wurde mit der seit Januar 2006 geltenden revidierten Bodensee-Schifffahrts-Ordnung zum Schutz von Flora, Fauna und Badegästen verboten.
Alljährlich zu Maria Himmelfahrt findet seit 1979, initiiert von Ferdinand Andreatta, die größte Schiffsprozession Europas auf dem Bodensee statt. Ebenso jedes Jahr (Frühsommer) startet ab Lindau die spektakuläre Rund-Um-Segelregatta – über Meersburg, Überlingen, Romanshorn wieder zurück nach Lindau. In Konstanz findet seit 2009 wieder jährlich das Wassersport- und Segelfestival Internationale Bodenseewoche statt. In Friedrichshafen findet jährlich mit der Interboot eine der bedeutendsten Wassersportmessen Europas statt.
Surfen und Kitesurfen.
Aufgrund des seltenen Auftretens stetiger Winde können diese Sportarten nur zeitweise bei besonderen Windsituationen wie Föhn oder starkem Westwind und/oder nur in gewissen Seeabschnitten, z. B. der Bregenzer Bucht, betrieben werden. Das Kitesurfen ist zudem nur in bestimmten Zonen erlaubt, am deutschen Ufer außerdem nur mit einer Sondergenehmigung durch die Schifffahrtsämter, am österreichischen Ufer derzeit gar nicht.
In den letzten Jahren hat sich das Westufer der Insel Reichenau im Untersee wegen dort meist aus West oder Südwest kommender Winde als ganzjährig nutzbares Surfrevier etabliert.
Die durchschnittlichen Windgeschwindigkeiten schwanken zwischen vier und sieben Knoten bzw. zwei und drei Bft (in Bregenz bzw. in Friedrichshafen).
Stand-Up-Paddling.
Meral Akyol hat am 9. Mai 2022 als erste Frau den Bodensee längs auf einem Stand-Up-Paddle-Board ostwärts überquert. Die 64 Kilometer lange Strecke von Bodman-Ludwigshafen bis Lochau Strecke meisterte die 45-Jährige in 10:53 Stunden. Rekordhalter ist der Ostschweizer Dario Aemisegger mit 10 Stunden.
Tauchen.
Das Tauchen im Bodensee gilt zugleich als attraktiv und anspruchsvoll. Die meisten Tauchgebiete befinden sich im nördlichen Teil des Sees (Überlingen, Ludwigshafen, Marienschlucht und andere), einige wenige auch im Süden.
Die Gebiete sollten ausschließlich von erfahrenen Tauchern unter Führung einer der örtlichen Tauchschulen oder eines gebietserfahrenen Tauchers betaucht werden, an der Teufelstisch genannten Felsnadel im See vor der Marienschlucht ist Tauchen sogar nur nach Genehmigung durch das Landratsamt Konstanz erlaubt.
Das bekannteste Süßwasser-Wrack Europas ist sicher der Raddampfer "Jura", der vor Bottighofen auf 39 Meter Tiefe liegt. Der Kanton Thurgau, das Amt für Archäologie in Frauenfeld, hat die "Jura" als Unterwasser-Industriedenkmal unter Schutz gestellt.
Für alle Taucher ist zu beachten, dass das Wasser im Bodensee – auch im Sommer – bereits ab zehn Metern Tiefe unter 10 °C kalt ist, was entsprechend kaltwassertaugliche Atemregler erfordert, die bei derartigen Temperaturen nicht vereisen. Der Bodensee gilt deshalb als anspruchsvoll für Taucher. Um die Sicherheit des Tauchens im Bodensee zu erhöhen und sicherzustellen, dass der Bodensee als Tauchgewässer erhalten bleibt, hat sich eine Gruppe von Tauchern verschiedener Organisationen zum "Arbeitskreis Sicheres Tauchen im Bodensee" (AST e. V.) zusammengefunden.
Seit 2006 ist das Tauchen innerhalb des für die Schifffahrt gekennzeichneten Fahrwassers, z. B. im Hochrhein oder Seerhein, verboten.
Seit 26. Januar 2012 ist über der Entnahmestelle der Bodensee-Wasserversorgung bei Sipplingen eine dem Ufer rund 100 Meter im See vorgelagerte Sperrzone von etwa 400 m × 1800 m eingerichtet, innerhalb derer Befahren, Schwimmen und Tauchen verboten sind.
Schwimmen.
Schwimmen im See ist in der Regel von Mitte Juni bis Mitte September gut möglich. Die Wassertemperaturen erreichen dann je nach Wetterlage 19 °C bis 25 °C. Innerhalb eines Tages sind bei entsprechender Sonneneinstrahlung Differenzen bis zu 3 °C möglich, so dass der See speziell an lauen Sommerabenden zum Baden einlädt. Die für den Bodensee typischen Stürme vermengen die wärmeren Oberflächenwasser- mit den kälteren tieferen Wasserschichten. Dadurch sinkt dann die Wassertemperatur auch während der Badesaison markant.
Ein Gefahrenbereich beim Schwimmen ist, dass die Flachwasserzone des Seeuferbereiches unvermittelt aufhört und am sogenannten „Felsen“ des Uferbereichs steil abfällt. Dieser Abfall des Felsens ist z. B. von der Seepromenade in Meersburg aus gut zu sehen und an der Trennungslinie von der helleren zu der dunkleren Farbe des Wassers zu erkennen.
Ein weiterer Gefahrenbereich sind die außerhalb der amtlich ausgewiesenen Badebereiche von den Fischern (auch im Flachwasser) zum Fischfang ausgelegten Netze. Wegen der Lebensgefahr beim Überschwimmen der Netze ist ein Sicherheitsabstand von mindestens 30 Meter einzuhalten. "Stellnetze" werden markiert durch orangefarbene Bojen an den Netzenden und weiße Schwimmkörpern zwischen den orangefarbenen Endbojen.
Der Gesamtverlauf von "Großreusen", auch Trappnetze genannt, ist durch mehrere orangefarbene Bojen gekennzeichnet.
Extremschwimmen.
Am 22. Juli 2013 schwamm der Extremsportler Christof Wandratsch mit Begleitboot ohne Pause die 66 Kilometer und 670 Meter lange Strecke längs durch den Bodensee von Bodman nach Bregenz. Er benötigte dafür 20 Stunden und 41 Minuten. Während der Stunden 12 bis 15 kam er wegen starker Strömung kaum vorwärts. Unvorhersehbare Naturgewalten wie Windböen und hohe Wellen können auf dieser langen Strecke und in dieser langen Zeit zum Abbruch des Durchschwimmens zwingen.
Unfalltote.
Seit 1947 wird von den Polizeibehörden der Bodensee-Anrainerstaaten eine gemeinsame Liste der Vermissten und Toten nach Boots-, Schiffs- und Paddelbootsunfällen, Flugzeugabstürzen, Arbeits-, Surf- und Badeunfällen, sowie weiteren ungeklärten Fällen geführt.
Tödliche Tauchunfälle ereignen sich im Überlinger See mit seinen steil abfallenden Ufern. Berichtet wird über den gesamten Bodensee mit dem 21 Kilometer Hochrheinabschnitt bis Schaffhausen. Zuständige Wasserschutzpolizeien in den drei Staaten sind Lindau, Vorarlberg, St. Gallen, Thurgau, Schaffhausen und Baden-Württemberg (Wasserschutzpolizeistationen in Konstanz, Überlingen und Friedrichshafen).
Nicht alle Opfer können geborgen werden. Im Obersee handelt es sich bei den vermissten Personen eher um Opfer von Unfällen mit Wasserfahrzeugen, im Untersee und Hochrhein eher um Vermisste durch Badeunfälle.
Die Zahl der Unfalltoten betrug
Trinkwassergewinnung.
Jährlich werden dem Bodensee rund 180 Millionen Kubikmeter Wasser durch 17 Wasserwerke zur Trinkwasserversorgung von insgesamt ca. 4,5 Millionen Menschen in den Anrainerstaaten Deutschland und Schweiz entnommen. Bemerkenswert ist dabei, dass insgesamt immer noch mehr Wasser natürlich verdunstet, als für die Trinkwassergewinnung entnommen wird.
Größter Wasserversorger ist der Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung (BWV) mit Sitz in Stuttgart, dessen Wasserentnahme sich im offenen Wasser bei Sipplingen befindet. Von der BWV werden etwa 4 Millionen Bürger in großen Teilen von Baden-Württemberg (bis Bad Mergentheim ganz im Nordosten des Bundeslandes) versorgt. Über 183 lokale Wasserversorgungsunternehmen beziehen Wasser von der BWV.
Ihr Anteil mit einer Entnahme von etwa 135 Millionen Kubikmetern pro Jahr beträgt ungefähr 75 % der gesamten Trinkwasserentnahme. Andere Wasserwerke versorgen z. B. die Bewohner von Friedrichshafen (D), Konstanz (D), St. Gallen (CH) und Romanshorn (CH; seit 1894 und damit ältestes Wasserwerk am Bodensee).
Bebauung oder Naturschutz.
Die bebaute Fläche in den städtischen Gebieten rund um den Bodensee hat sich seit den 1920er-Jahren bis Anfang 2000 sehr stark ausgedehnt. Weitere Eingriffe in die Bodenseelandschaft entstanden durch Aufschüttung (z. B. Fährhafenbau für die Autofähre Konstanz–Meersburg, Zeltplatz Überlingen-Goldbach u. a.). Andererseits wurden trotz Industrialisierung, Intensivierung des Tourismus und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auch Naturschutzzonen eingerichtet und der Gewässerschutz vorangetrieben.
Internationale Gremien für die Region Bodensee.
Das Ausmaß der Nutzung des Bodensees und seiner Uferlandschaft wird durch die Staaten Schweiz und Österreich sowie die deutschen Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern in eigener Regie festgelegt. Für die Koordinierung der unterschiedlichen Interessen wurden internationale Gremien für die Region Bodensee geschaffen:
Kulturraum Bodensee.
Vorgeschichtliche Zeit.
Überregionale kulturgeschichtliche Bedeutung besitzen die Ufersiedlungen mit Feuchtbodenerhaltung, in denen Teile von Holzbauten, Pflanzenreste, Textilien usw. außergewöhnlich gut erhalten sind. Am Bodensee reichen sie vom Jungneolithikum (4. Jahrtausend v. Chr.) bis in die Urnenfelderzeit (bis 800 v. Chr.).
Der Fund eines Einbaums aus dem 24. oder 23. Jahrhundert v. Chr. (Endneolithikum) im Jahr 2018 belegt eine sehr frühe Nutzung des Bodensees als Transportweg oder Fischfanggebiet.
Pfahlbauten.
Eine Auswahl von Fundstellen ist zusammen mit anderen Prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen seit 2011 als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt. Am deutschen Bodenseeufer sind über 70 Siedlungsplätze bekannt, die unter anderem vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg durch seine ständige Arbeitsstelle in Hemmenhofen erfasst und betreut werden.
Denkmalgeschützte Reste von unsichtbaren Pfahlbauten unter Wasser gibt es in Litzelstetten-Krähenhorn, Wollmatingen-Langenrain, Konstanz-Hinterhausen, Öhningen, Gaienhofen, Allensbach und Bodman-Ludwigshafen.
Eine Rekonstruktion einer derartigen Pfahlbausiedlung findet man im Pfahlbaumuseum Unteruhldingen. Dieses 23 Pfahlbauhäuser umfassende Freilichtmuseum zeigt anschaulich den Alltag in der Jungsteinzeit und der Bronzezeit. In vier nachgebauten Dörfern können Besucher erleben, wie es bei den ersten Bauern, Händlern und Fischern am Bodensee ausgesehen hat.
Jungstein- und Bronzezeit.
Vor dem Ufer von Wasserburg konnte mit dem „Wasserburger Einbaum“ das (Stand 2021) zweitälteste bekannte Wasserfahrzeug am Bodensee im Jahr 2015 entdeckt und 2018 geborgen werden.
Steinhügel-Kette
In der Flachwasserzone bei Uttwil zwischen Romanshorn und Bottighofen im Kanton Thurgau wurde im Jahr 2015 in 300 Meter Uferentfernung eine regelmäßige Kette von rund 170 Steinhügeln entdeckt. Die Hügel liegen etwa vier bis fünf Meter unter Wasser und haben einen Durchmesser von 15 bis 30 Metern. Die Entdeckung erfolgte durch die Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg, Langenargen (LUBW) bei der Auswertung der Daten der im Jahr 2015 durchgeführten hochpräzisen Tiefenvermessung des Bodensees.
Nach der Entdeckung der Steinhügel war anfangs unklar, ob es sich um natürliche Ablagerungen des Bodenseegletschers vor 18.000 Jahren handelte. Inzwischen sind sich die Forscher aber einig, dass die Hügel von Menschenhand aufgeschüttet wurden. Zur Bronze- und Jungsteinzeit lag der Wasserspiegel tiefer, so dass das Wasser den Menschen damals maximal bis zum Bauchnabel ging.
In den Steinhügeln gefundene Eschenhölzer wurden von Fachleuten der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich als in den Jahren zwischen 3650 und 3350 vor Christus geschlagen datiert. Einen direkter Zusammenhang zwischen den Hölzern und den Steinhügeln ist aber nicht nachweisbar. Bei den untersuchten Hölzern könnte es sich auch um angeschwemmtes und zwischen den Steinen verkeiltes Baumaterial aus einer benachbarten Pfahlbausiedlung handeln.
Man vermutete zuerst, dass die Formationen aus der Bronzezeit, rund 1000 vor Christus, stammen. Die genaue Entstehungszeit der Steinanhäufungen war zu dieser Zeit noch nicht abschließend geklärt. Das Amt für Archäologie des Kantons Thurgau führte deshalb im Sommer 2019 zusammen mit einem Geologen-Team der Universität Bern am Hügel fünf Sedimentsgrabungen durch.
Diese erfolgten mit einem schwimmenden Bagger. Man hoffte, anhand von organischem Material wie Zweigen, Holzkohle, Samen oder Früchten in den Sedimentschichten mit Hilfe der Radiokarbon-Analyse (14C-Messung) eine Datierung durchzuführen. Die Grabungen ergaben, dass die Steinhügel auf dem Grund des Bodensees viel älter sind als bisher vermutet. Die Forscher haben herausgefunden, dass die Hügel in der Jungsteinzeit vor etwa 5500 Jahren aufgeschüttet wurden. Möglicherweise gehörten die Steinhügel zu Pfahlbauten, die ebenfalls tief unter Wasser liegen und noch der Entdeckung harren.
Die Bedeutung der Hügel ist noch völlig unklar. Gemäß verschiedener Theorien wäre es möglich, dass sie als Wehranlagen, Grabhügel, Begräbnisplattformen, Denkmal für Verstorbene oder Transportwege dienten. In verschiedenen Medien tauchte auch schon der Begriff «Stonehenge vom Bodensee» auf.
Das zuständige Amt für Archäologie des Kantons Thurgau hält jedoch einen astronomischen Bezug für unwahrscheinlich.
Eisenzeit.
In der Eisenzeit gehörte der Bodensee zum keltischen Kulturraum, wurde in den Jahrzehnten um Christi Geburt aber von den Römern erobert.
Römische Zeit.
Unter den Römern bestand um 200 bis 300 n. Chr. eine Seeuferstraße „von Brigantium (Bregenz) über Arbor Felix (Arbon) nach Constantia (Konstanz)“. Ab 260 n. Chr. besiedelten die Alemannen das Gebiet bis zum nördlichen Seeufer.
Christentum.
Das Bistum Konstanz entstand Ende des 6. Jahrhunderts durch die Verlegung des Bischofssitzes von Windisch nach Konstanz. In dessen Einflussgebiet bemühte sich das Kloster St. Gallen um Theologie und Sprachwissenschaften, um Heilkunde und Geschichte, um Dichtung und Musik. Auch das Kloster Reichenau auf der gleichnamigen Insel im Bodensee war bis zum 13. Jahrhundert ein Zentrum deutscher Gelehrsamkeit. Das von Zisterziensern geführte Kloster Mehrerau am Bodensee galt in der Reformationszeit als Hochburg des Katholizismus.
Kulturschaffen in der Neuzeit.
Theater und Musik.
Die einzigen öffentlich getragenen Ensembletheater in den Städten am Bodensee sind das Stadttheater Konstanz in Konstanz, eines der ältesten deutschen Theater, und das Vorarlberger Landestheater in Bregenz. Zur Theaterlandschaft Bodensee zählt auch das schweizerische Theater St. Gallen in St. Gallen.
Zu den wenigen privat getragenen Theatern am Bodensee gehören auf der österreichischen Seeseite das Theater Kosmos in Bregenz, das Phönix Theater im schweizerischen Steckborn und am deutschen Seeufer die in Langenargen ansässigen Langenargener Festspiele.
Die größten Festspiele der Bodenseeregion sind die von Juli bis August stattfindenden Bregenzer Festspiele, die durch das „Spiel auf dem See“ mit eigenproduzierten Operninszenierung ein internationales Publikum anziehen, sowie das Bodenseefestival, das von Mai bis Pfingsten Gastspiele im Bereich Musik, Tanz, Theater sowie Literatur in regionalen Veranstaltungsstätten zeigt.
Für eines der bekanntesten Marionettentheater am Bodensee steht die Lindauer Marionettenoper.
Zu den zahlreichen Laien- und Bauerntheatergruppen am Bodensee zählen unter anderem die Theatergruppe "Mixed Pickles" in Kressbronn, die Theatergruppe Oberdorf, die Theatergruppe Oberreitnau, das Theater Hörbranz sowie die Theatergruppe des "Bodensee Medley Chores" in Leimbach.
Ein Festival im Bereich des Amateurtheaters und theaterpädagogischen Fortbildungsangebotes bieten im Juni die Theatertage am See in Friedrichshafen.
Weitere bekannte Festivals am Bodensee sind Rock am See in Konstanz, das Zeltfestival Konstanz, der Bregenzer Frühling, das SummerDays Festival in Arbon und das Zeltfestival Kulturufer Friedrichshafen.
Symphonieorchester der Bodenseeregion sind die Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz, das Symphonieorchester Vorarlberg mit Sitz in Bregenz und das Sinfonieorchester St. Gallen.
Bildende Kunst.
Einige bekannte Maler hatten ihren Wohnsitz am Bodensee und bildeten diesen in zahlreichen Werken ab. Im 20. Jahrhundert sind vor allem Otto Dix und Adolf Dietrich, beide Künstler der Neuen Sachlichkeit, zu nennen. Eine Reihe weiterer Künstler ließen sich am Bodensee nieder, so z. B. Max Ackermann, Waldemar Flaig, Erich Heckel, Renata Jaworska, Marcus Schwier und Rudolf Schmidt-Dethloff.
Aber auch zahlreiche namhafte, einheimische Künstler wie Heinrich Hauber, Fritz Mühlenweg, Carl Roesch oder Rudolf Wacker prägten das Kunstschaffen in der Region. Die Bilder der Bodenseemaler sowie andere Gemälde, die den Bodensee abbilden, sind in zahlreichen Museen wie z. B. dem Zeppelin Museum in Friedrichshafen und dem Neuen Schloss in Meersburg ausgestellt.
Der in Bodman ansässige Bildhauer Peter Lenk machte überregional mit skandalträchtigen Skulpturen Schlagzeilen. Großformatige Werke von Lenk schmücken das Seeufer in Konstanz, Überlingen und Meersburg.
Dichter und Schriftsteller.
Eine Reihe bekannter Dichter und Schriftsteller lebten und arbeiteten zumindest zeitweise am Bodensee, darunter Annette von Droste-Hülshoff in Meersburg, Joseph Victor von Scheffel in Radolfzell sowie Ludwig Finckh und Hermann Hesse in Gaienhofen.
Martin Walser ist der bekannteste derzeit am Bodensee lebende Schriftsteller. Seine Bücher spielen teilweise am Bodensee, wie z. B. seine Novellen "Ein fliehendes Pferd" oder "Ein springender Brunnen" (über seine Jugendzeit in Wasserburg). Das Museum im Malhaus in Wasserburg bietet eine Dauerausstellung zum Leben und Werk Martin Walsers. Im Besonderen sind dies Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit in Wasserburg.
Der Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen wird an Schriftsteller mit Bezug zur Bodenseeregion vergeben.
Warnsignale.
Starkwind- und Sturmwarnanlage.
Auf Grund der teilweise überraschend auftretenden Unwetter ist der See für Sturmwarnungen in drei Warnregionen (West, Mitte, Ost) aufgeteilt. Für jede Region kann eine "Starkwind"- oder "Sturm"warnung ausgegeben werden. Eine Starkwindwarnung erfolgt bei erwarteten Windböen zwischen 25 und 33 Knoten beziehungsweise Windstärke 6 bis 8 Bft der Beaufortskala.
Eine Sturmwarnung kündigt die Gefahr von Sturmwinden mit Geschwindigkeiten ab 34 Knoten (8 Bft) an. Um diese Warnungen bekannt zu machen, sind rund um den See 60 orangefarbige Blinkscheinwerfer installiert, die bei Starkwindwarnung mit einer Frequenz von 40 Mal pro Minute, bei Sturmwarnung 90 Mal pro Minute blinken. Der Warndienst wird gemeinsam vom Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz, dem Deutschen Wetterdienst (DWD), der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Österreich sowie Vertretern der See- und Wasserschutzpolizeien betrieben. Die Sturmwarnleuchten decken alle Hafeneinfahrten und einige andere exponierte Punkte ab, so dass von jedem Punkt auf der Seefläche mindestens ein Warnlicht sichtbar ist.
Schiffssignale.
Die Schallsignale sind in der Bodensee-Schifffahrts-Ordnung (BSO) festgelegt. Das Tuten des Schiffstyphons bedeutet:
Ein langer Ton
Zwei lange Töne
Drei lange Töne
Folge langer Töne
Ein kurzer Ton
Zwei kurze Töne
Drei kurze Töne
Vier kurze Töne
langer Ton = vier Sekunden / kurzer Ton = eine Sekunde / Pause = eine Sekunde |
541 | 235001960 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=541 | Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen | Die Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen hat zwei unterschiedliche Wurzeln: In Westdeutschland und West-Berlin entsprang die Grüne Partei der Umweltbewegung sowie den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre und wurde am 13. Januar 1980 in Karlsruhe als Partei gegründet. In der DDR schlossen sich 1990 die Gruppierungen der Bürgerrechtsbewegung, die maßgeblich die friedliche Revolution von 1989 getragen hatten, zum Bündnis 90 zusammen. Die Grünen und das Bündnis 90 vereinigten sich 1993 zur gemeinsamen Partei Bündnis 90/Die Grünen. Die Grüne Partei in der DDR, die neben der Grünen Liga die ostdeutsche Ökologiebewegung repräsentierte, hatte sich bereits am 3. Dezember 1990 mit den westdeutschen Grünen zu einer gesamtdeutschen Partei zusammengeschlossen.
Im März 1979 wurde eine Wählergruppe „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“ gegründet, die bei der Europawahl 1979 3,2 Prozent der Stimmen gewann. Aus dieser Wählergemeinschaft entstand die Partei durch Umgründung im Januar 1980. Erste Landesverbände waren schon Ende 1979 gegründet worden.
Mit der Bremer Grünen Liste zog im Oktober 1979 erstmals eine grüne Landesliste in ein Parlament ein, 1983 gelang dies den Grünen zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl. Die Grünen waren damit die erste auf Bundesebene erfolgreiche Parteineugründung seit 1950. Von 1985 bis 1987 stellten sie mit Joschka Fischer in Hessen erstmals einen Landesminister. Die Geschichte der Grünen war stark von Flügelkämpfen zwischen den am Grundsatzprogramm und außerparlamentarischen Bewegungen orientierten Ökosozialisten, oft „Fundis“ genannt, und den auf Regierungsbeteiligung und Institutionen setzenden „Realos“ geprägt. Neben dem Thema Umweltschutz bestimmten strukturelle Besonderheiten das Bild der Grünen, so das Rotationsprinzip, die Trennung von Amt und Mandat und eine Frauenquote.
Das Jahr 1990 bedeutete nicht nur wegen der Ereignisse in der DDR und der Wiedervereinigung eine Wende in der Geschichte der Partei. Bei der Bundestagswahl 1990 scheiterte die Grüne Partei, die der Wiedervereinigung skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, in Westdeutschland an der Fünf-Prozent-Hürde. Dagegen war das in Ostdeutschland angetretene Bündnis 90 als Bundestagsgruppe im Parlament vertreten. 1990/91 verließen zahlreiche Vertreter des linken Flügels die Partei. In den folgenden Jahren reorganisierte sie sich und veränderte durch die Fusion von Grünen und Bündnis 90 zusätzlich ihr Gesicht. 1994 gelang der Wiedereinzug in den Bundestag.
Nach der Bundestagswahl 1998 wurde Bündnis 90/Die Grünen im Kabinett Schröder erstmals Regierungspartei in einer rot-grünen Koalition auf Bundesebene, die in der Wahl 2002 bestätigt und mit den Neuwahlen 2005 beendet wurde. Die Beteiligung Deutschlands am Kosovokrieg sowie an Militäreinsätzen in Afghanistan führten die Partei, zu deren wesentlichen Wurzeln traditionell der Pazifismus gehörte, vor eine Zerreißprobe. Seit der Bundestagswahl 2021 sind Bündnis 90/Die Grünen wieder Regierungspartei in der Ampelkoalition.
Vorgeschichte und Vorläufergruppierungen.
Neue Soziale Bewegungen und bürgerliche Umweltschützer.
In der alten Bundesrepublik Deutschland entstand in den 1970er Jahren ein breites Spektrum neuer sozialer Bewegungen im Gefolge der Studentenbewegung der 1960er Jahre. Zum späteren parlamentarischen Erfolg der Grünen hat auch die Idee vom Marsch durch die Institutionen der 68er-Generation beigetragen, der schon 1967 von Rudi Dutschke gefordert worden war. In dieser Tradition war ein großer Teil der neuen sozialen Bewegungen politisch bei der Neuen Linken zu verorten. Eine Minderheit politischer Aktivisten war in den sogenannten K-Gruppen organisiert, wie dem Kommunistischen Bund (KB), dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Für sie waren ökologische Probleme unmittelbare Folge kapitalistischer Produktionsverhältnisse. In scharfer Abgrenzung zu den K-Gruppen gehörten anarchistische Gruppierungen der Spontis zur undogmatischen Linken, die ebenfalls Einfluss auf die Entwicklung der Grünen nehmen sollte. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss enttäuschter ehemaliger Sozialdemokraten, die die SPD aus Protest gegen die Verteidigungs- und Atompolitik Helmut Schmidts verließen.
Im Prozess der Herausbildung einer ökologisch orientierten Wahlalternative traf sich das linke Spektrum mit bürgerlichen und konservativen Kräften, die sich in Naturschutzorganisationen und seit Ende der 1960er Jahre verstärkt in lokalen Bürgerinitiativen artikulierten. Die Neuen Linken und die konservativen Umweltschützer, insbesondere die nach dem Krieg geborenen, einte ein postmaterialistischer Wertewandel. Besonders die Ökologiebewegung stellte den linearen Fortschrittsbegriff in Frage und übte prinzipielle Technik- und Zivilisationskritik. Im Gegensatz zu den Milieus der etablierten Parteien ließ sich die Trägergruppe der neuen sozialen Bewegungen weniger durch ihre Partikularinteressen eingrenzen, sondern bildete eine auf universelle Werte ausgerichtete Wertegemeinschaft. Damit war ein Bedeutungsverlust klassischer Themen der Politik wie Wirtschaftswachstum und Finanzstabilität zugunsten neuerer Politikfelder wie dem Umweltschutz oder allgemeinen Fragen nach Lebensqualität, Selbstverwirklichung oder Gleichstellung verbunden. Somit ließ sich das soziopolitische Milieu der entstehenden grünen Parteien nur bedingt in das etablierte rechts-links-Schema einordnen. Überwiegend verkörperte die neue politische Bewegung aber eine libertäre postmaterialistisch-ökologische Linke, die sich von der traditionellen, auf verteilungspolitische Fragen ausgerichteten und stärker ideologisch ausgerichteten Linken abgrenzen ließ.
Erste lokale Wahlbündnisse (1977).
Durch die Wahlerfolge linker Wahlbündnisse unter Einschluss von Umweltschützern bei den französischen Kommunalwahlen im März 1977 kam es auch innerhalb der westdeutschen Gruppen zu Überlegungen, sich an Wahlen zu beteiligen, zumal angesichts der massiven Polizeimaßnahmen im Zusammenhang mit den Anti-AKW-Protesten der außerparlamentarische Widerstand nicht mehr steigerungsfähig erschien. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit einem sich strikt antiparlamentarisch verstehenden Teil der Neuen Linken, aber auch mit politischen Gruppen, die eher den Aufbau einer sozialistisch ausgerichteten Partei wünschten.
Zunächst entstanden örtliche Wählergemeinschaften und Wahlbündnisse. Die ersten Kandidaturen gab es am 23. Oktober 1977 bei Wahlen zu den Kreistagen in Niedersachsen, die in einigen Landkreisen im Zuge der kommunalen Neugliederung erforderlich wurden. Im Landkreis Hildesheim erreichte die Grüne Liste Umweltschutz (GLU), die sich im November 1977 mit der kurz zuvor in Niedersachsen gegründeten „Umweltschutzpartei“ verbunden hatte, einen Sitz im Kreistag. Sie hatte ein eher konservatives Selbstverständnis und distanzierte sich insbesondere von linken Atomkraftgegnern deutlich. Im Landkreis Hameln-Pyrmont trat die „Wählergemeinschaft – Atomkraft Nein Danke“ an. Ihre Gründung ging auf die „Bürgerinitiativen gegen Atomkraft Weserbergland“ zurück, die sich gegen den Bau eines Atomkraftwerks in der im Landkreis gelegenen Gemeinde Grohnde richteten und am 19. März 1977 20.000 Atomkraftgegner zu einer Demonstration mobilisiert hatten. Auch sie erreichte mit 2,3 Prozent einen Sitz im Kreistag.
Grüne und bunte Listen treten bei Landtagswahlen an (1978).
1978 setzte sich die Entwicklung zur Teilnahme an Wahlen fort, die von Konflikten zwischen linken „Bunten“ bzw. „Alternativen Listen“ auf der einen sowie konservativ orientierten „grünen Listen“ oder „Umweltlisten“ auf der anderen Seite geprägt war. Regelmäßig kam es zu Meinungsverschiedenheiten, inwiefern K-Gruppen-Mitglieder in die gemeinsame Arbeit einbezogen werden sollten.
Bei den Landtagswahlen am 4. Juni 1978 in Niedersachsen kandidierte die Grüne Liste Umweltschutz (GLU) und wurde mit 3,86 % auf Anhieb zur viertstärksten Partei. Bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg am selben Tag konkurrierten die mit Protagonisten des KB besetzte „Bunte Liste – Wehrt euch“ und die Hamburger GLU. Die Bunte Liste erzielte 3,5 Prozent und die GLU 1,1 Prozent.
Der ehemalige umweltpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Herbert Gruhl verließ aufgrund von unüberbrückbaren Differenzen in der Umweltpolitik im Juli 1978 zusammen mit einigen anderen Unionspolitikern, vor allem aus der Jungen Union, die CDU und gründete die Grüne Aktion Zukunft (GAZ). Da er sein Bundestagsmandat behielt, wird er oft als erster Abgeordneter der Grünen im Bundestag bezeichnet.
Bei der Landtagswahl am 8. Oktober 1978 in Hessen konkurrierte die bürgerliche Grüne Aktion Zukunft mit der Grünen Liste Hessen (GLH). Diese war von Jutta Ditfurth gegründet worden, die später neben Thomas Ebermann und Rainer Trampert zur Symbolfigur des linken Flügels der grünen Partei wurde. Mit 0,9 Prozent blieb das Ergebnis der GAZ deutlich hinter den Erwartungen ihres Gründers Herbert Gruhl zurück, der gehofft hatte mit einem Ergebnis von sechs Prozent die FDP beerben zu können. Auch die GLH scheiterte mit 1,1 Prozent klar an der Fünf-Prozent-Hürde. Spitzenkandidat der GLH war Alexander Schubart, Frankfurter Magistratsdirektor und ehemaliges SPD-Mitglied. Auf Listenplatz 7 wurde als Vertreter der Frankfurter Sponti-Szene Daniel Cohn-Bendit gewählt. Seine Bewerbungsrede, in der er für den Fall des Wahlerfolges die Legalisierung von Haschisch und die Übernahme des Innenministeriums ankündigte, sorgte für Schlagzeilen. Auf Listenplatz 8 kandidierte der Bioladenbesitzer, Schwulenaktivist und spätere Bundestagsabgeordnete der Grünen Herbert Rusche aus Offenbach.
Bei der Landtagswahl am 15. Oktober 1978 in Bayern bildeten die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD), die GAZ und die von ehemaligen CSU-Mitgliedern gegründete „Grüne Liste Bayern“ (GLB) ein Wahlbündnis, das sich erstmals den Namen „Die Grünen“ gab. Die ursprünglich nationalkonservative AUD (in Hessen „Aktion Umweltschutz und Demokratie“) hatte mit dem Thema „Lebensschutz“ seit Mitte der 1970er Jahre auch die Umweltpolitik als Thema und konnte prominente Persönlichkeiten als Kandidaten gewinnen, wie den Düsseldorfer Künstler Joseph Beuys, der bei der Bundestagswahl 1976 als parteiloser Spitzenkandidat angetreten war. Die Grünen kamen auf landesweit 1,8 Prozent. Ihr bestes Ergebnis erzielten sie in Freising, wo sie 4,8 Prozent der Erst- und 3,7 Prozent der Zweitstimmen erhielten.
Europawahl, Einzug in ein Landesparlament und Vorbereitung der Parteigründung (1979).
Die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) erreichte bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 18. März 1979 in Berlin (West) 3,7 Prozent und war mit 10 Abgeordneten in vier Bezirksverordnetenversammlungen vertreten. Die AL war am 5. Oktober 1978 gegründet worden. An der Versammlung nahmen etwa 3.500 Personen teil. Der an der Gründung beteiligte Rechtsanwalt Otto Schily hatte vergebens versucht, einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit maoistischen K-Gruppen herbeizuführen. Die Grüne Liste Schleswig-Holstein (GLSH) erzielte am 29. April 1979 2,4 Prozent der Stimmen bei der Landtagswahl.
Für die Europawahl am 10. Juni 1979 kam es am 17./18. März in Frankfurt auf Initiative des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), in dem seit 1972 die bürgerliche Umweltinitiativen organisiert waren, zur Bildung der gemeinsamen Wahlliste „Sonstige Politische Vereinigung (SPV)-Die Grünen“ aus GLU-Niedersachsen, Grüne Liste Schleswig-Holstein, AUD, GAZ, der Freien Internationalen Universität, der Aktion Dritter Weg (A3W) sowie Vertretern weiterer Bürgerinitiativen. Anders als bei Bundestagswahlen war für die Teilnahme Sonstiger Politischer Vereinigungen an der Europawahl keine formelle Parteigründung nötig. Zu Vorsitzenden wurden Herbert Gruhl (GAZ), August Haußleiter (AUD) und Helmut Neddermeyer (GLU) gewählt. Spitzenkandidatin wurde Petra Kelly, die im selben Jahr aus der SPD ausgetreten war. Weitere Kandidaten waren Roland Vogt, Baldur Springmann, Joseph Beuys, Georg Otto, Eva Quistorp und Carl Amery, unter den Ersatzkandidaten waren Herbert Gruhl, Milan Horáček, Dieter Burgmann und Wilhelm Knabe. Die Liste wurde im Wahlkampf u. a. von Heinrich Böll und Helmut Gollwitzer unterstützt.
Die SPV–Die Grünen erzielte mit 900.000 Stimmen 3,2 Prozent. Dieser Wahlerfolg bewirkte eine entscheidende Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen dem bürgerlichen und dem alternativen Lager und hatte andererseits eine Initialfunktion für die Gründung von Wahlinitiativen für die Kommunalwahlen am 30. September 1979 in Nordrhein-Westfalen, wo in Bielefeld (Bunte Liste 5,6 Prozent), Münster (Grüne Alternative Liste 6,0 Prozent), Leverkusen (5,0 Prozent), Datteln (9,9 Prozent) und Marl (Wählergemeinschaft Die Grünen 8,9 Prozent) der Einzug in die Kommunalparlamente gelang. In Köln (4,0 Prozent) erreichte die Kölner Alternative Sitze in zwei Bezirksvertretungen. In Ahaus, dem geplanten Standort eines Atommüllzwischenlagers, erzielte eine von Atomkraftgegnern gegründete Wählergemeinschaft 25,5 Prozent.
Am 30. September 1979 fand in Sindelfingen bei Stuttgart ein Treffen von 700 Anhängern der ökologischen Bewegung statt, das in der Gründung der Grünen in Baden-Württemberg als erstem Landesverband resultierte. Die Bremer Grüne Liste (BGL) gewann am 7. Oktober 1979 mit 5,1 Prozent als erste grüne Wählervereinigung in der Bundesrepublik Mandate in einem Landesparlament, der Bürgerschaft. Die BGL bestand überwiegend aus ehemaligen SPD-Mitgliedern um Olaf Dinné. Die gleichfalls kandidierende Alternative Liste erhielt 1,4 Prozent. Auf einer öffentlichen Veranstaltung in der Bremer Stadthalle hatte zuvor Rudi Dutschke vergeblich die Spaltung zwischen „Grünen“ und „Alternativen“ zu verhindern versucht.
Im November 1979 fand ein zweiter Bundeskongress der SPV-Die Grünen in Offenbach statt, auf dem die Parteigründung für Januar 1980 beschlossen wurde. Dies sollte nicht als Neu-, sondern als Umgründung der SPV-Die Grünen geschehen, um die Wahlkampfkostenerstattung von der Europawahl in Höhe von 4,5 Millionen Mark zur Finanzierung des Parteiaufbaus verwenden zu können und die linken Listen nicht als Gründungsmitglieder aufnehmen zu müssen. Allerdings wurde den Mitgliedern der Alternativen die Möglichkeit eröffnet, bis zum 20. Dezember 1979 in die SPV-Die Grünen einzutreten, um am Karlsruher Gründungskongress teilzunehmen, und ein Antrag von Baldur Springmann, eine Mitgliedschaft in der SPV-Die Grünen nicht zuzulassen, wenn gleichzeitig eine Mitgliedschaft in einer anderen, insbesondere einer kommunistischen Organisation bestand, wurde abgelehnt. Daraufhin schnellte die Mitgliederzahl innerhalb von knapp zwei Monaten von 2.800 auf 12.000 in die Höhe. Noch bevor sich der Bundesverband konstituierte, wurde am 16. Dezember 1979 in Hersel bei Bonn ein Landesverband in Nordrhein-Westfalen gegründet.
Aufbauphase.
Parteigründung (1980).
Auf der Bundesversammlung am 12. und 13. Januar 1980 in Karlsruhe wurde die Partei „Die Grünen“ gegründet. Der Streit über die Mitarbeit von Mitgliedern kommunistischer Organisationen drohte dabei, die Gründung scheitern zu lassen. Die Vereinbarkeit der Mitgliedschaft bei den Grünen mit der Mitgliedschaft in anderen Parteien wurde schließlich ausgeschlossen – u. a. gegen den Protest von Rudolf Bahro, der deshalb auf der Versammlung seinen Parteieintritt erklärte. Umstritten war auch wieder die Teilnahme von Delegierten der Bunten Listen, als deren Sprecher u. a. der Hamburger Henning Venske auftrat. Die Diskussion des Programms und die Wahl eines Vorstandes wurden auf die nächste Bundesversammlung vertagt, die im März 1980 in Saarbrücken stattfinden sollte. Bis dahin wurde der bisherige Vorstand der SPV-Die Grünen in seinem Amt bestätigt und das Europawahlprogramm zur Arbeitsgrundlage gemacht.
Die Bundesversammlung in Saarbrücken am 22./23. März 1980 wählte August Haußleiter, Petra Kelly und Norbert Mann zu Parteisprechern, Rolf Stolz zum Schriftführer und Grete Thomas zur Schatzmeisterin. Die Versammlung verabschiedete ein Grundsatzprogramm, bei dessen Formulierung sich die links-alternativen gegen die bürgerlich-ökologischen Kräfte in allen wichtigen Fragen durchsetzen konnten. So enthielt das Programm unter anderem Forderungen nach Stilllegung aller Atomanlagen, einseitiger Abrüstung, Auflösung der Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt, 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich sowie Abschaffung des § 218 StGB. Diese Programmatik wurde von dem konservativen Flügel um Herbert Gruhl als Niederlage empfunden. Das Bundesprogramm, wie zuvor schon das Europawahlprogramm der SPV-Die Grünen, beschrieb die neue Partei als „ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“. Das Selbstverständnis war das einer „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly). Die Grünen verstanden sich weniger als Partei, sondern als Bewegung, wobei die Parteigründung als parlamentarisches, zweites Spielbein gesehen wurde. Umstritten war besonders, ob die Präsenz in den Parlamenten lediglich als Bühne dieser Bewegung genutzt werden sollten oder ob man auf tatsächliche Regierungsmacht zielen sollte. Dieser Streit zwischen „Fundis“ und „Realos“ sollte die parteiinterne Debatte der nächsten Jahre bestimmen.
Auf der Bundesversammlung in Dortmund am 21. und 22. Juni 1980 trat August Haußleiter, der in verschiedenen Medien wegen nationalistischer Äußerungen in den 1950er Jahren hart angegriffen worden war, aus Rücksicht auf die neue Partei als Parteisprecher zurück. Die Schatzmeisterin Grete Thomas, von der bekannt geworden war, dass sie ein anderes Parteimitglied, welches sie im Verdacht hatte, ein Agent des Verfassungsschutzes zu sein, durch einen Detektiv hatte beobachten lassen, wurde abgewählt. Als Nachfolger von Haußleiter setzte sich Dieter Burgmann, Landesvorsitzender der AUD-Bayern, gegen Herbert Gruhl und Otto Schily, der im letzten Wahlgang Burgmann dadurch unterstützte, indem er auf eine weitere Kandidatur verzichtete, durch. Weitere Vorstandsmitglieder wurden Helmut Lippelt, Halo Saibold, Christiane Schnappertz, Ursula Alverdes und Erich Knapp. Jan Kuhnert unterlag bei den Wahlen Bettina Hoeltje. Schatzmeisterin wurde Eva Reichelt. Damit war der Gründungsprozess mit der Wahl eines vollständigen Bundesvorstandes abgeschlossen.
Nach seiner Niederlage auf dem Dortmunder Parteitag zog sich der konservative Flügel um Herbert Gruhl und Baldur Springmann aus der Partei zurück. Gruhl begründete seinen Austritt in einem Interview des NDR mit seiner Ablehnung der Basisdemokratie, die damals auch das Rotationsprinzip beinhaltete. Gruhl gründete daraufhin in München die konservative Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die oberhalb der kommunalen Ebene relativ bedeutungslos blieb.
Nach den Parteitagen 1980 bildeten sich die kurzlebige Gruppe "Basisdemokratische undogmatische Sozialist/inn/en in den Grünen" (BUS) rund um Kuhnert, Ditfurth, Eckhard Stratmann-Mertens und andere. Die BUS verstand sich als ökologisch-basisdemokratisches Gegengewicht zum instrumentellen Partei-, Demokratie- und Ökologieverständnis der aus dem Kommunistischen Bund hervorgegangenen Gruppe Z. Die Gruppe Z hatte erfolgreich Bettina Hoeltje bei den Vorstandswahlen unterstützt. Die Mitglieder der BUS zerstreuten sich in der Phase bis 1990 unter die Ökosozialisten, Radikalökologen und Ökolibertären. Letztlich hatten die Ökosozialisten sowohl programmatisch, als auch personell die Oberhand gewonnen und dominierten die Partei bis zu ihrem Auszug 1990.
Erste Bundestagswahl (1980).
Am 5. Oktober 1980 traten Die Grünen das erste Mal bei einer Bundestagswahl an, scheiterten aber mit enttäuschenden 1,5 Prozent der Zweitstimmen deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde. Viele Anhänger der Grünen hatten noch die SPD mit Bundeskanzler Helmut Schmidt als „Kleineres Übel“ gewählt, um einen Kanzler Franz Josef Strauß von der CSU zu verhindern.
Landtagswahlen und außerparlamentarische Aktionen (1980–1983).
Nur gut zwei Monate nach der Parteigründung zogen die Grünen mit 5,3 Prozent in den Landtag von Baden-Württemberg ein, wo es ihnen verwehrt blieb, eine eigene Fraktion zu bilden, was man ihnen dann aber bei der nächsten Wahl zugestand, als sie mehr Mandate als die FDP erreichten. Im Saarland und in Nordrhein-Westfalen scheiterten grüne Listen kurz nach dem Erfolg von 1980 in Baden-Württemberg. Nach der enttäuschenden Bundestagswahl 1980 nahmen sie in Berlin, Niedersachsen, Hamburg, Hessen sowie bei einer Neuwahl wieder in Hamburg die Fünf-Prozent-Hürde deutlich, nur in Bayern verfehlten sie diese knapp.
Die Gründungsphase der grünen Partei fiel mit dem Höhepunkt der Friedensbewegung zusammen. Im Dezember 1979 hatte der Bundestag dem NATO-Doppelbeschluss zugestimmt. 1983 wurde die Zahl der Aktivisten auf 300.000 bis 500.000 in etwa 4.000 Einzelinitiativen geschätzt. Die Friedensdemonstrationen wurden zu immer größeren Massenveranstaltungen: Am 10. Oktober 1981 demonstrierten 300.000 Menschen, am 10. Juni 1982, anlässlich des Besuchs des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, 500.000 und am 22. Oktober 1983 wiederum eine halbe Million auf den Bonner Hofgartenwiesen gegen die Nachrüstung. Am gleichen Tag nahmen bundesweit etwa 1,3 Millionen Menschen an Aktionen gegen die Nachrüstung teil, darunter 200.000 an einer Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm. Auch die Ostermärsche mobilisierten in diesen Jahren regelmäßig Hunderttausende. Die Veranstaltung Künstler für den Frieden am 11. September 1982 im Bochumer Ruhrstadion besuchten 200.000 Menschen. Als der Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland diskutierte, wurde dies von weiteren Großdemonstrationen im Heißen Herbst begleitet, doch alle etablierten Parteien unterstützten den Wettrüstungskurs. Nach der Niederlage durch die Entscheidung des Bundestages verlor die Friedensbewegung rasch an Bedeutung.
Im November 1981 begann der Bau der Frankfurter Startbahn West. Bei den Protesten kam es durch kleinere militante Gruppen von Autonomen zu extrem gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dies wiederholte sich unter anderem bei Demonstrationen gegen das Kernkraftwerk Brokdorf sowie gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf. Die Gewaltakte schadeten dem Ansehen der Umweltbewegung und die Unterstützung breiterer Bevölkerungsgruppen schwand zusehends.
Die Grünen im Bundestag.
Erste Bundestagsfraktion (1983–1987).
Am 17. September zerbrach die sozialliberale Koalition. Die Friedens- und die Umweltbewegung waren inzwischen Massenbewegungen geworden und brachten den Grünen einen starken Wählerzuwachs bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 6. März 1983. Keine Rolle bei der Wahl spielten konkurrierende Umweltparteien. Die ÖDP trat nur in Bayern mit einer Landesliste an und erhielt lediglich rund 11.000 Stimmen. Mit 5,6 Prozent der Zweitstimmen gewannen die Grünen 28 Abgeordnetensitze. Damit schaffte zum ersten Mal seit Mitte der 1950er Jahre eine neu gegründete Partei den Sprung in den Bundestag. Mit dem Einzug der Grünen waren im Bundestag erstmals seit 1961 wieder vier Fraktionen vertreten.
Mit dem Landesgeschäftsführer der Grünen Hessen, Herbert Rusche, zog der erste sich öffentlich bekennende schwule Bundestagsabgeordnete in den Bundestag ein.
Im Oktober 1983 besuchten Petra Kelly, Otto Schily, Antje Vollmer, Gert Bastian, Dirk Schneider, Gustine Johannsen und Lukas Beckmann die DDR. Dabei unterzeichneten sie einen persönlichen Friedensvertrag mit Erich Honecker, der beide Seiten verpflichten sollte, sich für den Beginn einseitiger Abrüstung im eigenen Land einzusetzen. Petra Kelly trug dazu einen Pullover mit dem Aufdruck "Schwerter zu Pflugscharen" und fragte Honecker, warum er in der DDR verbiete, was er im Westen unterstütze.
Alternative Parteistrukturen.
Als „Anti-Parteien-Partei“ und „grundlegende Alternative zu den herkömmlichen Parteien“, die die Vorgaben des Parteiengesetzes freilich einhalten musste, experimentierten die Grünen mit Parteistrukturen, die eine Funktionärskaste von Berufspolitikern verhindern sollte, wie sie die Grünen in allen etablierten Parteien kritisierten. Als „Bewegungspartei“ sollten die Grünen ausdrücklich nicht mehr sein als ein parlamentarisches Spielbein, während die außerparlamentarische Opposition das Standbein bleiben sollte.
Die an einem latenten Antiparlamentarismus der Neuen Linken und grundsätzlicher Kritik an der repräsentativen Demokratie orientierte Basisdemokratie war für die Grünen der 1980er Jahre nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Forderung, sondern sollte auch innerhalb der Grünen Partei vorgelebt werden. Deshalb sollten ihre politischen Repräsentanten stets an den Willen der dezentral organisierten Parteibasis rückgebunden sein und einer ständigen Kontrolle unterliegen. So wurde den Parlamentariern von der Parteibasis lediglich ein imperatives Mandat erteilt. Tatsächlich spielte das, verfassungsrechtlich nicht haltbare, imperative Mandat von Anfang an keine Rolle. Alle Sitzungen, selbst die der Bundestagsfraktion, wurden zunächst öffentlich abgehalten. Entscheidungen sollten nach dem Konsensprinzip getroffen werden. Beide Prinzipien erwiesen sich nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität der Grünen und ihrer Streitkultur als nicht durchzuhalten.
Um Ämterhäufung und Machtkonzentration zu vermeiden, verfolgten die Grünen lange eine strikte Trennung von Amt und Mandat, die erst 2003 gelockert wurde. Statt eines Parteivorsitzenden gab es drei gleichberechtigte Vorstandssprecher. Konsequenterweise führten die Grünen lange Zeit keine personalisierten Wahlkämpfe.
Zu den rigiden Vorbeugungsmaßnahmen gegen bürokratische Verkrustungen einer politischen Klasse gehörte, dass in den Anfangsjahren alle Parteiämter ehrenamtlich ausgeübt werden mussten. In Verbindung mit der Trennung von Amt und Mandat führte dies dazu, dass professionell arbeitende Politiker mit bezahlten Mitarbeitern in den Fraktionen einem unbezahlten, schlecht ausgestatteten und kaum in die parlamentarische Arbeit eingebundenen Parteivorstand gegenüberstanden. Da sich dieses Konzept als wenig tragfähig erwies, konnten seit 1987 Mitglieder des Bundesvorstandes eine Vergütung beantragen. Doch noch 1988 standen 24 Parteiangestellte etwa 200 Fraktionsmitarbeitern gegenüber, so dass die Parteivorstände notorisch im Schatten der Fraktionen standen. Ein Element zur Verhinderung professionalisierter parlamentarischer Eliten bestand darin, dass ein Großteil der Diäten an den Öko-Fonds der Partei abzuführen waren und anfangs nur ein einem Facharbeitergehalt entsprechender Betrag persönlich behalten werden durfte. Dieser betrug 1.950 plus 500 Mark für jede zu unterhaltende Person. Noch heute spielen die Mandatsträgerbeiträge bei den Grünen eine größere Rolle als bei anderen Parteien. So lag deren Anteil an der Gesamtfinanzierung der Bundespartei im Schnitt 2003 bis 2010 bei 20 Prozent, in Niedersachsen noch im Jahr 2016.
Keine organisatorische Besonderheit der Grünen hat inner- wie außerhalb der Partei für so viel Diskussionen gesorgt, wie das nur wenige Jahre angewandte Rotationsprinzip. Abgeordnete hatten dem Beschluss einer Bundesversammlung von 1983 zufolge ihr Mandat bereits nach der Hälfte der Legislaturperiode für einen Nachrücker, der zuvor in einer Bürogemeinschaft mit dem gewählten Abgeordneten arbeitete, freizumachen. Schon in der ersten Wahlperiode nach dem Einzug in den Bundestag kam es zu verschiedenen Problemen bei der Handhabung des Rotationsprinzips. Petra Kelly und Gert Bastian weigerten sich zu rotieren, andere überließen widerwillig einer vermeintlichen oder tatsächlichen zweiten Garde die Abgeordnetenplätze. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der ebenfalls eingeführten Rotation an der Parteispitze. Schon 1986 wurde die zweijährige durch eine vierjährige Rotation ersetzt. In der folgenden Legislaturperiode rotierten nur noch die Abgeordnete des Hamburger und des Berliner Landesverbands.
Die langlebigste Neuerung war die Frauenquote auf alle Ämter und Wahllisten, um eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in der Politik zu erreichen. Aufsehen erregte der am 3. April 1984 gewählte rein weibliche Vorstand der Bundestagsfraktion mit Annemarie Borgmann, Waltraud Schoppe, Antje Vollmer, Christa Nickels, Heidemarie Dann und Erika Hickel. Das Männer-Frauen-Verhältnis lag in der 10. Legislaturperiode bei 18:10. In sämtlichen späteren grünen Fraktionen gab es mehr Frauen als Männer.
Viele der parteiinternen Experimente der Grünen wurden rasch wieder fallengelassen oder stark relativiert. Schnell hatte sich gezeigt, dass die Basisdemokratie statt einer Elite von Berufspolitikern informelle Eliten der verschiedenen Strömungen begünstigte, die der innerparteilichen Kontrolle weitgehend entzogen war. Zudem bildete sich durch die gewollte amateurhafte Parteistruktur eine so nicht beabsichtigte Schicht besonders aktiver Mitglieder heraus, die über ausreichend Zeit und finanzielle Unabhängigkeit verfügte. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes Studenten und nicht zuletzt arbeitslose Akademiker.
Gesellschaftspolitische Diskussionen.
Der Erfolg der Grünen führte zu heftigen gesellschaftspolitischen Diskussionen, denn von den etablierten gesellschaftlichen Kräften wurde er als Angriff und Gefahr für das bestehende System gesehen. Die Grünen mussten sich nicht nur des Vorwurfes erwehren, deutschlandfeindlich und systemkritisch zu sein. Vielmehr wurde ihnen ein gespaltenes Verhältnis zum Gewaltmonopol des Staates sowie eine Nähe zum Terrorismus der Rote Armee Fraktion in den 1970er Jahren unterstellt. Angeführt wurde beispielsweise der Umstand, dass Otto Schily und Christian Ströbele als profilierte Strafverteidiger in den 1970er Jahren Terroristen verteidigt hatten. Ein Nachhall dieser Fragen erfolgte 2001, als Joschka Fischer seine Vergangenheit als Frankfurter Straßenkämpfer vorgeworfen wurde und versucht wurde, daraus politisches Kapital zu schlagen.
Im Zuge der Landtagswahl 1985 kam in Nordrhein-Westfalen ein sogenannter „Kindersexskandal“ in die Schlagzeilen. Eine Arbeitsgruppe des Landesverbandes forderte eine Streichung des Sexualstrafrechtes (inkl. § 176 StGB), dies wurde in einem Beschluss mit 76:53 Stimmen angenommen und kam in eine erste Version des Wahlprogramms der Grünen.
Flügelkämpfe 1983–1989.
Seit dem Auszug der bürgerlichen Kräfte 1980/81 dominierten die Ökosozialisten die Partei. Neben der an den Rand gedrängten bürgerlichen Strömung bildete sich besonders in Baden-Württemberg 1983 eine Gruppe sogenannter Ökolibertärer, die anthroposophisch und humanistisch geprägt waren. Die Ökolibertären lehnten zwar blinde Fortschrittsgläubigkeit ab, hielten aber das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik für reformierbar, befürworteten das parlamentarische System der Bundesrepublik und wollten möglichst wenig Staatseingriffe. Sie sprachen sich bereits in den 1980er Jahren für Koalitionen mit der CDU aus. Ihre wichtigsten Protagonisten waren Wolf-Dieter Hasenclever und Winfried Kretschmann.
Als noch kontroverser erwies sich seit der ersten rot-grünen Koalition in Hessen 1983 der erbittert geführte Streit um die eigene Stellung zum bundesrepublikanischen System und insbesondere um eine grüne Regierungsbeteiligung. Jenseits des Links-Rechts-Schemas vertraten dabei die sogenannten „Fundis“ (abgeleitet von Fundamentalisten) im Wesentlichen eine radikal systemkritische Position und lehnten Kompromisse mit den etablierten Parteien und damit auch mögliche Regierungsbeteiligungen ab. Unter den Fundis zielten die Radikalökologen auf eine Überwindung des Systems durch Deindustrialisierung ab. Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986 und der Bruch der hessischen Koalition im Februar 1987 beförderten die Strömung der Fundis, was sich unter anderem in einer stärkeren Repräsentanz im dreiköpfigen Bundesvorstand niederschlug.
Die in der Bundestagsfraktion und in den meisten Landtagsfraktionen dominierenden „Realos“ (abgeleitet von Realpolitikern) strebten dagegen zunehmend Arrangements mit den Etablierten Parteien und mögliche Koalitionen an, um Reformen im Sinne grüner Politik auch in Ansätzen durchzusetzen, wofür sie auch verstärkt zu Kompromissen bereit waren. Vordenker der Flügel waren Joschka Fischer sowie Hubert Kleinert auf der Seite der Realos und Jutta Ditfurth auf Seite der Fundis. Die beiden Flügel erwiesen sich als annähernd gleich stark und drohten zunehmend, sich gegenseitig zu blockieren oder gar die Partei zu spalten, da aus den Sachfragen immer mehr Machtfragen wurden. Das wirkungsvollste Bindeglied der widersprüchlichen Strömungen war letztlich die Fünf-Prozent-Sperrklausel des bundesdeutschen Wahlrechts, denn beide Parteiflügel mussten fürchten, nicht stark genug zu sein, um diese alleine überwinden zu können.
1988 versuchte eine „Grüner Aufbruch“ genannte Gruppe um Antje Vollmer, Ralf Fücks und Christa Nickels über die das Medienbild der Grünen beherrschenden Flügelkämpfe hinweg eine gemeinsame grüne Politik zu betreiben und zu vermitteln. Nach einem ergebnislosen Perspektivkongress, der zu einem Kompromiss zwischen den politischen Vorstellungen der verschiedenen Strömungen hätte führen sollen, bildete sich mit dem „Linken Forum“ um Ludger Volmer, Jürgen Reents und Eckart Stratmann eine weitere innerparteiliche Richtung. Dieses stimmte inhaltlich weitgehend mit den Ökosozialisten überein, da sie ein kapitalistisches Wirtschaftssystem letztlich für unvereinbar mit ökologischem Wirtschaften hielten, strategisch befürworteten sie aber Regierungsbeteiligungen wie die Realos. Noch im Dezember 1988 schloss zudem der Grüne Aufbruch ein Bündnis mit den Realos, verhalf aber im Januar 1989 dem Ökosozialisten Thomas Ebermann zur Wahl als einer der Sprecher der Bundestagsfraktion gegen den Realo Otto Schily. Im November 1989 zog Schily die Konsequenz aus den sich hinziehenden Auseinandersetzungen um Vorwürfe wie Profilierungssucht und Berufspolitikertum. Er trat aus der Partei aus und wechselte zur SPD.
Erste rot-grüne Koalitionen auf Landesebene (1985–1990).
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Auf landespolitischer Ebene hatte es 1982 in Hamburg Verhandlungen zwischen der SPD und der Grün-Alternativen Liste gegeben, die weder zu einer politischen Zusammenarbeit noch zu einer Koalitionsregierung beider Parteien führten. In Hessen kam es dagegen ab Juni 1984 zur Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung durch die Grünen. Im September 1984 bot Oskar Lafontaine, der Ministerpräsident des Saarlands, als erster SPD-Spitzenpolitiker den Grünen eine Koalition für den Fall an, dass es nach der Landtagswahl eine entsprechende rechnerische Mehrheit gäbe. Da die Grünen deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten und die SPD mit absoluter Mehrheit in den Landtag einzog, kam es nicht dazu. Ebenfalls 1984 kam es zu Erfolgen bei der Europawahl und zu ersten Formen von Zusammenarbeit mit der SPD auf kommunaler Ebene.
Am 12. Dezember 1985 wurde in Hessen die – nicht nur in Deutschland – erste rot-grüne Koalition besiegelt. Joschka Fischer wurde Umweltminister. Bekannt wurde er als sogenannter Turnschuh-Minister, da er bei seiner Vereidigung am 12. Dezember 1985 in Turnschuhen erschien. Bereits nach 452 Tagen, am 9. Februar 1987 zerbrach die Koalition an dem Streit über die Genehmigung für das Hanauer Nuklearunternehmen Alkem.
1984 hatten die Grünen das Haus Wittgenstein in Roisdorf bei Bonn erworben, um dort eine "Zukunftswerkstatt" als Zentrum für eine neue politische Kultur einzurichten. Bei dem dazu erforderlichen Umbau kam es zu steuerlichen Unregelmäßigkeiten. Auf einer außerordentlichen Bundesversammlung in Karlsruhe im Dezember 1988 sprach sich die Mehrheit der Delegierten wegen der Unregelmäßigkeiten für den Rücktritt des Bundesvorstandes aus, der die Vorwürfe nicht hatte ausräumen können. Daraufhin traten die drei Parteisprecher Jutta Ditfurth, Regina Michalik und Christian Schmidt von ihren Ämtern zurück.
Nach der Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 29. Januar 1989 kam es zu einer zweiten rot-grünen Koalition in Berlin. Diese brach am 15. November 1990 auseinander, weil der damalige Innensenator Erich Pätzold (SPD) die Räumung besetzter Häuser in der Mainzer Straße veranlasst hatte. Mit besonderer Aufmerksamkeit wurde der Senat Momper beobachtet, weil in seine Amtszeit der Fall der Berliner Mauer fiel.
Zweite Bundestagsfraktion (1987–1990).
Die Flügelkämpfe verhinderten nicht den weiteren bundespolitischen Erfolg. Unter einem von Fundis beherrschten Bundesvorstand mit Jutta Ditfurth und Rainer Trampert erreichten die Grünen bei der Bundestagswahl am 25. Januar 1987 mit 8,3 Prozent der Zweitstimmen insgesamt 44 Mandate. Auch in Hessen legten die Grünen weiter zu.
Am 25. April 1987 durchsuchte die Polizei die Geschäftsstelle in Bonn und beschlagnahmte Flugblätter zum Boykott der Volkszählung sowie am 30. April wegen des Aufrufs zum Boykott auch die Geschäftsstellen in München und Trier.
Mit dem 3. Oktober 1990 und der Auflösung der Volkskammer wurden sieben benannte Mitglieder der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne Mitglieder der grünen Bundestagsfraktion.
Umbruch in der DDR und Wiedervereinigung.
Bürgerbewegung in der DDR bis zu den ersten Landtagswahlen (1989/1990).
Das Bündnis 90 hatte seine Wurzeln in der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung der DDR. Es wurde 1990 zunächst als Listenvereinigung der Bürgerbewegungen Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte zur ersten freien Volkskammerwahl gebildet und gründete sich 1991 als eigenständige Partei, die große Teile der drei Bürgerbewegungen vereinigte. Zwischen Mitgliedern der Grünen wie beispielsweise Petra Kelly und oppositionellen Gruppen in der DDR hatte es bereits vor der Wende Kontakte gegeben. Diese führten nach der Wende zur Zusammenarbeit von Bürgerbewegungen und Grünen. Wenige Tage nach dem Fall der Mauer, am 24. November 1989, gründete sich die Grüne Partei in der DDR.
Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990, bei der es keine Sperrklausel gab, entfielen auf das Bündnis 90 2,9 Prozent, auf die Listenverbindung der Grünen und des Unabhängigen Frauenverbandes 2,0 Prozent. Dieses Ergebnis musste enttäuschen, waren im Bündnis 90 doch die meisten der Kräfte vereinigt, die am Zusammenbruch des SED-Regimes maßgeblich mitgewirkt hatten. Dem Wunsch der Bevölkerung nach einer möglichst raschen und reibungslosen Vereinigung sowie dem professionellen, wesentlich über die bundesdeutschen Medien ausgetragenen Wahlkampf der westlichen Parteiapparate, die sich auch noch auf die übernommenen Strukturen, teilweise auf das Personal sowie auf das Vermögen der ehemaligen Blockparteien stützten, hatte das Bündnis 90 außer der hohen Reputation seiner Protagonisten letztlich wenig entgegenzusetzen.
Elf Tage nach der deutschen Vereinigung, am 14. Oktober 1990, fanden die ersten Landtagswahlen statt. Listenverbindungen von Bürgerrechtsgruppen und Grünen zogen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in die Landesparlamente ein. In Brandenburg zog Bündnis 90 mit 6,4 % der Stimmen in den Landtag ein und bildete mit SPD und FDP eine Regierungskoalition. Die getrennt angetretenen Grünen verfehlten mit 2,8 den Einzug in das Parlament. In Mecklenburg-Vorpommern erzielten Grüne, Neues Forum und Bündnis 90 zwar insgesamt 9,3 %, da sie hier aber in Erwartung höherer Stimmanteile jeweils alleine antraten, scheiterten alle drei an der Fünf-Prozent-Hürde.
West-Grüne von der Wiedervereinigung überrascht.
Für die Mehrheit der Grünen gab es vor dem Mauerfall keine Deutsche Frage. Die Zweistaatlichkeit wurde noch bis zur Volkskammerwahl 1990 nicht in Frage gestellt und am 14. November 1989 rief der Bundesvorstand die Bundesregierung dazu auf, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen und damit die Zweistaatlichkeit festzuschreiben. Einer Wiedervereinigung stand man auch dann noch skeptisch bis ablehnend gegenüber, als klar war, dass diese kommen würde. Im März 1990 lautete nach längerer Debatte der Minimalkonsens innerhalb der Bundestagsfraktion, dass die Grundlagen für ein Festhalten an der Zweistaatlichkeit entfallen seien, aber ein „Nationalstaat kein wünschenswertes Ordnungsprinzip für die beiden deutschen Staaten“ sei. Auf der Bundesversammlung Ende März 1990 nahm die Partei Abschied von der Zweistaatlichkeitsposition. Stattdessen wollte man sich aktiv in den Einheitsprozess einmischen und sich dabei für Entmilitarisierung, ökologischen Umbau und eine breite Verfassungsdiskussion über eine neue gesamtdeutsche Verfassung einsetzen. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurde von den Grünen als „Vollzug der Unterwerfung“ kritisiert. Auf dem Dortmunder Parteitag im Juni 1990 bekräftigten die Grünen diese ablehnende Haltung. Die Währungsunion sei ein „Dokument der Einverleibung“ und des „bloßen Anschlusses der DDR an die BRD“. Ebenso wurde der Einigungsvertrag abgelehnt. Hans-Christian Ströbele bezeichnete ihn auf dem Bayreuther Parteitag im September 1990 als „größte Landnahme der deutschen Industrie seit den Kolonialkriegen, sieht man mal von der Nazi-Zeit ab“.
Bundestagswahl 1990: West-Grüne scheitern, Bündnis 90 wird Bundestagsgruppe.
Bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 warb die Partei mit dem Slogan „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“ und lagen damit quer zu der in der öffentlichen Debatte vorherrschenden Stimmung.
Bei der Bundestagswahl scheiterten die westdeutschen Grünen mit 4,8 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Bei der Wahl wurden die Stimmen in getrennten Wahlgebieten ausgezählt wurden, einmal in den alten Bundesländern (einschließlich West-Berlins) und in den neuen Bundesländern (einschließlich Ost-Berlins). Diese einmalig geltende Sonderregelung war erst sechs Wochen vor der Wahl nach einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht durchgesetzt worden. Geklagt hatten die Grünen, da die Grünen sich im Unterschied zu den anderen Parteien noch nicht mit ihren politischen Verbündeten in Ostdeutschland, den neu entstandenen Bürgerbewegungen, vereinigt hatten. Da die Grünen im westdeutschen Wahlgebiet unter fünf Prozent blieben, verfehlten sie dennoch den Einzug in den Bundestag. Bei einer rechtzeitigen Vereinigung von west- und ostdeutschen Gruppierungen wären Grüne und Bündnis 90 mit einem gesamtdeutschen Stimmenanteil von 5,1 Prozent in Fraktionsstärke in den Bundestag eingezogen.
Immerhin profitierte das Bündnis 90 davon, dass aufgrund des Urteils in Ostdeutschland auch Listenvereinigungen zur Wahl antreten konnten und so auf 6,0 Prozent kam. Da das Bündnis 90 mit acht Abgeordneten die Mindestgröße einer Fraktion nicht erreichte, erhielt es den Status einer Bundestagsgruppe. Diese versuchte im Bundestag, die Vereinigung als Neubeginn zu gestalten. Vergeblich beantragte sie die Errichtung eines Verfassungsrates sowie die Zählung der Legislaturperioden des Bundestages neu zu beginnen, um der historischen Situation in Deutschland Rechnung zu tragen. Eine neue Verfassung hätte nach Vorstellungen des Bündnis 90 unter anderem dem Datenschutz, der Frauengleichstellung und Diskriminierungsverboten für Homosexuelle und Behinderte Verfassungsrang eingeräumt. Besonderes Augenmerk legten die Bürgerrechtler des Bündnis 90 auf die Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Auf ihren Gesetzesentwurf von 1991 geht das Stasi-Unterlagen-Gesetz zurück. Joachim Gauck wurde Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Im Oktober 2000 wurde Marianne Birthler seine Nachfolgerin. Beide gehörten der Bundestagsgruppe von Bündnis 90 an.
Vereinigung von Bündnis 90 und Grünen.
„Realpolitische Wende“ (1990–1993).
Die Wahlniederlage war ein Schock für die Partei und es wurde für möglich gehalten, dass sie das Ende der Grünen bedeuten würde. Bei der Wahlkampfstrategie hatten sich die Kritiker der Wiedervereinigung durchgesetzt – nun wurden sie verantwortlich gemacht für das Debakel. Zudem schwelte noch immer der Konflikt über das Selbstverständnis der Partei inklusive der offenen Machtfrage. Auf dem Bundesparteitag im April 1991 in Neumünster wurden die Konsequenzen diskutiert. Erstmals bekannten sich die Grünen ausdrücklich zur parlamentarischen Demokratie und definierten sich als Reformpartei. Die Parteistrukturen wurden professionalisiert, so wurde beschlossen, die Parteisprecher in Zukunft zu bezahlen. Systemoppositionelle Schlagworte, wie das von der „Anti-Parteien-Partei“, wurden aus dem Programm genommen.
Auf diese realpolitische Wende folgte eine Austrittswelle von Ökosozialisten wie Thomas Ebermann und Rainer Trampert und später auch von Radikalökologen wie Jutta Ditfurth. Linke Realpolitiker wie Jürgen Trittin, Daniel Cohn-Bendit, Krista Sager, Ludger Volmer sowie Ökolibertäre wie Winfried Kretschmann verblieben in der Partei. Jutta Ditfurth gründete im Jahr 1991 die Partei Ökologische Linke, im Jahr 2001 zusammen mit ihrem Lebenspartner Manfred Zieran die Wählervereinigung ÖkoLinX-Antirassistische Liste (ÖkoLinX-ARL). Diese erlangte nur kommunale Bedeutung. Sie gab die neue Zeitschrift "ÖkoLinX" heraus und setzte sich in verschiedenen Publikationen äußerst kritisch mit der bisherigen und weiteren Entwicklung der Grünen auseinander. Zur PDS wechselten unter anderen Jürgen Reents, Harald Wolf und die später als langjährige inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit enttarnten Dirk Schneider und Klaus Croissant. Rainer Trampert, Thomas Ebermann, Christian Schmidt, Verena Krieger und Regula Schmidt-Bott traten aus den Grünen aus, ohne sich einer anderen Partei anzuschließen.
Verschiedene, sich teilweise gegenseitig beeinflussende Faktoren sorgten also 1990/91 für eine deutliche programmatische, personelle und strategische Verschiebung zugunsten der Realos, die die Partei seither prägt: Die verlorene Bundestagswahl erhöhte den Druck zu einer Professionalisierung, der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten hatte linke Utopien diskreditiert, mit dem Auszug zahlreicher Ökosozialisten und Radikalökologen war diese Strömung extrem geschwächt, und schließlich erwuchs mit der PDS erstmals Konkurrenz links der Partei. Zur Stärkung der Realos trugen ab 1993 auch die Mitglieder des ostdeutschen Partners "Bündnis 90" bei, das überwiegend aus Pragmatikern bestand und deren Bundestagsgruppe zunächst stärker im Fokus stand als die abgewählten westdeutschen Grünen. In den Ländern wurde der neue realpolitische Kurs 1990/91 durch drei Regierungsbeteiligungen in Niedersachsen, Hessen und Bremen bekräftigt.
Zusammenschluss von Bündnis 90 und Grünen (1993).
Die ostdeutschen Grünen, die sich für die Bundestagswahl 1990 an der Listenverbindung "Bündnis 90/Grüne – BürgerInnenbewegung" beteiligten und mit zwei Abgeordneten im Bundestag vertreten war, vereinigten sich mit ihrer westdeutschen Schwesterpartei am 3. Dezember 1990, dem Tag nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl. Erst am 21. September 1991 gründete sich das Bündnis 90 formell als Partei, wobei nur etwa die Hälfte der Mitglieder des Neuen Forums der neuen Partei beitrat. Eine Woche später vereinigten sich die Bürgerbewegungen und die Grünen in Sachsen zur Partei "Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen".
Zwei in Berlin stattfindende Bundesdelegiertenkonferenzen beschlossen Anfang bzw. Mitte Mai 1992 die Aufnahme von Verhandlungen beider Parteien zum Zwecke einer Zusammenschließung; die Verhandlungen begannen im Juni 1992. Am 23. November 1992 wurde der Assoziationsvertrag unterzeichnet, der am 17. Januar 1993 in Hannover auf zwei gleichzeitig stattfindenden Bundesversammlungen angenommen wurde. Nachdem Urabstimmungen im April 1993 auf beiden Seiten deutliche Mehrheiten zu Gunsten der Vereinigung erbrachten, wurde der Assoziationsvertrag am 14. Mai 1993 während des Vereinigungsparteitages in Leipzig in Kraft gesetzt. Einige Mitglieder von Bündnis 90 verließen aus Kritik an der Vereinigung die Partei, darunter Matthias Platzeck (ging zur SPD), Günter Nooke (ging zur CDU).
Um zu demonstrieren, dass der kleinere Partner aus dem Osten (zur Zeit der Vereinigung etwa 2.600 Mitglieder) nicht einfach der zahlenmäßig übermächtigen West-Partei (etwa 37.000 Mitglieder) einverleibt werden sollte, wurde der Name Bündnis 90 vorangestellt. Dem Mitspracherecht von Bündnis 90 wurde versucht Rechnung zu tragen, indem Ost-Quoten für Bundesgremien geschaffen wurden – was wiederum Ost-Grüne der ersten Stunde als Affront verstanden. Obwohl die Ostdeutschen in den Parteigremien formal überrepräsentiert waren und dem Bündnis 90 durch die Bundestagsgruppe besonderes Gewicht zukam, zeigte sich doch bald, dass die etablierten Politiker aus dem Westen das Sagen in der Partei hatten. Hinzu kam, dass die meist wertkonservativen ostdeutschen Bürgerrechtler von der Diskussions- und Streitkultur der überwiegend linken westdeutschen Alternativen befremdet waren. Einige prominente Mitglieder verließen im Laufe der folgenden Jahre die Partei und suchten eine neue politische Heimat oder zogen sich ganz aus der Politik zurück.
Bereits 1990 strebte der damalige ÖDP-Vorsitzende Hans-Joachim Ritter ein Zusammengehen mit den Grünen und dem Bündnis 90 an, das allerdings nicht zustande kam. Während Teile des Bündnis 90 der ÖDP aufgeschlossen gegenüberstanden, scheiterte das Dreierbündnis am Widerstand der westdeutschen Grünen.
Wahlen und Regierungsbeteiligungen 1990–1994.
In den Ländern zeigte sich bald, dass der Untergang der Grünen Partei nach der Bundestagswahl 1990 voreilig prognostiziert worden war. In Niedersachsen hatte nach den Landtagswahlen im Mai 1990, also bereits einige Monate vor der Bundestagswahl, eine rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder die bisherige schwarz-gelbe Regierung abgelöst, in der Jürgen Trittin Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Waltraud Schoppe Frauenministerin wurden. Anfang 1991 kam es in Hessen zu einer Neuauflage der rot-grünen Koalition, in der Joschka Fischer erneut Umweltminister wurde. In Bremen kamen die Grünen im September 1991 auf 11,4 Prozent und bildeten mit SPD und FDP die erste Ampelkoalition. In Baden-Württemberg erwog Ministerpräsident Teufel als erster hochrangiger Unionspolitiker eine schwarz-grüne Koalition, zu der es dann allerdings trotz rechnerischer Möglichkeit nicht kam. Bis auf Schleswig-Holstein, das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, wo Bündnis 90 an der Regierung beteiligt war, waren die Grünen Anfang der 1990er Jahre in allen Landesparlamenten vertreten. In Schleswig-Holstein scheiterten die Grünen dabei 1992 mit 4,97 Prozent an lediglich 398 Stimmen.
Die Vereinigung von Grünen und Bündnis 90 sowie insbesondere der Auszug des linken Parteiflügels brachte bei den folgenden Landtagswahlen im Westen deutliche Gewinne. In Hamburg verbesserte sich die GAL im September 1993 um 6,3 Prozentpunkte auf 13,5 Prozent. In Niedersachsen schieden die Grünen zwar im März 1994 aus der Landesregierung aus, dies aber nur, weil die SPD die absolute Mehrheit erzielte. Sie selbst legten um 1,4 Prozentpunkte zu. Die Europawahl 1994 brachte mit 10,1 Prozent erstmals ein zweistelliges Wahlergebnis auf Bundesebene.
In Ostdeutschland zeigte sich, dass dort die Vereinigung mit den West-Grünen ein wesentliches Identitätsproblem gebracht hatte. Zwischen Juni und Oktober 1994 wurde Bündnis 90/Die Grünen mit herben Verlusten aus vier der fünf ostdeutschen Landesparlamenten herausgewählt. Nur in Sachsen-Anhalt schaffte die Partei mit 5,1 Prozent denkbar knapp den Einzug in den Landtag und beteiligte sich an einer höchst umstrittenen rot-grünen Minderheitsregierung unter Tolerierung der PDS, dem sogenannten Magdeburger Modell.
Wiedereinzug in den Bundestag.
Bundestagsfraktion 1994–1998.
Bei der Bundestagswahl 1994 errang die inzwischen gesamtdeutsche Partei Bündnis 90/Die Grünen mit 7,3 Prozent insgesamt 49 Mandate im wegen der Wiedervereinigung vergrößerten Bundestag. Joschka Fischer gab sein hessisches Ministeramt auf und wurde zusammen mit Kerstin Müller Fraktionssprecher. Mit Antje Vollmer stellten die Grünen zum ersten Mal eine Bundestagsvizepräsidentin. Vor der Wahl wurden Bedingungen für eine mögliche Koalition mit der SPD festgelegt.
Bereits seit November 1994 zeichnete sich ein Konfliktfeld an, das die innerparteiliche Debatte der kommenden Jahre bestimmen sollte. Gerd Poppe forderte als außenpolitischer Sprecher der neuen Bundestagsfraktion militärische Einsätze in Jugoslawien. Das Massaker in der UN-Schutzzone Srebrenica im Juli 1995 markiert in dieser Auseinandersetzung eine Wende, ohne dass es zu einer einheitlichen Position der Partei gekommen wäre. In der Abstimmung über die NATO-Osterweiterung im März 1998 stimmten 14 Grüne mit Ja, sechs mit Nein und 25 enthielten sich.
Wahlen und Regierungsbeteiligungen auf Landesebene 1994–1998.
1995 und 1996 erzielten die Grünen in Hessen, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Baden-Württemberg, also auch in drei Flächenländern, zweistellige Ergebnisse. Dadurch wurde in Hessen erstmals eine rot-grüne Regierung durch die Wähler bestätigt. In den bisherigen grünen Problemländern Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein kam es ebenfalls zu Koalitionen mit der SPD. Im September 1997 erreichten sie in Hamburg mit 13,9 Prozent ihr für lange Zeit bestes Ergebnis auf Landesebene. Auch hier kam es zu einer Regierung mit der SPD. Zu diesem Zeitpunkt waren die Grünen an fünf Landesregierungen beteiligt, allerdings wurde diejenige in Sachsen-Anhalt im April 1998 abgewählt. Am Ende der Bundestagslegislaturperiode war Bündnis 90/Die Grünen in allen westdeutschen, aber in keinem ostdeutschen Landtag vertreten. Die Partei war zu einer reinen Westpartei geworden.
Gründung der Grünen Jugend und der Heinrich-Böll-Stiftung (1994/1996).
Vorgeschichte (bis 1988).
Vor der Gründung des GAJB unterhielt die Bundespartei eine Bundesjugendkontaktstelle, die als Koordinationsstelle für eine lose Vernetzung junger Mitglieder und Sympathisanten der Partei Die Grünen diente. Relativ unabhängig von den Grünen formierte sich dann Ende der 1980er Jahre ein Netzwerk grüner, alternativer, bunter und autonomer Jugendgruppen, das sich "GA-BA-Spektrum" nannte. Grüne Kreise kommentierten den Zusammenschluss damals kritisch. Zu nennenswerten politischen Initiativen des Netzwerks kam es nach zwei Bundeskongressen 1987 nicht.
GAJB und GRÜNE JUGEND.
1994 wurde in Hannover die bundesweite Jugendorganisation Grüne Jugend, damals noch unter dem Namen "Grün-Alternatives Jugendbündnis", gegründet. Die damals den Grünen noch nahestehenden Jungdemokraten bekamen somit Konkurrenz. Landesverbände existierten seit 1991. Die Grüne Jugend wurde 2001 eine Teilorganisation der Partei.
Heinrich-Böll-Stiftung.
1996/97 wurden die drei bis dahin im Stiftungsverband Regenbogen zusammengeschlossenen, aber eigenständigen Parteistiftungen Buntstift (Göttingen), Frauen-Anstiftung (Hamburg) und Heinrich-Böll-Stiftung (Köln) zur heutigen Heinrich-Böll-Stiftung vereinigt. In der Buntstift-Föderation waren die verschiedenen Stiftungen der grünen Landesverbände organisiert. Hatten in den 1980er Jahren die Grünen die Parteistiftungen anderer Parteien noch heftig bekämpft, so änderte sich ihr Kurs, nachdem sie vor dem Bundesverfassungsgericht mit einer Klage scheiterten. Gründe für die Kritik an den politischen Stiftungen waren und sind die mangelnde Transparenz ihres Wirkens als nicht unabhängige, sondern parteigebundene Stiftungen und vor allem das Problem ihrer Finanzierung, denn sie erhalten – bei weniger Kontrolle und Transparenz – viel mehr staatliche Mittel als die Parteien selbst. Nach der Niederlage vor Gericht gingen die Grünen den Weg, ebenfalls an den Vorteilen von Stiftungen teilzuhaben, anstatt diesen Vorteil nur den etablierten Parteien zu belassen.
Rot-grüne Bundesregierung.
Erste Regierungsperiode (1998–2002).
Wahlkampf und Regierungsbildung.
In dem Lagerwahlkampf zur Bundestagswahl 1998 standen als Alternativen die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition oder das „Generationsprojekt“ der rot-grünen Koalition gegenüber. Aufgrund der guten Wahlergebnisse der jüngeren Zeit und der spürbaren Wechselstimmung in Deutschland nach 16 Jahren Kohl-Regierung gingen die Grünen siegesgewiss in den Wahlkampf. Die Regierungsfähigkeit der Grünen wurde nach ihrer Bundesdelegiertenkonferenz am 8. Mai 1998 in Magdeburg massiv in Frage gestellt. Die Berichterstattung der Medien konzentrierte sich auf den sogenannten Fünf-Mark-Beschluss, demzufolge bei einer grünen Regierungsbeteiligung der Benzinpreis durch eine deutliche Erhöhung der Mineralölsteuer schrittweise auf 5 DM pro Liter angehoben werden sollte.<ref name="Klein/Falter 50">Klein/Falter: "Der lange Weg der Grünen". München 2003, S. 50.</ref> Daneben wurde die eindeutige Absage der BDK an eine deutsche Intervention im Kosovo negativ rezipiert. Selbst der Kanzlerkandidat des potentiellen Regierungspartners, Gerhard Schröder, bezeichnete den Fünf-Mark-Beschluss als „Quatsch“ und stellte die Regierungsfähigkeit der Grünen in Frage. Dabei ging unter, dass die Grünen ihr Programm stark auf Kompatibilität zu dem des möglichen Koalitionspartners SPD ausrichteten. Ein noch verheerenderes öffentliches Echo konnten die Realos dadurch verhindern, dass die alten grünen Forderungen nach einem NATO-Austritt Deutschlands, der Halbierung der Bundeswehr innerhalb einer Legislaturperiode sowie ihrer langfristigen Abschaffung nicht beschlossen wurden. Dass sich die Fünf-Mark-Forderung im endgültigen Wahlprogramm nicht mehr fand, konnte das geweckte öffentliche Misstrauen nur teilweise beschwichtigen.
6,7 Prozent am Wahlabend, dem 27. September 1998, waren denn auch ein eher bescheidenes Ergebnis gemessen an denen der letzten Jahre bei Landtagswahlen. Gegenüber der letzten Bundestagswahl verloren die Grünen leicht um 0,6 Prozentpunkte. Trotzdem reichte es für eine Mehrheit mit der auf 40,9 Prozent verbesserten SPD. Ende Oktober wurden die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen und dem Ergebnis von einer Bundesdelegiertenkonferenz zugestimmt. Am 27. Oktober wurden Joschka Fischer als Außenminister, Andrea Fischer als Gesundheitsministerin und Jürgen Trittin als Umweltminister vereidigt. Fischer wurde zudem Vizekanzler. Die Fraktion wurde von Kerstin Müller und Rezzo Schlauch geführt, parlamentarische Staatssekretäre wurden Ludger Volmer (Außenministerium), Christa Nickels (Gesundheit), Simone Probst, Gila Altmann (beide Umwelt) und Uschi Eid (wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).
Nach dem BSE-Skandal im Januar 2001 kam es zu einer Kabinettsumbildung: Andrea Fischer trat zurück und wurde durch die SPD-Politikerin Ulla Schmidt ersetzt, dafür beerbte die bisherige grüne Bundesvorstandssprecherin Renate Künast den Landwirtschaftsminister Funke (SPD). Christa Nickels schied als Staatssekretärin aus dem Kabinett aus, dafür traten Matthias Berninger (Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft) und Margareta Wolf (Wirtschaft und Technologie) ein.
Kosovokrieg, Einsatz in Afghanistan, Irakkrieg (1999, 2001, 2002).
Nur sechs Monate nach dem Regierungsantritt, am 24. März 1999, begann der Kosovokrieg. Die rot-grüne Regierung trug diesen nicht nur mit, sondern war mit Bundeswehreinheiten unmittelbar daran beteiligt. Besondere Verantwortlichkeit kam dabei dem grünen Außenminister Fischer zu.
Zu einer erneuten Zerreißprobe kam es durch den Krieg in Afghanistan ab 2001. Aufgrund der uneindeutigen Haltung der grünen Bundestagsfraktion sah sich Kanzler Schröder genötigt, die zu stellen und diese mit der Abstimmung über die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan zu verbinden. Acht Grüne, die ursprünglich gegen den Einsatz der Bundeswehr stimmen wollten, teilten ihre Stimmen in vier Ja- und vier Nein-Stimmen auf, um die Koalition nicht scheitern zu lassen. Über die Zulässigkeit und die Redlichkeit eines solchen, mit einer Sachfrage verbundenen Vertrauensantrags entwickelte sich innerhalb der bündnisgrünen Partei, wie auch in der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion.
Zum dritten Mal musste die rot-grüne Koalition vor Ausbruch des Irakkriegs über einen Kampfeinsatz der Bundeswehr entscheiden. In diesem Fall verweigerte die Bundesregierung eine Kriegsteilnahme an der Seite der USA als Teil der sogenannten Koalition der Willigen. Die bedingungslose Ablehnung des Irakkriegs war maßgeblich auf den grünen Koalitionspartner zurückzuführen und trug wesentlich zu dem lange Zeit nicht erwarteten Wahlsieg bei der Bundestagswahl 2002 bei.
Grüne Akzente in der Bundesregierung.
In der Legislaturperiode 1998–2002 wurden unter anderem die Ökosteuer (allerdings in einer gegenüber grünen Vorstellungen reduzierten Form), die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die Möglichkeit eingetragener Lebenspartnerschaften, der langfristige Ausstieg aus der Atomenergie, das 100.000-Dächer-Programm (Solarstromsubvention) und das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG; wirtschaftliche und wissenschaftliche Förderung von Wind- und Solarenergie, Biomasse sowie Erdwärme) beschlossen.
Auf Vorschlag von Renate Künast wurde das vormalige Landwirtschaftsministerium um den Aufgabenbereich des Verbraucherschutzes erweitert und in Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft umbenannt. Künast leitete die sogenannte Agrarwende ein, die unter anderem auf eine starke Orientierung am Verbraucherschutz, Förderung der ökologischen Landwirtschaft und des Tierschutzes in der Landwirtschaft abzielte. Eine der Maßnahmen war die Einführung des deutschen Bio-Siegels im September 2001.
Kritik an der grünen Regierungsführung.
Der Kosovokrieg führte zur inneren Zerrissenheit der bis dahin strikt pazifistischen Partei. Auf einem Parteitag in Bielefeld im Mai 1999 wurde der Antrag, die Kampfhandlungen sofort zu beenden, zwar abgelehnt, die vorangegangene Debatte verlief aber erbittert und teilweise hasserfüllt. Joschka Fischer wurde mit Sprechchören als „Kriegstreiber“ beschimpft und mit einem Farbbeutel beworfen, der sein Ohr so traf, dass er einen Trommelfellriss erlitt. Mit dem Bielefelder Parteitagsbeschluss zum Kosovokrieg war zwar das drohende vorzeitige Ende der rot-grünen Koalition verhindert worden, durch die Partei ging aber ein tiefer Graben. Viele Mitglieder traten aus, in Hamburg verließen einige Bürgerschaftsabgeordnete der GAL und bildeten eine eigene Regenbogen-Fraktion. Die innerparteiliche Opposition bildete eine Bewegung namens „Basisgrün“, die sogar dazu aufrief, bei der Europawahl 1999 nicht die Grünen zu wählen. In diesem Zusammenhang verließen unter anderem Willi Hoss, Monika Knoche, Herbert Rusche und Christian Schwarzenholz die Partei. Die Mitgliederzahl sank zwischen 1998 und 2002 von fast 52.000 auf unter 44.000, stieg dann aber langsam wieder an und lag 2005 bei gut 45.000. Einige Mitglieder, wie der frühere grüne Bundestagsabgeordnete Christian Simmert, kritisierten ihrer Meinung nach undemokratische Methoden bei der Überzeugungsarbeit, mit der Abweichler vom Regierungskurs zurück auf Linie gebracht werden sollten.
In dieser Situation veröffentlichten 1999 40 junge Parteimitglieder unter 30 Jahren – darunter Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt, Tarek Al-Wazir, Matthias Berninger und Ekin Deligöz – ein Strategiepapier, in dem sie sich genervt von den „Lebensirrtümern“ der 68er-Generation zeigten. Stattdessen sprachen sie sich für eine grundlegende Neupositionierung der Partei auf der Basis eines verantwortungsvollen Liberalismus, für pragmatische Politik sowie für eine Aussöhnung mit der Sozialen Marktwirtschaft aus.
Von der Politikwissenschaft wurde bezüglich der ersten Amtsperiode eine durch die Parteistrukturen fehlende Regierungsfähigkeit, insbesondere fehlende Strategie- und Konzeptfähigkeit der Grünen kritisiert. Insgesamt wurde der Partei Bündnis 90/Die Grünen vorgeworfen „in der Regierung erstarrt“, solide, aber langweilig geworden zu sein, sich als Partei überlebt und ihr Profil verloren zu haben. Der Parteienforscher Joachim Raschke, der sich in mehreren umfangreichen Büchern intensiv mit den Grünen beschäftigt hat, stellte der Regierungsarbeit nach zwei Jahren ein vernichtendes Urteil aus. Der Partei fehle eine Regierungskonzeption, sie schwanke zwischen Radikalismus und kleinlautem Realismus, das veraltete Parteiprogramm und die Parteistrukturen seien regierungsuntauglich, ihnen fehle ein strategisches Zentrum. Bereits 2004 befand Raschke, die Partei habe ihre Krise produktiv genutzt und viele der strukturellen Problem behoben oder gemildert, nachdem Fritz Kuhn und Renate Künast Parteivorsitzende geworden waren und die Partei ihre Strukturen reformiert hatte. Die Grünen, so eine weitere Kritik während der rot-grünen Jahre, hätten sich durch eine Abhängigkeit von Joschka Fischer in „einer Art babylonischer Gefangenschaft“ befunden. Fischer war jahrelang der beliebteste deutsche Politiker und hatte die Richtung der grünen Partei maßgeblich beeinflusst. Als weiteres Manko wurde vielfach angeführt, dass die Grünen ein programmatisches Defizit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik hätten.
Niederlagenserie bei Landtagswahlen 1998–2002.
Bündnis 90/Die Grünen verloren bei sämtlichen 14 Landtagswahlen sowie der Europawahl, die in den ersten vier Regierungsjahren stattfanden, nachdem sie bereits im Wahljahr 1998 bei allen vier Landtagswahlen und auch bei der Bundestagswahl selbst Verluste hatten hinnehmen müssen (vgl. Liste der Wahlergebnisse und Regierungsbeteiligungen von Bündnis 90/Die Grünen). Besonders stark waren die Stimmeinbußen gerade in den grünen Hochburgen Hamburg, Bremen, Berlin, Baden-Württemberg und Hessen.
Neues Grundsatzprogramm und innerparteiliche Strukturänderungen.
Insgesamt erlebten die Grünen nach 1998 einen Praxisschock, der ihnen deutlich vor Augen führte, wie fern der Regierungsrealität ihr Programm und ihre innerparteilichen Strukturen waren. Auf die harsche öffentliche Kritik reagierte die Partei noch vor der Bundestagswahl 2002 mit beträchtlichen Kurskorrekturen. Erste Schritte dazu wurden auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster im Juni 2000 unternommen. Zum strategischen Zentrum wurde der Parteirat, nachdem für diesen die Trennung von Amt und Mandat aufgehoben wurde, so dass die wichtigsten Akteure der Bundesregierung, der Fraktion, des Bundesvorstands und der Länder nun ein gemeinsames Gremium hatten. Mit Renate Künast und Fritz Kuhn wurden neue Parteisprecher gewählt. Nachdem Künast in das Bundeskabinett eingetreten war, übernahm Claudia Roth ihre Position.
Im März 2002 wurde nach dreijähriger Debatte das neue Grundsatzprogramm „Die Zukunft ist grün“ beschlossen, das an die Stelle des Bundesprogramms aus dem Jahr 1980 trat. Das Grundsatzprogramm des Jahres 2002 ist homogener, argumentativ ausgefeilter und deutlich weniger systemkritisch, als das antikapitalistisch ausgerichtete von 1980. Zudem kam dem mit 90 Prozent Zustimmung verabschiedeten Grundsatzprogramm innerparteilich eine hohe Integrationsfunktion zu. Mit diesem Programm passten die Grünen ihr Programm der Regierungsrealität an, indem sie sich unter anderem vom strikten Pazifismus früherer Jahre verabschiedeten und völkerrechtlich legitimierte Gewalt gegen Völkermord und Terrorismus nicht länger kategorisch ausschlossen. Auch sozialistisch geprägte Forderungen in der Wirtschaftspolitik sind nicht mehr zu finden.<ref name="Klein/Falter 82">Klein/Falter: "Der lange Weg der Grünen". München 2003, S. 82.</ref>
Die wichtigste Änderung der Parteistrukturen war, dass die strikte Trennung von Parteiämtern und Mandat teilweise aufgehoben wurde, so dass der Bundesvorstand stärker mit der Bundestagsfraktion verzahnt werden konnte. Geändert wurde auch die Wahlkampfstrategie, die sich 2002 erstmals auf ein vollprofessionelles Wahlkampfteam stützte und, ebenfalls zum ersten Mal, auf einen Spitzenkandidat Joschka Fischer hin personalisiert war.
Zweite Amtszeit der rot-grünen Koalition (2002–2005).
Bundestagswahl 2002.
Bei der Bundestagswahl im September 2002 erreichten die Grünen 8,6 Prozent der Stimmen und konnten den Negativtrend mit einem Zugewinn von 1,9 Prozentpunkten umkehren. Damit reichte es erneut für eine Regierungsbildung mit der geschwächten SPD, von der viele Zweitstimmen zu den Grünen gewandert waren. Christian Ströbele, einer der noch verbliebenen linken Grünen in der Bundestagsfraktion, errang dabei in Berlin-Kreuzberg das erste Direktmandat für Bündnis 90/Die Grünen auf Bundesebene.
Die gestärkte Position der Grünen innerhalb der Koalition wurde allerdings dadurch wieder aufgehoben, dass die rot-grüne Bundesregierung seit Mai 2002 gegen die absolute Mehrheit unionsgeführter Länder im Bundesrat regieren musste. So wurden ab dieser Zeit viele Gesetze im Vermittlungsausschuss zwischen SPD und CDU/CSU ausgehandelt, während der Einfluss der Grünen minimiert war.
Anstelle Ludger Volmers wurde Kerstin Müller Staatssekretärin im Außenministerium, Rezzo Schlauch beerbte Margareta Wolf, die ins Umweltministerium wechselte, und Marieluise Beck wurde Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Den Fraktionsvorsitz übernahmen Krista Sager und Katrin Göring-Eckardt.
Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Vor dem Hintergrund eines Haushaltslochs von rund 10 Milliarden Euro und eines daraufhin eingerichteten Untersuchungsausschusses, dem sogenannten Lügenausschuss, verkündete Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung am 14. März 2003 die Agenda 2010. In der Erklärung, die mit den Worten „Wir werden Leistungen des Staates kürzen“ begann, kündigte der Kanzler den Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung an. Die Agenda 2010 wurde von den Grünen mitgetragen. Ein entsprechender Leitantrag wurde auf einem Sonderparteitag im Juni 2003 nach kontroverser Diskussion mit großer Mehrheit angenommen, allerdings unter dem Druck, andernfalls die Koalition platzen zu lassen.
Es zeigte sich, dass die im Kanzleramt konzipierten, höchst unpopulären Reformen vornehmlich die SPD und sehr viel weniger Bündnis 90/Die Grünen belasteten. Die Grünen blieben in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wenig sichtbar, obwohl das Grundsatzprogramm von 2002 auf diesem Gebiet durchaus Akzente gesetzt hatte. So hatte Bündnis 90/Die Grünen eine Bürgerversicherung in die Diskussion eingebracht, die nun aber als Konzept der SPD wahrgenommen wurde. Tatsächlich spielten die Grünen etwa bei der Umsetzung der Hartz-Gesetze keine große Rolle, da diese in den Ausschüssen von einer faktischen großen Koalition aus SPD und CDU verhandelt und verabschiedet wurden und kein von einem grünen Minister geleitetes Ressort damit befasst war.
Weitere Konfliktthemen 2002–2005.
Für Konflikte zwischen SPD und Grünen sorgte eine durch Gerhard Schröder mündlich gegebene Zusage einer Laufzeitverlängerung des Kernkraftwerks Obrigheim sowie ein ebenfalls durch den Bundeskanzler unterstützter geplanter Verkauf der nie in Betrieb genommenen Brennelementefabrik Hanau nach China. Der Konflikt um Obrigheim endete mit einem Kompromiss, der den Grünen weitgehend entgegenkam, der Verkauf nach China kam nicht zustande.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, den Madrider Zuganschlägen im März 2004 sowie den Terroranschlägen im Juli 2005 in London verlagerte sich der innen- und rechtspolitische Fokus auf die Themen Terrorismus und Innere Sicherheit. Verschiedene Eingriffe in die Bürgerrechte wie das Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung oder das Gesetz zur Ausweitung der Genomanalyse waren sehr umstritten. Die Ausweitung von Bürgerrechten wurde in der zweiten Regierungsperiode dagegen nur noch punktuell betrieben, so durch das Informationsfreiheitsgesetz und eine Novelle des Lebenspartnerschaftsgesetzes.
Für die stark von bürgerrechtlichen Traditionen geprägten Grünen bedeutete der Kurswechsel von einem Ausbau der Bürgerrechte hin zu deren stärkerer Restriktion insgesamt eine Zumutung. Angesichts der Unionsmehrheit im Bundesrat hatten sie jedoch wenig Einfluss auf Absprachen zwischen SPD und CDU/CSU, etwa bei den Überarbeitungen am Zuwanderungsgesetz, die statt der ursprünglich vorgesehenen Öffnung für Immigranten nun eher auf die Begrenzung von Einwanderung abzielte, wenig Einfluss. Auch kam es wiederholt zu Reibereien zwischen den Grünen und ihrem einstigen Aushängeschild und nunmehr SPD-Innenminister Otto Schily, die sowohl inhaltliche, als auch persönliche Ursachen hatten.
Auch in der Umweltpolitik kam es während der zweiten rot-grünen Amtszeit zu einer Tempoverlangsamung. Weder bei der Reform der europäischen Chemikaliengesetzgebung, noch bei der Umsetzung des Emissionshandels oder einer weiteren Erhöhung der Ökosteuer kam es zu für die Grünen befriedigenden Ergebnissen.
Zu einem großen Problem für die Grünen entwickelte sich die Visa-Affäre um Missbrauchsfälle bei der Vergabe von Visa in verschiedenen deutschen Botschaften und Konsulaten aufgrund des Volmer-Erlasses. Die Opposition nutzte wenige Monate vor der Bundestagswahl den eingerichteten Untersuchungsausschuss, bei dem mit den Befragungen von Joschka Fischer und Ludger Volmer erstmals eine Sitzung live im Fernsehen übertragen wurde, erfolgreich, die hohe Reputation des Außenministers zu beschädigen.
Öffentliches Bild der Grünen in der zweiten Regierungsperiode.
Wurde die erste Legislaturperiode der rot-grünen Regierung von den deutschen Kriegseinsätzen erschüttert, die vor allem für die Grünen die wohl schlimmsten Konflikte ihrer Geschichte zur Folge hatten, so verlief die zweite Legislaturperiode für Bündnis 90/Die Grünen relativ ruhig. Nun war der Umbau des Sozialstaates das umstrittenste Handlungsfeld der Bundesregierung und dies wurde sehr viel stärker mit den Sozialdemokraten verbunden. Bündnis 90/Die Grünen hatten mit ihren Zugewinnen bei der Wahl die Fortsetzung der Koalition gesichert, Joschka Fischer avancierte über Jahre zum beliebtesten Politiker der Bundesrepublik, die Grünen galten nun als solide Regierungspartei und schwammen bei allen Landtagswahlen dieser Regierungsperiode auf einer Erfolgswelle. In Meinungsumfragen lagen die Grünen konstant um 10 Prozent und fielen erst zurück, als die SPD in einem Schlussspurt vor der Bundestagswahl 2005 stark aufholte.
Dass die Partei gerade in der heftig umstrittenen Wirtschafts- und Sozialpolitik profillos blieb, trug einerseits zur Beruhigung in der und um die Partei bei, sorgte andererseits aber auch dafür, dass sie als zunehmend unbedeutend betrachtet wurde. Die Partei galt nun manchem als in der Regierung erstarrt, ihre Debatten als langweilig.
Landtags- und Europawahlen 2002–2005.
Hatte Bündnis 90/Die Grünen bei allen Wahlen während der Legislaturperiode 1998 bis 2002 Stimmen verloren, so gewannen sie nach der Bundestagswahl bei sämtlichen zehn folgenden Wahlen bis 2005 hinzu. Bei der Europawahl 2004 konnte die Partei mit 11,9 Prozent und einem Zugewinn von 5,5 Prozent den größten Wahlerfolge ihrer bisherigen Geschichte feiern. In den Berliner Bezirken Mitte, Pankow und Friedrichshain-Kreuzberg wurde sie stärkste Partei. In einigen Stadtteilen von Großstädten wie zum Beispiel in St. Pauli in Hamburg oder in Berlin-Kreuzberg erreichten sie mit 57,8 Prozent beziehungsweise 52 Prozent die absolute Mehrheit. In Hamburg kamen sie landesweit deutlich über die Marke von 20 Prozent.
Bei den Landtagswahlen am 19. September 2004 in Sachsen erreichten die Grünen 5,1 Prozent und zogen damit das erste Mal seit 1998 wieder in ein Landesparlament auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein. Bei den zeitgleichen Wahlen in Brandenburg verfehlte die Partei trotz Stimmenzuwächsen den Wiedereinzug ins Landesparlament. 1998 waren die Grünen auch in Sachsen-Anhalt an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, nachdem sie schon vorher aus den anderen ostdeutschen Landesparlamenten gefallen waren.
Erst bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Februar 2005 stagnierten die Grünen und schieden aus der Regierung aus, nachdem Heide Simonis nicht als Ministerpräsidentin bestätigt wurde. Bei den Landtagswahlen am 22. Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen verloren die Grünen 0,9 Prozentpunkte. Da die SPD Stimmenverluste hinnehmen musste, führt dies zum Ende der vorerst letzten rot-grünen Landesregierung.
Neuwahlen und Oppositionspartei im Bundestag (seit 2005).
Erste Wahlperiode in der Opposition (2005–2009).
Die verlorene Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nahm Gerhard Schröder zum Anlass, um ein Jahr vorgezogene Neuwahlen anzustreben und die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen. Presseberichten zufolge fiel die Entscheidung, Neuwahlen anzustreben, durch eine Absprache zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering, an der die Grünen im Vorfeld nicht direkt beteiligt waren. Joschka Fischer berichtete in seinen Memoiren, Schröder habe ihm nur einmal im April angedeutet, er erwäge im Fall einer Wahlniederlage in NRW Neuwahlen, und ihn dann unmittelbar vor deren Ankündigung durch Müntefering telefonisch unterrichtet.
Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2005 gingen Bündnis 90 und SPD auf Distanz zueinander. Eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition erschien aufgrund der Umfragen unwahrscheinlich. Dazu kamen auf beiden Seiten zunehmende inhaltliche, strategische und persönliche Konflikte. Bei der Bundestagswahl verlor Bündnis 90/Die Grünen, auch wegen der fehlenden Machtoption, gegenüber der letzten Bundestagswahl leicht. Auch wenn die SPD weniger Stimmenverluste als erwartet zu verkraften hatte und CDU/CSU deutlich hinter ihren Erwartungen zurückblieb, konnte die rot-grüne Bundesregierung wie erwartet nicht weiterregieren.
Mit dem Ausscheiden aus der Bundesregierung waren die Grünen bis zur Bürgerschaftswahl in Bremen im Mai 2007, welche in die Bildung einer rot-grünen Koalition (der ersten Neuauflage von Rot-Grün auf Landesebene) mündeten, weder in der Bundes- noch in einer Landesregierung vertreten.
Durch das Bundestagswahlergebnis erhielt die Debatte über Koalitionen zwischen Bündnis 90/Die Grünen und den Unionsparteien auf Landes- oder Bundesebene neuen Aufschwung. Schwarz-Grüne Koalitionen auf kommunaler Ebene gab und gibt es rund ein Dutzend, darunter in Köln und Kiel, die beide gescheitert sind.
2008 ging die Partei in Hamburg das erste schwarz-grüne Bündnis auf Landesebene ein, welches 2010 nach dem Rücktritt von Ole von Beust (CDU) scheiterte.
Im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 erzielte Bündnis 90/Die Grünen mehrere Wahlerfolge, die dazu führten, dass sie in Thüringen und Brandenburg in den Landtag zurückkehren konnte. Im selben Jahr gingen die Grünen im Saarland die bundesweit erste Jamaikakoalition ein.
Zweite Wahlperiode in der Opposition (2009–2013).
Obwohl die Partei 2009 bei der Bundestagswahl auf 10,7 Prozent der Stimmen kam, verblieb sie auf Grund des schwachen Abschneidens der SPD und der Mehrheit für CDU/CSU und FDP in der Opposition.
2011 kehrte sie in die Landtage von Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz zurück. Als sie im selben Jahr erstmals in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern einziehen konnte, waren die Grünen erstmals in allen 16 Landtagen gleichzeitig vertreten.
Ihren größten Erfolg erzielte Bündnis 90/Die Grünen bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März 2011. Die Grünen landeten auf dem zweiten Platz. Zusammen mit der SPD schafften sie es, die CDU-FDP-Koalition unter Stefan Mappus abzulösen. Mit Winfried Kretschmann wurde erstmals ein Grünenpolitiker Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes.
Seit 2013.
Vor der Bundestagswahl 2013 bestimmte Bündnis 90/Die Grünen als erste Partei ihre Spitzenkandidaten durch eine Urwahl. Bei der Wahl des quotierten Spitzenduos im Oktober 2012 setzten sich Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt gegen Renate Künast, Claudia Roth sowie elf Basisvertreter durch. Die Wahlbeteiligung lag bei 61,7 Prozent
Während Beobachter nach der Urwahl noch von einer möglichen Öffnung zur Union ausgingen, wurde mit der Verabschiedung des Wahlprogramms im April 2013 ein deutlicher Linksruck der Partei und eine Positionierung klar links von der SPD konstatiert. Im Juni 2013 wurde in einem weiteren Mitgliederentscheid darüber abgestimmt, welche zehn Themen bei der Bundestagswahl ins Zentrum des Wahlkampfes gestellt werden sollten (Ergebnis siehe Wahlprogramm).
Stark negativ beeinflusst wurde der Wahlkampf von einer im Mai 2013 begonnenen Debatte über die Rolle pädophiler Gruppen in der Partei sowie einer Kontroverse um den im Wahlprogramm der Grünen erwähnten Veggietag. Der Parteivorstand reagierte auf die öffentliche Diskussion, indem er den Politikwissenschaftler Franz Walter im Juni 2013 mit einer Studie zur Pädophilenbewegung beauftragte. Im November 2014 wurde diese Studie veröffentlicht. 2015 beschloss der Bundesvorstand der Partei, an drei betroffene Missbrauchsopfer „eine Zahlung in Anerkennung des ihnen zugefügten schweren Leides“ als Entschädigung zu leisten.
Bei der Wahl zum Deutschen Bundestag am 22. September 2013 verlor die Partei im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 2,3 Prozentpunkte und erzielte 8,4 Prozent der Stimmen. Damit wurde das Ziel einer Regierungsbildung mit der SPD verfehlt. Anschließend kam es zu einem personellen Umbruch an der Parteispitze. Simone Peter wurde neue Parteivorsitzende neben Cem Özdemir, den Fraktionsvorsitz übernahmen Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, neuer politischer Geschäftsführer wurde Michael Kellner. Auch strategisch richtete sich die Partei neu aus und definierte sich nicht mehr als natürlicher Koalitionspartner der SPD in einem linken Lager, sondern eher als „Scharnierpartei“, die sowohl für rot-grün-rote als auch für schwarz-grüne Koalitionen grundsätzlich offen ist. Maßstab für Koalitionsentscheidungen sollte stärker als bisher die Durchsetzung der eigenen umwelt- und energiepolitischen Inhalte sein.
Gleichzeitig mit der Bundestagswahl fand die Landtagswahl in Hessen statt, nach der die zweite Koalition zwischen CDU und Grünen gebildet wurde (Kabinett Bouffier II). Bei der Europawahl am 25. Mai 2014 erhielt Bündnis 90/Die Grünen 10,7 Prozent der Stimmen und damit elf Sitze im Europaparlament. Mit diesem Ergebnis musste die Partei leichte Verluste von 1,4 Prozentpunkten gegenüber der Wahl von 2009 hinnehmen.
Bei den Landtagswahlen am 13. März 2016 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zeigte sich ein differenziertes Bild: In Baden-Württemberg wurde die Partei erstmals bei einer Landtagswahl stärkste Kraft und erreichte das Niveau einer Volkspartei, während sie in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Verluste erlitt. Bündnis 90/Die Grünen ist in Rheinland-Pfalz aber weiter in der Regierung vertreten und in Sachsen-Anhalt neu in die Landesregierung eingetreten.
Literatur.
Parteiprogramme
Roman |
543 | 1102932 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=543 | Basilikum | Das Basilikum ("Ocimum basilicum"), auch Basilie, Basilienkraut oder Königskraut genannt, ist eine Gewürzpflanze aus der gleichnamigen Gattung Basilikum ("Ocimum") in der Familie der Lippenblütler.
Beschreibung.
Vegetative Merkmale.
Die verschiedenen Kulturformen unterscheiden sich in Blattfarbe, Größe, Aroma, Wachstumsart und Ansprüchen. Basilikum wird in den gemäßigten Breiten meist als einjährige Pflanze kultiviert. Es ist eine aufrecht wachsende, einjährige bis ausdauernde krautige Pflanze, die Wuchshöhen von 20 bis 60 Zentimetern erreicht. Alle Pflanzenteile duften aromatisch. Stängel, Blütenhüllblätter und oft die Laubblätter sind behaart (Indument). Die kreuzgegenständigen Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die kurzen Blattstiele weisen eine Länge von 5 bis 20 Millimeter auf. Die einfache Blattspreite ist oft eiförmig mit einer Länge von 1,5 bis 5 Zentimetern sowie einer Breite von 0,8 bis 3,2 Zentimetern. Der Blattrand ist glatt.
Generative Merkmale.
Die Blütezeit reicht hauptsächlich von Juni bis September. Der vielblütige ährige Blütenstand enthält auch zwei- bis dreiblütige Zymen. Der Blütenstiel ist 2,5 Millimeter lang.
Die zwittrige Blüte ist zygomorph und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Die fünf Kelchblätter sind glockenförmig verwachsen und weisen die gleiche Farbe wie die Laubblätter auf. Der Kelch ist während des Blühvorgangs (Anthese) 1,5 bis 3 Millimeter lang und vergrößert sich bis zur Fruchtreife auf etwa 9 Millimeter. Die fünf Kronblätter sind zu einer 8 bis 9 Millimeter langen Krone verwachsen. Die Kronröhre weist eine Länge von etwa 3 Millimeter auf. Die breite, mehr oder weniger flache Oberlippe ist vierlappig, etwa 3 Millimeter lang und etwa 4,5 Millimeter breit. Die Unterlippe ist etwa 6 Millimeter groß. Es sind zwei ungleiche Paare von Staubblättern vorhanden, die mit der Krone verwachsen sind, aber untereinander frei sind. Die Staubbeutel öffnen sich mit einem Längsschlitz. Der Fruchtknoten ist oberständig. Der Griffel endet in einer zweilappigen Narbe.
Die Frucht ist 1,5 bis 2 Millimeter lang und vom vergrößerten Kelch eingehüllt.
Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 48.
Inhaltsstoffe.
Gehalt und Zusammensetzung des ätherischen Öls sind je nach Sorte, Herkunft und Erntezeitpunkt stark unterschiedlich. Der Gehalt schwankt zwischen 0,04 und 0,70 %, wobei das Deutsche Arzneibuch einen Mindestgehalt von 0,4 % vorschreibt (bezogen auf die Trockensubstanz). Die wichtigsten Bestandteile des ätherischen Öls sind dabei Linalool mit bis zu 85 % Anteil, Estragol mit bis zu 90 % und Eugenol mit bis zu 20 %. Daneben sind eine Reihe weiterer Inhaltsstoffe, wie Monoterpene (z. B. Citral, Limonen, Geraniol, Borneolacetat, α-Terpinylacetat, Ocimen und 1,8-Cineol), Sesquiterpene (wie Citronellol, δ-Cadinen und β-Caryophyllen) und Phenylpropane (wie Methyleugenol und Zimtsäuremethylester) enthalten. Außer ätherischem Öl sind noch Gerbstoffe, Flavonoide, Linolensäure, Kaffeesäure und Äsculosid in nennenswerten Mengen enthalten. Das Bundesinstitut für Risikobewertung warnt vor im Basilikum enthaltenen Estragol und Methyleugenol, die in hohen Dosen als krebserregend gelten.
Basilikum besitzt einen Nährwert von knapp 100 kJ je 100 Gramm, an dem Eiweiß und Kohlenhydrate den größten Teil ausmachen. Es enthält eine hohe Menge an Vitamin K und ist reich an Mineralstoffen, darunter Eisen, Mangan und Kupfer.
Verbreitung.
Das natürliche Verbreitungsgebiet des Basilikums umfasst das tropische und subtropische Asien.
Systematik.
Der Artname "Ocimum basilicum" wurde 1753 durch Carl von Linné in "Species Plantarum" erstveröffentlicht.
Basilikum wird in zwei Unterarten gegliedert, daneben gibt es noch andere Unterteilungen in verschieden viele Varietäten:
Es gibt mehrere Varietäten (Auswahl):
Es gibt eine Anzahl von Sorten, die sich in Größe, Blattform, Blattfarbe und Duft unterscheiden. 'Opal' ist eine rotblättrige Sorte. Häufig angebaute Sorten sind 'Großes Grünes', 'Genoveser' und 'Opal'. Die Sorte 'Cinnamon' hat einen zimtartigen Duft und wird auch Zimtbasilikum genannt. Die Sorte 'Lemon' oder Zitronenbasilikum hat einen zitronen-thymian-ähnlichen Duft.
"Ocimum basilicum" var. "thyrsiflora" ist als Thai-Basilikum bekannt, jedoch werden auch Zitronenbasilikum sowie indisches Basilikum so genannt.
Busch- oder Zwergbasilikum ist eine nur 15 cm hohe Zierform.
Das lateinische Art-Epitheton "basilicum" (griechisch-lateinisch "basilicon") geht wie lateinisch "basilicus" auf das griechische Wort für „königlich“ zurück und deutet an, dass das Basilikum als königliches Gewürz angesehen wurde. Weitere deutsche Bezeichnungen für Basilikum sind Basilienkraut, Königskraut, Josefskraut, Suppenbasil, Braunsilge und Deutscher Pfeffer. Zum auf den griechisch-lateinischen Pflanzennamen "Ocimum" (für "Ocimum basilicum"; griechisch ὣκιμμονν) zurückgehenden Gattungsnamen siehe Basilikum (Gattung).
Herkunft.
Die Herkunft des Basilikums ist heute nicht mehr feststellbar. Als Herkunftsgebiet wird Nordwest-Indien vermutet. In Vorderindien wurde Basilikum bereits rund 1000 v. Chr. als Gewürz-, Heil- und Zierpflanze kultiviert. Funde in Pyramiden belegen den Anbau in Ägypten bereits im Altertum. Die Bezeichnung des Basilienkraut (siehe dazu auch den Gattungsartikel) ist als "Basilicum" latinisiert aus dem Griechischen "basilicon" (später auch "basylicon" geschrieben) übernommen. In Griechenland gibt es bis heute zahlreiche Volkssagen um das Basilikum und dessen Herkunft. Neben der griechischen wird Basilikum traditionell auch in der italienischen Küche häufig verwendet.
Nach Deutschland dürfte das Basilikum im 12. Jahrhundert n. Chr. gekommen sein.
Kultivierung.
Anbau und Ernte.
Der Anbau erfolgt großteils in subtropischen Gebieten, aber auch in den Tropen und gemäßigten Breiten. Basilikum wird im Freiland wie im Gewächshaus angebaut. Es wird als Topf- und Bundware angebaut. Im Freiland benötigt Basilikum lockere, wasserdurchlässige, sich gut erwärmende Böden. Der Boden-pH-Wert liegt optimalerweise zwischen 6,5 und 7,2. Basilikum ist eine wärmebedürftige Pflanze, unter 12 °C findet praktisch kein Wachstum statt, dafür steigt der Pilzbefall stark an. In Deutschland kommt Freilandware zwischen etwa Ende Juni und Anfang Oktober auf den Markt, Gewächshausware das ganze Jahr. Für die Sortierung wie die Verpackung gibt es keine speziellen Vorschriften. Bundware sind häufig 30 bis 40 g schwere, in Folie verpackte Bunde. Im Gewächshaus wird vor allem Topfware angebaut. Die Kultur dauert zwischen 40 Tagen im Sommer und 80 bis 100 Tagen im Winter. Aber auch als Topfpflanze ist es gut haltbar.
Abgeschnittene Triebe, welche in Wasser gestellt werden, bilden nach wenigen Wochen neue Wurzeln aus. Auf diese Weise kann Basilikum auch in Privathaushalten günstig und ohne großen Aufwand vermehrt werden. Basilikum kann ab 12 °C Außentemperatur problemlos im Freien angebaut werden. Bei entsprechendem Licht, wobei im Sommer Halbschatten bevorzugt wird, wächst die Pflanze krautig und ist auch wesentlich beständiger als Basilikum als Topfpflanze im Gebäude. Das im Einzelhandel erhältliche Basilikum ist eine im Treibhaus gezogene Jungpflanze, die sehr dicht und eng in einem stark durchwurzelten Plastiktopf vertrieben wird und nicht als Zimmerpflanze gedacht ist. Dieses Basilikum ist nur für den schnellen Verzehr geeignet und erleidet beim Transport durch unzureichende Lichtverhältnisse, durch wenig Nährstoffe und niedrige Temperaturen eine Schwächung. Daher sollten die Pflanzen vereinzelt und mit ausreichendem Platz für eine intensive Bewurzelung in ein neues Pflanzgefäß umgetopft werden, wo sie erst im Freien ihre Robustheit entwickeln kann. Neben dem Auspflanzen ganzer Pflanzen kann Basilikum auch ausgesät oder durch Bilden von Wurzeln in einem mit Wasser gefüllten Gefäß gezogen werden.
Krankheiten und Schädlinge.
Bedeutendste Virenerkrankung ist das von Blattläusen übertragene Luzernemosaikvirus ("Alfalfa mosaic virus" (AMV)), das Blattvergilbungen auslöst. Bei den Pilzerkrankungen steht die Blattfleckenkrankheit (ausgelöst durch "Septoria"-Arten) an erster Stelle, die während Regenperioden auftritt. Daneben ist im Freiland wie im Gewächshaus die Fusarium-Welke ("Fusarium oxysporum") von Bedeutung. An tierischen Schädlingen sind solche von Bedeutung, die an den Blättern fressen: Zwergzikaden, Raupen der Ampfereule ("Acronycta rumicis"), Gemeine Wiesenwanzen ("Lygus pratensis") und Schnecken. Geschwächte Pflanzen können unter einem starken Blattlausbefall, vor allem an den jungen Trieben, leiden.
Verwendung.
Küche.
Die frischen wie die getrockneten Blätter werden als Küchengewürz verwendet. Basilikum ist in der südeuropäischen, besonders der italienischen Küche eines der meist verwendeten Gewürze. Beim Trocknen ergeben sich allerdings Verluste des Aromas. Basilikum wird auch in der Fleischkonservenindustrie verwendet. Basilikummazerat und -destillat sind Bestandteil mancher Kräuterliköre. Das ätherische Öl wird in der Kosmetikindustrie für Duftmischungen eingesetzt. Das feine Aroma der Blätter passt hervorragend zu Tomaten. Basilikum ist fast immer Bestandteil des Pestos und unverzichtbar für die traditionelle neapolitanische Pizza.
Aufgequollene Samen (Basil seeds) werden, ähnlich wie Mexikanische Chia, in manchen Modegetränken verwendet.
Medizinische Bedeutung.
Seit dem Altertum wird Basilikum in der Heilkunde verwendet. So wurde die Pflanze eingesetzt bei der Therapie von Kopfschmerzen und Tränenfisteln.
Die pharmazeutische Droge wird als "Basilici herba" (lat.: "des Basilikums Kraut") bezeichnet. Basilikum wird in der Volksmedizin, vor allem im mediterranen Raum, bei Appetitlosigkeit (Stomachikum), bei Blähungen und Völlegefühl (Karminativum) und seltener als Diuretikum, Laktagogum und bei Rachen-Entzündungen zum Gurgeln eingesetzt.
Das ätherische Öl besitzt anthelmintische (entwurmende) und antiphlogistische (entzündungshemmende) Eigenschaften und hemmt die Bildung von Magengeschwüren.
Es sind zwar bei Einnahme therapeutischer Dosen keine Nebenwirkungen bekannt, jedoch wird aufgrund des Gehaltes an Estragol eine arzneiliche Anwendung für nicht vertretbar angesehen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung stellte 2002 im Tierversuch fest, dass Estragol karzinogene Wirkungen und in In-vitro- und in In-vivo-Untersuchungen genotoxische Effekte zeigen, wobei die Datenlage für eine endgültige wissenschaftliche Bewertung unzureichend ist. Die Kommission E kam zu folgender Beurteilung: "Da die Wirksamkeit bei den beanspruchten Anwendungsgebieten nicht belegt ist und aufgrund der Risiken kann eine therapeutische Anwendung nicht vertreten werden. Gegen die Verwendung als Geruchs- und Geschmackskorrigens bis 5 % in Zubereitungen bestehen keine Bedenken." |
544 | 115481 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=544 | Beifuß | Der Gemeine Beifuß ("Artemisia vulgaris"), auch Gewürzbeifuß oder Gewöhnlicher Beifuß genannt, ist eine Pflanzenart aus der Gattung "Artemisia" in der Familie der Korbblütler (Asteraceae).
Beschreibung.
Die ausdauernde krautige Pflanze erreicht Wuchshöhen von 60 Zentimeter bis zu 2 Meter. Die meist aufrechten Stängel sind höchstens spärlich behaart. Die fiederteiligen Laubblätter sind derb, meist 2,5 bis 5 (selten bis zu 10) Zentimeter lang und 2 bis 3 Zentimeter breit. Die Blattoberseite ist grün, die Unterseite weißfilzig.
In endständigen, rispigen Blütenständen stehen viele körbchenförmige Teilblütenstände zusammen. Die unscheinbaren, weißlich-grauen, gelblichen oder rotbraunen Blütenkörbchen weisen eine Höhe von 2,5 bis 3,8 Millimeter und einen Durchmesser von 2 bis 3 Millimeter auf. Die Blütenkörbchen enthalten nur fertile, radiärsymmetrische Röhrenblüten, außen sieben bis zehn weibliche und innen (selten fünf bis) acht bis 20 zwittrige. Die eiförmigen Hüllblätter sind filzig behaart. Die gelblichen bis rötlich-braunen Röhrenblüten sind 1 bis 3 Millimeter lang.
Die glatten, dunkelbraunen bis schwarzen, ellipsoiden Achänen sind 0,5 bis 1 Millimeter lang und 0,1 bis 0,3 Millimeter breit.
Die Blütezeit erstreckt sich von Juli bis September. Die Fruchtreife beginnt ab September.
Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 18, 36, 40 oder 54.
Verwechslungsmöglichkeiten.
Die Blätter des hochgiftigen Blauen Eisenhuts weisen eine gewisse Ähnlichkeit auf. Im Gegensatz zu den Beifußblättern sind sie an der Unterseite allerdings nicht weißfilzig. Das Beifußblättrige Traubenkraut ("Ambrosia artemisiifolia") ähnelt ebenfalls dem Beifuß.
Ökologie.
Der Beifuß ist ein ausdauernder, kurzlebiger Hemikryptophyt, er wurzelt 60 bis 155 mm tief.
Die Blüten unterliegen der Windbestäubung, die Pollenfreisetzung erfolgt morgens zwischen 6 und 11 Uhr; er blüht schon im ersten Lebensjahr.
Die Früchte sind nur 1,5 Millimeter lange und 0,1 mg schwere, kahle Achänen ohne Pappus, ihre Hüllblätter bilden eine Kapsel, die sich bei Trockenheit öffnet und durch den Wind ausgestreut wird. Daneben erfolgt eine Bearbeitungsausbreitung z. B. durch Kleinvögel. Die ganze Pflanze kann pro Jahr bis zu 500.000 Früchte produzieren. Die Samen sind langlebige Lichtkeimer.
Der blühende Beifuß ist ein bedeutender Auslöser für Heuschnupfen.
Die Pflanze dient zahlreichen mehr oder weniger spezialisierten Insektenarten als Nahrung. Darunter befinden sich der Gefleckte Langrüssler ("Cyphocleonus dealbatus"), der Wermut-Zahnrüssler ("Baris artemisiae") und der Beifuß-Mönch ("Cucullia absinthii").
Vorkommen.
"Artemisia vulgaris" kommt vermutlich wild in Europa, den gemäßigten Gebieten Asiens und in Nordafrika vor. In Nordamerika und Grönland ist "Artemisia vulgaris" ein Neophyt.
Der Beifuß ist ein typisches „Hackfrucht-Unkraut“ und verbreitete sich vermutlich zusammen mit dem neolithischen Ackerbau. In Mitteleuropa findet er sich seit der Bandkeramik. Die ursprüngliche Verbreitung des Beifußes ist heute nicht mehr zu bestimmen, nachdem er durch den Menschen über fast alle nördlichen Gebiete der Erde verbreitet wurde.
Der Beifuß ist in allen Bundesländern Österreichs und Deutschlands häufig anzutreffen. In den Allgäuer Alpen steigt er auf der Haldenwanger Alpe beim Geißhorn in Bayern bis zu einer Höhenlage von 1650 Metern auf.
Auf nährstoffreichen Böden, vor allem Ruderalfluren kommt der Beifuß wild vor. "Artemisia vulgaris" ist eine Charakterart der Klasse Artemisietea.
Der Anbau zur Gewinnung von Öl für die Parfümindustrie findet in Nordafrika (Algerien, Marokko) und Südeuropa (Frankreich, Balkan) statt.
Taxonomie.
"Artemisia vulgaris" wurde 1753 von Carl von Linné in "Species Plantarum" erstveröffentlicht. Synonyme für "Artemisia vulgaris" sind "Artemisia opulenta" , "Artemisia samamisica" und "Artemisia superba"
Inhaltsstoffe.
Vom Beifuß gibt es eine europäische ("Artemisia vulgaris" var. "vulgaris") und eine asiatische Varietät ("Artemisia vulgaris" var. "indica"), die sich in der Zusammensetzung des ätherischen Öls unterscheiden. Die Zusammensetzung variiert jedoch auch schon lokal stark.
Die wichtigsten Inhaltsstoffe im Kraut des Beifußes sind die Sesquiterpenlactone, die für den bitteren Geschmack verantwortlich sind, und bis zu 0,2 % komplex zusammengesetztes ätherisches Öl. Der Beifuß enthält folgende Stoffklassen/Stoffe:
Nutzung.
Die Erntezeit reicht von Juli bis Oktober. Solange die Blütenkörbchen noch geschlossen sind, schneidet man die oberen Triebspitzen ab. Sobald sich diese öffnen, werden die Blätter bitter und eignen sich nicht mehr zum Würzen. Die Erntezeit für die Wurzel ist der Spätherbst.
Beifuß gehört zu den traditionellen Grutbier-Kräutern und wird als Gewürzpflanze zu fetten, schweren Fleischgerichten benutzt. Die enthaltenen Bitterstoffe regen die Bildung von Magensaft und Gallenflüssigkeit an und unterstützen so die Verdauung. Durch Wasserdampfdestillation wird aus den getrockneten Pflanzen Parfümöl („Essence d’Armoise“) gewonnen.
Beifuß wird auch phytotherapeutisch eingesetzt. Einige Inhaltsstoffe (beispielsweise Thujon) sind giftig und machen längere Anwendungen oder hohe Gaben bedenklich. Wegen der Giftigkeit seiner ätherischen Öle wird vor der Verwendung des Beifuß in der Aromatherapie gewarnt. Die Droge nennt man "Artemisiae herba" oder "Herba Artemisiae", es sind die getrockneten, während der Blütezeit gesammelten Stängelspitzen mit den Blütenkörbchen. In der traditionellen chinesischen Medizin findet er Verwendung in der Moxa-Therapie.
Name.
Der deutsche Name Beifuß (althochdeutsch pīpōʒ, mittelhochdeutsch bībuoʒ, bībōz) wird von dem althochdeutschen Verb bōʒen „stoßen, schlagen“ abgeleitet. Der Zusammenhang ist unklar, gegebenenfalls besteht er darin, dass die Blätter zur Verwendung gestoßen wurden oder aufgrund der ihnen nachgesagten abstoßenden (apotropäischen) Wirkung auf sogenannte dunkle Mächte. Verwandt ist auch Amboss.
Die volksetymologische Umdeutung zu Fuß (sichtbar bereits an der mittelhochdeutschen Nebenform bīvuoʒ) steht in Zusammenhang mit einem Aberglauben, wonach Beifuß beim Laufen Ausdauer und Geschwindigkeit verleihen würde, wie bereits Plinius berichtete.
Weitere deutschsprachige Trivialnamen sind Besenkraut, Fliegenkraut, Gänsekraut, Johannesgürtelkraut, Jungfernkraut, Sonnenwendkraut, Weiberkraut, Wilder Wermut oder Wisch. Im deutschsprachigen Raum werden oder wurden für diese Pflanzenart, zum Teil nur regional, auch die folgenden weiteren Trivialnamen verwandt: Beifess (Siebenbürgen), Beipes (Erzgebirge), Beiposs (mittelhochdeutsch), Beiras (mittelhochdeutsch), Beivoss, Beiweich (mittelhochdeutsch), Bibes (althochdeutsch), Biboess (mittelhochdeutsch), Bibot (Altmark, althochdeutsch), Biboz, Bibs (Inselsberg), Bibus (mittelhochdeutsch), Biefes (Eifel, Altenahr), Bifaut (Pommern), Bifood (Holstein), Bifoss (mittelniederdeutsch), Bifot (Pommern, Mecklenburg), Bigfood (Holstein), Bivoet, Bivuz (mittelhochdeutsch), Biwes (Ruhla), Bletechan (mittelhochdeutsch), Buchen (mittelhochdeutsch), Buck, Buckela (Bern), Bucken, Budschen, Bugel (mittelhochdeutsch), Bugga (mittelhochdeutsch), Bugge (mittelhochdeutsch), Buggel (mittelhochdeutsch), Buggila (mittelhochdeutsch), Bybot (mittelniederdeutsch), Byfas (mittelniederdeutsch), Byfass (mittelniederdeutsch), Byfoss (mittelniederdeutsch), Byfus, Byssmolte (mittelhochdeutsch), Byvoet (mittelniederdeutsch), Bywt, Flegenkraut (Altmark), Gänsekraut (Schlesien), Gurtelkraut (mittelhochdeutsch), Hermalter (mittelhochdeutsch), Himmelker (mittelhochdeutsch, bereits um 1519 erwähnt), Himmelskehr, St. Johannisgürtel (Österreich, Schweiz), St. Johanniskraut (Vorarlberg), Jungfernkraut (Altmark), Männerkrieg, Magert (Bremen), Melcherstengel (Augsburg), Müggerk (Ostfriesland, Oldenburg), Muggart, Muggerk (Oldenburg), Muggert (Ostfriesland), Mugwurz, Muterkraut, Muzwut, Peifos, Peipoz, Pesenmalten (mittelhochdeutsch), Pesmalten, Peypoz (althochdeutsch), Pipoz (althochdeutsch), Puckel (mittelhochdeutsch), Puggel (mittelhochdeutsch), Gross Reinfarn (mittelhochdeutsch), Reynber (mittelhochdeutsch), Rotbuggele (Schweiz), Siosmelta (althochdeutsch), Schossmalten (Salzburg, Linz), Sonnenwendel, Sonnenwendgürtel, Sunbentgürtel, Sunibentgürtel (mittelhochdeutsch), Suniwendgürtel (mittelhochdeutsch), Sunnenwendelgürtel, Weiberkraut, Weibpass (mittelhochdeutsch), Wermet (Bern), Wermut (mittelhochdeutsch), Wipose (mittelhochdeutsch), Wisch (Eifel) und Wil Wurmbiok (Wangerooge).
Die ukrainische Bezeichnung von Beifuß ist Tschornobyl oder Tschornobylnyk (Чорнобиль, Чорнобильник), nach der eine dortige Stadt und das havarierte Atomkraftwerk benannt wurden.
Geschichte.
Unklar bleibt zuweilen, welche Pflanzen-Arten in den Heilpflanzen-Büchern der antiken und mittelalterlichen Autoren mit den Namen „Artemisia“, „Biboz“, „Peipoz“, „Peyfues“ und „Bucken“ gemeint waren. In Frage kommen neben Artemisia vulgaris in der Antike vor allem Artemisia campestris und Artemisia arborescens sowie Artemisia maritima. Durch Abbildung und Beschreibung wurde diesen Namen erst ab der Wende vom 15. zum 16. Jh. die Pflanzen-Art Beifuß ("Artemisia vulgaris") sicher zugeordnet.
Als „Mutter der Kräuter“ ("mater herbarum") bezeichnet (Macer floridus 11. Jahrhundert), galt der Beifuß als Hauptmittel zur Behandlung von Frauenkrankheiten. In zweiter Linie sollte er Verdauungsstörungen und Harnstauung heilen.
Beifuß sowie mit Beifuß gewürztes Bier galten im späten 18. Jahrhundert als der weiblichen Gesundheit in Bezug auf Fruchtbarkeit, Menstruation und Geburt förderlich. Auch sollte es bei Nieren- und Blasensteinen Heilung verschaffen.
Beifuß in Ritus und Mythologie.
Nach Plinius sollten Wanderer, die „Artemisia“ bei sich tragen, auf der Reise nicht müde werden.
Das erste Kräuterbuch in deutscher Sprache, das in der ersten Hälfte des 12. Jh. geschriebene Prüller Kräuterbuch, beschrieb die rituelle Verwendung von Beifußkraut in der Geburtshilfe:
Im Deutschen Macer (13. Jh.) wurde zwischen einem Beifuß mit rotem Stiel und einem Beifuß mit weißem Stiel unterschieden. Die Blätter des rotstieligen Beifuß, nach unten abgestreift, sollten bei verspäteter Menstruation helfen, die des weißstieligen, nach oben abgestreift, bei zu lange dauernder Menstruation.
Besondere Beziehung sollte der Beifuß zur Sommer-Sonnenwende haben. Daher rühren seine Benennungen „Sunbent Gürtel“, „Sant Johans Kraut“ und „Himmelker“. Umgürtet mit einem Kranz aus Beifuß wurde das Johannisfeuer umtanzt. Dieser Kranz wurde anschließend „zusammen mit allen Anfeindungen“ ins Feuer geworfen.
Das Beifuß-Kraut wurde in früheren Zeiten in Mitteleuropa zur Sommer- und Wintersonnenwende (vor allem in den zwölf Rauhnächten) zusammen mit anderen getrocknetenen Kräutern zur Abwehr von bösen Geistern in Häusern und Ställen als Räuchermittel genutzt. Der Ursprung dieses Brauchtums liegt vermutlich in alten kultischen Handlungen der Germanen.
Der Beifuß ist das erste der neun Kräuter in dem altenglischen Text Nine Herbs Charm, Näheres siehe dort.
Beifuß galt im Mittelalter als sehr wirksames Mittel gegen und für Hexerei. Beigemischt war es Bestandteil vieler sogenannter magischer Rezepturen. Am Dachfirst mit den Spitzen nach unten geheftet, wehrt Beifuß angeblich Blitze ab und hält Seuchen fern. Ähnliches gilt für die "Thorellensteine" oder auch "Narrenkohle" genannt, die man dem Glauben nach am Johannestag an den Wurzeln der Pflanze findet.
Beifußwurzeln gegen Epilepsie.
Im 19. Jh. (1824 – ca. 1900) wurden Beifußwurzeln im deutschsprachigen Raum zur Behandlung der Epilepsie eingesetzt.
Im Bundesanzeiger Nr. 122 vom 6. Juli 1988 veröffentlichte die Kommission E des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes eine (Negativ-)Monographie über Beifuß-Kraut und Beifuß-Wurzel. Darin wird eine therapeutische Anwendung nicht empfohlen. |
545 | 2528800 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=545 | Bohnenkräuter | Die Bohnenkräuter ("Satureja") sind eine Pflanzengattung innerhalb der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae).
Beschreibung.
Vegetative Merkmale.
Die Bohnenkraut-Arten sind zweijährige oder ausdauernde krautige Pflanzen oder Zwergsträucher. Die Stängel sind meist aufrecht. Die Blätter sind lineal bis schmal-lanzettlich, der Blattrand ist ganzrandig oder trägt seichte Zähne. Meist sind die Blätter nicht in Stängel- und Hochblätter differenziert.
Generative Merkmale.
Die Blüten stehen in lockeren bis dichten, dann jedoch armblütigen Teilblütenständen. Die zwittrigen Blüten sind zygomorph und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Der Kelch ist röhren- bis glockenförmig, etwas undeutlich 10- (selten bis 13-)nervig und hat fünf fast gleiche Zähne, selten ungleiche. Der Kelchschlund ist meist behaart. Die Krone ist zweilippig mit gerader Kronröhre. Die Farbe reicht von violett über rötlich bis weißlich. Die Oberlippe ist flach und ganzrandig oder ausgerandet. Die Unterlippe besteht aus drei Lappen, die meist abgerundet sind. Von den vier fruchtbaren Staubblättern sind zwei länger, zwei kürzer. Sie liegen der Oberlippe mehr oder weniger an und sind gebogen. Sie sind – wie auch der Griffel – kürzer oder nur ein wenig länger als die Oberlippe. Die Griffeläste sind annähernd gleich lang.
Die Teilfrüchte sind eiförmig und leicht behaart.
Systematik und Verbreitung.
Die Gattung "Satureja" wurde 1753 durch Carl von Linné aufgestellt. Als Lectotypusart wurde durch Nathaniel Lord Britton und A. Brown "Satureja hortensis" festgelegt. Die Gattung "Satureja" gehört zur Subtribus Menthinae der Tribus Mentheae in der Unterfamilie Nepetoideae innerhalb der Familie der Lamiaceae.
Seit es molekulargenetische Untersuchungsmethoden gibt, wurden viele Arten der Gattung "Satureja" in andere Gattungen, beispielsweise "Micromeria" und "Clinopodium", gestellt. Auch die Arten der tropischen Gebirge gehören nicht mehr zur Gattung "Satureja".
Die Gattung "Satureja" gedeiht vorwiegend vom Mittelmeer- bis zum Kaukasus-Raum und in den gemäßigten Gebieten Eurasiens. Etwa zwölf Arten kommen in Europa vor. In Mitteleuropa ist keine Art heimisch.
Es gibt etwa 38 "Satureja"-Arten:
Nutzung.
Das Sommer-Bohnenkraut ("Satureja hortensis"), auch Gartenbohnenkraut genannt, und das Winter-Bohnenkraut ("Satureja montana"), auch Berg-Bohnenkraut genannt, werden als Gewürz bzw. Küchenkraut besonders für Bohnengerichte verwendet. Die feingehackten Blätter sind sehr aromatisch und finden in Füllungen, Suppen, Omelettes und Salaten Verwendung. In alten Rezepten wird Bohnenkraut auch „Saturei“ genannt. |
547 | 172343 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=547 | Blues | Blues ist eine vokale und instrumentale Musikform, die sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der afroamerikanischen Gesellschaft der USA entwickelt hat. Der Blues bildet die Wurzel eines Großteils der populären Musik; Jazz, Rock, Rock ’n’ Roll und Soul sind nah mit dem Blues verwandt. Der Country Blues war eine seiner frühesten Formen, und auch heute finden sich beispielsweise im Hip-Hop Elemente des Blues.
Die verbreitetste Bluesform hat zwölf Takte; die Melodie wird mit drei Akkorden begleitet. Ein wichtiges Element sind die in den Melodien verwendeten Blue Notes. Blues als Genre ist aber ebenso charakterisiert durch die Basslinien, die Instrumentierung und die verwendeten Texte. Erst im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bildete sich die heute meist verwendete Form, das AAB-Pattern, heraus.
Im frühen Blues war die lose Erzählform gängig. Die Texte waren zumeist geprägt durch die Rassendiskriminierung und andere Herausforderungen der Afroamerikaner. Das Wort "Blues" leitet sich von der bildhaften englischsprachigen Gemütslage "I’ve got the Blues" bzw. "I feel blue" („ich bin traurig“, einer Dysphorie oder Melancholie) ab.
Wurzeln, Geschichte, Entwicklung.
Frühe Formen des Blues entstanden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Südstaaten der USA. Der Blues ist eine eigenständige Form schwarzer US-amerikanischer Folklore, die sich nicht ausschließlich auf andere afroamerikanische Musikformen wie Gospel, Negro Spiritual und Worksong (dazu gehören auch "Fieldholler") zurückführen lässt. Er enthält Elemente afrikanischer, europäischer und karibischer Musik. Frühe Blues-Formen sind bereits im Vaudeville-Blues- und in den Minstrel-Shows des späten 19. Jahrhunderts dokumentiert.
In der Frühphase war der Blues nur ein Teil des Repertoires afroamerikanischer Musiker. Er wurde ergänzt durch damals aktuelle Schlager, Ragtime, Country-Songs und zeitgenössische Popmusik. Die Musiker dieser Zeit waren eher „Songster“ als „Blueser“. Blues war Unterhaltungsmusik der Schwarzen, und seine Interpreten spielten auf House- und Rent-Partys oder öffentlichen Veranstaltungen. Erst mit der einsetzenden Kommerzialisierung durch die Plattenlabels in den 1920er und 1930er Jahren erfolgte eine Spezialisierung auf Blues-Songs.
Um 1910 hatte sich das Wort „Blues“ zum allgemeinen Sprachgebrauch entwickelt. Sängerinnen wie Bessie Smith, Ma Rainey oder Alberta Hunter sowie der schwarze Musiker und Komponist W. C. Handy (1873–1958) trug wesentlich dazu bei, den Blues populär zu machen. In der Zeit von 1911 bis 1914 wurde durch die Veröffentlichung von Handys "Memphis Blues" (1912) und besonders seines "St. Louis Blues" (1914) das Interesse vieler Menschen geweckt. Als einer der ersten notierte und arrangierte er Bluesstücke für Musiker und Sänger. Morton Harvey nahm den "Memphis Blues" als erste Vokal-Bluesplatte bei Victor Records (Nr. 17657) auf, veröffentlicht im Januar 1915.
Als erste Bluesaufnahme eines schwarzen Interpreten gilt "That Thing Called Love" von Mamie Smith, die vom Okeh-Plattenlabel im Februar 1920 herausgebracht wurde. Im August 1920 nahm Smith den Titel "Crazy Blues" auf, der sich als erster gesungener Bluestitel in den Hitparaden platzieren konnte und zu einem Millionenseller wurde. Im ersten Monat wurden rund 75.000 Platten verkauft, und damit wurde der Begriff "Blues" weit verbreitet.
1927 nahm Big Bill Broonzy seine erste Schallplatte auf und war neben Blind Lemon Jefferson, Tampa Red und Blind Blake wegweisend für den gitarrenlastigen Folk Blues der folgenden Jahre. Als wichtigste Gestalt des Delta Blues gilt vielfach Robert Johnson, allerdings war er innerhalb des Country Blues eine bedeutungslose Figur, sein Ruhm geht ausschließlich zurück auf die Phase der Wiederentdeckung des Blues durch das weiße Publikum in den 1950er und 1960er Jahren. Als Vater des Delta Blues und zentrale Figur wird jedoch häufig Charley Patton angeführt, der viele spätere Interpreten entscheidend beeinflusste.
Aufgrund der Migration vieler Schwarzer aus dem Süden in den Norden der USA, vor allem in die großen Städte wie Chicago und Detroit, wurde der dort populäre Jazz durch den Urban Blues entscheidend geprägt und erweitert. In den 1940ern und den 1950ern kam es in den großen Städten des Nordens – vor allem in Chicago – umgekehrt auch zu einer zunehmenden Verfeinerung des in den Südstaaten populären Country Blues. Zu stilistischen Weiterentwicklungen (z. B. zum Rhythm and Blues) führte hier auch der Einsatz von Verstärkern (elektrischer Blues), der für Künstler wie Memphis Minnie, Muddy Waters, John Lee Hooker und Howlin’ Wolf charakteristisch war.
In den 1950er Jahren war der archaische, akustische Country Blues in der Folkbewegung wieder populär geworden. Großen Einfluss auf den wachsenden Bekanntheitsgrad des Blues in Europa hatte das "American Folk Blues Festival", bei dem Größen wie John Lee Hooker, T-Bone Walker und Jimmy Reed auftraten. Aber der elektrische Blues wurde seit Mitte der 1940er Jahre in den USA auch von Radio-DJs, besonders Alan Freed, in ihren Sendungen gespielt. Über das Radio erreichte er auch weiße Jugendliche, die ihn sonst aufgrund der Segregation nicht zu hören bekamen. Aus einer Verschmelzung mit raueren Spielformen des Country wie Honky Tonk entstand schließlich der Rock ’n’ Roll.
Die gesellschaftliche Veränderung in den 1960er Jahren führte besonders unter den jungen US-Amerikanern, aber auch jungen Briten zu einem verstärkten Interesse an afroamerikanischer Musik, und der Blues wurde auch für weiße Musiker interessant. Dabei spielten neben den zahlreicher werdenden Live-Auftritten auch in dieser Zeit neu gegründete Musiklabel eine Rolle, die in den 1920er bis 1940er Jahren auf 78 rpm-Schallplatten aufgenommene Einspielungen auf Plattensamplern (LPs) wiederveröffentlichten (z. B. Origin Jazz Library (ab 1960), später auch Mamlish, Yazoo) oder Neuaufnahmen ‚wiederentdeckter‘ Künstler veröffentlichten (z. B. Arhoolie, Biograph, Blue Goose, Prestige/Bluesville, Delmark).
Viele Rockbands der 1960er Jahre, besonders in Großbritannien, nahmen den Blues als Basis für ihre Musik und reimportierten ihn während der so genannten „British Invasion“ Mitte der 1960er Jahre in die USA. Auch hier wurde er wieder von zumeist weißen Rockmusikern aufgegriffen (z. B. Butterfield Blues Band, Canned Heat und Johnny Winter), die daraus die verschiedenen Spielarten des Bluesrock entwickelten. Populäre Musiker und Bands wie The Doors, Led Zeppelin, Jimi Hendrix, Eric Clapton, Alvin Lee, Peter Green, The Rolling Stones und Rory Gallagher waren sowohl vom akustischen als auch vom elektrischen Blues beeinflusst und leiteten davon ihren jeweiligen eigenen Stil ab.
In Deutschland führten in den frühen 1970er Jahren z. B. Al Jones Bluesband, Frankfurt City Blues Band und Das dritte Ohr die Tradition von Muddy Waters oder B. B. King fort. Später wurden Bands wie die Mojo Blues Band aus Wien oder die Blues Company populär. Die 1968 gegründete Band Das dritte Ohr war eine der ersten Bands, die den Blues in deutscher Sprache vortrug. Besonders in der DDR wurde deutschsprachiger Blues gepflegt, so zum Beispiel von Hansi Biebl, Jürgen Kerth, Klaus Renft und der Gruppe Engerling (siehe auch Blueserszene).
Der Blues ist in der afroamerikanischen Community als populäre Musikform längst von anderen Stilen wie Soul, Hip-Hop oder R'n'B abgelöst worden, jedoch lebt er in der Arbeit sowohl weißer als auch afroamerikanischer Künstler weiter, etwa Susan Tedeschi, Ana Popović, Buddy Guy, Robert Cray, Luther Allison, John Primer, Stevie Ray Vaughan, Bonnie Raitt, Joe Bonamassa, The Black Keys, Jack White.
Texte.
Bluestexte sind in der Regel in der Ich-Form verfasst, das heißt, der Autor oder Sänger erzählt von tatsächlichen oder fiktiven eigenen Erlebnissen. Diese sind aber meist so stark verallgemeinert, dass eine Identifikation des Hörers mit dem Sänger ermöglicht wird. Häufig handeln die Texte von Diskriminierung, Verrat, Verbrechen, Resignation, unerwiderter Liebe, Arbeitslosigkeit, Hunger, finanzieller Not, Heimweh, Einsamkeit und Untreue. Oft handelt es sich dabei jedoch um formelhafte Wendungen, die der Sänger dem gegebenen Anlass anpasst und verändert.
Das Klischee vom Blues als vor allem trauriger Musik, das er in der Zeit der Wiederentdeckung in den 50er und 60er Jahren durch das neue weiße Publikum erfuhr, hängt dem Blues bis heute nach. Tatsächlich ist die Mehrzahl aller Bluesstücke jedoch eher beschwingt und tanzbar und artikuliert in den Texten ebenso häufig negative wie positive Stimmungen. So gibt es auch viele heitere, witzige und optimistische Bluesstücke. Noch 1919 sprach W.C. Handy von Bluesstücken als „happy-go-lucky songs“.
Doch das thematische Spektrum des Blues ist weitaus größer und facettenreicher. Thematisiert werden ebenso Religion, Politik (so z. B. der "Hitler Blues", den „The Florida Kid“ Ernest Blunt im Jahr 1940 bei Bluebird Records einspielte), Frauenrechte, tyrannische Vorgesetzte, Sex und herber Sexismus. Diese letzte Spielart des derb-vulgären Blues entstand in den 20er und 30er Jahren und wird als Hokum-Blues bezeichnet. Er wurde oft in den Work-Camps des amerikanischen Südens von reisenden Musikern zur Unterhaltung der Arbeiter gesungen. Zu den Hokum-Blues-Musikern zählen u. a. Bo Carter und die Hokum Boys (Tampa Red und Georgia Tom), die mit dem Titel "It’s Tight Like That" einen Hit in den 20ern landen konnten.
Die frühen Bluesstücke waren von unregelmäßiger Rhythmik und folgten dem Sprachrhythmus. Eine Strophe im frühen Blues besteht meist aus drei Zeilen. Die erste Zeile wird wiederholt und wird meist in der gleichen oder einer ähnlichen Melodie gesungen. In der dritten Zeile findet sich eine Art inhaltlicher Reaktion: eine Antwort, Erklärung oder Begründung, und die Melodie ist eine andere:
Die Wiederholung der ersten Zeile hat den Zweck, dem Sänger bei Stegreifinterpretationen mehr Zeit für die Erfindung der dritten Zeile zu geben. Außerdem wird damit ein Spannungsverhältnis aufgebaut, das sich erst mit der verzögert gesungenen dritten Zeile auflöst. Die Texte in Bluesstücken scheinen oft nicht zur Musik zu passen, doch der Sänger kann bestimmte Silben hervorheben und andere unterdrücken, so dass der Rhythmus stimmt. Auch kann er die Töne so variieren, dass sie zum Bass und zur Begleitung passen.
Das Blues-Schema.
Das Standard-Blues-Schema ist der 12-taktige Blues (12-bar blues) der in der Barform AAB verfasst ist: Die erste Zeile des Songs dauert vier Takte; sie wird in den nächsten vier Takten wiederholt, bevor dann die abschließende Zeile in den letzten vier Takten erfolgt. Das Schema basiert auf den Akkordfolgen der I. Stufe Tonika, der IV. Stufe Subdominante und der V. Stufe Dominante. Auf vier Takte Tonika folgen je zwei Takte Subdominante und Tonika, je ein Takt Dominante und Subdominante und wieder zwei Takte Tonika. Das Schema in Form eines Chordsheets:
Als drittletzter Akkord kann statt der Subdominante auch die Dominante gespielt werden.
Dieses Schema wurde im Laufe der Zeit stark erweitert und modifiziert. Neben der zwölftaktigen Standardform gibt es sehr viele weitere Bluesschemata. Beispiele sind das 8-Takt-Blues-Schema, das 12-Takt-Melodisch-Moll-Blues-Schema, bei dem Tonika und Subdominante jeweils Moll-Akkorde sind, die Dominante allerdings ein Dur-Dominantseptakkord, oder das 12-Takt-Standard-Jazz-Blues-Schema.
Quick Change
Wird im 2. Takt des Blues-Schemas anstelle der Tonika die Subdominante gespielt, so spricht man von einem Quick Change.
Turnaround
Der Turnaround kündigt das Ende des Blues-Schemas an und führt melodisch und rhythmisch zum Anfang des Schemas zurück. Der Turnaround kann entweder 1-taktig oder 2-taktig gespielt werden. Bei einem 2-taktigen Turnaround wird häufig in Takt 12 die Dominante anstatt der Tonika gespielt.
Blues im Jazz
Im Jazz ist der Blues eigentlich nur noch als Harmoniefolge bekannt. Häufig wird die klassische Blues-Form um die gängige Jazz-Kadenz II-V-I und um Jazz-Akkorde erweitert und verändert.
Am nächsten kamen sich Jazz und Blues Anfang der 1940er Jahre. Insbesondere Charlie Christian auf Jazz-Seite und T-Bone Walker als Vertreter des Blues brachten diese beiden Musikstile sehr eng zusammen.
Melodik/Instrumentierung.
Der melodische Aufbau einer Strophe entspricht dem inhaltlichen. Typisch sind die so genannten Blue Notes. Diese Töne haben im chromatischen zwölftönigen System keinen Platz, weil sie aus der afrikanischen Pentatonik kommen. Es handelt sich im Wesentlichen um zwei Töne: ein Ton zwischen kleiner und großer Terz und einer zwischen verminderter und reiner Quinte, jeweils bezogen auf den Grundton. Die kleine Septime ist streng genommen keine "blue note". Siehe dazu auch den Artikel über die Bluestonleiter.
Seit Beginn der 1920er Jahre entwickelte sich die (akustische) Gitarre zum stilprägenden Instrument des Delta Blues. Bis dahin wurde Blues häufig von Tanzorchestern gespielt. Bei der Besetzung gab es offenbar keine festen Vorgaben, wenn auch die Klarinette, die Fiddle sowie das Banjo in vielen Orchestern dieser Art vertreten gewesen sein dürften. Für die Basslage wurde entweder eine Tuba, ein Tonnenbass oder der Jug eingesetzt.
Das häufig gezeichnete Bild des einsamen Blues-Sängers, der nur von seiner Gitarre begleitet den Blues singt, ist ein Klischee. Gemeinsame Auftritte mit anderen Blues-Sängern waren genau so häufig wie Soloauftritte.
Gitarren wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts durch die industrielle Produktion und den Versandhandel selbst im rückständigen Mississippi-Delta erschwingliche Begleitinstrumente. Dazu kam, dass Gitarren mit den klimatischen Bedingungen im feucht-heißen Süden der USA besser zurechtkamen als bspw. Piano oder Banjo. Gespielt wurden fast ausschließlich offene Stimmungen. Die heutige Standardstimmung der Saiten nach E-A-d-g-h-e' begann sich erst später bei den Blues-Musikern durchzusetzen. |
548 | 3311505 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=548 | Barockmusik | Barockmusik ist eine Periode in der abendländischen Kunstmusik, die sich an die Musik der Renaissance anschließt und sich vom Beginn des 17. bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts erstreckt. Sie zählt heute zur Alten Musik.
Als typische Merkmale dieser langen und uneinheitlichen Epoche können Affektenlehre, Stile concertato und Generalbass angeführt werden, wegen letzterem wurde auch die Bezeichnung Generalbasszeitalter vorgeschlagen. Es gibt keinen Konsens über die zeitlichen Grenzen einer Untergliederung in Früh-, Hoch- und Spätphase, möglich wäre etwa:
Häufig werden Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel als Vollender des musikalischen Barocks betrachtet. In der italienischen Oper und Instrumentalmusik setzte ein Stilwandel in den 1720er Jahren ein. Bei den Bachsöhnen und ihrem Umkreis etablierte sich ab den 1730er-Jahren der so genannte empfindsame Stil, der über die Vorklassik der Mannheimer Schule zur Wiener Klassik mit Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart führte.
Charakterisierung.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufkommende Merkmale, die als Beginn eines neuen Musikzeitalters betrachtet werden können, sind außer dem Generalbass die Monodie (Sologesang oder -instrumentalstimme mit Begleitung) und die neu entstandenen Gattungen Oper sowie später Instrumentalkonzert und Oratorium.
Kompositionstechniken.
Form.
Während des Barocks emanzipierte sich die – vorher streng an den Gesang gekoppelte – Instrumentalmusik. Dies zeigt sich im "konzertanten Prinzip", dem bewegten Zusammenwirken und quasi Wetteifern von Stimmen (vokal wie instrumental). Begünstigt wurde diese Entwicklung durch Innovationen im Bereich des Instrumentenbaus, durch den Notendruck und durch Adel und Bürgertum als Auftraggeber für Kompositionen. Es entstand das Concerto grosso; eine konzertierende Sologruppe (Concertino) und ein Orchester (Tutti, Ripieno) wechseln sich ab. Anstelle der Solistengruppe tritt im Solokonzert ein einzelner Solist auf. Besonders im Frühbarock wurde die venezianische Mehrchörigkeit – mehrere Chöre (jeder an einer anderen Stelle eines großen Raumes) sangen gemeinsam – weitergeführt.
Musikalische Formen, die sich im Barockzeitalter ausbildeten, waren etwa Suite, Fuge, Sonate, Kantate und Oratorium.
Opern hatten im 18. Jahrhundert einen sehr großen Stellenwert. Einerseits dienten sie höfischer Repräsentation, andererseits waren sie – vor allem in der reichen Republik Venedig, wo es zahlreiche öffentliche Opernunternehmen gab – gleichsam Volksspektakel. In Italien war es üblich, bekannte Arien in neue Opern zu übernehmen. Bei Wiederaufführungen wurden Opern häufig an Sänger angepasst und Teile ausgetauscht. So kam es zu sogenannten Pasticci.
Insbesondere in Frankreich stellte man aus instrumentalen Zwischenspielen Suiten zusammen, die weite Verbreitung fanden.
Ausdruck.
Die musikalische Sprache und Melodienbildung beruhte auf einem reichhaltigen System von "Figuren", die einer musikalischen Rhetorik entsprachen und an „Affekte“ gekoppelt waren, das heißt, menschliche Gemütszustände aufzuzeigen versuchten. Als nur eines unter vielen möglichen Beispielen sei die chromatisch absteigende Basslinie ("passus duriusculus") genannt, die gerne verwendet wurde, wenn ein Klagegesang zu komponieren war.
In der Oper wird auf Realismus und dramatische Wahrheit verzichtet, staunende Verwunderung wird durch den „Hedonismus“ des süßen, pathetischen Vokalklanges, Virtuosität, Sinnbildlichkeit und Verzierungsreichtum, Improvisation, eine abstrakte Beziehung zwischen Geschlecht und Rolle mit Travestie und Kastraten sowie die Bevorzugung ungewöhnlicher Timbres erzielt, es entwickelt sich dergestalt der Belcanto.
Struktur.
Die bereits im Mittelalter entstandene und in der Renaissance zu ihrer Vollendung geführte Polyphonie, also das Zusammenklingen selbstständig geführter Melodielinien, fand breite Verwendung im Barock. Oft wurde diese polyphone Struktur imitatorisch komponiert, beispielsweise in Fugen. Zu den Melodiestimmen trat meist der Generalbass als harmonische Unterstützung.
Der gesamte Konzertsatz wurde durch das Eröffnungsmotiv melodisch wie rhythmisch geprägt; Ritornelle des Tutti gliederten den Gesamtablauf. Eine beständige Wiederholung rhythmischer und melodischer Kleinmotive (Motorik) führte zu einer festen Betonungsordnung und Akzentgliederung. Als charakteristische Schlusswendungen zur formalen Gliederung und Abgrenzung klarer Tonartenbereiche (Dur- und Moll-Tonarten) dienten Kadenzen.
Klangtheorie.
Die Barockmusik wurde durch die Erkundung der Chromatik geprägt. Der Tendenz der Renaissance folgend werden die früher gebräuchlichen Kirchentonarten in der Kompositionspraxis und in der Musiktheorie auf die beiden Tongeschlechter Dur und Moll und die beiden bis heute geläufigen Skalen reduziert. Aus den in der Renaissance aufgekommenen mitteltönigen Stimmungen wurden später die temperierten Stimmungen entwickelt, um das Spiel in vielen Tonarten ohne extrem scharf klingende Intervalle zu ermöglichen. Es wurden zunehmend Tonarten mit mehreren Vorzeichen verwendet, und – anders als noch in der Hochrenaissance üblich – wurden Alterationen grundsätzlich immer vom Komponisten notiert.
Instrumente.
Viele der noch heute gebräuchlichen Instrumente wurden in der Barockzeit entwickelt. Die barocken Formen dieser Instrumente unterscheiden sich im Klang jedoch beträchtlich von ihren Nachfahren, unter anderem weil sie mit Darmsaiten bespannt waren. Das damalige Klangideal bevorzugte Instrumente, deren Klang an die menschliche Stimme erinnert. Streichinstrumente (Barockvioline), aber auch Holzblasinstrumente klangen allgemein leiser, weniger strahlend und tragfähig; sie klangen weicher.
Der große Instrumentenreichtum der Renaissance schwand im Barock. Bei den Flöten konnte sich die Blockflöte noch längere Zeit als Soloinstrument in Diskantlage behaupten, ehe sie von der Traversflöte verdrängt wurde. Die Rohrblattinstrumente der Renaissancezeit verschwanden vollständig. Aus dem Pommer wurde die wesentlich leisere Oboe entwickelt. Bassdulzian und Rankett, die noch im Frühbarock eingesetzt wurden, wurden später vom aus dem Dulzian entwickelten Fagott abgelöst. An Instrumenten mit einfachem Rohrblatt setzte sich das Chalumeau durch (nicht zu verwechseln mit der Schalmei der Renaissance). Bei den Blechblasinstrumenten wurden die Posaune und zunächst auch der Zink übernommen. Letzterer wurde bis zur Jahrhundertmitte vor allem in der Kirchenmusik eingesetzt. Bei den Streichinstrumenten verschwanden Liren, Rebecs, Fideln und zuletzt auch die Gamben und wurden durch die Violinenfamilie ersetzt. Bei den Zupfinstrumenten wurden Harfe, Laute und Gitarre übernommen und weiterentwickelt. In Italien kam die aus der Mandora entwickelte Mandoline auf. Von den Schlaginstrumenten der Renaissance wurde nur die Pauke übernommen. Dafür gab es in dieser Zeit aber einige kuriose Erscheinungen wie das pantalonische Cymbal in Sachsen und das Salterio in Italien, das sogar eine gewisse Breitenwirkung erlangte. Vor allem in der französischen Barockmusik wurden gelegentlich ältere Instrumente wie die Drehleier oder leise klingende Sackpfeifen eingesetzt.
Das auf Streichinstrumenten aufgebaute und mit Blasinstrumenten ergänzte Orchester, darunter zum Beispiel die berühmte "Kurfürstlich-Sächsische und Königlich-Polnische Kapelle" in Dresden und Warschau, begann sich zu standardisieren – in schrittweiser Abkehr von den freien und wechselnden Instrumentalbesetzungen der Renaissance.
Tasteninstrumente wie Cembalo und Orgel wurden mit größerem Tonumfang und mit mehr Registern gebaut; ihre Mechanik wurde verbessert.
Geschichte.
Vgl. auch die Liste von Barockkomponisten.
Frühbarock.
Zu Beginn des Barocks steht um 1600 die Florentiner Camerata mit ihrem Versuch, das antike Drama als musikalische Kunst wiederzubeleben, wobei sie die Monodie mit generalbassbegleitetem ausdrucksstarkem Gesang entwickelte. Während Giulio Caccini vor allem durch seine Liedersammlung "Le nuove Musiche" einflussreich war, trieb Jacopo Peri in der Oper "L’Euridice" die Ausdruckskraft durch Regelverstöße auf die Spitze. Emilio de’ Cavalieri begründete in "Rappresentatione di Anima, et di Corpo" die Tendenz, durch abwechslungsreiche Verwendung von Rezitativen, Liedformen und Chören die Großform zu gestalten. Im Gegensatz zur Pastoraloper Peris ohne Konflikt und Cavalieris allegorischem Spiel vereint Claudio Monteverdis "L’Orfeo" Handlung und Konflikt und kann daher als erste „eigentliche“ Oper angesehen werden. Dabei arbeitete er musikdramatische Einheiten heraus, Akte und Szenen haben je einen eigenen „Ton“, andererseits sorgen Wiederaufnahmen von musikalischen Einheiten für „Integration“. Monteverdi wurde durch „behutsames Zurückführen der Florentiner Pioniertaten auf den Boden der Musik und ihrer Eigengesetzlichkeiten“ zur überragende Figur, der so bewundert und einflussreich war, dass auch von einer „Epoche Monteverdi“ gesprochen werden kann. Die Regelverstöße insbesondere auf dem Gebiet der Dissonanzbehandlung rechtfertigte er durch adäquate Textausdeutung. Der Beginn der Operngeschichte ist durch die große Rolle des Textes und des Dramas charakterisiert, Rezitativ und Arie sind noch kaum unterschieden, die meist arkadische Handlung konzentriert sich auf einen kohärenten Strang, wobei der Orpheus-Mythos auf Grund des musikbezogenen Sujets besonders beliebt ist. Neben den genannten Komponisten ist insbesondere Marco da Gagliano zu nennen.
Um 1620 beginnt in der Oper eine Entwicklung, die durch Abwechslung, Opulenz und Vorherrschaft der Musik gegenüber dem Drama gekennzeichnet ist. Zahlreiche Nebenhandlungen mit komischen Figuren konkurrieren mit dem Hauptinhalt der Oper, eine Tendenz die im Werk Stefano Landis ihren Ausgang nimmt. Die Arie etabliert sich als abgesonderter Formteil insbesondere bei Francesco Cavalli, bei dem der Übergang zum Hochbarock angesetzt werden kann. Wichtige Opernkomponisten der zweiten Jahrhunderthälfte sind Antonio Cesti und Antonio Sartorio.
In der weltlichen Vokalmusik gingen auch von Claudio Monteverdi wichtige Impulse aus: In der Reihe seiner Madrigalbücher wird die Gattung etwa durch konzertierende Satzweise und Verwendung instrumentaler Praktiken mit ihrer Motorik auch in der Gesangsmelodie aufgebrochen, der "Stile concitato" des "Il combattimento di Tancredi e Clorinda" mit schnellen Tonwiederholungen und Dreiklangsbrechungen wird vorbildlich für unzählige Battaglien und das "Lamento d’Arianna" für Klagegesänge. Es etabliert sich als neuer Gattungsbegriff für mehrgliedrige weltliche Vokalmusik mit Wechsel arioser und rezitativischer Abschnitte, oft in variierter Strophenform die Bezeichnung Kantate mit den ersten Hauptvertretern Luigi Rossi und Giacomo Carissimi.
In der geistlichen Musik bleibt die traditionelle Vokalpolyphonie als "Prima pratica" neben der mehr der Textausdeutung als Satzregeln folgenden "Seconda pratica" der Monodie gleichberechtigt erhalten, Monteverdi benannte und pflegte beide Praktiken. Wichtige Nachfolger sind Alessandro Grandi und Giovanni Rovetta.
Von großem Einfluss war durch das Prinzip des Wetteiferns verschiedener Instrumentengruppen der Venezianer Giovanni Gabrieli (ca. 1554/57–1612), der den neuzeitlichen Orchestersatz begründete. Die frühen Sonaten und Kanzonen sind durch eine lose Abfolge von Abschnitten mit einander imitierenden Stimmen charakterisiert. Wichtig war die Übertragung dieser Form auf die im Folgenden sehr bedeutsamen Gattungen Solosonate (Soloinstrument und Basso continuo) und Triosonate (zwei Soloinstrumente und Basso continuo). Zwischen den Abschnitten wechseln nun neben Tempo und Taktarten auch die Faktur: die Oberstimmen dialogisieren, es gibt Imitation mit oder ohne Beteiligung der Bassstimme und Scheinpolyphonie durch Selbstimitation, Soli im rezitativischen Stil und Tänze. Hauptvertreter sind ab etwa 1620 Biagio Marini, Giovanni Battista Fontana und Dario Castello.
Einer der ersten großen Komponisten, deren Hauptaugenmerk der Instrumentalmusik galt, war Girolamo Frescobaldi mit Musik für Tasteninstrumente. Während zu Lebzeiten vor allem seine Beiträge zu Gattungen mit strenger kontrapunktischer Gestaltung wie Fantasie und Ricercar gerühmt wurden, gelten rückblickend seine Toccaten als typisch barocke Kunst, heterogenes Material versammelt sich zu einem abwechslungsreichen Ganzen mit imitatorischen Abschnitten und solchen, die an die Ausdruckskunst der Monodie erinnern. Bemerkenswert sind insbesondere seine Studien zu Dissonanzen und Chromatik, die im Titel bereits auf ihre Härten („Durezze“) verweisen.
Wegbereiter der deutschen Barocksuite war Johann Hermann Schein, der außerdem mit der geistlichen Motettensammlung "Israelis Brünnlein" zu den Hauptvertretern des deutschen Frühbarock gezählt wird. Während Michael Praetorius noch zwischen den Epochen steht, nahm sich Heinrich Schütz (1585–1672) den neuen italienischen Stil zum Vorbild und verband ihn mit den Ausdrucksformen der deutschen Sprache, was ihm als erstem deutschen Komponisten europäischen Ruf einbrachte. Wie Schütz übte der niederländische Orgelmeister Jan Pieterszoon Sweelinck großen Einfluss aus, letzterer insbesondere auf die norddeutsche Orgelschule, deren erste große Vertreter Samuel Scheidt und Heinrich Scheidemann waren. Scheidemanns Verfahren, in Choralbearbeitungen nicht nur ein Gerank von imitatorischen Begleitstimmen zu flechten, sondern auch den Choral zu diminuieren, verankert seine Orgelmusik im Gegensatz zu derjenigen Sweelincks bereits eindeutig im Barock.
Hochbarock.
Um 1650 beginnt eine Phase mit „reich und ebenmäßig klingender Musik“, die „zeremoniellen Gestus, größeres Klangvolumen, formale Glätte“ zeigt, im Zentrum stehen Gattungen wie Oratorium und Kammerkantate, französische Oper und virtuose Instrumentalmusik.
Das Oratorium der Jahrhundertmitte ähnelt der Oper, hat aber einen lateinischen Text und einen Erzähler, sowie durch die vermehrte Verwendung von Chören und Ensembles einen volleren Klang. Hauptvertreter ist mit ausdrucksvollen Chören Carissimi. Später differenziert Alessandro Stradella die Klanggruppen und legt damit die Grundlage der Concertostruktur.
Die italienische Kantate ab Rossi und Carissimi ist durch einen Belcanto-Stil mit Bevorzugung von Schönheit gegenüber expressiver Textdarstellung auch im Rezitativ gekennzeichnet. Ariose Kantabilität dominiert als wiegendes Auf und Ab im Dreiertakt.
Die italienische Sonate kombiniert nun ein Rückbesinnen auf konsequentere Imitation mit der Entwicklung von Form aus dem Spannungsverhältnis tonaler Beziehungen und unter Verwendung von mehrgliedrigen Themen, deren Imitationen den Bewegungsimpuls über ganze Abschnitte aufrechterhalten können. Neben dem Hauptmeister Giovanni Legrenzi sind Maurizio Cazzati und Marco Uccellini zu nennen, letzterer übte mit Sequenzierung durch den Quintenzirkel Einfluss auf die kommenden Generationen aus. Arcangelo Corelli ist Hauptvertreter der folgenden klassizistischen Phase. Die Sonaten werden nun in einzelne Sätze zergliedert, die formal durch sorgfältige Tonartendisposition gegliedert sind, alles ist perfekt ausbalanciert. Große Klangfülle erzielt er im Concerto grosso.
In Frankreich wurde der generalbassbegleitete barocke Stil erst vergleichsweise spät heimisch, Henri Dumont etablierte ihn mit seinen Motetten in der geistlichen Musik, gefolgt von Marc-Antoine Charpentier und Jean-Baptiste Lully, der das französische Musikleben des späten 17. Jahrhunderts am Hofe Ludwigs XIV. maßgeblich prägte mit Opern, die der Deklamation der klassischen französischen Dichter sorgsam folgten. Typisch für die französische Oper ist die Integration von Balletten. Mit Tanz-Suiten, denen oftmals eine französische Ouvertüre vorangestellt wurde, übte er über die Landesgrenzen hinaus großen Einfluss aus.
Hauptvertreter der Suite auf dem Tasteninstrument war in Deutschland Johann Jakob Froberger. Von großer Bedeutung war weiterhin die norddeutsche Orgelschule, deren repräsentativster Vertreter Dietrich Buxtehude war. Aus dem geistlichen Konzert entstand hier die lutheranische Kirchen-Kantate, eine Entwicklung, die vor Buxtehude von Franz Tunder initiiert wurde.
In Österreich verband Heinrich Ignaz Franz Biber in seinen "Rosenkranz-Sonaten" Virtuosität unter Nutzung der Skordatur mit mystischer Aussage.
In England entwickelte sich unter Henry Purcell (1659–1695) und anderen ein eigener Stil.
Spätbarock.
Entwickelte sich im Hochbarock die Musik noch unabhängig in verschiedenen Regionen Europas, so zeichnete sich der Spätbarock durch eine grenzübergreifende Verbreitung der Stile aus. Im deutschsprachigen Raum trieb Georg Philipp Telemann (1681–1767) diese Entwicklung voran und wurde schließlich zu einer „Ikone“ unter den Komponisten. Weitere berühmte deutsche Tonschöpfer des Spätbarock waren Carl Heinrich Graun und Johann Adolph Hasse. Heutzutage gilt Johann Sebastian Bach (1685–1750) vielen als „Vollender“ des Spätbarocks. Zu Lebzeiten war er jedoch weit weniger berühmt als die oben Genannten und eher als Orgelvirtuose geschätzt denn als Komponist. Stilistisch schließt ein großer Teil seiner Musik sich eher dem Hochbarock als dem Spätbarock an.
Der italienische Violinist und Komponist Antonio Vivaldi (1678–1741), der im 20. Jahrhundert zu neuer Popularität kam, beeinflusste mit seiner Konzertform viele Komponisten. Besonders im Spätbarock erfreuten sich Opern großer Beliebtheit. In England war vor allem Georg Friedrich Händel (1685–1759) in diesem Bereich produktiv. Der Italiener Domenico Scarlatti (1685–1757), Komponist zahlreicher einsätziger Cembalo-Sonaten, siedelte 1729 nach Spanien über.
Mit dem Tod Telemanns und anderer letzter Vertreter der deutschen Barockmusik in den 1770er Jahren schwand auch die Popularität des empfindsamen und des galanten Stils zugunsten der Wiener Klassik. Es gab aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Komponisten, die im Barockstil komponierten, zum Beispiel den zu Lebzeiten in England sehr beliebten Niederländer Pieter Hellendaal (1721–1799).
Geistiger Hintergrund.
Typisch für die Zeit des Barock ist der Absolutismus, der seinen reinsten Ausdruck am Hofe Ludwig XIV. fand und dessen kulturelles Schaffen in ganz Europa imitiert wurde. Die Kultur blühte unter feudalistischer Förderung auf, und in Bauwerken, Gartenanlagen und anderem wurde das Repräsentative und Monumentale bis hin zum Übertriebenen angestrebt.
Die Bezeichnung dieser Epoche stammt vom portugiesischen „barroca“ – einem vieldeutigen Begriff, der u. a. Tongefäße, aber auch Lehm/Geröll bedeutet. Hingegen ist „barocca“ die spätere italienische Variante – hier bereits ausschließlich als Bezeichnung der barocken Epoche. Der Ausdruck Barock ist auf jeden Fall eine eher unfreundliche Titulierung, die erst in nachbarocker Zeit zum Namen besagter Epoche wurde. Frischs "Deutsch=Französisches Wörterbuch" („andere Auflage“, 1719) bezeichnet „baroque“ als eine Perle, „die nicht gantz rund“ sei.
Ansonsten fühlte sich der Zeitgenosse des Barocks als ein Vertreter einer modernen, aufgeschlossenen, „galanten“ Zeit. Problematisch ist die Tatsache, dass der Stilbegriff „Barock“ für recht verschiedene Zeitströmungen steht. Das Frühbarock neigte eher zum Derben, Rauen – völlig im Gegensatz zur Galanterie des Hochbarocks. Die Bezeichnung „Spätbarock“ ist ebenfalls problematisch, weil diese spätere Epochen überschneidet, die eigentlich einen eigenen Namen haben (Régence, Rokoko).
In den Künsten der Barockzeit interessierte man sich insbesondere dafür, die verschiedenen menschlichen Stimmungen (Affekte) zum Ausdruck zu bringen und in festen Formen zu repräsentieren (→ Affektenlehre).
Eine besondere Vorliebe hatte man für die Allegorie, damals im deutschsprachigen Raum auch als „Sinnbildniß“ bezeichnet.
Die Ideale der Galanterie waren eigentlich moralphilosophisch gemeint. Es ging dabei schlicht um die Regelung menschlichen Zusammenlebens: Rücksicht, Zuvorkommenheit, Höflichkeit, Duldsamkeit. Doch schon damals interpretierten „leichtlebige“ Gemüter das Wesen des Galanten zu einer Lebensweise um, die darauf bedacht war, das jeweils andere Geschlecht mit vorgeschütztem Anstand für sich einzunehmen. Religiöse Schwärmer nahmen dies wiederum zum Anlass, bekennend galanten Damen und Herren generell sündhafte Absichten zu unterstellen. Hier zeigt sich das Widersprüchliche des Barocks: Auf der einen Seite steht es für Lebensfreude, Lust – andererseits stößt man auch immer wieder auf streng asketische Haltungen (siehe u. a. Pietismus).
Mit dem Tode des Sonnenkönigs (1715) schien sich dann das Zeitgefühl verändert zu haben. In der Mode schlugen ab etwa 1715 völlig neue Akzente durch: der Barock verabschiedete sich langsam und es bahnte sich der Regence-Stil an – um die Mitte des Jahrhunderts abgelöst vom Rokoko. Im musikhistorischen Bereich verschwimmen die Begriffe „Barock“ und „Rokoko“ aber.
Moderne Rezeption.
Wiederentdeckung.
Nach dem Ende des Barockzeitalters wurde Barockmusik als veraltet betrachtet und nicht mehr aufgeführt.
Lediglich die Musik von Händel, besonders die Oratorien, gerieten nicht in Vergessenheit und wurden auch Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgeführt. Zur gleichen Zeit beschäftigten mehrere namhafte Musikliebhaber sich mit älterer Musik, darunter Raphael Georg Kiesewetter, Simon Molitor und Johann Nikolaus Forkel.
Ein wichtiger Meilenstein für die Wiederentdeckung von Johann Sebastian Bach war die Wiederaufführung der "Matthäuspassion" durch Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahre 1829. Andere Komponisten mussten bis ins 20. Jahrhundert auf ihre Entdeckung warten, etwa Antonio Vivaldi, von dem man bis in die 1920er Jahre kaum mehr kannte als "Die vier Jahreszeiten".
Heutige Sichtweise.
Mendelssohns Einsatz für die Werke von Bach war erfolgreich und nachhaltig. Es etablierte sich ein „Mythos Bach“. Bach war zu Lebzeiten außerhalb von Sachsen und Thüringen aber kaum bekannt. Im 20. Jahrhundert wurden zunehmend auch Kompositionen anderer Tonschöpfer des Barocks bekannt.
Hugo Riemann und Guido Adler vermieden die durch die Architektur und bildende Kunst geprägte Epochenbezeichnung „Barock“ wie auch den Begriff der „Renaissance“ und versuchten eine rein stilgeschichtliche Typisierung. Bei Riemann nannte „Barock“-Musik „Musik des Generalbasszeitalters“. Im von Adler herausgegebenen „Handbuch der Musikgeschichte“ wird der Begriff „Barockstil“ nur in einem kurzen Kapitel von Arnold Schering verwendet.
Heute, im 21. Jahrhundert, wird Barockmusik meist in der historischen Aufführungspraxis aufgeführt und eingespielt. |
549 | 556709 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=549 | Berliner Mauer | Die Berliner Mauer war während der Teilung Deutschlands ein Grenzbefestigungssystem der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), das vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 bestand, um West-Berlin vom Gebiet der DDR hermetisch abzuriegeln. Sie trennte nicht nur die Verbindungen im Gebiet Groß-Berlins zwischen dem Ostteil („Hauptstadt der DDR“) und dem Westteil der Stadt, sondern umschloss alle drei Sektoren des Westteils vollständig und unterbrach damit auch seine Verbindungen zum sonstigen Umland, das im DDR-Bezirk Potsdam lag. Die Mauer verlief dabei zumeist einige Meter hinter der eigentlichen Grenze.
Von der Berliner Mauer ist die ehemalige innerdeutsche Grenze zwischen West- (alte Bundesrepublik) und Ostdeutschland (DDR) zu unterscheiden.
Die Berliner Mauer als letzte Aktion der Teilung der durch die Nachkriegsordnung der Alliierten entstandenen Viersektorenstadt Berlin war Bestandteil und zugleich markantes Symbol des Konflikts im Kalten Krieg zwischen den von den Vereinigten Staaten dominierten Westmächten und dem sogenannten Ostblock unter Führung der Sowjetunion. Sie wurde aufgrund eines Beschlusses der politischen Führung der Sowjetunion Anfang August 1961 und einer wenige Tage später ergehenden Weisung der DDR-Regierung errichtet. Die Berliner Mauer ergänzte die 1378 Kilometer lange innerdeutsche Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, die bereits mehr als neun Jahre vorher „befestigt“ worden war, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen.
Für die DDR-Grenzsoldaten galt seit 1960 in Fällen des „ungesetzlichen Grenzübertritts“ der Schießbefehl, der erst 1982 formell in ein Gesetz gefasst wurde. Bei den Versuchen, die 167,8 Kilometer langen und schwer bewachten Grenzanlagen in Richtung West-Berlin zu überwinden, wurden nach derzeitigem Forschungsstand (2009) zwischen 136 und 245 Menschen getötet. Die genaue Zahl der Todesopfer an der Berliner Mauer ist nicht bekannt.
Die Berliner Mauer wurde am Abend des 9. November 1989 im Zuge der politischen Wende geöffnet. Dies geschah unter dem wachsenden Druck der mehr Freiheit fordernden DDR-Bevölkerung. Der Mauerfall ebnete den Weg, der innerhalb eines Jahres zum Zusammenbruch der SED-Diktatur, zur Auflösung der DDR und gleichzeitig zur staatlichen Einheit Deutschlands führte.
Sprachliche Aspekte.
Die im August 1961 errichtete Mauer erweckte mit ihren Wachtürmen, dem Stacheldraht und Todesstreifen sowie mit den Todesschüssen auf Flüchtende Vergleiche mit Konzentrationslagern, die in der westlichen Öffentlichkeit zu Ausdrücken wie „rotes KZ“ und „Ulbricht-KZ“ für die DDR und „Ulbricht-SS“ für die Grenzsoldaten führten. Noch im August 1961 prägte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt den Begriff „Schandmauer“, der allgemein gebräuchlich wurde. Auf DDR-Seite erteilte das Politbüro der SED im Herbst 1961 dem Leiter der Abteilung Agitation beim Zentralkomitee der SED Horst Sindermann den Auftrag, eine ideologische Begründung für den Mauerbau zu erarbeiten. Sindermann fand die Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“. Zur Begründung sagte er im Mai 1990 dem "Spiegel": „Wir wollten nicht ausbluten, wir wollten die antifaschistisch-demokratische Ordnung, die es in der DDR gab, erhalten. Insofern halte ich meinen Begriff auch heute noch für richtig“. Die Suggestion, die offene Grenze zu West-Berlin habe eine „faschistische“ Bedrohung der DDR dargestellt, sollte das wahre Motiv verbergen: Hauptzweck war die Verhinderung der Flucht aus der DDR.
Noch 1961 gelangte die Bezeichnung in die politische Sprache der SED. Walter Ulbricht verwendete sie am 20. Oktober 1961 in seiner Grußansprache an den XXII. Parteitag der KPdSU in Moskau und wenig später tauchte sie im SED-Zentralorgan Neues Deutschland auf. In einer Propagandabroschüre der DDR aus dem Dezember 1961 war zu lesen, am 13. August habe ein antifaschistischer Schutzwall den „Kriegsbrandherd Westberlin unter Kontrolle gebracht“.
Das Politbüro der SED legte in seiner Sitzung vom 31. Juli 1962 bei der Planung einer Propagandakampagne zum ersten Jahrestag des Mauerbaus Sindermanns Worte als verbindliche Bezeichnung der Berliner Mauer in der Öffentlichkeit der DDR fest und blieb dabei bis in die Endzeit der DDR. Um die Mitte der 1960er Jahre waren andere Bezeichnungen, zu denen auch „die Mauer“ gehört hatte, aus der öffentlichen Sprache verschwunden, dagegen galt gesellschaftlich die Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“ als Zeichen politischen Wohlverhaltens. Die Bezeichnung fand über die Propaganda hinaus ihren Platz in Schul- und Lehrbüchern und in wissenschaftlichen Darstellungen.
Begleitet wurde die Propagandalegende durch eine vollständige Kontrolle über bildliche Darstellungen der Grenzbefestigungen in Berlin. Die Abbildungen der Grenzanlagen in Berlin waren nur erlaubt, wenn sie in Zusammenhang mit dem Brandenburger Tor standen. Einzig die Fotos aus einer am 14. August 1961 dort entstandenen Serie der Nachrichtenagentur ADN waren zur Dokumentation der Absperrmaßnahmen zugelassen. Eine Fotografie von vier bewaffneten Angehörigen der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die mit dem Tor im Rücken kampfentschlossen nach Westen blicken, wurde zu einer Medienikone der DDR und das Tor bei Paraden und auf Briefmarken zum Logo der Mauer.
Als Willy Brandt und Egon Bahr gegen Ende der 1960er Jahre gegenüber der DDR eine „Politik der kleinen Schritte“ einleiten, verzichteten sie auf Vokabeln wie „Schandmauer“ und „Ulbricht-KZ“. Ein weiterer Grund für das zunehmende Verstummen der Nazi-Vergleiche zum Thema Mauer war die Mitte der 1960er Jahre mit dem Auschwitz-Prozess beginnende Aufarbeitung der NS-Diktatur.
In der DDR blieb es bis in ihre letzten Jahre bei der Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“, aber im Jahr 1988 fehlte der „antifaschistische Schutzwall“ in den Lehrplänen für die Schulen.
Vorgeschichte.
1945–1949.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland 1945 gemäß den EAC-Zonenprotokollen beziehungsweise den Vereinbarungen der Konferenz von Jalta in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die von den alliierten Siegermächten USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich kontrolliert und verwaltet werden sollten. Analog wurde Groß-Berlin als Sitz des Kontrollrats und ehemalige Reichshauptstadt zur Viersektorenstadt. Damit gehörte Berlin nicht zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), hatte aber einen Sowjetischen Sektor.
Im Sommer 1945 wurden Demarkationslinien zwischen den Besatzungszonen, die sogenannten „Zonengrenzen“ gezogen. Teilweise wurden Schlagbäume und weiß-gelbe Holzpfeiler errichtet sowie Farbmarkierungen an Bäumen vorgenommen. Es war nun eine Genehmigung erforderlich, um die Zonengrenze zu überschreiten, nur für Pendler und Bauern wurde ein kleiner Grenzverkehr eingeführt. Auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) wurde in der SBZ die Deutsche Grenzpolizei aufgebaut, die am 1. Dezember 1946 erstmals aktiv wurde, Bestimmungen für den Gebrauch der Schusswaffe wurden erlassen. Für Reisen zwischen der SBZ und den Westzonen mussten nun "Interzonenpässe" beantragt werden. Erste Grenzanlagen wurden auf der Ostseite errichtet, insbesondere in Waldgebieten Stacheldraht-Hindernisse, an grenzüberschreitenden Straßen und Wegen Straßensperren.
Wenig später begann auf verschiedensten Ebenen der Kalte Krieg zwischen dem Westen und dem sich entwickelnden Ostblock. Zunächst folgte in der Auseinandersetzung des Kalten Kriegs ein gegenseitiger Schlagabtausch zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion. Das erste unlösbare Zerwürfnis waren die Reparationsleistungen, über die zwischen den noch gemeinsam tagenden vier Alliierten ein Streit entstand. Da die UdSSR inzwischen sah, dass sie aus ihrer Zone ihren Bedarf an Reparationszahlungen nicht decken konnte, forderte sie 1946/1947 auf verschiedenen alliierten Konferenzen eine Beteiligung an den Reparationen aus dem Ruhrgebiet, sonst könne sie nicht einer im Potsdamer Abkommen geplanten wirtschaftlichen Einheit zustimmen. Nur Frankreich akzeptierte dies, die USA und Großbritannien nicht.
Zudem gab es das Problem der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme – Kapitalismus einerseits und Kommunismus andererseits, wobei die Sowjetunion zielgerichtet plante in der SBZ und Berlin ebenfalls eine kommunistische Gesellschaftsstruktur aufzubauen. Dies widersprach jedoch dem Vorhaben der Westmächte und den Wünschen der Mehrheit der Berliner. Nachdem in Berlin die Zwangsvereinigung der KPD mit der SPD gescheitert war, löste infolge der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin 1946 ein von der SPD Berlin dominierter Magistrat den von der SMAD im Mai 1945 eingesetzten und inzwischen von der SED beherrschten Magistrat Werner ab.
Von der Londoner Sechsmächtekonferenz im Februar 1948, auf der die Westmächte unter anderem über einen separaten Staat im Westen Deutschlands erstmals Verhandlungen abhielten, war die Sowjetunion ausgeschlossen; sie wurde nicht eingeladen. Daraufhin zog sich die Sowjetunion im März aus der obersten Behörde der Alliierten in Deutschland, dem Kontrollrat zurück, wodurch es keine gemeinsame interalliierte Kontrolle über Deutschland mehr gab. Im März 1948 einigten sich die drei siegreichen Westmächte, nachdem Frankreich seine Opposition aufgab, aus den drei Westzonen eine gemeinsame Trizone zu bilden. Ungefähr drei Monate später wurde kurzfristig – und für die Allgemeinheit überraschend – ab dem 20. Juni 1948 die Währungsreform in dieser neuen vereinigten Zone vollzogen, wodurch die D-Mark (West) eingeführt und die Reichsmark entwertet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Berliner Magistrat noch geschwankt, in welcher Form sich Berlin an der bevorstehenden Währungsreform beteiligen soll.
Das Resultat der Währungsreform war in Deutschland eine Spaltung der politischen und wirtschaftlichen Einheit in zwei sich gegenüberstehende Zonen mit zwei unterschiedlichen Währungen. Groß-Berlin war in zwei Währungsgebiete geteilt, weil die Westalliierten in ihren Sektoren die von der SMAD angeordnete Einführung der DM-Ost nicht hingenommen und ihrerseits die DM-West als zweite Währung eingeführt hatten. Dies schuf unter anderem erste Probleme, wenn Wohn- und Arbeitsort der Einwohner Berlins im jeweils anderen Gebiet lagen.
Die Sowjetunion reagierte mit der Berlin-Blockade, die vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 andauerte, und der erfolgreichen Teilung Berlins im September 1948. Im sowjetischen Sektor übte fortan die SED die Macht aus. Dieser legte sich den propagandistischen Namen "Demokratischer Sektor" zu. Um den Verkehr Berlins mit der SBZ und später der DDR zu kontrollieren, ließ die SMAD im Juni 1948 durch die Brandenburgische Landespolizei den "Ring um Berlin" anglegen. Auch nach dem Ende der Blockade blieb er bestehen, wobei ab Oktober 1950 die Deutsche Grenzpolizei die Kontrollposten übernahm.
Eine weitere Auswirkung des Kalten Kriegs war, dass Groß-Berlin sich zu einem zentralen Gebiet von gegenseitigen Bespitzelungen der Nachrichtendienste aus Ost und West entwickelte.
1949–1959.
Unmittelbar nach dem Ende der sowjetischen Blockade wurde auf dem Gebiet der Trizone am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Am 7. Oktober desselben Jahres folgte in der SBZ die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Formal hatte Berlin den Status einer bezüglich deutschen Militärs entmilitarisierten Viersektorenstadt und war unabhängig von den beiden deutschen Staaten, was jedoch in der Praxis wenig Bedeutung hatte. West-Berlin näherte sich in vielem dem Status eines Bundeslandes an und wurde von bundesdeutscher Seite auch als solches betrachtet. Bei der Gründung der DDR wurde Berlin laut Verfassung zu deren Hauptstadt erklärt, jedoch galt die Verfassung nicht in Ost-Berlin. In den Folgejahren wurde Ost-Berlin bei Fortgeltung des Viermächtestatus faktisch ein Teil der DDR. Die Bezeichnung "Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik" für den Ostteil der Stadt wurde erst 1958 durch die Sowjetunion eingeführt.
Seit Bestehen der DDR flüchteten Bürger in die Bundesrepublik, wobei auch außergewöhnliche und oft lebensgefährliche Fluchtmöglichkeiten ergriffen wurden.
Im Jahr 1952 begann die DDR die innerdeutsche Grenze mittels Zäunen, Bewachung und Alarmvorrichtungen zu sichern und richtete auch eine fünf Kilometer breite Sperrzone ein, die nur mit einer Sondergenehmigung – typischerweise für Anwohner – betreten werden durfte. In Richtung der Grenze gab es wiederum einen 500 Meter breiten Schutzstreifen, an den sich unmittelbar an der Grenze ein zehn Meter breiter Kontrollstreifen anschloss. „Unzuverlässige“ Bewohner wurden aus dem Grenzgebiet – beispielsweise in der „Aktion Ungeziefer“ – zwangsumgesiedelt.
Ebenfalls seit 1952 gab es von der SED-Führung Überlegungen, die Grenze zu den Westsektoren abzuriegeln. Zum einen fehlte damals aber eine Zustimmung der Sowjetunion, zum anderen wäre eine Abriegelung aus verkehrstechnischen Gründen kaum möglich gewesen: Zwar ließ die SED-Führung bereits 1956 den – derzeit weitgehend verfallenen – Bahnhof Potsdam Pirschheide zum Bahnhof Potsdam Süd ausbauen, der 1960 in „Hauptbahnhof“ umbenannt wurde. Allerdings war die Deutsche Reichsbahn weiterhin auf Fahrten durch die Westsektoren angewiesen. Die Umfahrung West-Berlins war erst mit der vollständigen Fertigstellung des Berliner Außenringes (BAR) im Mai 1961 möglich, eines Eisenbahnringes, der gleichzeitig den Anschluss an die ihn kreuzenden Radialstrecken zu den Bahnhöfen "Birkenwerder", "Hennigsdorf", "Albrechtshof", "Staaken", "Potsdam Stadt", "Teltow", "Mahlow" und letztlich den Anschluss an die Görlitzer Bahn sicherte. Das einzige Verkehrsprojekt, das zu diesem Zeitpunkt einen tatsächlich unabhängigen Verkehr ermöglichte, ohne das Gebiet der Westsektoren zu nutzen, war der mit beachtlicher Leistung von 1950 bis 1952 entstandene Havelkanal.
Gleichwohl wurden auf vielen in die Westsektoren führenden Straßen, in Eisenbahnen und anderen Verkehrsmitteln durch die Volkspolizei intensiv Personenkontrollen durchgeführt, um u. a. Fluchtverdächtige und Schmuggler aufzugreifen. Jedoch waren die 45,1 Kilometer lange Sektorengrenze als Stadtgrenze zwischen West- und Ost-Berlin und die Grenze zum Umland mit etwa 120 Kilometern kaum vollständig zu kontrollieren, sie wirkten daher wie ein Schlupfloch durch die zunächst weiterhin offen bleibende Grenze.
So flohen von 1945 bis zum Bau der Berliner Mauer insgesamt etwa 3,5 Millionen Menschen, davon zwischen 1949 und 1961 rund 2,6 Millionen Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR sowie Ost-Berlin. Außerdem war auch für viele Menschen aus Polen und der Tschechoslowakei Berlin ein Tor zur Flucht in den Westen. Da es sich bei den Flüchtlingen oft um gut ausgebildete junge Leute handelte, bedrohte diese Abwanderung die Wirtschaftskraft der DDR und letztlich den Bestand des Staates.
1959–1961.
Die Sowjetunion verfolgte das Ziel, West-Berlin zu einer Freien Stadt zu wandeln, eine Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik und einen Friedensvertrag zu erreichen. Im Falle einer Ablehnung drohte sie den Westmächten damit, der DDR die Kontrolle aller Wege zwischen dem Bundesgebiet und den Westsektoren Berlins zu übertragen. Die Bundesregierung wies die Forderungen, die Teil des Chruschtschow-Ultimatums waren, am 5. Januar 1959 zurück. Eine Aufgabe ihrer Position in Berlin lehnten die Vereinigten Staaten ebenso ab. Dies führte zum Scheitern dieser längerfristigen Versuche der Sowjetunion.
Während dieser drei Jahre (1959–1961) spitzte sich zudem die Lage wieder zu, die DDR geriet auf fast allen Gebieten in eine erneute, aber noch tiefere Krise als 1952/1953. Bei der ersten Krise in der DDR von 1952 bis 1953 sprang die UdSSR noch ein und verzichtete auf einen Teil von Zahlungen beispielsweise bei der Übergabe der Sowjetischen Aktiengesellschaften an die DDR, leistete zusätzliche Lieferungen von Getreide, Erz und Koks. Nach dem Volksaufstand erfolgte noch ein weiterer Verzicht auf Zahlungen und es kam erneut zu Warenlieferungen. Jedoch bei der jetzigen Krise, entstanden unter anderem durch Fehler bei der Kollektivierung der Landwirtschaft, blieb eine Unterstützung der Sowjetunion für die DDR durch zusätzliche Lieferungen oder Zahlungen aus. Die Informationen zur Krise sind unter anderem selbst durch Meldungen des MfS an die Partei- und Staatsführung dokumentiert.
Ein weiteres Problem waren die „Ost- und West-Grenzgänger“ im Raum Berlin. Zum Zeitpunkt der Einführung der Ost-Mark in Berlin und der SBZ am 23. Juni 1948 und der Deutschen Mark (DM-West) in den Westsektoren Berlins am 24. Juni waren rund 122.000 West-Berliner in Ost-Berlin oder im Berliner Umland beschäftigt und wurden dort mit Ost-Mark entlohnt (Ost-Grenzgänger), während 76.000 Ost-Berliner in den Westsektoren Berlins arbeiteten, wo sie mit DM-Ost und nach und nach erhöhten Sätzen in DM-West bezahlt wurden (West-Grenzgänger). Um die freie Berufswahl auf dem Berliner Arbeitsmarkt aufrechtzuerhalten, hatten die Westmächte im März 1949, als die stufenweise Einführung der DM-West in ihren Sektoren beendet war, eine Lohnausgleichskasse geschaffen. Dort konnten die Ost-Grenzgänger 60 % ihrer DM-Ost-Lohnsumme zum Kurs von 1:1 in DM-West umtauschen, während die West-Grenzgänger nur 10 % ihres Einkommens in DM-West ausgezahlt bekamen und 90 % in DM-Ost. Weil nach der Spaltung Berlins die Ost-Grenzgänger in das politische und gesellschaftspolitische Programm der SED, den "Aufbau des Sozialismus", nicht einzubinden waren, reduzierte sie deren Zahl durch Massenentlassungen und die Sperrung der Grenze Berlins zur DDR für West-Berliner ab dem Jahr 1952 auf 13.000. Knapp die Hälfte der Ost-Grenzgänger waren 1961 Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn, die übrigen darstellende Künstler, Musiker, hochqualifizierte Wissenschaftler und Techniker oder sie gehörten zum Personal der beiden christlichen Kirchen. Mit der Reduktion der Ost-Grenzgänger hatte die SED es der Lohnausgleichskasse ermöglicht, die Westgeldquote für West-Grenzgänger bis 1961 auf 40 %, maximal aber 275 DM-West, anzuheben. Deren Zahl betrug trotz administrativer Benachteiligungen am Wohnort im Frühjahr 1961 etwa 50.000. Im Unterschied zu ihren Mitbürgern konnten sie sich Urlaubsreisen nach Westdeutschland oder ins westliche Ausland sowie die Anschaffung hochwertiger „Westwaren“ erlauben. Die Existenz dieser in den "Aufbau des Sozialismus" nicht integrierbaren Bürger empfand die SED als ständiges Ärgernis. Zur Vorbereitung des Mauerbaus leitete sie eine Hetzkampagne gegen die West-Grenzgänger als Verräter, Kriminelle und Schmarotzer ein. Zur Lösung des Problems schlug der Ost-Magistrat dem Senat die Bildung einer gemeinsamen Kommission vor; jedoch lehnte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt Gespräche ab: „Es gäbe kein Grenzgängerproblem, wenn die andere Seite auf freie Berufswahl achten würde.“ Daraufhin ordnete der Ost-Berliner Magistrat am 4. August 1961 an, dass die West-Grenzgänger Mieten sowie andere Abgaben künftig in DM-West zu zahlen haben, was in der Praxis ihr Ende bedeutet hätte.
Zudem stieg in diesen letzten Jahren vor dem Mauerbau die Zahl der Flüchtlinge in den Westen – auch von gut ausgebildeten Fachkräften – rapide an, was die ökonomische Krise der DDR erheblich verstärkte. Die Hälfte der Flüchtlinge war unter 25 Jahre alt. Der Mangel an Arbeitskräften war inzwischen so schwerwiegend, dass die DDR gefährdet war, ihre Wirtschaft nicht mehr aufrechterhalten zu können, denn allein im Ostteil Berlins fehlten 45.000 Arbeitskräfte. Der DDR drohte sowohl ein personeller wie intellektueller Aderlass. Diese Fluchtwelle erreichte 1961 ebenfalls Höchstwerte. Im Monat Juli waren es schon 30.000 und am 12. August 1961, also an einem einzigen Tag, flüchteten 3.190 Personen.
Mauerbau.
Die Entscheidung zur Schließung der Sektorengrenze fiel bei einer Besprechung zwischen Chruschtschow und Ulbricht am 3. August 1961 in Moskau, nachdem sich die sowjetische Führung seit Mitte der 1950er Jahre lange gegen ein solches Vorhaben verwahrt hatte. Das Vorhaben des Mauerbaus beziehungsweise wörtlich der „Sicherung der Westgrenze“ wurde dann auf der Tagung der politischen Führungschefs der Staaten des Warschauer Vertrages vom 3. bis 5. August 1961 beschlossen. Die Mauer sollte den Machthabern des Ostblocks dazu dienen, die umgangssprachlich so bezeichnete „Abstimmung mit den Füßen“, weg aus dem „sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat“, endgültig durch Abriegelung der Grenzen zu stoppen.
Der Plan zum Mauerbau war ein Staatsgeheimnis der DDR-Regierung. Erst am 10. August 1961, drei Tage vor dem Mauerbau, bekam der Bundesnachrichtendienst erste Hinweise auf einen Mauerbau. Die Mauer wurde auf Geheiß der SED-Führung unter Schutz und Überwachung durch Volkspolizisten, Soldaten der Nationalen Volksarmee und zum Teil Angehörigen der Kampfgruppen von Bauarbeitern errichtet – entgegen den Beteuerungen des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 im großen Festsaal des "Hauses der Ministerien" in Ost-Berlin. Die Journalistin Annamarie Doherr von der "Frankfurter Rundschau" hatte dort damals die Frage gestellt:
Walter Ulbricht antwortete:
Ulbricht war damit der Erste, der den Begriff „Mauer“ in diesem Bezug öffentlich verwendete – zwei Monate, bevor sie überhaupt stand. Über den Bau der Mauer war zu jenem Zeitpunkt jedoch noch nicht entschieden.
Das angesprochene Ziel einer vertraglichen Vereinbarung war von Ulbricht mit Chruschtschow in einem Briefwechsel am 18. und 30. Januar 1961 bestätigt worden.
Moskau und Ost-Berlin gingen im Februar von einem Friedensvertrag aus, den Chruschtschow anderthalb Wochen vor dem Mauerbau im Juni 1961 bei seinem Gipfeltreffen in Wien mit Kennedy mit der DDR abzuschließen angekündigt hatte.
Die Warschauer Vertragsstaaten beschlossen erst am 3. bis 5. August 1961 in Moskau die Maßnahmen des 13. August 1961 in formeller Weise, Absprachen und materielle Vorbereitungen hatte es schon vorher gegeben.
Zwar wurden die westlichen Alliierten durch Gewährsleute über die Planung „drastischer Maßnahmen“ zur Abriegelung von West-Berlin informiert, vom konkreten Zeitpunkt und Ausmaß der Absperrung gaben sie sich jedoch öffentlich überrascht. Da ihre Zugangsrechte nach und innerhalb Berlins nicht beschnitten wurden, ergab sich dadurch aber kein Anlass, militärisch einzugreifen. Die Außenminister der drei Westmächte und der Bundesrepublik beschlossen am 7. August in Paris, vorbereitende Maßnahmen zu treffen, um einer kritischen Situation in Berlin begegnen zu können.
Auch der Bundesnachrichtendienst (BND) hatte ähnliche Informationen bereits Mitte Juli erhalten. Nach Ulbrichts Besuch bei Chruschtschow während des hochrangigen Treffens der Warschauer-Pakt-Staaten von 3. bis 5. August 1961 in Moskau stand im BND-Wochenbericht vom 9. August:
In der veröffentlichten Erklärung der Teilnehmerstaaten des Treffens des Warschauer Pakts wurde vorgeschlagen, „an der Westberliner Grenze der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers den Weg zu verlegen und um das Gebiet Westberlins eine verlässliche Bewachung und wirksame Kontrolle zu gewährleisten.“ Am 7. August kündigte Ministerpräsident Chruschtschow in einer Rundfunkrede eine Verstärkung der Streitkräfte an der sowjetischen Westgrenze und die Einberufung von Reservisten an. Am 11. August billigte die Volkskammer der DDR die Ergebnisse der Moskauer Beratung und fasste einen „Beschluss zu Fragen des Friedensvertrages“. In ihm wurde der Ministerrat mit einer vage gehaltenen Formulierung beauftragt, „alle Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen, die sich auf Grund der Festlegungen der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und dieses Beschlusses als notwendig erweisen“.
Am Samstag, dem 12. August, ging beim BND aus Ost-Berlin folgende Information ein:
Ulbricht lud am 12. August zu 16 Uhr Mitglieder des SED-Politbüros, Minister und Staatssekretäre, die Vorsitzenden der Blockparteien und den Oberbürgermeister von Ost-Berlin zu einem „Beisammensein“ in das Gästehaus der DDR-Regierung am Großen Döllnsee, rund 80 km nördlich von Berlin, ein, wo sie von der Außenwelt abgeschnitten und unter Kontrolle waren. Er verschwieg zunächst den Zweck des Treffens, lediglich die Mitglieder des SED-Politbüros waren bereits am 7. August eingeweiht worden. Gegen 22 Uhr lud Ulbricht zu einer „kleinen Sitzung“ ein. Auf ihr teilte er seinen Gästen mit: „Aufgrund der Volkskammerbeschlüsse werden heute Nacht zuverlässige Sicherungen an der Grenze vorgenommen.“
In dem von den Mitgliedern des Ministerrates ohne Widerspruch unterschriebenen Beschluss hieß es: „Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist. Es ist an den Westberliner Grenzen eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle zu gewährleisten, um der Wühltätigkeit den Weg zu verlegen.“ Ulbricht hatte die Anweisungen für die Grenzschließung schon vor dem Eintreffen der Gäste unterschrieben. Honecker hatte die „Operation Rose“ ausgearbeitet und war längst auf dem Weg in das Ost-Berliner Polizeipräsidium, der Einsatzzentrale für die Abriegelung der Grenze zu West-Berlin.
In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 begannen NVA sowie 5000 Angehörige der Deutschen Grenzpolizei (Vorläufer der Grenztruppen) mit 5000 Kräften der Schutzpolizei und der Volkspolizei-Bereitschaften sowie 4500 Angehörigen der Betriebskampfgruppen, die Straßen und Schienenwege nach West-Berlin abzuriegeln. Dabei waren seitens der NVA die 1. motorisierte Schützendivision sowie die 8. motorisierte Schützendivision unter maßgeblicher Beteiligung von Einheiten aus Prora als zweite „Sicherungsstaffel“ in einer Tiefe von rund 1000 Metern hinter der Grenze eingesetzt. Auch sowjetische Truppen hielten sich in erhöhter Gefechtsbereitschaft und waren an den alliierten Grenzübergängen präsent. Alle noch bestehenden Verkehrsverbindungen zwischen den beiden Teilen Berlins wurden unterbrochen. Dies betraf allerdings nur noch die U-Bahn und die S-Bahn. Dabei waren die West-Berliner S- und U-Bahn-Linien auf den Tunnelstrecken unter Ost-Berliner Gebiet nur insofern betroffen, als die Stationen abgesperrt wurden und ein Ein- bzw. Ausstieg nicht mehr möglich war. Die Züge fuhren ab dem 13. August abends ohne Halt durch die zu sogenannten „Geisterbahnhöfen“ gewordenen Stationen. Nur die den Bahnhof Friedrichstraße berührenden Linien hielten hier, um das Erreichen der eingerichteten Grenzübergangsstelle zu ermöglichen. Erich Honecker verantwortete als damaliger ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR (NVR) die gesamte Planung und Umsetzung des Mauerbaus politisch im Namen der SED-Führung.
Der 13. August 1961 wird als „Tag des Mauerbaus“ bezeichnet, doch eigentlich wurde an diesem Tag nur die Sektorengrenze abgeriegelt. Als Grenzsicherung wurden an diesem und den Folgetagen an einigen Stellen Mauern errichtet, an anderen wurden Zäune aufgestellt und Stacheldraht gezogen. Auf der Südseite der Bernauer Straße an der Grenze zwischen den Bezirken Mitte und Wedding gehörte der Bürgersteig zu West-Berlin, während die Gebäude auf Ost-Berliner Gebiet standen. In solchen Fällen wurden die Hauseingänge zugemauert. Die Bewohner gelangten nur noch über die Hinterhöfe zu ihren Wohnungen. In den Tagen nach der Abriegelung der Sektorengrenze kam es zu vielen Fluchtversuchen, die später durch z. B. das Zumauern der Fenster, die sich an der Sektorengrenze nach West-Berlin öffneten, und den weiteren Ausbau der Grenzsicherungsanlagen erschwert wurden.
Die Abriegelung brachte auch skurrile Situationen mit sich, vor allem im Bereich der Exklaven, wo es Jahre später teilweise auch zu Gebietsaustauschen kam. So wurde das Lenné-Dreieck am Potsdamer Platz, obwohl zu Ost-Berlin gehörend, bei Errichtung der Mauer ausgespart. Mangels Befugnissen der West-Berliner Behörden entwickelte sich das Terrain zeitweise zu einem faktisch rechtsfreien Raum.
Die sowjetische Regierung erklärte am 24. August, dass die Luftkorridore nach West-Berlin zur Einschleusung westdeutscher „Agenten, Revanchisten und Militaristen“ missbraucht würden. West-Berlin gehöre nicht zur Bundesrepublik; deshalb könne sich die Kompetenz von Amtsstellen der Bundesrepublik nicht auf Berlin erstrecken.
Bis zum September 1961 desertierten allein von den eingesetzten Sicherungskräften 85 Mann nach West-Berlin, außerdem gab es 216 gelungene Fluchtversuche von 400 Menschen. Unvergessen sind bekannt gewordene Bilder von Flüchtlingen, die sich an Bettlaken aus Häusern in der Bernauer Straße abseilten, einer alten Frau, die sich in ein Sprungtuch der West-Berliner Feuerwehr fallen ließ, und dem den Stacheldraht überspringenden jungen Grenzpolizisten Conrad Schumann.
Reaktionen der DDR-Bürger.
Der DDR-Bevölkerung war durchaus bewusst, dass die Schließung der Sektorengrenze der Unterbindung der Fluchtbewegung („Republikflucht“) sowie des „Grenzgängertums“ galt. Dennoch kam es nur zu vereinzelten Protesten. So fanden sich bereits am 13. August Ost-Berliner an den Grenzübergängen zu West-Berlin ein, die lautstark ihren Unmut artikulierten. Allein am Übergang Wollankstraße in Pankow versammelten sich rund 500 Menschen. Immer wieder drängten DDR-Grenzpolizisten die Demonstranten gewaltsam von den Absperrungen zurück. Außerdem nutzten viele DDR-Bürger die noch vorhandenen Schlupflöcher in der Sektorengrenze für eine Flucht in den Westen. Massenproteste gegen die Grenzsperrung wie in West-Berlin blieben jedoch aus. Auch in den DDR-Betrieben kam es in der folgenden Arbeitswoche nur zu vereinzelten Streiks. Am stärksten rebellierte die Jugend, die sich in ihrer Freiheit eingeschränkt und vor allem von der westlichen Freizeitkultur abgeschnitten sah. Die Staatssicherheit registrierte eine Reihe von politischen „Jugendbanden“. Die bekannteste Gruppe war der Strausberger „Ted-Herold-Fanklub“ um Michael Gartenschläger, der offen gegen den Mauerbau protestierte. Dagegen äußerten die Künstler des DDR-Schriftstellerverbandes und der Akademie der Künste der DDR ihre uneingeschränkte Zustimmung zu den „Maßnahmen der Regierung der DDR“ am 13. August 1961. Dass es zu keinem Aufstand gegen die Mauer kam, wird in der Forschung zurückgeführt auf die Angst der DDR-Bürger vor Repressionen in Erinnerung an den niedergeschlagenen Volksaufstand vom 17. Juni 1953 sowie auf die Überrumpelung durch die SED-Führung, die die Grenzschließung im Geheimen vorbereitet hatte. Neuere Untersuchungen erweitern den Radius der Motive für die ausgebliebenen Massenproteste. So verfolgten viele DDR-Bürger die Grenzschließung mit Gleichgültigkeit, weil sie entweder privat bzw. beruflich nicht direkt davon betroffen waren oder die Wirtschaftskrise, die sie als massive Versorgungskrise zu spüren bekamen, empörender fanden. Andere fanden die Grenzabriegelung notwendig, damit der DDR durch die anhaltende Fluchtbewegung nicht noch mehr Fachkräfte verloren gingen. Einige begrüßten den Mauerbau, weil sie hofften, die Umsetzung der sozialistischen Idee lasse sich nun ungestört realisieren.
Nicht alle haben gleichgültig reagiert oder zugestimmt. Junge Leute opponierten, worüber die Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Robert-Havemann-Gesellschaft auf ihrer Website "Jugendopposition.de" berichten.
Westdeutsche und West-Berliner Reaktionen.
Bundeskanzler Konrad Adenauer rief noch am selben Tag über Radio die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit auf und verwies auf nicht näher benannte Reaktionen, die gemeinsam mit den Alliierten folgen würden. Erst am 22. August, neun Tage nach dem Mauerbau, besuchte er West-Berlin. Auf politischer Ebene protestierte allein der Regierende Bürgermeister Willy Brandt energisch – aber letztlich machtlos – gegen die Einmauerung West-Berlins und die endgültig scheinende Teilung der Stadt. Die westdeutschen Bundesländer gründeten noch im selben Jahr die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, um Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet der DDR zu dokumentieren und so zumindest symbolisch dem Regime Einhalt zu gebieten. Am 16. August 1961 kam es zu einer Protestdemonstration von Willy Brandt und 300.000 West-Berlinern vor dem Rathaus Schöneberg.
Im offiziellen Sprachgebrauch des Senats wurde die Mauer bald nur noch als Schandmauer bezeichnet.
Alliierte Reaktionen.
Die Reaktionen der Westmächte auf den Mauerbau kamen zögerlich und sukzessive: Nach 20 Stunden erschienen Militärstreifen an der Grenze. Nach 40 Stunden wurde eine Rechtsverwahrung an den sowjetischen Kommandanten Berlins geschickt. Nach 72 Stunden gingen diplomatische Proteste der Alliierten – um der Form Genüge zu tun – direkt in Moskau ein. Es gab immer wieder Gerüchte, dass die Sowjets den westlichen Alliierten vorher versichert hätten, deren Rechte an West-Berlin nicht anzutasten. 1970 erhielt Egon Bahr Nachricht darüber, dass keine der Westmächte in Moskau gegen den Mauerbau protestiert hatte.
Ausgehend von dieser Haltung der Sowjets hatte der amerikanische Präsident Kennedy bereits Anfang Juni 1961 dem sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow bei einem Treffen in Wien seine Zustimmung gegeben, dass Maßnahmen ergriffen werden könnten, um die Abwanderung der Menschen aus der DDR und Ost-Berlin nach West-Berlin zu verhindern. Voraussetzung war allerdings der freie Zugang nach West-Berlin. Tatsächlich war angesichts der Erfahrung der Berlin-Blockade der Status von West-Berlin in den Augen der Westalliierten stets gefährdet – der Mauerbau war nun eine konkrete Manifestierung des Status quo:
US-Präsident John F. Kennedy reagierte zunächst nur zurückhaltend, stand aber zur „freien Stadt“ Berlin. Er reaktivierte General Lucius D. Clay, den „Vater der Berliner Luftbrücke“, und schickte ihn zusammen mit dem US-Vizepräsident Lyndon B. Johnson nach West-Berlin. Am 19. August 1961 trafen die beiden in der Stadt ein. Die amerikanischen Kampftruppen in der Stadt wurden verstärkt: 1.500 Mann der 8. US-Infanteriedivision fuhren aus Mannheim kommend über die Transitstrecke durch die DDR nach West-Berlin. Bei ihrer Ankunft in der Stadt wurden die Truppen von den Menschen mit so großem Jubel begrüßt, dass die US-Mission nach Washington schrieb, man fühle sich an die Begeisterung bei der Befreiung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg erinnert. Beides machte der verunsicherten West-Berliner Bevölkerung klar, dass die Vereinigten Staaten zu ihren Rechten in der Stadt stehen würden. Die Amerikaner wiesen Versuche der Volks- und Grenzpolizei energisch zurück, alliierte Offiziere und Angestellte kontrollieren zu wollen. Schließlich wirkte Marschall Iwan Konew, Oberkommandierender der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), mäßigend auf die DDR-Funktionäre ein.
Zu einer direkten Konfrontation zwischen amerikanischen und sowjetischen Truppen kam es am 27. Oktober 1961 am Checkpoint Charlie auf der Friedrichstraße, als – infolge von Unstimmigkeiten – jeweils 30 Kampfpanzer der amerikanischen und sowjetischen Armee unmittelbar am Grenzstreifen einander gegenüber auffuhren. Am nächsten Tag wurden allerdings beide Panzergruppen wieder zurückgezogen. Dieses „kalte Scharmützel“ hatte aber enorme politische Bedeutung, weil es den Amerikanern auf diese Weise gelungen war, zu belegen, dass die UdSSR und nicht die DDR für den Ostteil Berlins verantwortlich war. Beide Seiten wollten den Kalten Krieg nicht wegen Berlin eskalieren lassen oder gar einen Atomkrieg riskieren.
Der US-amerikanische Außenminister Dean Rusk sprach sich in einem Fernsehinterview am 28. Februar 1962 für die Schaffung einer internationalen Behörde zur Überwachung des freien Zugangs nach Berlin und gegen eine Anerkennung der DDR aus, und am 24. April erklärte Rusk, die US-Regierung halte den freien Zugang nach Berlin mit Befugnissen der DDR-Behörden an den Zugangswegen für unvereinbar. Der bundesdeutsche Außenminister Heinrich von Brentano und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle wiederum sprachen sich in Pressekonferenzen gegen eine internationale Zugangskontrollbehörde für Berlin aus.
Im Juni 1963 besuchte US-Präsident John F. Kennedy Berlin. Vor dem Rathaus Schöneberg hielt er eine Rede über die Mauer, in der er die historischen Worte „Ich bin ein Berliner“ sprach. Dieser symbolische Akt bedeutete den West-Berlinern – insbesondere in Anbetracht der amerikanischen Akzeptanz beim Bau der Mauer – viel. Für die Westalliierten und die DDR bedeutete der Mauerbau eine politische und militärische Stabilisierung, der Status quo von West-Berlin wurde festgeschrieben – die Sowjetunion gab ihre im Chruschtschow-Ultimatum noch 1958 formulierte Forderung nach einer entmilitarisierten, „freien“ Stadt West-Berlin auf.
Am 22. August 1962 wurde die sowjetische Kommandantur in Berlin aufgelöst. Am 28. September 1962 erklärte der US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara in Washington, dass der freie Zugang nach Berlin mit allen Mitteln zu sichern sei. Die Außenminister der drei Westmächte und der Bundesrepublik kamen am 12. Dezember 1962 in Paris überein, dass der Sowjetunion keine neuen Vorschläge zur Berlin-Frage gemacht werden sollten.
Anlässlich eines Arbeitsbesuches von Bundeskanzler Ludwig Erhard am 11. Juni 1964 in Paris bot der französische Präsident Charles de Gaulle für den Fall eines militärischen Konflikts um Berlin oder die Bundesrepublik den sofortigen Einsatz französischer Atomwaffen an.
Die Regierungen der drei Westmächte bekräftigten in einer gemeinsamen Erklärung am 26. Juni 1964 zum Freundschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 12. Juni 1964 ihre Mitverantwortung für ganz Berlin.
DDR-Propaganda.
Die DDR-Propaganda stellte die Mauer wie auch die gesamte Grenzsicherung zur Bundesrepublik als Schutz vor „Abwanderung, Unterwanderung, Spionage, Sabotage, Schmuggel, Ausverkauf und Aggression aus dem Westen“ dar. Zur Propagierung dieser Darstellung gehörte das Veranstalten von Schauprozessen, wovon der gegen Gottfried Strympe 1962 mit einem Justizmord endete. Die Sperranlagen richteten sich hauptsächlich gegen die eigenen Bürger. Dieser Umstand durfte in der Öffentlichkeit der DDR ebenso wenig thematisiert werden wie die Tatsache der massenhaften Flucht aus der DDR. Zunächst war das ungenehmigte Verlassen des Gebiets der DDR gemäß § 8 des Pass-Gesetzes der DDR seit 1954 strafbar, erst mit Inkrafttreten des Strafgesetzbuches der DDR am 1. Juli 1968 drohte für einen "ungesetzlichen Grenzübertritt" eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die jedoch in der Urteilspraxis mit bis zu fünf Jahren überschritten wurde. Eine Gesetzesänderung vom 28. Juni 1979 setzte die Höchststrafe auf acht Jahre fest.
Anlässlich des fünften Jahrestages der Errichtung der Mauer forderte Ulbricht 1966 von der westdeutschen Regierung einen 30-Milliarden-DM-Kredit für die DDR, um „wenigstens einen Teil des Schadens“ wiedergutzumachen, der ihr vor Errichtung der Mauer durch „Ausplünderung“ seitens des Westens entstanden sei. Die Bonner Regierung habe beabsichtigt, „nach den Wahlen (im September 1961) mit einem offenen Angriff auf die DDR, dem Bürgerkrieg und militärischen Provokationen zu beginnen“. Der Mauerbau habe den Frieden der Welt gerettet.
Mauerjahre.
Der Bau der Mauer machte Berlin bald vom einfachsten Platz für einen unbefugten Übertritt von Ost- nach Westdeutschland zum schwierigsten. West-Berliner durften bereits seit dem 1. Juni 1952 nicht mehr frei in die DDR einreisen, nach Errichtung der Mauer konnten sie ab 26. August 1961 Ost-Berlin nicht mehr besuchen. Nach langen Verhandlungen wurde 1963 das Passierscheinabkommen getroffen, das mehreren hunderttausend West-Berlinern zum Jahresende ein Wiedersehen mit ihrer Verwandtschaft im Ostteil der Stadt ermöglichte. In den Jahren 1964, 1965 und 1966 kam es erneut zur befristeten Ausgabe von Passierscheinen. Ein fünftes Passierscheinabkommen folgte nicht. Ab 1966 gab die DDR nur in „Härtefällen“ Passierscheine an West-Berlinern für Verwandtenbesuche im Ostsektor aus.
Die DDR verbot ab dem 13. April 1968 Ministern und Beamten der Bundesrepublik den Transit nach West-Berlin durch ihr Gebiet. Am 19. April 1968 protestieren die drei Westmächte gegen diese Anordnung. Am 12. Juni 1968 führte die DDR die Pass- und Visumpflicht für den Transitverkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland ein. Als Reaktion auf die von der DDR eingeführten Visumgebühren im Berlin-Verkehr beschloss der NATO-Rat, künftig bei Reisegenehmigungen für DDR-Funktionäre in NATO-Staaten eine Gebühr zu erheben. Am 8. Februar 1969 erließ die DDR-Regierung mit Wirkung ab dem 15. Februar ein Durchreiseverbot für die Mitglieder der nach West-Berlin einberufenen Bundesversammlung sowie für Bundeswehrangehörige und Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages. Die sowjetische Regierung protestierte gegen die Wahl des Bundespräsidenten in West-Berlin. Am 5. März 1969 wurde dennoch Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt.
Die drei Westmächte schlugen der Sowjetunion am 15. Dezember 1969 Vier-Mächte-Gespräche über eine Verbesserung der Situation in Berlin und auf den Zugangswegen nach Berlin vor. 1971 sicherte das Viermächteabkommen über Berlin die Erreichbarkeit West-Berlins und beendete die wirtschaftliche Bedrohung durch Schließung der Zufahrtsrouten. Ferner bekräftigten alle vier Mächte die gemeinsame Verantwortung für ganz Berlin und stellten klar, dass West-Berlin kein Bestandteil der Bundesrepublik sei und nicht von ihr regiert werden dürfe. Während die Sowjetunion den Vier-Mächte-Status jedoch nur auf West-Berlin bezog, unterstrichen die Westalliierten 1975 in einer Note an die Vereinten Nationen ihre Auffassung vom Viermächtestatus über Gesamt-Berlin.
Ab Anfang der 1970er Jahre wurde mit der durch Willy Brandt und Erich Honecker eingeleiteten Politik der Annäherung zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (→ Neue Ostpolitik) die Grenze zwischen den beiden Staaten etwas durchlässiger. Die DDR gewährte nun Reiseerleichterungen, vornehmlich für „unproduktive“ Bevölkerungsgruppen wie Rentner, und vereinfachte für Bundesbürger aus grenznahen Regionen Besuche in der DDR. Eine umfassendere Reisefreiheit machte die DDR von der Anerkennung ihres Status als souveräner Staat abhängig und verlangte die Auslieferung von nicht rückkehrwilligen DDR-Reisenden. Die Bundesrepublik erfüllte aufgrund des Grundgesetzes diese Forderungen nicht.
Zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 gab es 5075 gelungene Fluchten nach West-Berlin, davon 574 Fahnenfluchten.
Mauerfall.
Zum Fall der Berliner Mauer kam es für alle Welt überraschend in der Nacht von Donnerstag, dem 9. November, auf Freitag, den 10. November 1989, nach über 28 Jahren ihrer Existenz. Nach Angaben Walter Mompers hatte von Seiten der DDR-Regierung im Oktober 1989 die Vorbereitung einer kontrollierten Öffnung im Monat Dezember 1989 begonnen: Er habe als Regierender Bürgermeister aus einem Gespräch mit Ost-Berlins SED-Chef Günter Schabowski und Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack am 29. Oktober davon gewusst und seinerseits in West-Berlin entsprechende Vorbereitungen für eine Öffnung der Mauer getroffen.
Die Öffnung der Mauer war die Folge von Massenkundgebungen in der Wendezeit und die Forderung nach Reisefreiheit. Ein weiteres wichtiges Motiv war zuvor die anhaltende Flucht großer Bevölkerungsteile der DDR in die Bundesrepublik Deutschland über das Ausland, teils über Botschaften in verschiedenen Hauptstädten damaliger Ostblockstaaten (unter anderem in Prag und Warschau), alternativ über die in Ungarn bereits beim Paneuropäischen Picknick am 19. August 1989 und umfassend seit dem 11. September 1989 offene Grenze zu Österreich und seit Anfang November direkt über die Tschechoslowakei; Aufenthalte im Prager Palais Lobkowitz und Ausreisen mit Flüchtlingszügen waren lediglich eine zeitweilige Lösung.
Nachdem der am 6. November 1989 veröffentlichte Entwurf eines neuen Reisegesetzes auf nachdrückliche Kritik gestoßen war und die tschechoslowakische Führung auf diplomatischem Wege zunehmend schärfer gegen die Ausreise von DDR-Bürgern über ihr Land protestierte, beschloss das Politbüro des Zentralkomitees der SED am 7. November, eine Regelung für die ständige Ausreise vorzuziehen.
Vom 8. bis 10. November 1989 fand im Gebäude des Zentralkomitees der SED die 10. Tagung des Zentralkomitees nach dem XI. Parteitag der SED statt. In derartigen Tagungen übte das Zentralkomitee in der Zeit zwischen den Parteitagen der SED seine Funktion als höchstes Organ der Partei aus. Am Ende eines jeden Sitzungstages sollte Ost-Berlins SED-Chef Günter Schabowski in seiner Funktion als "Sekretär des ZK der SED für Informationswesen" die Öffentlichkeit in einer rund einstündigen Pressekonferenz über die neuesten Ergebnisse der Beratungen des ZK informieren.
Am Morgen des 9. November erhielt Oberst Gerhard Lauter, Hauptabteilungsleiter für Pass- und Meldewesen im Innenministerium, die Aufgabe, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Der entsprechende Entwurf, der zusätzlich einen Passus zu Besuchsreisen enthielt, wurde am 9. November vom Politbüro bestätigt und in Richtung Ministerrat weitergeleitet. Im weiteren Geschäftsgang wurde zu dem Beschlussentwurf eine Vorlage an den Ministerrat erstellt, die zwar noch am selben Tag bis 18 Uhr im Umlaufverfahren gebilligt, aber erst am 10. November um 4 Uhr morgens als Übergangsregelung über die staatliche Nachrichtenagentur ADN veröffentlicht werden sollte.
Allerdings legte das Justizministerium der DDR am 9. November Einspruch ein. Parallel zum Umlaufverfahren wurde die Ministerratsvorlage am Nachmittag des 9. November im Zentralkomitee behandelt und leicht abgeändert. Die handschriftlich entsprechend abgeänderte Ministerratsvorlage übergab Egon Krenz an das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, bevor dieser zu der bereits seit Längerem angesetzten Pressekonferenz über die 10. Tagung des ZK ging, ohne ihn explizit über die beschlossene Sperrfrist bis 4 Uhr morgens zu informieren. Schabowski war bei den vorangegangenen Beratungen in Politbüro und ZK nicht anwesend gewesen.
Diese Pressekonferenz mit Schabowski, welche im Presseamt / Internationalen Pressezentrum der DDR-Regierung im Haus Mohrenstraße 36–37 in Ost-Berlin (jetzt: Teil des Bundesjustizministeriums) stattfand, über das Fernsehen und im Radio live übertragen wurde und daher von vielen Bürgern zeitgleich mitverfolgt werden konnte, wurde zum Auslöser für die Maueröffnung. Die anwesenden ZK-Mitglieder Labs, Banaschak, Schabowski und Beil sprachen wie erwartet über die laufende 10. Tagung des ZK sowie die angestrebte innere Erneuerung der SED und beantworteten auch Fragen der anwesenden Journalisten. Nachdem die Pressekonferenz etwa 55 Minuten gedauert hatte und sich allmählich ihrem Ende zuneigte, stellte der Korrespondent der italienischen Agentur ANSA, Riccardo Ehrman, um 18:53 Uhr eine Frage zum Reisegesetz. Im April 2009 gab Ehrman an, zuvor einen Anruf erhalten zu haben, in dem ihn ein Mitglied des Zentralkomitees bat, eine Frage zum Reisegesetz zu stellen. Später relativierte Ehrman diese Aussage und gab an, er sei zwar von Günter Pötschke, dem damaligen Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN, angerufen worden, dieser habe ihn jedoch letztlich nur gefragt, ob er die Pressekonferenz besuchen werde. Die Frage von Ehrman lautete in etwas gebrochenem Deutsch gemäß Protokoll der Pressekonferenz:
Auf diese Frage antwortete Schabowski sehr umständlich und ausschweifend. Schließlich fiel ihm ein, dass er die neuen Reiseregeln auf der Pressekonferenz auch noch vorstellen sollte und sagte:
Auf die Zwischenfrage eines Journalisten „Ab wann tritt das in Kraft? Ab sofort?“ antwortete Schabowski dann um 18:57 Uhr mit dem Verlesen des ihm von Krenz zuvor übergebenen Papiers:
Auf die erneute Zwischenfrage des Hamburger "Bild"-Zeitungsreporters Peter Brinkmann: „Wann tritt das in Kraft?“ antwortete Schabowski wörtlich:
Nach zweimaliger Zwischenfrage eines Journalisten „Gilt das auch für Berlin-West?“ fand Schabowski schließlich den entsprechenden Passus der Vorlage:
Westdeutsche und West-Berliner Rundfunk- und Fernsehsender verbreiteten sogleich, die Mauer sei „offen“ (was zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Praxis umgesetzt war). Mehrere Tausend Ost-Berliner zogen zu den Grenzübergängen und verlangten die sofortige Öffnung. Zu diesem Zeitpunkt waren weder die Grenztruppen noch die für die eigentliche Abfertigung zuständigen Passkontrolleinheiten (PKE) des Ministeriums für Staatssicherheit oder die sowjetische Armee in Berlin darüber informiert, was eine gewisse Gefahr eines – möglicherweise bewaffneten – Eingreifens bedeutete.
Um 20:30 Uhr passierten als erste DDR-Bürger im Rahmen der neuen vereinfachten Ausreisezusage Andreas Groß und sein Schwager die Grenze an der Waltersdorfer Chaussee nahe Schönefeld zwischen Brandenburg und Berlin-West. Oberstleutnant Heinz Schäfer tat zu diesem Zeitpunkt seinen Dienst an dem Übergang und ließ zuvor seine Soldaten entsprechend anweisen.
Um 21:15 Uhr passierten dann als folgende die DDR-Bürgerinnen Annemarie Reffert und ihre 16-jährige Tochter mit ihrem Pkw und ihren Personalausweisen den Grenzübergang Helmstedt-Marienborn. Da die Grenzsoldaten nicht informiert waren, wurden sie unter mehrmaligem Hinweis auf Schabowskis Verkündigung von einer Kontrollstelle zur nächsten weitergereicht und konnten passieren. Der Deutschlandfunk berichtete davon unmittelbar danach in einer Kurzmeldung.
Um den großen Druck der Menschenmassen zu mindern, wurde am Grenzübergang Bornholmer Straße um 21:20 Uhr den ersten Ostdeutschen dort erlaubt, nach West-Berlin auszureisen. Dabei wurden die Ausreisenden kontrolliert und anfangs noch die Personalausweise als ungültig gestempelt, die Inhaber sollten damit ausgebürgert werden.
Um 21:30 Uhr brachte auch der Radiosender RIAS erste Reportagen von offenen Grenzübergängen.
Hanns Joachim Friedrichs, der an diesem Tag die "Tagesthemen" moderierte, eröffnete die Sendung um 22:42 Uhr so:
Es sammelten sich nach und nach dichte Menschenmassen an allen Übergängen, teilweise wurde die Lage angespannt bzw. wirkte bedrohlich. Am Grenzübergang Bornholmer Straße befürchtete der diensthabende Leiter, dass Ausreisewillige auch an Waffen seiner Mitarbeiter kommen könnten, die diese bei sich trugen. Deshalb befahl Oberstleutnant Harald Jäger gegen 23:30 Uhr eigenmächtig, die Grenzübergangsstelle zu öffnen und die Passkontrollen einzustellen. Unter dem Druck der Massen und angesichts der fehlenden Unterstützung durch seine Vorgesetzten sah Jäger nur diesen Ausweg. Jäger sagte dazu in der ARD-Dokumentation "Schabowskis Zettel" vom 2. November 2009:
Über diesen Grenzübergang gelangten zwischen 23:30 Uhr und 0:15 Uhr schätzungsweise 20.000 Menschen nach West-Berlin.
Anders als von den meisten Historikern dargestellt, behauptet ein 2009 im ZDF gesendeter Dokumentarfilm, der Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee sei der erste offene Grenzübergang gewesen. Der Kommandant, Oberstleutnant Heinz Schäfer, sei direkt nach Schabowskis Pressekonferenz zu „seinem“ Grenzübergang gefahren, habe die Sicherungsanlagen abschalten lassen und seinen Grenzsoldaten befohlen, Ausreisewillige auch wirklich durchzulassen. Auch habe er sofort seinen Soldaten alle scharfe Munition abgenommen. Gegen 20:30 Uhr habe er den zwischen Rudow und Schönefeld gelegenen Kontrollpunkt geöffnet. DDR-Bürger berichten, dass sie am 9. November gegen 20:30 Uhr mit ihren Fahrrädern zum nahe gelegenen Grenzübergang an der Waltersdorfer Chaussee gefahren seien. Mit einem Ausreise-Stempel im Pass durften beide nach West-Berlin ausreisen; sie mussten kurioserweise ihre Fahrräder an der Grenze zurücklassen. Auf Westseite wollen mehrere Augenzeugen ebenfalls ab 20:30 Uhr den zunehmenden Grenzverkehr nach West-Berlin beobachtet haben. In umgekehrter Richtung, als Heimkehrer von einem genehmigten Tagesaufenthalt in West-Berlin zurückkommend, erzählt ein DDR-Bürger, dass er von den unbewaffneten Grenzsoldaten durchgewinkt worden sei. Auf die Bitte um eine Zählkarte für die nächste Ausreise sei ihm beschieden worden, eine solche würde er nicht mehr brauchen. Diese Darstellung wird von anderen Historikern mit Hinweis auf Mängel an der wissenschaftlichen Herangehensweise und der Darstellung widersprechender Stasi-Unterlagen angezweifelt.
Bis Mitternacht waren alle Grenzübergänge im Berliner Stadtgebiet offen. Auch die Grenzübergänge an der West-Berliner Außengrenze sowie an der innerdeutschen Grenze wurden in dieser Nacht geöffnet. Bereits am späten Abend verfolgten viele die Öffnung der Grenzübergänge im Fernsehen und machten sich teilweise dann noch auf den Weg. Der große Ansturm setzte am Vormittag des 10. November 1989 ein, da die Grenzöffnung um Mitternacht vielfach „verschlafen“ wurde.
Die DDR-Bürger wurden von der Bevölkerung West-Berlins begeistert empfangen. Die meisten Kneipen in der Nähe der Mauer gaben spontan Freibier aus und auf dem Kurfürstendamm gab es einen großen Volksauflauf mit hupendem Autokorso und wildfremden Menschen, die sich in den Armen lagen. In der Euphorie dieser Nacht wurde die Mauer auch von vielen West-Berlinern erklommen. Noch in der Nacht ordnete der Regierende Bürgermeister Walter Momper als Sofortmaßnahme die Schaffung zusätzlicher Aufnahmemöglichkeiten für Übersiedler sowie die Auszahlung des Begrüßungsgeldes über 100 DM auch durch die Sparkasse West-Berlins an. Einige Zeit nach Bekanntwerden der Nachricht von Schabowskis Pressekonferenz unterbrach der Bundestag in Bonn am Abend seine laufende Sitzung. Nach einer Pause gab Kanzleramtsminister Rudolf Seiters eine Erklärung der Bundesregierung ab, Vertreter aller Bundestagsfraktionen begrüßten in ihren Beiträgen die Ereignisse. Im Anschluss erhoben sich die anwesenden Abgeordneten spontan von ihren Sitzen und sangen die Nationalhymne.
Nach Angaben des West-Berliner Staatssekretärs Jörg Rommerskirchen und des "Bild"-Journalisten Peter Brinkmann war ihnen der Mauerfall bereits am Vormittag des 9. November bekannt. Rommerskirchen habe von Brinkmann einen vertraulichen Hinweis erhalten, dass es noch an diesem Tag zu einer Öffnung der Mauer kommen werde. Daraufhin habe man in West-Berlin im Eiltempo entsprechende Vorbereitungen getroffen.
Entwicklung nach dem Mauerfall.
Die Mauer wurde nach dem 9. November 1989 zunächst weiter bewacht und unkontrollierte Grenzübertritte durch den Mauerstreifen meist verhindert. In den ersten Wochen versuchten die Grenztruppen, die von den „Mauerspechten“ geschlagenen Löcher zu reparieren, während im Hinterland Restriktionen für die Anwohner außer Kraft traten.
Bereits bis zum 14. November öffnete die DDR zehn neue Grenzübergänge; darunter einige an besonders symbolträchtigen Orten wie dem Potsdamer Platz, der Glienicker Brücke und der Bernauer Straße. An diesen Übergängen versammelten sich Menschenmengen, die auf die Öffnung warteten und jedes herausgehobene Betonelement bejubelten. Am 22. Dezember wurde der Mauerabschnitt am Brandenburger Tor in Gegenwart von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Hans Modrow entfernt.
Bundesbürger und West-Berliner durften erstmals am 24. Dezember 1989 ab 0:00 Uhr visumfrei in die DDR einreisen; bis zu diesem Zeitpunkt hatten noch die Regelungen bezüglich Visumpflicht und Mindestumtausch gegolten. In den Wochen zwischen dem 9. November und dem 23. Dezember hatten die DDR-Bürger daher in gewisser Weise „größere Reisefreiheit“ als die Westdeutschen. Auch die Einreise in die DDR bzw. nach Ostberlin mit Fahrrädern, die im Kontrollverlust der ersten Nacht des Mauerfalls möglich gewesen war, blieb noch eine Zeitlang verboten.
Die Bewachung der Mauer wurde mit der Zeit immer lockerer; das unkontrollierte Überschreiten der Grenze durch die immer größer werdenden Löcher wurde zunehmend toleriert. Parallel dazu änderte sich die Praxis an den Übergängen hin zu nur noch stichprobenartiger Kontrolle des Verkehrsstroms. Der Prozess verstärkte sich besonders nach der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990. Bis zum 30. Juni 1990 wurden weitere neue Grenzübergänge nach West-Berlin geöffnet.
Am 1. Juli 1990, dem Tag des Inkrafttretens der Währungsunion, wurden die Bewachung der Mauer und sämtliche Grenzkontrollen eingestellt. Bereits am 13. Juni 1990 hatte in der Bernauer Straße der offizielle Abriss begonnen. Inoffiziell begann der Mauerabriss an der Bornholmer Straße wegen Bauarbeiten an der Eisenbahn. Daran beteiligt waren insgesamt 300 DDR-Grenzsoldaten sowie – nach dem 3. Oktober 1990 – 600 Pioniere der Bundeswehr. Diese waren mit 175 Lastwagen, 65 Kränen, 55 Baggern und 13 Planierraupen ausgerüstet. Der Abriss der innerstädtischen Mauer endete offiziell am 30. November 1990. Bis dahin fielen nach Schätzungen der Grenztruppenführung insgesamt rund 1,7 Millionen Tonnen Bauschutt an. Allein in Berlin wurden 184 km Mauer, 154 km Grenzzaun, 144 km Signalanlagen und 87 km Sperrgräben entfernt. Übrig blieben sechs Abschnitte, die als Mahnmal erhalten werden sollten. Der Rest der Mauer, insbesondere an der Berlin-brandenburgischen Landesgrenze, verschwand bis November 1991. Bemalte Mauersegmente mit künstlerisch wertvollen Motiven wurden in Auktionen 1990 in Berlin und Monte Carlo versteigert.
Einige der Mauersegmente finden sich inzwischen an verschiedenen Orten der Welt. So sicherte sich der US-Geheimdienst CIA für seinen Neubau in Langley (Virginia) einige künstlerisch verzierte Mauersegmente. In den Vatikanischen Gärten wurden im August 1994 einige Mauersegmente mit aufgemalter Sankt-Michaels-Kirche aufgestellt. Ein weiteres Teilstück der Mauer kann im Haus der Geschichte in Bonn besichtigt werden. Ein Segment steht in der Königinstraße am Englischen Garten in München, eines am Stabsgebäude der Panzerbrigade 21 „Lipperland“ in Augustdorf, weitere in einem Neubaugebiet in Weiden in der Oberpfalz, am Max-Mannheimer-Gymnasium Grafing und in einem Vorgarten in Essen-Rüttenscheid. Weitere stellt das Friedensmuseum im französischen Ort Caen in der Normandie und das Imperial War Museum in London aus.
Auch am Deutschen Eck in Koblenz befinden sich drei Mauerstücke der Berliner Mauer. Seit 2009 steht ein ein Meter breites Mauerstück an der Berliner Straße in Herford.
Das Mauersegment gegenüber dem Europäischen Informationszentrum in Schengen in unmittelbarer Nähe zum Dreiländereck Luxemburg–Deutschland–Frankreich erinnert daran, dass innerhalb Europas Freizügigkeit der Normalfall sein sollte. Alle Örtlichkeiten in den drei Staaten, die von diesem Segment aus zu sehen sind, können aufgrund des Schengener Abkommens unbehindert von Grenzkontrollen spontan aufgesucht werden.
Historische Bedeutung des Mauerfalls.
Der Mauerfall am 9. November 1989 markierte das Ende einer Epoche, indem er die sichtbarste Erscheinung im Fall des ganzen „Eisernen Vorhangs“ und des kommunistischen Systems in Osteuropa darstellte, was die Wiedervereinigung Deutschlands und die Überwindung der Teilung Europas ermöglichte.
Struktur der Berliner Grenzanlagen.
Die Berliner Mauer wurde ergänzt durch ausgedehnte Befestigungen der Grenze zur Bundesrepublik und – in geringerem Umfang – anderer Westgrenzen der Staaten des Warschauer Paktes, wodurch der sogenannte Eiserne Vorhang materielle Gestalt annahm.
Wie die übrige innerdeutsche Grenze wurde auch die Berliner Mauer über weite Strecken mit umfangreichen Systemen von Stacheldrahthindernissen, Gräben, Panzerhindernissen, Kontrollwegen und Postentürmen versehen. Allein etwa 1000 Diensthunde waren in Hundelaufanlagen bis Anfang der 1980er Jahre eingesetzt. Dieses System wurde über Jahrzehnte ständig ausgebaut. Dazu gehörte, dass nahe an der Mauer stehende Häuser, deren Bewohner zwangsweise umgesiedelt worden waren, gesprengt wurden. Noch am 28. Januar 1985 wurde an der Bernauer Straße sogar die Versöhnungskirche gesprengt. Das führte dazu, dass sich letztlich eine breite, nachts taghell beleuchtete Schneise durch die einst dicht bebaute Stadt zog.
Von der 167,8 Kilometer langen Grenze um West-Berlin lagen 45,1 km direkt in Ost-Berlin und 112,7 km im ostdeutschen Bezirk Potsdam. Hierbei sind zum Teil die Öffnungen der Grenzübergänge mit enthalten. 63,8 km des Grenzverlaufs lagen in bebautem, 32 km in bewaldetem und 22,65 km in offenem Gelände, 37,95 km der Grenze lag in oder an Flüssen, Seen und Kanälen. Die absolute Länge der Vorderlandgrenzanlagen in Richtung West-Berlin betrug dabei 267,3 km und die der Hinterlandgrenzanlagen in Richtung DDR 297,64 km.
Für die ostdeutschen Grenzsoldaten galt der Artikel 27 des Grenzgesetzes von 1982, wonach der Einsatz der Schusswaffe zur Verhinderung eines Grenzdurchbruches die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegen Personen war. Dies wird meist als Schießbefehl bezeichnet. Vor hohen Feiertagen oder Staatsbesuchen wurde der Einsatz der Schusswaffe ausdrücklich untersagt, um eine negative Westpresse zu vermeiden. Von West-Berlin wurde die Grenze von der West-Berliner Polizei und alliierten Militärstreifen beobachtet. Auffällige Aktivitäten wurden dokumentiert; auch um Einschleusungen von Spionen und Agenten nach West-Berlin zu verhindern. Später stellte sich heraus, dass es dennoch versteckte Mauerdurchgänge gab, die vom MfS genutzt wurden.
Aufbau der Grenzanlagen.
Die Grenzanlagen entstanden in mehreren Etappen. Am 13. August 1961 unterbanden Stacheldraht und Bewachung das einfache Wechseln zu oder aus den Westsektoren von Groß-Berlin. Ab dem 15. August wurde mit Betonelementen und Hohlblocksteinen die erste Mauer aufgebaut. Im Juni 1962 kam die sogenannte „Hinterlandmauer“ hinzu. 1965 ersetzten zwischen Stahl- oder Betonpfosten eingelassene Betonplatten die bisherigen Bauteile. Als ihr oberer Abschluss wurde eine Betonröhre aufgesetzt. Schließlich kam im Jahr 1975 als „dritte Generation“ die „Grenzmauer 75“ zum Einsatz, die nach und nach vollständig das bisherige Grenzbauwerk ablöste. Die moderneren Stahlbetonelemente des Typs „Stützwandelement UL 12.41“ mit 3,60 Meter Höhe wurden im VEB Baustoffkombinat Neubrandenburg mit Sitz in Malchin hergestellt. Sie waren einfach aufzubauen und resistenter gegen Umwelteinflüsse und Grenzdurchbrüche.
In ihrem Endausbaustadium – an manchen Stellen erst in den späten 1980er Jahren – bestanden die sich vollständig auf dem Territorium der DDR bzw. Ost-Berlins befindlichen Grenzanlagen – beginnend aus Richtung DDR bzw. Ost-Berlin – aus:
Die Gesamtbreite dieser Grenzanlagen war abhängig von der Häuserbebauung im Grenzgebiet und betrug von etwa 30 Meter bis etwa 500 Meter (am Potsdamer Platz). Minenfelder und Selbstschussanlagen wurden an der Berliner Mauer nicht aufgebaut (dies war aber in der DDR nicht allgemein bekannt), jedoch an der innerdeutschen Grenze zur Bundesrepublik.
Der Aufbau der von den Grenztruppen intern als "Handlungsstreifen" bezeichneten Grenze wurde als Militärgeheimnis behandelt und war den meisten DDR-Bürgern daher nicht genau bekannt. Die Grenzsoldaten waren zum Stillschweigen verpflichtet. Jeder Zivilist, der auffälliges Interesse an Grenzanlagen zeigte, lief mindestens Gefahr, vorläufig festgenommen und zum nächsten Polizeirevier oder Grenzkommando zur Identitätsfeststellung gebracht zu werden. Eine Verurteilung zu einer Haftstrafe wegen Planung eines Fluchtversuchs konnte folgen.
An Stellen, die aufgrund von Bebauung oder Verkehrsführung – beziehungsweise wegen des Geländezuschnitts – schwieriger zu sichern waren, begann das „Grenzgebiet“ auf DDR- und Ost-Berliner Seite schon vor der Hinterlandmauer und war dann Sperrgebiet. Dieses durfte nur mit einer Sondergenehmigung betreten werden. Das bedeutete für Anwohner eine starke Einschränkung der Lebensqualität. Als „Vorfeldsicherung“ sollten bauliche Maßnahmen (Mauern, Zäune, Gitter, Stacheldraht, Durchfahrtssperren, Übersteigsicherungen), Sichthilfen (Leuchten, weiße Kontrastflächen) und Warnhinweise das unbefugte (beziehungsweise unbemerkte) Betreten oder Befahren dieses Gebietes verhindern. Einblickmöglichkeiten für Unbefugte wurden mit Sichtblenden verbaut.
Im grenznahen Ost-Berliner Stadtgebiet nahe dem Brandenburger Tor wurde regelmäßig eine verdeckte sogenannte „Tiefensicherung“ durch zivile Kräfte des Ministeriums für Staatssicherheit durchgeführt, um möglichst frühzeitig und außerhalb der Sichtmöglichkeit des Westteils potentielle Grenzdurchbrüche und besondere Lagen (Demonstrationen oder andere unerwünschte Menschenansammlungen) aufzuklären und zu unterbinden. Ein Gebäude nördlich des Brandenburger Tors wurde von der Hauptabteilung 1 des MfS genutzt, der zuständigen Abteilung zur Überwachung der Grenztruppen der DDR. Es wurde später abgerissen, um Platz zu schaffen für das Jakob-Kaiser-Haus.
Personeller Aufbau und Ausstattung des Grenzkommandos Mitte.
Für den Schutz der Grenze zu West-Berlin war in der DDR das Grenzkommando Mitte der Grenztruppen der DDR zuständig, dem nach Angaben des MfS vom Frühjahr 1989 11.500 Soldaten und 500 Zivilbeschäftigte angehörten. Es bestand neben dem Stab in Berlin-Karlshorst aus sieben Grenzregimentern, die in Treptow, Pankow, Rummelsburg, Hennigsdorf, Groß-Glienicke, Babelsberg und Kleinmachnow stationiert waren, sowie den Grenzausbildungsregimentern GAR-39 in Wilhelmshagen und GAR-40 in Oranienburg.
Jedes Grenzregiment besaß fünf direkt geführte Grenzkompanien, außerdem je eine Pionier-, Nachrichten-, Transportkompanie, Granatwerfer- und Artilleriebatterie, einen Aufklärungs- und einen Flammenwerferzug sowie eine Diensthundestaffel und unter Umständen eine Bootskompanie und Sicherungszüge bzw. -kompanien für die Grenzübergangsstellen.
Das Grenzkommando Mitte verfügte über 567 Schützenpanzerwagen, 48 Granatwerfer, 48 Panzerabwehrkanonen und 114 Flammenwerfer sowie 156 gepanzerte Fahrzeuge bzw. schwere Pioniertechnik und 2295 Kraftfahrzeuge. Zum Bestand gehörten außerdem 992 Hunde.
An einem normalen Tag waren etwa 2300 Soldaten direkt an der Grenze und im grenznahen Raum eingesetzt. Bei sogenannter „verstärkter Grenzsicherung“, die beispielsweise 1988 wegen politischer Höhepunkte oder schlechter Witterungsbedingungen etwa 80 Tage galt, waren dies etwa 2500 Grenzsoldaten, deren Anzahl in besonderen Situationen weiter aufgestockt werden konnte.
Gewässergrenzen.
Die äußere Stadtgrenze West-Berlins verlief an mehreren Stellen durch schiffbare Gewässer. Der Grenzverlauf war dort durch eine vom West-Berliner Senat errichtete Kette aus runden, weißen Bojen mit der (an der Stadtgrenze nicht ganz zutreffenden) Aufschrift „Sektorengrenze“ gekennzeichnet. West-Berliner Fahrgastschiffe und Sportboote mussten darauf achten, sich auf der West-Berliner Seite der Bojenkette zu halten. Auf der DDR-Seite der Grenze wurden diese Gewässer von Booten der Grenztruppen der DDR patrouilliert.
Die Grenzbefestigungen der DDR befanden sich jeweils auf dem DDR-seitigen Ufer, was teilweise große Umwege erzwang und die Ufer mehrerer Havelseen „vermauerte“. Der größte Umweg befand sich am Jungfernsee, wo die Mauer bis zu zwei Kilometer vom eigentlichen Grenzverlauf entfernt stand. An mehreren Stellen verlief der Grenzstreifen durch ehemalige Wassergrundstücke und machte sie so für die Bewohner unbrauchbar; so am Westufer des Groß Glienicker Sees und am Südufer des Griebnitzsees.
Bei den Gewässern an der innerstädtischen Grenze verlief diese überall direkt am westlichen oder östlichen Ufer, sodass dort keine Markierung des Grenzverlaufs im Wasser existierte. Die eigentliche Mauer stand auch hier jeweils am Ost-Berliner Ufer. Dennoch wurden die zu Ost-Berlin gehörenden Gewässer selbst ebenfalls überwacht. Auf Nebenkanälen und -flüssen wurde die Lage dadurch zum Teil unübersichtlich. Manche Schwimmer und Boote aus West-Berlin gerieten versehentlich oder aus Leichtsinn auf Ost-Berliner Gebiet und wurden beschossen. Dabei gab es im Laufe der Jahrzehnte mehrere Tote.
An einigen Stellen in der Spree gab es Unterwassersperren gegen Schwimmer. Für Flüchtlinge war es nicht klar zu erkennen, wann sie West-Berlin erreicht hatten, sodass für sie noch nach dem Überwinden der eigentlichen Mauer die Gefahr bestand, ergriffen zu werden.
Grenzübergänge.
An der gesamten Berliner Mauer gab es 25 Grenzübergangsstellen (GÜSt), 13 Straßen-, vier Eisenbahn- und acht Wasserstraßengrenzübergangsstellen. Dies waren etwa 60 Prozent aller Grenzübergänge zwischen der DDR und der Bundesrepublik bzw. West-Berlin. Für den Straßen-Transitverkehr gab es nur zwei Berliner Grenzübergänge, indem Dreilinden, bis 1987 Staaken und danach Heiligensee benutzt werden konnten.
Die Grenzübergangsstellen waren auf DDR-Seite sehr stark ausgebaut. Es wurde mitunter sehr scharf bei der Ein- und Ausreise von den DDR-Grenzorganen und dem DDR-Zoll kontrolliert. Für die Sicherung und Überwachung des Reiseverkehrs einschließlich Fahndung und Festnahmen an den Grenzübergangsstellen waren die Passkontrolleinheiten (PKE) der Hauptabteilung VI des MfS zuständig, die ihren Dienst in Uniformen der Grenztruppen der DDR versahen. Sie arbeiteten mit den für die äußere Sicherheit und die Verhinderung von Grenzdurchbrüchen zuständigen Einheiten der Grenztruppen und Mitarbeitern der Zollverwaltung, die die Sach- und Personenkontrolle vornahmen, zusammen.
Auf West-Berliner Seite hatten die Polizei und der Zoll Posten. Dort gab es in der Regel keine Kontrollen im Personenverkehr. Nur an den Transitübergängen wurden die Reisenden statistisch erfasst (Befragung nach dem Ziel), gelegentlich bei entsprechendem Anlass zur Strafverfolgung auch kontrolliert (Ringfahndung). Der gesamte Güterverkehr unterlag wie im Auslandsverkehr der Zollabfertigung. Beim Güterkraftverkehr war es bei einer westdeutschen Warenanlieferung in Ost-Berlin nicht möglich, von Ost- nach West-Berlin über Grenzübergangsstellen zu fahren, sondern man musste ganz außen herum und einen von den zwei West-Berliner Transitübergängen benutzen. Das waren Dreilinden (A 115) und bis 1987 Staaken (B 5), danach Heiligensee über die A 111. Demzufolge war es dann eine sogenannte „Ausreise aus der DDR“; bei der Kontrolle wurde der Westdeutsche wie ein ausländischer Lkw sehr gründlich durchsucht. Im Personenverkehr mit der Bundesrepublik wurden von westdeutscher Seite nur statistische Erhebungen gemacht. Beim Güterverkehr musste über den "Warenbegleitschein" der Lkw vom Zoll verplombt und statistisch erfasst werden. Beim Übergang Staaken konnte über die B 5 die einzige Möglichkeit genutzt werden, mit Fahrzeugen durch die DDR zu fahren, die nicht für den Verkehr auf der Autobahn zugelassen waren (z. B. Fahrrad, Moped, Traktor usw.). Allerdings musste die 220 Kilometer lange Strecke bei Tageslicht bis Lauenburg ohne Unterbrechung (Übernachtung, längere Pausen) bewältigt werden. Mit der Freigabe der Autobahn A 24 im Jahr 1982 wurde der Fahrrad-Transit nicht mehr zugelassen.
Am Checkpoint Bravo (Dreilinden) und Checkpoint Charlie (in der Friedrichstraße) hatten die alliierten Besatzungsmächte Kontrollpunkte eingerichtet, wobei der Letztere jedoch nur für Diplomaten und ausländische Staatsangehörige, nicht für Bundesbürger und West-Berliner benutzbar war.
Mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 wurden alle Grenzübergänge aufgegeben. Einige Reste der Anlagen blieben als Mahnmal erhalten.
Kosten.
Der Bau und der ständige Ausbau sowie die jahrzehntelange Unterhaltung der stark bewachten Berliner Mauer war eine große wirtschaftliche Belastung für die DDR. Von den zwischen 1961 und 1964 insgesamt anfallenden Kosten von 1,822 Milliarden Mark der DDR für den Aufbau und Betrieb der Grenzanlagen entfielen 400 Millionen Mark (22 %) auf die Berliner Mauer.
Maueropfer und Mauerschützen.
Maueropfer.
Über die Zahl der "Mauertoten" gibt es widersprüchliche Angaben. Sie ist bis heute nicht eindeutig gesichert, weil die Todesfälle an der Grenze von den Verantwortlichen der DDR-Staatsführung systematisch verschleiert wurden. Die Berliner Staatsanwaltschaft gab im Jahr 2000 die Zahl der nachweislich durch einen Gewaltakt an der Berliner Mauer umgekommenen Opfer mit 86 an. Wie schwierig genaue Aussagen auf diesem Gebiet sind, wird auch dadurch deutlich, dass die "Arbeitsgemeinschaft 13. August" ihre Zahl der Mauertoten seit 2000 von 238 auf 138 korrigiert hat.
Zwischen Oktober 2005 und Dezember 2007 arbeitete ein vom ‚Verein Berliner Mauer‘ und vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam getragenes Forschungsprojekt mit dem Ziel, die genaue Zahl der Maueropfer zu ermitteln und die Geschichten der Opfer auch für die Öffentlichkeit zugänglich zu dokumentieren. Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien förderte das Projekt. In der am 7. August 2008 veröffentlichten Bilanz wurde dargelegt, dass von den 374 überprüften Fällen "136" die Kriterien „Maueropfer“ erfüllen. Die Opfer waren vornehmlich fluchtwillige Bürger der DDR (98 der 136 Fälle), unter 30 Jahren (112 Fälle), männlich (128 Fälle) und kamen in den ersten acht Jahren der Mauer (90 Fälle) ums Leben. Weiterhin wurden 48 Fälle identifiziert, bei denen Menschen im Umfeld von Kontrollen an Grenzübergängen in Berlin – meist an einem Herzinfarkt – starben. Unter den ausgeschlossenen 159 Fällen sind 19 Fälle, die in anderen Publikationen als Maueropfer geführt werden.
Nach der Veröffentlichung der Zwischenbilanz kam es zu einer Kontroverse um die Zahl der Opfer und die Methoden der Erforschung der Geschehnisse an der Mauer. Die "Arbeitsgemeinschaft 13. August", die damals wieder von 262 Maueropfern ausging, warf dem Forschungsprojekt vor, die Zahl der Opfer aus politischen Gründen bewusst „kleinzurechnen“. Der Arbeitsgemeinschaft, an deren Recherchen keine Historiker beteiligt sind, wurde hingegen vorgeworfen, auf ihren Listen viele Fälle aufzuführen, die ungeklärt seien, nicht nachweislich mit dem Grenzregime im Zusammenhang stünden oder inzwischen sogar widerlegt worden seien.
Das erste Todesopfer war Ida Siekmann, die am 22. August 1961 beim Sprung aus einem Fenster in der Bernauer Straße tödlich verunglückte. Die ersten tödlichen Schüsse fielen am 24. August 1961 auf den 24-jährigen Günter Litfin, der am Humboldthafen von Transportpolizisten bei einem Fluchtversuch erschossen wurde. Peter Fechter verblutete am 17. August 1962 im Todesstreifen an der Zimmerstraße. Im Jahr 1966 wurden zwei Kinder im Alter von 10 und 13 Jahren im Grenzstreifen durch insgesamt 40 Schüsse getötet. Das letzte Opfer von Todesschüssen an der Mauer war Chris Gueffroy am 6. Februar 1989. Der letzte tödliche Zwischenfall an der Grenze ereignete sich am 8. März 1989, als Winfried Freudenberg bei einem Fluchtversuch mit einem defekten Ballon in den Tod stürzte.
Einige Grenzsoldaten starben ebenfalls bei gewalttätigen Vorfällen an der Mauer. Der bekannteste Fall ist die Tötung des Soldaten Reinhold Huhn, der von einem Fluchthelfer erschossen wurde. Diese Vorfälle wurden von der DDR propagandistisch genutzt und als nachträgliche Begründung für den Mauerbau herangezogen.
Es mussten sich geschätzt rund 75.000 Menschen wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ vor DDR-Gerichten verantworten. Das wurde nach § 213 Strafgesetzbuch der DDR mit Freiheitsstrafen bis zu acht Jahren geahndet. Wer bewaffnet war, Grenzanlagen beschädigte oder als Armeeangehöriger oder Geheimnisträger bei einem Fluchtversuch gefasst wurde, kam selten mit weniger als fünf Jahren Gefängnis davon. Wer Hilfe zur Flucht leistete, konnte mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft werden.
Mauerschützenprozesse.
Die juristische Aufarbeitung des Schießbefehls in sogenannten „Mauerschützenprozessen“ dauerte bis zum Herbst 2004. Zu den angeklagten Verantwortlichen gehörten unter anderem der Staatsratsvorsitzende Honecker, sein Nachfolger Egon Krenz, die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates Erich Mielke, Willi Stoph, Heinz Keßler, Fritz Streletz und Hans Albrecht, der SED-Bezirkschef von Suhl, sowie einige Generäle wie der Chef der Grenztruppen (1979–1990) Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten.
Insgesamt kam es in Berlin zu 112 Verfahren gegen 246 Personen, die sich als Schützen oder Tatbeteiligte vor Gericht verantworten mussten. Etwa die Hälfte der Angeklagten wurde freigesprochen. 132 Angeklagte wurden wegen ihrer Taten oder Tatbeteiligungen zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen verurteilt. Darunter waren zehn Mitglieder der SED-Führung, 42 führende Militärs und 80 ehemalige Grenzsoldaten. Dazu kamen 19 Verfahren mit 31 Angeklagten in Neuruppin, die für 19 Todesschützen mit Bewährungsstrafen endeten. Für den Mord an Walter Kittel wurde der Todesschütze mit der längsten Freiheitsstrafe von zehn Jahren belegt. Im Allgemeinen bekamen die Todesschützen Strafen zwischen 6 und 24 Monaten auf Bewährung, während die Befehlshaber mit zunehmender Verantwortung höhere Strafen bekamen.
Im August 2004 wurden Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz vom Landgericht Berlin als ehemalige Politbüro-Mitglieder zu Bewährungsstrafen verurteilt. Der letzte Prozess gegen DDR-Grenzsoldaten ging am 9. November 2004 – genau 15 Jahre nach dem Fall der Mauer – mit einem Schuldspruch zu Ende.
Gedenken.
Zum Gedenken an die Opfer der Berliner Mauer wurden sehr unterschiedlich gestaltete Mahnmale errichtet. Kleinere Kreuze oder andere Zeichen des Gedenkens dienen der Erinnerung an erschossene Flüchtlinge. Sie befinden sich an verschiedenen Stellen der ehemaligen Grenze und gehen meist auf private Initiativen zurück. Ein bekannter Gedenkort sind die Weißen Kreuze am Spreeufer neben dem Reichstagsgebäude.
Über die Art und Weise des Gedenkens gab es wiederholt öffentliche Auseinandersetzungen; so auch Ende der 1990er Jahre bezüglich der Gedenkstätte in der Bernauer Straße. Einen Höhepunkt erreichte die öffentliche Debatte beim Streit um das in der Nähe des Checkpoint Charlie errichtete und später geräumte Freiheitsmahnmal. Der Berliner Senat begegnete dem Vorwurf, kein Gedenkkonzept zu besitzen, mit der Einberufung einer Kommission, die im Frühjahr 2005 Grundzüge eines Gedenkkonzepts vorstellte. Am 20. Juni 2006 legte der Senat ein daraus entwickeltes integriertes „Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer“ vor, das unter anderem eine Erweiterung der Gedenkstätte an der Bernauer Straße vorsieht.
Im Invalidenpark, zwischen dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und der "Scharnhorststraße" wurde Mitte der 1990er Jahre eine lange Mauer gestaltet, die in einem Wasserbecken versinkt, die der Gartenarchitekt Christoph Girot als "Versunkene Mauer" bezeichnet, was zum einen an die früher hier vorhandene Gnadenkirche, zum anderen an die Berliner Mauer erinnern soll.
Mauermuseum im Haus am Checkpoint Charlie.
Das Mauermuseum am Checkpoint Charlie wurde 1963 direkt vor der Grenze vom Historiker, Autor und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Rainer Hildebrandt eröffnet und wird von der "Arbeitsgemeinschaft 13. August" betrieben. Es gehört zu den meistbesuchten Berliner Museen. Das Mauermuseum veranschaulicht das Grenzsicherungssystem an der Berliner Mauer und dokumentiert geglückte Fluchtversuche und ihre Fluchtmittel wie Heißluftballons, Fluchtautos, Sessellifte und ein Mini-U-Boot. Im Haus wird der weltweite gewaltfreie Kampf für Menschenrechte dokumentiert. Darüber hinaus recherchiert das Museum nach in der Sowjetischen Besatzungszone verschollenen Menschen. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz werden viele ungelöste Fälle wieder neu aufgerollt. So ist das Mauermuseum auch Teil einer weltweit angelegten Kampagne, das Schicksal von Raoul Wallenberg zu klären, der das Leben Zehntausender Juden in Ungarn vor den Nationalsozialisten gerettet hat und daraufhin verschollen ist. In jüngster Vergangenheit, führte die Arbeit des Mauermuseums zur Befreiung von Michail Chodorkowski. Heute leitet Alexandra Hildebrandt das Museum.
Gedenkstättenensemble Berliner Mauer in der Bernauer Straße.
Seit dem 13. August 1998 besteht an der Bernauer Straße zwischen den ehemaligen Bezirken Wedding und Mitte die Gedenkstätte Berliner Mauer. Sie umfasst ein erhaltenes Teilstück der Grenzanlagen, das "Dokumentationszentrum Berliner Mauer" sowie die Kapelle der Versöhnung.
Die Gedenkstätte ist aus einem 1994 vom Bund ausgelobten Wettbewerb hervorgegangen und wurde nach langen und heftigen Diskussionen am 13. August 1998 eingeweiht. Sie stellt einen durch künstlerisch-gestalterische Mittel ergänzten neu aufgebauten Mauerabschnitt am Originalort dar. Das Dokumentationszentrum, das von einem Verein getragen wird, wurde am 9. November 1999 eröffnet. 2003 wurde es durch einen Aussichtsturm ergänzt, von dem die Maueranlagen der Gedenkstätte gut einsehbar sind. Neben einer aktuellen Ausstellung (seit 2001 unter dem Titel "Berlin, 13. August 1961") gibt es unterschiedliche Informationsmöglichkeiten zur Geschichte der Mauer. Außerdem werden Seminare und andere Veranstaltungen angeboten. Die Kapelle der Versöhnung der Evangelischen Versöhnungsgemeinde wurde am 9. November 2000 eingeweiht. Das Bauwerk ist ein ovaler Stampflehmbau und wurde über den Fundamenten des Chores der 1985 gesprengten Versöhnungskirche errichtet.
Das von Thomas Flierl erarbeitete „Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer“ sieht vor, die Gedenkstätte in der Bernauer Straße noch zu erweitern und einen Teil des ehemaligen Stettiner Bahnhofs an der Gartenstraße mit einzubeziehen.
Am 11. September 2008 beschloss das Abgeordnetenhaus von Berlin, zum Jahrestag des Falls der Berliner Mauer am 9. November 2008 die Gedenkstätte Berliner Mauer und die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in der landeseigenen Stiftung Berliner Mauer zusammenzufassen.
Geschichtsmeile Berliner Mauer.
Die "Geschichtsmeile Berliner Mauer" ist eine viersprachige Dauerausstellung, die aus 21 Informationstafeln besteht. Diese stehen über den innerstädtischen Grenzverlauf verteilt und enthalten Fotografien und Texte zu Ereignissen, die sich am Standort der Tafeln zugetragen haben, beispielsweise wird auf geglückte oder missglückte Fluchten hingewiesen. Diese in der Innenstadt schon länger bestehende "Geschichtsmeile Berliner Mauer" wurde 2006 durch weitere Informationstafeln auch im Außenbereich fortgesetzt.
Gedenkveranstaltungen.
25. Jahrestag des Mauerfalls.
Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls markierten 6880 weiße Ballons einen Teil des ehemaligen Mauerverlaufs als Kunstinstallation "Lichtgrenze" vom 7. bis 9. November 2014.
Zirkeltag am 5. Februar 2018.
Der 5. Februar 2018 war der Tag, an dem die Berliner Mauer genauso lange nicht mehr stand, wie sie von 1961 bis 1989 die Stadt teilte: 28 Jahre, 2 Monate und 27 Tage. Berliner Medien, wie der rbb und die "Berliner Morgenpost", bezeichneten ihn als „Zirkeltag“ und erinnerten an das Ereignis mit Sondersendungen bzw. -beilagen.
30. Jahrestag des Mauerfalls.
Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls fanden in Berlin vom 4. bis 10. November 2019 eine Vielzahl an Veranstaltungen und Ausstellungen statt, die sich mit dem Bau der Berliner Mauer, der Teilung Berlins, dem Kalten Krieg und der Friedlichen Revolution von 1989 beschäftigten. Dabei wiesen koreanische Künstler mit der Installation "Das Dritte Land" auf die andauernde Teilung von Nord- und Südkorea hin.
Der Mauerstreifen in den 2010er Jahren.
Nutzung.
Die breite Trasse zwischen den beiden früheren Mauerlinien wird im heutigen Sprachgebrauch „Grenzstreifen“ oder „Mauerstreifen“ genannt. Er ist noch an vielen Stellen gut erkennbar, teilweise durch große Brachflächen wie an Teilen der Bernauer Straße und zwischen den Ortsteilen Mitte und Kreuzberg entlang der Kommandantenstraße, Alten Jakobstraße, Stallschreiberstraße, Alexandrinenstraße und Sebastianstraße. Andernorts in der zusammenwachsenden Stadt ist der Grenzverlauf hingegen nur noch schwer auszumachen. Die ganze Brutalität der Teilung lässt sich nirgendwo mehr nachvollziehen, auch nicht an Stellen, wo Reste der Mauer konserviert sind.
In der ansonsten dicht bebauten Berliner Innenstadt wurde der Mauerstreifen durch Verkauf und Bebauung meist schnell zur Nachnutzung für städtische Zwecke verwendet. Daneben gibt es aber auch vielfältige andere Formen: Im Ortsteil Prenzlauer Berg wandelte sich ein Abschnitt zum Mauerpark. Das innerstädtische Stück am östlichen Teltowkanal wurde mit der Trasse der Bundesautobahn 113 vom Berliner Stadtring nach Schönefeld überbaut.
Der Streit um die Rückgabe der Mauergrundstücke ist indes noch nicht abgeschlossen. Die Eigentümer von Grundstücken auf dem späteren Mauerstreifen waren nach dem Mauerbau zwangsenteignet und die Bewohner umgesiedelt worden. Die Frage der Rückgabe und Entschädigung der Betroffenen fand keinen Eingang in den am 31. August 1990 unterzeichneten Einigungsvertrag. Erst das "Gesetz über den Verkauf von Mauer- und Grenzgrundstücken an die früheren Eigentümer" (Mauergrundstücksgesetz) vom 15. Juli 1996 regelte, dass ein enteigneter Eigentümer sein Objekt nur dann zurückerhält, wenn er dafür 25 Prozent des aktuellen Verkehrswertes bezahlt und der Bund sie nicht für dringende eigene öffentliche Zwecke verwenden oder im öffentlichen Interesse an Dritte veräußern will. In diesem Fall entschädigt der Bund die ehemaligen Eigentümer mit 75 Prozent des Grundstückswertes.
Berliner Mauerweg.
Entlang des Mauerstreifens um das gesamte frühere West-Berlin verläuft der Berliner Mauerweg, dessen Einrichtung das Berliner Abgeordnetenhaus am 11. Oktober 2001 beschlossen hatte. Dieser Rad- und Fußweg entlang der 160 Kilometer langen Trasse der ehemaligen Grenzanlagen ist größtenteils gut ausgebaut und seit 2005 nahezu vollständig. Bis auf kleinere Abschnitte ist die Strecke durchgehend asphaltiert. Der Mauerweg führt überwiegend auf dem ehemaligen Zollweg (West-Berlin) oder auf dem sogenannten Kolonnenweg, den die DDR-Grenztruppen für ihre Kontrollfahrten angelegt hatten. Wo es durch neuere Bebauung oder Eigentumsrechte nötig war, verläuft er auf neu angelegten Wegen im Grenzbereich oder über parallel zur Grenze verlaufende öffentliche Verkehrsflächen. An der Dresdener Bahn in der Gemeinde Blankenfelde-Mahlow ist der Mauerweg derzeit unterbrochen. Beim Ausbau der Bahnstrecke soll eine Unterführung realisiert werden. Der Berliner Mauerweg kennzeichnet den Verlauf der ehemaligen DDR-Grenzanlagen zu West-Berlin. Er führt über rund 160 Kilometer um die einstige Halbstadt herum. Historisch interessante Abschnitte, in denen sich noch Mauerreste oder Mauerspuren auffinden lassen, wechseln mit landschaftlich reizvollen Strecken.
Der Berliner Mauerweg ist ausgeschildert und in regelmäßigen Abständen mit Übersichtsplänen zur Orientierung ausgestattet. An Infostelen mit Fotografien und Texten werden mehrsprachige Informationen über die Teilung Deutschlands und die Berliner Mauer gegeben und Ereignisse am jeweiligen Standort geschildert oder auf Mauerreste vor Ort hingewiesen. An 29 Standorten entlang des Weges wird an die Toten der Berliner Mauer erinnert. Organisatorisch ist der Berliner Mauerweg in 14 Einzelstrecken mit sieben bis 21 Kilometern Länge gegliedert. Hauptsächlich im Stadtzentrum ist der Mauerverlauf zudem mit einer doppelten Reihe Kopfsteinen gepflastert.
Reste der Maueranlagen nach dem Abriss.
Bis Anfang 2018 waren nur drei am Originalstandort erhalten gebliebene Teilstücke der Grenzmauer bekannt. Diese finden sich alle im Ortsteil Mitte:
Im Januar 2018 meldete der Heimatforscher Christian Bormann dem Landesdenkmalamt sowie dem zuständigen Bezirksamt ein viertes, 80 Meter langes Teilstück der Berliner Mauer, das er eigenen Angaben zufolge bereits im Sommer 1999 entdeckt hatte. Das spitz zulaufende Mauerfragment steht in einem Waldstück nördlich des S-Bahnhofs Schönholz. Der zunächst paradox erscheinende Umstand, dass das Mauerstück in Reinickendorf und damit in einem West-Berliner Bezirk liegt, ergibt sich daraus, dass es sich dabei um ein ehemaliges Pankower Gebiet handelt, das im Zuge einer Grenzbegradigung im Jahr 1988 dem Bezirk Reinickendorf zugeschlagen wurde. Das Teilstück stamme aus einer frühen Phase des Mauerbaus. So sei dieser Teil der Mauer laut der Sprecherin Gesine Beutin von der Stiftung Berliner Mauer „auf eine existierende, deutlich ältere Bestandsmauer aufgesetzt worden“. Vermutlich wurden beim Bau dieses Mauerstücks zwei Außenmauern von Häusern integriert, die Ende des Zweiten Weltkriegs beim Angriff auf den Verladebahnhof Pankow-Schönholz zerstört wurden. Im Februar 2018 wurde bekannt, dass das entdeckte Mauerstück unter Denkmalschutz gestellt werden solle. Der Berliner Kultursenator Klaus Lederer schrieb dem Bauwerk eine besondere historische Bedeutung zu, da es „dokumentiert, wie in der ersten Zeit des Mauerbaus vorhandene Strukturen für die schnelle Absperrung der Grenze genutzt wurden“, und diese Bauphase an keinem anderen Standort in Berlin dokumentiert sei.
Deutlich mehr und häufig längere Teilstücke sind von der Hinterlandmauer erhalten geblieben, die den Grenzstreifen auf Ost-Berliner Seite abschloss. Sie liegen zumeist abseits von Straßen und Plätzen und standen daher Bauvorhaben der Nachwendezeit nicht im Weg. Diese Mauerreste sind nur zum Teil denkmalgeschützt.
Erhaltene Abschnitte, an denen die sonst niedrigere Hinterlandmauer die gleiche Höhe wie die Grenzmauer („vorderes Sperrelement“) aufwies, werden häufig irrtümlich für Reste des vorderen Sperrelements gehalten. Dies gilt neben Fragmenten der Hinterlandmauer am Leipziger Platz und der Stresemannstraße auch für den umfangreichsten erhaltenen Mauerabschnitt, der sich mit 1,3 Kilometern Länge parallel zu Mühlenstraße und Spree vom Ostbahnhof bis zur Oberbaumbrücke hinzieht. Dieser Abschnitt ist – für die Hinterlandmauer untypisch – mit aufgesetzten Betonröhren versehen, denn eine „feindwärtige“ Grenzmauer gab es an dieser Stelle nicht, da die Grenze auf der gegenüberliegenden Spreeseite verlief. 1990 wurde er von internationalen Künstlern zur "East Side Gallery" gestaltet und 1991 unter Denkmalschutz gestellt.
Weitere Reste der Hinterlandmauer finden sich beispielsweise am Mauerpark, entlang der Bernauer Straße, auf dem Gelände des ehemaligen Stettiner Bahnhofs und auf dem Invalidenfriedhof. Auf einem unbebauten Gelände in der Nähe des ehemaligen Grenzübergangs Chausseestraße ist ein Abschnitt der Hinterlandmauer mit originalem Zufahrtstor zum Grenzstreifen erhalten geblieben. Mauer und Tor sind allerdings in schlechtem Zustand; sie stehen nicht unter Denkmalschutz.
Von den ehemals 302 Grenzwachtürmen stehen heute noch fünf:
Der Berliner Mauerweg führt auch an ehemaligen Gewässersperren vorbei. So kann man an der Grenze zwischen Glienicke/Nordbahn und Schildow etwas südlich der Alten Hermsdorfer Straße noch die Reste der Sperre am Kindelfließ erkennen. Ebenso finden sich noch Reste der Gewässersperre am Tegeler Fließ zwischen Schildow und Berlin-Lübars.
In den 1990er Jahren entwickelte sich in der Berliner Politik eine Diskussion darüber, wie der einstige Mauerverlauf im Stadtbild sichtbar gemacht werden könnte. Vorgeschlagen wurden unter anderem eine Doppelreihe in den Straßenbelag eingelassener quadratischer Pflastersteine, ein in den Bodenbelag eingelassenes Bronzeband und eine Markierung der Grenzmauer und der Hinterlandmauer durch verschiedenfarbige Streifen.
Alle drei Varianten wurden am Abgeordnetenhaus zu Anschauungszwecken jeweils auf einem kurzen Stück ausgeführt. Als Ergebnis dieser Diskussion wurden vor allem im Innenstadtbereich an mehreren Stellen ungefähr acht Kilometer des Grenzmauerverlaufs durch eine Doppelreihe Pflastersteine markiert. In unregelmäßigen Abständen eingelassene Bronzestreifen tragen die – von der ehemaligen West-Berliner Seite lesbare – einfache Beschriftung „Berliner Mauer 1961–1989“. An herausgehobenen Stellen wie dem Leipziger Platz wird auf dieselbe Weise auch der Verlauf der Hinterlandmauer gekennzeichnet.
Literatur.
Geschichte der Mauer 1961–1989 allgemein
Leben mit der Mauer
Tag des Mauerbaus 13. August 1961
Tag des Mauerfalls 9. November 1989
Rückschau und Bewertung
Die Mauer als Denkmal
Weblinks.
Allgemein
Quellen (Multimedia)
Einträge in der Berliner Landesdenkmalliste
Mauerkonzerte |
550 | 3729235 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=550 | Bosporus | Der Bosporus (, von ' ‚Rind, Ochse‘ und ' ‚Weg, Furt‘; türkisch Boğaz ‚die Meerenge‘, "İstanbul Boğazı" für ‚die Istanbul-Meerenge‘ bzw. "Karadeniz Boğazı" für ‚Meerenge des Schwarzen Meeres‘; veraltet ‚Straße von Konstantinopel‘) ist eine Meerenge zwischen Europa und Asien, die das Schwarze Meer (in der Antike: Pontos Euxeinos) mit dem Marmarameer (in der Antike: Propontis) verbindet; daher stellt er einen Abschnitt der südlichen innereurasischen Grenze dar. Auf seinen beiden Seiten befindet sich die Stadt Istanbul, deren Geografie er maßgeblich prägt. Der Bosporus hat eine Länge von ca. 30 Kilometern und eine Breite von 700 bis 2500 Metern. In der Mitte variiert die Tiefe zwischen 36 und 124 Metern (bei Bebek). Innerhalb des Bosporus liegt auf der westlichen Seite das" Goldene Horn," eine langgezogene Bucht und ein seit langem genutzter natürlicher Hafen.
Die Durchfahrtsrechte für die internationale Schifffahrt wurden 1936 im Vertrag von Montreux geregelt.
Entstehung.
Bis heute ist die Entstehung des Bosporus nicht gesichert geklärt. 1997 sorgten die US-amerikanischen Meeresbiologen William Ryan und Walter C. Pitman mit ihrer Sintflut-Hypothese für Aufsehen. Sie besagt, dass der Bosporus nur etwa 7500 Jahre alt ist. Davor sei das Schwarze Meer ein Binnengewässer etwa 120 Meter unter dem heutigen Meeresspiegel gewesen. Im Laufe der holozänen Meerestransgression durch Abschmelzen eiszeitlicher Gletscher sei etwa im sechsten Jahrtausend v. Chr. das Mittelmeer über Marmarameer und Bosporus in das Schwarze Meer eingebrochen. Der sehr ebene Grund der tief in den Fels eingeschnittenen, relativ breiten Wasserstraße wird als Indiz für die sehr große Strömungsgeschwindigkeit des Wassers bei der Entstehung interpretiert.
Sowohl Zeitpunkt als auch Ablauf dieses Ereignisses werden sehr kontrovers diskutiert. Umweltforscher aus den USA und Kanada (Teofilo Abrajano, Rensselaer Polytechnic Institute, Ali Aksu, University of Newfoundland) führten Analysen der Sedimente im Marmarameer durch, die die Sintflut-Hypothese ihrer Ansicht nach widerlegen. Demnach strömt das Wasser schon seit dem Ende der letzten Eiszeit kontinuierlich aus dem Schwarzen Meer ins Mittelmeer.
Wasserströmung.
Aus dem Schwarzen Meer fließt ein kräftiger Oberstrom, und in etwa 40 Meter Tiefe fließt ein schwächerer Unterstrom in entgegengesetzter Richtung, angetrieben durch die höhere Dichte des Mittelmeerwassers. Der Salzgehalt ist im Mittelmeer etwa doppelt so hoch wie im Schwarzen Meer. Das Mittelmeer ist ein arides (trockenes) Meer – die Verdunstung übersteigt den Wasserzufluss aus den einspeisenden Flüssen. Dagegen ist im Schwarzen Meer der Wasserzufluss aus den einspeisenden Flüssen größer als die Verdunstung. Wegen der wasserreichen Zuflüsse in das Schwarze Meer (besonders die Donau, aber unter anderem auch Dnepr, Dnister, Don, Südlicher Bug) beträgt der Wasserüberschuss des Schwarzen Meeres etwa 300 km³ pro Jahr. Das Wasser aus dem Schwarzen Meer fließt über den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen in die Ägäis und das Mittelmeer mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 3 Knoten (stellenweise bis 8 Knoten).
In der frühen Antike konnten die Griechen mit ihren Schiffen vom späten Frühling bis in den Sommer nicht durch den Bosporus segeln. Während dieser Zeit bliesen Nordostwinde und die Strömungsgeschwindigkeit erhöhte sich dann auf durchschnittlich 4 Knoten, gegen die die griechischen Schiffe nicht kreuzen konnten. Auch ihre Rudergeschwindigkeit reichte nicht aus, um gegen die Strömung anzukommen. Erst mit dem Aufkommen stärkerer Ruderboote (Pentekonteren) konnten die Griechen ganzjährig mit ihren Schiffen durch den Bosporus ins Schwarze Meer gelangen.
Am Bosporus herrschen Winde aus Nord bis Nordost vor. Die Gezeiten sind sehr schwach. Bei seltenen Südwinden dreht sich die Wasserströmung an der Oberfläche gelegentlich nach Norden.
Bedeutung.
Der "Bosporus" (türkisch: "İstanbul Boğazı)" gilt als eine der weltweit wichtigsten Wasserstraßen. Er ermöglicht bedeutenden Küstenstreifen der Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres – darunter Russland, die Türkei, die Ukraine, Rumänien, Bulgarien und Georgien – den maritimen Zugang zum Mittelmeer und damit Zugang zum internationalen Seehandel. Neben Agrargütern und Industrieprodukten hat nicht zuletzt das Erdöl einen entscheidenden Anteil am großen Transportvolumen auf diesem Weg. Insbesondere die Anrainerstaaten am östlichen Schwarzen Meer sowie deren durch Pipelines angebundenes Hinterland gelten als Erdöllieferanten des 21. Jahrhunderts, zugleich aber politisch auch als Unruheregionen. Nach einer Greenpeace-Aktion, die auf das Unfallrisiko für den Schiffsverkehr aufmerksam machte, wurden Ende 2002 die Auflagen zur Durchfahrt für Öltanker verschärft. Im Jahr durchfahren etwa 50.000 Schiffe diese Meerenge. Im Jahr der Unterzeichnung des Vertrages von Montreux (1936) waren es lediglich 4.500.
Im April 2012 äußerte der türkische Ministerpräsident Erdoğan Pläne seiner Regierung, den Bosporus durch den parallel zu bauenden Istanbul-Kanal zu entlasten. Baubeginn war 2021.
Geschichte.
Bereits in den antiken Sagen wurde der Bosporus erwähnt. Jason musste auf seiner Fahrt nach Kolchis die lebensgefährlichen Symplegaden passieren – zwei mythologische Felseninseln, die an der Einmündung des Bosporus in das Schwarze Meer liegen.
Der Name Bosporus (Kuh- oder Ochsenfurt) stammt daher, dass hier nach der Sage die in eine Kuh verwandelte Io auf ihrer Flucht hinüberschwamm.
Als die Bezeichnung Bosporus im Altertum auch für andere Meerengen verwendet wurde, nannte man die Straße von Konstantinopel "Thrakischen Bosporus" – zur Unterscheidung vom "Cimerischen Bosporus" oder "Kimmerischen Bosporus" (Straße von Kertsch).
Der persische König Dareios I. ließ im 6. Jahrhundert v. Chr. die Schiffbrücke über den Bosporus bauen, der so sein angeblich 700.000 Mann starkes Heer für seinen Feldzug gegen die Skythen übersetzte.
Die Großmächte, die im Laufe der Geschichte den Bosporus kontrollierten (Oströmisches Reich, Osmanisches Reich), strebten damit auch eine Kontrolle über das Schwarze Meer an. So ließ Sultan Bayezid I. 1390 die Gelibolu-Schiffswerft errichten, um den Bosporus und damit die Schifffahrtsroute zwischen Konstantinopel (heute Istanbul) und dem Schwarzen Meer zu kontrollieren. Konstantinopel selbst war zu dieser Zeit noch nicht osmanisch.
Für diesen Zweck führte er auch Schiffsinspektionen für alle Schiffe ein, die den Bosporus durchfahren wollten, und verweigerte gegebenenfalls auch die Durchfahrt. Zum Zwecke der Kontrolle des Bosporus wurde auch die Festung Anadolu Hisarı (auf der asiatischen Seite) errichtet. Später ließ Mehmed II. als Vorbereitung auf die Belagerung und Eroberung Konstantinopels die Festung Rumeli Hisarı (auf der europäischen Seite) errichten – genau gegenüber der Festung Anadolu Hisarı. Damit hatte das osmanische Reich die volle Kontrolle über den Zugang zum Schwarzen Meer. Für eine gewisse Zeit wurde Schiffen, die unter der Flagge der Republik Venedig bzw. der Republik Genua fuhren, die freie und ungehinderte Durchfahrt zu ihren Kolonien im Schwarzen Meer gewährt; später mussten sie eine Reisegenehmigung (izn-i sefine) erwerben und eine Steuer entrichten. Nach 1484 (nach der Eroberung von Kili und Akkirman unter Bayezid II.) wurde dann aber allen Schiffen unter ausländischer Flagge die Durchfahrt durch den Bosporus verwehrt. Wegen der vollständigen Isolierung des Schwarzmeerraumes vom internationalen Handel wurde diese Region im 16. Jahrhundert zum internen Meer des Osmanischen Reiches. Anfangs war die gesamte Schwarzmeerküste osmanisch beherrscht. Eine privilegierte Flotte von 120 Schiffen (Unkapani kapan-i dakik; je 175 t Ladung) transportierte im Auftrag des Reiches Getreide aus dem Donaudelta und von der anatolischen Schwarzmeerküste. Zusätzlich waren Handelsschiffe auf eigene Rechnung unterwegs, die für jede Reise einen Antrag stellen mussten.
Später eroberte Russland Teile der nördlichen Schwarzmeerküste (1739 Festung Asow, 1769 Taygan, 1778 Gründung der Hafenstädte Kerson und 1794 Odessa, 1783 russische Eroberung der Krim), und es gab einen Freihandel mit diesen Gebieten, der besonders von den Griechen aus der Ägäis (damals unter osmanischer Herrschaft) betrieben wurde. Die Kapitäne der auslaufenden Schiffe mussten dafür bürgen, dass die gesamte Besatzung wieder zurückkehrte, da in der russischen Flotte ein großer Bedarf an qualifizierten (griechischen) Seeleuten bestand und sie sich bereits zu einem großen Teil aus griechischen Seeleuten aus dem osmanischen Herrschaftsbereich rekrutiert hatte. Der Kapitän musste in späteren Jahren sogar eine Bürgschaftsurkunde (Geldbürgschaft) seiner Heimatgemeinde vorlegen bzw. einen vermögenden Bürgen in Istanbul vorweisen. Die Fälle von (angeblich) unterwegs verstorbenen – und deshalb nicht mehr zurückkehrenden – Seeleuten wurden streng untersucht.
Dieser Status blieb bis 1774 erhalten, als der Friede von Küçük Kaynarca geschlossen wurde. Bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts hatte das Osmanische Reich allen Schiffen unter fremder Flagge, einschließlich der Handelsschiffe, auch dem kleinsten Boot, die Zufahrt zum Schwarzen Meer versagt. So blieb die Region unter totaler osmanischer Kontrolle. Nach 1774 durften russische Schiffe den Bosporus passieren und um 1800 auch die Schiffe anderer europäischer Staaten (1783 Österreich, 1802 Frankreich und Großbritannien). Den russischen Schiffen war jedoch der Transport bestimmter Güter durch den Bosporus untersagt. Insbesondere wollten die Osmanen verhindern, dass Getreide weitertransportiert wurde, da sie selber einen großen Bedarf dafür hatten.
Russischen Kriegsschiffen wurde jedoch die Durchfahrt durch den Bosporus streng verwehrt, auch als man versuchte, die Durchfahrt für russische Kriegsschiffe ohne Bewaffnung zu erbitten. Diese sollte als getrennte Ladung auf Handelsschiffen durch den Bosporus transportiert werden.
Das Verbot der Durchfahrt von russischen Kriegsschiffen wurde erstmals gelockert, als Russland dem Osmanischen Reich seine militärische Hilfe anlässlich Napoleons Ägyptenfeldzug (1798 bis 1801) anbot. Das Osmanische Reich gestattete russischen Kriegsschiffen für die Dauer des Krieges die Durchfahrt. Als der 7. russisch-türkische Krieg (1806–1812) ausbrach, schlossen die Osmanen einen Beistandspakt mit Großbritannien (1809 in Kala-i Sultaniye) – für den Fall eines französischen Angriffs. Dabei wurde den britischen Kriegsschiffen das Recht gewährt, bis zum südlichen Eingang des Bosporus zu fahren.
Im Vertrag von Hünkâr İskelesi (1833) wurde russischen Schiffen ein Durchfahrtsrecht gewährt, und die osmanische Regierung verpflichtete sich, im Falle eines Krieges den Bosporus für Schiffe aller Länder zu schließen. Wegen des lautstarken Protestes von Großbritannien und Frankreich hielt dieser Vertrag aber nicht lange. Entsprechend dem Londoner Vertrag von 1841 musste der Bosporus in Friedenszeiten für alle Kriegsschiffe geschlossen bleiben – lediglich kleineren Kriegsschiffen verbündeter Nationen durfte die Durchfahrt gewährt werden – nach der Genehmigung durch einen speziellen Beauftragten. Somit wurde die Frage der Bosporusdurchfahrt eine Angelegenheit der Großmächte.
In den folgenden Krimkrieg (1853 bis 1856) traten Frankreich und Großbritannien auf der Seite des Osmanischen Reiches ein und schickten ihre Kriegsflotten in das Schwarze Meer.
Nach dem Krimkrieg (Pariser Frieden (1856)) hatte der Bosporus den Status einer internationalen Wasserstraße, blieb aber für Kriegsschiffe geschlossen. Dem Osmanischen Reich und Russland war das Unterhalten einer Kriegsflotte im Schwarzen Meer untersagt. Mit dem Londoner Vertrag von 1871 wurde Russland jedoch eine Kriegsflotte im Schwarzen Meer gestattet, und verbündeten Ländern wurde die Bosporusdurchfahrt von Kriegsschiffen während Friedenszeiten erlaubt. Dieser Status blieb bis zum Ersten Weltkrieg erhalten.
Im Vertrag von Edirne, der nach den griechischen Unruhen (1921), angestachelt von Großbritannien, Frankreich und Russland, geschlossen wurde, wurde den Handelsschiffen aller Länder die freie Durchfahrt durch den Bosporus gewährt.
Im Meerengenabkommen, das am 20. Juli 1936 in Montreux unterzeichnet wurde, wurden der Türkei die Hoheitsrechte für den Bosporus zuerkannt, die internationalen Durchfahrtsrechte geregelt und das Recht zur Sperrung der Meerenge durch die Türkei im Kriegsfall. Unterzeichnerstaaten waren die Türkei, Großbritannien, Frankreich, Japan, UdSSR, Bulgarien, Rumänien, Griechenland und Jugoslawien. Italien trat erst 1938 dem Abkommen bei.
Schifffahrt.
Schiffsunfälle.
Der Bosporus ist Tag und Nacht für den internationalen Schiffsverkehr geöffnet. Er ist einer der weltweit meistbefahrenen Seewege, da er die einzige Verbindung zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer ist. In den letzten 30 Jahren hat die Größe und Anzahl der durchfahrenden Schiffe durch diese schwierige, überfüllte und potentiell gefährliche Wasserstraße kontinuierlich zugenommen. Pro Jahr passieren 5.500 Tanker den Bosporus und transportieren dabei 2 Mio. Barrel Öl pro Tag.
Die Meeresströmung und Dunkelheit stellen die Hauptursache für Schiffsunfälle in dem engen S-förmigen Kanal dar, der eher einem Fluss als einer internationalen Wasserstraße ähnelt. Unfallschwerpunkte sind die beiden Stellen, an denen die Schiffe eine scharfe Kurve fahren müssen (80° bei Yeniköy, 70° bei Umuryeri) – in der 2 km langen und engsten Stelle des Bosporus. Insgesamt müssen die Schiffe bei der Passage des Bosporus zwölfmal den Kurs ändern. Am engsten Punkt (Kandilli, 700 m eng), muss der Kurs um 45° geändert werden; die Strömung kann hier 7 bis 8 Knoten betragen. Wegen der starken Kursänderungen in dem engen Gewässer ist der Blick auf die Fahrrinne versperrt und somit der entgegenkommende Schiffsverkehr nicht einzusehen. So ist bei dem kilometerlangen Bremsweg der heutigen großen Tanker ein vorausschauendes Fahren auf Sicht unmöglich.
Hinzu kommt ein reger Fährverkehr zwischen europäischer und asiatischer Seite der Millionenstadt Istanbul, der die Fahrrinne kreuzt.
Bei den meisten Unfällen haben die Schiffe ihre Manövrierfähigkeit verloren, während sie mit der Strömung fuhren und durch scharfe Kurven manövrieren mussten. Bei den Unfällen, die sich während der Nacht ereigneten, gab es im Durchschnitt doppelt so viele Opfer wie bei Unfällen am Tag. Von 1953 bis 2002 gab es 461 Schiffsunfälle im Bosporus, wobei es sich meistens um Kollisionen handelte. Seit der Einführung des Traffic Separation Scheme (TSS, dt: Betriebsverfahren zur Verkehrstrennung) 1994, das auch von der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation gebilligt wurde, sank die Anzahl der Schiffskollisionen sehr stark. Es gab danach nur noch 82 Zwischenfälle – meistens Strandung oder auf Grund laufen. Jedoch erfüllen nicht alle Schiffe die Kriterien zur TSS – wegen des Schiffstyps, ihrer Größe oder ihrer Manövrierfähigkeit. Das "Traffic Separation Scheme" definiert eine durch Koordinaten genau festgelegte Trennlinie (traffic separation line) zwischen dem nordwärts bzw. südwärts gerichteten Verkehr.
Die größte Ölpest ereignete sich 1994, als der griechisch-zypriotische Tanker Nassia auf dem Weg von Russland nach Italien mit 56.000 t Rohöl an Bord mit dem unbeladenen Frachter Shipbroker kollidierte – an der nördlichen Einfahrt in den Bosporus. Dabei kamen 30 Personen um, 20.000 t Rohöl liefen in den Bosporus, wo es fünf Tage lang brannte und entsprechende Umweltschäden hinterließ. Der Bosporus musste gesperrt werden. Es stauten sich über 200 Schiffe.
Als Konsequenz aus den Unfällen und um die Passage zu entlasten, brachte die türkische Regierung 2011 die Idee ins Spiel, bei Silivri den Istanbul-Kanal, mit 150 Metern Breite und etwa 50 Kilometern Länge, zu errichten.
Am 7. April 2018 rammte der durch Motorschaden nicht mehr steuerbare, unter maltesischer Flagge fahrende 225 Meter lange Frachter „Vitaspirit“ die aus dem 18. Jahrhundert stammende rote Holzvilla Hekimbaşı Salih Efendi nahe der Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke auf der asiatischen Seite. Das Gebäude wurde für Veranstaltungen genutzt und durch die Kollision stark beschädigt.
Schiffspassage.
Die Verfahren für die Schiffspassage des Bosporus sind getrennt für die Durchfahrten nach Süden bzw. nach Norden in dem Vorschriftenwerk "Bosphorus Passage Procedure" geregelt (auf welchen Frequenzen und an welchen Positionen die Stationen "Turkeli Control Station", "Kavak Pilot", "Bosphorus Pilot" und "Istanbul Control Station" gerufen werden müssen und an welchen Stellen Positionsmeldungen abgesetzt werden müssen). Der Erstkontakt muss vom Schiff aus jeweils 30 NM vor der Einfahrt in den Bosporus aufgenommen werden – bei Annäherung aus Norden 30 NM vor dem "Turkeli-Leuchtturm", bei Annäherung aus Süden 30 NM vor "Haydarpasa Break Water". Die Genehmigung zur Durchfahrt muss über Funk vom "Traffic Control Center" (dt. Verkehrskontrollzentrum) eingeholt werden.
Segelschiffe mit einer Wasserverdrängung von über 500 t müssen spätestens 24 Stunden vor der Passage einen Segelplan abgeben.
Türkische Schiffe mit einer Länge von über 150 m sind angehalten, für die Durchfahrt des Bosporus einen Lotsen an Bord zu nehmen. Für den übrigen Transit-Schiffsverkehr besteht keine Lotsenpflicht, wird aber von den türkischen Behörden stark empfohlen. Schiffe mit Lotsen an Bord haben Vorrang bei der Einfahrt in den Bosporus.
Zwischen 17:30 Uhr und 7:30 (Nacht) Uhr wird nur einem Schiff mit einer Gesamtlänge über 250 m die Bosporusdurchfahrt genehmigt (in der Reihenfolge der Ankunft an der Bosporuseinfahrt). Tankern wird in dieser Zeit die Durchfahrt nur gestattet, wenn sie in Begleitung eines Schleppers fahren. Ansonsten müssen sie bis zum Anbruch des nächsten Tageslichtes warten.
Schiffen mit einer Gesamtlänge über 200 m bzw. einem Tiefgang über 15 m wird die Durchfahrt während des Tages empfohlen.
Für Schiffe mit gefährlichen Gütern ist die Durchfahrt an einigen Stellen gesperrt, solange sich gleichzeitig ein Schiff mit ähnlichen gefährlichen Gütern im Gegenverkehr befindet.
Bei Sichten unter 2 NM muss das Schiffsradar eingeschaltet sein. Bei Sichtweiten unter 1 NM dürfen Schiffe mit gefährlichen Gütern und große Schiffe nicht in den Bosporus einfahren. Bei Sichten unter 0,5 NM wird der Verkehr in beide Richtungen eingestellt.
Schiffe dürfen nicht am Schlepptau eines anderen Schiffes den Bosporus passieren, außer sie werden von einem Schlepper gezogen.
Die normale Geschwindigkeit darf 10 Knoten nicht übersteigen, außer wenn es zum Zwecke einer ausreichenden Steuerung erforderlich ist – nach vorheriger Genehmigung. Der Abstand zum vorausfahrenden Schiff darf 1600 yards nicht unterschreiten. Vor einer Verringerung der eigenen Geschwindigkeit sind die nachfolgenden Schiffe zu informieren.
Infrastruktur.
Brücken und Tunnel.
Über den Bosporus führen drei Hängebrücken, die Brücke der Märtyrer des 15. Juli (1973), die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke (1988) und die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke (2016). Die Hängebrücken verbinden Europa mit Asien.
Alle sind mehrspurig für den Straßenverkehr ausgebaut und bei der Auffahrt Richtung asiatische Seite mautpflichtig. Die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke weist zusätzlich eine zweigleisige Eisenbahnstrecke auf. Im Oktober 2013 wurde ein Eisenbahntunnel unter dem Bosporus eröffnet, der die europäische mit der kleinasiatischen Seite Istanbuls verbindet. Das Projekt ist unter dem Namen Marmaray bekannt.
Am südlichen Ende des Bosporus wurde im Februar 2011 mit den Bauarbeiten zum Avrasya Tüp Tüneli ("Eurasien-Tunnel") begonnen. Dieser wurde am 20. Dezember 2016 eröffnet und ist der erste Straßentunnel unter dem Bosporus. Er verbindet den westlichen ("Kennedy Caddesi") und den östlichen Teil ("Harem İskele Caddesi") der Schnellstraße D100. Im Februar 2015 wurde ein weiteres Tunnelprojekt als Straßen- und Eisenbahnverbindung angekündigt.
Freileitungskreuzungen.
1954 wurde auf der Höhe der Stadtteile Arnavutköy in Europa und Kandilli in Asien die erste Freileitung über den Bosporus mit einer 154-kV-Leitung gezogen.
1983 wurde eine weitere Freileitung für 420 kV über den Bosporus gezogen, der 1997 eine dritte Freileitungskreuzung für jeweils vier Drehstromkreise zu je 420 kV folgte. Vorausschauend sind die Masten dieser Freileitungsquerung schon für 800 kV ausgelegt. Da die Durchfahrtshöhe auf dem Bosporus 73 m beträgt, müssen die Masten dieser Freileitungskreuzung sehr hoch sein. Allerdings kommt die gebirgige Topografie dem Leitungsbau zugute. Die Masten der 1997 fertiggestellten Bosporuskreuzung ragen 160 m hoch auf.
Kandili: 41° 4' 12,43" N 29° 3' 52,82" E
Arnavutköy: 41° 4' 15,98" N 29° 2' 24,60" E |
552 | 2783449 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=552 | Buenos Aires | Buenos Aires [] (frühere Schreibweise "Buenos Ayres"; offiziell "Ciudad Autónoma de Buenos Aires"/"Autonome Stadt Buenos Aires") ist die Hauptstadt und Primatstadt, also das politische, kulturelle, kommerzielle und industrielle Zentrum Argentiniens. Ihre Gründer benannten sie nach der Heiligen "Santa María del Buen Ayre" ( für "Heilige Maria der Guten Luft"), die u. a. in der Basilika Unserer Lieben Frau von Bonaria auf Sardinien verehrt wird.
Die offiziell nur 202 Quadratkilometer große Stadt bildet den Kern einer der größten Metropolregionen Südamerikas, des Gran Buenos Aires mit etwa 13 Millionen Einwohnern. Sie streckt sich heute rund 68 Kilometer von Nordwest nach Südost und etwa 33 Kilometer von der Küste nach Südwesten aus. Sie wird oft als „Wasserkopf“ Argentiniens bezeichnet, da sich hier fast alle wichtigen Institutionen des Landes befinden und in der Stadt und vor allem in der Umgebung etwa ein Drittel aller Argentinier wohnt. Zudem ist sie als einzige Stadt Argentiniens als „Capital Federal“ autonom, also nicht an eine bestimmte Provinz gebunden. Sie ist ein wichtiges kulturelles Zentrum und wurde 2005 durch die UNESCO mit dem Titel "Stadt des Designs" ausgezeichnet.
Geographie.
Geographische Lage.
Die Stadt Buenos Aires liegt am "Río de la Plata", einer trichterförmigen Mündung der Flüsse Río Paraná und Río Uruguay in den Atlantik, an der Ostküste des südamerikanischen Kontinents durchschnittlich 25 Meter über dem Meeresspiegel.
Das Wasser des Río de la Plata ist in Buenos Aires durch den hohen Eintrag von lehmigem Schlamm trüb. Das Revier weist nur geringe Tiefen auf, im Allgemeinen unter 20 Meter, so dass beispielsweise Schiffe mit größerem Tiefgang in der Region ausgebaggerte Fahrrinnen benutzen müssen.
Westlich und südlich von Buenos Aires erstrecken sich die "Pampas", das landwirtschaftlich fruchtbarste Gebiet von Argentinien.
Stadtgliederung.
Buenos Aires ist in 48 Stadtteile ("barrios") gegliedert.
Agronomía, Almagro, Balvanera, Barracas, Belgrano, Boedo, Caballito, Chacarita, Coghlan, Colegiales, Constitución, Flores, Floresta, La Boca, La Paternal, Liniers, Mataderos, Monte Castro, Montserrat, Nueva Pompeya, Núñez, Palermo, Parque Avellaneda, Parque Chacabuco, Parque Chas, Parque Patricios, Puerto Madero, Recoleta, Retiro, Saavedra, San Cristóbal, San Nicolás, San Telmo, Vélez Sársfield, Versalles, Villa Crespo, Villa del Parque, Villa Devoto, Villa General Mitre, Villa Lugano, Villa Luro, Villa Ortúzar, Villa Pueyrredón, Villa Real, Villa Riachuelo, Villa Santa Rita, Villa Soldati, Villa Urquiza.
Daneben gibt es traditionelle Stadtteilbezeichnungen, die gebräuchlicher sind, als die offiziellen Bezeichnungen:
Im Zuge der Dezentralisierung wurden 15 "Centros de Gestión y Participación Comunal" (CGCP, deutsch etwa: Kommunalzentren der Verwaltung und Bürgerbeteiligung; auch: "comunas") gegründet, die von 1 bis 15 durchnummeriert sind. In allen CGPCs kann man städtische Formalitäten erledigen, etwa Steuern und Bußgelder bezahlen oder standesamtliche Vorgänge wie Heiraten und Geburtsscheinausstellungen vornehmen.
Klima.
Buenos Aires befindet sich in der subtropischen Klimazone und hat nach Köppen ein feucht-subtropisches Klima (effektive Klimaklassifikation: Cfa). Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 17,73 Grad Celsius, die Jahresniederschlagsmenge 1214,6 Millimeter im Durchschnitt.
Der wärmste Monat ist der Januar mit durchschnittlich 23,7 Grad Celsius, der kälteste der Juli mit 10,5 Grad Celsius. Selbst im argentinischen Winter sinken die Temperaturen nur selten unter null Grad, Schnee gab es bisher nur in wenigen Ausnahmefällen, so zum Beispiel 1918, im Juli 2007 und im Juli 2010.
Der meiste Niederschlag fällt im Monat März mit 153,9 Millimeter im Mittel, der wenigste im Juni mit durchschnittlich 50,0 Millimeter.
Ökologische Probleme.
Als Megastadt hat Buenos Aires mit zahlreichen ökologischen Problemen zu kämpfen. Zwar gibt es vor allem wegen des relativ windigen Wetters kaum Smog in der Stadt, dennoch erreicht die Schadstoffbelastung der Luft durch die mangelhaft gefilterten Industrie- und Autoabgase in einigen Außenbezirken und Vorstädten, zum Beispiel in Lanús, oft kritische Werte, die zu erhöhten Lungenkrebsraten führen. Dazu trägt in erheblichem Maße das hohe Verkehrsaufkommen bei.
In den sehr engen, von hohen Häuserfronten gesäumten Straßen ist zudem die Frischluftzufuhr (zum Beispiel vom Meer) sehr gering. Straßen- und Hofbepflanzungen wurden beim Zuschnitt der Flächen selten eingeplant, so dass deren staubbindende Kraft kaum vorhanden ist. Problematisch ist ebenfalls, dass die Stadt und der sie umgebende Ballungsraum nur relativ wenige Parks, Wasserflächen oder offene Grünflächen besitzt und das Umland durch immer weiter in die Peripherie ausholende Bauprojekte (zum Beispiel Country Clubs) ebenfalls zugebaut wird.
Ein weiteres Problem ist die Belastung des Río de la Plata und seiner Zuflüsse in der Stadt durch Abwässer. Die durch die Stadt fließenden Flüsse Riachuelo und "Río de la Reconquista" sind hochgradig verschmutzt und lassen kein biologisches Leben mehr zu. Eine Renaturierung zumindest des Riachuelo war in den 1990er Jahren zwar geplant, das Vorhaben lässt jedoch weiterhin auf sich warten. Im Río de la Plata selbst konnte bis etwa 1980 noch gebadet werden (es gab einen Badestrand in Quilmes), heute ist dies jedoch wegen der Verschmutzung des Wassers nicht mehr möglich, nachdem es mehrere Todesfälle in den 1980er Jahren gab. Auf der gegenüberliegenden Seite des Río de la Plata in Uruguay ist es aber noch problemlos möglich.
Ein großes Problem war von jeher die Müllentsorgung. Früher wurde der Müll dezentral, oft sogar in den Heizanlagen der Wohnhäuser verbrannt, was aber ab der Erreichung einer bestimmten Größe der Stadt wegen der Schadstoffbelastung nicht mehr ohne weiteres möglich war. Heute landet ein Großteil des Mülls auf einer ringförmig um die Stadt gelegenen Mülldeponie, die begrünt und teilweise parkähnlich ausgestaltet wird und "Cinturón Ecológico" (ökologischer Gürtel) genannt wird. Kritisiert wird an dem Vorhaben, dass das Grundwasser durch die im Müll vorkommenden Schadstoffe (etwa Schwermetalle) verschmutzt werden kann. So werden zum Teil erhöhte Krebsraten in den angrenzenden Wohngebieten beobachtet.
Geschichte.
Erste Gründung der Stadt (1536–1541).
Auf der Suche nach einer Durchfahrt in den Pazifik entdeckte der Seefahrer Juan Díaz de Solís 1516 als erster Europäer den Río de la Plata. Die Expedition im Auftrag der spanischen Krone fand jedoch in der Nähe des heutigen Tigre ein blutiges Ende infolge eines Indianerangriffs, bei dem auch de Solis selbst ums Leben kam.
Am Südufer des Rio de la Plata, auf dem Gebiet des heutigen Stadtteils San Telmo gründete der Konquistador Pedro de Mendoza am 2. Februar 1536 die Siedlung "Puerto de Nuestra Señora Santa María del Buen Ayre" („Hafen unserer lieben Frau [der Heiligen] Maria der guten Luft“). Den Namen soll Mendozas Kaplan ausgewählt haben, der die "Virgen de Bonaria" („Jungfrau der guten Luft“) von Cagliari auf Sardinien verehrte. Nach anderer Überlieferung wurde der Name wegen der günstigen Winde im Río de la Plata gewählt. Eine plausiblere Erklärung für den Bezug auf „gute Lüfte“ ist, dass die Hafenstadt zur Zeit ihrer Gründung an der mittlerweile entdeckten Route um Kap Hoorn lag und für alle von Norden kommenden Schiffe, einer der ersten malariafreien Orte im Osten Südamerikas war. Auch der Name der Virgen de Bonaria geht auf einen solch sicheren Ort auf dem ansonsten von malariaverseuchten Sümpfen durchzogenen Sardinien zurück (vgl. Bonaria – Malaria).
Mendoza befehligte etwa 1.600 Mann, die auf 16 Schiffen anlandeten. Da sie erst im Spätsommer ankamen, war es zu spät, um Getreide anzupflanzen. Die lokalen Querandí-Indianer waren Jäger und Sammler und wurden von den Spaniern gezwungen, Essen für Mendozas Truppen zu beschaffen. Sie reagierten darauf mit wiederholten Angriffen, so dass Mendozas Siedler den Ort 1541 aufgeben mussten.
Zum Chronisten dieser Ereignisse und frühen Historiker von Buenos Aires wurde der Straubinger Patriziersohn Ulrich Schmidl, der an den Expeditionen teilgenommen hat und bisweilen zu den Mitbegründern der Stadt gezählt wird.
Nach der zweiten Stadtgründung (1580–1776).
Die zweite, diesmal erfolgreiche Stadtgründung erfolgte 1580 durch Juan de Garay. Er gab dem Ort den Namen "Ciudad de la Santísima Trinidad y Puerto Santa María de los Buenos Aires" („Stadt der Heiligen Dreifaltigkeit und Hafen der Heiligen Maria der guten Lüfte“). Zwischenzeitlich waren mehrere Stadtgründungen auf dem Gebiet des heutigen Argentiniens vollzogen worden, die aufgrund der Besiedelung von Peru her alle im Nordwesten liegen. Die älteste durchgängig bewohnte Stadt des Landes ist daher Santiago del Estero im Nordosten des heutigen Argentinien.
Buenos Aires hing seit seinen frühen Tagen stark von der Viehzucht in der die Stadt umgebenden Pampa und vom Handel mit Spanien ab. Die spanische Administration des 17. und des 18. Jahrhunderts verlangte allerdings, dass alle Waren, die nach Europa geschickt wurden, zunächst nach Lima in Peru gebracht werden mussten, um die Waren zu versteuern. Der weite Umweg löste einen steigenden Unmut bei den Händlern in Buenos Aires gegenüber Spanien aus, und so entwickelte sich ein reger Schmuggel. Karl III. von Spanien erkannte diese steigende Instabilität seiner Macht, lockerte während seiner Regierung (1759–1788) zunächst die Handelsbestimmungen und erklärte schließlich Buenos Aires zu einem offenen Hafen.
Hauptstadt des Vizekönigreichs Río de La Plata (1776–1810).
1776 wurde Buenos Aires schließlich zur Hauptstadt des Vizekönigreichs des Río de la Plata, das aus dem Vizekönigreich Peru ausgegliedert wurde. Die Bevölkerung der Stadt stieg unter anderem auch durch die Zwangsrekrutierung von Sklaven aus Afrika stark an, zwischen 1778 und 1815 betrug der Anteil der schwarzen Bevölkerung etwa ein Drittel.
Während der Zeit der Koalitionskriege, bei denen Spanien als Alliierter Frankreichs Gegner des Vereinigten Königreiches war, besetzten am 27. Juni 1806 britische Truppen unter General William Carr Beresford nach zweitägigen Kämpfen die Stadt. Die Bewohner leisteten jedoch Widerstand und am 4. August eroberten einheimische Kräfte unter Santiago de Liniers die Stadt zurück. Liniers konnte auch eine weitere Belagerung durch die Briten abwehren, die am 7. Juli 1807 mit der Kapitulation General John Whitelockes endete.
Die Tatsache, dass die Besetzungen nicht an der Gegenwehr der spanischen Truppen, sondern am erbitterten Widerstand seitens der Bevölkerung gescheitert waren, bestärkte die Nationalisten in ihren Ambitionen. Sie bereiteten die Unabhängigkeit des Landes vor, indem sie immer weitergehende Zugeständnisse des Vizekönigs an lokale Bürgervereinigungen, den sogenannten "Cabildos Abiertos" erlangten.
Unabhängigkeitskampf und Rosas Diktatur (1810–1880).
Am 25. Mai 1810 vertrieben bewaffnete Bürger der Stadt Buenos Aires den Vizekönig Baltasar Hidalgo de Cisneros y la Torre. Am 9. Juli 1816 erklärte der Kongress von Tucumán formell die Unabhängigkeit der Vereinigten Provinzen des Río de la Plata. Nach der Unabhängigkeitserklärung entbrannte ein Streit zwischen den Unitariern, die einen von Buenos Aires aus geführten Zentralstaat wollten und den Föderalisten, die eine starke Unabhängigkeit der einzelnen Provinzen verfolgten.
1829 übernahm der Föderalist Juan Manuel de Rosas als Gouverneur die Herrschaft über Buenos Aires. Im März 1835 wurde er abermals zum Gouverneur und Generalkapitän gewählt. Zeitweilig ließ sich Rosas außerordentliche Macht übertragen und erhielt damit faktisch die Entscheidungsgewalt eines Diktators. Er führte die Republik bis 1852, als er in der Schlacht von Monte-Caseros durch Truppen Brasiliens, Uruguays und des Don Justo José de Urquiza geschlagen wurde. Mit dem Sturz Rosas öffnete sich die Stadt für Einwanderer aus Europa.
Im Jahre 1853 weigerte sich die Stadt und die Provinz Buenos Aires am konstitutionellen Kongress teilzunehmen und trennte sich von Argentinien. 1859 trat Buenos Aires dem 1853 gegründeten "Argentinischen Bund" (Federación Argentina) bei.
Hauptstadt Argentiniens (1880–1976).
1880 wurde die Stadt Buenos Aires unter Julio Argentino Roca von der gleichlautenden Provinz abgetrennt und gleichzeitig zur Hauptstadt Argentiniens erklärt. 1890 war Buenos Aires die größte und wichtigste Stadt in Lateinamerika. Um die Jahrhundertwende betrug die Einwohnerzahl nahezu eine Million. Durch viele italienische Auswanderer hat sich in dieser Zeit die Mischsprache Cocoliche herausgebildet, die zeitweise von über 40 Prozent der Bevölkerung gesprochen wurde.
1904 wurde in Buenos Aires mit Alfredo Palacios der erste sozialistische Abgeordnete Lateinamerikas ins Parlament gewählt. Argentinien war auch das Ziel von aus Europa ausgewanderten Anarchisten. Während der Erster-Mai-Demonstration des Jahres 1909 kam es in Buenos Aires zu Ausschreitungen zwischen gewerkschaftlich organisierten Demonstranten (der anarchistischen FORA und der sozialistischen UGT) und der Polizei. Der Polizeichef, Ramón Falcón, ordnete den Beschuss der Demonstranten an, wodurch mindestens 11 Personen starben. In den folgenden fünf Tagen dieser als "Semana roja" bekannt gewordenen Woche (Deutsch: "Rote Woche") kam es zu einem Generalstreik mit Demonstrationen von rund 80.000 Personen und erneut zu Toten auf Seiten der Demonstranten. Ramón Falcón wurde im November desselben Jahres durch einen Bombenanschlag eines Anarchisten getötet.
1913 wurde unter der Avenida de Mayo die erste U-Bahn-Strecke eröffnet. Die U-Bahn von Buenos Aires blieb die erste und einzige in Lateinamerika bis zur Eröffnung der U-Bahn von Mexiko-Stadt im Jahre 1969. Für die Jahrhundertfeiern der Unabhängigkeit Argentiniens wurden im Stadtzentrum einige Diagonalen in das Straßensystem und die Avenida 9 de Julio geschlagen. Der Plan war aber ursprünglich wesentlich ambitionierter, als er schließlich durchgeführt wurde.
1919 gab es unter der Regierung von Hipólito Yrigoyen einen Arbeiteraufstand, der durch Militärgewalt niedergeschlagen wurde. Die Ereignisse, bei denen etwa 700 Aufständische getötet wurden, gingen als "La Semana Trágica" (die tragische Woche) in die Geschichte von Buenos Aires und von Argentinien ein.
In den 1930er-Jahren wurden einige große Avenidas durch das Stadtzentrum gezogen, so die Avenidas Santa Fe, Córdoba und Corrientes, die heute noch Hauptschlagadern des Straßenverkehrs sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die wachsende Stadt viele vormalige Vororte erreicht und einverleibt. Die Stadt beherbergte zu dieser Zeit etwa ein Drittel der argentinischen Bevölkerung.
Militärdiktatur (1976–1983).
1976 kamen nach dem Sturz der Präsidentin Isabel Martínez de Perón die Militärs unter Leitung von Jorge Rafael Videla in Argentinien an die Macht. Während der Diktatur von 1976 bis 1983 "verschwanden" 20.000 bis 30.000 Menschen spurlos (die "Desaparecidos"), die in Opposition zu den Militärs standen oder auch nur in diesen Verdacht geraten waren. Im Stadtteil Núñez wurde damals in einer Ausbildungseinrichtung der Marine (der Escuela de Mecánica de la Armada) das größte Geheimgefängnis und Folterzentrum des Landes eingerichtet. Etwa 5000 Menschen wurden dort während der Zeit der Diktatur gefoltert und anschließend fast immer ermordet, oft durch Abwerfen der betäubten, entkleideten Opfer aus Militärflugzeugen über dem nahen Río de la Plata oder dem Atlantik. Auf diesen wöchentlich durchgeführten "Todesflügen" („vuelos de la muerte“) starben bis zu 2000 Menschen, sie wurden erst 1996 durch den Journalisten Horacio Verbitsky öffentlich bekannt.
Nach einer gewissen Zeit der Militärherrschaft wurde klar – obwohl dies offiziell bis zum Ende der Diktatur abgestritten wurde – dass die Regierung hinter dem spurlosen Verschwinden der zahlreichen Vermissten stand. Ab April 1977 protestierten daher jede Woche eine Anzahl an Müttern von "Verschwundenen" (die Madres de Plaza de Mayo) auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast Casa Rosada, womit sie selbst in Lebensgefahr gerieten.
Redemokratisierung und wirtschaftlicher Aufschwung (1983–1998).
Nach dem verlorenen Falklandkrieg konnten sich die Militärs nicht mehr an der Macht halten, und so gab es wieder demokratische Wahlen. Als erster Präsident dieser neuen Ära wurde Raúl Alfonsín gewählt. Mit Wiedereinzug der Demokratie in Argentinien, der 1:1-Bindung des argentinischen Pesos an den Dollar und mit den neoliberalen Reformen während der Präsidentschaft von Carlos Menem begann die argentinischen Wirtschaft mit einem steilen Aufschwung, der sich auch durch verstärkte Bautätigkeit in der Stadt Buenos Aires manifestierte. Vor allem im Stadtteil Retiro wurden viele neue Hochhäuser gebaut.
Am 17. März 1992 zerstörte eine Autobombe die israelische Botschaft im Stadtteil Retiro und tötete 29 Menschen und verletzte 242. Auf das Attentat folgte am 18. Juli 1994 das schwerste Attentat in der argentinischen Geschichte, ein Anschlag auf eine jüdische Einrichtung mit 85 Toten und mehr als 300 Verletzten. Über Jahre hinweg wurde das Attentat auf die AMIA ("Asociación Mutual Israelita Argentina", etwa „Israelisch-Argentinischer Verein auf Gegenseitigkeit“) genannte Sozialkasse der jüdischen Argentinier nicht aufgeklärt, was vor allem an den Jahrestagen des Anschlags zu politischen Protesten geführt hat, in denen den staatlichen Institutionen fehlendes Engagement vorgeworfen wird.
Am 25. Oktober 2006 veröffentlichte die untersuchende Staatsanwaltschaft ein Gutachten, in dem die Schuld der früheren iranischen Regierung angelastet und auf die Hisbollah als Ausführende hingewiesen wurde; es wurden internationale Haftanträge für acht Mitglieder der früheren iranischen Regierung gestellt. Beide Attentate hinterließen Narben in der Stadt und führten dazu, dass die jüdischen Einrichtungen neben den Regierungsgebäuden wohl die am stärksten bewachten Gebäude der Stadt sind. Buenos Aires hat mit rund 180.000 die größte Zahl jüdischer Einwohner aller Städte Lateinamerikas.
Argentinien-Krise und langsame wirtschaftliche Erholung (seit 1998).
Während der Wirtschaftskrise zwischen 1998 und 2003 war Buenos Aires das Zentrum teils gewalttätiger Demonstrationen, von denen die größte am 19. und 20. Dezember 2001 stattfand (das sogenannte Cacerolazo) und zum Rücktritt des Staatspräsidenten Fernando de la Rúa führte. Außerdem sind seit 1999 die sogenannten Piqueteros aktiv, die die wichtigsten Zufahrten der Stadt bis heute (Anfang 2005) in unregelmäßigen Abständen mit Straßensperren blockieren. Sie sind seit 2003 zu einem wichtigen Machtfaktor auch auf nationaler Ebene geworden.
Am 30. Dezember 2004 ereignete sich das bisher schwerste Feuer in der Stadt: Bei einem Großbrand in der Diskothek República Cromañón kamen 194 Menschen ums Leben. Als Folge dieses Unfalls wurde der damalige Bürgermeister der Stadt, Aníbal Ibarra, beurlaubt und wegen schlechter Amtsführung angeklagt, da er für die Fehler der Brandschutzkontrollen verantwortlich gemacht wurde. Am 7. März 2006 beschloss das Gericht des argentinischen Repräsentantenhauses die Absetzung von Ibarra und die Übertragung des Bürgermeisteramtes auf seinen bisherigen Stellvertreter Jorge Telerman.
Am 24. Juni 2007 wurde der Kandidat der konservativen Partei "PRO", der Geschäftsmann Mauricio Macri (u. a. Präsident des Sportvereins Boca Juniors) zum neuen Bürgermeister gewählt. Er schlug in der Stichwahl "Daniel Filmus" (PJ) mit 61 % der abgegebenen Stimmen, nachdem der bisherige Bürgermeister Telerman schon in der ersten Runde als Dritter ausgeschieden war. Macri trat das Amt jedoch erst am 10. Dezember 2007 an.
Seit 2006 wird die Stadt in 15 Einzelgemeinden "(comunas)" mit autonomen Regierungen aufgeteilt. Als Stichtag für die Fertigstellung des Übergangsprozesses wurde der 10. August 2008 festgelegt.
Während der Covid-Pandemie in Argentinien wurde für die Stadt Buenos Aires ein Lockdown von aufsummiert 245 Tagen verhängt (Stand Oktober 2021). Damit war Buenos Aires hinter Melbourne die Stadt mit den weltweit längsten Lockdown-Beschränkungen.
Einwohnerentwicklung.
1833 betrug die Bevölkerung der Stadt Buenos Aires knapp 60.000, im Jahre 1869 waren es etwa 180.000 Menschen. 1890 war Buenos Aires die größte und wichtigste Stadt in Lateinamerika mit einer Bevölkerung von etwa 661.000 Einwohnern. Bedingt durch die starke Einwanderungswelle aus Europa zählt die Stadt 1914 schon etwa 1,6 Millionen Einwohner. 2001 beträgt die Einwohnerzahl der Autonomen Stadt Buenos Aires knapp 2,8 Millionen Einwohner.
Die Stadt und die sie umgebenden Vororte haben zusammen 13,1 Millionen Einwohner. Damit ist „Gran Buenos Aires“ die größte Metropolregion in Argentinien und nach São Paulo die zweitgrößte in ganz Südamerika. 2017 wurde die Einwohnerzahl der Agglomeration Buenos Aires auf 14,9 Millionen geschätzt. Bis zum Jahr 2035 wird eine Steigerung auf 17,1 Millionen erwartet.
Die Bevölkerung ist überwiegend spanischen und italienischen Ursprungs. Andere Einwanderer kamen aus anderen Ländern Europas wie Deutschland, Irland, Portugal, Frankreich und England. Syrer und Libanesen sowie Armenier spielen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine zunehmend wichtige Rolle im Handel und öffentlichen Leben. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen Einwanderer aus Bolivien, Peru und Paraguay zu. In den 1990er Jahren gab es eine kleine Einwanderungswelle aus Rumänien und der Ukraine.
Die jüdische Gemeinde von Buenos Aires umfasst ca. 250.000 Mitglieder und ist damit die größte in Südamerika. Die meisten von ihnen sind Aschkenasim aus Mittel- und Osteuropa, ihre Synagoge ist der Gran Templo Paso, die sephardischen Juden stammen überwiegend aus Syrien.
Die ersten ostasiatischen Einwanderer kamen aus Japan. Diese waren bekannt als Blumenzüchter bzw. als Inhaber von Textilreinigungen. Seit den 1970er Jahren kamen dagegen überwiegend Chinesen und Koreaner. Letztere verdienen ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit kleinen Supermärkten. Der Anteil der Nachkommen nicht-spanischer Einwanderer ist in Buenos Aires wesentlich höher als im restlichen Argentinien.
Die Bevölkerung von Buenos Aires (Porteños resp. Porteñas genannt, sofern in Buenos Aires geboren) spricht heute fast ausschließlich spanisch und die überwältigende Mehrheit der Einwohner ist römisch-katholisch. Deutsche Einwanderer sprechen untereinander das sogenannte Belgranodeutsch.
Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1943 handelt es sich meist um Schätzungen, von 1947 bis 2001 um Volkszählungsergebnisse und 2005 um eine Berechnung. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf die eigentliche Stadt ohne den Vorortgürtel. Die Bevölkerungsdichte ist mit 14.308 Einwohnern pro km² etwa drei bis vier Mal größer als in Berlin und sogar etwas höher als in den 23 Stadtbezirken Tokios. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Bevölkerungszunahme im nur 202 Quadratkilometer großen Stadtgebiet inzwischen nahezu ausgeschlossen ist. Die Bevölkerungsentwicklung vollzieht sich heute hauptsächlich in den Vororten, die in der Provinz Buenos Aires liegen.
Die Zusammensetzung der Bevölkerung ist wie folgt: 88,9 % Weiße, 7 % Mestizen, 2,1 % Asiaten und 2 % Schwarze. Die Bevölkerung der Stadt ist relativ alt: 17 % der Einwohner sind unter 15, dagegen 22 % über 60. Damit ähnelt die Altersstruktur der europäischer Städte. Zwei Drittel der Einwohner leben in Mehrfamilienhäusern und 30 % in Einfamilienhäusern. 4 % leben in sehr einfachen Unterkünften, unter anderem in den "Villas miserias" (informelle Siedlungen), von denen die bekannteste die Villa 31 im Stadtviertel Retiro ist. Die Armutsquote betrug 2007 8,4 % für die Stadt und 20,6 % für die Metropolregion.
Von den 1,2 Mio. Erwerbstätigen waren 2001 die meisten im Dienstleistungssektor beschäftigt. Der öffentliche Dienst beschäftigte nur 6 %, obwohl Buenos Aires als Hauptstadt Sitz der Verwaltung und Ministerien ist. 10 % waren im produzierenden Gewerbe beschäftigt.
Bevölkerungsentwicklung der Agglomeration 1950–2017
Politik.
Städtepartnerschaften.
Buenos Aires unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften (in Klammern das Jahr der Etablierung):
Regionenpartnerschaften.
Buenos Aires unterhält mit folgenden Regionen Partnerschaften (in Klammern das Jahr der Etablierung):
Kultur und Sehenswürdigkeiten.
Oft als „Paris Südamerikas“ bezeichnet, ist die Kultur der Hauptstadt sehr europäisch geprägt. Neben den unten genannten Einrichtungen gibt es diverse Orchester und Chöre. Häuser von Künstlern und Kunstsammlern wurden oft in Museen umgewandelt, die wichtigsten sind unten näher erläutert. Des Weiteren findet man zahlreiche Bibliotheken, einen Zoo, einen Botanischen Garten sowie Kirchen und andere religiöse Stätten, viele von ihnen auch architektonisch interessant.
In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Buenos Aires im Jahre 2018 den 91. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Im Vergleich mit anderen südamerikanischen Hauptstädten lag es hinter Montevideo (Platz 77) aber vor Santiago de Chile (Platz 92), Brasília (Platz 108), Asunción (Platz 115), Lima (Platz 124) und Bogotá (Platz 128).
Theater.
Das bekannteste Theater der Stadt ist das Teatro Colón, eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt, das nach umfangreichen Renovierungen im Jahr 2010 wiedereröffnet wurde. Neben diesem Theater existiert aber in Buenos Aires eine große Theater- und Musical-Szene, insgesamt gibt es 187 Theatersäle in der Stadt, darunter das Teatro Cervantes, das Nationaltheater des Landes, das über 100 Jahre alte Teatro Avenida oder das Teatro Coliseo.
Es wird behauptet, dass Buenos Aires über mehr Theatersäle verfügt als jede andere Stadt in der Welt. Zum Vergleich: New York hat ca. 135 Säle, Paris etwa 150. Viele der Theater befinden sich an der Avenida Corrientes, die deshalb gerne auch als Broadway von Buenos Aires bezeichnet wird.
Auch die Zahl der Theaterstücke ist beeindruckend. Außer im Hochsommer hat man zu jeder Zeit die Auswahl zwischen etwa 400 verschiedenen großen und kleinen Theateraufführungen.
Tango.
Buenos Aires ist die Welthauptstadt des Tangos. Sowohl Uruguay als auch Argentinien nehmen für sich in Anspruch, Geburtsort des Tangos zu sein. In Buenos Aires entwickelte er sich in den Vororten der Stadt, vor allem in den Bordellen von "Junin y Lavalle" und in den ärmeren Vororten, den "Arrabales".
Jedes Jahr wird in Buenos Aires ein Tangofestival und die Tango-Weltmeisterschaft abgehalten. Die berühmtesten und bekanntesten Tango-Künstler der Stadt treten Ende Februar/Anfang März auf. Es finden mehr als 70 Konzerte an verschiedensten Veranstaltungsorten (in den großen Theatern, wichtigsten Bars, aber auch Open-Air-Veranstaltungen) statt. Es gibt zahlreiche Tango-Shows – als Touristenattraktion auf der Straße, wie dem Caminito im Stadtteil La Boca. Getanzt wird in zahlreichen Milongas in der ganzen Stadt.
Der berühmteste Tangosänger und -Komponist der Stadt ist Carlos Gardel, im Stadtteil Abasto finden sich ein ihm gewidmetes Museum, eine Statue zu seinen Ehren und zahlreiche Tangogeschäfte.
Museen.
Eines der bedeutendsten Museen ist das Museo Nacional de Bellas Artes (Nationalmuseum der Bildenden Künste). Zu sehen ist internationale Kunst vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert wie auch argentinische Künstler sowie Fotografien und Plastiken.
Das zweite bedeutende Nationalmuseum ist das Museo Nacional de Arte Decorativo. Es beherbergt eine umfangreiche Sammlung an Gemälden, Skulpturen, Mobiliar und ostasiatischer Kunst.
Das "Museo de Arte Español Enrique Larreta" besitzt eine Sammlung des argentinischen Hispanisten und Schriftstellers Enrique Larreta: unter anderem Spanische Malerei, Skulpturen, Möbel und Keramiken aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Werke des Mittelalters und vom Beginn des 20. Jahrhunderts.
Das Museo de Arte Hispano Fernández Blanco zeigt Iberoamerikanische Kolonialkunst, darunter unter anderem: Malerei der Schule von Cuzco, Silberarbeiten aus Peru und vom Río de la Plata, religiöse Bildwerke aus Quito, Möbel aus Brasilien und dekorative Künste der republikanischen Periode.
Im Jahre 2001 wurde das Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires (MALBA) für die Sammlung des argentinischen Geschäftsmannes Eduardo Costantini eröffnet. Es zeigt mehr als 200 Arbeiten von etwa 80 Künstlern, darunter Schlüsselwerke der Kunst Lateinamerikas aus dem 20. Jahrhundert und führt auch spezielle Ausstellungen und Programme durch.
In einem umgebauten Tabakspeicher im Viertel San Telmo befindet sich das Museo de Arte Moderno. Es beherbergt eine Sammlung zeitgenössischer Kunst Argentiniens und Werke herausragender internationaler Künstler des 20. Jahrhunderts. Ebenso zeigt das "Museum de Arte Contemporaneo Buenos Aires" (MACBA) moderne zeitgenössische Kunst.
Interessant ist auch das Museo de Esculturas Luis Perlotti, das Museum im Haus des argentinischen Bildhauers Luis Perlotti mit einer Sammlung von fast 1.000 Werken, die der Stadt Buenos Aires im Jahre 1976 geschenkt wurden.
Die Geschichte Argentiniens wird im Historischen Nationalmuseum in San Telmo erläutert.
Weitere Museen sind das Naturwissenschaftliche Museum, das Historische Museum der Stadt Buenos Aires, das Architektur- und Design-Museum (MARQ), das Museo de la Inmigración, das "Museum der Boca-Leidenschaft" (für die Fans des Fußballclubs Boca Juniors) und das "Museo Evita", zum Gedenken an Eva Perón.
Bedeutende Straßen und Bauwerke.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Stadtbild stark verändert worden. Die Plaza de Mayo im östlichen Bereich von Buenos Aires war Ausgangspunkt der ursprünglichen Besiedlung und stellte in Form eines Halbkreises den städtischen Kern dar. Hier steht auch die Hauptkirche der Katholiken in Buenos Aires, die Catedral Metropolitana des Erzbistums Buenos Aires. Seit den 1950er-Jahren sind außerhalb der Stadt Geschäftszentren und andere Einrichtungen angewachsen. Theater, Hotels, Restaurants sowie Finanz-, Geschäfts- und Regierungsbüros und einige luxuriöse Wohnkomplexe liegen konzentriert nördlich und westlich des Plaza-Gebiets.
Eine der Hauptachsen ist die 1,6 km lange Avenida de Mayo, die von der Casa Rosada (Sitz des Staatspräsidenten) an der Plaza de Mayo zur Plaza del Congreso mit dem Gebäude des Nationalkongresses verläuft. Hier fließt sie dann mit der Avenida Rivadavia zusammen und setzt sich in westliche Richtung über weitere 40 Kilometer fort. Um den Bau der Prachtstraße gab es seinerzeit viele Unstimmigkeiten, erst zwölf Jahre nach der ersten Idee konnte die Avenida eingeweiht werden. Heute sind hier viele architektonisch wichtige Gebäude zu bewundern.
Als „Straße, die niemals schläft“, wird die Avenida Corrientes bezeichnet. Sie verläuft in westöstlicher Richtung vom Geschäftszentrum San Nicolás bis Chacarita. Entlang der Straße finden sich viele Theater, darunter das Teatro Ópera, weswegen sie auch als „Broadway von Buenos Aires“ angesehen wird.
Im Norden von Buenos Aires finden sich Großteile der städtischen Parks, die beiden Rennstrecken und das Polo-Stadion der Stadt sowie Wohnbezirke der Mittel- und Oberschicht. Die nördliche Ausweitung der wohlhabenderen Viertel hat die Grenze des Hauptstadtbezirks überschritten und dehnt sich nach Martínez, Olivos, San Isidro und Vicente López aus.
Weitere bedeutende Sehenswürdigkeiten von Buenos Aires sind der Friedhof La Recoleta, wo unter anderem Eva Perón begraben liegt, der Obelisk von Buenos Aires auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, die Plaza General San Martín im Stadtteil Retiro, die Florida-Straße zum Einkaufen, das alte Hafengebiet Puerto Madero mit den restaurierten Speichern, der alte Stadtteil San Telmo mit seinen malerischen Straßen und dem Antiquitätenmarkt, der ehemalige Zentralmarkt Abasto, wo heute ein Einkaufszentrum untergebracht ist und das Künstlerviertel La Boca, das bekannt für seine farbenprächtigen Hausfassaden ist und als einer der Geburtsorte des Tangos gilt. Des Weiteren findet man diverse Einkaufszentren, wie das Patio Bullrich und die Galerías Pacífico.
Sport.
Besonders im Fußball und in den Pferdesportarten dominiert die Hauptstadt den Sportbetrieb des Landes weitgehend.
Im Fußball residieren in der Stadt die zwei erfolgreichsten Erstligavereine Argentiniens: Der Rekordmeister, die Boca Juniors, und River Plate, der Erzrivale von Boca. Das Derby zwischen beiden Vereinen wird Superclásico genannt. Weitere wichtige Vereine sind CA Independiente und Racing Club, beide aus der Vorstadt Avellaneda. Ihre Stadien trennen dort nur einige hundert Meter. Des Weiteren ist der CA San Lorenzo de Almagro aus dem Stadtviertel Almagro zu nennen. Buenos Aires wird oft als die Hauptstadt des Fußballs in Argentinien angesehen, mit 14 Stadien, die jeweils mehr als 30.000 Zuschauern Platz bieten. Dies zeigt sich auch dadurch, dass in der höchsten Argentinischen Fußballliga allein 13 Mannschaften von insgesamt 20 aus dem Großraum Buenos Aires stammen.
Berühmt ist aber auch die Hooliganszene der „Barras Bravas“ in Buenos Aires. Zahlreiche Stadtderbys sind immer wieder Schauplatz von Fanausschreitungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Fangruppierungen oder der Polizei, bei denen manchmal auch Menschen zu Tode kommen. Die Hooliganszene reicht zumeist bis tief in die Netzwerke der Vereine hinein und übt oftmals einen großen Einfluss auf die wichtigen Entscheidungen der Clubs aus.
Pferderennen sind in der Stadt wahrscheinlich die zweitbeliebteste Sportart. Die beiden bekanntesten Rennbahnen "(Hipódromos)" befinden sich im Stadtviertel Palermo (Hipódromo Argentino de Palermo) sowie im Vorort San Isidro. Auch andere Sportarten „zu Pferde“ erfreuen sich höchster Beliebtheit: Die Oberschicht vergnügt sich am Wochenende zum Beispiel beim Polo.
Weitere beliebte Sportarten in der Stadt sind Rugby und Hockey. Im ebenfalls beliebten Basketball kommen die dominierenden Mannschaften dagegen aus dem Landesinneren. Dasselbe gilt für die aktuellen Tennisprofis.
Buenos Aires war dreimal Kandidat für die olympischen Sommerspiele: 1956, 1968 und 2004. 1951 fanden hier die ersten Panamerikanischen Spiele statt und Buenos Aires war Gastgeber, bzw. Austragungsort diverser Weltmeisterschaften, wie im Volleyball 1982 und 2002 und im Fußball 1978.
1938 richtete die Stadt die erste Dreiband-Weltmeisterschaft Südamerikas aus. Es war gleichzeitig die letzte WM vor dem Zweiten Weltkrieg. Nach Kriegsende war sie erneut Gastgeberin in den Jahren 1948, 1952, 1960, 1965, 1972 und zuletzt 1980.
1994 war Buenos Aires Ausrichter der ersten Faustball-Weltmeisterschaft der Frauen.
Gastronomie und kulinarische Spezialitäten.
In Buenos Aires befinden sich über 3.500 Restaurants, die einheimische wie internationale Küche anbieten. Dem Gast werden im Lokal so unterschiedliche Gerichte wie die antarktische Königskrabbe "(Centolla)" und die würzigen Teigtaschen (Empanadas) serviert.
Klassiker sind jedoch die schmackhaften Pasta der italo-argentinischen Küche und das kreolische am offenen Holzfeuer gebratene Fleisch (Asado). Kenner versichern nachhaltig, dass argentinische Steaks nach wie vor die besten der Welt sind – allerdings sollte man es „al punto“ bestellen, sonst wird es durchgebraten serviert. Lendenbraten-Steaks werden als "Bife de Lomo" bezeichnet und häufig längsgeschnitten (nicht als Medaillon) auf der "Parrilla" (argentinischer Grill mit v-förmigen Grillstäben, die ein Abtropfen der austretenden Flüssigkeit auf die Glut durch Ableitung verhindern) zubereitet.
Auf den Weinkarten der Restaurants stellen zahlreiche große Kellereien eine wechselnde Auswahl ihrer Gewächse vor. Die sehr verschiedenartigen Cuvées, Provenienzen, Rebsorten und Jahrgänge decken eine breite Geschmacksskala ab.
Die gängigsten angebotenen Weine sind Cabernet Sauvignon, Malbec und Syrah. Vereinzelt (und immer häufiger) werden auch Weine wie Tannat oder Bonarda angeboten. Fast alle Weine kommen aus den Provinzen Mendoza, San Juan, aber auch aus der Provinz Salta.
Parks.
Der Freizeitpark „Tierra Santa“ ist ein einzigartiges „Disneyland des Glaubens“ und enthält mit diversen Replika von der Klagemauer bis hin zum Berg Golgota eine Vielfalt von Nachbildungen bekannter Glaubensdenkmäler.
Der Parque Natural y Reserva Ecológica Costanera Sur ist ein Naturschutzpark. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts befand sich an dieser Stelle ein Strandbad, das aufgrund der zunehmenden Verschmutzung des Rio Plata aufgegeben wurde; die Gewässer vor der Costanera wurden in den 1970ern aufgeschüttet, um Land für ein neu zu errichtendes, städtisches Verwaltungsviertel zu gewinnen. Das Projekt wurde 1984 aufgegeben. Nun übernahm die Natur das neugewonnene Land, das 1989 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Die Parkwege stehen Besuchern tagsüber offen.
Wirtschaft und Infrastruktur.
Wirtschaft.
Die Stadt ist als wichtigster Seehafen Argentiniens das Handelszentrum des Landes. Die Hafenanlagen und Schiffsbecken erstrecken sich über rund acht Kilometer entlang des Río de la Plata und beherbergen um Puerto Nuevo herum die wichtigsten Hafeneinrichtungen.
Parallel zur modernen Verkehrsentwicklung (zum Beispiel 16-spurige Autobahnen) lief der Aufschwung der Stadt zum wichtigsten Industriezentrum des Landes. Der überwiegende Teil der Industrieanlagen des Landes wurde in Buenos Aires gebaut, seit 1930 zunehmend auch in den Vororten des großräumigen Einzugsgebiets. In der Metropolregion befinden sich knapp die Hälfte aller argentinischen Industriebetriebe, über 26.000 allein im Bundesdistrikt und mindestens die doppelte Zahl in den Vorstädten.
Hauptstandorte der Industrie sind die Stadtbezirke im Südosten, besonders die zu Gran Buenos Aires gehörenden Verwaltungsbezirke Avellaneda und Lanús. Dort enden auch die großen Erdgasleitungen aus Patagonien. Auf den Finanzbezirk um die Kreuzung der Straßen Bartolomé Mitre und San Martín konzentrieren sich die Hauptniederlassungen internationaler und nationaler Banken sowie die Argentinische Zentralbank, die Wertpapierbörse und die Getreidebörse. Entlang der Florida-Straße und der Avenida Santa Fe sind die größten Einzelhandelsgeschäfte und Boutiquen zu finden.
Im südlichen Teil der Stadt liegen Fleischverpackungs- und andere nahrungsmittelverarbeitende Industrien, Erdölraffinerien und chemische Industrien. Fahrzeugbauindustrie und verschiedene Leichtindustrien, wie Druckunternehmen und Textilfabriken, sind im Westen und Norden der Hauptstadt angesiedelt. Aufgrund der Umweltverschmutzung ist die Stadtverwaltung bemüht, Fabriken aus der Innenstadt an die Peripherie zu verlegen, wo einige Industrie- und Gewerbeparks entstanden sind. Die Angestellten und Arbeiter der ausgesiedelten Industrie zogen aufgrund der jetzt langen Arbeitswege ihren Arbeitgebern nach.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Buenos Aires ein Bruttoinlandsprodukt von 316 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 32. Platz. Der "Human Development Index" betrug 1998 0,923, was international betrachtet, recht hoch ist.
In der Stadtmitte von Buenos Aires gab es 1927 erst fünf Hochhäuser, heute jedoch werden die Straßenzüge im Zentrum von Hochhäusern gezeichnet. Das Abwassersystem im Großraum der Stadt ist seit den 1940er Jahren kaum erweitert worden, obwohl Millionen von Menschen zugewandert sind.
Der etwa drei Quadratkilometer umfassende Stadtkern liegt etwas nördlich der Plaza de Mayo, des alten Mittelpunkts von Buenos Aires. Hier hat sich ein Zentraler Geschäftsbezirk mit allen Kennzeichen des Zentrums einer Weltstadt herausgebildet: Büro- und Bankhochhäuser, Versicherungen, Verlagswesen, gehobener Dienstleistungsbereich, moderne Ladenpassagen, Vergnügungsviertel, Verkehrschaos, wenige Grünflächen und Abwanderung der Wohnbevölkerung.
Verkehr.
Fernverkehr.
Buenos Aires verfügt über zwei Passagierflughäfen. Der internationale Flughafen Aeropuerto Internacional Ministro Pistarini de Ezeiza liegt am Rande der Vorstadt Ezeiza (etwa 30 bis 40 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums) und wird oft nur „Ezeiza“ genannt. Der zweite Flughafen Aeroparque Jorge Newbery liegt direkt am Ufer des Río de la Plata etwa fünf Kilometer vom Finanzbezirk im Zentrum der Stadt entfernt. Dieser Flughafen wird kurz Aeroparque genannt und bedient nur nationale und Flüge in die Nachbarländer Argentiniens.
Buenos Aires verfügt über einen großen Hafen, der auch für große Container- und Tankschiffe geeignet ist. Um diesen den Zugang zu ermöglichen wird regelmäßig eine Fahrrinne im Río de la Plata ausgebaggert. Des Weiteren gibt es in unmittelbarer Nähe des Wirtschafts- und Finanzzentrums einen Fährhafen mit mehrmals täglichen Verbindungen nach Colonia und Montevideo in Uruguay.
Im Jahr 1857 bekam Buenos Aires Anschluss an die Eisenbahn. Die Fernverbindungen der Eisenbahn kamen in den 1990er Jahren wegen maroder Strecken und fehlender Investoren fast zum Erliegen. Heute werden wieder einige Städte der Provinz Buenos Aires (unter anderem die Badeorte Mar del Plata und Villa Gesell sowie die Hafenstadt Bahía Blanca), aber auch weiter entfernte Städte wie Posadas, Santa Rosa de Toay, Córdoba, Rosario und San Miguel de Tucumán angefahren.
Da der Personenverkehr mit der Eisenbahn in Argentinien wegen der im Vergleich zu den Überlandbussen geringen Geschwindigkeit und des mangelnden Komforts mittlerweile eine untergeordnete Rolle spielt, verfügt Buenos Aires mit dem Terminal de Ómnibus de Retiro über einen sehr großen Busbahnhof. Um die hohen christlichen Feiertage, wie Ostern oder Weihnachten verlassen hunderttausende die Stadt, die meisten mit dem Reisebus.
Nahverkehr.
Die Straßen in der Stadt sind weitgehend nach dem Schachbrettmuster angelegt und zumeist Einbahnstraßen. Für die Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit 1916 war geplant, dieses Straßensystem durch ein System von Diagonalstraßen, wie in La Plata zu ergänzen. Von den großzügigen Planungen wurden lediglich die Avenida 9 de Julio, sowie die "Diagonal Norte" und "Diagonal Sur", die beide an der Plaza de Mayo beginnen, realisiert.
Buenos Aires verfügt über ein radial von der Stadt wegführendes Autobahnsystem. Die Autobahnen beginnen an der Ringautobahn "General Paz". Es gibt eine Autobahn, die bis in das Zentrum der Stadt hineinführt. Diese durchschneidet – auf Betonstelzen gebaut – die komplette Stadt von West nach Ost und bindet unter anderem den internationalen Flughafen Ezeiza an das Zentrum an.
Buenos Aires ist über mehrere Kopfbahnhöfe an das nationale Eisenbahnnetz angebunden. Wichtige Bahnhöfe liegen in den Stadtteilen Retiro, Constitución und Balvanera ("Once" und "Federico Lacroze"). Es handelt sich vorrangig um Nahverkehrsbahnhöfe, die von den Vorortbahnen von Buenos Aires bedient werden. Von Constitución, Once und Retiro aus gibt es auch Fernverbindungen.
Am 1. Dezember 1913 wurde der erste Streckenabschnitt der U-Bahn in Buenos Aires eröffnet. Sie ist damit die älteste U-Bahn Lateinamerikas und die dreizehnte U-Bahn der Welt. Sie verkehrt heute auf einem Netz von sechs Linien mit einer Länge von 52,3 km und 74 Stationen. Ein Ausbau auf 89 km Länge ist bis 2011 geplant. Täglich benutzen 1,3 Mio. Fahrgäste die U-Bahn, Tendenz steigend. Um die Schadstoffemission in der Stadt durch Busse zu verringern, soll das Liniennetz stark ausgebaut werden. Eine relativ drastische Fahrpreiserhöhung im Jahr 2011 wirkte sich allerdings kontraproduktiv auf die Nutzungsfrequenz aus.
Nachdem eine elektrische Straßenbahn zwischen dem 22. April 1897 und dem 31. Dezember 1964 in der Stadt in Betrieb war, wurde am 27. August 1987 eine neue Linie als "Premetro" (Stadtbahn) eröffnet. Sie umfasst ein Netz von 7,4 km und verbindet die südlichen Stadtteile mit dem Zentrum. Zwischen 2007 und 2012 fuhr eine kurze, vier Stationen umfassende Straßenbahn (Tranvía del Este) im Stadtteil Puerto Madero. Trolleybusse verkehrten in Buenos Aires zwischen dem 4. Juni 1948 und dem 30. April 1966.
Der weitere öffentliche Personennahverkehr wird hauptsächlich mit dieselbetriebenen Bussen, den sog. „Colectivos“ bewältigt. Das Busliniennetz umfasst mehr als 150 Linien, die linienbezogen von privaten Firmen betrieben werden. Wegen der niedrigen Fahrpreise, des ausgedehnten Netzes und der bis weit in die Nachtstunden hinein stattfindenden Bedienung sind sie stark frequentiert, sorgen aber – wie der übrige Kraftfahrzeugverkehr auch – für eine erhebliche Schadstoff- und Lärmemission. Durch die regelmäßigen Staus auf den Straßen der Stadt bei nur wenigen Busspuren ist das Einhalten eines Fahrplans beinahe nicht möglich und wird realistischerweise auch nicht ernsthaft von den Fahrgästen erwartet.
Für den individuellen, öffentlichen Nahverkehr stehen etwa 40.000 Taxis zur Verfügung. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Taxi je 72 Einwohnern der Hauptstadt. (Zum Vergleich: New York City hat mit 8.168.388 Einwohnern nur etwa 12.000 Taxis. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Taxi je 681 Einwohnern.) Da sie auch für argentinische Verhältnisse recht günstig sind, sind sie durchaus eine Alternative zu Bus oder U-Bahn. Jedoch werden die Lizenzen nicht gründlich überprüft und es wird über organisierte Kriminalität auf den Strecken zu den Flughäfen und anderen wichtigen Zielen berichtet.
Bildung.
An der Plaza de Mayo im Stadtzentrum konzentrierten sich einst die Bildungseinrichtungen. Inzwischen sind sie auch im Norden der Stadt zu finden. Die im Jahre 1821 eröffnete staatliche Universität von Buenos Aires wurde teilweise nahe dem Flussufer auf einem neuen Campus untergebracht. Einige Fakultäten sind allerdings im Stadtzentrum, so die juristische, die medizinische, die Ingenieurs- und die Wirtschafts-Fakultät. Die Universität besitzt aber inzwischen auch weitere Filialen in den Vororten der Stadt, zum Beispiel in Martínez (Departamento San Isidro).
Die Nationalbibliothek ist in den neuen Stadtvierteln im nördlichen Bereich der Stadt zu finden, wo auch die 1964 gegründete private Universität von Belgrano ihren Sitz hat.
Nach dem Sturz Juan Domingo Peróns im Jahr 1955 wurde Jorge Luis Borges Direktor der Nationalbibliothek; Borges Erblindung war um diese Zeit so weit fortgeschritten, dass die Ärzte ihm Lesen und Schreiben verboten. In einem Gedicht sprach er von „Gottes glänzender Ironie“, ihm gleichzeitig achthunderttausend Bücher und die Dunkelheit zu schenken. Als Perón 1973 wieder an die Macht kam, legte Borges sein Direktorenamt nieder.
Zu den weiteren Bildungseinrichtungen in Buenos Aires gehören die Nationale Hochschule der Schönen Künste (eröffnet 1904), das Nationale Musikkonservatorium (eröffnet 1924), die Katholische Universität von Argentinien (eröffnet 1958) und die Nationale Technologische Universität (eröffnet 1959). Eine der jüngsten Universitäten Argentiniens ist die Universidad Nacional de San Martín. Sie wurde 1992 als Reformuniversität gegründet und entwickelte sich zu einer der höchstrangigen Universitäten Argentiniens.
Presse.
In Buenos Aires erscheinen unter anderem folgende Tageszeitungen: Clarín, La Nación, Buenos Aires Herald, Página/12, Perfil, La Prensa, Crónica und Tiempo Argentino sowie die deutschsprachige Wochenzeitung Argentinisches Tageblatt.
Söhne und Töchter der Stadt Buenos Aires.
In Buenos Aires wurde eine Vielzahl bekannter Persönlichkeiten geboren, so unter anderem Norma Aleandro (Schauspielerin), Jorge Luis Borges (Schriftsteller), Jorge Mario Bergoglio (seit 13. März 2013 als Franziskus Papst der römisch-katholischen Kirche), Benito Quinquela Martín (Maler), Alberto Barton (peruanischer Bakteriologe), Bernardino Rivadavia (erster argentinischer Präsident), Gabriela Sabatini (Tennisspielerin), Sky du Mont (Schauspieler und Autor), Martha Argerich (Pianistin), Máxima der Niederlande (Königin) und Daniel Barenboim (Pianist und Dirigent).
Zu den internationalen Persönlichkeiten, die in Buenos Aires leben bzw. gelebt haben, gehören: Marcel Duchamp (Künstler), Pablo Neruda (Dichter), Antoine de Saint-Exupéry (Schriftsteller und Pilot), Christian Kracht (Schriftsteller), Francis Ford Coppola (Regisseur), Ralph Pappier, Slavoj Žižek (Philosoph) und Witold Gombrowicz (Schriftsteller). |
554 | 2154445 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=554 | Bremen | Die Stadtgemeinde Bremen ist die Hauptstadt des Landes Freie Hansestadt Bremen (kurz ebenfalls „Bremen“, , regional []). Die Stadt Bremen ist hinsichtlich der Bevölkerungszahl die elftgrößte Stadt in Deutschland. Sie gehört zur europäischen Metropolregion Nordwest mit rund 2,7 Millionen Einwohnern, einer von insgesamt elf Europäischen Metropolregionen in Deutschland.
Das Stadtbremische Überseehafengebiet Bremerhaven ist eine Exklave der Stadt Bremen innerhalb von Bremerhaven.
Geographie.
Überblick.
Bremen liegt zu beiden Seiten der Weser, etwa 60 Flusskilometer vor deren Mündung in die Nordsee bzw. deren Übergang in die Außenweser bei Bremerhaven. <mapframe latitude="53.363665" longitude="8.547363" zoom="8" width="400" height="302" align="right">
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</mapframe>In Höhe der Bremer Altstadt geht die "Mittelweser" in die "Unterweser" über, die ab der Eisenbahnbrücke Bremen zur Seeschifffahrtsstraße ausgebaut ist. Die von der Ochtum durchzogene Landschaft links der Unterweser wird als Wesermarsch bezeichnet, die Landschaft rechts der Unterweser gehört zum Elbe-Weser-Dreieck. Die Lesum, mit ihren Quellflüssen Wümme und Hamme, die Schönebecker und die Blumenthaler Aue bilden von hier aus die Zuflüsse der Weser.
Das Stadtgebiet ist etwa 38 Kilometer lang und 16 Kilometer breit (Maximalwerte). Bremen ist bezogen auf die Fläche "(siehe: Liste der 100 flächengrößten Gemeinden Deutschlands)" die siebzehntgrößte Stadt Deutschlands und bezogen auf die Einwohnerzahl, nach Hamburg, die zweitgrößte Stadt im Norden Deutschlands und die elftgrößte in ganz Deutschland "(siehe: Liste der Großstädte in Deutschland)".
Bremen liegt etwa 50 Kilometer östlich von Oldenburg (Oldb) und 180 Kilometer östlich von Groningen, 110 Kilometer südwestlich von Hamburg, 120 Kilometer nordwestlich von Hannover, 100 Kilometer nördlich von Minden und 105 Kilometer nordöstlich von Osnabrück. Ein Teil des Bremerhavener Hafengeländes, das "Stadtbremische Überseehafengebiet," bildet eine Exklave der Stadt Bremen.
Nachbargemeinden.
Die Stadt Bremen ( Einwohner) ist ganz vom niedersächsischen Staatsgebiet umschlossen (mit Ausnahme der Exklave Stadtbremisches Überseehafengebiet Bremerhaven, die vom Stadtgebiet Bremerhavens umgeben ist). Im Westen grenzen die kreisfreie Stadt Delmenhorst ( Einwohner am ) sowie der Landkreis Wesermarsch ( Einwohner) mit den Gemeinden Lemwerder, Berne und Elsfleth an, im Norden der Landkreis Osterholz ( Einwohner) mit den Gemeinden Schwanewede, Ritterhude und Lilienthal, im Osten der Landkreis Verden ( Einwohner) mit den Gemeinden Ottersberg, Oyten, Achim und im Süden der Landkreis Diepholz ( Einwohner) mit den Gemeinden Weyhe und Stuhr. Diese Ansammlung von Gemeinden wird als „Speckgürtel“ bezeichnet, da ein Teil ihrer Einwohner Einkünfte im Bundesland Bremen bezieht, aber Einkommensteuer, Grundsteuer und andere Abgaben an den Staat in Niedersachsen bezahlt.
Bremen ist mit 25 weiteren Umlandgemeinden und zwei Landkreisen im Kommunalverbund Niedersachsen/Bremen, in dem 1,05 Millionen Menschen leben.
Die nächstgelegenen Großstädte sind im Westen die Stadt Oldenburg ( Einwohner ) und im Norden die Seestadt Bremerhaven ( Einwohner). Für die Agglomeration Bremen werden rund 987.400 Einwohner geschätzt, für die weiter gefasste Metropolregion Nordwest über 2,37 Millionen. Von den 239.063 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Stadt Bremen pendeln 103.206 beziehungsweise 43,2 % aller Beschäftigten von außerhalb ein. Von den 168.443 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in der Stadt Bremen wohnen, pendeln 32.586 zu und von ihrem Arbeitsplatz außerhalb der Stadtgemeinde.
Stadtgliederung.
Das Stadtgebiet Bremens ist in fünf Stadtbezirke eingeteilt. Von den insgesamt 88 Ortsteilen sind vier direkt einem Stadtbezirk zugeordnet, die anderen sind in 18 Stadtteilen zusammengefasst, die ihrerseits den Stadtbezirken zugeordnet sind. Oberneuland ist aufgrund seiner hohen Einwohnerzahl ein Stadtteil, obwohl es nicht aus mehreren Ortsteilen besteht. Die Namen der Stadt- und Ortsteile gehen weitgehend auf historisch gewachsene Bezeichnungen zurück.
Für die Stadtteile und selbständigen Ortsteile ist – als einzige kommunalpolitische Entscheidungsebene unterhalb der Stadtbürgerschaft – jeweils ein Beirat zuständig. Ausnahme: Die Ortsteile des Stadtteils "Häfen" werden aufgrund ihrer geringen Einwohnerzahl von anderen Beiräten betreut oder sind beiratsfrei. Die 22 Beiräte werden alle vier Jahre von den Bürgern direkt gewählt und tagen mehrmals im Jahr öffentlich. Die Befugnisse des Beirats sind ähnlich beschränkt wie die der Bezirksversammlung oder Bezirksverordnetenversammlung anderer Stadtstaaten.
Hauptaufgabe der 17 Ortsämter ist die Führung der Geschäfte der Beiräte, für die sie zuständig sind. Vier der Ortsämter sind für jeweils mehrere Stadt- bzw. Ortsteile zuständig.
Zur Stadt Bremen gehört auch das etwa 8 km² große stadtbremische Überseehafengebiet, für das die Stadt Bremerhaven im Rahmen von Verträgen mit der Stadt Bremen als Gemeindeverwaltung zuständig ist. Derzeit bestehen Verträge über die Müllabfuhr sowie über Brandschutz, Hilfeleistung und Rettungsdienst. Das Gebiet gehört zum Stadtteil "Häfen," ist aber aufgrund der fehlenden geografischen Nähe zu anderen Bremer Ortsteilen keinem Beirat zugeordnet. Damit ist das Überseehafengebiet der einzige Ortsteil der Stadtgemeinde Bremen, in dem die Bürger keinen Beirat wählen.
Gewässer.
Die Bundeswasserstraße der Weser, die durch die Innenstadt fließt, stellt eine geschichtlich gewachsene Grenze dar: So wird noch heute in vielen Bezeichnungen unterschieden zwischen „links der Weser“ (südliches Stadtgebiet) und „rechts der Weser“. Geographisch, historisch und für das Alltagsleben bedeutsam ist die Grenze zwischen Bremen-Stadt und Bremen-Nord entlang der Lesum, einem Nebenfluss der Weser. Südlich der Lesum ist Marsch, das "Werderland," nördlich davon Geest, die "Bremer Schweiz". Die politische Grenze des Stadtbezirks Bremen-Nord liegt allerdings etwas weiter südlich. Ein weiterer Nebenfluss der Weser, die Ochtum, bildet die natürliche südliche Grenze der Stadtgemeinde Bremen. Die Wümme fließt durch Borgfeld und ist dann Grenzfluss bis zur Mündung (zusammen mit der Hamme) in die Lesum.
Größter Binnensee ist der Sportparksee Grambke mit 40 ha.
Naturschutzgebiete.
Bremen hat 18 , die eine Gesamtfläche von 2126,9 ha und damit 6,69 % der Stadtfläche ausmachen. Zu den größten gehören die Borgfelder Wümmewiesen (677 ha), die Ochtumniederung bei Brokhuchting (375 ha), das Werderland (330,7 ha) und das westliche Hollerland (Leherfeld) mit Erweiterung (293 ha).
Erhebungen in Bremen.
Die Innenstadt liegt auf einer Weserdüne, die am Bremer Dom eine natürliche Höhe von erreicht; der höchste Punkt mit liegt östlich davon beim Polizeihaus (Am Wall 196). Die mit höchste natürliche Erhebung in der Stadt und im Land Bremen befindet sich im Friedehorstpark im nordwestlich gelegenen Stadtteil Burglesum. Damit hat Bremen die niedrigste der höchsten natürlichen Erhebungen aller Bundesländer. Der Gipfel der Mülldeponie im Ortsteil Hohweg des Stadtteils Walle, der unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen und hoch ist, überragt die Parkerhebung.
Klima.
Bremen hat wie der Großteil Deutschlands außer den höheren Mittelgebirgs- und Alpenregionen ein kühlgemäßigtes Klima mit deutlichen maritimen Einflüssen aufgrund seiner Nähe zur Nordsee, sodass die Temperaturunterschiede zwischen Winter und Sommer geringer ausfallen als weiter landeinwärts. Trotzdem können zu jeder Jahreszeit Perioden unter dem Einfluss kontinentaler Luftmassen auftreten, die im Sommer zu Hitzewellen und im Winter zu längeren Frostperioden führen. Im Allgemeinen sind Temperaturextreme aber selten und Temperaturen unter −15 °C und über 35 °C treten nur alle paar Jahre auf. Der wärmste Monat ist der Juli mit durchschnittlich 18,0 °C und der kälteste der Januar mit 1,8 °C (Bezugszeitraum 1981–2010). Die höchste je gemessene Temperatur in Bremen lag bei 37,6 °C am 9. August 1992. Die tiefste je amtlich gemessene Temperatur betrug −23,6 °C am 13. Februar 1940, jedoch berichtete Heinrich Wilhelm Olbers −27,3 °C am 23. Januar 1823 gemessen zu haben.
Wie im Rest des Landes sind die Durchschnittstemperaturen in Bremen in den letzten Jahren angestiegen, was zu einem Anstieg der Jahresdurchschnittstemperatur um 0,6 °C zwischen den beiden Klimareferenzperioden 1961–1990 und 1981–2010 geführt hat. So war z. B. 2014 mit einer Durchschnittstemperatur von 11,1 °C wie in den meisten Regionen des Landes auch in Bremen das wärmste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn.
Trotz seiner Lage in der vergleichsweise sonnenscheinarmen Nordwesthälfte Deutschlands ist es in Bremen über die letzten Jahre zu einem Anstieg der jährlichen Sonnenscheindauer um 62 Stunden zwischen den Perioden 1961–1990 und 1981–2010 gekommen, wovon am meisten die Monate April, Mai und Juli profitiert haben. Dieser Trend hat sich etwa seit der Jahrtausendwende nochmals verstärkt, so dass die Jahre 2001–2015 nun eine durchschnittliche Sonnenscheindauer von 1609 Stunden aufweisen, knapp 130 Stunden mehr als in der alten Referenzperiode 1961–1990. Wie fast überall in Deutschland bleiben vor allem die Winter jedoch sehr trüb und sonnenscheinarm, im Dezember wird durchschnittlich pro Tag nur etwas mehr als eine Stunde Sonne registriert (von sieben astronomisch möglichen). Während Bremen im Sommer etwas weniger Sonnenschein verzeichnet als im deutschen Flächenmittel, sind gerade die Frühjahre im Vergleich zu weiter landeinwärts liegenden Regionen eher sonnig, da die noch kühlen Meere der Wolkenbildung entgegenwirken. Der sonnigste Monat des Jahres im Durchschnitt 1981–2010 ist in Bremen entsprechend dann auch der Mai und nicht der Juli, wie an den meisten Stationen des Binnenlandes.
Die Niederschläge fallen über das ganze Jahr verteilt mit einer leichten Tendenz zu eher trockenen Frühjahren und eher feuchteren Sommern, letzteres hauptsächlich aufgrund von Schauern und Gewittern. Im Laufe eines Jahres fallen am Flughafen durchschnittlich 697 mm Niederschlag, wobei innerhalb des Stadtgebietes nicht unerhebliche Unterschiede bestehen. Die Niederschlagsmengen in Form von Schnee sind hingegen vergleichsweise gering und schwanken sehr von Jahr zu Jahr. Während in manchen Jahren nur an wenigen Tagen überhaupt eine geringe Schneedecke zu verzeichnen ist, gibt es immer wieder auch Jahre mit sehr langlebigen Schneedecken (zuletzt 2010 mit 77 Schneedeckentagen). Im Durchschnitt 1977–2007 liegt an 19,3 Tagen im Jahr Schnee, der Schneedeckenrekord vom 18. Februar 1979 liegt bei 68 cm. Dies war – trotz Bremens vergleichsweise wintermilder und schneearmer Lage im nordwestdeutschen Tiefland – interessanterweise gleichzeitig die höchste Schneedecke, die seit dem Zweiten Weltkrieg in einer deutschen Stadt mit über 500.000 Einwohnern gemessen wurde.
Die folgenden Klimatabellen enthalten Daten der Referenzperiode 1961–1990 (Temperaturen, Niederschlagstage, Luftfeuchtigkeit) und 1981–2010 (Niederschläge, tgl. Sonnenstunden).
Umweltsituation.
Nach einer vom Institut für Weltwirtschaft der Universität Kiel 2012 erstellten Untersuchung lag Bremen im Städtevergleich hinsichtlich der Umweltsituation auf hinteren Rängen. Beim „Umweltkapital“ landete es auf Platz 66 der 100 größten kreisfreien Städte. Dabei wurden mehrere Indikatoren erfasst und deutschlandweit miteinander verglichen: Luftqualität (Feinstaubbelastung, Ozonbelastung, Stickstoffdioxidbelastung), Flächennutzung (Anteil Siedlungs- und Verkehrsfläche, Anteil naturbelassene Fläche) und Abfallmanagement (Hausmüllaufkommen, Recyclingquote). Beim Feinstaub und bei der Ozonbelastung wurde im Gegensatz zur Stickstoffdioxidbelastung nicht die Durchschnittskonzentration, sondern die Zahl Tage mit Grenzwertüberschreitungen als Maßstab verwendet. Der Indikator „naturbelassene Fläche“ ist nicht definiert. Andererseits ist zu bedenken, dass ein Großteil der elektrischen Energie in der Stadt Bremen aus fossilen Brennstoffen erzeugt wird, was einen relativ höheren CO2-Ausstoß zur Folge hat.
In der Stadt Bremen werden die Luftschadstoffe seit 1987 durch das Bremer Luftüberwachungssystem (BLUES) gemessen. Der Straßenlärm wurde erstmals 1977 durch ein Lärmkataster systematisch erfasst. Ein Umweltinformationssystem bietet eine detaillierte Zustandsbeschreibung zu verschiedenen Themen wie Naturschutzgebieten und Gewässerqualität.
Geschichte.
Name.
Der Ortsname ist im 9./10. Jahrhundert bezeugt als "Brema," "Bremae," "Bremun;" die letztere Form, Grundlage der heutigen Gestalt des Namens, wird als lokativisch verwendeter Dativ des Plurals des altsächsischen/mittelniederdeutschen Wortes "brem" ‚Einfassung, Rand (des Landes/des Wassers/der Düne)‘ (vgl. engl. "brim") gedeutet.
Im Mittelalter bezeichnete sich die Stadt als "civitas Bremensis", also als Stadt Bremen und dieses auch noch nach 1646. Wenn die verfassungsrechtliche Stellung Bremens betont werden sollte, führte sie nach dem Erhalt der Reichsstadturkunde (Linzer Diplom) ab 1646 den Titel "Kayserliche und deß heiligen Römischen Reichs Freye Stadt (und Ansestadt) Bremen". Im Zuge der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches wechselte der amtliche Sprachgebrauch 1806 zum Beinamen "freye Hansestadt," spätestens ab 1820 in der Schreibweise "freie Hansestadt." Seit der Verfassung vom 21. März 1849 wird rechtlich zwischen dem bremischen Staat und der Stadt Bremen unterschieden. Alle bremischen Verfassungen bezeichnen die Stadt seitdem lediglich als "Stadt Bremen" bzw. "Stadtgemeinde Bremen", um Verwechslungen mit dem Staat "Freie Hansestadt Bremen" zu vermeiden, der auch die Stadt Bremerhaven umfasst. Bis heute wird diese namentliche Unterscheidung jedoch weder im amtlichen Sprachgebrauch noch im Volksmund konsequent durchgehalten.
Erste Siedlungen bis zur Christianisierung.
Zwischen dem 1. und dem 8. Jahrhundert n. Chr. entstanden an der Weser erste Siedlungen, die auf einer langen Düne Schutz vor Hochwasser und gleichzeitig guten Zugang zu einer Furt boten.
Bistum.
Als Bischofsstadt und Kaufmannssiedlung reicht Bremens Geschichte bis ins 8. Jahrhundert zurück. Sie war aber zunächst noch unsicheres Missionsgebiet. So schrieb der Missionar Willehad 782: „… hat man uns aus Bremen vertrieben und zwei Priester erschlagen.“ Die Stadt wurde 787 von Karl dem Großen zum Bischofssitz erhoben.
Seit dem späten 9. Jahrhundert mit dem Erzbistum Hamburg zum Erzbistum Hamburg-Bremen vereint, erlangte Bremen unter Erzbischof Adalbert (1043–1072) erstmals Einfluss auf Reichsebene.
Reichsfreiheit und Hanse.
Mit dem Gelnhauser Privileg Kaiser Friedrich Barbarossas von 1186 wurde Bremen Reichsstadt (im Volksmund "freie Reichsstadt").
1260 trat die Stadt der Hanse bei, war in der Hanse aber zeitweise ein unsicherer Bündnispartner. Durch den mit der Mitgliedschaft im Hansebund verbundenen Freihandel blühte Bremen auf, wovon bis heute prächtige Baudenkmale zeugen. Die vermehrt zu wirtschaftlicher Bedeutung gelangende Stadt schüttelte teilweise die kirchliche Herrschaft des Bistums Bremen ab und errichtete als Zeichen ihrer weltlichen Freiheit den Roland (1404) und ihr Rathaus (1409) auf dem Bremer Marktplatz, welche heute zum UNESCO-Welterbe zählen.
Ausdehnung der Stadt.
Zum Schutz des zwischen 1574 und 1590 angelegten Weserhafens wurde am Westufer der Weser die befestigte Neustadt angelegt. Die Weser versandete jedoch zunehmend, und für die Handelsschiffe wurde es immer schwieriger, an der seit dem 13. Jahrhundert als Hochseekai genutzten Schlachte anzulegen. Von 1619 bis 1623 bauten deshalb im flussabwärts gelegenen Vegesack niederländische Konstrukteure den ersten künstlichen Hafen Deutschlands.
Reichsunmittelbarkeit.
Während des Dreißigjährigen Krieges konnte Bremen die Anerkennung seiner Reichsunmittelbarkeit durch das Linzer Diplom erreichen, das von Kaiser Ferdinand III. ausgestellt wurde. Diese Reichsunmittelbarkeit blieb dennoch bedroht. So musste Bremen durch Konzessionen 1741 im 2. Stader Vergleich mit dem Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg eine Einigung über die Herrschaftsansprüche und das Kontributionsrecht erreichen.
1783 begannen Bremer Kaufleute einen direkten Transatlantikhandel mit den Vereinigten Staaten. 1802 beauftragte die Stadt den Landschaftsgärtner Isaak Altmann, die frühere Stadtbefestigung in die heutigen Wallanlagen umzugestalten.
Französische Besetzung, Erwerb Bremerhavens.
1806 ließ Napoleon Bremen besetzen und integrierte es 1811 als Hauptstadt des Département des Bouches-du-Weser in den französischen Staat. Nach ihrer Niederlage in den Befreiungskriegen verließen die französischen Truppen 1814 Bremen.
Im 19. Jahrhundert hatte Bremen wesentlichen Anteil an der Entwicklung des deutschen Überseehandels. Auf der Werft von Johann Lange wurde 1817 das erste von Deutschen gebaute Dampfschiff gebaut. Der Raddampfer "Die Weser" verkehrte als Passagier- und Postschiff zwischen Bremen, Vegesack, Elsfleth und Brake, später auch Geestemünde bis 1833. Wegen der zunehmenden Versandung der Weser wurde 1827 die Siedlung Bremerhaven als Außenposten auf einem vom Königreich Hannover angekauften Grund angelegt. Den Vertrag zum Erwerb des Hafengeländes unterzeichneten am 11. Januar 1827 für Hannover Friedrich von Bremer und der Bremer Bürgermeister Johann Smidt.
Das Schließen der Stadttore bei Sonnenuntergang, die Torsperre, wurde 1848 abgeschafft. Dieser Umstand beschleunigte die industrielle Entwicklung der Stadt. Die gemeinschaftlich von der Freien Hansestadt Bremen und den Königlich Hannoverschen Staatseisenbahnen finanzierte Bahnstrecke Wunstorf–Bremen ging 1847 in Betrieb. Nach großzügiger Eindeichung des umliegenden Marschlandes begann 1853 in den Vorstädten die bis ins 20. Jahrhundert für Bremen typische Reihenhausbebauung mit sogenannten Bremer Häusern.
Industrialisierung.
1812 hatte Bremen rund 35.000 Einwohner; 1875 wurde die Grenze von 100.000 überschritten. 1911 hatte die Stadt bereits 250.000 Einwohner. 1857 erfolgte die Gründung des Norddeutschen Lloyds, später auch anderer Schifffahrtsgesellschaften. 1867 wurde Bremen Gliedstaat des Norddeutschen Bundes und 1871 des Deutschen Kaiserreichs. Aufgrund der Seehäfen blieben die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck nach 1870/71 noch Zollausland. Sie traten erst 1888 dem Deutschen Zollverein bei. Die Freihäfen von Bremen und Hamburg blieben danach außerhalb des deutschen Zollgebiets.
1886 bis 1895 wurde durch eine Korrektur der Fahrrinne die Schiffbarkeit der Weser für Seeschiffe bis Bremen gesichert.
1890 fand auf dem Gelände des Bürgerparks die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrieausstellung statt. Die wirtschaftliche Entwicklung Bremens schritt in der Weimarer Republik fort. Auf dem Flughafen begannen 1920 Linienflüge. 1928 wurde die Columbuskaje in Bremerhaven eingeweiht. Von hier ausgehend gewann das Passagierschiff "Bremen" das Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung. Mit der wirtschaftlichen Bedeutung wuchs auch die Einwohnerzahl beträchtlich.
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg.
Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bedeutete auch für Bremen einen tiefen Einschnitt in das Leben der Stadt. Bremen wurde in den Gau Weser-Ems, dessen Verwaltungssitz sich in Oldenburg befand, eingegliedert. Zwar wurde versprochen, die Gauleitung nach Bremen zu verlegen, doch dazu kam es nicht.
Anfang 1933 hatte die Jüdische Gemeinde im Lande Bremen 1438 Mitglieder. Während der Novemberpogrome 1938 wurden Geschäfte und Privathäuser geplündert sowie der jüdische Friedhof verwüstet. Dabei wurden fünf Juden ermordet sowie Hunderte verhaftet. SA-Trupps zerstörten die beiden Bremer Synagogen. Bis 1941 gelang es etwa 930 Bremer Juden, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen. Im Herbst 1941 wurden 50 Kinder während eines „Schulausflugs“ in ein Konzentrationslager verschleppt. Am 18. November 1941 wurden 440 Juden ins Ghetto Minsk deportiert und 434 von ihnen am 28. oder 29. Juli 1942 Opfer des Holocaust. Das "Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945)" verzeichnet namentlich 921 jüdische Einwohner Bremens, die deportiert und größtenteils ermordet wurden.
Schon 1933 wurde das erste Arbeitslager Mißler errichtet, in dem zunächst 170 Häftlinge interniert wurden, meist Kommunisten und Sozialdemokraten. Spätere Lager waren für Zwangsarbeiter vorgesehen, wie etwa das Lager Farge, das zum Bau des U-Boot-Bunkers Valentin ab etwa Oktober 1943 für 13.000 polnische, französische und sowjetische Kriegsgefangene errichtet wurde.
1939 verlor Bremen die Stadt Bremerhaven (außer dem Überseehafengebiet), die mit dem preußisch-hannoverschen Wesermünde vereinigt wurde. Das stadtbremische Gebiet wurde dafür um das heutige Gebiet nördlich der Lesum (außer Vegesack, das schon vorher zu Bremen gehörte), Hemelingen, Arbergen und Mahndorf vergrößert. Einige Randgemeinden wurden dabei schlicht vergessen (Beckedorf).
Wie in vielen deutschen Städten waren auch in Bremen große Bauvorhaben gemäß dem "Gesetz über die Neugestaltung deutscher Städte" geplant. Diese Pläne kamen durch den Zweiten Weltkrieg letztlich zum Erliegen.
Im Luftkrieg des Zweiten Weltkriegs erlitt Bremen schwere Zerstörungen. Insbesondere der Nordwesten mit den drei Großwerften AG Weser (Deschimag) in Gröpelingen und Bremer Vulkan und Vegesacker Werft in Vegesack war Ziel der Bomber. Ziele waren auch der Focke-Wulf-Flugzeugbau am Flughafen, die Werke des Borgward–Konzerns in Hastedt und Sebaldsbrück sowie die Wohngebiete nahe der Innenstadt wie z. B. das Stephaniviertel. Bei 173 Angriffen von Royal Air Force und United States Army Air Forces wurden 62 % der städtebaulichen Substanz zerstört, wobei rund 4000 Menschen ums Leben kamen. Der Einmarsch britischer Truppen am 26. April 1945 beendete die Naziherrschaft.
Von 1945 bis zur deutschen Wiedervereinigung.
Um als "Port of Embarkation" den Nachschub für die US-Truppen zu sichern, wurde das in der Britischen Besatzungszone gelegene Bremen mit Bremerhaven zur US-amerikanischen Exklave. Von 1945 bis 1965 war Wilhelm Kaisen Präsident des Senats. 1947 gaben sich die Bremer Bürger die "Verfassung der Freien Hansestadt Bremen". 1949 wurde Bremen ein Land der Bundesrepublik Deutschland.
Ab den 1990er Jahren.
1992 erwirkte der Senat unter Wedemeier ein positives Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Finanzausgleich für Bremen durch Bund und Länder. Der Senat bekräftigte durch die "Bremer Erklärung" vom November 1992 die Selbstständigkeit der Freien Hansestadt Bremen und konnte sie durch erfolgreiche Verhandlungen bei der Gewährung von Ausgleichszuweisungen bewahren.
2004 wurden das Rathaus und der steinerne Roland zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.
2009 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel "Ort der Vielfalt".
Im Hafenareal baut Bremen seit 2000 auf einer Fläche von 300 Hektar das neue Stadtviertel Überseestadt. 1998 wurde das Becken des Überseehafens verfüllt und überbaut.
Bevölkerungsentwicklung.
1969 erreichte die Einwohnerzahl mit 607.184 ihren historischen Höchststand. Bis Ende 1986 ging die Zahl der Erstwohnsitze auf 521.976 zurück. Im Zuge der Wiedervereinigung wuchs die Bevölkerung schnell auf 554.377 im Dezember 1992. Bis Ende des Jahrhunderts sank die Zahl der Erstwohnsitze wieder auf 540.330. Am 31. Dezember 2015 waren 557.464 Einwohner gemeldet.
Kirchen, Religionen.
Konfessionsstatistik.
2018 gehörten im Bundesland Bremen 32,7 % der Bürger der evangelischen Kirche (Bremische Evangelische Kirche oder Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers), 10,1 % der römisch-katholischen Kirche an (Ende 2021 waren 9,3 % der Gesamtbevölkerung Mitglied der römisch-katholischen Kirche) und 57,2 % waren „Andere“.
Nach den Ergebnissen des Zensus am 9. Mai 2011 gehörten in der Stadt Bremen 212.281 Einwohner (39,1 %) zur (öffentlich-rechtlichen) evangelischen Kirche und 59.323 (10,9 %) zur römisch-katholischen Kirche. 271.106 Einwohner (50,0 %) wurden unter „Sonstige, keine, ohne Angabe“ genannt. Nach einer Berechnung aus den Zensuszahlen für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Bremen 2011 bei 8,4 Prozent (rund 45.800 Personen).
Christentum.
Evangelische Landeskirche.
Die einzelnen Gemeinden in der Stadt Bremen haben deutliche Unterschiede in Tradition und religiösem Leben. Dem trägt die Bremische Evangelische Kirche (BEK) Rechnung, indem sie ihren Gemeinden ein großes Maß an Autonomie gewährt, ihrer Verfassung den Grundsatz der „Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit“ vorangestellt hat (siehe die Präambel der Verfassung der BEK).
Die BEK ist ein freiwilliger Zusammenschluss der meisten bremischen Einzelgemeinden und fungiert als „Dach“ dieser Gemeinden. Neben den meisten stadtbremischen Gemeinden gehört auch die Vereinigte Protestantische Gemeinde Bremerhaven als Einzige von mehreren Gemeinden in Bremerhaven der BEK an. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, mit einem „Präsidenten“ bzw. einer „Präsidentin des Kirchenausschusses“ (ein Nicht-Theologe bzw. eine Nicht-Theologin) in Leitungsfunktion und einem „Schriftführer des Kirchenausschusses“ (ein Theologe) als geistliches Oberhaupt. Darin unterscheidet sich die BEK zu den meisten anderen Landeskirchen, deren Leitung durch einen Bischof ausgeübt wird. Dem Kirchenausschuss obliegen zentrale verwaltungs- und dienstrechtliche Aufgaben. Dieser Ausschuss wird vom Kirchentag, der parlamentarischen Vertretung aller Mitgliedsgemeinden (Synode), für jeweils sechs Jahre gewählt. Zum Ende des Jahres 2006 gehörten der BEK 242.386 Mitglieder an. Der 32. Deutsche Evangelische Kirchentag fand vom 20. bis 24. Mai 2009 in Bremen statt.
2016 wurde Bremen der Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ durch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verliehen. (Siehe auch den Abschnitt Kirchen, Religionen sowie den Artikel Bremer Kirchengeschichte.)
Römisch-katholische Kirche.
Nach den Umbrüchen der Reformation entstand ab 1648 in Bremen auch wieder eine römisch-katholische Gemeinde, die 1931 Sitz eines Dekanats wurde. Das Dekanat Bremen (Südlich der Lesum) gehört zum Bistum Osnabrück, das Dekanat Bremen-Nord gehört zum Bistum Hildesheim.
Das katholische Stadtdekanat Bremen besteht aus fünf Pfarreienverbänden: Stadtmitte (St. Johann), Häfen/Walle (St. Marien), Huchting/Woltmershausen (St. Franziskus), Schwachhausen/Horn/Oberneuland (St. Katharina) und Arsten/Habenhausen (St. Raphael).
Als „Dach“ aller katholischen, übergemeindlichen Einrichtungen fungiert der Katholische Gemeindeverband Bremen. Er unterhält aus Spenden mehrere katholische Schulen und Kindertagesstätten. Mit dem „Apostolat des Meeres“, der katholischen Seemannsmission Stella Maris, richtet sich der Gemeindeverband an die Seeleute der Hafenstadt Bremen. Ein katholisches Krankenhaus besteht mit dem St.-Joseph-Stift. Im Jahr 2002 wurde mit dem Birgittenkloster Bremen der erste Schwesternkonvent seit der Reformation in der Hansestadt gegründet. Die katholische Kirche in Bremen umfasst 62.300 Mitglieder (11,42 %).
Freikirchen.
1845 kam es zur Gründung der ersten Bremer Baptisten als Baptistengemeinde. Heute gibt es auf dem Gebiet in Bremen sechs Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden, darunter auch eine englischsprachige internationale Baptistengemeinde. Eine Brüdergemeinde ist in der Wilhelm-Busch-Siedlung in der Vahr angesiedelt.
Ab 1849 entstand in Bremen eine bischöfliche Methodistenkirche, die von hier aus eine Missionstätigkeit in Deutschland ausübte (heute: Frankfurt am Main).
Rückwanderer aus Amerika sammelten sich ab 1896 zu einer lutherischen Gemeinde, eine der Wurzeln der heutigen evangelisch-lutherischen Bethlehemsgemeinde, die zum Kirchenbezirk Niedersachsen-West in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche gehört.
In den 1950er Jahren trennte sich die Bremer Elim-Gemeinde vom Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und schloss sich der Pfingstbewegung an. Die Gemeinde, die heute über drei Gemeindezentren im Bremer Stadtgebiet verfügt, ist Trägerin des "Sozialwerks Grambke". Neben verschiedenen Sozialeinrichtungen betreibt dieses Sozialwerk auch eine Schule.
Es gibt eine Reihe weiterer freikirchlicher Gemeinschaften, unter anderem eine Mennonitengemeinde, Siebenten-Tags-Adventisten, eine Gemeinde Gottes, eine Freie evangelische Gemeinde und eine Gemeinde im Mülheimer Verband.
Viele landeskirchliche und freikirchliche Gemeinden arbeiten in Bremen auf der Ebene der Evangelischen Allianz zusammen und betreiben verschiedene diakonische Einrichtungen, zum Beispiel das "Mutter-Kind-Haus Bremen-Findorff" und das Seelsorgezentrum an der Martini-Kirche.
Weitere christliche Religionsgemeinschaften.
Auch die Altkatholiken (Hl. Messen in der röm.-kath. Kirche am Krankenhaus St. Joseph-Stift), die Apostolische Gemeinschaft, die Christengemeinschaft (Michael-Kirche am Rembertiring), die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die Neuapostolische Kirche, die Russisch-Orthodoxe Kirche (Gottesdienste in der kath. St.-Bonifatius-Kirche in Findorff) sowie Jehovas Zeugen sind mit Gemeinden im Stadtgebiet vertreten.
Judentum.
Die jüdische Gemeinde hat eine Synagoge und ein Gemeindezentrum in der Schwachhauser Heerstraße. Die alte Synagoge stand bis zu ihrer Zerstörung während der Novemberpogrome 1938 in der Dechanatstraße hinter dem Postamt. Der Friedhof der israelitischen Gemeinde in Bremen liegt in der Deichbruchstraße im Ortsteil Hastedt. In Schwachhausen an der Beckfeldstraße liegt der 2008 gegründete Neue Jüdische Friedhof. Dieser Friedhof erhielt 2012 eine eigene Trauerhalle.
Islam.
Die Muslime sind in mehreren Gemeinden organisiert. Ihre größte Moschee ist die Fatih-Moschee in Gröpelingen. Mit geschätzt 360 Salafisten gilt der Anteil von Islamisten unter den Muslimen in Bremen 2015 als relativ hoch.
Bahai.
Seit 1965 gibt es in Bremen eine Bahá'i-Gemeinde, die sich seit 2000 in ihrem Gemeindezentrum Am Wandrahm trifft.
Buddhismus und Hinduismus.
In Bremen leben Angehörige süd- und ostasiatischer Religionsgemeinschaften in weniger festgefügten Organisationsformen, zum Beispiel Buddhisten und Hindus. Ihre Zahl wurde 2011 mit 3,2 % der Bevölkerung angegeben. Die indische Gemeinde gründete 2011 den hinduistischen "Sri Varasiththivinayakar Tempel" in der Föhrenstraße. Die thailändische Gemeinde gründete 2012 den buddhistischen Tempel "Wat Buddha Metta Parami" in der Heidbergstraße.
Konfessionslose.
Nach dem Zensus vom 9. Mai 2011 gehören 38,9 % der Bevölkerung im Land Bremen keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft an.
Der Humanistische Verband Bremen e. V. im Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) ist eine Weltanschauungsgemeinschaft nichtreligiöser Menschen.
Politik.
Verwaltung.
Die alle vier Jahre gewählte Volksvertretung des Landes Bremen ist die Bremische Bürgerschaft. In zwei getrennten Wahlbereichen werden 68 Abgeordnete in Bremen und 15 Abgeordnete in Bremerhaven gewählt. Die im Wahlbereich Bremen gewählten Abgeordneten bilden gleichzeitig die kommunale Stadtbürgerschaft.
An der Spitze der Landes- und Stadtverwaltung steht der Senat der Freien Hansestadt Bremen. Präsident des Senats und Bürgermeister ist seit dem 15. August 2019 Andreas Bovenschulte (SPD). Auch der Stellvertreter des Präsidenten des Senats wird traditionsgemäß als Bürgermeister bezeichnet. Dem Bremer Senat als Landesregierung gehören gegenwärtig neun Mitglieder (4 SPD, 3 Grüne, 2 Linke) an.
Die Senatoren leiten ihr Senatsressort in Landesangelegenheiten (wie Minister in einem Flächenland) und in Kommunalangelegenheiten der Stadt Bremen (wie Dezernenten in Großstädten), sowie die ihrem Fachbereich zugeordneten Landes- und Kommunalbehörden.
→ "Siehe auch: Liste von Bremer Bürgermeistern, Liste der Bremer Senatoren, Liste der Arbeitssenatoren von Bremen, Liste der Bausenatoren von Bremen, Liste der Bildungssenatoren von Bremen, Liste der Finanzsenatoren von Bremen, Liste der Gesundheitssenatoren von Bremen, Liste der Innensenatoren von Bremen, Liste der Justizsenatoren von Bremen, Liste der Sozialsenatoren von Bremen, Liste der Umweltsenatoren von Bremen, Liste der Wirtschaftssenatoren von Bremen, Liste der Fraktionsvorsitzenden der Bremischen Bürgerschaft, Wahlergebnisse und Senate in Bremen"
Hoheitszeichen.
Siegel.
Das älteste Stadtsiegel in Bremen (1229–1365) zeigt links Bischof Willehad, rechts Karl den Großen. Das folgende Stadtsiegel (1366–1834) zeigt, nebeneinander auf einer Bank sitzend, links den Kaiser mit Krone, Zepter und Reichsapfel und rechts davon den Heiligen Petrus mit Tiara, Schwert und Schlüssel.
1948 wurde ein neues Dienstsiegel eingeführt, welches als Großes Siegel des Präsidenten des Senats das , als Kleines Siegel für Behörden das und für sonstige Amtsträger das oder den zeigt.
Flagge.
Die Flagge Bremens ist mindestens achtmal (die genaue Zahl ist nicht festgelegt) rot und weiß gestreift und am Flaggenstock gewürfelt. Sie wird umgangssprachlich auch als "Speckflagge" bezeichnet.
Die Staatsflagge enthält in der Mitte das Flaggenwappen mit Schlüssel und drei Löwen. Die Dienstflagge führt nur das Schlüsselwappen.
Die Flagge Bremens trägt die Farben der Hanse, Rot und Weiß.
Städtepartnerschaften.
Bremen unterhält aktive Städtepartnerschaften mit:
Zum Ende der 2010er Jahre ruhende Partnerschaften bestehen zu:
Informelle Beziehungen pflegt Bremen zu:
Finanzen.
Anfang 2019 hatte die Stadt Schulden in Höhe von knapp 9 Milliarden Euro. Zum 1. Januar 2020 übernahm das Land Bremen von der Stadt 8,6 Milliarden Euro Schulden. Es verblieben noch Darlehen des Sondervermögens Häfen in Höhe von 600 Millionen Euro bei der Stadt.
Kultur und Sehenswürdigkeiten.
Bauwerke.
→ "Siehe auch: Bremer Denkmale, Liste der Denkmale und Standbilder der Stadt Bremen, Liste der Brunnen der Stadt Bremen, Liste bedeutender Bremer Bauwerke, Liste der Wandbilder in Bremen, Liste der höchsten Bauwerke in Bremen"
Rund um den Marktplatz.
Der Roland ist Mittelpunkt und ein Wahrzeichen der Stadt. Der originale Kopf des Roland ist im Focke-Museum ausgestellt. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er aus Furcht vor Zerstörung durch Bombenangriffe durch eine Kopie ersetzt. Sein Blick ist auf den Dom St. Petri gerichtet, der für Besucher das Dom-Museum und den Bleikeller bereithält. Neben dem Roland steht das Rathaus, in dessen Ratskeller Wein serviert und verkauft wird. Roland und Rathaus gehören zum UNESCO-Welterbe. An der Westmauer des Rathauses sind die Bremer Stadtmusikanten, ebenfalls ein Wahrzeichen der Stadt, zu finden. Hier endet die Deutsche Märchenstraße. Es schließt sich die ehemalige Ratskirche Unser Lieben Frauen an.
In Verbindung mit dem alten Rathaus steht das Neue Rathaus von 1913, im Stil der Neorenaissance, nach Plänen von Gabriel von Seidl. Hier befindet sich die Bremer Senatskanzlei.
Auf der gegenüber liegenden Seite des Marktplatzes steht der Schütting, das Haus der Kaufleute, die Bremischen Bürgerschaft sowie
westlich eine Reihe von Gebäuden aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Die Böttcherstraße von 1922 bis 1931 führt vom Marktplatz zur Martinikirche und zur Weser.
Am Weserufer.
In Höhe der Martinikirche beginnt die Schlachte, die in den 1990er Jahren sanierte historische Uferpromenade mit zahlreichen gastronomischen Angeboten. Gegenüber auf der Halbinsel zwischen der Weser und der Kleinen Weser liegt der Teerhof, auf dem sich neben dem Museum Weserburg und der "Gesellschaft für aktuelle Kunst" (GAK) in den 1990er Jahren errichtete Wohnbebauung befindet.
Im Stephaniviertel hebt sich die Jugendherberge Bremen bzw. das "Haus der Jugend" deutlich erkennbar hervor.
Schnoorviertel.
Der Schnoor ist ein mittelalterliches Gängeviertel in der Altstadt Bremens und wahrscheinlich der älteste Siedlungskern. Das Quartier verdankt seine Bezeichnung dem alten Schiffshandwerk. Die Gänge zwischen den Häusern standen oft in Zusammenhang mit Berufen oder Gegenständen: So gab es einen Bereich, in welchem Seile und Taue hergestellt wurden (Schnoor = Schnur), und einen benachbarten Bereich, in dem Draht und Ankerketten gefertigt wurden (Wieren = Draht). Zahlreiche Häuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert sind noch erhalten und vermitteln einen romantischen Eindruck vom Leben in früheren Zeiten. In den Jahren 1856/57 wurde hier das Dienstgebäude der Landherren errichtet, und erst am 19. September 1945 wurde die Stellung des Landherren aufgehoben.
Weserrenaissance und Neorenaissance.
Aus der Zeit der Weserrenaissance blieben u. a. erhalten: Das Bremer Rathaus (Kernbau aus der Gotik) von 1612 und der Schütting von 1538 – beide am Markt, die Stadtwaage von 1587 und das Essighaus von 1618 – beide in der Langenstraße – und das Gewerbehaus am Ansgariikirchhof von 1620.
Im 19./20. Jahrhundert wurden u. a. historisierend im Stil der Neorenaissance das Postamt 1 an der Domsheide (1879), die Bremer Baumwollbörse (1902) und die Bremer Bank am Domshof (1905) errichtet.
Bremer Haus.
Das Bremer Haus ist ein Reihenhaustyp, der in England seine Wurzeln hat. Es war, in verschiedenen Größen, für alle sozialen Bevölkerungsgruppen gedacht und bestimmte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre den Wohnungsbau in Bremen. In den Stadtteilen Schwachhausen, Steintor, Ostertor und der Neustadt findet man hauptsächlich den großen Typ, der für wohlhabendere Bürger errichtet wurde, in Arbeitervierteln wie Walle und Gröpelingen den kleinsten mit ein bis zwei vollen Etagen und niedrigeren Geschosshöhen.
Theater.
Das Theater Bremen ist ein städtisches Theater der Freien Hansestadt Bremen mit Aufführungen von Opern, Operetten, Musicals, Schauspielen und Tanztheater. Es besteht aus mehreren Spielstätten – das größte unter ihnen ist das Theater am Goetheplatz im Viertel. 2007 wurde das Theater Bremen unter Klaus Pierwoß zum "Opernhaus des Jahres" gewählt.
Darüber hinaus besitzt Bremen eine vielfältige Theaterszene mit zahlreichen, etablierten Theatern in freier oder privater Trägerschaft. Bei der bremer shakespeare company im Theater am Leibnizplatz ist der Name Programm. Das Travestietheater von Madame Lothár im Schnoor war eine bremische Institution. Inszenierungen moderner Stücke sind im Jungen Theater zu sehen. Als Kinder- und Jugendtheater ist das Schnürschuh Theater bekannt geworden. 1976 gegründet, finden dort außerdem Lesungen und Musikveranstaltungen statt.
1994 etablierte man neben dem Straßentheaterfestival "La Strada" mit jährlich bis zu 100.000 Zuschauern (siehe Deutsche Straßentheaterfestivals) das Outnow-Festival für internationale Nachwuchskünstler aus Schauspiel, Musiktheater, Tanz und Performance.
Filmtheater.
In Bremen gibt es (Stand 2010) acht Filmtheater mit 38 Kinosälen und insgesamt 10.215 Plätzen. Drei Filmtheater sind davon Multiplex-Kinos mit zusammen 32 Sälen.
Museen.
Die Museumslandschaft in Bremen ist vielfältig, wie folgende Auswahl zeigt:
Musik.
Klassik.
Die Bremer Philharmoniker wurden 1825 gegründet und sind das offizielle Orchester der Freien Hansestadt Bremen. Intendant der Bremer Philharmoniker ist Christian Kötter-Lixfeld, Generalmusikdirektor ist seit 2018 Marko Letonja.
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, die seit 1992 ihren Sitz in Bremen hat, gehört zu den weltweit agierenden Orchestern. Künstlerischer Leiter ist seit 2004 der estnische Dirigent Paavo Järvi.
Der Haupt-Veranstaltungsort für "klassische" Musik in Bremen ist das 1928 erbaute Haus "Die Glocke" neben dem Dom. Herbert von Karajan zählte die Glocke zu den drei besten Konzerthäusern Europas.
Im Theater am Goetheplatz finden unter der Regie des "Theater Bremen" regelmäßige Opern- und Operettenaufführungen statt.
Der Fachbereich Musik der Hochschule für Künste Bremen mit der 1986 gegründeten Akademie für Alte Musik leistet neben der künstlerischen Ausbildung durch zahlreiche Konzerte und Veranstaltungen im Konzertsaal und in der Galerie einen wichtigen Beitrag zum vielfältigen kulturellen Leben der Hansestadt.
Musicaltheater.
Im "Musical Theater Bremen" findet man die Kombination aus Musik und Theater.
Populäre Musik.
Aus Bremen kommen die Deutschrock-Band Wolfsmond "(Wie der Wind so frei)", die Indie-Rock-Band Trashmonkeys, die sich inzwischen auch in England einen Namen gemacht hat, sowie die Sixties-Beatgruppe The Yankees "(Halbstark)."
Der deutsche Schlagersänger Ronny "(Oh my Darling, Caroline)", der sich auch als Entdecker und Produzent des holländischen Kinderstars Heintje "(Mama)" in den 1960er Jahren einen Namen gemacht hat, kommt ebenfalls aus Bremen. Hier lebt auch der Textdichter dieser und vieler weiterer berühmter Interpreten, Hans Hee.
Bei Radio Bremen produzierte Michael Leckebusch ab 1965 mit dem "Beat-Club" eine der ersten richtungsweisenden TV-Musiksendungen der Nachkriegszeit. Die Moderatoren Uschi Nerke und Gerhard Augustin erzielten regelmäßig am Sendetermin am Samstagnachmittag hohe Einschaltquoten bei jugendlichen Zuschauern. Die Sendung entwickelte sich in einem nicht unerheblichen Maße zu einem Phänomen der Jugendkultur in Deutschland. Im Anschluss an den "Beat-Club" wurde u. a. der "Musikladen" oder "Extratour" produziert.
Auch einige Rap-Musiker sind gebürtige Bremer Bürger, so Shiml, MontanaMax, JokA und Lady Bitch Ray.
Plattdeutschen Hip-Hop gemischt mit Electro bietet die Band De fofftig Penns, welche in Bremen-Nord gegründet wurde.
Der Soulsänger Flo Mega, der durch seinen Auftritt beim Bundesvision Song Contest bekannt geworden ist, kommt auch aus Bremen.
Die Rolling Stones benannten ein in Bremen aufgezeichnetes Live-Album "Bridges to Bremen."
K-Pop.
In Bremen existiert seit Anfang 2012 eine kleine K-Pop-Tanzszene mit aktuell etwa dreihundert aktiven Mitgliedern, mehreren Tanzgruppen, Tanzkursen und einer Veranstaltungsinfrastruktur (Stand: Dezember 2020). Dazu gehören das regelmäßig stattfindende K-Pop Dance Off Bremen (KDOB) sowie mehreren Tanzschulen, die Kurse anbieten. Bremen war die erste Stadt Deutschlands, in welcher es einen K-Pop Tanzkurs gab und eine der ersten mit einem K-Pop-Tanz-Wettbewerb.
Darüber hinaus wurde der Ausblick auf die Bremer Schlachte von der Teerhofbrücke in Richtung der Überseestadt im Musikvideo zum Lied „Look“ der K-Pop Gruppe GOT7, welches (Stand September 2020) über 86 Millionen Aufrufe erreicht hat, an einigen Stellen als Hintergrund verwendet.
Parks.
→ "Siehe auch bei den einzelnen Stadtteilen"
Bremen hat auch wegen der Niederungsgebiete viele Grünzonen und Parks. Dazu die wichtigsten Anlagen:
Bremen-Mitte
Die "Bremer Wallanlagen" sind nach Plänen von Isaak Altmann ab 1805 aus der bis zum 17. Jahrhundert erbauten Bremer Stadtmauer und den darauf folgenden Befestigungsanlagen hervorgegangen. Sie sind nicht nur Bremens älteste, sondern auch die erste öffentliche Parkanlage in Deutschland, welche durch eine bürgerliche Volksvertretung realisiert wurde. In der Windmühle befindet sich heute ein Restaurant. Die meisten Bremer Windmühlen sind Stationen der Niedersächsischen Mühlenstraße.
Die "Pauliner Marsch" ist mit 54 Hektar Bremens größter Sportpark und ein Grünzug. Sie liegt direkt an der Weser östlich vom Weserstadion und auf der anderen Weserseite. Hier ist auch die Heimat von Werder Bremen.
Bremen-Ost
Der "Bürgerpark" ist der größte privat finanzierte Stadtpark in Deutschland. Er schließt sich hinter dem Hauptbahnhof direkt an die Bürgerweide an und geht in den Stadtwald über, mit dem zusammen er 202 Hektar umfasst. Der Bürgerpark wurde in den 1860er Jahren vom Landschaftsgärtner Wilhelm Benque angelegt. Südwestlich an den Bürgerpark schließt der Nelson-Mandela-Park mit dem Antikolonialdenkmal an.
Der "Stadtwald" ist vom Bürgerpark durch die Bahnstrecke Bremen–Hamburg getrennt. Die Finnbahn wird täglich von bis zu 500 Läufern genutzt.
Der "Stadtwaldsee (Unisee)", die "Uniwildnis" und das Universum Bremen schließen nördlich direkt an den Stadtwald an.
Der "Rhododendron-Park" bietet auf einer Fläche von 46 Hektar eine einzigartige Sammlung an Rhododendren und Azaleen. 500 von den weltweit 1000 verschiedenen Rhododendronwildarten wachsen in diesem Park und dem hier stehenden grünen Science-Center Botanika. Der Park wurde um 2000 durch einen Themenpark erweitert. "Der Botanische Garten" ist 3,2 Hektar groß und liegt im Rhododendron-Park. Er ist 1937 an diesem Standort neu aufgebaut worden.
Die "Oberneulander Parks" sind zumeist Grünanlagen im englischen Stil um die Herrenhäuser verschiedener Landgüter. Dazu zählen "Höpkens Ruh" mit 7 Hektar Fläche und daneben "Muhles Park", "Heinekens Park" mit 2,7 Hektar und "Ichons Park" – beide nach Plänen von Gottlieb Altmann –, "Menke Park" und "Park Gut Hodenberg" nach Plänen von Gartenarchitekt Christian Roselius, "Hasses Park" nach Plänen von Wilhelm Benque sowie der "Park Holdheim".
Der "Achterdiekpark" in Oberneuland entstand ab 1969. Der Park selbst ist 8 Hektar groß und umfasst sieben Teiche. "Der Achterdiekpark e. V." betreut die Anlage. Die anschließenden Grünflächen am "Achterdieksee" und der Bundesautobahn 27 entstanden beim Bau der Vahr in den 1960er Jahren. Sie sind 31 Hektar groß. Eine Golfanlage befindet sich direkt neben den Grünzonen.
Bremen-Süd
Die "Neustadtswallanlagen" auf der linken Weserseite sind ab 1805 auf der Befestigungsanlage der Neustadt entstanden. Geblieben ist davon nur eine nicht durchgängige 12 Hektar große Parkanlage vom Hohentorshafen bis zur "Piepe". Der markante "Centaurenbrunnen" steht seit 1958 gegenüber der Oberschule am Leibnizplatz.
Der "Park links der Weser," 223 Hektar groß, entstand aufgrund der Initiative des gleichnamigen Vereins zwischen Huchting und Grolland als Landschaftspark ab 1975. Der Flusslauf der Ochtum, die wegen des Flughafens verlegt wurde, stellt das wichtigste Element dieses Parks dar.
Die "Grünanlage am Sodenmattsee" ist 1960 in Huchting entstanden, als Sand für den Straßenbau benötigt wurde. Heute ist der Park 19 Hektar groß.
Der "Weseruferpark Rablinghausen" – eine 22 Hektar große maritime Meile – liegt direkt an der linken Weserseite und erstreckt sich von Rablinghausen bis zum "Lankenauer Höft".
Bremen-West
Der "Waller Park" von 1928 stellt in Verbindung mit dem "Waller Friedhof" von 1875 den größten zusammenhängenden Park im Bremer Westen dar.
Das "Blockland" ist nicht nur ein Ortsteil, sondern ein 30 Quadratkilometer großes Landschaftsgebiet der Wümmeniederung mit Naturschutzgebieten an der linken Seite der Wümme, mit dem Wümme-Radweg und vielen Ausflugslokalen.
Der "Grünzug West" verbindet seit 1953 die Stadtteile Gröpelingen und Walle.
Bremen-Nord
"Knoops Park" in St. Magnus am Rande der "Bremer Schweiz" aus dem 19. Jahrhundert, stammt von Wilhelm Benque. Der 60 Hektar große Park ist eine Mischung aus englischem Park und italienischem Renaissance-Garten.
"Wätjens Park" in Blumenthal ist 35 Hektar groß. Er entstand ab 1850 als Park um "Wätjens Schloss" für den Reeder Wätjen nach Plänen von Isaak Altmann. Der Park verkam und wird seit 1999 saniert.
Der Naturpark um "Schloss Schönebeck" in Vegesack mit malerischen Wegen im Tal der Schönebecker Aue umfasst 30 Hektar. Mittendrin befindet sich die bremische Ökologiestation.
Der "Stadtgarten Vegesack" mit der Weserpromenade wird auch als "Garten am Fluss" bezeichnet. Nur 2 Hektar groß, hat er eine fast 1 Kilometer lange maritime Promenade mit auch exotischen Gehölzen, die von der Strandlust Vegesack bis zum ehemaligen Werftgelände des Bremer Vulkan führt.
Friedhöfe.
Es gibt in Bremen 13 städtische Friedhöfe; chronologisch geordnet:
Regelmäßige Veranstaltungen.
Im Laufe jeden Jahres wechseln sich auf den Plätzen in der Stadtmitte die Losbuden der Bürgerpark-Tombola und Fahrgeschäfte der Osterwiese, des Freimarktes und des Weihnachtsmarktes ab. Beim Freimarkt – der sogenannten Fünften Jahreszeit – handelt es sich um eines der ältesten Volksfeste Deutschlands, das erstmals im Jahr 1035 abgehalten wurde. Er findet alljährlich im Herbst auf der Bürgerweide, unmittelbar hinter dem Hauptbahnhof statt. Die Verantwortlichen nehmen für sich in Anspruch, die größte Veranstaltung dieser Art in Norddeutschland zu organisieren. Der „Kleine Freimarkt“ findet vor dem Rathaus zeitgleich mit dem „großen“ Freimarkt statt. Im Rahmen des zweiwöchigen Freimarktes wird seit 1967 auch ein Umzug durch die Stadt veranstaltet.
Je einmal im Monat verkehren die Museumsstraßenbahn-Linien 15 und 16. Zu den Attraktionen gehören auch die regelmäßigen Führungen durch die Altstadt sowie die Stadtrundfahrten mit der Bimmelbahn Stadtmusikanten-Express. Die meisten Stadtführungen und -rundfahrten werden von der Bremer Tourismus-Zentrale organisiert, zu verschiedenen Themen und in mehreren Sprachen angeboten. Einige Veranstalter bieten auch sogenannte „Nachtwächter-Rundgänge“ an, die meist durch einige mittelalterlich anmutende Straßen führen.
Bedeutend sind die Bremer Eiswette am Dreikönigstag und das Bremer Schaffermahl im Februar. Aus der Vielzahl der kulturellen Veranstaltungen ragen der Bremer Karneval im Februar, das Freiluftfestival Breminale am Osterdeich, das Internationale Literaturfestival sowie das Musikfest Bremen im September heraus. Eine viele Besucher anlockende Veranstaltung mit sportlichem Hintergrund ist das stets im Januar stattfindende Bremer Sechstagerennen. September 2009 fand erstmals die "Maritime Woche an der Weser" statt.
In Bremen-Nord finden regelmäßig Volksfeste und kulturelle Veranstaltungen rund um den "Vegesacker Hafen" statt. So das "Vegesacker Hafenfest," das "Festival Maritim," das Rock den Deich Festival und der zweimal jährlich stattfindende Loggermarkt. Eines der ältesten Volksfeste in Bremen-Nord ist der "Vegesacker Markt".
Bremensien.
Als Bremensien werden Begebenheiten und Bräuche in Bremen bezeichnet wie der "Bremer Freimarkt" (seit 1035), die "Schaffermahlzeit" (seit 1545), die "Bremer Eiswette" (seit 1829), das "Kohl- und Pinkelessen," das "Domtreppenfegen" (seit etwa 1890), die "Große Mahlzeit" der "Januargesellschaft" (seit dem 15. Jh.) oder das "Bremer Tabak-Collegium" (seit Anfang der 1950er Jahre).
Weitere besondere, neuere Bremer Begebenheiten sind:
Das "Mahl der Arbeit" (seit 1954), der "Bremer Kunstpreis" (seit 1985), der "Bremer Karneval" (seit 1986), die "Breminale" (seit 1987), der "Bremer Solidaritätspreis" (seit 1988), der "Bremer Musikfest-Preis" (seit 1998), der "Bremer Filmpreis" (seit 1999) und der "Bremen-Marathon" (seit 2005).
Nachtleben.
Es gibt zahlreiche Diskotheken, Clubs, Bars, Lounges u. a. in der Bahnhofsvorstadt mit der "Diskomeile". An dieser gilt nach Vorkommnissen seit 2009 ein abendliches Waffenverbot. Zu den traditionsreichen Diskotheken gehör(t)en das StuBu und die Lila Eule.
An der Schlachte am Weserufer befinden sich zahlreiche Biergärten. Das sogenannte Viertel, Gebiet der Ortsteile Steintor und Ostertor hat eine hohe Kneipendichte.
Wirtschaft und Verkehr.
Wirtschaft.
Allgemeine Entwicklungen.
Besondere Bedeutung hat für Bremen von jeher der Außenhandel. Auch wenn der Schwerpunkt des Warenumschlags in der Hafengruppe Bremen/Bremerhaven inzwischen in Bremerhaven liegt, hat Bremen daran durch das stadtbremische Überseehafengebiet Bremerhaven noch Anteil. Die Palette der verschiedenen Handelsgüter, die hier im- und exportiert werden, erstreckt sich von Fisch-, Fleisch- und Molkereiprodukten über traditionelle Rohstoffe wie die an der Bremer Baumwollbörse gehandelte Baumwolle, Tee, Reis und Tabak bis hin zu Wein und Zitrusfrüchten. Während der Hafenumschlag von der halbstaatlichen BLG Logistics Group vorgenommen wird, sind in den Kontoren Großhändler wie C. Melchers, Otto Stadtlander GmbH und Atlanta zu finden.
Bremen ist ein wichtiger Standort der Automobil-, Schiffbau-, Stahl-, Elektronik- und Nahrungsmittelindustrie. Das Unternehmen Mercedes-Benz Group ist der größte private Arbeitgeber der Stadt und fertigt in seinem Mercedes-Benz-Werk im Stadtteil Sebaldsbrück, das bis 1963 der Borgward GmbH gehörte, unter anderem die Automodelle der C-Klasse, das T-Modell und den Roadster SL. Darüber hinaus haben sich zahlreiche Zulieferunternehmen in unmittelbarer Nähe angesiedelt. Das größte von ihnen ist die Hella Fahrzeugkomponenten GmbH aus der Hella-Gruppe. Außerdem befindet sich in Sebaldsbrück ein großes Bahnwerk der Deutschen Bahn.
Schiffbau- und Stahlindustrie haben in den vergangenen Jahrzehnten einen Strukturwandel durchgemacht. Viele Unternehmen, darunter die beiden großen Werften AG Weser und Bremer Vulkan, haben ihn nicht überlebt; die Stahlwerke Bremen wurden von Arcelor (seit 2006: ArcelorMittal) übernommen. Die Luft- und Raumfahrtindustrie hingegen hat sich mit gewandelt und prägt heute Bremen als Dienstleistungs- und Spitzentechnologiestandort. So entwickelte sich an der Universität in den letzten Jahren einer der größten deutschen Technologieparks, der Technologiepark Bremen, in dem aktuell rund 7500 überwiegend hochqualifizierte Menschen Beschäftigung finden.
Bremen ist international bekannt als bedeutender Luftfahrt- und Weltraumtechnologiestandort. Die Endmontage der Flügel der Airbusflugzeuge findet in Bremen statt, bei Airbus Defence and Space und Unternehmen der OHB-Technologiegruppe entstehen Module und Bauteile für weltraumtaugliche Laboratorien, Trägerraketen und Satellitensysteme. Rheinmetall und Atlas Elektronik entwickeln in Bremen Elektronik für militärische und zivile Anwendungen.
Der traditionell bedeutsame Schiffbau ist heute noch durch den Hauptsitz der im Yacht- und Marineschiffbau tätigen Lürssen-Gruppe präsent.
Bremen hat eine führende Position in der Lebensmittelbranche. Neben der Brauerei Beck & Co. haben hier Vitakraft, Nordmilch, die Könecke Fleischwarenfabrik und der Schokoladenhersteller Hachez ihren Hauptsitz. Mondelēz International hat hier seine deutsche Zentrale. Kellogg’s hat im ersten Quartal 2015 den Hauptsitz seiner deutschen Gesellschaft von Bremen nach Hamburg verlegt, betreibt in Bremen aber weiterhin eine Produktionsstätte.
Wirtschaftsdaten.
2005 waren in der Stadt Bremen in den Wirtschaftssektoren bei den Dienstleistungen 44,7 %, im Handel 26,4 %, im gesamten Tertiärsektor 71,1 %, im produzierenden Gewerbe 28,9 % und in der Landwirtschaft 0,1 % tätig.
Gewerbe- und Industriegebiete.
Die größten Gewerbe- und Industriegebiete sind:
Verkehr.
Nutzung der Wasserwege.
Die Schifffahrt hatte in Bremen über Jahrhunderte hinweg eine prägende Bedeutung. Trotz des Strukturwandels stellt sie auch heute noch einen wichtigen Wirtschafts- und Arbeitsmarktfaktor dar. Zu den stadtbremischen Häfen, die durch die Nähe zum Güterverkehrszentrum noch regelmäßig genutzt werden, zählen neben dem Neustädter Hafen auch die Handelshäfen, der Hohentorshafen, die Industriehäfen und die stadtbremischen Häfen in Bremerhaven. Für den Binnenschiffsverkehr existieren noch, vom Stadtzentrum aus flussaufwärts, der Werra-, der Fulda- und der Allerhafen. Auf dem Gelände des verfüllten Überseehafens und auf den Industriebrachen rundherum entsteht ein neues Viertel, die Überseestadt. Um auch bei immer größer werdenden Schiffen weiter am Seehandel teilhaben zu können, beteiligt sich Bremen zusammen mit dem Land Niedersachsen am Projekt JadeWeserPort in Wilhelmshaven, einem Hafen für größte Containerschiffe.
Bremen-Nord ist über drei Autofähren mit dem Landkreis Wesermarsch in Niedersachsen auf dem anderen Weserufer verbunden. Zudem gibt es auf stadtbremischen Gebiet zwei weitere Personenfähren.
Von touristischer Bedeutung ist die Nutzung der Bremer Gewässer durch Fahrgastschiffe und Torfkähne. Ab und in Bremen werden regelmäßig (in der warmen Jahreszeit) Schifffahrten auf der Weser, der Hunte bis Oldenburg (Oldb), der Aller bis Verden und der Lesum und der Hamme bis Worpswede sowie Hafenrundfahrten in Bremer Häfen angeboten. Die "Sielwallfähre" der Fahrgastschifffahrtsgesellschaft Hal över, deren stadtseitiger Anleger zwischen den Wallanlagen und dem Weserstadion am Osterdeich liegt, verkehrt von März bis Oktober über die Weser zum Café Sand auf dem Stadtwerder im Ortsteil Huckelriede. Torfkähne starten vor allem vom Torfhafen am Ende des Torfkanals in Findorff aus. Die netzartig angelegten Wasserwege im Nordosten Bremens werden auch von einer Vielzahl von Kanu- und Kajakvereinen genutzt.
Luftverkehr.
Im Süden Bremens befindet sich der internationale Flughafen Bremen (BRE). Dieser Luftverkehrsstandort ist seit dem Jahre 1909 dort angesiedelt. Um das Terminalgebäude entstand seit 1995 ein Airport-Center mit zahlreichen Niederlassungen von teilweise internationalen Unternehmen. Ein neues Flughafen-Terminal wurde nach Plänen des Architekten Gert Schulze 2001 eingeweiht. Das Passagieraufkommen lag im Jahre 2006 bei 1,7 Millionen Fluggästen. Zugleich sank die Zahl der Flüge 2006 mit 40.419 auf den niedrigsten Wert seit 1988. Eine Steigerung wurde durch die Fluggesellschaften Ryanair und Turkish Airlines erzielt, die von Bremen aus neue Ziele in Europa und in die Türkei direkt anfliegen. Im Jahr 2008 wurden 2,5 Millionen Passagiere abgefertigt. Durch Einsatz größerer Maschinen und bessere Kapazitätsplanung ist die Zahl der Flüge trotz steigender Passagierzahlen seit 1965 nie über 60.000 im Jahr gestiegen. Es besteht nur ein beschränkter Nachtbetrieb, das letzte Flugzeug landet planmäßig um 23 Uhr. Die Stoßzeiten sind morgens und abends. Der Flughafen kann über die A 281 erreicht werden. Vom Hauptbahnhof führt die Straßenbahn-Linie 6 direkt zum Terminal. Am Bremer Flughafen befindet sich außerdem die Verkehrsfliegerschule der Lufthansa.
Eisenbahn.
Der Hauptbahnhof ist ein Fernverkehrsknoten der Preisklasse 2. Hier treffen die Hauptstrecken von Hamburg ins Ruhrgebiet, nach Bremerhaven, nach Hannover und nach Oldenburg (–Leer) aufeinander. Die Verbindung nach Vegesack mit Durchbindung nach Bremen–Farge hat nur lokale Bedeutung. Bremen hat über die ICE-Linien Bremen–München und Hamburg–Basel sowie die IC-Linien Hamburg–Köln und Oldenburg–Leipzig Anschluss zum Schienenpersonenfernverkehr der Deutschen Bahn.
In Bremen gibt es für den Personenverkehr 19 Bahnhöfe und Haltepunkte.
Der Rangierbahnhof im Stadtteil Gröpelingen wurde am 12. Juni 2005 als solcher stillgelegt, der örtliche Güterverkehr Bremens wird in dessen noch betriebenen Resten sowie an den Hafenbahnhöfen und am Werksbahnhof der Klöckner-Hütte (ArcelorMittal Bremen) abgefertigt. Der ehemalige nordwestlich des Hauptbahnhofes gelegene Güterbahnhof ist abgebrochen worden. Durch den Ausbau des Container-Terminals in Bremerhaven ist jedoch wieder eine Zunahme des Güterverkehrs zu verzeichnen.
Öffentlicher Personennahverkehr.
Es bestehen Regional-Express-Verbindungen nach Bremerhaven, Hannover, Hamburg, Osnabrück und Oldenburg–Norddeich Mole und eine Regionalbahn-Verbindung durch die Lüneburger Heide nach Uelzen (über Langwedel, Visselhövede und Soltau).
Die Bahnstrecke nach Hamburg wird von Metronom-Zügen bedient (→ Hanse-Netz).
Seit 12. Dezember 2010 betreibt die Nordwestbahn (NWB) im Auftrag des Zweckverbandes Verkehrsverbund Bremen/Niedersachsen (ZVBN) die ersten drei Linien der Regio-S-Bahn Bremen/Niedersachsen (RS 2: Bremerhaven-Lehe–Bremerhaven-Hbf–Bremen-Hbf–Twistringen; RS 3: Bad Zwischenahn–Oldenburg-Hbf–Hude–Delmenhorst–Bremen-Hbf; RS 4: Nordenham–Hude–Delmenhorst–Bremen-Hbf). Am 11. Dezember 2011 ist die vierte Regio-S-Bahn-Linie in Betrieb gegangen (RS 1: Bremen-Farge–Vegesack–Bremen Hbf–Verden).
Der 1961 eingestellte Personenverkehr auf der Strecke der Bahnstrecke Bremen-Farge–Bremen-Vegesack in Bremen-Nord wurde im Dezember 2007 mit Dieseltriebwagen der NordWestBahn im Halbstundentakt wieder aufgenommen. Diese Strecke wurde 2011 elektrifiziert und ist seit dem 11. Dezember 2011 Teil der S-Bahn-Linie RS 1.
Den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) innerhalb des Stadtgebiets bedienen acht Straßenbahn- und 44 Buslinien der Bremer Straßenbahn AG (BSAG). Die meisten Ortsteile Bremens und einzelne niedersächsische Vororte sind mit einem dichten Takt an das ÖPNV-Netz angeschlossen. Für den Verkehr zwischen Bremen-Stadt und Bremen-Nord hat die S-Bahn hohe Bedeutung. Es gibt Bestrebungen, Straßenbahnlinien bis in das Umland zu verlängern und auf den bestehenden Eisenbahnstrecken den Takt zu verdichten, um die Vororte besser anzubinden.
Der Regionalverkehr wird durch Buslinien anderer Verkehrsbetriebe und Unternehmen betrieben. Sowohl Stadt- als auch Regionalverkehrsunternehmen haben sich im Verkehrsverbund Bremen/Niedersachsen (VBN) zusammengeschlossen.
Straße.
Insgesamt beträgt die Länge der Autobahnen auf dem Gebiet der Stadt Bremen ca. 50 bis 60 km.
Im Süden wird Bremen von der Bundesautobahn A 1 Rhein-Ruhr–Hamburg sechsspurig berührt und im Südosten, am Bremer Kreuz, wird die A 1 von der hier auch sechsspurigen A 27 Hannover (Walsrode)–Bremerhaven bzw. Cuxhaven gekreuzt, die durch das östliche Stadtgebiet führt. Im Norden zweigt die vierspurige A 270 von der A 27 in Ihlpohl ab und führt auf einer Länge von 10 km bis nach Bremen-Farge. In Gröpelingen ist der erste Teil der vierspurigen A 281 vom Dreieck Bremen-Industriehäfen bis Bremen-Burg-Grambke fertiggestellt. Auf der westlichen Weserseite wurde der Abschnitt vom Güterverkehrszentrum bzw. Neustädter Hafen bis zum Flughafen bzw. bis zur Airport-Stadt 2008 dem Verkehr übergeben mit einer Schrägseilbrücke. Bis 2024 sollen die Teilstücke mit einem Wesertunnel verbunden werden, außerdem ist die Verlängerung bis zur A 1 vorgesehen. Im Westen führt die A 28 nach Oldenburg, außerdem bindet sie den Stadtteil Huchting an die A 1 an.
Auf den Bundesautobahnen A 270 und A 281 gilt durchgehend eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h. Auf der A 1 wird der Verkehr durch eine automatische Verkehrsbeeinflussungsanlage gesteuert.
Außerdem führen die Bundesstraßen B 6 (in Nord-Süd-Richtung), B 74 und B 75 (in West-Ost-Richtung) durch Bremen. Im Zuge der Fertigstellung der A 281 erhält die B 212 eine neue Streckenführung: Sie wird künftig im Westen Bremens an der A 281 enden und den Landkreis Wesermarsch besser mit Bremen verbinden.
Die Hauptverbindungsstraßen der Stadtteile für den Autoverkehr sind 1914 in "Heerstraßen" umbenannte Chausseen.
Die Deutsche Märchenstraße ist eine Ferienstraße, die von Hanau nach Bremen zu den Bremer Stadtmusikanten führt.
Fahrrad.
Bremen hat einen Radverkehrsanteil von über 22 % der Fahrten. Im Fahrradklimatest des ADFC wurde Bremen 2018 als Deutschlands fahrradfreundlichste Stadt in der Kategorie über 500.000 Einwohner ausgezeichnet. Seit der Jahrtausendwende entstand ein stadtweites Wegweisungsnetz. Für etwa 80 % der Straßengeleitenden Radwege, deren Gesamtlänge bei etwa gleicher Einwohnerzahl größer ist als in Kopenhagen, wurde die Benutzungspflicht aufgehoben. Überregional wird Bremen durch die Radfernwege Hamburg–Bremen, Bremen–Osnabrück (Brückenradweg) und Wümme-Radweg erreicht. Zudem ist die Stadt eine wichtige Station auf dem Weserradweg, der die Weser von ihrem Entstehungsort bis nach Bremerhaven begleitet.
Weserbrücken und Fähren.
In Bremen gibt es über 600 Brücken. Die Weser wird dabei von folgenden Brücken überquert (Sortierung flussabwärts):
Außerdem kann die Weser am Weserwehr, oberhalb der Erdbeerbrücke, zu Fuß und mit dem Fahrrad überquert werden. Weiterhin bestehen mehrere Fährverbindungen (s. oben).
Infrastruktur.
Öffentliche Einrichtungen.
Der Senat der Freien Hansestadt Bremen und seine Behörden sind für Angelegenheiten des Landes und der Stadt zuständig.
Viele regional gegliederte deutsche Organisationen haben eine Niederlassung in Bremen. Bedingt durch die Bedeutung für den Außenhandel sind in Bremen auch etwa 40 Konsulate und Honorarkonsulate zu finden.
Die Polizei Bremen ist die Ortspolizei in Bremen und auch die Landespolizei der Freien Hansestadt Bremen.
Die Feuerwehr Bremen besteht aus der Berufsfeuerwehr verteilt auf sieben Feuer- und Rettungswachen (FW 1 bis 7) und neun weiteren Rettungswachen. Sie wird durch 19 Freiwillige Feuerwehren der Stadt- bzw. Ortsteile unterstützt.
Die Scharnhorst-Kaserne, in welcher auch das Landeskommando Bremen liegt, befindet sich im Ortsteil Huckelriede.
Bildung, Wissenschaft und Forschung.
Schulen.
Der Unterricht in der Primarstufe erfolgt in 74 Bremer Grundschulen. Der Sekundärbereich ist seit 2010 zweigliedrig. 33 Oberschulen bieten sämtliche klassische Schulabschlüsse: die Berufsbildungsreife und die mittlere Reife nach der Klasse 10, die Fachhochschulreife nach der Klasse 12 sowie das Abitur zumeist nach der Klasse 13. Die acht Gymnasien im Bremer Stadtgebiet bieten dagegen das Abitur nach der Klasse 12. Daneben gibt es noch fünf Schulzentren für den Sekundarbereich II mit gymnasialer Oberstufe und Berufsschule.
Informationen zu den einzelnen Schulen sind in den Artikeln über die Bremer Stadt- und Ortsteile enthalten.
Institute.
Es existieren mehrere außeruniversitäre Institute und Forschungseinrichtungen:
Bremen mit Bremerhaven wurden vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zur „Stadt der Wissenschaft 2005“ (bei 36 deutschen Städten als Mitbewerber) gewählt.
Mit dem Thema "System Erde" gehörte Bremen zu den zehn deutschen Städten, die im Wissenschaftsjahr 2009 als Treffpunkt der Wissenschaft ausgezeichnet wurden.
Gesundheitswesen.
Die vier kommunalen Krankenhäuser mit 3170 Betten und 7600 Mitarbeitern sind durch den Klinikverbund Gesundheit Nord gGmbH organisiert:
Die vier Freien Kliniken Bremen mit 1366 Betten und 2531 Mitarbeitern sind in einer Kooperationsgemeinschaft:
Weiterhin bestehen als kleinere Fachkliniken:
Medien.
Radio und Fernsehen
Bremen ist Sitz von Radio Bremen, der kleinsten Rundfunkanstalt der ARD. Radio Bremen produziert diverse Fernsehsendungen im „Radio Bremen TV“ und betreibt vier Hörfunkwellen – eine davon mit dem WDR und dem RBB (COSMO), hinzu kommt noch das crossmediale Angebot Bremen Next. Als privates Pendant ist Energy Bremen in der Hansestadt mit einem Radioprogramm ansässig; zusätzlich gibt es im Sendegebiet die Radiosender radio ffn und Hit-Radio Antenne Bremen. Außerdem unterhalten die privaten Fernsehsender RTL und Sat1 Korrespondentenbüros in Bremen und produzieren von hier aus ein halbstündiges Regionalmagazin für Bremen und Niedersachsen. Beim Bürgerrundfunk Bremen können Bürger aus Bremen kostenlos eigene Radio- und TV-Sendungen gestalten.
Von Anfang September 2007 bis Juni 2013 gab es in Bremen den privaten Fernsehsender center.tv. Er produzierte täglich zwei Stunden aktuelle Live-Sendungen aus Bremen.
Zeitungswesen
Als Tageszeitungen erscheinen der "Weser-Kurier" und die fast identischen "Bremer Nachrichten," letztere ist dem Titel nach die drittälteste noch erscheinende Tageszeitung Deutschlands. Montags und donnerstags liegt dem Weser-Kurier und den Bremer Nachrichten jeweils der "Stadtteil-Kurier" (Sechs Ausgaben: Nordost, Südost, Mitte, Links der Weser, West und Huchting) bei. In Bremen-Nord erscheint von Montag bis Sonnabend die Regionalausgabe "Die Norddeutsche," die unter dem Namen "Norddeutsche Volkszeitung" von 1885 bis 1941 sowie von 1949 bis 1971 eine eigenständige Tageszeitung war. Mit einer eigenständigen Ausgabe für den Großraum Bremen erscheint außerdem die "Bild". Vorübergehend gab es eine eigenständige Bremen-Ausgabe der "tageszeitung" "(taz)", diese wurde jedoch nach einigen Jahren aus finanziellen Gründen eingestellt und in die "taz nord" eingegliedert, die gegenwärtig neben der Mantelzeitung aus drei Seiten allgemeinem Regionalteil und einer Wechselseite jeweils für die Länder Bremen und Hamburg besteht. Auch die Tageszeitung Die Welt versuchte mit einem Regionalteil die Medienlandschaft zu bereichern und neue Leser zu gewinnen, reduzierte den Umfang jedoch inzwischen auf wenige Seiten für die norddeutsche Region.
In Bremen erscheinen ferner drei kostenlose Wochenblätter, die durch Anzeigen finanziert werden: der "Bremer Anzeiger," der "Weser-Report" sowie in Bremen-Nord "Das BLV". Mit "Bremer," "Prinz Bremen," "Bremen-Magazin," dem Stadtmagazin "Mix," "BIG Bremen" und "Bremborium" und dem "Nordanschlag" in Bremen-Nord erscheinen außerdem eine Reihe unabhängiger Stadtmagazine. Hinzu kommen die Kultur- und Gesellschaftszeitschriften "Foyer" und "Brillant" sowie zahlreiche kleinere Publikationen mit stark lokalem Charakter in einzelnen Stadtteilen.
Ferner sind alle großen Nachrichtenagenturen und die meisten großen Tageszeitungen Nordwestdeutschlands sowie zahlreiche Radiosender mit Korrespondentenbüros oder Regionalredaktionen vertreten.
Ver- und Entsorgung.
Traditionell war Bremen in allen Bereichen der Ver- und Entsorgung weitgehend autonom. Steigende Anforderungen an die Versorgungsqualität haben diese Autonomie nach 1945 zunächst verbessert und nach 1995 erneut beschränkt.
Sport.
→ "Zu den sportlichen Aktivitäten in den Stadtteilen siehe dort."
Bremen beheimatet als Großverein den Fußball-Bundesligisten Werder Bremen, der auch eine starke Schach- und Tischtennis-Abteilung hat.
Die Weserstars Bremen spielen in der Eishockey-Regionalliga.
Der Grün-Gold-Club Bremen ist Welt- und Europameister im Formationstanzen Latein.
Für den Freizeitsport bieten sich der Bürgerpark mit dem Stadtwald, das Werdergebiet an beiden Seiten der Weser, der Park links der Weser sowie zahlreiche Wassersportanlagen auf den Nebenarmen der Weser und auf dem Stadtwaldsee an.
Die Stadthalle ist als Veranstaltungsort des Bremer Sechstagerennens bekannt. Die Stadthalle ist Austragungsort weiterer Sportwettkämpfe, auch manche Heimspiele der Handball-Zweitligamannschaft SG Achim/Baden aus der Nachbarstadt Achim fanden hier in der Saison 2007/08 statt. Gelegentlich finden Heimspiele der Basketball-Erstligamannschaft Eisbären Bremerhaven dort statt.
Seit 2008 gibt es im Turnier-Tanz-Club (TTC) Gold und Silber e. V. Bremen mit Unterstützung des Behinderten-Sportverbandes Bremen e. V. und des Landestanzsportverbandes Bremen e. V. das Angebot Rollstuhltanz.
Von 1907 bis 2018 fanden auf der Galopprennbahn Bremen Rennen statt.
2021 bewarb sich die Stadt zusammen mit Bremerhaven als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Vereinigte Staaten ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
Mundarten/Sprachen.
In Bremen wird Standarddeutsch gesprochen, daneben nur noch selten Niederdeutsch. Das Bremer Platt als eigene Mundart ist nicht mehr in seiner Reinform zu hören, da es sich inzwischen mit dem Platt des Umlandes gemischt hat.
In die in Bremen gesprochene Umgangssprache haben viele Elemente des „Bremer Snak“ Eingang gefunden. Der „Bremer Snak“ ist der bremische Dialekt des Missingsch, einer Mischsprache zwischen deutscher Standardsprache und Niederdeutsch.
Kulinarische Spezialitäten.
Eine der bekanntesten Bremer Spezialitäten ist Kohl und Pinkel. In Bremen wird der Grünkohl als „Braunkohl“ bezeichnet, weil die regional angebaute Kohlsorte rote Pigmente in den Blättern hat. Dadurch erhält der Kohl beim Kochen eine bräunliche Färbung und schmeckt würziger.
Gerne wird auch Knipp serviert, eine Art von Grützwurst.
Ein beliebtes Bremer Wintergebäck ist der Klaben. Dieses „urbremische Gebäck“ ist ein schwerer Stollen, das Wort „Klaben“ weist auf die gespaltene Form hin. Er wird zumeist Anfang Dezember gebacken, und zwar in solchen Mengen, dass er bis Ostern reicht. Im Gegensatz zum Stollen wird Klaben nach dem Backen nicht mit Butter bestrichen und gezuckert.
Weitere beliebte Süßigkeiten sind Bremer Babbeler (ein langes Lutschbonbon) und Bremer Kluten (Zucker mit Pfefferminz und Schokolade).
Persönlichkeiten.
Ehrenbürger.
Zu den bekanntesten Ehrenbürgern der Stadt Bremen gehören u. a. der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, der Verleger Anton Kippenberg, der Nachkriegspräsident des Senats Wilhelm Kaisen und der Dichter, Übersetzer und Architekt Rudolf Alexander Schröder. Zuletzt wurden Annemarie Mevissen, Barbara Grobien und Klaus Hübotter ausgezeichnet.
Söhne und Töchter der Stadt.
Als Bremer weit über ihren Geburtsort hinaus bekannt geworden sind |
555 | 3339400 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=555 | Freie Hansestadt Bremen | Die Freie Hansestadt Bremen (, "HB") ist ein Land im Nordwesten der Bundesrepublik Deutschland. Das Land Bremen wird gemeinhin zwar als "Stadtstaat" bezeichnet, besteht jedoch aus den beiden Großstädten Bremen und Bremerhaven; das Land bezeichnet sich selbst auch als "Zwei-Städte-Staat Bremen." Es ist das flächenkleinste und bevölkerungsärmste Land der Bundesrepublik und Teil der Metropolregion Nordwest. Im Land Bremen leben () Einwohner.
Geographie.
Geographische Lage.
Das Land Bremen liegt in Nordwestdeutschland am Unterlauf und Mündungstrichter der Weser und umfasst die beiden 53 km voneinander entfernten Städte Bremen (ca. 325 km²) und Bremerhaven (seit 2010 ca. 94 km²), die durch niedersächsisches Gebiet voneinander getrennt sind. Bremerhaven grenzt zusätzlich noch im Westen an die Nordsee und umschließt das Stadtbremische Überseehafengebiet Bremerhaven. Das Land Bremen wird durch die niedersächsischen Landkreise Osterholz, Verden, Diepholz, Wesermarsch, Cuxhaven und die Stadt Delmenhorst begrenzt.
Landschaft.
Naturräume.
Naturräumlich ist die Freie Hansestadt Bremen fünf naturräumlichen Haupteinheiten zuzuordnen: den Wesermarschen, der Wümmeniederung, der Wesermünder Geest, der Thedinghäuser Vorgeest sowie dem Verdener Wesertal. Naturbelassene Flächen finden sich vor allem entlang der Flüsse Wümme, Lesum, Ochtum und Geeste mit unter Naturschutz stehenden Marschwiesen und Altarmen. Die Marsch- wie auch die Geestflächen werden landwirtschaftlich genutzt und dienen als Naherholungsgebiete für die Stadtbevölkerung. Bremen hat 20 Naturschutzgebiete mit insgesamt 3546 ha, die rund 8,5 % der Landesfläche ausmachen. Daneben bestehen drei Wasserschutzgebiete.
Flüsse.
Der landschaftsprägende Fluss Weser ist in ganzer Länge eine Bundeswasserstraße und an seinen Ufern innerhalb der Freien Hansestadt Bremen überwiegend stark befestigt. Die Gezeiten in der Nordsee beeinflussen den Wasserstand in der Weser, teilweise auch die lokalen Wetterverhältnisse, und prägen Fauna und Flora im Land Bremen. Durch den Ausbau der Unterweser im 19. Jahrhundert kam es in der Folge zur Tiefenerosion im Verlauf und oberhalb des ausgebauten Flusses mit erheblichem Sandaustrag. Um ein Fortschreiten der Sohlenerosion zu verhindern, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Bremen-Hastedt das Weserwehr gebaut. Infolge der Weserkorrektion und weiterer Vertiefungen des Schifffahrtsweges stieg der Tidenhub von zuvor etwa 1 m auf bis zu heute 5 m in der Stadt Bremen, was auch die Strömungsgeschwindigkeit erhöhte. Die Ansiedlung hat sich im Laufe der Geschichte hauptsächlich entlang der Flüsse entwickelt. Die stärkste Versiegelung des Bodens ist daher an den Ufern der Weser und den unmittelbar angrenzenden Stadtteilen zu finden. Die Häfen machen mit über 30 km² einen erheblichen Teil der Landesfläche aus.
Seen.
Größter Binnensee ist der Sportparksee Grambke mit 40 ha.
Erhebungen.
Die mit höchste natürliche Erhebung befindet sich im Friedehorstpark in Bremen-Burglesum. Damit hat Bremen die niedrigste höchste natürliche Erhebung aller Bundesländer. Der Gipfel der Mülldeponie im Ortsteil Hohweg des Bremer Stadtteils Walle, der unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen und hoch ist, überragt allerdings die Parkerhebung.
→ "Siehe auch: weitere Erhebungen in den Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven"
Wald.
Das größte geschlossene Waldgebiet des insgesamt waldarmen Landes liegt in den Bremer Ortsteilen Farge und Lüssum-Bockhorn. Es handelt sich um den bremischen Anteil an der Neuenkirchener Heide. Davon wird der größte Teil vom Tanklager Farge eingenommen, welches nicht öffentlich zugänglich ist.
Schienen und Straßen.
Die Landschaft wird an vielen Stellen von Hauptverkehrsstrecken durchschnitten, darunter die Bundesautobahn A 27, die von Hannover über Bremen und Bremerhaven nach Cuxhaven führt, und von mehreren Eisenbahnstrecken.
Bevölkerung.
Ethnische Zusammensetzung.
Die Bevölkerung bestand ursprünglich aus Chauken und zuwandernden Friesen.
Um 250 v. Chr. drangen Sachsen in den heutigen Bremer Raum ein und vermischten sich mit den bereits ansässigen Volksgruppen. Ab 100 v. Chr. findet für diese Siedler der Begriff "Nordseegermanen" Verwendung, zu denen die Angeln, Chauken, Friesen, Sachsen und Warnen gehören. Ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. ist die Bezeichnung Sachsen nachweisbar.
Die ethnische Zusammensetzung hat sich jedoch durch Zuwanderung in ihrer Zusammensetzung stark verändert, wobei eine Besonderheit die Zuwanderung von Polen im 19. Jahrhundert darstellt. Bremerhaven war damals einer der Auswanderhäfen. Bei den Polen handelte sich um Emigranten, die nach Nordamerika auswandern wollten, wobei sich die meisten ohne Visum einschifften. Wer auf Ellis Island abgewiesen wurde, musste mit dem nächsten Schiff zurück nach Europa und kam dann wieder in einem der Auswandererhäfen an. Von dort aus konnten viele allerdings oft nicht mehr zurück in ihren Heimatort und strandeten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Heimatvertriebene hinzugekommen, vornehmlich aus Ostpreußen, Posen und Pommern, zu einem geringeren Anteil auch aus der Tschechoslowakei. In den 1960er und 1970er Jahren kamen vor allem Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum sowie Westafrikaner in die Freie Hansestadt Bremen, in den letzten Jahren zogen vor allem Menschen aus dem Nahen Osten, Afghanistan und verschiedenen Regionen Afrikas nach Bremen.
Sprache.
In Bremen wird überwiegend Hochdeutsch und Bremer Dialekt gesprochen. Weit verbreitet ist "Missingsch," ein Hochdeutsch mit Einflüssen aus dem Niederdeutschen, das hier "Bremer Schnack" genannt wird. Die niederdeutsche Sprache selbst, das "Plattdüütsch," ist auch in Bremen noch beheimatet, allerdings seit einigen Jahrzehnten stark im Rückzug begriffen – nur noch wenige sprechen Niederdeutsch im Alltag. Für den Erhalt des Niederdeutschen setzt sich das Institut für niederdeutsche Sprache ein. In Familien mit Migrationshintergrund sind daneben noch die jeweiligen Heimatsprachen verbreitet (vor allem Russisch, Polnisch, Türkisch und Arabisch).
Bevölkerungsentwicklung.
Mit Stand vom haben die Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven bzw. Einwohner. Mit gleichen Stand hat die Freie Hansestadt Einwohner.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Freie Hansestadt Bremen und gleichermaßen beide Stadtgemeinden von 1946 bis 1960 einen Bevölkerungszuwachs von rund 47 % bei zusätzlichen 222.886 Einwohnern. Der Höchststand der Einwohnerzahl wurde in Bremen 1971 mit 594.591 Einwohnern erreicht und in Bremerhaven 1973 mit 144.578 Einwohnern. Danach sank die Einwohnerzahl bis 2000 kontinuierlich; in Bremen noch gemäßigt um rund 8 %, im von Wirtschaftskrisen betroffenen Bremerhaven sehr stark um 21,5 %. Allerdings nimmt die Einwohnerzahl in der Stadt Bremen seit 2001 wieder zu.
Ausländeranteil.
1961 lag der Ausländeranteil an der Bevölkerung in der Freien Hansestadt Bremen wie auch in den beiden Stadtgemeinden bei 1 %, 1970 belief er sich auf 3,3 %, 1980 auf 6,9 % und 1990 auf 10 % wobei der Anteil in der Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven bei 10,4 % bzw. 8,4 % lag. Bis 2006 ist der Ausländeranteil auf Landesebene auf 12,4 %, wobei der Anteil in Bremen bei 12,9 % und in Bremerhaven bei 10 % lag, gestiegen.
Lebenserwartung.
Die durchschnittliche Lebenserwartung lag im Zeitraum 2015/17 bei 77,2 Jahren für Männer und bei 82,6 Jahren für Frauen. Die Männer belegen damit unter den deutschen Bundesländern Rang 14, während Frauen Rang 15 belegen. Beide Werte liegen damit unter dem Bundesdurchschnitt. In Bremen lag die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung 2013/15 bei 80,29 Jahren und in Bremerhaven bei 77,70 Jahren. Bremerhaven zählt damit zu den Städten mit den landesweit niedrigsten Werten.
Umlandentwicklung.
Beachtlich und überproportional ist das Bevölkerungswachstum der unmittelbaren Nachbargemeinden der beiden Städte.
Geschichte.
Im Unterschied zum Stadtstaat Hamburg, zu dem mit dem Stadtteil Neuwerk auch eine in der Nordsee gelegene Inselgruppe gehört, entwickelte sich Bremerhaven zu einer eigenständigen Stadt, sodass die Bezeichnung "Zwei-Städte-Staat" für Bremen entstand.
Name.
Der Name Bremen () könnte soviel bedeuten wie "am Rande liegend" (altsächsisch "Bremo" bedeutet "Rand" bzw. "Umfassung") und bezieht sich möglicherweise auf den Rand der Bremer Düne.
Der Stadt- bzw. Staatsname wandelte sich. Im Mittelalter bezeichnete sich die Stadt als "civitas Bremensis," also als Stadt Bremen und dieses auch noch nach 1646. Wenn die verfassungsrechtliche Stellung Bremens betont werden sollte, führte sie nach dem Erhalt der Reichsstadturkunde (Linzer Diplom) ab 1646 den Titel "Kayserliche und deß heiligen Römischen Reichs Freye Stadt (und Ansestadt) Bremen." Nach der Kaiserzeit wurde Bremen ab 1806 bzw. dann 1815 als souveräner Staat im Deutschen Bund zur "Freyen Hansestadt Bremen" bzw. ab 1871 als Bundesstaat im Deutschen Kaiserreich zur "Freien Hansestadt Bremen." Zwischen 1810 und 1813 wurde Bremen als "Bonne ville de l’Empire français" des Französischen Kaiserreichs bezeichnet. Seit 1949 ist das Land Bremen die "Freie Hansestadt Bremen" in der Bundesrepublik Deutschland.
Mittelalter und Frühe Neuzeit.
Nach der Gründung des Bistums Bremen entstand die heutige Stadt Bremen neben dem Bischofssitz, der Domburg, zunächst als Marktort, dann als Stadt unter der Hoheit der Bischöfe.
Durch das Gelnhauser Privileg von 1186 unterstellte Kaiser Friedrich I. Barbarossa die Stadt der "iustitia imperialis," „kaiserlichen Gerechtigkeit“. Seither unterstand Bremen als städtisches Gemeinwesen in weltlichen Dingen eigentlich nicht mehr dem Erzbischof. Diese Weichenstellung in Richtung Freie Reichsstadt geschah allerdings zu einem Zeitpunkt, da die Position der Bürger gegenüber dem Erzbischof noch schwach war und ein anderer Konflikt im Vordergrund stand; Heinrich der Löwe war 1181 nach England ins Exil gegangen, nachdem ihm wegen seiner Opposition gegen Kaiser Friedrich I. die Herzogswürde über das Stammesherzogtum Sachsen (und ebenso Bayern) entzogen worden war. Die Herzogswürde für dessen westlichen Teil bis zur Weser war dem Erzbischof von Köln übertragen worden, die für den Osten den Askaniern. Zu den in der Urkunde erwähnten Zeugen gehörten aus Bremen bezeichnenderweise nur der Erzbischof und der Vogt, aber kein Vertreter der Bürger.
Fortan schwankte das Verhältnis zwischen der Stadt auf der einen Seite, Erzbischof und Domkapitel auf der anderen Seite laufend zwischen Gleichberechtigung und Bevormundung, zwischen Kooperation und Konkurrenz.
Der Bremer Erzbischof Gerhard II. zur Lippe versuchte, mit der Witteborg die Unterweser zu kontrollieren, und erlitt dabei 1222 eine militärische Niederlage durch die Stadt, die diese Burg eroberte und zerstörte.
Eine Bedrohung für die Emanzipation der Stadt bildete die "Konstitution von Ravenna" Kaiser Friedrichs II. von 1232, in der er, wohl vor allem wegen seiner Konflikte mit italienischen Städten, die Selbstbestimmung der Bischofsstädte und sogar die Zünfte verbieten wollte.
Erzbischof Gerhard II. suchte damals allerdings zunächst die Unterstützung der Bürger für seinen Stedingerkrieg. Dafür gewährte er ihnen 1233 steuerliche und rechtliche Erleichterungen und sicherte der Stadt zu, gegen ihren Willen keine Burgen mehr an der Weser zu bauen. Der Vertrag wurde sogar durch Friedrichs Sohn und Mitregenten Heinrich VII. bestätigt. Erst nach dem Sieg über die Stedinger ging der Erzbischof 1246 mit seinen "Gerhardschen Reversalen" daran, die Stadt an die kurze Leine zu nehmen. Unter anderem wurden „die Bürgermeister und die Gemeinde aller Bürger“ genötigt, die "wilcore" genannten ersten eigenständigen Statuten der Stadt zu widerrufen. Seine Anordnung, die erzbischöflichen Dienstmannen der städtischen Gerichtsbarkeit zu entziehen, trug wohl mit dazu bei, dass ein halbes Jahrhundert später aus einem einzelnen Streitfall heraus der erzbischöfliche Palast von Bürgern gestürmt wurde und in Flammen aufging.
Mit dem seit 1303/09 kodifizierten Bremer Stadtrecht schuf sich die Stadt dann dauerhaft ein eigenes Rechtssystem.
Aber völlig beendet war die Bevormundung noch lange nicht. Das Privileg Karls V. von 1541 erlaubte es zwar den städtischen Amtsträgern, sich in der Rechtsprechung über den erzbischöflichen Vogt hinwegzusetzen, aber dessen Amt blieb noch bestehen.
Der Hanse trat Bremen relativ zögerlich bei. Die Mitgliedschaft war zudem mehrmals gefährdet. Teilweise ging Bremen, um es sich nicht ganz mit den Friesen zu verderben, nicht energisch genug gegen Seeräuber vor. Teilweise kam es durch Bürgermeister anderer Hansestädte zu negativen Reaktionen, wenn ihnen bekannte Bremer Bürgermeister entmachtet wurden.
Die von der Stadt erworbenen Landgebiete gehören heute großenteils zur Stadtgemeinde Bremen, sofern sie nicht im 17. Jahrhundert wieder verloren gingen. Manche, wie etwa das Vieland, waren zunächst von Stadt und Domkapitel gemeinsam regiert worden. Versuche der Stadt, ihre Macht entlang der Unterweser auszudehnen, erlitten schwere Rückschläge wie den Verlust der Vredeborg. Erst im 17. bzw. 19. Jahrhundert gelang es, Vegesack und Bremerhaven als Vorhäfen zu gründen – beide wurden dringend gebraucht, weil die Unterweser versandete und immer schwieriger mit Seeschiffen zu befahren war.
Das Erzbistum dagegen erwarb weltlichen Territorialbesitz in größerer Entfernung von der Stadt. Schließlich beherrschte es große Teile des Elbe-Weser-Dreiecks. Dieses Gebiet gehört nicht zu den Vorläufern der heutigen Freien Hansestadt Bremen. Die Erzbischöfe residierten zunehmend nicht mehr in Bremen, sondern in Bremervörde. Infolge der Reformation wurde dieses Erzstift Bremen säkularisiert und auf dem Westfälischen Frieden 1648 zum Herzogtum Bremen. Zusammen mit dem Herzogtum Verden kam es im Umweg über schwedische und dänische Hoheit schließlich zum Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, dem späteren Königreich Hannover. Innerhalb der Bremer Stadtbefestigung besaß das Erzstift und spätere Herzogtum Bremen die Domfreiheit.
19. Jahrhundert.
Beim Reichsdeputationshauptschluss von 1803, drei Jahre vor der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, war Bremen eine der sechs Reichsstädte, die nicht mediatisiert wurden, sondern ihre Eigenständigkeit behielten. Außerdem gewann es die bis dahin mit dem Herzogtum Bremen unter hannöverscher Hoheit stehende Domfreiheit zurück.
Nach der Annexion Nordwestdeutschlands durch das napoleonische Frankreich war Bremen von 1811 bis 1814 Hauptstadt des französischen Departements der Wesermündungen "(Département des Bouches-du-Weser)." Von 1815 bis 1866 war Bremen im Deutschen Bund ein souveräner Staat. Wegen der Versandung der Weser wurde 1827 ein zweiter Vorhafen gegründet, aus dem die Stadt Bremerhaven entstand.
Nach der Deutschen Revolution von 1848/49 gab sich Bremen 1849 eine liberale Verfassung, die 1854 durch eine konservative Verfassung mit einem Achtklassenwahlrecht abgelöst wurde. Von 1866 bis 1871 war Bremen ein Gliedstaat im Norddeutschen Bund und bis 1918 im Deutschen Kaiserreich.
Bremer Räterepublik.
Am Ende des Ersten Weltkriegs übernahm im Zuge der Novemberrevolution ein Arbeiter- und Soldatenrat am 15. November 1918 die Macht in Bremen, oberstes Organ der Exekutive wurde jedoch ein gemeinsamer Ausschuss von Rätevertretern und Senatoren. Die Bremer Räterepublik, erst am 10. Januar 1919 ausgerufen, wurde am 4. Februar desselben Jahres durch eine vom Rat der Volksbeauftragten des Reiches angeordnete militärische Intervention beendet.
Weimarer Republik.
Danach wurde eine provisorische Regierung des Stadtstaates eingesetzt. Diese ließ am 9. März 1919 in allgemeiner und freier Wahl die Bremer Nationalversammlung wählen, die 1920 eine neue, parlamentarische Landesverfassung verabschiedete, mit einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Damit hatte sich auch das Frauenwahlrecht durchgesetzt.
Nationalsozialismus.
Mit dem Regierungsantritt der NSDAP in der Freien Hansestadt Bremen am 6. März 1933, einen Tag nach der Reichstagswahl, begann die Phase Bremens im Nationalsozialismus. Die zwölfjährige Zeit war geprägt durch Unterdrückung und Verfolgung von Demokraten und Minderheiten. Es wurden mehrere Arbeitslager errichtet, in denen Kriegsgefangene und Regimegegner unter schwersten Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten und dabei zu tausenden ihr Leben verloren. Wie die übrigen deutschen Länder verlor die Freie Hansestadt Bremen durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934 ihre staatlichen Hoheitsrechte. Als Hansestadt Bremen wurde das Land dem 1928 gegründeten Gau Weser-Ems unter dem Gauleiter Carl Röver zugeteilt.
Durch die "Vierte Verordnung über den Neuaufbau des Reichs" vom 28. September 1939 musste die Hansestadt Bremen die Stadtgemeinde Bremerhaven mit Ausnahme der dortigen Häfen an die preußische Provinz Hannover abtreten. Bremerhaven wurde so ein Teil von Wesermünde, welches 1924 aus Geestemünde und Lehe gebildet worden war. Im Austausch dafür bekam die Hansestadt Bremen große Teile des Kreises Blumenthal, wodurch Bremen-Nord seine heutige Ausdehnung gewann. Dazu kamen noch Hemelingen, Arbergen und Mahndorf.
Zweiter Weltkrieg.
Im Zweiten Weltkrieg kam es in Bremen (173 Luftangriffe) und in Wesermünde (52 Angriffe) zu schweren Zerstörungen. In Bremen war schließlich 59 % der städtebaulichen Substanz zerstört. In Wesermünde betrug der Anteil 56 %, wobei Alt-Bremerhaven alleine fast vollständig zerstört war. Durch Luftkrieg kamen in Bremen rund 4000 Menschen ums Leben, in Wesermünde mehr als 1100 Menschen.
Am 10. April 1945 begann mit britischem Artilleriebeschuss letztlich der Kampf um Bremen. Die britische Schlussoffensive am 25. April führte in der Nacht vom 26. auf den 27. April zur Kapitulation durch den letzten Kampfkommandanten. Kurz darauf (am 8. Mai) erfolgte schließlich auch die Bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht, womit der Zweite Weltkrieg in Europa sein Ende fand.
Nach 1945.
Um als "Port of Embarkation" den Nachschub für die US-Truppen zu sichern, wurde das in der Britischen Besatzungszone gelegene Bremen mit Bremerhaven zur US-amerikanischen Exklave. Sowohl die Hansestadt Bremen als auch die Stadt Wesermünde gehörten zur amerikanischen Besatzungszone und waren umgeben von der britischen Zone, wobei Wesermünde vom Jahreswechsel 1945/46 bis zum 31. März 1947 zwischenzeitlich zur britischen Zone gehörte und am 10. März 1947 in Bremerhaven umbenannt wurde. Abgesehen von dieser offiziellen Zuordnung war Bremen zeitweise sowohl ein Teil der amerikanischen wie auch der britischen Zone. Dem Länderrat der amerikanischen Zone gehörte die Hansestadt Bremen an, solange dieser bestand. Im ersten Zonenbeirat der britischen Zone (6. März 1946 bis 30. April 1947) mit sechs Ländervertretern und zehn Ressortvertretern wurde der Vertreter der vier kleineren Länder turnusgemäß auch von der Hansestadt Bremen gestellt, im zweiten Zonenbeirat der britischen Zone (10. Juni 1947 bis 29. Juni 1948) aus 37 Länderdelegierten war die Hansestadt Bremen nicht mehr vertreten.
Indem die Hansestadt Bremen und die Stadt Bremerhaven in ihren Grenzen von 1939 nach Kriegsende zur Amerikanischen Exklave und da heraus zur Freien Hansestadt Bremen wurden, umfasst der Zwei-Städte-Staat seit seiner Neukonstitution im Januar/Februar 1947 ein größeres Territorium als zur Zeit des Deutschen Reiches (1871: 255,25 km², 1939: 325,42 km², 1947: 404,28 km²).
Heute.
Seit Gründung der Bundesrepublik ist es eine Konstante der Bremer Politik, die Selbständigkeit als Stadtstaat zu erhalten. Wirtschaftspolitisch ist seit den 1970ern eine Umstrukturierung zu meistern. Der Niedergang der Werftenindustrie (AG Weser, Bremer Vulkan) und ein Bedeutungsrückgang der stadtbremischen Häfen machten es erforderlich, weitere wirtschaftliche Standbeine zu finden und ein Profil als Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort mit Schwerpunkten in der Luft- und Raumfahrttechnik sowie in der Logistik zu schärfen.
Nach der Einkommensteuerreform von 1970 werden Steuern nunmehr nicht mehr an den Arbeitsstandort, sondern an den Standort des Wohnsitzes des Steuerpflichtigen abgeführt. Die zunehmende Anzahl der im niedersächsischen Umland wohnenden und dort steuerzahlenden bremischen Beschäftigten (2006: 130.000; im Saldo von Bremen/Niedersachsen noch 100.000 Beschäftigte) führt zu einer Finanzkrise, die Bremens Selbständigkeit bedroht. 1986 bzw. 1992 hat das Bundesverfassungsgericht zum Finanzausgleich beschlossen, dass die Steuergesetzgebung so erfolgen muss, dass der „Andersartigkeit der Stadtstaaten“ Rechnung getragen werden muss. Durch die "Bremer Erklärung" vom Senat Wedemeier, Oberbürgermeister von Bremerhaven, Kammern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften vom November 1992 wurde die Selbstständigkeit der Freien Hansestadt Bremen bekräftigt. Außer den vorübergehenden Zuwendungen des Bundes von 1994 bis 2004 in Höhe von 8,5 Milliarden Euro und seit etwa 2008 bis 2016 in Höhe von 2,7 Milliarden Euro erfolgte jedoch noch keine dauerhafte Regelung zur Behebung des Haushaltsnotstandes.
Durch den Staatsvertrag mit Niedersachsen zur Luneplate vom 5. Mai 2009, der am 1. Januar 2010 in Kraft getreten ist, wuchs die Fläche des Bundeslandes um 14,95 km² auf 419,23 km².
Politik.
Staatsaufbau.
Laut seiner Verfassung führt der bremische Staat den Namen Freie Hansestadt Bremen und ist Glied der deutschen Republik und Europas (Art. 64 BremLV). Laut Art. 65 bekennt sich der bremische Staat zu Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Schutz der natürlichen Umwelt, Frieden und Völkerverständigung. Alle Macht geht in Bremen vom Volke aus.
Verwaltungsgliederung.
Die Freie Hansestadt Bremen gliedert sich in zwei Stadtgemeinden, die jeweils in Stadtbezirke, Stadtteile und Ortsteile unterteilt sind:
Legislative – Landesparlament.
Aufbau und Struktur.
Die Legislative bildet die Bremische Bürgerschaft. Sie ist mit 83 Abgeordneten das Landesparlament und als Stadtbürgerschaft mit den 68 Bremer Abgeordneten zugleich für die kommunalen Angelegenheiten der Stadtgemeinde Bremen zuständig. Die Mitglieder der Bürgerschaft werden in den Wahlbereichen Bremen und Bremerhaven auf vier Jahre gewählt. Außerdem steht die Legislative dem Volke in Volksabstimmungen zu.
Für die kommunalen Angelegenheiten der Stadt Bremerhaven ist die Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung mit 48 Stadtverordneten zuständig.
Parteien.
Bremen ist seit Kriegsende das einzige Bundesland, in dem bis 2019 die SPD bei jeder Landtagswahl zur stärksten Partei gewählt wurde, immer an der Regierung beteiligt war und seit Juli 1945 immer den Präsidenten des Senats stellt.
Die Wahlergebnisse der CDU lagen bei jeder Wahl unter ihrem Bundesdurchschnitt. Zwischen 1946 und 1967 waren noch die Deutsche Partei (DP) und von 1951 bis 1955 der BHE bzw. Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) in der Bürgerschaft vertreten. Beide Parteien gingen in der CDU auf.
Die liberale Bremer Demokratische Volkspartei (BDV) mit Bürgermeister Theodor Spitta war zwischen 1945 und 1951 eine einflussreiche bürgerliche Partei. Sie wurde 1951 Teil der FDP.
Die KPD war von 1947 bis 1956 in der Bürgerschaft vertreten. Die DKP erzielte 1971 mit 3,1 % ihr bestes Landtagswahlergebnis in Bremen. Bei der Bürgerschaftswahl in Bremen 2007 kam die Linke mit 8,4 % erstmals in ein westdeutsches Landesparlament.
1979 gelang der Bremer Grünen Liste, Vorläuferpartei der Grünen, der Einzug in die Bremische Bürgerschaft. Den Grünen gelangen seit 1987 (mit Ausnahme von 1999) stets Wahlergebnisse im zweistelligen Bereich.
Begünstigt durch die Struktur als Stadtstaat und das Wahlrecht, bei dem beide Städte getrennte Wahlgebiete mit getrennt geltender Fünf-Prozent-Hürde bilden, erzielten auch Splitterparteien außerhalb des linken Spektrums meistens gute Ergebnisse. So hatte die rechtsextreme DVU – insbesondere in Bremerhaven – höheren Zulauf, der ab 1987 einen Sitz und ab 1991 für Fraktionsstärke in der Bürgerschaft reichte. Nachdem die DVU 1995 nicht mehr in der Bürgerschaft vertreten war, gelang der Einzug wieder 1999 aufgrund der Überwindung der Fünf-Prozent-Hürde in Bremerhaven mit einem Sitz bis zum Jahr 2011.
Von 1995 bis 1999 war die als rechte SPD-Abspaltung hervorgegangene Partei Arbeit für Bremen und Bremerhaven mit 10,7 % und zwölf Abgeordneten in der Bürgerschaft vertreten. Der Partei Rechtsstaatlicher Offensive gelang 2003 ein Wahlergebnis von landesweit 4,4 %, wobei mit 4,8 % in Bremerhaven der Einzug in die Bürgerschaft knapp misslang. Die rechtspopulistische Wählergemeinschaft Bürger in Wut zog vier Jahre später mit 5,29 % Stimmenanteil in Bremerhaven mit einem Mandat in die Bürgerschaft ein.
Wahlergebnisse.
In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse von Bürgerschafts-, Bundestags- und Europawahlen seit 2013 dargestellt.
Exekutive – Landesregierung.
Die Exekutive bildet der Senat der Freien Hansestadt Bremen: Er ist die Landesregierung der Freien Hansestadt Bremen. Die einzelnen Senatsmitglieder werden von der Bürgerschaft mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen für die Dauer der Wahlperiode der Bürgerschaft gewählt. Dabei wird zunächst der Präsident des Senats in einem gesonderten Wahlgang in geheimer Abstimmung gewählt.
Zu weiteren Mitgliedern des Senats können Staatsräte, deren Zahl ein Drittel der Zahl der Senatoren nicht übersteigen darf, auf Vorschlag des Senats gewählt werden (Art. 108). Im Vergleich zu den anderen Landesregierungen ist der Charakter des Senats als Kollegialorgan ausgeprägt; der Präsidenten des Senats hat keine formale Richtlinienkompetenz. Die Senatsmitglieder können nicht gleichzeitig der Bürgerschaft angehören.
Kommunalverwaltung.
Bremen.
Die kommunalen Organe der Stadtgemeinde Bremen sind mit den staatlichen Organen der Freien Hansestadt Bremen weitgehend personalidentisch. Die im Wahlbereich Bremen gewählten Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft sind gleichzeitig Mitglieder der kommunalen Volksvertretung Bremens (Stadtbürgerschaft); Verschiebungen können sich dadurch ergeben, dass EU-Ausländer nur auf die Zusammensetzung der Stadtbürgerschaft, nicht aber auf die Zusammensetzung des Landesparlaments Einfluss nehmen können. Der Senat des Landes ist zugleich Organ der Stadtgemeinde Bremen.
Bremerhaven.
Das Landesrecht sieht in den Artikeln 145 bis 148 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen einen losen Rahmen für die Gemeindeverfassung vor. Bremerhaven hat sich gem. Artikel 144 der Landesverfassung durch das "Ortsgesetz der Stadt Bremerhaven" vom 4. November 1947 die "Verfassung der Stadt Bremerhaven" gegeben. Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt beschließt über alle Stadtangelegenheiten. Die Aufsicht der Freien Hansestadt Bremen beschränkt sich gem. Artikel 147 „auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ (Rechtsaufsicht).
Bremerhaven besitzt als Spitze der Verwaltung einen Magistrat mit einem Oberbürgermeister, dem Bürgermeister als Stellvertreter und den Stadträten. Bremerhaven hat einige Gestaltungsrechte zum Beispiel im Schul- und Polizeiwesen, die in anderen Bundesländern auf Landesebene ausgeübt werden.
Judikative – Richter.
Die Judikative, die richterliche Gewalt, wird von unabhängigen Richtern ausgeführt (Art. 135). Die Mitglieder der Gerichte werden von einem Ausschuss gewählt, der aus drei Mitgliedern des Senats, fünf Mitgliedern der Bürgerschaft und drei Richtern gebildet wird (Art. 136).
Für Fragen, die die Bremische Verfassung betreffen, wurde ein Staatsgerichtshof eingerichtet. Der Staatsgerichtshof besteht aus dem Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen oder seinem Stellvertreter sowie aus sechs gewählten Mitgliedern, von denen zwei rechtsgelehrte bremische Richter sein müssen.
Die gewählten Mitglieder werden von der Bürgerschaft unverzüglich nach ihrem ersten Zusammentritt für die Dauer ihrer Wahlperiode gewählt und bleiben im Amt, bis die nächste Bürgerschaft die Neuwahl vorgenommen hat. Bei der Wahl soll die Stärke der Fraktionen nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Die gewählten Mitglieder dürfen nicht Mitglieder des Senats oder der Bürgerschaft sein. Wiederwahl ist zulässig (Art. 139).
Finanzen.
Staatsverschuldung.
Das Land Bremen hat seit vielen Jahren die mit Abstand höchste Pro-Kopf-Verschuldung aller deutschen Bundesländer. 2007 lag diese bei 22.000, im Jahr 2011 bei 28.638 Euro je Einwohner. Aufgrund der unterschiedlichen Verwaltungsstruktur sind solche Angaben jedoch nicht ohne weiteres vergleichbar, da bei dieser Betrachtung nur die Länderhaushalte miteinander verglichen werden. Unter Berücksichtigung der kommunalen Haushalte ergibt sich teilweise ein anderes Bild, da Bremen aus den beiden Kommunen Bremen und Bremerhaven besteht. Nach Angaben des Bundes der Steuerzahler stellt die Staatsverschuldung zusammen mit den hohen Personalausgaben ein großes Problem dar: „Die jährlichen Finanzierungsdefizite von zurzeit 1,2 Milliarden Euro müssen nach und nach zurückgeführt werden.“ Die Pro-Kopf-Verschuldung stieg im Zeitraum 2008–2018 um 37,6 % (siehe im Vergleich dazu die Verschuldung der Bundesländer).
Ab 2020 sollen die kommunalen Schulden der Städte Bremen und Bremerhaven in Höhe von etwa 10,6 Milliarden Euro als auch die darauf anfallenden Zinsen auf das Bundesland Freie Hansestadt Bremen verlagert werden.
Länderfinanzausgleich.
Bremen ist seit 1970 „Nehmerland“ im Länderfinanzausgleich. Die Zuwendungen stiegen von 471 Mio. Euro in 2005 auf 771 Mio. Euro in 2019.
In einer Studie von 2013, bei der sich die Wiedereinführung der Vermögensteuer an einem Konzept der damaligen rot-grünen Bundesländer orientierte, wurden die daraus resultierenden zusätzlichen Steuereinnahmen nach Bundesländern aufgeschlüsselt. Demnach hätten auch aufgrund des Länderfinanzausgleichs Hamburg und Bremen die höchsten zusätzlichen Steuereinnahmen je Einwohner.
Länderfusion und Verhältnis zu Niedersachsen.
Die Abgrenzung zwischen Bremen und Niedersachsen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter US-amerikanischer Militärregierung im Einvernehmen mit Bremen und dem Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen gegenüber der Abgrenzung von 1938/39 verändert. Dabei wurde die angebotene Erweiterung des Umlandes aus politischem Kalkül nicht aufgegriffen.
Immer wieder wird eine Fusion mehrerer norddeutscher Länder diskutiert. So wurde ein Zusammenschluss der Länder Niedersachsen und Bremen thematisiert. Eine Fusion stößt traditionell und insbesondere in Bremen, jedoch auch in Niedersachsen, eher auf Ablehnung.
Zwischen Bremen und Niedersachsen kam es wiederholt zu Irritationen, die häufig auf von Bremer Seite als ungünstig empfundene Aspekte der Raumordnungs- und Wirtschaftsplanung niedersächsischer Umlandkommunen basierten, in denen große Gewerbegebiete in Konkurrenz zur Bremer Wirtschaft entstanden. Aber auch sogenannte „Bremer Alleingänge“ in der Infrastrukturplanung wurden kritisiert.
Bremen in Europa.
Mit der Verbindung zur Europäischen Politik und Verwaltung ist die Europaabteilung der Bevollmächtigten der Freien Hansestadt Bremen beim Bund, für Europa und Entwicklungszusammenarbeit betraut. Staatsrätin für Bundes- und Europaangelegenheiten und für Entwicklungszusammenarbeit ist Ulrike Hiller (SPD).
Bremen wird durch die beiden Abgeordneten Joachim Schuster (SPD) und Helga Trüpel (Bündnis 90/Die Grünen) im Europäischen Parlament vertreten.
Das Land Bremen erhält Förderungen aus den Strukturfonds der Europäischen Union, dem Europäischen Sozialfonds (ESF). Dieser wird von der Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Europa verwaltet. Mit den Mitteln werden in Programme und Projekte in Bremen und Bremerhaven zur Armutsbekämpfung und sozialräumliche gezielte Beschäftigungsförderung (BAP) durchgeführt.
Das Land Bremen unterhält eine Partnerschaft zur Region Odessa in der Ukraine.
Hoheitszeichen.
Bremen besitzt insgesamt vier Staatsflaggen. Die Staatsflagge mit mittlerem Wappen unterscheidet sich von der mit Flaggenwappen zusätzlich durch die Anzahl ihrer Streifen. Das Flaggenwappen auf der Staatsflagge ist nicht mit dem großen Landeswappen zu verwechseln. Die Behörden greifen meist auf eine Flagge mit Wappen zurück.
Die Staatskanzlei Bremen kam dem Wunsch von Privatpersonen, Vereinen und Unternehmen, ihre Zugehörigkeit oder Verbundenheit zu „ihrem Land“ zu dokumentieren, mit einem eigens entwickelten Wappenzeichen nach, da die Landeswappen an sich ausschließlich von den Behörden geführt werden dürfen.
Senatsmedaillen.
Orden zu verleihen oder zu tragen ist nicht bremischer Brauch. In Bremen gibt es aber verschiedene Ehrenmedaillen.
Wirtschaft und Verkehr.
Wirtschaft.
Hafen- und Seewirtschaft.
→ "Siehe: Bremische Wirtschaft#Hafen- und Seewirtschaft"
Aufgrund der Hafengruppe Bremen/Bremerhaven ist das Land Bremen Deutschlands Außenhandelsstandort Nummer zwei, gleich nach Hamburg. Die Palette der verschiedenen Handelsgüter, die hier im- und exportiert werden, erstreckt sich von Fisch-, Fleisch- und Molkereiprodukten über traditionelle Rohstoffe wie Tee, Baumwolle (siehe Bremer Baumwollbörse), Reis und Tabak bis hin zu Wein und Zitrusfrüchten. Besondere Bedeutung besitzt Bremen für den Kaffeeimport und den Autoexport. Der Seehafen Bremerhaven ist Deutschlands größter Umschlagplatz für Automobile.
Große Unternehmen.
In Bremen befinden sich ein Mercedes-Benz-Werk, Airbus – Produktion und Raumfahrt – (EADS, OHB Technology) sowie Lebensmittelindustrie (Kraft Foods, Hachez (bis 2023), Brauerei Beck & Co., Kellogg’s Deutschland (bis 2018), Melitta-Kaffee). Im Bremer Schütting ist die Handelskammer Bremen – IHK für Bremen und Bremerhaven angesiedelt.
Wirtschaftsleistung.
Verglichen mit dem Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union erreichte Bremen 2014 einen Index von 161,0 (EU-28: 100,0 Deutschland: 126,0).
2017 betrug die Wirtschaftsleistung in der Freien Hansestadt Bremen gemessen am Bruttoinlandsprodukt rund 37 Milliarden Euro.
Bremerhaven ist ein wichtiger Standort der Offshore-Windenergie-Aktivitäten in Deutschland.
Energieversorgung.
→ "siehe Bremische Wirtschaft#Energiewirtschaft"
In der Freien Hansestadt Bremen werden mehrere Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen betrieben, die auch das niedersächsische Umland mit elektrischem Strom versorgen. In den beiden Städten Bremen und Bremerhaven ist jeweils eine Müllverbrennungsanlage in Betrieb, deren Abwärme für Fernheizung genutzt wird.
Bereits in den 1990er Jahren begann die Entwicklung der Erneuerbaren Energien. Bis 2013 wurden im Land selbst und in den umliegenden niedersächsischen Gemeinden Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von rund 195 MW angeschlossen, womit die Region hinsichtlich der Leistung pro Fläche eine Spitzenstellung in Deutschland einnimmt. Nach Angaben der Bundesnetzagentur waren Ende 2012 in der Freien Hansestadt Bremen 77 Windkraftanlagen mit einer Leistung von insgesamt 149 MW in Betrieb, was etwa 355 kW je km² Landesfläche bedeutet.
Tourismus.
→ "siehe Bremische Wirtschaft#Tourismus"
Verkehr.
Schiffsverkehr.
Bremen und Bremerhaven bilden zusammen den zweitgrößten Seehafen Deutschlands. Schwerpunkte in den Bremer Häfen sind hierbei insbesondere der Autoumschlag, Containerterminal und Fischereihafen in Bremerhaven sowie der Neustädter Hafen in Bremen. Die Hafenmanagementgesellschaft nennt sich Bremenports und befindet sich zu 100 % in Besitz der Stadtgemeinde Bremen, auch wenn sich ihr Zuständigkeitsbereich auf beide Städte und somit auch auf die Häfen in Bremerhaven erstreckt.
In der Freien Hansestadt Bremen bestehen mehrere Fährverbindungen über die Weser. Diese Verbindungen bestehen zwischen Bremerhaven und Nordenham, zwischen Bremen-Farge und Berne, zwischen Bremen-Blumenthal und Motzen, sowie zwischen Bremen-Vegesack und Lemwerder.
Eisenbahn.
Bremen und Bremerhaven sind durch eine elektrifizierte zweigleisige Haupteisenbahnlinie miteinander verbunden. Von Bremen Hauptbahnhof aus führen ferner Verbindungen nach Hamburg, Hannover, Uelzen, ins Ruhrgebiet, nach Delmenhorst–Oldenburg/–Osnabrück/-Nordenham und in den Stadtteil Vegesack, von wo aus die Farge-Vegesacker Eisenbahn den Stadtteil Blumenthal erschließt. Von Bremerhaven Hauptbahnhof aus führen Eisenbahnverbindungen nach Cuxhaven und nach Bremervörde/Hamburg. Der Bremer Hauptbahnhof ist in die zweithöchste deutsche Preisklasse eingestuft. Insgesamt gibt es in der Freien Hansestadt Bremen 27 Haltepunkte der Eisenbahn für den Personenverkehr sowie mehr als zehn Güter- und Rangierbahnhöfe.
Bis 2001 war auch Bremerhaven in das Fernverkehrsnetz der Deutschen Bahn eingebunden. Seitdem ist nur noch der Hauptbahnhof Bremen im nationalen und internationalen Fernverkehr erreichbar, die übrigen Verbindungen gehören zum Regionalverkehr. Die Hauptbahnhöfe Bremen und Bremerhaven sind Durchgangsbahnhöfe.
Straßen.
Beide Landesteile werden durch die Autobahn A 27 miteinander verbunden. Im Norden der Stadt Bremen verläuft die A 270 und im Stadtgebiet selbst ist derzeit der weitere Ausbau der A 281 geplant. Ferner tangiert die A 1 die Stadt Bremen.
Die Freie Hansestadt Bremen ist das erste und bisher einzige Bundesland mit einem durchgehenden Tempolimit von 120 km/h auf den durch das Hoheitsgebiet führenden Autobahnen.
Flugverkehr.
In Bremen-Neuenland befindet sich der internationale Flughafen Bremen. Bis 2016 befand sich in Bremerhaven-Luneort ein kleinerer Flugplatz, der Verkehrslandeplatz Bremerhaven-Luneort. Dieser wurde geschlossen, um Flächen für die Windkraftindustrie erschließen zu können und um den geplanten Offshore-Terminal Bremerhaven (OTB) zu realisieren. Der OTB wurde allerdings bis heute (2020) nicht gebaut.
Öffentliche Einrichtungen.
Bildung, Wissenschaft und Forschung.
Schulwesen
Hochschulen im Land Bremen
Wissenschaftliche Einrichtungen
Bremen hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Standort für Meereswissenschaften entwickelt. 2005 wurden Bremen und Bremerhaven vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zur "Stadt der Wissenschaft 2005" gewählt.
Sport.
→ "Sportanlagen und Sportvereine sind zu finden in den Artikeln zu den Stadt- bzw. Ortsteilen von Bremen und Bremerhaven."
Der Sport in der Freien Hansestadt Bremen wird in rund 450 Bremer und Bremerhavener Sportvereinen mit rund 160.000 Mitgliedern betrieben. Er wird vertreten durch den Landessportbund Bremen (LSB) als Dachverband, den Kreissportbünden Bremen, Bremen-Nord und Bremerhaven und den um die 50 Sportfachverbänden. Der Breitensport ist ein besonderes Anliegen. Organisatorisch sind Bremer und Bremerhavener Sportvereine oft eng mit denen aus Niedersachsen verzahnt.
Der älteste, noch bestehende Verein Vorwärts in Bremen wurde 1846 als Arbeiterbildungsverein von Zigarrenmachern gegründet und hatte seinen Sitz von 1853 bis 1973 im Haus Vorwärts.
Der älteste Verein in Bremerhaven wurde 1859 vom Pädagogen Justus Lion als Turnverein Bremerhaven gegründet, woraus 1919 der ATS Bremerhaven (ATSB) und 1972 der OSC Bremerhaven mit rund 4500 Mitgliedern (2013) hervorging.
Der größte und erfolgreichste Verein in Bremen ist der SV Werder Bremen mit rund 40.100 Mitgliedern (2021), gefolgt von Bremen 1860 mit ca. 6400 Mitgliedern (2016).
Religion.
Konfessionsstatistik.
Die größten Konfessionsgemeinschaften bilden (Stand 31. Dezember 2020) die evangelischen Kirchen (30,8 % der Bevölkerung) und die römisch-katholische Kirche (9,5 % der Bevölkerung). Rund 60 % der Bevölkerung bekennen sich zu keiner dieser beiden Glaubensgemeinschaften. Vorher waren die evangelische Kirche mit 33,5 % und die römisch-katholische Kirche mit 11,1 % der Bevölkerung größer (Stand 2017). 55,4 % der Bevölkerung bekannten sich in 2017 zu keiner dieser beiden Glaubensgemeinschaften (Statistik der EKD, Stand 31. Dezember 2017), die große Mehrheit von ihnen ist konfessionslos.
Evangelische Kirche.
Die Entwicklung der Religionszugehörigkeiten in Bremen folgt dem Trend der meisten der früher überwiegend von evangelischen Kirchenmitgliedern bewohnten Großstädte in Deutschland. Anfang des 20. Jahrhunderts noch die absolut dominierende und damit beherrschende Kirche (von über 90 Prozent Anteile) beläuft sich dieser Anteil mittlerweile auf ein Drittel.
Die evangelische Landeskirche (Bremische Evangelische Kirche in Bremen und Bremerhaven-Mitte) hat sowohl eine lutherische wie auch eine reformierte Tradition und ist somit eine unierte Kirche. Daneben gehören viele Christen in den übrigen Teilen Bremerhavens, die früher zum Königreich Hannover gehörten, zur Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.
Katholische Kirche.
Die römisch-katholischen Christen gehören zum Dekanat Bremen des Bistums Osnabrück (Bremen/südlich der Lesum) und zu den Dekanaten Bremerhaven und Bremen-Nord des Bistums Hildesheim (Bremerhaven und Bremen-Nord/nördlich der Lesum).
Altkatholische Kirche.
Es gibt eine Gemeinde der Altkatholischen Kirche, die zur Theresiendomgemeinde in Nordstrand gehört. Altkatholische Messen werden in der römisch-katholischen Kirche am Krankenhaus St.-Joseph-Stift abgehalten.
Freikirchen.
Daneben gibt es in Bremen noch eine Reihe von Freikirchen, darunter die Apostolische Gemeinschaft, die Neuapostolische Kirche und die Siebenten-Tags-Adventisten.
Zeugen Jehovas.
Ebenso sind die Zeugen Jehovas mit Gemeinden im Stadtgebiet vertreten.
Judentum.
In Bremen-Schwachhausen befindet sich eine Synagoge. In Hastedt ist der alte Jüdische Friedhof Deichbruchstraße und am Riensberg zwischen der H.-H.-Meier-Allee Nr. 80 und der Beckfeldstraße (Zugang) wurde im November 2008 der neue Jüdische Friedhof fertig gestellt. In Bremerhaven gibt es die "Jüdische Gemeinschaft Bremerhaven."
Islam.
Die Muslime sind in einer Vielzahl von Gemeinden und Vereinen organisiert. Die größte Moschee ist die "Fatih-Moschee" in Bremen – Gröpelingen. In Bremerhaven befinden sich u. a. die Moschee "Merkez Camii" in Lehe.
Nach den Zahlen von 2011 leben ca. 40.000 Muslime in Bremen, was einem Bevölkerungsanteil von 6 % entspricht.
Zu den in Bremen aktiven muslimischen Verbänden gehören:
Sonstige.
Schließlich leben in Bremen Angehörige asiatischer Religionsgemeinschaften in weniger festgefügten Organisationsformen, z. B. Buddhisten.
Der Eldaring e. V. (bundesweiter Verein des germanischen Neuheidentums) hat einen Herd und Stammtisch in Bremen, der sich monatlich trifft. |
556 | 2471595 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=556 | Baseball | Baseball ist ein Schlagballspiel mit zwei Mannschaften. Die Verteidiger bringen einen Ball ins Spiel, den die Angreifer mit einem Schläger treffen müssen. Wurde der Ball erfolgreich getroffen, können die Angreifer durch das Ablaufen von vier Laufmalen "(bases)" Punkte erzielen. Die Verteidiger versuchen dies zu verhindern, indem sie den geschlagenen Ball vorher zum Laufmal werfen.
Das amerikanische Baseball ist aus europäischen Schlagball-Varianten des 18. Jahrhunderts hervorgegangen. Auswanderer brachten das Spiel in die Vereinigten Staaten, wo ab Mitte des 19. Jahrhunderts die heutigen Regeln entwickelt wurden.
Die wirtschaftlich stärkste Profi-Liga der Welt ist die nordamerikanische Major League Baseball (MLB) mit einem Umsatz von über 10 Milliarden US-Dollar. Darüber hinaus genießt Baseball vor allem in Teilen Lateinamerikas und Ostasiens Popularität.
Spielprinzip und grundsätzliche Regeln.
"Es folgen die wichtigsten Regeln und eine Zusammenfassung des Spielprinzips. Mehr Details enthält der Artikel Baseballregeln."
Das Spiel Brennball ist eine stark vereinfachte Variante von Baseball und kann als Ausgangspunkt für das Verständnis des Baseballs dienen. Auch Cricket ist, trotz vieler Abweichungen im Detail, relativ eng mit dem Baseball verwandt.
Die Regeln des modernen Baseball-Spiels lassen sich auf ein Regelwerk zurückführen, das Alexander Cartwright unter dem Titel "Rules & Regulations of the Recently Invented Game of Base Ball as adopted by the Knickerbocker Base Ball Club on September 23, 1845" verfasste.
Baseball wird von zwei Teams zu je neun Spielern gespielt. Mehrfach abwechselnd hat ein Team das Schlagrecht "(Offense)" und kann "Runs" (Punkte) erzielen, während das andere Team in der Verteidigung "(Defense)" das Feld verteidigt und den Ball schnell unter Kontrolle zu bringen versucht. Ziel des Spiels ist es, mehr "Runs" zu erzielen als der Gegner. Die Spieler der "Offense" versuchen, den von der "Defense" geworfenen Ball zu schlagen und anschließend gegen den Uhrzeigersinn den nächsten sicheren Standpunkt "(Base)" zu erreichen. Wenn die Spieler der "Defense" den Ball schneller unter Kontrolle bringen, können sie dies verhindern und der Spieler der "Offense" scheidet aus. Wenn ein Spieler der "Offense" den Ball nicht trifft oder sich nicht auf einer "Base" befindet, kann er durch Berührung mit dem Ball aus dem Spiel genommen werden "(out)".
Ein "Run" wird erzielt, wenn ein Spieler der Offense alle drei Bases passiert und seinen Ausgangsstandpunkt "(Home Plate)" wieder erreicht hat. Wenn vom Team der Offense drei Spieler "out" sind, wechseln beide Mannschaften. Ein Durchgang (eine Mannschaft spielt Offense und Defense) wird als "Inning" bezeichnet. Nach neun Innings endet das Spiel.
Spielfeld.
Das Spielfeld besteht aus zwei Teilen und wird in der Regel durch eine Umzäunung begrenzt. Das so genannte "Fair Territory" hat normalerweise etwa die Form eines Viertelkreises, dessen gerade Kanten als Seitenauslinien "(Foul Lines)" zwischen 90 und 120 Meter lang sind. Der Bereich außerhalb der "Foul Lines" wird als "Foul Territory" bezeichnet (in der nebenstehenden Zeichnung blau dargestellt).
Die meisten Aktionen finden im "Infield" statt (in der Zeichnung oliv), einem Quadrat in der Spitze des Viertelkreises von 90 Fuß (27,43 m) Kantenlänge, dessen Ecken durch die drei "Bases" und die "Home Plate" markiert sind. Der Rest des "Fair Territory" heißt "Outfield" (in der Zeichnung grün dargestellt). Die Amerikaner nennen das Spielfeld wegen der Rautenform des "Infields" auch "Diamond" (Diamant, Raute, "Karo" bei Spielkarten).
Innings und Spieldauer.
Ein Spielabschnitt heißt Inning und besteht aus zwei "Half Innings" (Top & Bottom). Dabei ist im ersten Halbinning immer die Auswärtsmannschaft "Offense". Im zweiten Halbinning ist dann die Heimmannschaft am Schlag. Beide Mannschaften dürfen dabei in ihrem offensiven Halbinning jeweils so lange schlagen, bis drei ihrer Spieler ’out’ sind. Die Spieler der Offense treten in einer vor dem Spiel von ihrer Mannschaft festgelegten und den Schiedsrichtern bekanntgegebenen Reihenfolge (Batting Order) einzeln gegen den Pitcher an. Die Batting Order ist als eine Rotation zu verstehen, das heißt nach dem neunten Spieler der Batting Order geht wieder der erste Spieler an den Schlag. Dabei wird die Batting Order am Beginn eines Halbinnings nicht von vorne begonnen, sondern es schlägt der Spieler, der auf der Liste unter dem zuletzt (im vorigen Inning) schlagenden Spieler seiner Mannschaft steht. (Ausnahme: Das dritte "out" war ein anderer Runner, z. B. durch Pick-off und der Batter selbst ist nicht "out". In diesem Fall ist der Batter im nächsten Inning wieder am Schlag.)
Ein Spiel besteht im Regelfall aus neun solcher "Innings". Gemäß der 10-Run-Rule, welche in vielen Ligen Anwendung findet, wird das Spiel bei zehn oder mehr Punkten Führung am Ende eines Innings beendet, jedoch nicht früher als zweieinhalb Innings vor dem regulären Ende. In anderen Ligen kann es 15-Run- und 20-Run-Rules geben. Führt die Heimmannschaft am Ende des achten Innings und erzielen die Gäste in ihrem Teil des neunten nicht genügend Runs, um mindestens gleichzuziehen, so wird auf das zweite Halbinning – welches ohnehin nur noch Ergebniskosmetik liefern könnte – verzichtet, und das Spiel ist entschieden. Steht es nach der festgelegten Zahl von Innings unentschieden, so wird so lange jeweils um ein weiteres volles Inning verlängert "(Extra Inning)", bis eine Mannschaft gewinnt oder das Wetter, der Mangel an Pitchern oder auf unbeleuchteten Plätzen die Dunkelheit zum Abbruch bzw. zur Unterbrechung des Spiels führen.
In Japan und im "Spring Training" wird ein Spiel nach einer festgelegten Anzahl von Extra Innings als Unentschieden gewertet. In einigen Wettbewerben mit relativ großen Unterschieden in der Spielstärke der beteiligten Mannschaften – darunter die Olympischen Spiele – wird ein Spiel vorzeitig beendet, wenn eine Mannschaft eine bestimmte Anzahl von Runs in Führung liegt. Diese Regelung verhindert, dass die bessere Mannschaft übermäßig lange am Schlag bleibt, weil es der schlechteren Mannschaft nicht gelingt, innerhalb eines vernünftigen Zeitraums die nötigen drei 'out’ zu erzielen.
In deutschen Ligen werden teilweise auch "Double Header" gespielt, also zwei Spiele hintereinander. Je nach Liga sind in Deutschland 2×5, 2×7, 1×7 oder 1×9 Innings üblich. Seit 2008 werden in der deutschen Bundesliga Double Header mit 2×9 Innings gespielt.
In der US-amerikanischen "Major League Baseball" werden immer mindestens neun Innings gespielt (achteinhalb, wenn die Heimmannschaft in Führung liegt). Wenn ein Spiel abgesagt oder unterbrochen wird, etwa aufgrund schlechter Wetterverhältnisse, wird es an einem anderen Spieltag nachgeholt bzw. zu Ende gespielt, und zwar zusätzlich zu dem ursprünglich an diesem späteren Spieltag angesetzten Spiel (Double Header). Der Schiedsrichter entscheidet, ob ein Spiel wegen schlechter Wetterverhältnisse oder aus anderen Gründen abgesagt oder unterbrochen wird.
In den Baseball-Ligen unterhalb der Major Leagues (die so genannten "Minor Leagues") werden Spiele hingegen unter bestimmten Umständen, etwa bei schlechten Wetterverhältnissen, vorzeitig beendet und die aktuell führende Mannschaft zum Sieger erklärt. Es müssen allerdings mindestens fünf Innings gespielt worden sein (viereinhalb, wenn die Heimmannschaft in Führung liegt), anderenfalls wird das Spiel auch hier unterbrochen und zu einem anderen Zeitpunkt fortgesetzt.
Auch in den Minor Leagues werden abgesagte Spiele im Rahmen eines "Double Headers" nachgeholt, allerdings werden beide Spiele auf sieben Innings verkürzt. Wenn ein Spiel dagegen "unterbrochen" wird (dies geschieht beispielsweise dann, wenn weniger als fünf Innings gespielt wurden, aber das Spiel aufgrund schlechter Wetterverhältnisse nicht fortgesetzt werden kann), dann wird das unterbrochene Spiel an einem der darauf folgenden Spieltage zu Ende gespielt, und danach findet das ursprünglich angesetzte Spiel in voller Länge statt.
In den Minor Leagues werden im Gegensatz zu den Major Leagues auch heute noch recht häufig Spiele wegen schlechten Wetters abgesagt oder unterbrochen. Dies liegt zum Teil daran, dass die Stadien schlechter ausgestattet sind (keine Überdachung, schlechtere Beleuchtung, schlechterer Windschutz) oder die Spielfelder eine schlechtere Qualität besitzen (der Boden weicht bei Regen leichter auf). Die Eintrittskarten der Zuschauer verlieren bei abgesagten Spielen nicht ihre Gültigkeit, sondern können für den nächsten Spieltag eingelöst werden.
Pitcher vs. Batter.
Im Mittelpunkt des Spiels steht das Duell zwischen einem Batter der "Offense" und dem Pitcher der Feldmannschaft. Die Spieler der "Offense" treten in einer vorher festgelegten Reihenfolge ("Batting Order" oder auch "Lineup" genannt) einzeln gegen den Pitcher an. Dieser versucht, den Ball aus gut 18 m so durch die Strike Zone zu seinem Catcher zu werfen, dass der "Batter" ihn mit seinem Schläger nicht oder nur schwach schlagen kann. Die "Strike Zone" ist der Bereich über der 43 cm breiten "Home Plate", der oben und unten durch Brust- und Kniehöhe des Batters begrenzt ist. Gelingt es dem Pitcher, dreimal in die Strike Zone zu werfen, ohne dass der Batter den Ball trifft, ist der Batter out (sogenanntes "Strike Out". Vom Schiedsrichter hört man in diesem Fall vielfach: „Strike three; he’s out.“).
Für einen Strike muss der Ball allerdings nicht völlig verfehlt werden. Der Pitcher bekommt auch einen "Strike" zugesprochen, falls der Batter ein "Foul" schlägt. Wenn der Batter den Ball gerade noch eben – meist von unten – leicht trifft und dieser dann außerhalb des Spielfeldes aufkommt, etwa außerhalb der Seitenlinien, hinter der "Home Plate" oder auf der Tribüne, so ist dies ein "Foul" (dieser Begriff ist dabei nicht im Sinne einer Unsportlichkeit oder Regelwidrigkeit zu verstehen). Ein aus dem Stadion geschlagener Ball ist ebenfalls ein Foul, wenn er das Stadion nicht im Bereich des Spielfeldes, sondern links oder rechts davon verlassen hat. Der geschlagene Ball ist allerdings erst "Foul", wenn er außerhalb des Spielfelds den Boden berührt hat. Solange er sich in der Luft befindet, ist der Ball im Spiel und kann von einem Spieler der verteidigenden Mannschaft gefangen werden "(Fly out)". Dies kann zu spektakulären Situationen führen, wenn ein Spieler der verteidigenden Mannschaft bis zur Tribünenabsperrung läuft und hochspringt, um den Ball zu fangen, bevor er auf der Tribüne landet.
Eine wichtige Ausnahme dieser Regelung ist, dass ein "Foul" niemals als dritter Strike und somit als "Strikeout" zählen kann. Schlägt der Batter beim Stand von zwei "Strikes" ein "Foul", bleibt es bei zwei "Strikes" und der Wurf wird wiederholt. Gesondert behandelt wird allerdings der so genannte "Foul tip". Ein "Foul tip" zählt im Gegensatz zum "Foul" immer als Strike. Dieser wird gegeben, wenn der Batter den Ball nur hauchdünn trifft, sodass er in einer Linie in Richtung des "Catchers" weiterfliegt und dann direkt von diesem gefangen wird. Der Ball darf nur minimal abgelenkt werden und muss als erstes den Handschuh des Catchers berühren. Fliegt der Ball durch einen stärkeren Treffer dagegen in hohem Bogen in die Luft, bevor der Catcher ihn fängt, handelt es sich um ein "Fly out".
Trifft der Pitcher nicht in die "Strike Zone", so ist dies ein "Ball" (englische Aussprache). Hat allerdings der Batter bei einem solchen "Ball" geschlagen und diesen nicht getroffen, so zählt dies als "Strike" zu seinem Nachteil, obwohl die "Strike Zone" verfehlt wurde. Sieht der Batter indessen noch rechtzeitig, dass der Ball doch kein "Strike" sein wird, und hält mit dem Schwung ein "(Checked Swing)", so bleibt der Wurf ein "Ball". Der Schläger darf hierbei nur soweit geschwungen werden, bis er eine gerade Linie vom Batter weg darstellt. Da dies vom Home Base Umpire (Schiedsrichter) nicht immer klar gesehen werden kann, werden die 1st oder 3rd Base Umpires um ihr Urteil gefragt, da sie oft einen besseren Einblick auf den Schwung des Schlägers haben.
Die Kunst des Pitchers besteht andererseits darin, den Bällen einen Effet mitzugeben ("Curveball", "Slider", "Sinking Ball" etc.), so dass es dem Batter erschwert wird, einzuschätzen, ob der Pitch regelgerecht ist. So erlebt man es häufig, dass der Batter seine Schlagbewegung anhält, um dann vom Schiedsrichter (Umpire) belehrt zu werden, dass er einen Strike hat passieren lassen. Auch ein langsamer Wurf "(Changeup)" kann das Timing des Batters durcheinanderbringen, wenn er mit einem schnellen Pitch rechnet.
Unterlaufen dem Pitcher gegen einen "Batter" vier "Balls", so darf dieser auf die erste Base vorrücken. Das nennt man gemeinhin einen "Walk" (regelkorrekt: "Base on Balls"), weil der Batter in diesem Fall zur ersten Base gehen kann. Sollte auf dieser Base schon ein "Runner" stehen, so darf dieser auf die zweite Base vorrücken, da auf jeder Base jeweils nur ein Spieler stehen darf. Sind alle Bases besetzt "(Bases loaded)", dann kostet ein "Walk" zugleich einen Punkt "(Run)", da alle "Runner" eine Base weiterrücken, der Spieler auf der dritten Base also die "Home Plate" erreicht und somit einen "Run" erzielt.
Der Walk wird nicht selten auch bewusst (siehe Strategie) eingesetzt (Intentional Walk), wenn man gegen einen als hochklassig bekannten Batter – mit hohem Trefferdurchschnitt "(Batting Average)" und vielen Home Runs – lieber nicht pitchen möchte; dies gilt erst recht, wenn schon Bases besetzt sind und es zu mehreren Runs kommen könnte. Auf Zeichen seines Trainers "(Manager)" bewegt sich der Catcher, nachdem der Ball geworfen wurde, einen Meter neben die "Home Plate" und fängt dort vier vom Pitcher bewusst an der Homeplate vorbeigeworfene Bälle.
Geschlagener Ball.
Die interessantesten Situationen entstehen dann, wenn der Batter den Ball trifft und zurück ins Feld schlägt. Dadurch wird er zum "Runner" (Läufer) und muss zur ersten Base laufen.
Wird sein geschlagener Ball von einem Feldspieler direkt aus der Luft gefangen "(Fly Ball)", ist der Schlagmann selbst sofort "out" "(Fly Out)". Dabei ist es unerheblich, ob der Ball im Fair- oder Foul Territory gefangen wurde. Andere Runner auf dem Feld, die bereits vor dem Fly Out ihre Base verlassen hatten, müssen zu dieser zurückkehren und dürfen diese erst verlassen und zur nächsten "Base" laufen, nachdem der Ball im Handschuh des Feldspielers gelandet ist („Tag up“). Erzielt ein Läufer daraufhin einen Punkt, nennt man den (gefangenen) Flugball "Sacrifice Fly" (wörtlich „Opferflugball“), weil durch das „Opfer“ des Schlagmanns ("out" zu sein) der Mitspieler zur Home Plate vorrücken konnte.
Das "out" kann auch erzielt werden, wenn der mit dem Schläger nur gestreifte Ball steil hoch und dann hinter die Auslinie fliegt "(foul pop)". Der Ball ist dann im "Foul Territory" und etwaige Runner dürfen nicht weiterlaufen, die Verteidigung – meist der "Catcher" – darf den Ball jedoch dort fangen und damit das "Fly Out" machen. Dabei ist schon mancher Spieler, der sich ganz lang machen wollte, über die Barriere am Spielfeldrand den Zuschauern vor die Füße gefallen. Nach einem erfolgreichen Fang dürfen die "Runner" jedoch, wie bei jedem "Fly Out", laufen, sofern sie ein "Tag up" gemacht haben.
Der neue Runner ist ebenfalls out, wenn ein Feldspieler den Ball vom Boden („Ground Ball“) aufnimmt und zum ersten Baseman wirft und dieser den Ball fängt, während er das erste Base berührt und bevor der Batter/Runner selbst dort ankommt "(Ground Out)". Der Feldschiedsrichter "(Field Umpire)" entscheidet zwischen "safe" oder "out". Jeder Runner, der "out" ist, muss das Spielfeld verlassen und wieder auf der Spielerbank „(Dugout)“ Platz nehmen, bis er wieder neu als Batter an die Reihe kommt.
Jeder Runner, der gerade keine Base berührt, ist auch "out", wenn er von einem Feldspieler mit dem Ball selbst oder mit dem Handschuh berührt wird, in dem sich der Ball befindet "(Tag Out)". Das trifft nicht in den Fällen zu, in denen Läufer eine oder mehrere Bases vorrücken dürfen, ohne Gefahr zu laufen, "out" gemacht zu werden. Ein häufiges Beispiel hierfür ist ein Base on Balls mit Läufern auf den Bases. Hier dürfen die Läufer zur nächsten Base vorrücken und können dabei nicht "out" gemacht werden.
Wird ein Runner von einem geschlagenen Ball im Fair Territory getroffen, ist er "out". Dies trifft nicht zu, wenn der Ball schon an einem verteidigenden Spieler vorbeigegangen ist, der diesen Ball hätte spielen können. Der Batter bekommt in diesem Fall die erste Base zugesprochen.
Ein Runner ist "safe", wenn er eine Base erreicht, bevor die Feldmannschaft den Ball dorthin bringen kann. Er kann jederzeit versuchen, auch zwei oder drei Bases auf einmal weiter zu laufen, es darf sich allerdings höchstens ein Runner auf jeder Base befinden. Ein Runner ist auch automatisch "out", wenn er einen vor ihm laufenden Runner überholt.
Ein Schlag, der gut genug ist (fest oder locker geschlagen), um den Batter aus eigener Kraft eine Base erreichen zu lassen, wird "Hit" genannt. Schafft es der Batter durch seinen eigenen Schlag auf die erste Base, hat er ein "Single" erzielt. Schafft er es zur zweiten oder dritten Base, erzielt er entsprechend ein "Double" beziehungsweise "Triple". Ein Runner bleibt an einer Base, die er "safe" erreicht hat, bis ein neuer Batter zum Duell gegen den Pitcher antritt. Durch dessen Schlag können alle Runner dann weiter vorrücken oder sogar einen Run erzielen, in dem sie wieder sicher an der "Home Plate" ankommen. Schlägt ein "Batter" den Ball über den Außenzaun hinweg, so nennt man das einen "Home Run". Der Batter und alle eventuell sich gerade auf den Bases befindenden Runner dürfen die Bases in aller Ruhe ablaufen und je einen Run erzielen. Ein Schlagmann kann folglich mit einem "Home Run" maximal vier Punkte für seine Mannschaft verbuchen, nämlich für die "Runner" auf der ersten, zweiten und dritten "Base" und für sich selbst. Diese Maximalausbeute hat den Namen "Grand Slam Homerun".
Ein Home Run ist auch dann möglich, wenn der Ball das Feld nicht verlässt (ein sog. "inside the park homerun"). Dieser Fall ist jedoch sehr selten, weil dazu einerseits ein Batter der läuferischen Spitzenklasse (der auch ein exzellenter Kurzstreckler wäre) und zudem ein "Hit" nötig wären, bei dem sich der Ball extrem schwer unter Kontrolle bringen lässt. Meist sind dies Bälle in die wirklich hinterste Ecke des Feldes, nicht zuletzt solche, die erst nach dem Auftreffen im „Fair Territory“ ins "Foul Territory" rollen und damit der Regel nach "live", also noch im Spiel und nicht "foul" sind. Oft wirken dabei auch besondere, für die Verteidigung unglückliche Umstände mit, etwa ein Verspringen des Balles in eine nicht zu erwartende Richtung (sogenannter „bad hop“).
Allerdings ist nicht jeder Ball, der im Feld landet, damit auch schon ein "Hit", auch wenn der Batter die erste Base erreicht. Wäre der Schlag für die Verteidigung leicht abzufangen gewesen, so spricht man von einem "error" (leichter Fehler), etwa wenn ein nicht sonderlich hart geschlagener Ball direkt auf einen Verteidiger "(Fielder)" zufliegt und dieser ihn dennoch nicht fängt. Ob ein Error – also kein Hit – vorliegt, entscheidet übrigens keiner der Schiedsrichter "(Umpire)", sondern ein dafür bestellter Spielschreiber "(Official Scorer)". Es sollen nicht selten schon Spieler recht unglücklich mit dessen Entscheidung gewesen sein, gehen Errors doch zu Lasten ihrer Schlagstatistik "(Batting Average)". Auch wird kein Hit vergeben, wenn die Verteidigung den geschlagenen Ball unter Kontrolle gebracht, dann aber nicht den Batter ausmachen wollte, sondern das Out an einem vorauslaufenden Runner versucht. In diesem Fall spricht man von Fielder’s Choice (Wahl des Feldspielers), da ja im Regelfall der Batter das leichtere Out ist. Anders als die Runner kann er sich nicht schon vor dem Schlag von der Base lösen und hat somit einen längeren Weg zurückzulegen. Für den Spielstand selbst ist die Frage nach Hit oder nicht jedoch nicht von Bedeutung.
Base Stealing.
Ein Runner kann jederzeit versuchen, die nächste Base zu „stehlen“, also sie zu erlaufen, auch wenn der Ball vom Batter gar nicht geschlagen wurde. Eine typische Gelegenheit ist, wenn der Pitcher seine Wurfbewegung begonnen hat. Diese darf nicht unterbrochen werden. Der Runner versucht, eher an der nächsten Base anzukommen als der Ball, der vom "Pitcher" zum "Catcher" und von da aus zu der entsprechend angelaufenen "Base" geworfen wird.
Nicht zuletzt deshalb ist ein guter "Catcher" für eine erfolgreiche "Defense" von großer Bedeutung, denn er muss mögliche Spielzüge im Voraus erkennen und entscheiden, wohin der Ball am besten gespielt werden sollte, falls mehrere Gegner auf den Bases sind. Er muss erkennen, wo am leichtesten ein "Out" zu machen ist oder aber wo dies gerade am dringendsten benötigt wird. Natürlich muss er den Ball dann auch schnell und präzise dorthin werfen. Erfüllt er seine Aufgabe, so ist es durchaus möglich, mehrere Runner in einem Spielzug "out" zu machen ("Double Play" oder, sehr selten, "Triple Play").
Als taktisches Mittel ist "Base Stealing" vor allem bei einem knappen Spielstand, besonders bei Gleichstand, interessant, dies zumal in den späten Innings, weil so durchaus ein Spiel gewonnen werden kann, etwa wenn der stärkere Teil des eigenen "Batting Order" noch folgt und man hoffen darf, ein Batter werde für einen guten Hit sorgen können. Schafft es der Runner auf diese Weise etwa von der ersten auf die zweite Base, dann kann durchaus ein folgender langer Single genügen, um das Spiel zu gewinnen.
Positionen der Defensive.
Die verteidigende Mannschaft besteht aus 9 Spielern, jeder mit einer eigenen Position auf dem Spielfeld und teilweise verschiedenen Aufgaben. Die Position ist dabei – abgesehen von Pitcher (Werfer) und Catcher (Fänger) – nicht fest, so steht beispielsweise der "3rd Baseman" in der Nähe der dritten Base, es kommt aber auf die aktuelle Spielsituation und den derzeitigen Batter (Schlagmann) an, ob er nun weiter im "Infield" oder Richtung "Outfield" orientiert ist bzw. eher rechts von der Base steht. Die Positionen und deren Aufgaben im Einzelnen:
Die Nummer, die jeder Position zugeordnet ist, dient hauptsächlich der statistischen Erfassung der Spielzüge. Hierzu zwei Beispiele:
Schiedsrichter.
Schiedsrichter heißen beim Baseball "Umpire". Umgangssprachlich werden sie auch mit "Ump" oder "Blue" angesprochen. Letzteres ist auf die traditionell blauen Hemden der Umpire zurückzuführen.
Ein Spiel wird in der Regel von zwei Schiedsrichtern geleitet. In den amerikanischen Profiligen sind vier "Umpire" (für jede "Base" einen) an der Tagesordnung. Während der "Play-offs", also der Meisterschaftsrunde der MLB, werden sogar sechs Schiedsrichter eingesetzt, das heißt ein Schiedsrichter zusätzlich an den Foullines, um auch im "Outfield" auf oder um die "Foulline" auftreffende Bälle sicher zu bewerten und die Entscheidung "Fair Ball" oder "Foul Ball" fällen zu können.
Der Hauptschiedsrichter "(Plate Umpire)" steht immer hinter dem "Home Plate", wo er entscheidet, ob der "Pitcher" einen "Strike" oder einen "Ball" geworfen hat. Obwohl der "Plate Umpire" im Zweifelsfall das letzte Wort hat, vergewissert er sich mitunter bei seinen Kollegen, bevor er seine Entscheidung fällt. Dies gilt beispielsweise bei der Frage, ob der Batter nur zum Schlag angesetzt hat "(Checked Swing)" oder ob er versucht hat, den Ball zu schlagen. Er muss außerdem entscheiden, ob ein Runner die "Home Plate" sicher erreicht, also einen Run erzielt hat. Der oder die anderen Schiedsrichter arbeiten im Feld. Wenn es nur einen oder zwei Feldschiedsrichter gibt, müssen diese jeweils in die Nähe derjenigen Base laufen, an der sie die nächste Aktion erwarten und somit eine gute Position und Entfernung zum "Base" wichtig ist.
Auf Grund der vielen zu treffenden Tatsachenentscheidungen einerseits und des sehr umfangreichen Regelwerkes mit unzähligen Sonderregelungen andererseits werden unerfahrene "Umpire" (vor allem in niederen deutschen Ligen) in Diskussionen verwickelt. Während Proteste der Spieler und Trainer beispielsweise beim Fußball so gut wie nie zu einer nachträglichen Änderung der Entscheidung führen, kann es beim Baseball (wie auch beim Football) zu einer Entscheidungsänderung kommen. Bei Protesten kann es passieren, dass die Trainer der Teams zusammen mit den "Umpire" und eventuell auch dem Scorer, möglicherweise auch unter Zuhilfenahme des Regelbuches, die vergangene Spielsituation rekapitulieren und im Falle der Feststellung einer offensichtlichen Fehlentscheidung am Ende vom "Umpire in Chief" (oder auch "Crew Chief") eine andere als die ursprüngliche Entscheidung getroffen wird.
Ab der Saison 2014 wurde in der amerikanischen Profiliga der Videobeweis im Baseball als Letzte der vier großen amerikanischen Sportarten (Baseball, Basketball, Football und Eishockey) eingeführt. Hierfür wurde in New York ein Kontrollzentrum eingerichtet, in dem ein Schiedsrichter jeweils maximal vier Spiele des Ligabetriebs gleichzeitig beobachtet und im Falle eines Einspruchs durch einen Manager eines Teams mittels Videoaufnahmen über die Spielsituation entscheidet. Die Manager der Teams dürfen bis zum 6. Inning maximal zweimal Einspruch gegen eine Tatsachenentscheidung aus einem von der Ligastelle definierten Katalog von Entscheidungen erheben (das zweite Mal nur bei erfolgreichem ersten Einspruch). In diesem Fall geht die Entscheidungsgewalt auf den Schiedsrichter im New Yorker Kontrollzentrum über, der die Entscheidung der Feldschiedsrichter bestätigen, widerrufen oder als nicht bewertbar (nonconclusive) einordnen kann. Diese Entscheidung ist bindend und kann nicht von einem Feldschiedsrichter geändert werden. Ab dem 7. Inning obliegt die Entscheidung, ob ein Videobeweis zur Hilfe genommen wird, den Feldschiedsrichtern.
Scorer.
Ein "Scorer" am Spielfeldrand protokolliert alle Aktionen und Spielzüge auf einem vorgefertigten Formular, dem Scoresheet. Das ausgefüllte Scoresheet dient nicht nur als Spielbericht. Auf der Basis der Scoring-Aufzeichnungen werden zudem umfangreiche Statistiken erstellt, die Auskunft über Spielstärke von Mannschaften und Einzelspielern geben.
Spielgeräte, Ausrüstung.
Ball.
Der Ball hat einen Durchmesser von etwa 7,4 Zentimetern, der Umfang muss mindestens 22,8 Zentimeter (9 inches) und darf höchstens 23,5 Zentimeter (9 1/4 inches) betragen. Das Gewicht soll nicht weniger als 141,7 Gramm (5 ounces) und nicht mehr als 148,8 Gramm (5 1/4 ounces) sein. Er ist also etwas größer als ein Tennisball. Der Baseball ist von zwei Stücken weißem Leder umhüllt, die mit roten Fäden zusammengenäht sind. Er ist nicht mit Luft aufgepumpt, sein Inneres besteht aus einem Korkkern und äußerst dicht darum gewickeltem Faden. Dadurch wird der Ball sehr hart, weshalb die Schlagmänner "(Batter)" schon lange Schutzhelme und die "Catcher" und "Plate Umpires" stabile Schutzmasken tragen.
Nicht zuletzt wegen dieser Härte des Balls kommt es manchmal zu – oft handgreiflichen – Kontroversen "(Charging the Mound)", wenn ein vom "Pitcher" geworfener Ball den "Batter" zum Ausweichen zwingt "(Brushback Pitch)" oder am Körper oder gar an Hals oder Kopf trifft "(Beanball/Hit by Pitch)". Da man jedem Pitcher so viel Präzision zutraut, dass er dies vermeiden kann, unterstellen die Gegner in solchen Fällen schnell Absicht (etwa Revanche wegen eines vom Pitcher gesehenen unfairen Verhaltens des Batters).
Die in Profispielen verwendeten Bälle – insbesondere solche, mit denen herausragende Schläge erreicht wurden – gelten als begehrte Sammelstücke. Anders als etwa im Fußball dürfen in den höheren Ligen auf die Tribüne geschlagene Bälle (z. B. Homeruns oder auch Foul Balls) von den Zuschauern als Souvenir behalten werden. In manchen Stadien werfen die einheimischen Fans jedoch einen Homerun-Ball des Gegners wieder auf das Feld zurück, um ihren Unmut auszudrücken.
Schläger.
Ein Baseballschläger besteht aus Holz oder einer Aluminiumlegierung. Selten sind auch Schläger aus Carbon anzutreffen. In Profiligen und in der deutschen ersten und zweiten Bundesliga dürfen ausschließlich Holzschläger verwendet werden, in den meisten anderen Amateurligen sind auch Schläger aus anderen Materialien erlaubt. In den US-amerikanischen Colleges sind Aluminiumschläger vorgeschrieben.
Zum Warmschwingen wird ein Gewichtsring ("Bat Weight", inoffiziell meist "Doughnut" genannt) oder ein „Batsock“ (ein kurzer, schwerer Schlauch, der die gleiche Funktion wie der "Doughnut" hat) verwendet. Dieser wird auf den Schläger geschoben, um beim Warm-up direkt vor dem Schlagversuch ein höheres Gewicht am Schläger zu bekommen. Er bewirkt, dass der Schläger sich ohne den "Doughnut" leichter anfühlt und die Schlaggeschwindigkeit zunimmt.
Handschuhe.
Jeder Spieler der Feldmannschaft trägt zum Fielden (Aufnehmen) oder zum Fangen einen Lederhandschuh, welcher das leichte und schmerzfreie Fangen des Balles ermöglicht. Die im Infield stehenden Spieler tragen, auf Grund der Schnelligkeit im Infield, einen etwas kleineren Handschuh als jene drei Outfielder. Nur der Fanghandschuh des "First Baseman" ist etwas größer als jene der Anderen. Der "Catcher" trägt einen besonders gepolsterten Handschuh "(Mitt)", um die vom "Pitcher" teilweise sehr hart geworfenen Bälle zu fangen.
Der Schlagmann trägt gewöhnlich ein Paar dünne Lederhandschuhe "(Batting Gloves)", um Blasen an den Fingern zu vermeiden, einen besseren Griff zu haben und die Vibration beim Auftreffen des Baseballs auf den Schläger zu mindern, was wiederum Schmerzen erspart. Manche Schlagmänner benutzen auch nur einen oder gar keinen Schlaghandschuh.
Schlaghelm.
Batter und Runner tragen Kunststoffhelme oder auch Glasfaserhelme, um vor Kopftreffern mit dem Ball geschützt zu sein. Auf der dem Pitcher zugewandten Seite bedecken diese auch das Ohr, im Jugendbaseball sogar beide Ohren.
Catcher-Ausrüstung.
Der Catcher trägt zusätzliche Schutzausrüstung, da er hinter dem Batter in der Hocke sitzt und vor nicht getroffenen oder abgefälschten Bällen geschützt sein muss. Seine Ausrüstung besteht aus einem noch größeren und stark gepolsterten, fingerlosen Fanghandschuh, einer Gesichtsmaske, einem Helm, einem Brustschutz, einem Genitalschutz und Knie- und Schienbeinschützern. Helm und Gesichtsmaske können leicht abgeworfen werden, etwa wenn der Catcher einen "Fly Ball" fangen muss und dafür freie Sicht braucht.
Der hinter ihm leicht in der Hocke stehende Plate Umpire ist ähnlich geschützt, trägt aber keinen Handschuh. Außerdem wird die Schutzbekleidung vom Plate Umpire unter der Kleidung getragen.
Softball.
Softball ist eine Variante von Baseball. Dabei wird der Ball vom Pitcher nicht von oben geworfen, sondern mit einer Kreisbewegung von unten. Einige Regeln unterscheiden sich vom Baseball, das Spielprinzip ist aber identisch. Baseball wird zur Unterscheidung vom Softball manchmal auch "Hardball" genannt.
Das Spielfeld beim Softball ist etwa ein Drittel kleiner als beim Baseball. Ebenso sind die Bases nur 60 Fuß (18,29 Meter) voneinander entfernt. Die Schläger sind meistens etwas dünner und leichter.
Der Name des Spiels ist irreführend: Der Ball selbst ist größer als ein Baseball, aber genauso hart. Er kann nur wegen seiner Größe nicht ganz so hart geworfen und geschlagen werden.
In den USA wird freizeitmäßig von Erwachsenen vorwiegend Softball gespielt, Baseball dagegen von Profis und männlichen Schülern und Studenten; Frauen spielen meist Softball.
Es gibt zwei Versionen von Softball, "Fastpitch Softball" und "Slowpitch Softball".
Fastpitch Softball.
Beim "Fastpitch Softball" kann der Ball beliebig hart geworfen werden. Diese Variante wird üblicherweise von den Damen in Schulen und Universitäten, sowie von Damen und Herren in ambitionierten Amateurligen gespielt, auch in allen deutschen Damenligen. Damen-Fastpitch-Softball ist seit 1996 olympische Disziplin. Neben den USA (Olympiasieger 1996, 2000, 2004) gehören Japan (Olympiasieger 2008) und Australien zu den besten Nationalteams der Welt.
Slowpitch Softball.
"Slowpitch Softball" ist die „Freizeitvariante“ des Softball, bei dem der vom Pitcher geworfene Ball einen deutlichen Bogen beschreiben muss. Der Ball muss unterhalb der Gürtellinie des Werfers losgelassen werden und auf dem Weg zum Schlagmann über Kopfhöhe fliegen, er beschreibt im Flug also einen „hohen Bogen“ – was ihn unter Umständen schwer zu treffen macht, denn er kann wegen des Bogens sehr steil in die Schlagzone fliegen. Base Stealing und einige andere Variationen sind beim Slowpitch Softball nicht erlaubt. Slowpitch Softball wird in Deutschland meistens in Turnierform gespielt oder als organisierter Ligabetrieb in der Rhein-Main- und Rhein-Neckar-Liga.
Besonderheiten des Baseballsports.
Keine Begrenzung der Spieldauer.
Baseballspiele haben keine Zeitbegrenzung. Es wird eine festgelegte Zahl von Spielabschnitten (Innings) gespielt. Ein Unentschieden ist nicht möglich, da bei Gleichstand nach Absolvieren der neun bzw. sieben Innings so lange einzelne "Extra Innings" gespielt werden, bis ein Sieger feststeht. In der japanischen Profiliga wurde dies geändert; hier kann ein Spiel nach drei "Extra Innings" unentschieden enden.
Es ist im Baseball nicht möglich, durch besondere Spielweise eine Führung „über die Zeit zu retten“.
In der Major League Baseball (MLB) wird für die Tabelle nur die reine Zahl der Spiele (gewonnen/verloren) gezählt. Es ist dennoch schon mehrfach vorgekommen, dass es zum Saisonende Gleichstand zwischen zwei Clubs gab und dann noch ein "One Game Playoff" (Entscheidungsspiel), bzw. eine Best-of-three-Serie in der National League vor 1969, um die Teilnahme an den Play-offs ausgetragen werden musste.
Bei der in der Major League Baseball aufwendig geführten Statistik (Hits, Runs, Home Runs, Stolen Bases bzw. beim Pitching Strikeouts und Walks, um nur einen Teil zu nennen) wäre ein Gleichstand in der Abschlusstabelle unwahrscheinlich, würde man all dies werten, zumal bei der hohen Zahl von in der Regel 162 Spielen pro Saison.
In Deutschland gibt es „Gnadenregeln“ "(Mercy Rules)", nach denen bei deutlichem Vorsprung einer Mannschaft das Spiel vorzeitig beendet werden kann. Auch können die Landesverbände in den Ligen unterhalb der Verbandsliga die Spieldauer begrenzen – aber auch in diesem Fall muss bei Spielende ein Sieger feststehen.
Verbindung von Mannschafts- und Individualsportart.
Baseball gilt gemeinhin als Mannschaftssport. Beim Duell gegen den Pitcher tritt ein Batter einzeln an. Seine Mitspieler können seine Leistung oder den Erfolg seines Einsatzes nicht beeinflussen. Aus dieser Perspektive lässt sich Baseball auch als Kombination aus Mannschafts- und Individualsport verstehen.
Strategie, Wiederholung der Ausgangssituation.
Das Spielprinzip von Baseball baut auf dem Duell zwischen Pitcher und Batter auf. Die Ausgangs- und Randbedingungen für diesen Zweikampf (z. B. Links- oder Rechtshänder, welche Bases sind besetzt, wie viele Strikes, wie viele Balls, wie viele Outs) wiederholen sich im Laufe eines Spieles viele Male. Das erhöht die Bedeutung von strategischen Mitteln im Vergleich zu Sportarten, in denen aufgrund variabler Situationen eher intuitiv bis taktisch gehandelt wird.
Daraus resultiert auch die Möglichkeit, statistische Mittel auf die Bewertung der Leistungsfähigkeit eines Spielers oder einer Mannschaft anzuwenden. Beispielsweise entspricht der "Schlagdurchschnitt" "(Batting Average)" der Zahl der geglückten Schläge "(Base Hits)" dividiert durch die Zahl der Schlagversuche "(At Bats)". Er gilt bei ausreichend großer Anzahl von Messungen als halbwegs aussagekräftiger Parameter zur Fähigkeit eines Batters. Neben diesen traditionellen, eher intuitiven Statistiken versucht die moderne Denkschule der "Sabermetrics" stärker für Sieg oder Niederlage aussagekräftige Statistiken durch mathematische Analysen zu begründen.
Pitcherwechsel.
Typische taktische Mittel sind etwa das Einwechseln eines anderen Pitchers, wenn ein bestimmter Batter an den Schlag kommt – z. B. die Einwechslung eines linkshändigen Pitchers gegen einen linkshändigen Batter –, oder in der Offensive das Einwechseln eines Ersatzmannes als Batter "(Pinch Hitter)". Auch ein anderer (schnellerer) Läufer "(Pinch Runner)" ist oft erwünscht, etwa bei einem knappen Spielstand, um den entscheidenden Run zu machen oder eine Base zu stehlen. Herb Washington, der ausschließlich als Pinch Runner eingesetzt wurde, bestritt auf diese Weise 131 MLB-Spiele.
Intentional Walk.
Hiermit bezeichnet man das bewusste Werfen von vier "Balls" durch den Pitcher, um nicht gegen einen Batter pitchen zu müssen, den die verteidigende Mannschaft als besonders gefährlich einschätzt. Der Pitcher lässt damit den Batter mit Absicht zur ersten Base vorrücken, ohne ihm einen Hit zu ermöglichen. In der MLB geht der Batter direkt zur ersten Base, ohne dass ein Ball geworfen werden muss, wenn dies der Trainer der gegnerischen Mannschaft wünscht. Diese Taktik wird oft gegen Spielende und bei Punktegleichstand oder einer knappen Führung eingesetzt, insbesondere dann, wenn nur noch ein oder zwei Outs nötig sind, um das Inning für die verteidigende Mannschaft zu beenden. In diesen Situationen ist es besonders wichtig, einen Punkt der gegnerischen Mannschaft zu verhindern. Mit dem Intentional Walk vermeidet der Pitcher die Konfrontation mit einem besonders starken Batter, gibt der gegnerischen Mannschaft aber durch den zusätzlichen Baserunner die Möglichkeit, bei einem nachfolgenden Hit noch mehr Runs zu erzielen. Ein Intentional Walk wird nur sehr selten eingesetzt, wenn alle Bases leer sind oder der Baserunner, der der Home Plate am nächsten ist, durch den Walk eine weitere Base vorrücken würde, denn dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die gegnerische Mannschaft bei einem darauf folgenden Hit einen Punkt erzielt. Bevorzugt wird er dagegen eingesetzt, wenn sich bereits Baserunner auf der zweiten oder dritten Base befinden, die erste Base aber unbesetzt ist. Dadurch ergibt sich für die verteidigende Mannschaft die gute Möglichkeit für ein Double Play, da dieses bei einer besetzten ersten Base am wahrscheinlichsten ist.
Bunt.
Als "Bunt" bezeichnet man eine spezielle Schlagtechnik. Dies ist – fast nur – ein „Wegschieben“ des Balls, wobei der Batter blitzschnell die typische Schlaghaltung aufgibt und den Schläger in eine Schräghaltung bringt, um den Ball fast nur „abtropfen“ zu lassen. Der Ball bleibt dabei meist im "Infield". Andererseits gehört es zur Taktik der Defensive, in Situationen, die nach einem "Bunt"-Versuch „riechen“, sehr eng zum Infield hin aufzurücken, um den Ball möglichst schnell aufzunehmen und um die Laufwege zu verkürzen. Für den Batter ist der Versuch eines Bunts ein Risiko, wenn er bereits zwei Strikes hinnehmen musste. Ein Bunt, der im "Foul territory" landet, zählt im Gegensatz zu einem normal geschlagenen Foul immer als Strike.
Ziel des "Bunt" als Spielzug ist es, in knappen Situationen (etwa Gleichstand im achten oder neunten Inning) mit allen Mitteln einen "Run" zu erzielen oder wenigstens wesentlich vorzubereiten. Mit dem "Bunt" geht es vor allem darum, den Ball an eine Stelle zu befördern, wo es für die Gegner gerade lange genug dauert, ihn aufzunehmen und gegebenenfalls weiterzugeben, damit der/die eigenen Runner eine Base aufrücken können.
Sehr häufig ist dabei der "Sacrifice Bunt", weil der Batter zwar wie üblich versucht, die erste Base zu erreichen, was ihm bei dem eben typischerweise kurz angelegten Ball oft nicht gelingt, da dieser doch recht schnell dorthin kommt und so dort ein out gemacht werden kann. Hat einer seiner Mitspieler unterdessen als Runner die nächste Base besetzt, ist der Zweck des "Sacrifice" erreicht. Der Batter hat sich also für die bessere Position seiner Mannschaftskameraden „geopfert“.
Squeeze Play.
In manchen Fällen wird der "Suicide Squeeze" angewandt. Dies bedeutet, dass der Läufer aus dem Lead der dritten Base mit der Pitchbewegung in Richtung Homeplate losläuft – also noch bevor der Ball die Wurfhand des Pitchers verlassen hat. Der Batter muss nun mit aller Gewalt versuchen, den Ball ins Feld zu befördern, damit der Run zählt – auch wenn der Pitch weit an der "Strike Zone" vorbeigeht, wird er versuchen, diesen noch irgendwie zu treffen. In den meisten Fällen versucht der Batter den Ball zu bunten. Gelingt es dem Batter nicht, den Ball ins Feld zu befördern, hat man in einer „Selbstmordaktion“ gewissermaßen seinen Runner geopfert, da der Catcher nun einfach den Runner mit dem Ball berühren muss, bevor dieser die Homeplate erreicht.
Bei einem "Safety Squeeze" beginnt der Runner aus dem Lead der dritten Base erst nach dem Bunt in Richtung Homeplate loszulaufen. Meistens wartet er, bis er Gewissheit hat, dass der Ball in einer Region ist, die es der Defense schwierig macht, das "out" an der Home Plate zu erreichen.
Keine Strafen.
Mit wenigen Ausnahmen gibt es im Baseball keine Strafen. Im Falle regelwidriger Handlungen eines Spielers lassen die Schiedsrichter meist das Spiel von der Situation aus wieder aufnehmen, die ohne regelwidrige Handlungen herbeigeführt worden wäre. Fouls (nicht "Foul Balls", sondern Fouls im Sinne von gezielt eingesetzten, regelwidrigen Unsportlichkeiten) sind im Baseball recht selten. Dennoch kommt es in Begegnungen nicht selten zu Diskussionen, bei denen einzelnen Spielern vorgeworfen wird, sich unsportlich verhalten zu haben. Obwohl Baseball prinzipiell ein körperkontaktloser Sport ist, geben Situationen, bei denen sich Gegenspieler rempeln oder behindern, Anlass zu Auseinandersetzungen.
Hierzu zwei typische Szenarien:
Man kann sich leicht vorstellen, dass bei beiden Situationen der Unterschied zwischen einem fairen und einem übertriebenen Einsatz – oder sogar bewussten Attackieren – nicht immer einfach ist.
Bei grob regelwidrigem Verhalten kann ein Spieler vom Feld gestellt werden "(Ejection)". Verweise vom Feld bzw. aus dem Spiel können auch gegen Spieler auf der Bank oder gegen Trainer bzw. Manager ausgesprochen werden, die sich unsportlich verhalten (z. B. Beleidigungen oder Pöbeln). Die Umpire können auch Pitcher des Feldes verweisen, die entweder ihrer Ansicht nach absichtlich oder im Laufe des Spiels häufiger Batter abgeworfen haben. Das Treffen des Batters mit dem Ball durch den Pitcher wird als Hit by Pitch bezeichnet.
Allgemeines zur Terminologie.
Terminologie in Deutschland.
Baseball hat, wie jede andere Sportart, eine eigene Terminologie. Praktisch alle Fachbegriffe stammen aus dem Ursprungsland USA und werden in deutschsprachigen Ländern unverändert verwendet. Einzelne Versuche, Fachbegriffe einzudeutschen, schlugen fehl. Heute ist die starke Anglifizierung der Baseball-Sprache in Deutschland grundsätzlich akzeptiert. In anderen Ländern wie den Niederlanden oder Frankreich haben Begriffe in der Landessprache die englischen weitgehend ersetzt.
Einfluss auf die amerikanische Sprache.
In seinem Herkunftsland USA hat Baseball durch seine Historie die englische Alltagssprache beeinflusst, so dass heute einige Fachbegriffe in anderem Kontext verwendet werden. "to touch base" bedeutet so viel wie "kurzen Kontakt aufnehmen", "to throw someone a curve ball" bedeutet "jemanden auf dem falschen Fuß erwischen", wohingegen ein „soft ball“ eine (beabsichtigt) einfache Frage ist und "to go to bat" heißt (in entsprechendem Zusammenhang) "sich einsetzen, etwas bewegen", auch "to go to bat for someone": "jemandem helfen; sich für ihn einsetzen". Auch diverse Lebensweisheiten werden oft mit Baseballausdrücken formuliert; "keep your eye on the ball" bedeutet beispielsweise "lass dich nicht ablenken".
In Kalifornien und einigen anderen US-Bundesstaaten gibt es seit Mitte der 1990er Jahre eine Gesetzgebung unter dem Motto „three strikes and you’re out“, die den Richtern bei jedem zum dritten Mal straffällig gewordenen Täter die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zwingend vorschreibt, auch wenn es sich um kleinere Delikte handelt.
Baseball hatte in den USA bis in die 1970er Jahre eine so hohe Popularität gegenüber American Football und Basketball, dass mit den generischen Begriffen "Ballplayer", "Ballgame" und "Ballpark" auch heute noch ein "Baseballspieler", ein "Baseballspiel" bzw. ein "Baseballstadion" bezeichnet wird.
Baseball kommt in der amerikanischen Jugendsprache eine ganz besondere Rolle als Grundlage von Metaphern für romantische und sexuelle Aktivität zu. Dabei wird der Grad der Aktivität durch Bezüge auf die Bases im Baseball zum Ausdruck gebracht. So redet man zum Beispiel davon, mit dem Partner auf der „First Base“ gewesen zu sein, wenn man sich geküsst hat, „Second Base“ steht in der Regel für intensives Berühren des Körpers und „Third Base“ für Oralverkehr, während das Erreichen der „Fourth Base“ oder ein „Homerun“ für vollzogenen Geschlechtsverkehr steht. Diese Metaphern sind in Amerika so weit verbreitet, dass sie allgemein verständlich sind, durch ihre harmlose, quasi-euphemistische Natur dabei aber problemlos ‚aussprechbar‘ bleiben. Die Anspielungen werden deswegen auch in Schulen zur Sexualerziehung eingesetzt.
Spielbetrieb.
Spielbetrieb in Deutschland.
Heute sind knapp 30.000 Spieler in Deutschland aktiv.
Der Deutsche Baseball und Softball Verband organisiert mit seinen Landesverbänden den Spielbetrieb in verschiedenen Ligen:
Baseball Herren:
Softball Damen:
In Europa wird mit dem hierzulande im Sportbetrieb allgemein üblichen Auf- und Abstieg gespielt, während dieses in den USA praktisch unbekannt ist.
Hinzu kommen Nachwuchsligen in den Altersklassen (Klein-)Kinder (B-Ball) (3–6 Jahre), Kinder (T-Ball) (4–8 Jahre), Schüler (9–12 Jahre), Jugend (13–15 Jahre) und Junioren (16–18 Jahre). Im Softball gibt es die Altersklassen der Kinder (5–9 Jahre), Schülerinnen (10–13 Jahre), Jugend (14–16 Jahre) und Juniorinnen (17–19 Jahre).
Parallel zum Ligabetrieb wurde von 1993 bis 2006 der DBV-Pokal ausgespielt. In diesem im K.-o.-System ausgetragenen Wettbewerb wurde der Pokalsieger ermittelt. Qualifiziert waren jeweils die Gewinner der Pokalwettbewerbe der Landesverbände.
Nach einem massiven Wachstum während der 1990er Jahre ist die quantitative Entwicklung des Baseball in Deutschland seit etwa 2004 rückläufig. Die Mehrzahl der deutschen Baseball-Vereine besitzen keine stabilen Führungs- und Mitgliederstrukturen. Sie sind von einem oder wenigen engagierten Ehrenamtlichen abhängig und nach deren Weggang häufig in ihrer Existenz gefährdet. Ebenso kann der Abstieg einer Mannschaft die Existenz eines gesamten Vereins gefährden.
In den landesweiten Massenmedien ist deutscher Baseball praktisch nicht präsent. Der Versuch, eine deutsche Baseball-Liga durchgängig im Fernsehen zu präsentieren (1990 durch den DSF-Vorgänger Tele 5), schlug fehl. Dies lag unter anderem auch daran, dass Baseball grundsätzlich nur mit hohem Aufwand fernsehgerecht einzufangen ist (Zahl der Kameras etc.). Spiele der amerikanischen Profiligen (National und American League bilden zusammen die Major League Baseball) wurden aber von einigen Bezahlfernsehsendern angeboten. Eine sehr ausführliche Berichterstattung, auch mit Live-Spielen, bot in Deutschland der Sender ESPN America. Seit dessen Einstellung berichtet der Bezahlsender Sport1 US über die Major League Baseball und zeigt ein bis zwei Spiele pro Woche live. Zusätzlich kann man mit einem Abonnement des Streamingdienstes mlb.tv sämtliche Spiele der amerikanischen Profivereine live empfangen.
Aufgrund der mangelnden Medienpräsenz ist das Interesse von möglichen Sponsoren in der Regel gering und meist regional beschränkt. In vielen Fällen von finanzieller Unterstützung rechnen Unternehmen nicht mit einer Werbewirkung, es handelt sich daher eher um Mäzenentum. Qualitativ entwickelt sich der Baseball-Sport in Deutschland stetig weiter. Die jüngsten Erfolge bei europäischen Meisterschaften (insbesondere in der Jugend) zeigen die steigende Leistungsfähigkeit des deutschen Baseball. 2019 konnte mit den Heidenheim Heideköpfe erstmals eine deutsche Mannschaft den CEB Cup (vergleichbar mit der Europaleague im Fußball) gewinnen. Im selben Jahr gewann die U 15-Nationalmannschaft zum dritten Mal in Folge die Junioren-EM, während die U 23-Nationalmannschaft Vizeeuropameister wurde.
Spielbetrieb in Österreich.
Heute sind knapp 3000 Spieler in Österreich aktiv.
Die "Austrian Baseball Federation" (ABF) organisiert mit seinen Landesverbänden den Spielbetrieb in verschiedenen Ligen:
Baseball Herren:
Softball Damen:
Hinzu kommen noch diverse Nachwuchsligen in den Altersklassen Junioren (16–18 Jahre), Jugend (14–16 Jahre), Pony (12–14), Schüler (10–12 Jahre) und Kinder (6–10 Jahre), sowie die Österreichischen Nachwuchsmeisterschaften (Junioren, Jugend, Schüler, Kinder). Einige Teams aus der Slowakei und Ungarn nehmen an den Nachwuchsmeisterschaften der Ostliga teil.
Spielbetrieb in der Schweiz.
Der "Schweizerische Baseball- und Softball-Verband" (SBSV) wurde am 26. Juli 1981 gegründet, seit dem 19. Januar 2008 nennt er sich Swiss Baseball and Softball Federation (SBSF) mit Sitz in Therwil BL. Der Verband organisiert die folgenden Ligen:
Baseball Herren:
Softball Damen:
Jugend/Junioren:
Spielbetrieb international.
Weltweite Verbreitung.
Baseball gilt nicht nur in den USA als Nationalsport, sondern auch in vielen lateinamerikanischen und ostasiatischen Ländern wie Mexiko, Kuba, der Dominikanischen Republik, Venezuela, Puerto Rico, Nicaragua, Panama, Japan, Südkorea, den Philippinen und Taiwan.
In Europa gab es in den letzten 20 Jahren eine beachtliche Entwicklung. Professionelle Ligen gibt es in Italien seit 1948 und den Niederlanden seit 1922.
In Finnland gibt es seit 1922 eine Variante des Baseball „Pesäpallo“ genannt. Pesäpallo wird auch von Frauen gespielt.
Baseball in Nordamerika heute.
Im Sport der Vereinigten Staaten hat der einst alles beherrschende Baseball nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich immer mehr Zuschauer an American Football und in den letzten Jahrzehnten auch an Basketball verloren und wurde in den 1970er Jahren durch American Football von der Spitzenposition auf den zweiten Platz verdrängt. Die durch wiederholte Streiks erkämpften extremen Spielergehälter sowie undurchsichtige Deals und Ligenumstrukturierungen der Klubbesitzer haben dem Ansehen des Baseballs in den 1990er Jahren sehr geschadet. Der Sport hat aber immer noch eine große und treue Fanbasis und eine tiefe Verankerung in der US-amerikanischen Kultur. Das gemeinsame Baseballspielen oder -schauen gilt weithin immer noch als "das" Vater-Sohn-Erlebnis schlechthin und als "America’s Favorite Pastime", Amerikas liebste Freizeitbeschäftigung.
In der Saison 2019 besuchten knapp 68,5 Millionen Zuschauer die Spiele der Major League Baseball, kurz MLB, so viele wie in keiner anderen Sportliga der Welt. Dies liegt vor allem der hohen Anzahl der Spiele (162 Spiele in der regulären Saison) und dem günstigen Terminplan zugrunde. Die Saison wird hauptsächlich im Sommer ausgetragen und somit steht Baseball nicht mit den anderen großen Sportligen NFL, NBA, und NHL in Konkurrenz. Dennoch hat die Liga mit einem stetigen Zuschauerschwund zu kämpfen. Seit 2015 ist der Zuschauerschnitt um 7,14 Prozent bzw. 5,2 Millionen Fans gesunken. Nach Gesamtzuschauerzahlen ist die Major League Baseball immer noch die meistbesuchte Sportliga der Welt, auch wenn die Zuschauerzahlen pro Spiel inzwischen von mehreren anderen Sportarten (so der NFL, aber auch der deutschen Fußball-Bundesliga) überboten werden.
Die bekanntesten Profiligen in den USA werden von der MLB organisiert. Diese teilt sich auf in die American League und die National League. Unterhalb dieser Ligen befinden sich die Minor Leagues, ebenfalls Profiligen, deren Teams mit je einem Major-League-Team eng assoziiert sind und ihnen als Nachwuchsligen für ihre Talente dienen. Daneben gibt es noch unabhängige Ligen, in denen professionell Baseball gespielt wird. Die Teams bestehen aus Profis, die in einem MLB-Team keinen Vertrag mehr bekommen haben, entlassenen Minor-League-Spieler, oder ehemaligen College-Spielern, die im MLB Draft nicht ausgewählt wurden.
Ähnlich wie bei anderen Sportarten in den USA wird Amateur-Baseball hauptsächlich von Schulen und Universitäten betrieben. Im Vergleich zu American Football oder Basketball hat der College-Baseball eine geringe Popularität. Oft werden die besten High-School-Spieler direkt von den professionellen Teams verpflichtet, was die Qualität der College-Ligen beeinträchtigt. Ein weiterer Grund ist, dass selbst die besten College-Talente es nicht direkt in die MLB schaffen, sondern zumeist mehrere Jahre in den Minor Leagues entwickelt werden.
Der Jugendbereich wird von mehreren Organisationen abgedeckt. Die bekannteste ist die Little League. Hier spielen Jungen und Mädchen zwischen 5 und 18 Jahren in sechs Altersklassen Softball und Baseball. Dabei wird häufig mit angepassten Regeln gespielt, so etwa auf kleineren Feldern und mit weniger Körperkontakt.
Baseball in Japan.
In Japan wurde der Baseball 1872 durch den Englischprofessor Horace Wilson eingeführt. Um die Jahrhundertwende begann mit der Verbreitung an den Universitäten der Aufstieg des Baseball zum Nationalsport – neben Sumō und, in jüngerer Zeit, Fußball. In den 1920er Jahren begann der professionelle Ligabetrieb, daneben werden seit 1915 zweimal im Jahr Oberschulturniere im Kōshien ausgetragen, die nationale Aufmerksamkeit erhalten.
Baseball in Mexiko.
Baseball ist eine sehr beliebte Sportart in Mexiko. Obwohl die Ursprünge des Sports in Mexiko zwischen den 1870er und 1890er Jahren liegen, wurde die erste Profiliga erst 1925 gegründet, die Liga Mexicana de Béisbol (LMB). 2009 spielte die Liga mit 16 Mannschaften in zwei Divisionen. Eine weitere Profiliga, die Liga Mexicana del Pacífico (LMP) wurde 1945 gegründet. Darüber hinaus gibt es viele regionale Ligen, die als Talentsichtung und -förderung für die Profiligen dienen.
Baseball in Kuba.
Das nationale kubanische System des Baseball besteht nicht aus einer einzelnen Liga, sondern es ist ein Überbau verschiedener Ligen und Serien unter dem Dach der "Kubanischen Baseballföderation". Die Föderation organisiert die nationalen Meisterschaften und die Auswahl für die kubanische Baseballnationalmannschaft.
Baseball bei Olympischen Spielen.
Baseball ist eine olympische Sportart und war von 1992 bis 2008 – jeweils gemeinsam mit Softball – im Programm der Olympischen Spiele. Die weltbesten Spieler nehmen jedoch nicht an den olympischen Turnieren teil, da die Profiligen bisher nicht bereit sind, dafür ihren Spielbetrieb zu unterbrechen. Beim Baseball ist, im Gegensatz zu den meisten anderen Teamsportarten, eine im Frühling beginnende und im Herbst endende Saison ohne Sommerpause üblich, sodass sich Olympia nur schlecht einfügt. Dopingskandale beim US-Profibaseball und eine als allzu lax empfundene Haltung der Ligabosse zu diesem Problem schaden zudem dem internationalen Ruf der Sportart.
So entschied das IOC am 8. Juli 2005, dass Baseball und auch Softball weiterhin gemäß Artikel 46 der Olympischen Charta „olympische Sportart“ bleiben, aber 2012 in London nicht ausgetragen werden. Damit sind Baseball und Softball die ersten aus dem Programm gestrichenen Sportarten seit 1936, als Polo gestrichen wurde.
Diese Entscheidung war vor allem gedacht, um Platz zu schaffen für neue Sportarten (u. a. Rugby, Golf, Karate und Squash), allerdings fand dann keine dieser Sportarten die nötige Mehrheit. 2008 in Peking gab es noch ein olympisches Baseball- bzw. Softballturnier, bei der IOC-Sitzung 2009 wurde der Antrag auf Wiederaufnahme ins Programm für die Olympischen Sommerspiele 2016 jedoch abgelehnt. Am 3. August 2016 beschloss das IOC, Baseball für die Olympischen Sommerspiele 2020 in Tokio wieder ins Programm zu nehmen. Die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris finden wieder ohne Baseball statt.
Baseball-Weltmeisterschaft.
Die International Baseball Federation (IBAF) arbeitete seit 2003 mit der MLB daran, zukünftig eine echte Weltmeisterschaft für Nationalmannschaften nach dem Vorbild der Fußball-Weltmeisterschaft zu veranstalten, zu der dann wirklich die besten Spieler jedes Landes kommen sollen. Diese sollte zum ersten Mal 2006 oder 2007 und danach mindestens alle vier Jahre stattfinden, jeweils etwa zwei Wochen dauern und Nationalmannschaften von allen Kontinenten umfassen. Um den Ligabetrieb nicht unterbrechen zu müssen, soll sie jeweils im März in einer zu dieser Jahreszeit ausreichend warmen Region stattfinden. Das erste Turnier sollte in den USA abgehalten werden, wobei dann nur in Stadien gespielt würde, die entweder im südlichen Teil der USA liegen oder überdacht sind.
Aus finanziellen und organisatorischen Gründen musste man aber von einer in einem einzigen Land stattfindenden Meisterschaft abrücken. Von 3. bis 20. März 2006 fand in Tokio (Japan), San Juan (Puerto Rico), Orlando, Phoenix, Anaheim und San Diego (Vereinigte Staaten) zum ersten Mal die von der MLB ausgerichtete "World Baseball Classic" statt, aus dem die Mannschaft Japans als Sieger hervorging. Auch die zweite Auflage dieser Veranstaltung im Jahre 2009 konnte die Mannschaft aus Japan für sich entscheiden.
Die dritte „World Baseball Classic“-Weltmeisterschaft fand im März 2013 statt.
Baseball-Europameisterschaft.
Europameisterschaften im Baseball werden seit 1954 ausgetragen und vom europäischen Baseball-Dachverband CEB ausgerichtet. 2007 diente die EM gleichzeitig als Olympiaqualifikation der europäischen Teams für Peking 2008. Die letzte Europameisterschaft wurde 2019 in Bonn und Solingen ausgetragen. Die Niederlande konnte ihren Titel verteidigen. Mit zwei Ausnahmen wurden alle bisherigen Europameisterschaften von den Teams aus den Niederlanden und aus Italien gewonnen.
Historische Entwicklung.
In England ist erstmals 1744 ein Spiel unter dem Namen "base ball", das sich wahrscheinlich aus Vorläufern des Cricket entwickelt hat, belegt. Die weitverbreitete These, es habe sich aus dem englischen Spiel "Rounders" entwickelt, ist mittlerweile widerlegt.
Baseball in den USA.
Der erste dokumentiert gegründete Verein in den USA waren die "New York Knickerbockers" 1845. Das erste Profi-Team, die "Cincinnati Red Stockings" (die heutigen "Cincinnati Reds"), wurde am 1. Juni 1869 gegründet. In New York wurde 1876 die National League von Teams aus Cincinnati, Chicago, Boston, St. Louis, Hartford, Louisville, New York und Philadelphia gegründet. In den ersten Jahren des Profibetriebs gab es noch eine ganze Reihe anderer, kurzlebiger Ligen. 1901 wurde dann die American League gegründet, zunächst als Konkurrenz. Beide Ligen gelten bis heute als die Major Leagues. Die größten Helden der Major Leagues werden in der Baseball Hall of Fame geehrt, die sich in Cooperstown im Bundesstaat New York befindet. Seit 1903 kooperierten die beiden Ligen und tragen jährlich als Finale die World Series aus.
Historische Entwicklung in Deutschland.
Die älteste Beschreibung des Spiels findet sich bei Johann Christoph Friedrich GutsMuths aus dem Jahr 1796. Das erste offizielle Baseballspiel auf deutschem Boden fand bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin statt. Damals verfolgte die größte und bis jetzt nicht einmal mehr annähernd erreichte Rekordkulisse von mehr als 90.000 Zuschauern ein Demonstrationsspiel zwischen zwei US-Teams im Berliner Olympiastadion.
Begünstigt durch die Anwesenheit US-amerikanischer Truppen in Deutschland entwickelte sich in den 1950er Jahren eine deutsche Baseball-Gemeinde. In den Jahren nach 1968 kam der Baseballsport in Deutschland praktisch zum Erliegen und fand nur in einer deutsch-amerikanischen Liga statt, in der High-School- und Armeemannschaften spielten. Erst in den frühen 1980ern entwickelte sich der Sport wieder. 1982 wurde wieder eine deutsche Meisterschaft eingeführt.
Der deutschen Nationalmannschaft gelang es zwischen 1989 und 2005 nicht, sich dauerhaft in der europäischen Elite festzusetzen: Sie pendelte mehrmals zwischen A- und B-Pool hin und her.
Im Jahr 2005 erreichte das Team allerdings den vierten Platz bei der EM und konnte sich damit erstmals nach dreißig Jahren für eine Weltmeisterschaft (im Jahre 2007) qualifizieren, wo mit einem Erfolg gegen Thailand (2:0) auch der erste Sieg bei einer WM gelang. 2007 konnte der 4. Platz bei der EM wiederholt werden, wodurch auch die erneute Qualifikation für die WM (2009) erreicht wurde. 2010 wurde bei der EM im eigenen Land sogar der dritte Platz erreicht.
Entwicklung in der Schweiz.
Baseball wird in der Schweiz seit 1980 gespielt. Im Sommer 1980 begann sich eine Gruppe von Gleichgesinnten regelmäßig zum Baseball auf der Zürcher Allmend zu treffen. Trainiert wurde auf der Anlage der Hammerwerfer, deren Netz diente gleich als Backstop. Ein Dodge Challenger, fahrbarer Untersatz eines Mitglieds, verlieh der Gruppe den Namen Challengers. Im November verabredeten sich die Challengers mit einer Gruppe, die sich White Sox nannte, in Reussbühl LU zum ersten Baseballspiel in der Schweiz. Das Spiel musste jedoch vorzeitig abgebrochen werden. Nicht etwa wegen einsetzenden Schneefalls: Die Bälle gingen aus.
Am 5. Dezember 1980 wurde mit dem "Challengers Baseball Club" offiziell der erste Baseballverein in Zürich gegründet. Dessen Exponenten waren im folgenden Jahr auch an der Gründung des Schweizerischen Baseball und Softball Verbandes (SBSV) beteiligt. Die Challengers gewannen anlässlich der Premiere des nationalen Championats 1982 den Schweizer Meistertitel.
Sonstiges.
Als angeblich genuin US-amerikanische Sportart hat Baseball, das auch mit Begriffen wie Unschuld und Idylle verbunden wurde, auch Eingang in das Werk zahlreicher US-amerikanischer Schriftsteller gefunden, wie z. B. um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ring Lardner, Charles E. Van Loan, Gerald Beaumont oder Damon Runyon, die auch für Blätter wie die "Saturday Evening Post" entsprechende Kurzgeschichten verfassten oder in neuerer Zeit Bernard Malamud, Robert Coover, John Grisham, Chad Harbach oder Philip Roth. Teilweise werden in diesen Werken auch Auswüchse wie Bestechungsskandale oder exzessiver Starkult thematisiert.
In vielen Baseballspielen findet in der Mitte des siebten Innings ein "Seventh-inning stretch" statt, in dem die Zuschauer sich für ca. zehn Minuten strecken können. Traditionell wird hierbei das Lied "Take Me Out to the Ball Game" gesungen. |
557 | 2471595 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=557 | Basketball | Basketball ist eine meist in der Halle betriebene Ballsportart, bei der zwei Mannschaften versuchen, den Ball in den jeweils gegnerischen Korb zu werfen. Die Körbe sind 3,05 Meter hoch an den beiden Schmalseiten des Spielfelds angebracht. Eine Mannschaft besteht in der Regel aus fünf Feldspielern (wobei es auch andere Variationen wie die zunehmend populäre 3-gegen-3-Variante gibt) und bis zu sieben Auswechselspielern, die beliebig oft wechseln können. Jeder Treffer in den Korb aus dem Spiel heraus zählt je nach Entfernung zwei oder drei Punkte. Ein getroffener Freiwurf zählt einen Punkt. Es gewinnt die Mannschaft mit der höheren Punktzahl.
Basketball wurde im Jahr 1891 vom kanadischen Arzt und Pädagogen James Naismith als Hallensport ursprünglich für YMCA-Studenten erfunden und erfuhr über den YMCA schnell weltweite Verbreitung. Seit 1936 ist die Sportart für Männer, seit 1976 auch für Frauen olympisch. Heute hat der Basketballsport global, insbesondere in den Vereinigten Staaten, China, den Philippinen, Litauen und Südeuropa einen hohen Stellenwert und ist auch in einigen weiteren Ländern wie z. B. Kanada, Australien und weiten Teilen Lateinamerikas sowie Mittel- und Osteuropas populär. Die weltweit mit Abstand populärste und professionellste Liga ist die nordamerikanische NBA. Alle vier Jahre findet in einem jeweils anderen Land eine Basketball-Weltmeisterschaft statt, die vom Weltbasketballverband FIBA veranstaltet wird.
Laut FIBA spielen etwa 450 Millionen Menschen weltweit Basketball. Die erfolgreichsten Athleten zählen international zu den höchstbezahlten Profisportlern.
Geschichte.
Die Erfindung des Basketballspiels.
Basketball zählt zu den wenigen Sportarten, die von einer Einzelperson erfunden wurden. Der kanadische Arzt und Pädagoge James Naismith entwickelte das Ballspiel im Jahr 1891 in Springfield (Massachusetts) als Hallensport für seine Studenten. Naismith hatte erkannt, dass die Kampfbetontheit in anderen Ballsportarten daher kommt, dass sich das ganze Geschehen in derselben Ebene abspielt (so z. B. im American Football). Er suchte eine weniger kämpferische Sportart mit einem geringen Verletzungsrisiko, um die 18 Studenten der Klasse im Winter abzulenken. Deshalb verlagerte er die Körbe (engl. ) in eine andere Ebene, 1½ Meter über den Spielern. Der Hausmeister "Pop Stabbins" befestigte damals Pfirsichkörbe an den 10 Fuß hohen Balkonen (Empore) der YMCA Training School in Springfield. Die damals mehr zufällig bestimmte Aufhängehöhe entspricht 3,05 Meter und ist bis heute international gültig. Die Bälle wurden mittels eines Stocks herausgeholt; erst 1906 wurde das heute noch übliche unten offene Netz eingeführt.
Um zu verhindern, dass Zuschauer von der Galerie aus Korbwürfe beeinflussen können, wurde hinter jedem Korb ein Brett montiert. Die Schulsekretärin Lyons half Naismith bei der Erstellung der 13 Grundregeln, die am 15. Januar 1892 in der Schulzeitung des Springfield College veröffentlicht wurden und bis heute fast unverändert geblieben sind. Das erste offizielle Basketballspiel fand am 20. Januar 1892 in Springfield statt. In den beiden Spielhälften, mit einer Halbzeitpause von fünf Minuten, wurde meist nur ein einziger Treffer erzielt. Trotz dieser niedrigen Trefferquote setzte sich Basketball in den Vereinigten Staaten durch.
Bereits im folgenden Jahr wurde Frauen-Basketball am Smith College eingeführt. Senda Berenson Abbott hat den Frauen-Basketball zu dieser Zeit sehr geprägt, indem sie die von James Naismith entwickelten Grundregeln veränderte und den Frauen anpasste. Am 22. März 1893 fand das erste Basketballspiel der Frauen am Smith College statt. Senda Berenson veröffentlichte daraufhin ein auf Frauen-Basketball spezialisiertes Magazin.
Entstehung der ersten Mannschaften.
In den darauffolgenden Jahren wurde zunächst mit "Paneel-Bällen", die heutigen Volleybällen ähnelten, gespielt. Da damals noch die Regel galt, dass ein außerhalb des Spielfeldes gelandeter Ball in den Besitz desjenigen Teams gelangt, das ihn zuerst erreicht, sprangen die Spieler oft ohne Rücksicht auf die Zuschauer in die Ränge. Damit der Ball gar nicht erst ins Aus gelangen konnte, ging man dazu über, das Basketballfeld mit einem Käfig aus Hühnerdraht zu umzäunen. Diese „Basketball-Käfige“ gaben der Sportart ihren Spitznamen „“ ( für "Käfigspiel"). Wie unangenehm das Spielen in den Käfigen war, beschrieb Barney Sedran, ein Spieler der New York Whirlwinds: „Die meisten von uns hatten ständig Schnittwunden, und der Court war mit Blut bedeckt.“
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten sich erste berühmte Mannschaften, die später in die Naismith Memorial Basketball Hall of Fame aufgenommen wurden. Die Buffalo Germans zählten zu den stärksten Mannschaften am YMCA. Im Jahr 1904 demonstrierten die Germans Basketball in Exhibition Games bei den III. Olympischen Spielen in St. Louis. Es ist zweifelhaft, ob Basketball überhaupt ein offizieller olympischer Wettkampf war, immerhin traten bei den über mehrere Monate laufenden Olympischen Spielen am Rande der Weltausstellung keine Nationalmannschaften an, dies sollte erst 1936 in Berlin geschehen. Neben den Germans waren ab der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts die Original Celtics eine der einflussreichsten Mannschaften. In den 1920er Jahren wurden die Celtics durch andere Mannschaften wie die New York Renaissance oder die "Cleveland Rosenblums" ergänzt. Im Jahr 1925 wurde die "American Basketball League" (kurz: ABL) gegründet, die in manchen Bereichen das Basketballspiel veränderte. Der Hühner- bzw. Metalldraht wurde abgeschafft und durch Seile ersetzt. Des Weiteren wurde das Rückbrett (engl. ) hinter den Körben offiziell eingeführt.
College-Basketball.
Schon bald nach der Erfindung von Basketball im Jahr 1891 konnte sich diese Sportart an Colleges und Universitäten in den Vereinigten Staaten durchsetzen. Das erste Basketballspiel zwischen zwei College-Mannschaften fand am 8. April 1893 in Beaver Falls in Pennsylvania statt. Das "Geneva College" konnte an diesem Tag gegen den "New Brighton YMCA" gewinnen. Die ersten Basketballspiele wurden zunächst mit sieben oder neun Spielern je Mannschaft ausgetragen. Am 18. Januar 1896 fand das erste Spiel mit dem aktuellen Spielsystem von lediglich fünf Spielern in Iowa City statt, die University of Chicago gewann dieses Spiel mit 15–12 Punkten gegen die University of Iowa.
In den nächsten Jahren wurde College-Basketball innerhalb der Vereinigten Staaten immer populärer. Die anerkanntesten Universitäten (so z. B. die Columbia University) und Colleges hatten ihre Mannschaften gesponsert und unterstützt. Aufgrund der zahlreichen College-Mannschaften wurde im Jahr 1906 der Hochschulsportverband National Collegiate Athletic Association (kurz: NCAA) in Chicago gegründet. Nach dem Wegzug des Amateur-Athletic-Union-Turniers nach Denver gründete Dr. Naismith deswegen 1937 mit Emil Liston und anderen Bürgern der Schwesterstädte am Missouri den Vorläufer des NAIA-Turniers der National Association of Intercollegiate Athletics in Kansas City, Missouri. College-Basketball war seit Beginn der 30er Jahre ein lukrativer Dauerbrenner im Madison Square Garden gewesen und so entstand 1938 das National Invitation Tournament (NIT), das dortselbst ausgetragen wurde und das bis in die 70er Jahre das wichtigste College-Einladungsturnier bleiben sollte. Das erste NCAA-Division-I-Basketball-Championship-Turnier der Männer wurde erst 1939 vor 5500 Zuschauern in Evanston (Illinois) ausgetragen. Die University of Oregon besiegte im Finale die gegnerische Mannschaft der Ohio State University mit 46–33.
Eines der denkwürdigsten College-Basketballspiele, das Secret Game, fand am 12. März 1944, an einem Sonntagvormittag, zwischen dem weißen Team der militärmedizinischen Fakultät der Duke University und dem schwarzen Team der North Carolina Central University (NCCU), damals noch North Carolina College for Negroes (NCC), in Durham (North Carolina) statt. Erst am 31. März 1996 wurde dieses Spiel einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als Scott Ellsworth, ein Historiker und Duke-Absolvent, einen Artikel in der New York Times veröffentlichte, in dem er u. a. anmerkte, das Spiel sei „symbolisch dafür, wie Widerstand gegen die Jim-Crow-Gesetze außerhalb der traditionellen Bürgerrechtsbewegung aufgetreten ist (has become symbolic of how resistance to Jim Crow occurred outside the traditional civil rights movement)“. Im Jahre 2015 brachte er die Geschichte dieses Spiels unter dem Titel "The Secret Game. A Wartime Story of Courage, Change, and Basketball’s Lost Triumph" als Buch heraus.
Der College-Basketball verlor in den Jahren 1948 bis 1951 stark an Glaubwürdigkeit und Popularität. Dies lag vor allem an zahlreichen Skandalen und Regelverletzungen. Am schwersten wog der sogenannte "Point shaving"-Skandal, in den die Spieler zahlreicher Mannschaften verwickelt waren, die im Madison Square Garden gespielt hatten. Die Spieler hatten Bestechungsgelder angenommen, um die Punkteverteilung, auf die gewettet wurde, den Wetten entsprechend zu manipulieren. Zu den Hochschulen gehörten unter anderen das Manhattan College, das City College, die Bradley University und die University of Kentucky. Insgesamt 32 Personen wurden verurteilt und alle Spieler auf Lebenszeit gesperrt. Nicht einmal zehn Jahre später gab es einen "Match fixing"-Skandal, in den zwanzig Colleges verwickelt waren. 1981 gab Henry Hill, die Vorlage für den Mafia-Film "GoodFellas" und Beteiligter am Lufthansa-Raub im Dezember 1978, zu, in den 1970ern Spieler des Boston College bezahlt zu haben, die Punkteabstände der Ergebnisse zahlreicher Spiele zu manipulieren. Der nächste "Point shaving"-Skandal, in den sogar Coaches verwickelt gewesen sein sollen, ereignete sich nur kurz danach an der Tulane University. Drei Studenten wurden zu Haftstrafen verurteilt und der Universitätspräsident löste die Basketballmannschaft auf – für drei Jahre.
Immer wieder ist auch die (verbotene) Kompensation von College-Spielern im Millionengeschäft College-Basketball ein Thema, zuletzt 2017 in der Ausbeutung dieses Verbots im Skandal um den suspendierten Louisville-Head Coach Rick Pitino, den Adidas-Manager Jim Gatto und Bestechungszahlungen an und Escort Services für High-School-Spieler. Ganz abgesehen von akademischem Betrug und gefälschten Noten.
Der Damenbasketball hat sich spät an Colleges und Universitäten weiterentwickelt. Im Jahr 1926 hat noch die Amateur Athletic Union die erste Basketballmeisterschaft für Frauen organisiert. Und ab den 1930er Jahren wurden durch tingelnde Profi-Teams, wie den afrikanisch-amerikanischen Philadelphia Tribune Girls oder den bis 1986 existierenden All American Red Heads der "Hall of Fame", auch immer mehr Basketball-Challenge Games zwischen Frauen und Männern veranstaltet, bei denen jedoch immer die für den Männer-Basketball vorgeschriebenen Regeln verwendet wurden. 1971, ein Jahr vor Title IX des "Education Amendments" von 1972 gegen sexuelle Diskriminierung, wurde auf College-Ebene die Association for Intercollegiate Athletics for Women gegründet, in der etwa die Delta State University oder die Mighty Macs des Immaculata Colleges (heute Universität) große Erfolge feierten und von der die Finalspiele ab Mitte der 1970er Jahre im Fernsehen gezeigt wurden. In der letzten AIAW-Saison 1981/82 boten sowohl NCAA als auch NAIA Division 1-Konkurrenz-Meisterschaften an, die bis heute existieren, wodurch die Organisation massiv an Einfluss verlor, bis sie sich 1983 auflöste. Die letzte Profi-Liga der Damen war die von der NBA betriebene Women’s National Basketball Association (kurz: WNBA), die 1996 gegründet wurde und die während der Sommerpause der NBA bis heute existiert.
Die Entstehung der NBA.
Am 6. Juni 1946 wurde die Basketball Association of America (kurz: BAA) gegründet. Walter Brown, der damalige Präsident der Boston Bruins, und Eddie Gottlieb, Boxpromoter und Besitzer der Philadelphia SPHAs, zählen zu den Gründungsmitgliedern dieser Liga. Die "Philadelphia Warriors" (später: Golden State Warriors) gewannen die erste Finalserie der Liga mit 4–1 Siegen gegen die Chicago Stags. Im Jahr 1949 fusionierte diese Liga mit der National Basketball League (kurz: NBL) und wurde in National Basketball Association (kurz: NBA) umbenannt. Die bekanntesten Spieler der 1940er Jahre waren Bob Davies und George Mikan.
Der amerikanische Unternehmer Fred Zollner hat als Eigentümer der "Fort Wayne Pistons" (später: Detroit Pistons) viele Änderungen im Basketball-Bereich eingeführt. Seit dem Jahr 1952 wurde seine Mannschaft mit einem Team-Flugzeug zu den Basketball-Spielen transportiert. Er half der BAA und der NBA finanziell und war an wichtigen Regeländerungen (z. B. Wurfuhr) beteiligt. Am 1. Oktober 1999 wurde er als Förderer in die Naismith Memorial Basketball Hall of Fame aufgenommen.
Basketball heute.
Einen großen Fortschritt in der weltweiten Wahrnehmung machte der Basketball im Jahr 1992, als bei den Olympischen Spielen in Barcelona erstmals Profis zugelassen waren und die amerikanische Nationalmannschaft (auch Dream Team genannt) ihren legendären Siegeszug antrat. In den nachfolgenden Jahren wurde die Präsenz von Basketball in den Medien immer mehr verstärkt. Namhafte Basketballspieler wie Michael Jordan repräsentierten diese Sportart in bekannten Werbekampagnen oder auf den Titelseiten verschiedener Magazine.
Der Basketballsport ist in vielen Ländern der Welt verbreitet. Die meisten europäischen Länder besitzen eine eigene Basketball-Liga und in vielen Ländern finden immer mehr Training-Camps statt, die dem normalen Spieler das Grundprinzip und die Spielweise beibringen. Neben den Meisterschaften und Spielen gibt es auch zahlreiche Events (z. B. die „And1 Mixtape“-Tour), die von Firmen gesponsert werden und der Unterhaltung dienen.
Basketball international.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Basketball in verschiedenen Ländern der Welt vorgestellt. Bereits 1893 fand in Paris das erste Spiel auf französischem Boden statt. Im Jahr 1902 wurden erstmals die von James Naismith verfassten Regeln in die deutsche Sprache übersetzt. Vier Jahre später wurde Basketball in Italien eingeführt. Im Jahr 1913 wurde die Ballsportart in Puerto Rico freundlich empfangen und gefeiert. In den darauffolgenden Jahren wurde Basketball in vielen weiteren Ländern präsentiert (u. a. 1916 in Bulgarien und 1917 in Albanien sowie in Griechenland).
Im Jahr 1923 fand in der Sowjetunion die erste nationale Meisterschaft der Herren statt. Bis zum Ende der 1920er Jahre erfreute sich Basketball einer steigenden Beliebtheit. Im Jahr 1930 fand vom 6. bis 14. Dezember die erste Kontinental-Meisterschaft der Herren in Südamerika statt, bei der sich Uruguay gegen Argentinien durchsetzen konnte. Der erste Schritt für die internationale Akzeptanz dieser Sportart wurde im Jahr 1930 gelegt, als das Internationale Olympische Komitee (kurz: IOC) Basketball als olympische Sportart aufnahm. 1932 gründeten acht Nationalverbände in Genf den Basket-Weltballverband FIBB, ab 1935 bis 1986 Fédération Internationale de Basketball Amateur [FIBA] (siehe "Verbände und Ligen"). Der Weltbasketballverband kontrolliert die internationalen Meisterschaften und das olympische Turnier und legt die internationalen Regeln fest. 1958 führte die FIBA den Europapokal der Landesmeister (Männer) und 1959 der Landesmeister (Frauen) ein.
Ab 1932 hielt Basketball auch in Deutschland Einzug, zuerst durch Hugo Murero an der Heeressportschule Wünsdorf, danach in Breslau und Gera sowie ab 1933 in Bad Kreuznach durch Hermann Niebuhr. Er hatte als Lehrer an der Deutschen Schule in Istanbul Basketball kennengelernt. Er gründete 1935 die erste Basketball-Abteilung beim "Vfl 1848 Bad Kreuznach". Ebenfalls 1935 beteiligte sich eine deutsche Hochschulauswahl am Basketballturnier der Akademischen Weltspiele in Budapest. 1936 nahm Deutschland erst in letzter Minute am ersten olympischen Basketballturnier in Berlin teil; alle drei Spiele gingen verloren. 1939 fand die erste deutsche Meisterschaft der Männer in Hamburg statt. Den Titel gewann der Luftwaffen-Sport-Verein (LSV) Spandau. Deutschland bestritt von 1936 bis 1942 19 Länderspiele, 4 Begegnungen wurden gewonnen.
Basketball unterstand im Dritten Reich dem Fachamt 4 Handball/Basketball des Deutschen, später Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fanden bereits im Herbst 1945 erste Basketballspiele statt. Nach zwei Vorgängerorganisationen wurde am 1. Oktober 1949 in Düsseldorf der „Deutsche Basketball Bund“ (DBB) als eigenständige Organisation in der Bundesrepublik gegründet. Dieser nationale Verband ist seitdem für die Ausrichtung der deutschen Basketballmeisterschaft verantwortlich. In der DDR bestand zuerst die Sektion Basketball, ab 1958 der Deutsche Basketball-Verband. 1953 entsandten beide Verbände eine gesamtdeutsche Mannschaft zur Männer-Europameisterschaft in Moskau. Mit der Gründung der Basketball-Bundesliga (kurz BBL) im Jahr 1966 wurde erstmals eine professionelle Basketball-Liga in Deutschland eingeführt. Deutschland gewann 1993 mit 71:70 in München gegen Russland die Europameisterschaft.
Basketball wurde im Jahr 1936 bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin offiziell gespielt. Das Spiel wurde in zwei Spielhälften mit je 20 Minuten aufgeteilt und auf Tennisplätzen des Reichssportfeldes praktiziert. Im Finale konnte sich die amerikanische Nationalmannschaft mit 19:8 gegen Kanada durchsetzen. Im Jahr 1950 fand die erste offizielle „Basketball-Weltmeisterschaft der Herren“ in Buenos Aires, Argentinien statt. Die argentinische Basketballmannschaft konnte sich im Finale gegen die USA durchsetzen.
Drei Jahre später fand in Santiago de Chile auch die erste offizielle „Basketball-Weltmeisterschaft der Frauen“ statt. Hier konnte sich das Team aus den USA gegen die Gastgeber behaupten. Seit 1976 (Montreal) spielen auch die Basketball-Frauen um olympische Medaillen.
Der Basketballsport ist heute eine der meistverbreiteten Sportarten der Welt und hat in zahlreichen Regionen der Welt, darunter auch europäischen Ländern wie z. B. Spanien, den baltischen Staaten, den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, Griechenland, der Türkei und Israel, aber auch in einigen südamerikanischen Ländern (z. B. Mexiko, Brasilien, Venezuela, Puerto Rico und Argentinien) und einigen Ländern Südostasiens (insbesondere China, den Philippinen und Taiwan) sowie in Australien und Neuseeland einen hohen Stellenwert. Bei der Basketball-Weltmeisterschaft 2006 der Herren in Japan gewann die spanische Basketballmannschaft mit 70:47 gegen die Mannschaft aus Griechenland. Bei den vorherigen Basketball-Weltmeisterschaften waren Länder wie Serbien und Kroatien, Jugoslawien oder bei Frauen und Männern Russland bzw. die Sowjetunion sehr erfolgreich. 2010 und 2014 wurde die US-Nationalmannschaft Weltmeister, 2019 zum zweiten Mal Spanien.
Ausrüstung.
Spielball.
Der Spielball ist im Laufe der letzten hundert Jahre entwickelt und verbessert worden. In den ersten beiden Jahren des Basketballs wurde mit "Paneel-Bällen" gespielt. Diese Paneel-Bälle waren mit aktuellen Volleybällen vergleichbar. Von 1894 bis in die 1940er Jahre wurden geschnürte Basketbälle bei Wettkämpfen und Spielen verwendet. Hierbei war bereits die „typische“ Form der Linien des Basketballs zu erkennen.
Der aktuelle Basketball besteht aus synthetischem Material oder Leder sowie Nylon-Fäden.
Bei Wettkämpfen für Männer hat der offizielle Spielball einen Umfang von 749 bis 780 Millimeter (Größe 7) und ein Gewicht von 567 bis 650 Gramm.
In den deutschen Damen-Basketball-Ligen wird seit der Saison 2004/05 mit einem Ball gespielt, der einen Umfang von 724 bis 737 Millimeter (Größe 6) hat und 510 bis 567 Gramm wiegt.
Bekleidung.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trugen die Spieler Trikots aus Wolle und Stoffhosen. Außerdem war das Tragen von Knie-, Ellenbogen- und Schienbeinschonern während des Spiels Pflicht. Dies lag vor allem an der harten Spielweise und dem schlechten Zustand der Arenen. In den 1960er Jahren hat sich die Bekleidung der Spieler erheblich verändert. Die Trikots wurden komfortabler und freier, und die Stoffhosen wurden durch bequeme kurze Shorts ersetzt.
Auch die Basketballschuhe haben sich seither verändert. Zunächst trugen die Spieler unpraktische Lederschuhe. In den 1980er Jahren wurden die ersten Stars von Sportartikel-Herstellern wie Nike, Adidas, Puma oder Converse vertraglich verpflichtet.
Spielprinzip.
Das Ziel des Spiels besteht darin, den Spielball dribbelnd (den Ball auf den Boden tippen) oder per Passspiel in die gegnerische Spielhälfte zu bewegen und dort in den gegnerischen Korb zu werfen. Der Basketball muss von oben in den Korb fallen, der in einer Höhe von 3,05 Metern hängt. Dabei kann der Ball auch über das Brett gespielt werden. Ein erfolgreicher Korbwurf, Korbleger oder Dunk wird im Normalfall mit zwei Punkten gewertet. Ein Korbwurf von jenseits der Drei-Punkte-Linie zählt drei Punkte, ein Freiwurf einen Punkt. Sieger des Wettkampfes ist diejenige Mannschaft, die nach Ablauf der Spielzeit mehr Punkte erzielt hat als der Gegner. Bei einem Gleichstand wird eine Verlängerung von fünf Minuten gespielt. Das wird solange wiederholt, bis ein Sieger feststeht.
Spielfeld.
Basketballspiele werden immer auf einem rechteckigen Spielfeld mit einer harten Oberfläche ausgetragen. Für die offiziellen Hauptwettbewerbe der FIBA muss die Abmessung des Spielfeldes 28 Meter mal 15 Meter betragen.
Es wird durch verschiedene Kreise, Linien und Zonen, die eine eigene Funktion besitzen, unterteilt. Hier die wichtigsten davon:
Mannschaften.
Auf dem Feld spielen zwei Mannschaften mit je fünf Feldspielern. Die Anfangsformation einer Mannschaft wird auch als (deutsch: "Startende Fünf" oder kürzer "Erste Fünf") bezeichnet. Das müssen nicht immer die fünf leistungsstärksten und besten Spieler des Teams sein.
Allerdings gilt es als unbedingt notwendig, über eine starke und ausgeglichen besetzte Bank zu verfügen. Häufig sind Bankspieler Routiniers oder Rollenspieler, die in kritischen Situationen für die notwendigen – und in diesem Moment benötigten – Impulse im Spiel sorgen sollen. Dies kann z. B. durch Dreipunktwürfe, schnelles Spiel, Ballsicherung, spezielle Verteidigungsaufgaben oder einfach eine starke Reboundpräsenz erreicht werden. Spieler können unbegrenzt oft gewechselt werden. Ein Wechsel ist während jeder Spielunterbrechung möglich.
Positionen.
In der Entstehungsgeschichte des Basketballs wurden die Spieler in "Angreifer" () und "Verteidiger" () eingeteilt. Mit der steigenden Popularität der Sportart und dem Einführen von neuen Regeln haben sich für die fünf Spieler spezielle Aufgabenbereiche entwickelt.
Die Startaufstellung der fünf aktiven Feldspieler besteht meistens aus einem körperlich großen Akteur, dem Center, zwei Forwards und zwei Guards. Es sind aber auch verschiedene andere Variationen möglich, z. B. der Einsatz von drei Guards (das sogenannte „“, da Guards üblicherweise die kleineren Spieler sind), wie häufig von den Detroit Pistons unter Chuck Daly praktiziert, oder aber das Spielen mit zwei Centern, wie es die Houston Rockets Mitte der 1980er taten und die San Antonio Spurs noch immer tun. Im deutschen Basketball kommt es jedoch des Öfteren vor, dass man dieses System etwas abwandelt, es wird meist mit zwei Centern, zwei Flügelspielern (forwards) und einem Aufbauspieler (guard) gespielt. In der NBA dominiert seit Mitte der 2010er Jahre auch durch die Dominanz des 3-Punkte-Spiels eine Spielphilosophie, die die klassischen fünf Positionen zugunsten des sog. „positionless basketball“ teilweise auflöst.
Der Center ist meist der größte und körperlich stärkste Spieler einer Mannschaft. Er agiert meistens in der Zone und muss möglichst viele Rebounds holen. Die Guards "(Aufbauspieler)" werden in „Shooting Guard“ und „Point Guard“ unterteilt. Der Shooting Guard ist auf Distanzwürfe "(Drei-Punkte-Wurf)" spezialisiert, während der Point Guard als Spielmacher (Playmaker) "(siehe Begriffe)" über den Spielzug seiner Mannschaft entscheidet.
Die Forwards "(Flügelspieler)" werden auch in zwei weitere Positionen unterteilt: „Small Forward“ und „Power Forward“. Hierbei liegt der größte Unterschied zwischen den beiden Positionen in der Größe der Spieler. Beide Forwards sind Angriffsspieler, die wie der Center in der Zone agieren und versuchen, möglichst viele Treffer im Angriffsraum zu erzielen.
Die Positionen werden vom kleinsten Spieler bis zum größten Spieler durchnummeriert, von #1 (Point Guard) bis #5 (Center).
Schiedsrichter.
Ein Spiel wird grundsätzlich von zwei Schiedsrichtern geleitet. In der NBA, der NCAA und vielen „höheren“ nationalen und internationalen Ligen bzw. Wettbewerben kommen jedoch drei Schiedsrichter zum Einsatz.
Alle Schiedsrichter sind gleichberechtigt und haben nur unterschiedliche Beobachtungsbereiche und Verantwortungen, die aber permanent wechseln. Maßgeblich ist hierbei die Position des Balls auf dem Spielfeld. Bei der "Zwei-Schiedsrichter-Technik" ist ein Unparteiischer "vorderer Schiedsrichter". Seine Position ist hinter der Grundlinie der verteidigenden Mannschaft. Sein Kollege nimmt als "folgender Schiedsrichter" eine Position hinter dem Angriff etwa drei Meter vom Ball entfernt ein, wobei er sich im Bereich von der linken Auslinie bis etwa zur Spielfeldmitte aufhalten muss.
Außer den Schiedsrichtern gibt es noch ein Kampfgericht am so genannten Anschreibetisch. Hier sitzen Zeitnehmer (bei jedem Pfiff wird die Zeit gestoppt), 24-Sekunden-Zeitnehmer (man hat nur 24 Sekunden für einen Angriff) und Anschreiber (alle Punkte und Fouls werden im Anschreibebogen protokolliert). In Österreich lauten die Begriffe abweichend "Schreiber", "Schreibertisch" und "Spielbericht". In der Schweiz schreiben die Anschreiber am "Schreibertisch" das "Matchblatt".
Zeiteinteilung.
Ein Basketballspiel besteht regulär aus Vierteln. In den Verbänden, die zur FIBA gehören, hat jedes Viertel eine Dauer von zehn Minuten. In der NBA werden pro Viertel zwölf Minuten gespielt. Steht es am Ende des vierten Viertels unentschieden, gibt es Verlängerungen zu je fünf Minuten (engl. ), bis eine Mannschaft als Sieger feststeht. Ursprünglich spielte man zwei Halbzeiten mit je zwanzig Minuten. Die neue Zeiteinteilung ist eine Übernahme aus der NBA, in der schon länger vier Viertel gespielt werden. Eine Ausnahme bildet die US-amerikanische Collegeliga der NCAA, bei der nach wie vor zwei Halbzeiten gespielt werden. Anders als z. B. beim Fußball wird hier nur die reine Spielzeit gezählt, die Zeit wird bei Spielunterbrechungen gestoppt, sobald der Schiedsrichter das Spiel unterbricht (z. B. bei Fouls oder Ausbällen). Die tatsächliche Dauer eines Spieles beträgt in der Regel 80 bis 100 Minuten.
Nach jedem Viertel und jeder Verlängerung gibt es eine Pause von zwei Minuten, die Halbzeitpause nach dem zweiten Viertel dauert fünfzehn Minuten (FIBA).
Punktgebung.
Für einen erfolgreichen Wurf werden im Normalfall zwei Punkte berechnet. Ein Wurf, bei dem sich der werfende Spieler zwingend hinter (und nicht auf) der so genannten Drei-Punkte-Linie befindet, bringt seiner Mannschaft drei Punkte. Die Drei-Punkte-Linie ist 6,75 Meter (seit Saison 2010/11) vom Mittelpunkt des Korbes (NBA: 7,24 m) entfernt.
Bei einem Foul während eines Korbwurfversuches bekommt der gefoulte Spieler die gleiche Anzahl an Freiwürfen, wie Punkte mit einem erfolgreichen Wurf möglich gewesen wären. Der Freiwurf erfolgt von der Freiwurflinie (englisch ) aus, die in 5,80 Meter Entfernung parallel zur Endlinie verläuft. Ein erfolgreicher Freiwurf zählt immer einen Punkt.
Wird ein Spieler unmittelbar während eines Wurfversuchs gefoult und ist der Versuch trotz des Fouls erfolgreich, werden diese Punkte regulär gezählt und der Spieler erhält zusätzlich einen Bonusfreiwurf. Somit hat er die Möglichkeit, 3 (bzw. 4) Punkte zu erzielen.
Angriff.
Im Angriff (engl. ) gibt es zahlreiche Varianten. Oft werden sogenannte Systeme gespielt. Dabei handelt es sich um Varianten eines eingespielten Spielzugs, in dem jeder Angreifer einen bestimmten Laufweg hat. Ziel ist es durch das Stellen von Blocks usw. einem Spieler einen freien Wurf zu ermöglichen.
Gegen eine Zonenverteidigung wird die angreifende Mannschaft versuchen, eine Überzahlsituation auf einer Seite zu schaffen. Oder sie versucht viele Verteidiger auf eine Seite zu locken, um einen freien Spieler auf der anderen Seite zu erhalten.
Gegen eine Mannverteidigung kann der Angreifer versuchen, sich möglichst von dem ballführenden Spieler fernzuhalten. So bindet er seinen eigenen Verteidiger und ermöglicht dem Ballführenden eine 1-gegen-1-Situation.
Ein Beispiel ist die „Isolation“, wobei der Ballführer den Spielzug ansagt und alle Mitspieler ihren Mann nach außen drängen, sodass der ballführende Spieler nur gegen seinen direkten Gegenspieler („eins gegen eins“) zum Korb ziehen kann.
Verteidigung.
Auf das System der Verteidigung (engl. ) bezogen unterscheidet man grundsätzlich die Zonen- von der Mannverteidigung. Bei der Zonenverteidigung handelt es sich um eine Raumdeckung. Vereinfacht gesagt hat dabei jeder Verteidiger ein bestimmtes Gebiet (z. B. vorne rechts) zu verteidigen. Vorteil ist ein sehr kompaktes Zentrum. Es wird deshalb für den Gegner schwieriger, Punkte in der Nähe des Korbes zu erzielen. Nachteilig ist die Verteidigung von Fernwürfen (z. B. Dreier). Außerdem kann der Gegner durch geschicktes Überlagern versuchen, auf einer Seite gezielt eine Überzahlsituation herbeizuführen.
Bei der Mannverteidigung ist jedem Angreifer ein Verteidiger zugeordnet. Demgemäß wird ein freier Wurf von draußen schwieriger. Allerdings ist das Zentrum nicht voller Verteidiger, was den Zug zum Korb einfacher macht.
Schließlich gibt es noch Mischformen, die allerdings eher selten praktiziert werden. So könnte man bspw. mit vier Mann eine Zone spielen, während einer den gegnerischen Aufbauspieler Mann zu Mann verteidigt. Das bietet sich an, wenn der Gegner einen überragenden Spieler besitzt.
Spielregeln.
Die im folgenden Abschnitt beschriebenen Spielregeln beziehen sich auf die offiziellen FIBA-Regeln. Unterschiede zu Regeln anderer Ligen, wie die der NBA oder NCAA, werden hier nicht immer berücksichtigt.
Sprungball.
Nach den FIBA-Regeln beginnt jedes Spiel mit einem Sprungball, um so den ersten Ballbesitz zu entscheiden. Dabei wirft einer der Schiedsrichter den Spielball im Mittelkreis zwischen zwei gegnerischen Spielern in die Höhe, die Spieler versuchen anschließend den fallenden Ball einem Mitspieler zuzuspielen. In den nachfolgenden Vierteln wechselt der Ballbesitz und wird mit einem Richtungspfeil am Kampfgericht angezeigt.
In der NBA wird der Sprungball auch bei anderen Spielsituationen eingesetzt, beispielsweise nach einem Doppelfoul mit Freiwürfen, allgemein wenn der Ballbesitz unklar ist. Der Sprungball wird dann nicht im Mittelkreis, sondern in dem Kreis (siehe Spielfeld), welcher der letzten Spielsituation am nächsten ist, ausgeführt.
Fouls.
Man unterscheidet zwischen persönlichen, technischen, unsportlichen (früher absichtlichen) und disqualifizierenden Fouls. Technische Fouls gibt es für technische Fehler, administrative Vergehen und Disziplinlosigkeit von Spielern und Trainern. Vergehen dieser Art sind beispielsweise Meckern, zu viele Spieler auf dem Feld, Hängen am Ring, Stören des Gegners durch Gestik und Mimik (z. B. Klatschen oder Schreien während des Wurfversuchs) oder heftiges Schwingen mit den Ellbogen, auch wenn kein Kontakt entsteht.
Unsportliche Fouls werden verhängt, wenn der Kontakt sehr hart ist oder der Spieler keine Aussicht hat, den Ball zu spielen und es zum Kontakt kommt (z. B. Stoß mit beiden Händen in den Rücken). Seit 2008 wird bei einem Schnellangriff (englisch: ) ein Kontakt von der Seite und von hinten ebenfalls als unsportliches Foul gewertet.
Disqualifizierende Fouls werden wegen grober Unsportlichkeit (Tätlichkeit, Beleidigung etc.) ausgesprochen. Ein Foul, bei dem die Verletzung des Gegners in Kauf genommen wird, führt je nach Schwere zu einem unsportlichen oder disqualifizierenden Foul.
1998 ist das „Vorteil-Nachteil-Prinzip“ in die Basketballregeln mit aufgenommen worden, z. B. muss das Berühren des Gegners mit den Händen kein Foul sein. Die Schiedsrichter müssen entscheiden, ob der Spieler, der den Kontakt verursacht hat, einen unfairen Vorteil davon hat (siehe „Fouls“ bzw. Artikel 33.10 der offiziellen Basketballregeln von 2008).
Fouls des Verteidigers
Der Verteidiger begeht ein Foul durch Halten, Blockieren, Stoßen, Rempeln, Beinstellen und indem er die Bewegung eines Gegenspielers durch Ausstrecken von Hand, Arm, Ellbogen, Schulter, Hüfte, Bein, Knie oder Fuß behindert. Hat der verteidigte Angreifer gerade keinen Ball, ist durchaus ein gewisses Schieben und Zerren erlaubt.
Hat der verteidigte Angreifer den Ball, sind die Möglichkeiten des Verteidigers eingeschränkt. Der angreifende Spieler darf nicht gestoßen werden, es sei denn, dieser sucht gezielt den Körperkontakt. In diesem Fall darf der Angreifer nicht mit Beinen oder Armen behindert werden, sondern nur mit dem Körper. Gute Verteidiger sind so schnell, dass sie den Angreifer ohne den Einsatz der Arme abdrängen, vielleicht sogar zum Rückwärtslaufen bringen können.
Fouls des Angreifers
Ein Angreifer mit Ball begeht ein Foul, wenn es mit einem in legaler Verteidigungsposition stehenden oder sich rückwärts bewegenden Verteidigungsspieler zu einem Kontakt kommt (offensives Foul) und der Angreifer dadurch einen unfairen Vorteil bekommt. Typische Offensivfouls sind illegale Kontakte mit dem Ellenbogen, Wegstoßen des Gegners mit dem Unterarm oder wenn der Angreifer mit der Schulter voran in den Gegenspieler läuft.
Ein Angreifer ohne Ball begeht ein Foul, wenn er einen „bewegten Block“ (englisch: oder ) setzt. Stehende Blocks hingegen sind im Basketball erlaubt (im Gegensatz zum Fußball, wo das sogenannte „Auflaufenlassen“ als Foul gewertet wird). Ein weiterer Unterschied zum Foul eines Verteidigers ist, dass bei Offensivfouls (Foul der ballführenden Mannschaft) keine Freiwurfstrafen verhängt werden (Ausnahme: unsportliches Offensivfoul). Sie zählen allerdings zu den Teamfouls.
Folgen der Fouls
Ein disqualifizierendes Foul oder zwei unsportliche Fouls führen zum Spielausschluss. Der Disqualifizierte muss die Halle sofort verlassen oder in der Mannschaftskabine das Ende des Spiels abwarten.
Fünf persönliche oder technische Fouls führen zum Verlust der Spielberechtigung für das laufende Spiel (NBA: sechs Fouls).
Zwei technische Fouls gegen einen Trainer, ein technisches Foul gegen einen Trainer und zwei technische Fouls gegen die Bank oder drei technische Fouls gegen die Bank führen zur Disqualifikation des Trainers.
Zu beachten ist, dass es sich um persönliche Strafen handelt. An der Anzahl der Spieler auf dem Feld ändert sich nichts.
Grundsätzlich führt ein Foul beim erfolglosen Korbversuch je nach Position des Gefoulten zu zwei oder drei Freiwürfen. Bei einem Korberfolg mit Foul – sprich der Angreifer wird bei der Korbwurfaktion gefoult – erhält der Gefoulte die Punkte und zusätzlich einen Bonusfreiwurf.
Ein Foul ohne Korbversuch führt grundsätzlich nicht zu Freiwürfen. Ausnahme: Ab dem 5. Mannschaftsfoul (alle persönlichen und technischen Fouls aller Spieler eines Teams pro Viertel, Foulgrenze) gibt es pro Verteidiger-Foul grundsätzlich zwei Freiwürfe (früher gab es in dieser Situation 1 + 1 Freiwürfe, d. h., nur wenn der erste ein Treffer war, gab es einen zweiten).
Zeitübertretungen.
24-Sekunden-Regel
Jeder Angriff darf maximal 24 Sekunden dauern (u. a. in Deutschland, USA; 30 oder 45 Sekunden sind nur in wenigen Ländern erlaubt), die auf einer Wurfuhr heruntergezählt werden. Die Zeit wird dabei neu gestartet, wenn der Schiedsrichter „absichtliches Spielen des Balles mit dem Fuß“ pfeift. Außerdem startet die Zeit nach jeder Ringberührung des Balles mit nun 14 Sekunden von neuem. Schließlich führt auch ein Ballwechsel, (Verteidiger erobert den Ball und wird zum Angreifer, sogenannter „Steal“) sowie ein Foul der verteidigenden Mannschaft zum Neustart der 24-Sekunden-Uhr. Hingegen führt eine Ausball-Entscheidung ohne Wechsel des Ballbesitzes nicht zum Neustart. Zu spektakulären Szenen führt folgende Besonderheit: Ein Korb zählt, wenn ein Spieler den Ball vor Ablauf der 24-Sekunden-Uhr abwirft. Das Signal ertönt dann, während der Ball sich in der Luft befindet (auch ein in der letzten Sekunde des Spieles abgeworfener Ball zählt, obwohl er den Korb erst nach Ablauf der Spielzeit erreicht). Im amerikanischen College-Basketball hat man für einen Angriff 35 Sekunden Zeit, was zu weniger Punkten als im Profi-Basketball führt.
8-Sekunden-Regel
Bekommt eine Mannschaft den Ball oder gibt es einen Einwurf, so muss sie innerhalb von acht (bei 24 Sekunden) Sekunden den Ball in die gegnerische Hälfte bringen. Gelingt ihr das nicht, gibt es einen Einwurf für den Gegner an der Mittellinie.
3-Sekunden-Regel
Während eines Angriffs dürfen sich die Spieler der angreifenden Mannschaft nicht länger als drei Sekunden ununterbrochen in der gegnerischen Zone (im Freiwurfraum) aufhalten, unabhängig davon, ob der jeweilige Spieler im Ballbesitz ist oder nicht. Hier ist aber anzumerken, dass kein Schiedsrichter die drei Sekunden mit der Uhr stoppt. Sie werden (wie die 8-Sekunden) „im Kopf“ gezählt oder nach Gefühl entschieden. Auf hochklassigem Niveau wird selten aufgrund dieser Regel gemaßregelt.
Mittlerweile sind die Schiedsrichter angewiesen, den 3-Sekunden-Verstoß nicht zu ahnden, wenn ein Angreifer zwar mehr als drei Sekunden in der Zone steht, aber während dieser Zeit nicht aktiv ins Spiel eingreift. Wenn ein Spieler den Ball erhält, nachdem er bereits drei Sekunden oder länger in der Zone gestanden hat, ist dies eine Regelübertretung. Nachsicht wird mit einem Spieler geübt, wenn dieser zwei Sekunden in der Zone ist, aber er sofort auf den Korb wirft oder zum Korbleger ansetzt.
5-Sekunden-Regel
Ein Spieler darf beim Einwurf den Ball nur maximal fünf Sekunden festhalten, bis er den Einwurf ausführt. Im Spiel muss er nach fünf Sekunden einen Korbwurf machen, anfangen zu dribbeln oder den Ball abgeben, wenn er nah bewacht wird. Sollte eine dieser Regeln verletzt werden, so erhält die gegnerische Mannschaft den Ball durch Einwurf an der nächstgelegenen Auslinie.
Aus.
Auf Aus wird entschieden, wenn Ball oder ballführender Spieler auf oder außerhalb der Auslinie den Boden berühren. Der Ball ist hingegen nicht im Aus, wenn er sich außerhalb der Auslinie in der Luft befindet. Ein Spieler, der innerhalb des Spielfelds abspringt, kann ihn ins Spiel zurückpassen, solange Spieler oder Ball nicht den Boden berühren.
Rückspiel.
Bei einem Angriff darf der Spielball von keinem Spieler der ballführenden Mannschaft von der gegnerischen Hälfte (Vorfeld) in die eigene Spielfeldhälfte (Rückfeld) zurückgespielt werden. Geschieht dies doch, ist das ein Regelverstoß, das sogenannte „Rückspiel“ (engl. "backcourt violation"). Als Rückspiel wird dabei jede Ballbewegung über die Mittellinie gewertet, es ist also egal, ob gepasst oder gedribbelt wurde. Der Ball ist bei einem Dribbling erst dann im Vorfeld, wenn sowohl Ball als auch beide Füße des Dribbelnden Kontakt mit dem Vorfeld haben. Ein Verstoß dagegen wird mit einem Einwurf der gegnerischen Mannschaft von der Seitenlinie her bestraft; dies nächst der Stelle, an der der Spieler den Ball im Rückfeld berührt.
Ausnahmen: Es ist kein Rückspiel, wenn ein Verteidiger den Ball ins Rückfeld der angreifenden Mannschaft zurücktippt (beim „Tippen“ des Balles wechselt nicht der Ballbesitz) oder der Ball von einem angreifenden Spieler ins Rückfeld gepasst und von einem gegnerischen Spieler abgefangen wird (der Einwurf entfällt hier logischerweise, da der Ballbesitz sowieso wechselt).
Es gilt nicht als Rückspiel, wenn ein Spieler im Vorfeld abspringt und den Ball im Flug zurück ins Vorfeld spielt.
Des Weiteren darf ein Verteidiger im Vorfeld abspringen, den Ball fangen und in seinem Rückfeld landen. Dagegen darf er nicht in dieser Situation den Ball zu einem Mitspieler tippen bzw. passen.
Schrittfehler.
Der ballführende Spieler muss dribbeln (den Ball auf den Boden tippen), wenn er sich fortbewegen will. Tut er dies nicht, wird auf Schrittfehler (travelling) entschieden und der Gegner bekommt Einwurf an der Seitenlinie. Nach den FIBA-Regeln muss zuerst gedribbelt werden, die NBA-Regeln erlauben, zuerst den Schritt und dann das Dribbling zu machen.
Nachdem er aufhört zu dribbeln und noch in der Bewegung, d. h. beim Laufen ist, darf er noch zwei Bodenkontakte mit den Füßen haben, bevor er passt oder auf den Korb wirft. Dabei darf das Standbein zum Zwecke des Passes oder Wurfes angehoben, aber nicht wieder aufgesetzt werden (z. B. beim aufgelösten Sternschritt).
Doppeldribbling.
Sobald ein Angreifer den Ball nach einem Dribbling (Tippen des Balles auf den Boden) aufnimmt, darf er nicht erneut zum Dribbling ansetzen. Ein Verstoß gibt Einwurf für den Gegner von der Seitenlinie. Eine andere Version hiervon ist Carrying: In diesem Fall dreht der Spieler während des Dribbelns seine Hand um, sodass die Hand unter dem Ball ist. Die Folgen sind dieselben wie beim normalen Doppeldribbling. Das sogenannte „Fumbling“ zählt nicht als Dribbling. Dabei tippt der Ball zwar auf dem Boden auf, aufgrund der fehlenden Ballkontrolle ergibt sich daher aber keine Regelübertretung.
Es ist nur erlaubt, einen vom Gegner gezielt auf den Korb geworfenen Ball aus der Luft zu fangen oder zu blocken, solange er sich in der Aufwärtsbewegung befindet. Hat er den Scheitelpunkt seines Fluges erreicht oder befindet sich bereits im Sinkflug und vollständig über Ringniveau, muss der Ball erst den Korb berühren, bevor er wieder frei spielbar ist. Etwas anderes gilt nur, wenn der Ball offensichtlich danebengeht. Anfangs gab es diese Regel nicht und so gingen sehr groß gewachsene Spieler dazu über, sich unter den eigenen Korb zu stellen und alle Würfe abzufangen.
Eine weitere Form des liegt darin, den Ball zu blocken, nachdem er das Brett berührt hat und er sich vollständig über Ringniveau befindet. Berührt ein Ball bei einem Korbwurf das Brett, ist er nicht frei, außer es ist offensichtlich, dass er danebengeht. Dabei ist es im Gegensatz zum Wurf ohne Brett egal, ob er sich noch in der Aufwärts- oder schon in der Abwärtsbewegung befindet.
Ein Spieler begeht bei einem Freiwurf, wenn er den Ball auf dem Flug zum Korb berührt, bevor dieser den Ring berührt.
Auch das Greifen ins Netz oder Schlagen ans Brett durch einen Verteidiger, der dadurch einen Korb verhindert, kann man im weiteren Sinne als bezeichnen.
Folge von ist, dass der angreifenden Mannschaft der Korbversuch als Korberfolg gewertet wird.
Die angreifende Mannschaft kann auch gepfiffen bekommen, die Voraussetzungen sind die gleichen. Das nennt man dann "".
Fußspiel.
Als Fußspiel bezeichnet man das absichtliche Berühren des Balles mit dem Fuß, Knie oder Bein. Wird das Fußspiel von einem Defensivspieler begangen, wird die Shot Clock, sofern mehr als 10 Sekunden vergangen sind, auf 14/24 Sekunden gesetzt (14 im Vorfeld, 24 im Rückfeld). Sind nicht mehr als 10 Sekunden vergangen, spielt man mit der bestehenden Zeit weiter. Sofern dagegen ein Offensivspieler das Fußspiel begeht, bekommt die gegnerische Mannschaft den Ball und die vollen 24 Sekunden eines neuen Angriffs.
Entwicklung der Basketballregeln.
Grundsätzlich wird weltweit nach den jeweils gültigen FIBA-Regeln gespielt. In der NBA sind eigene Regeln gültig, die sich ebenfalls historisch entwickelt haben und die auf die besonderen US-amerikanischen Anforderungen des Profi-Sports (z. B. Unterbrechungen des Spiels für TV-Werbeeinblendungen) ausgerichtet sind. Bei internationalen Turnieren (z. B. Olympischen Spielen), die unter der Kontrolle der FIBA ausgerichtet werden, müssen sich alle NBA-Profis auf die FIBA-Regeln umstellen.
Spielregeln der FIBA und anderer Ligen.
Neben den Ligen, die nach den internationalen FIBA-Regeln spielen, gibt es vor allem in der nordamerikanischen Liga leicht abweichende Regeln. Diese Abweichungen resultierten meist aus dem Grund, das Spiel attraktiver für die Zuschauer zu gestalten oder sind historisch gewachsen.
Die folgende Tabelle zeigt die wesentlichen Regelabweichungen der wichtigsten nordamerikanischen Ligen zu den FIBA-Regeln:
Die FIBA strebt weltweit einheitliche Regeln an. Dies soll schrittweise geschehen. Dazu hat sie am 25. Mai 2008 unter anderem folgende Regeländerungen beschlossen:
Gültig ab 1. Oktober 2008:
Die folgenden Regeln sind bei internationalen Wettbewerben der FIBA ab 1. Oktober 2010 und bei den höchsten Wettbewerben der nationalen FIBA-Verbände ab 1. Oktober 2012 gültig:
Verbände und Ligen.
FIBA.
Der Weltbasketballverband wurde am 18. Juni 1932 in Genf unter dem Namen „FIBA“ "(Fédération Internationale de Basketball Amateur)" gegründet. Die Gründungsmitglieder waren Argentinien, Griechenland, Italien, Lettland, Portugal, Rumänien, Schweiz und Tschechoslowakei; seit 2002 hatte die FIBA ihren Sitz in Genf.
Zwei Jahre zuvor wurde die Sportart „Basketball“ offiziell von dem Internationalen Olympischen Komitee anerkannt. Seit dem Jahr 1950 findet in einem zeitlichen Abstand von vier Jahren ein FIBA-Turnier für Männer statt. Im Jahr 1953 wurde dieses Event auch für Frauen eingeführt.
Im Jahr 1989 hat der Weltbasketballverband die Freigabe für professionelle Spieler erteilt. Seither vertreten internationale Basketballspieler wie Dwyane Wade oder Tim Duncan ihre Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen.
US-amerikanische Profiligen.
Eine der bekannteren späten Basketball-Profiligen vor der Entstehung der NBA wurde von drei Konzernen (General Electric, Firestone, Goodyear) im Jahr 1937 unter dem Namen „National Basketball League“ (kurz: NBL) gegründet. Diese Liga wurde im Jahr 1949 aufgelöst und mit der „Basketball Association of America“ (kurz: BAA) zur „National Basketball Association“ (kurz: NBA) vereint. Diese BAA, in der bekannte Spieler wie Bob Davies spielten, hatte im Gründungsjahr 1946 neue und größere Arenen für den Basketball erschlossen. Die NBA wird meist ohne besondere Erwähnung als Kontinuum der BAA angesehen.
Die NBA ist zurzeit die populärste Basketball-Profiliga der Welt. Dreißig Mannschaften aus insgesamt sechs Divisions "(Atlantic, Central, Southeast, Northwest, Pacific, Southwest)" spielen in der Hauptrunde (Regular Season) um den Einzug in die Playoffs. In den Playoffs treten die jeweils acht besten Mannschaften der Western und Eastern Conference in einem K.-o.-System gegeneinander an.
Im Zuge der zunehmenden Gleichberechtigung wurde am 24. April 1996 die Women’s National Basketball Association (WNBA) gegründet.
Deutsche Verbände.
Der Basketball in Deutschland wird vom Deutschen Basketball Bund (DBB) mit Sitz in Hagen organisiert. Der Präsident des DBB ist seit dem Jahr 2006 Ingo Weiss. Die oberste Spielklassen bilden bei den Männern die Basketball-Bundesliga, ProA und ProB sowie bei den Frauen die 1. Damen-Basketball-Bundesliga und die 2. Damen-Basketball-Bundesliga. Im Leistungsjugendbereich kommen noch die Nachwuchs- und Jugend-Basketball-Bundesliga hinzu.
Der Breiten- und Amateursport sowie die Regionalligen werden von den folgenden Landesverbänden organisiert:
Varianten.
Verschiedene Varianten und Abwandlungen des Basketballs sind unter anderem bekannt: Korbball, Korfball, Mini-Basketball, Netball, Show-Basketball, Wasser-Basketball, Slamball
Streetball.
Das so genannte Streetball ist eine Abwandlung des Basketballs. Es erfreut sich seit den 1990er Jahren als Freizeitsportart immer größerer Beliebtheit. Im Unterschied zum klassischen Basketball wird hier meistens drei gegen drei auf nur einen Korb gespielt und findet im Freien statt, wobei sich die Regeln zusätzlich noch vom „normalen“ Basketball unterscheiden. Aufgrund der geringeren Zahl an Spielern pro Mannschaft liegt ein höheres Gewicht auf den direkten Zweikämpfen und damit den Fähigkeiten in der Ballbehandlung.
Einradbasketball.
Der Einradbasketball wird vor allem bei Wettbewerben der "International Unicycling Federation" (kurz IUF) gespielt. Die Teilnehmer müssen den Basketball auf ihrem Einrad so oft wie möglich in den gegnerischen Korb werfen. In dieser Variante werden die gleichen Regeln verwendet wie beim normalen Basketball.
Rollstuhlbasketball.
Der Rollstuhlbasketball wurde im Jahr 1946 in den USA erfunden, da einige Basketballspieler ihren Sport trotz Kriegsverletzungen betreiben wollten. Die "International Wheelchair Basketball Federation" ist der internationale Dachverband. Rollstuhlbasketball zählt seit den Paralympics 1960 in Rom zu den paralympischen Sportarten. Die deutschen Rollstuhlbasketballer sind im Deutschen Rollstuhl-Sportverband (DRS) organisiert.
Basketball für Gehörlose.
Basketball für Gehörlose ist für Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung ab 55 dB Hörverlust zugänglich. Die gleichen Regeln wie beim normalen Basketball werden verwendet, unerlaubte Hilfsmittel sind zum Beispiel Hörgeräte und Cochlea-Implantat-Geräte.
Die Deaf International Basketball Federation (DIBF) ist der Weltbasketballverband für Gehörlose und organisiert die Weltmeisterschaften sowie diverse internationale Meisterschaften. Basketball für Gehörlose zählt seit den Deaflympics 1949 in Brüssel zu den deaflympischen Sportarten. Die deutschen gehörlosen Basketballer sind im Deutschen Gehörlosen-Sportverband (DGSV) organisiert.
Basketball für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung.
Basketball (Special Olympics) ist eine Sportart, die auf den Regeln von Basketball beruht und in Wettbewerben und Trainingseinheiten der Organisation Special Olympics weltweit für geistig und mehrfach behinderte Menschen angeboten wird. Basketball ist seit 1968 bei Special Olympics World Games vertreten.
Beachbasketball.
Das zunächst in den Vereinigten Staaten als Trainingsvariante des Basketballs entwickelte Beachbasketball erfreut sich seit einigen Jahren einer wachsenden Popularität. Dabei wird in Deutschland anders als in den Vereinigten Staaten auf zwei Körbe in einem verkleinerten Spielfeld gespielt. Die deutsche Meisterschaft im Beachbasketball wird jährlich in Cuxhaven ausgetragen.
Popkultur.
Film.
Der erste Film mit einer Basketball-Thematik erschien im Jahr 1979 unter dem Titel "The Fish That Saved Pittsburgh". In dieser Komödie spielten sehr bekannte Basketballspieler wie Julius Erving oder Kareem Abdul-Jabbar die Hauptrollen. Im Jahr 1987 wurde der Film "Freiwurf" (eng. ) in den Kinos veröffentlicht. In diesem Sportdrama spielten bekannte Schauspieler wie Gene Hackman, Barbara Hershey oder Dennis Hopper die Hauptrolle. Der Film handelt von einer hoffnungslosen High School Mannschaft, die sich durch die Hilfe von Coach Norman Dale (gespielt von Gene Hackman) zu einem Titelfavoriten entwickeln. Der Film wurde von der Presse positiv aufgenommen und war in zwei Kategorien für den Oscar nominiert.
Durch den großen Erfolg der amerikanischen Basketballmannschaft bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona und die Siegesserie von Basketballlegende Michael Jordan mit den Chicago Bulls entstand in den 1990er Jahren ein Boom an Filmen mit Basketball-Thematik. Weiterhin ist Basketball zwar im Film nicht das direkte Hauptthema. Allerdings wird der Beginn der Zusammenarbeit zwischen Michael Jordan und Nike im Jahr 1984 dargestellt. Im Jahr 1992 erschien die Filmkomödie "Weiße Jungs bringen’s nicht", mit den Schauspielern Wesley Snipes und Woody Harrelson in der Hauptrolle, in den Kinos.
Zwei Jahre später werden zwei weitere Filme und eine Dokumentation mit einer Basketballthematik in den Kinos veröffentlicht. In dem Filmdrama "Above the Rim – Nahe dem Abgrund" spielt Tupac Shakur die Rolle des skrupellosen Ganganführers Birdie, der den hoffnungsvollen jungen Spieler Kyle in seiner Mannschaft haben will. In dem Film "Blue Chips" geht es um den Coach Pete Bell (gespielt von Nick Nolte) und seine Basketball-Mannschaft, die durch das Brechen der Regeln zur Siegermannschaft aufsteigen wollen. Die Basketballspieler Bob Cousy und Shaquille O’Neal spielten in diesem Film eine Nebenrolle.
Der Dokumentarfilm "Hoop Dreams" befasst sich mit zwei afroamerikanischen Jungen, die aus ihrem schlechten Leben in dem Ghetto fliehen wollen, um professionelle Basketballspieler zu werden. Diese Dokumentation wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und war im Jahr 1995 für den Oscar nominiert. Mitte der neunziger Jahre erschienen weitere bekannte Basketball-Filme wie die Komödie "Eddie" oder der Animationsfilm "Space Jam". Im Jahr 1998 veröffentlichte der Regisseur David Zucker die Filmkomödie "Die Sportskanonen". In diesem Film erfinden die Freunde Joe Cooper und Doug Remer die Sportart „Baseketball“, eine Mischung aus Baseball und Basketball.
Eine große Popularität unter Basketball-Fans erzielte der Film "Spiel des Lebens". Der Film wurde von dem Regisseur Spike Lee gedreht und mit namhaften Schauspielern wie Denzel Washington oder Milla Jovovich belegt. Im Jahr 2005 kam der Film "Coach Carter" in die deutschen Kinos, der auf einer wahren Begebenheit beruht.
Videospiel.
Im Jahr 1979 wurde das erste Basketballvideospiel für den Atari veröffentlicht. Das Spiel konnte man damals mit einem sogenannten Trackball gegen den Computer oder einen anderen Mitspieler spielen.
Im Jahr 1989 wurde von dem Spieleentwickler Electronic Arts eine Serie gegründet, die zwei verschiedene Mannschaften gegenüberstellt. Der erste Teil dieser Serie erschien unter dem Titel "Lakers versus Celtics" für den PC und Sega Mega Drive. In diesem Spiel konnte man erstmals NBA-Stars wie Larry Bird, Kareem Abdul-Jabbar oder Magic Johnson spielen. Durch den großen Erfolg ermutigt, veröffentlichte Electronic Arts im Jahr 1991 den Nachfolger "Bulls versus Lakers and the NBA Playoffs". Das Sportspiel besaß 16 Originalmannschaften der Playoffs aus der vorherigen Saison und konnte mit einem weiteren Mitspieler gespielt werden.
Ein Jahr später kam das Spiel "Team USA Basketball" weltweit auf den Markt. Der Spieler konnte aus insgesamt vierzehn Internationalen Mannschaften (u. a. Australien, Angola, China) eine aussuchen und mit dieser gegen andere Mannschaften antreten. Im folgenden Jahr veröffentlichte der Spieleentwickler Midway das sehr beliebte und erfolgreiche Basketballspiel NBA Jam. Das Spielprinzip unterschied sich sehr von den anderen Basketballspielen, die auf eine realistische Spielweise setzten.
Im Jahr 1995 veröffentlichte der Spieleentwickler Electronic Arts den ersten Teil der "NBA-Live"-Serie für das Super Nintendo, Sega Mega Drive und den PC. Die Serie bot Originallizenzen der NBA und eine auf die Systeme angepasste Grafikengine. Innerhalb der nächsten Jahre entwickelte sich "NBA Live" zu einer der beliebtesten Basketball-Videospielreihe der Welt. Neben der NBA-Live-Reihe veröffentlicht EA Sports auch "NBA Street". Diese Reihe bietet neben den Originallizenzen eine unrealistische Spielweise, die sehr an die NBA-Jam-Serie erinnert. Nach der 2009 erschienenen Version NBA Live 10 wurde die Serie eingestellt und EA begann die Entwicklung einer neuen Basketballsimulation, die "NBA Elite" heißen sollte. Nach mehreren Verschiebungen des Veröffentlichungstermins wurde die Entwicklung komplett eingestellt, so dass es für die Saison 2010/11 keine Version von EA gab.
Seit 2005 gibt es eine weitere Spielserie, welche von 2K Games produziert wird. Sie nennt sich "NBA2K" und entwickelte sich seit dem Start zum größten Konkurrenten der EA-Sports-Serie. Neben einer realistischen Simulation bietet das Spiel auch alle Lizenzen der NBA sowie einen Modus, der es den Benutzern ermöglicht, einen eigenen Profispieler zu erstellen. |
559 | 229638591 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=559 | Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände | Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V. (BDA; auch "Bund Deutscher Arbeitgeberverbände") ist der arbeits- und sozialpolitische Spitzenverband der gesamten deutschen Wirtschaft und hat ihren Sitz in Berlin (von 1951 bis 1999 in Köln). Die BDA vertritt als Interessenverband aller Branchen der privaten gewerblichen Wirtschaft in Deutschland die Arbeitgeberseite von ca. 70 % der Beschäftigten.
Geschichte.
Die Arbeitgeberverbände entstanden in Reaktion auf die Gewerkschaften. Schon 1869 gründete sich der Deutsche Buchdruckerverein als erster und ältester Arbeitgeberverband. Im April 1904 kam es zur Gründung der Hauptstelle der deutschen Arbeitgeberverbände mit Sitz in Berlin und 1913 zur „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“. Dieser entstand aus einer Fusion zweier rivalisierender Spitzenverbände, der Hauptstelle deutscher Arbeitgeberverbände (gegründet 1904 als Vertretung der schwerindustriellen Arbeitgeber) und dem Verein deutscher Arbeitgeberverbände (gegründet 1904 als Vertretung der Arbeitgeber in der verarbeitenden Industrie).
1920 waren bereits Betriebe mit 8 Millionen Mitarbeitern in Arbeitgeberverbänden organisiert. Nach der Machtergreifung der NSDAP lösten sich die Arbeitgeberverbände unter dem Druck der Nationalsozialisten auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Arbeitgeberverbände in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR verboten. In den Westsektoren knüpfte man an die Traditionen der Zeit vor 1933 an. 1947 wurde die Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber der Westzone gebildet, aus der 1948 das Zentralsekretariat der Arbeitgeber des Vereinigten Wirtschaftsgebietes wurde. Noch vor Inkrafttreten des Grundgesetzes fand im Januar 1949 die konstituierende Sitzung der sozialpolitischen Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeberverbände des vereinigten Wirtschaftsgebietes mit Sitz in Wiesbaden durch Vertreter von 23 fachlichen und acht fachübergreifenden Arbeitgeberverbänden statt.
Nachdem sich Ende 1949 auch die Verbände auf dem Gebiet der ehemaligen Französischen Besatzungszone angeschlossen hatten, wurde im November 1950 der Name „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ festgelegt.
Mit dem Aufbau von Verbandsstrukturen nach westdeutschem Vorbild in den Neuen Bundesländern 1990 etablierte sich die BDA als gesamtdeutscher Arbeitgeberverband. 1999 folgte die BDA dem Umzug der Regierung nach Berlin und zog an die Spree. Dort teilt sie sich das Haus der Deutschen Wirtschaft in der Breiten Straße 29 mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag.
Organisation.
Unter dem Dach der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sind die deutschen Arbeitgeberverbände zusammengefasst. Ihre Mitglieder sind 14 überfachliche Landesvereinigungen (gemeinsame Landesvereinigungen zwischen Berlin und Brandenburg sowie Hamburg und Schleswig-Holstein) mit jeweils überfachlichen Regionalverbänden, des Weiteren 47 Bundesfachspitzenverbände mit jeweiligen Landes- und regionalen Fachverbänden aus den Bereichen Industrie, Dienstleistung, Finanzwirtschaft, Handel, Verkehr, Handwerk und Landwirtschaft. Insgesamt sind circa eine Million Unternehmen mittelbar Mitglied der BDA. Diese beschäftigen rund 70 Prozent aller Arbeitnehmer. Der größte Arbeitgeber in Deutschland, die Öffentliche Hand, gehört allerdings nicht zu den Arbeitgeberverbänden.
Die BDA ist ein eingetragener Verein nach § 21 BGB. Sie ist als Berufsverband mit dem Zweck, die Interessen der Arbeitgeber in unserer pluralistischen Gesellschaft zu vertreten, dem Gemeinwohl verpflichtet und daher steuerbefreit.
Die wichtigsten Organe sind die Mitgliederversammlung, der Vorstand, das Präsidium, die Hauptgeschäftsführung, die Ausschüsse und die Walter-Raymond-Stiftung.
Die Mitgliederversammlung, die jährlich stattfindet, wählt den Präsidenten auf zwei Jahre, das Präsidium sowie Mitglieder des Vorstandes und ist verantwortlich für den Haushalt und die Beitragsordnung.
Der Vorstand nimmt neue Mitglieder auf, setzt Ausschüsse ein und gibt einstimmig tarifpolitische Empfehlungen ab. Er bestimmt die grundlegenden Richtungsentscheidungen.
Das Präsidium handelt in dem vom Vorstand gesteckten Rahmen und ist das zentrale Entscheidungsorgan. Es besteht aus dem Präsidenten, acht Vizepräsidenten einschließlich des Schatzmeisters und 38 weiteren Mitgliedern und repräsentiert die gesamte Bandbreite der deutschen Wirtschaft. Präsident und Vizepräsidenten bilden gemäß § 26 BGB den juristischen Vorstand der BDA.
Die Hauptgeschäftsführung wird auf Vorschlag des Präsidenten vom Vorstand berufen. Der Hauptgeschäftsführer und zwei Mitglieder der Hauptgeschäftsführung leiten die laufenden Geschäfte in enger Absprache mit dem Präsidenten.
Zudem bestehen 75 Ausschüsse und Arbeitskreise, die sich mit Sachfragen beschäftigen, darunter vier gemeinsame mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Ihre Vorschläge und Stellungnahmen sind Grundlage für die Entscheidungen von Vorstand und Präsidium.
Auf europäischer Ebene besteht die Businesseurope (ehemals "Union des Confédérations de l'Industrie et des Employeurs d'Europe"). International ist die BDA in der International Organisation of Employers vertreten.
Präsidenten.
An der Spitze der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände steht der Präsident. Dieses Amt hatten seit 1949 folgende Personen inne:
Hauptgeschäftsführer.
Eine weitere wesentliche Funktion in der BDA nimmt der Hauptgeschäftsführer ein:
Aufgaben.
Für ihre Mitglieder vertritt die BDA die unternehmerischen Interessen in der politischen Willensbildung. Ihr stehen dabei die Legislative, die Exekutive, Gewerkschaften, gesellschaftliche Gruppen und die Öffentlichkeit gegenüber. Die BDA berät die Entscheidungsträger von den ersten Gesetzes-Entwürfen im Ministerium über die parlamentarischen Beratungen und Ausschuss-Sitzungen bis zur abschließenden Behandlung im Bundesrat. Durch das Erstellen von Konzepten in ihren Themenbereichen nimmt sie Einfluss auf die gesellschaftliche Willensbildung. In verschiedenen Gremien werden neue Positionen erarbeitet und Informationen aufbereitet. Sie ist auch in den Selbstverwaltungsorganen aller Sozialversicherungen vertreten.
Die BDA deckt die Themenfelder Beschäftigungspolitik, Soziale Sicherung, Arbeitsrecht, Tarifpolitik, Bildung, Europapolitik, Gesellschaftspolitik und Volkswirtschaft ab. Dieses schlägt sich auch in ihrer Abteilungsstruktur nieder.
Darüber hinaus bietet die BDA ihren Mitgliedern umfangreiche Informationsdienste. Sie informiert frühzeitig über gesetzliche Entwicklungen und bewertet getroffene politische Entscheidungen sowie arbeitsrechtliche Urteile insbesondere in Hinblick auf ihre Folgen für die Unternehmen. Dazu versendet sie jährlich 1.000 Informationsrundschreiben und bearbeitet 15.000 Anfragen pro Jahr.
Politische Einflussnahme.
Der Widerstand gegen den Schutz von Whistleblowern.
Roland Wolf, Geschäftsführer und Leiter der Abteilung Arbeitsrecht der BDA, sprach sich bei einer öffentlichen Anhörung im Bundestag am 16. März 2015 gegen ein vorgeschlagenes Whistleblower-Schutzgesetz für Deutschland aus.
Einflussnahme auf die politische Bildung.
Im Juli 2015 erließ das Bundesministerium des Innern (BMI) ein vorläufiges Vertriebsverbot gegen die von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) herausgegebene Publikation „Ökonomie und Gesellschaft“ aus der Schriftenreihe „Themen und Materialien“. Das Verbot erfolgte auf Initiative der BDA und mit der Begründung eines Verstoßes gegen den Beutelsbacher Konsens. Der Wissenschaftliche Beirat der bpb kam nach Überprüfung der Vorwürfe zu dem Schluss, die Publikation sei unproblematisch; der BDA habe seine Vorwürfe in skandalisierender Absicht mit „verkürzenden“ und „verfälschenden“ Zitaten belegt; so sei beispielsweise ohne Kenntlichmachung direkt aus Materialien zitiert worden. Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kritisierte die Maßnahmen des BMI und „verwehrt sich gegen den massiven Eingriff des Ministeriums in die Freiheit der Wissenschaft“; weiter kritisiert er den „politischen Vorstoß der BDA“, der „das Gebot der Wissenschaftsorientierung von Bildung“ ignoriere. Auch die Gewerkschaft IG Metall kritisierte den Vorgang als „Skandal“.
Einzelnachweise.
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560 | 516546 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=560 | Biochemie | Die Biochemie (zu griechisch "bíos" ‚Leben‘, und zu „Chemie“) oder biologische Chemie, früher auch physiologische Chemie genannt, ist die Lehre von chemischen Vorgängen in Lebewesen, dem Stoffwechsel. Chemie, Biologie und Medizin sind in der Biochemie eng miteinander verzahnt.
Gegenstand.
Die Biochemie beschäftigt sich unter anderem mit:
Im Zuge dessen konzentrieren sich die Betrachtungen auf die organischen Stoffgruppen der Nukleinsäuren, Proteine, Lipide, Kohlenhydrate, Spurenelemente und Vitamine, sowie deren Derivate, welche im Allgemeinen als Biomoleküle bezeichnet werden. Der überwiegende Teil der biochemisch wichtigen Vorgänge spielt sich in Lebewesen ab. Im Gegensatz zur organischen Chemie in chemischen Laboren laufen biochemische Reaktionen überwiegend in wässrigem Milieu ab.
Methoden.
In der Biochemie wird eine Vielzahl von Methoden aus verschiedenen Gebieten angewandt. Die klassische Biochemie bedient sich vor allem der analytischen Chemie, organischen Chemie, physikalischen Chemie und der Physik. Wichtige Techniken sind dabei (Ultra-)Zentrifugation, Ultraschallaufschluss, SDS-Gelelektrophorese, Chromatographie, Elektrophorese, Spektroskopie, Molekülmarkierung, Isotopentechniken, Kristallisation, potentiometrische, elektrometrische, polarographische und manometrische Techniken, verschiedene Methoden zum Zellaufschluss, der Reinigung und Charakterisierung von Biomolekülen, der Informatik, der Genetik und Molekularbiologie, der Mikrobiologie und anderen Fächern. Hinzu kommt in der modernen Biochemie stets die quantitative Auswertung der Ergebnisse mit mathematischen Methoden und die Bildung von formalen Theorien mit Hilfe der Mathematik.
Geschichte.
Anfänge.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden von organischen Chemikern die stoffliche Zusammensetzung von Tieren und Pflanzen und ab etwa 1840 auch komplexe Stoffwechselvorgänge systematisch untersucht. Es konnte von biologischem Material durch die Elementaranalyse der Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff- und Schwefelgehalt bestimmt werden. Ab 1860 konnten chemische Strukturformeln von Stoffen aus der elementaren Zusammensetzung durch gedankliche Kombination ermittelt werden, nun begann eine gründliche Suche nach den biologischen Körpern in Organismen. Die Suche war aufgrund der sehr geringen Stoffmenge von Biomolekülen und der mangelhaften Nachweismethoden – selbst die Elementaranalyse benötigte größere Stoffmengen – sehr zeitraubend und nicht immer erfolgreich. Erst mit Verbesserung der analytischen Geräte ab 1950 wurde die Suche und Strukturaufklärung von Biomolekülen einfacher. Eines der weltweit ersten biochemischen – damals physiologisch-chemischen – Labore wurde 1818 in der einstigen Küche des Schlosses Hohentübingen (Eberhard Karls Universität Tübingen) von Georg Carl Ludwig Sigwart und Julius Eugen Schlossberger eingerichtet. In ihm wurde von Felix Hoppe-Seyler 1861 das Hämoglobin und von seinem Schüler Friedrich Miescher 1869 die Nukleinsäure entdeckt.
Das Fach "Physiologische Chemie" spaltete sich 1922 von der "Physiologie" ab. Grundsteine für eine physiologische Chemie wurden jedoch schon früher, beispielsweise um 1840 durch Joseph von Scherer, den Begründer der Klinischen Chemie, gelegt.
Proteine und Fette.
Fette wurden von Eugène Chevreul und später von Heinrich Wilhelm Heintz untersucht. Gerardus Johannes Mulder konnte aus dem Fibrin des Blutes einen gelatinösen Niederschlag herstellen und gab ihm den Namen Protein. Louis-Nicolas Vauquelin untersuchte die Zusammensetzung der Haare und fand dort die chemischen Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel.
Aminosäure.
Pierre Jean Robiquet und Louis-Nicolas Vauquelin fanden auch die erste Aminosäure, die sie im Jahre 1805 isolierten: Asparagin. Joseph Louis Proust entdeckte Leucin (1818), Justus von Liebig Tyrosin (1846). Zwischen 1865 und 1901 wurden weitere 12 Aminosäuren entdeckt, davon entdeckte Ernst Schulze drei neue Aminosäuren: Glutamin, Phenylalanin und Arginin. Erste Peptidsynthesen wurden von Emil Fischer ab 1901 unternommen.
Justus Liebig erkannte, dass in der Hefe ein besonderer Stoff enthalten sein musste, der die Gärung auslöst. Er nannte diesen Stoff "Bios". Zum ersten Mal verwendet wurde der Begriff "Biochemie", als Vinzenz Kletzinsky (1826–1882) im Jahre 1858 sein "Compendium der Biochemie" in Wien drucken ließ. Felix Hoppe-Seyler (Milchsäure aus Glykogen, Oxidations- und Reduktionsfermenten, Hämoglobin), Georg Carl Ludwig Sigwart (Analysen von Gallen- und Harnsteinen), Anselme Payen (1833: Amylase), Julius Eugen Schlossberger (Kreatin, Hämocyanin) erweiterten die biochemischen Kenntnisse.
Enzyme.
Entdeckt wurde Amylase (damals noch Diastase) 1833 vom französischen Chemiker Anselme Payen in einer Malzlösung. Damit war Diastase das erste Enzym, das man gefunden hat.
Anfang des 19. Jahrhunderts war auch bekannt, dass bei der Gärung von abgestorbenen Organismen der Sauerstoff aus der Luft nötig ist, ferner Temperatur und Wasser auf diesen Prozess einen Einfluss hatten. Bei toten Tieren und Menschen setzt die Fäulnisbildung zuerst an den Stellen ein, die mit der Luft in Berührung kommen. Auch bei pflanzlichen Stoffen, der Bildung von Alkohol aus einer Traubensaftlösung oder der Versäuerung von Milch erkannten Chemiker, allen voran Louis Pasteur, Gärungsprozesse. Pasteur entdeckte bei der Untersuchung der wirtschaftlich bedeutsamen Zuckervergärung zu Alkohol durch Hefepilze, dass diese nicht wie bis dahin meist angenommen auf Fäulnisprozesse und abgestorbene Lebewesen zurückgehen, sondern ein Prozess in lebenden Organismen ist, die dafür Fermente (Enzyme) einsetzen. Der Körper, der diese Prozesse begünstigte, wurde "Ferment" genannt. Eduard Buchner entdeckte 1896 die zellfreie Gärung. James Batcheller Sumner isolierte 1926 das Enzym der Schwertbohne und behauptete, dass alle Enzyme Proteine sein müssten.
John Howard Northrop isolierte wenige Jahre später Pepsin, Trypsin und Chymotrypsin in kristalliner Form und konnte Sumners Hypothese bestätigen.
Nukleinsäure.
Der Physiologe Friedrich Miescher hatte 1869 die Nucleoproteide im Zellkern entdeckt. Albrecht Kossel entdeckte die Nukleinsäure Adenin (1885). Weitere Nukleinsäuren erhielt er aus tierischem Extrakt, und zwar Guanin, Xanthin (1893), Thymin (1894), Cytosin und Uracil (1903). Emil Fischer gelangen die ersten Synthesen des Adenins, Theophyllins, Thymins und Uracils (1897–1903). Phoebus Levene untersuchte die Verknüpfung von einer Nukleinsäure mit einer Pentose und einem Phosphat zum Mono-Nukleotid (1908).
Kohlenhydrate.
Kohlenhydrate sind ein wichtiger Bestandteil unserer Nahrung, sie wurden daher zeitig von Biochemikern untersucht. Sowohl Stärke als auch Zucker werden zu Glucose abgebaut und bei einem Überangebot in der Leber als Glykogen gespeichert. Ein konstanter Blutzuckergehalt ist für das Gehirn und die Muskeln lebensnotwendig. Adolf von Baeyer gab 1870 bereits eine erste Formel zur Glucose an. Emil Fischer machte ab 1887 umfangreiche Forschungen zur Aufklärung der chemischen Strukturen von Zuckern mit Phenylhydrazin zu gut kristallisierbaren Osazonen. Im Jahr 1893 konnte er durch Umwandlung von Glucose mit Methanol zu Methylglykosid – das die Fehlingsche Lösung nicht reduzierte – beweisen, dass die Aldehydgruppe im Ring mit einer Hydroxygruppe verknüpft (glycosidisch) ist. Später (1922) folgerte Burckhardt Helferich, dass die Glucose in einem Sechsring (1,5-glykosidisch statt 1,4-glykosidisch) vorliegen musste. Weitere wichtige Arbeiten zur Zuckerchemie und deren strukturelle Darstellung leistete Norman Haworth; er synthetisierte auch erstmals das Vitamin C (bei Mangel tritt Skorbut auf), ein Säurederivat eines Zuckers.
Vitamine.
Durch mangelhafte Ernährung starben zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch viele Menschen. Im Jahr 1882 untersuchte Gustav von Bunge Ratten und Mäuse, die er nur mit Eiweiß, Kohlenhydraten und Fetten fütterte, deren Nahrung aber keine weiteren Beimischungen enthielten. Die Tiere starben. Menschen benötigen neben Eiweiß, Kohlenhydraten, Fetten noch Vitamine. Viele Vitamine wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgefunden. Die Strukturaufklärung des Cholesterins (und damit der Gruppe der Steroide) durch Adolf Windaus war für die Strukturaufklärung und Bildung von Vitamin D (bei dessen Mangel Rachitis auftritt) bedeutsam. Windaus war auch mit der Aufklärung der Summenformel und Struktur von Vitamin B1 befasst. Sir Frederick Gowland Hopkins, ein Pionier der Biochemie in Großbritannien und Casimir Funk, der das Wort "Vitamin" prägte, leisteten bedeutende Forschungen zur Entdeckung des Vitamin B1 (bei Mangel tritt Beri-Beri auf). Hopkins entdeckte auch zwei essentielle Aminosäuren und wurde dafür 1929 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Im Jahre 1926 entdeckte der Physiologe Otto Warburg das Atmungsferment Cytochromoxidase, ein Ferment im Zitronensäurezyklus und für Redoxvorgänge der Zelle, wofür er 1931 den Nobelpreis erhielt.
Hormone.
Stoffgruppen, die in menschlichen Organen produziert werden, nennt man nach Ernest Starling Hormone. Thomas Addison entdeckte 1849 eine Krankheit, die ihren Ursprung in den Nebennieren hat. T. B. Aldrich und Takamine Jōkichi (1901) extrahierten einen Stoff, den sie Adrenalin nannten, aus tierischen Nieren. Aldrich ermittelte die Summenformel und Friedrich Stolz gelang die chemischen Synthese (1904). Damit gelang der Biochemie 1904 erstmals die künstliche Herstellung eines Hormons.
Die Kropfbildung ist eine weitere hormonelle Krankheit der Schilddrüse, die seit 1820 nach Jean-Francois Coindet durch Iodgaben gemildert werden konnte. Erst 1915 glückte Edward Calvin Kendall die Isolierung einer kristallinischen Substanz der Schilddrüse. Er hielt sie fälschlicherweise für ein Oxindolderivat und nannte sie daher Thyroxin. Synthetisch wurde Thyroxin seit 1926 von Charles Robert Harington darstellbar.
Im Jahre 1935 isolierte Ernst Laqueur aus Stierhoden das von ihm so benannte Sexualhormon Testosteron. Auch von Adolf Butenandt wurden die Geschlechtshormone untersucht. Im Jahr 1929 isolierte er mit Estron eines der weiblichen Sexualhormone. Zwei Jahre später isolierte er mit Androsteron ein männliches Geschlechtshormon. Im Jahr 1934 entdeckte er das Hormon Progesteron. Durch seine Forschung wurde gezeigt, dass die Geschlechtshormone eng mit Steroiden verwandt sind. Seine Untersuchungen auf dem Gebiet der Sexualhormone ermöglichte die Synthese von Cortison sowie andere Steroide. Dies führte schließlich zur Entwicklung von modernen Verhütungsmitteln.
Der Mangel des Bauchspeichelhormons konnte durch Gabe von Rinder-Insulin 1920 durch Frederick Banting und Best gelindert werden. Erst 1953 wurde die Aminosäuresequenz von Insulin durch Frederick Sanger aufgeklärt.
Wichtige Forschungsgebiete der modernen Biochemie.
In Lehrbüchern der Biochemie werden die Prozesse der Gärung von Zucker zu Ethanol und Milchsäure sowie der Aufbau von Glucose zu Glykogen ausführlich beschrieben. Diese Umwandlungen werden unter dem Stichwort Glykolyse zusammengefasst.
Die Energiegewinnung in lebenden Zellen erfolgt über den Abbau von Fetten, Aminosäuren und Kohlenhydraten über Oxalacetat zu Citrat durch Acetyl-S-CoA unter Freisetzung von Kohlendioxid und Energie. Acetyl-S-CoA enthält ein wasserlösliches Vitamin – die Pantothensäure. Dieser Prozess wurde von H. Krebs 1937 untersucht und wird Citratzyklus genannt.
Oxidationen von Biomolekülen in Zellen verlaufen über mehrere Enzyme an denen das Vitamin B2 beteiligt ist. Dieser Prozess wird in Lehrbüchern als oxidative Phosphorylierung oder Atmungskette beschrieben.
Ein weiterer biochemischer Prozess ist die Photosynthese. Kohlenstoffdioxid aus der Luft und Wasser wird durch Strahlungsenergie durch das Pigment Chlorophyll in Pflanzenzellen und phototrophen Mikroorganismen in Kohlenhydrate und Sauerstoff überführt.
Im menschlichen und tierischen Organismen wird überschüssige Energie aus der Nahrung in Form von Fetten gespeichert. Bei Energiemangel der Zellen werden diese Fette wieder abgebaut. Dieser Prozess erfolgt über die Oxidation von Fettsäuren mittels Acetyl-CoA.
Bei Krankheiten (schwere Diabetes) oder extremen Nahrungsmangel greifen Zellen auch auf Aminosäuren zur Energiegewinnung zurück. Dabei werden Proteine zu Aminosäuren und diese zu Kohlendioxid abgebaut. Der Harnstoffzyklus beschreibt die ablaufenden Umwandlungen.
In pflanzlichen und tierischen Zellen können Kohlenhydrate aus anderen Stoffen – beispielsweise der Milchsäure oder aus Aminosäuren – biochemisch aufgebaut werden. Die Untersuchungen zu den einzelnen biochemischen Schritten werden in Gluconeogenese untersucht.
Ferner wurden die Biosynthesen von Aminosäuren, Nucleotiden, Porphyrinen, der Stickstoffzyklus in Pflanzen gründlich untersucht.
Ein weiterer Teilbereich der biochemischen Forschung ist die Resorption und der Transport von Stoffwechselprodukten durch das Blutplasma.
Die Weitergabe der gespeicherten Information im Zellkern auf der DNA (genauer: bestimmter Abschnitte der DNA, den Genen) zur Herstellung von Enzymen verläuft über die Replikation, Transkription und Proteinbiosynthese. Dies ist ein sehr wichtiges Gebiet der synthetischen Biochemie (Biotechnologie), da Bakterien auf ihrer zyklischen DNA (Plasmiden) dazu gebracht werden können, bestimmte Enzyme zu produzieren.
Einzelne Proteine können mittels Gel-Elektrophorese nachgewiesen werden. Durch den Edman-Abbau kann die Aminosäure-Sequenz des Proteins bestimmt werden.
Forschungsinstitute im deutschen Sprachraum.
Max-Planck-Institute und Leibniz-Institute.
Führend in der biochemischen Forschung sind beispielsweise die "Max-Planck-Institute" der Max-Planck-Gesellschaft, aber auch die "Leibniz-Institute" der Leibniz-Gemeinschaft:
Universitätsinstitute und Fakultäten.
Die Biochemie gehört zum festen Bestandteil der hochschulischen Ausbildung in den Naturwissenschaften. Vor allem Mediziner und Biologen, aber auch andere Naturwissenschaftler, widmen sich an den Universitäten dem Fach. So finden sich "Institute für Biochemie" an vielen deutschsprachigen Hochschulen:
In Deutschland:
In Österreich:
In der Schweiz:
Gliederung.
Je nach Betrachtungswinkel wird die Biochemie in Bezug auf menschliche Erkrankungen als medizinische Biochemie, in Bezug auf Ökosysteme ökologische Biochemie, in Bezug auf Pflanzen als Pflanzenbiochemie, in Bezug auf das Immunsystem als Immunbiochemie und in Bezug auf das Nervensystem als Neurochemie bezeichnet. Ebenso wird die Biochemie nach Stoffgruppen eingeteilt, z. B. Proteinchemie, Nukleinsäurebiochemie, Kohlenhydratbiochemie und Lipidbiochemie. Small molecules werden von der Naturstoffchemie behandelt. Die Enzymologie und die Signaltransduktion stellen Sonderbereiche der Biochemie dar. Die Biophysikalische Chemie untersucht Biomoleküle und Lebewesen mit Methoden der physikalischen Chemie.
Nobelpreisträger aus dem Fachgebiet.
In der nachfolgenden Galerie findet sich eine Auswahl wichtiger Nobelpreisträger, die für Forschungen auf dem Gebiet der Biochemie (oder deren unmittelbare Nachbardisziplinen) ausgezeichnet wurden:
Biochemiker.
Studium.
2008 gab es in Deutschland Studiengänge der Biochemie mit den Abschlüssen Diplom, Bachelor und Master. Die Diplomstudiengänge werden schrittweise durch konsekutive Bachelor- und Masterstudiengänge ersetzt:
Neben dem reinen Biochemie-Studium besteht die Möglichkeit, die Fachrichtungen Chemie oder Biologie zu studieren und während des Studiums den Fächerkanon Biochemie zu vertiefen. Eine Spezialisierung erfolgt üblicherweise durch Biochemie als Wahlpflichtfach bzw. Hauptfach sowie die Anfertigung einer Diplom-, Bachelor- oder Masterarbeit im Bereich der Biochemie. Diese Variante bietet den Vorteil, dass sich Studienanfänger nicht direkt für ein reines Biochemie-Studium entscheiden müssen. Vielmehr haben sie die Möglichkeit, im Grundstudium verschiedene Fächer kennenzulernen, um sich dann während des Hauptstudiums zu spezialisieren, z. B. in Biochemie. Die Möglichkeit dazu ist an vielen Universitäten gegeben und die Regelstudienzeiten entsprechen denen der reinen Biochemie-Studiengänge. Bei den Bachelor- und Masterstudiengängen hat sich inzwischen im Bereich der Biowissenschaften eine Vielfalt von Studiengängen mit unterschiedlichen Namen und Spezialisierungen etabliert. Ihnen ist gemeinsam, dass sie besonderen Wert auf die molekularen Grundlagen legen und einen hohen Praxisanteil in der Ausbildung haben (siehe Weblinks). Außerdem überschneidet sich zumeist ein großer Teil des (Grund-)Studiums mit den Studiengängen der Chemie sowie der Biologie, weist aber oft auch entscheidende Unterschiede auf (z. B. weniger Vertiefung im Bereich der Botanik, Zoologie oder der Anorganischen Chemie als im Chemie- bzw. Biologie-Studium). Ein besonderer Wert wird im Curriculum der Studiengänge auch auf die Module der Organische Chemie, Physikalischen Chemie und der Biochemie gelegt, da diese eine erforderliche Grundkenntnis für die Tätigkeit als Biochemiker darstellen.
Der Facharzt für Biochemie.
Es besteht auch die Möglichkeit, nach einem absolvierten Medizinstudium in Deutschland als "Facharzt für Biochemie" tätig zu werden. Hierfür bedarf es einer vierjährigen Weiterbildungszeit. Auf diese anrechenbar ist
Am 31. Dezember 2010 waren 102 Fachärzte für Biochemie registriert, von denen einer niedergelassen war. 52 übten keine ärztliche Tätigkeit aus. Die Zahl der ärztlich tätigen registrierten Fachärzte für Biochemie reduzierte sich innerhalb des Jahrzehntes 2000–2010 um fast 50 %. |
561 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=561 | Biotechnologie | Die Biotechnologie (; auch als Synonym zu Biotechnik und kurz als Biotech) ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Nutzung von Enzymen, Zellen und ganzen Organismen in technischen Anwendungen beschäftigt. Ziele sind u. a. die Entwicklung neuer oder effizienterer Verfahren zur Herstellung chemischer Verbindungen und von Diagnosemethoden.
In der Biotechnologie werden Erkenntnisse aus vielen Bereichen, wie vor allem Mikrobiologie, Biochemie (Chemie), Molekularbiologie, Genetik, Bioinformatik und den Ingenieurwissenschaften mit der Verfahrenstechnik (Bioverfahrenstechnik) genutzt. Die Grundlage bilden chemische Reaktionen, die von freien oder in Zellen vorliegenden Enzymen katalysiert werden (Biokatalyse oder Biokonversion). Die Biotechnologie leistet wichtige Beiträge für den Prozess der Biologisierung.
Klassische biotechnologische Anwendungen wurden bereits vor Jahrtausenden entwickelt, wie z. B. die Herstellung von Wein und Bier mit Hefen und die Verarbeitung von Milch zu verschiedenen Lebensmitteln mithilfe bestimmter Mikroorganismen oder Enzyme. Die moderne Biotechnologie greift seit dem 19. Jahrhundert zunehmend auf mikrobiologische und seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch auf molekularbiologische, genetische bzw. gentechnische Erkenntnisse und Methoden zurück. Dadurch ist es möglich, Herstellungsverfahren für chemische Verbindungen, z. B. als Wirkstoff für die Pharmazeutik oder als Grundchemikalie für die chemische Industrie, Diagnosemethoden, Biosensoren, neue Pflanzensorten und anderes zu entwickeln.
Biotechnische Verfahren können vielfältig in unterschiedlichsten Bereichen angewendet werden. Teilweise wird versucht, diese Verfahren nach Anwendungsbereichen zu sortieren, wie z. B. Medizin (Rote Biotechnologie), Pflanzen bzw. Landwirtschaft (Grüne Biotechnologie) und Industrie (Weiße Biotechnologie). Teilweise wird auch danach unterschieden, auf welche Lebewesen die Methoden angewendet werden, wie etwa in der Blauen Biotechnologie oder gelben Biotechnologie, die sich auf Anwendungen bei Meereslebewesen bzw. Insekten bezieht.
Geschichte.
Bereits seit Jahrtausenden gibt es biotechnische Anwendungen, wie z. B. die Herstellung von Bier und Wein. Die biochemischen Hintergründe waren zunächst weitestgehend ungeklärt. Mit den Fortschritten in verschiedenen Wissenschaften, wie vor allem der Mikrobiologie im 19. Jahrhundert, wurde die Biotechnik wissenschaftlich bearbeitet, also die Biotechnologie entwickelt. So wurden optimierte oder neue biotechnische Anwendungsmöglichkeiten erschlossen. Weitere wichtige Schritte waren die Entdeckung der Desoxyribonucleinsäure (DNA oder DNS) in den 1950er-Jahren, das zunehmende Verständnis ihrer Bedeutung und Funktionsweise und die anschließende Entwicklung molekularbiologischer und gentechnischer Labormethoden.
Erste biotechnische Anwendungen.
Die ältesten Anwendungen der Biotechnik, die schon seit über 5000 Jahren bekannt sind, sind die Herstellung von Brot, Wein oder Bier (alkoholische Gärung) mithilfe der zu den Pilzen gehörenden Hefe. Durch die Nutzung von Milchsäurebakterien konnten zudem Sauerteig (gesäuertes Brot) und Sauermilchprodukte wie Käse, Joghurt, Sauermilch oder Kefir hergestellt werden. Eine der frühesten biotechnischen Anwendungen abseits der Ernährung waren Gerberei und Beize von Häuten mittels Kot und anderen enzymhaltigen Materialien zu Leder. Auf diese Produktionsverfahren bauten große Teile der Biotechnik bis in das Mittelalter auf, um 1650 entstand ein erstes biotechnisches Verfahren zur Essigherstellung.
Entwicklung der Mikrobiologie.
Moderne Biotechnologie basiert wesentlich auf der Mikrobiologie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. Vor allem die Entwicklung von Kultivierungsmethoden, der Reinkultur und der Sterilisation durch Louis Pasteur legten Grundsteine zur Untersuchung und Anwendung (Angewandte Mikrobiologie) von Mikroorganismen. Im Jahre 1867 konnte Pasteur mit diesen Methoden Essigsäurebakterien und Bierhefen isolieren. Um 1890 entwickelten er und Robert Koch erste Impfungen auf der Basis isolierter Krankheitserreger und setzten damit die Grundlage für die Medizinische Biotechnologie.
Der Japaner Jōkichi Takamine isolierte als erster ein einzelnes Enzym für die technische Verwendung, die Alpha-Amylase. Wenige Jahre später nutzte der deutsche Chemiker Otto Röhm tierische Proteasen (eiweißabbauende Enzyme) aus Schlachtabfällen als Waschmittel und Hilfsstoffe für die Lederherstellung.
Biotechnologie im 20. Jahrhundert.
Die großtechnische Herstellung von Butanol und Aceton durch Fermentation des Bakteriums "Clostridium acetobutylicum" wurde 1916 von dem Chemiker und späteren israelischen Staatspräsidenten Charles Weizmann beschrieben und entwickelt. Es handelte sich um die erste Entwicklung der Weißen Biotechnologie. Das Verfahren wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts angewendet, danach aber durch die wirtschaftlichere petrochemische Synthese aus der Propen-Fraktion des Erdöls abgelöst.
Die Herstellung von Citronensäure erfolgte ab dem Jahr 1920 durch Oberflächenfermentation des Pilzes "Aspergillus niger". Im Jahre 1957 wurde erstmals die Aminosäure Glutaminsäure mithilfe des Bodenbakteriums "Corynebacterium glutamicum" produziert.
1928/29 entdeckte Alexander Fleming im Pilz "Penicillium chrysogenum" das erste medizinisch verwendete Antibiotikum Penicillin. 1943 folgte das Antibiotikum Streptomycin durch Selman Waksman, Albert Schatz und Elizabeth Bugie. Im Jahr 1949 wurde die Herstellung von Steroiden in industriellem Maßstab umgesetzt. Anfang der 1960er-Jahre wurden Waschmitteln erstmals biotechnisch gewonnene Proteasen zur Entfernung von Eiweißflecken zugesetzt. In der Käseherstellung kann das Kälberlab seit 1965 durch das in Mikroorganismen hergestellte Rennin ersetzt werden. Ab 1970 konnten biotechnisch Amylasen und andere stärkespaltende Enzyme hergestellt werden, mit denen z. B. Maisstärke in den sogenannten „high-fructose corn syrup“, also Maissirup, umgewandelt und als Ersatz für Rohrzucker (Saccharose), z. B. in der Getränkeherstellung, verwendet werden konnte.
Moderne Biotechnologie seit den 1970er-Jahren.
Aufklärung der DNA-Struktur.
1953 klärten Francis Crick und James Watson die Struktur und Funktionsweise der Desoxyribonucleinsäure (DNA) auf. Damit wurde der Grundstein für die Entwicklung der modernen Genetik gelegt.
Seit den 1970er-Jahren kam es zu einer Reihe zentraler Entwicklungen in der Labor- und Analysetechnik. So gelang 1972 den Biologen Stanley N. Cohen und Herbert Boyer mit molekularbiologischen Methoden die erste In-vitro-Rekombination von DNA (Veränderung von DNA "im Reagenzglas"), sowie die Herstellung von Plasmidvektoren als Werkzeug zur Übertragung (ein Vektor) von Erbgut, z. B. in Bakterienzellen.
César Milstein und Georges Köhler stellten 1975 erstmals monoklonale Antikörper her, die ein wichtiges Hilfsmittel in der medizinischen und biologischen Diagnostik darstellen. Seit 1977 können rekombinante Proteine (ursprünglich aus anderen Arten stammende Proteine) in Bakterien hergestellt und in größerem Maßstab produziert werden. Im Jahr 1982 wurden erste transgene Nutzpflanzen mit einer gentechnisch erworbenen Herbizidresistenz erzeugt, sodass bei Pflanzenschutzmaßnahmen das entsprechende Herbizid die Nutzpflanze verschont. Im selben Jahr gelang die Erzeugung von Knock-out-Mäusen für die medizinische Forschung. Bei ihnen ist zumindest ein Gen inaktiviert, um dessen Funktion bzw. die Funktion des homologen Gens beim Menschen zu verstehen und zu untersuchen.
Genomsequenzierungen.
Im Jahr 1990 startete das Humangenomprojekt, in dem bis 2001 (bzw. 2003 in den angestrebten Maßstäben) das gesamte menschliche Genom von 3,2 × 109 Basenpaaren (bp) entschlüsselt und sequenziert wurde. Die Sequenziertechnik basiert direkt auf der 1975 entwickelten Polymerase-Kettenreaktion (PCR), die eine schnelle und mehr als 100.000-fache Vermehrung bestimmter DNA-Sequenzen ermöglicht und so ausreichende Mengen dieser Sequenz, z. B. für Analysen, zur Verfügung stellte. Bereits 1996 war als erstes Genom das der Bäckerhefe ("Saccharomyces cerevisiae") mit 2 × 107 bp vollständig aufgeklärt. Durch die rasante Weiterentwicklung der Sequenziertechnik konnten weitere Genome, wie im Jahr 1999 das der Taufliege "Drosophila melanogaster" (2 × 108 bp), relativ schnell sequenziert werden.
Die Bestimmung von Genomsequenzen führte zur Etablierung weiterer, darauf basierender Forschungsgebiete, wie der Transkriptomik, Proteomik, Metabolomik und der Systembiologie und zu einer Bedeutungszunahme, z. B. der Bioinformatik.
Anwendungen der Gentechnik.
1995 kam mit der Flavr-Savr-Tomate das erste transgene Produkt auf den Markt und wurde in den USA und Großbritannien zum Verkauf zugelassen. Im Jahr 1996 erfolgten erste Versuche der Gentherapie beim Menschen und 1999 wurden humane Stammzellen erstmals in Zellkultur vermehrt. Im gleichen Jahr überschritt das Marktvolumen rekombinant hergestellter Proteine in der Pharmaindustrie erstmals den Wert von 10 Milliarden US-$ im Jahr. Das geklonte Schaf "Dolly" wurde 1998 geboren.
Durch die neu entwickelten gentechnischen Methoden boten sich der Biotechnologie neue Entwicklungsmöglichkeiten, die zur Entstehung der Molekularen Biotechnologie führten. Sie bildet die Schnittstelle zwischen der Molekularbiologie und der klassischen Biotechnologie. Wichtige Techniken sind z. B. die Transformation bzw. Transduktion von Bakterien mithilfe von Plasmiden oder Viren. Dabei können gezielt bestimmte Gene in geeignete Bakterienarten eingeschleust werden. Weitere Einsatzgebiete der molekularen Biotechnologie sind analytische Methoden, zum Beispiel zur Identifikation und Sequenzierung von DNA- oder RNA-Fragmenten.
Zweige der Biotechnologie.
Biotechnologie ist ein sehr weit gefasster Begriff. Entsprechend den jeweiligen Anwendungsbereichen wird sie daher in verschiedene Zweige unterteilt. Zum Teil überschneiden sich diese, sodass diese Unterteilung nicht immer eindeutig ist. Teilweise sind die Bezeichnungen noch nicht etabliert oder werden unterschiedlich definiert.
Die Grüne Biotechnologie betrifft pflanzliche Anwendungen, z. B. für landwirtschaftliche Zwecke.
Die Rote Biotechnologie ist der Bereich medizinisch-pharmazeutischer Anwendungen, wie z. B. die Herstellung von Medikamenten und Diagnostika. Die Weiße Biotechnologie oder "Industrielle Biotechnologie" umfasst biotechnologische Herstellungsverfahren, vor allem für chemische Verbindungen in der Chemieindustrie, aber auch Verfahren in der Textil- oder Lebensmittelindustrie.
Weniger gängig sind die Einteilungen in die Bereiche Blaue Biotechnologie, die sich mit der Nutzung von Organismen aus dem Meer befasst, und Graue Biotechnologie mit biotechnologischen Prozessen im Bereich der Abfallwirtschaft (Kläranlagen, Dekontamination von Böden und Ähnliches).
Unabhängig von dieser Einteilung gibt es die als "konventionelle" Form bezeichnete Biotechnologie, die sich mit Abwasserreinigung, dem Kompostieren sowie weiteren ähnlichen Anwendungen befasst.
Produktionsmethoden.
Organismen.
In der modernen Biotechnik werden mittlerweile sowohl Bakterien als auch höhere Organismen wie Pilze, Pflanzen oder tierische Zellen verwendet. Häufig eingesetzte Organismen sind oft bereits genau erforscht, wie etwa das Darmbakterium "Escherichia coli" oder die Backhefe "Saccharomyces cerevisiae". Gut erforschte Organismen werden häufig für biotechnische Anwendungen eingesetzt, weil sie gut bekannt sind und bereits Methoden zu ihrer Kultivierung oder auch gentechnischen Manipulation entwickelt wurden. Einfache Organismen können zudem mit geringerem Aufwand genetisch modifiziert werden.
Zunehmend werden auch höhere Organismen (mehrzellige Eukaryoten) in der Biotechnik verwendet. Grund hierfür ist etwa die Fähigkeit, posttranslationale Veränderungen an Proteinen vorzunehmen, die z. B. bei Bakterien nicht stattfinden. Ein Beispiel dafür ist das Glykoprotein-Hormon Erythropoetin, unter der Abkürzung "EPO" als Dopingmittel bekannt. Allerdings wachsen eukaryotische Zellen langsamer als Bakterien und sind auch aus anderen Gründen schwieriger zu kultivieren.
Teilweise können Pharmapflanzen, die im Feld, im Gewächshaus oder im Photobioreaktor kultiviert werden, eine Alternative zur Herstellung dieser Biopharmazeutika sein.
Bioreaktoren.
Vor allem Mikroorganismen können in Bioreaktoren oder auch Fermentern kultiviert werden. Dies sind Behälter, in denen die Bedingungen so gesteuert und optimiert werden, sodass die kultivierten Mikroorganismen gewünschte Stoffe produzieren. In Bioreaktoren können verschiedene Parameter, wie z. B. pH-Wert, Temperatur, Sauerstoffzufuhr, Stickstoffzufuhr, Glukosegehalt oder Rührereinstellungen geregelt werden.
Da die einsetzbaren Mikroorganismen sehr unterschiedliche Ansprüche haben, stehen sehr unterschiedliche Fermentertypen zur Verfügung, wie z. B. Rührkesselreaktoren, Schlaufenreaktoren, Airliftreaktoren, sowie lichtdurchlässige Photobioreaktoren zur Kultivierung von Photosynthese-Organismen (etwa Algen und Pflanzen).
Anwendungen.
"Siehe entsprechende Absätze in den Artikeln: Weiße Biotechnologie, Rote Biotechnologie, Grüne Biotechnologie, Graue Biotechnologie und Blaue Biotechnologie"
Durch die Vielfältigkeit der Biotechnologie sind zahlreiche Anwendungsbereiche und Produkte mit ihr verknüpft bzw. auf sie angewiesen:
Perspektive.
Viele Anwendungen der Biotechnologie basieren auf dem guten Verständnis der Funktionsweise von Organismen. Durch neue Methoden und Ansätze, wie z. B. der Genomsequenzierung und daran angeschlossene Forschungsbereiche wie Proteomics, Transcriptomics, Metabolomics, Bioinformatik etc., wird dieses Verständnis immer weiter ausgebaut. So werden immer mehr medizinische Anwendungen möglich, in der Weißen Biotechnologie können bestimmte chemische Verbindungen, z. B. für pharmazeutische Zwecke oder als Grundstoff der chemischen Industrie, erzeugt werden und Pflanzen können für bestimmte Umweltbedingungen oder ihren Nutzungszweck optimiert werden. Häufig können auch bisherige Anwendungen durch vorteilhaftere biotechnische Verfahren ersetzt werden, wie z. B. umweltbelastende chemische Herstellungsverfahren in der Industrie. Es wird daher erwartet, dass das Wachstum der Biotechnologie-Branche sich in Zukunft fortsetzen wird. |
563 | 234611 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=563 | B | B bzw. b (gesprochen: []) ist der zweite Buchstabe des klassischen und modernen lateinischen Alphabets. Er repräsentiert im Deutschen einen Konsonanten. Der Buchstabe B hat in deutschen Texten eine durchschnittliche Häufigkeit von 1,89 %. Er ist damit der sechzehnthäufigste Buchstabe in deutschen Texten.
Das Fingeralphabet für Gehörlose bzw. Schwerhörige stellt den Buchstaben "B" in Form einer geöffneten Hand mit eingeklappten Daumen dar.
Aussprache im Deutschen.
Dem Graphem "B/b" ist grundsätzlich das Phonem /b/, also der stimmhafte bilabiale Plosiv, zugeordnet wie in "Baum, Baby, Liebe, Robbe". Dieser ist im Gegensatz zu seinem Gegenüber /p/ ein stimmhafter und nicht-aspirierter Lenis. "B/b" gehört damit zu den Obstruenten, die sich im Deutschen jeweils in Stimmhaft-stimmlos- bzw. Lenis-Fortis-Paaren gegenüberstehen: "b ≠ p".
Am Wort- und Silbenende sowie vor anderen stimmlosen Obstruenten wird "B/b" allerdings ebenso wie sein eigentlicher Fortis-Gegenüber "P/p" – also als stimmloser bilabialer Plosiv /p/ – ausgesprochen ("lieb, lieblich, liebt, robbt, hübsch"). Wenn bei verwandten Wortformen stimmloses /p/ gesprochen wird, nennt man dies Auslautverhärtung: "lieb" [-p], "lieblich" [-pl-], "liebt" [-pt] zu "Liebe" [-b-], "robbt" [-pt-] zu "robben" [-b-]; dagegen ist "hübsch" [-pʃ] ohne stimmhafte Entsprechung, also keine Auslautverhärtung.
Nach einigen stimmlosen Obstruenten fällt die Aussprache des "b" nur fast mit der von "p" zusammen: "lesbisch". Hier liegt der realisierte Laut zwischen einem b- und p-Laut, ist nicht-aspiriert und mehr oder weniger stimmlos. Phonologisch gesehen findet in den genannten Fällen, in denen die Aussprache von der grundlegenden Aussprache abweicht (z. B. bei der Auslautverhärtung), eine Neutralisation statt, das heißt die Opposition stimmhaft-stimmlos bzw. Lenis-Fortis ist in diesen Positionen aufgehoben und hat hier keine bedeutungsunterscheidende Funktion mehr.
In einigen Dialekten wird es im Wortinneren und manchmal auch am Wortanfang als Reibelaut gesprochen, wie der stimmhafte labiodentale Frikativ /v/ oder der stimmhafte bilabiale Frikativ /β/.
Herkunft des Buchstabens.
Die protosinaitische Urform des Buchstabens stellt den Plan eines Hauses mit Ausgang dar. Die Phönizier gaben dem Buchstaben den Namen Bet (Haus), bis zum 9. Jahrhundert v. Chr. hatte sich der Buchstabe stark abstrahiert. Bereits Bet hatte den Lautwert [b]. Je nach Schreibwerkzeug konnte der Buchstabe sehr eckig oder abgerundet geschrieben werden.
Die Griechen übernahmen den phönizischen Buchstaben, versahen ihn mit einer zusätzlichen Rundung und nannten ihn Beta. Den Lautwert behielten sie bei. Die Etrusker übernahmen diesen Buchstaben als „B“, ohne ihn zu modifizieren. Da die etruskische Sprache allerdings keine stimmhaften Verschlusslaute wie [b] enthielt, verwarfen sie den Buchstaben nach kurzer Zeit.
Die frühgriechische Schrift wurde von rechts nach links geschrieben. Als die Griechen die Schreibrichtung wechselten, spiegelten sie auch das Beta. Als die Römer das lateinische Alphabet schufen, das ebenfalls von links nach rechts geschrieben wird, orientierten sie sich am griechischen Beta und übernahmen es ohne weitere Modifikationen. |
564 | 23437 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=564 | Baskenland | Das Baskenland ( oder , oder "Vasconia", ) ist eine an der Südspitze der Biskaya am Atlantik gelegene Region auf dem Gebiet der modernen Staaten Spanien und Frankreich. Das spanische Baskenland umfasst die drei Provinzen der spanischen Autonomen Gemeinschaft Baskenland; zusätzlich wird je nach ideologischem Standpunkt auch die Autonome Gemeinschaft Navarra (baskisch "Nafarroa") ganz oder teilweise zum Baskenland gerechnet. Das französische Baskenland, im Baskischen "Iparralde" („nördliches Baskenland“) genannt, bildet den Westen des französischen Départements Pyrénées-Atlantiques.
Die Ausdehnung des Baskenlandes ist politisch und gesellschaftlich umstritten und wird im Spannungsfeld von baskischem, spanischem und französischem Nationalismus diskutiert. Kontroversen gibt es vor allem um die Zugehörigkeit Navarras zum Baskenland, da der Süden dieser Provinz, die historisch eng mit dem übrigen Baskenland verwoben ist, seit langem nicht mehr zum engeren baskischen Sprachgebiet gehört. Die burgalesische Enklave Treviño, die aus historischen Gründen zu Kastilien gehört, hat weniger als 1500 Einwohner, welche mit großer Mehrheit eine Aufnahme ihres Territoriums in die baskische Provinz Álava ("Araba") befürworten, weshalb die Gemeinde kulturlandschaftlich ebenfalls zum Baskenland gezählt wird.
Das Baskenland (Euskadi) ist benannt nach dem Volk der Basken ("Euskaldunak" – „Baskisch-Sprecher“). Die baskische Sprache ("Euskara" oder "Euskera") ist nach den Repressionen des 20. Jahrhunderts, vor allem während der Franco-Diktatur, mittlerweile durch gezielte Förderung auf regionaler Ebene, besonders durch baskischsprachige Schulen ("Ikastolas"), wieder zu starker Verbreitung gelangt.
Geografie.
Das Baskenland wird auf der Seeseite durch das kantabrische Meer (Golf von Biskaya) begrenzt, im Süden durch den Ebro. In seinen Anteilen am Ebro-Tiefland ist der baskische Bevölkerungsanteil allerdings sehr gering.
Landschaftlich besteht das Baskenland im Wesentlichen aus dem Übergang der Pyrenäen (baskisch "Pirinioak") in das Kantabrische Gebirge (baskisch "Kantauriar mendilerroa"). Südlich der Pyrenäen fällt das Land nur langsam zum Ebrobecken hin ab. Auf der Nordseite liegt das Talniveau dagegen bis ins Gebirge hinein nur bei . Der höchste Gipfel des Baskenlandes ist die "Tafel der drei Könige" (baskisch "Hiru Erregeen Mahaia") mit am Dreiländereck () von Navarra (E), Aragón (E) und Béarn (F). Es folgen der hohe Orhi an der Grenze Navarras mit dem französischen Baskenland (somit höchster Berg innerhalb des Baskenlandes) und der hohe Aitxuri in Gipuzkoa. In den Tälern der Provinzen Bizkaia und Gipuzkoa drängen sich zahlreiche Städte, außerhalb der verwinkelten Altstädte industriell geprägt.
Im Westen und Südwesten grenzt das Baskenland an die spanischen autonomen Gemeinschaften Kantabrien und Kastilien-León, im Süden an die spanische autonome Gemeinschaft La Rioja, im Südosten an die spanische autonome Gemeinschaft Aragonien, im Norden an das französische Département Landes und im Nordosten an die historische Provinz Béarn, mit der zusammen der französische Teil des Baskenlandes heute das Département Pyrénées-Atlantiques bildet.
Das Klima ist auf der Nordseite der inneriberischen Gebirge zu jeder Jahreszeit mild und deutlich vom nahen Atlantik und somit feuchtgemäßigtem maritimem Klima geprägt. Aus diesem Grund ist das Baskenland im Vergleich zum Landesinneren sehr grün und vegetationsreich.
Das Ebrobecken ist dagegen eher kontinental geprägt, vergleichsweise niederschlagsarm und im Sommer mitunter extrem heiß.
Politische Gliederung.
Politisch besteht das Baskenland heute aus drei verschiedenen Gebieten:
Im heutigen baskischen Sprachgebrauch wird die Gesamtheit der historischen Gebiete des Baskenlandes, die heute zu Spanien und Frankreich gehören, als "Euskal Herria" bezeichnet, während die Bezeichnung "Euskadi" vor allem für die Autonome Region Baskenland verwendet wird. Die südlichen (spanischen) Gebiete des Baskenlandes werden baskisch auch "Hegoalde", die nördlichen (französischen) Teile "Iparralde" genannt.
Bevölkerung.
Soweit sich feststellen lässt, bewohnten Sprecher der isolierten baskischen Sprache oder deren Vorläufer schon das heutige Baskenland, als die indogermanischen Sprachen sich über Europa ausbreiteten und dabei verzweigten. Siehe hierzu auch Vaskonische Hypothese.
Von den 2,7 Mio. Einwohnern des Baskenlandes sprechen nur 700.000 bis 800.000 die baskische Sprache. Allein im kleinen französischen Teil sind es etwa 82.000 von 246.000 Einwohnern, in der Autonomen Gemeinschaft Baskenland 27 % der 2.123.000 Einwohner. Dabei unterscheidet sich die Anzahl der baskisch Sprechenden in den drei Provinzen erheblich. Während in Gipuzkoa ca. 44 % der Einwohner angeben, zuhause baskisch zu sprechen, sind es in Bizkaia knapp 17 % und in der Provinz Álava nur ca. 6 %. In der Autonomen Gemeinschaft Navarra sind es insgesamt etwa 12 % der 600.000 Einwohner. Dabei ist ein starkes Nord-Süd-Gefälle zu verzeichnen; im Norden sind über 75 % Baskisch-Sprecher, während in der Mitte etwa 15–25 % und im Süden weniger als 5 % baskisch sprechen. Die Zahl der Personen, die sich überwiegend als Basken definieren, ist ein wenig höher.
Während die Basken sprachlich isoliert sind, legen genetische Untersuchungen nahe, dass die Vorfahren der heutigen europäischen Sprecher indogermanischer Sprachen zu drei Vierteln die Genvarianten trugen, die bei heutigen Basken üblich sind. Ein Beispiel ist die Blutgruppenvariante Rhesus-negativ (D-), bei den Basken dominierend, unter den übrigen Europäern häufig, bei Nichteuropäern extrem selten. Den biochemischen Befunden entspricht die phänotypische Unauffälligkeit der Basken unter den übrigen Europäern.
Kultur.
Die Basken gelten traditionell als eigenwillig und traditionsbewusst. Die Bemerkung Wilhelm von Humboldts: „Selbst in neueren Zeiten in zwei sehr ungleiche Theile zerrissen und zwei grossen und mächtigen Nationen untergeordnet, haben die Vasken dennoch keineswegs ihre Selbständigkeit aufgegeben“, trifft auch heute noch zu. Ihr Selbstbewusstsein äußert sich unter anderem in der soliden Bauweise der Bauernhäuser, die südlich der Pyrenäen nicht selten Ähnlichkeit teils zu alpinen Eindachhöfen, teils zu solchen des Jura aufweisen.
Die Seefahrt hat bei den Basken eine jahrhundertealte Tradition. Schon im 15. Jahrhundert unternahmen baskische Walfänger ausgedehnte Expeditionen nach Neufundland. Dort verbrachten die Fischer den Sommer damit, Fische zu fangen und vor Ort weiterzuverarbeiten. Eine Besonderheit ist bis heute der Bacalao, ein Stockfisch der eine kulinarische Spezialität der Region ist und in keiner Pintxosbar in San Sebastián, Bilbao oder Vitoria fehlt. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es an den Küsten eine ausgeprägte Fischfangbewegung. Es wurden unterschiedliche Boote genutzt, die teilweise mit Segeln, teilweise mit Rudern angetrieben wurden. Die Boote wurden aus Eiche und Kiefer hergestellt. Diese Holzarten konnten in den bergigen Küstengebieten aus dem reichhaltigen Waldbestand gewonnen werden. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Fischerei auf das Küstengebiet konzentriert. Durch verschiedene Bootsarten konnten die Fischgründe perfekt ausgeschöpft werden. Dabei kamen Boote zum Einsatz, die eine Besatzung von bis zu 18 Mann hatten und sowohl mit Rudern als auch mit Segeln angetrieben wurden. Mit dem Aufkommen der Dampf- und Motorschifffahrt gingen viele Konstruktionskonzepte verloren. Denn die Fischer bauten sich ihre Boote selbst. Grundlage dafür waren ihre Erfahrungen und die Erkenntnisse ihrer Vorfahren. Mit der Professionalisierung der Bootskonstruktion entstanden im ganzen Baskenland Werften. Dadurch wurden im Laufe der Jahre die Schiffe immer universeller hergestellt. Die Folge war, dass sich das Erscheinungsbild der Fischerboote denen in anderen Küstenstreifen angeglichen hat. Baskische Fischer sind heute auf allen Weltmeeren unterwegs und fangen insbesondere jungen Thunfisch. Echter Bonito ("Bonito del Norte" genannt) zählt zu den bevorzugten Fangtieren.
Zur sportlichen Tradition der Basken gehört neben archaischen Kraftwettbewerben wie Baumstammwerfen und Mühlsteinstemmen besonders das Ballspiel Pelota. In nahezu jedem Dorf gibt es einen Pelotaplatz ("Frontón") mit der charakteristischen, sehr hohen Prallwand aus Stein. In den Küstengebieten tief verwurzelt ist auch der Rudersport, an vielen Orten werden folkloristisch geprägte Ruderregatten veranstaltet.
Zum Erscheinungsbild von Basken in Bizkaia notierte Humboldt: „Der ächte Vizcayer hat seine ganz eigene Kleidung. Statt der Schuhe trägt er Stierlederne Sohlen, die nur einen kleinen umgebogenen Rand haben und mit Bindfaden zugebunden sind […] Die Männer wickeln wollene, gewöhnlich mit schmalen schwarzen Streifen versehene Tücher um die Beine, die mit den Bindfaden der "Abarca" festgebunden werden. Die Farbe der Hosen ist meistentheils schwarz, und die Weste roth. […] Die Stelle des Mantels oder Rocks vertritt die "Longarina", eine weite Jacke mit langen Schössen und Ärmeln. Wer sie noch nach altem Brauch trägt, hat die Aermel nur an der Jacke mit Bändern oder Knöpfen befestigt, um sie, wenn es nöthig ist, loszumachen und hoch hinten überwerfen zu können, und so freier bei der Arbeit zu seyn. […] In der Hand halten sie einen langen Stock, […] [der] bei ihnen die Stelle des Degens vertritt. In diesem Anzug sieht man sie nach der Kirche auf den Märkten der Städte, wo wahre kleine Volksversammlungen sind, da die Gebirgsbewohner, um in der Woche keine Zeit zu verlieren, ihren kleinen Einkauf am Sonntag besorgen, von allen Altern stehen, bald einzeln und ruhig mit unter die Schultern gesetztem Stock und übergeschlagenen Beinen, bald in Haufen in lebhaftem Gespräch […]“
Zu den von Humboldt geschilderten baskischen Sonntagsaktivitäten nach dem Ballspiel zählt auch der bis heute in vielfältigen Variationen weiterhin gepflegte Volkstanz: „Man tanzt öffentlich auf dem Markt, ohne Unterschied des Standes, an allen Sonn- und Festtagen, auf Kosten der ganzen Gemeine und unter öffentlicher Aufsicht, und verschiedene Orte unterscheiden sich ebenso wohl durch verschiedene Tänze die nur diesem oder jenem ausschliessend gehören, als durch Verfassung und Dialect.“
Markttag und Dorfplatz bieten für die jungen Basken auch Gelegenheit, einander kennenzulernen. Da die Erstgeborenen beider Geschlechter im Baskenland den Hof zu erben berechtigt sind – ein Merkmal der zivilrechtlichen Gleichstellung der Frauen – betrachten Hoferbinnen mögliche Heiratskandidaten auch hinsichtlich ihrer Eignung für bäuerliche Tätigkeiten. „Vom Tag an, wo der Vermählte das Haus bewohnt, verliert er seinen Familiennamen. Man nennt ihn von nun an nur unter der Bezeichnung des Hauses, dessen Herr er geworden ist. Und so wird bei den Basken die Frau, wenn sie Erbin ist, dem Mann ihren Namen geben – nicht der Mann gibt seiner Frau den Namen.“ Doch ist von den baskischen Frauen und ihrer historischen Rolle im Übrigen wenig überliefert: „Wie fast überall in der Welt des Patriarchats gilt auch in diesem Fall, daß Geschichte männlich ist, von Männern gemacht und geschrieben wird. In Sachen Baskenland (Euskal Herria) liegen die Dinge sogar noch einen Ticken komplizierter, da dieses Land – wenn überhaupt – zwar als ethnisches und kulturelles Gebilde betrachtet wurde, Geschichte und deren Niederschrift jedoch den Zentralstaaten anhingen. Entsprechend niedrig stellt sich der Forschungsstand dar.“
Eine alte baskische Spezialität waren die als Schuhwerk in Handarbeit gefertigten Espadrillas mit ihrem Verbreitungsgebiet in Südfrankreich und Spanien. Auch als Miterfinder von Badeorten am Meer werden die Basken mit den Seebädern San Sebastián auf spanischer und Biarritz auf französischer Seite angesehen. Gastronomisch stehen sie unter anderem für den "gâteau basque", einen ursprünglich mit Kirschmarmelade, heute auch mit Konditorcreme gefüllten Kuchen. Meerbrassen, die bereits in steinzeitlichen Höhlenmalereien im Baskenland vermutet werden, gehören zu den traditionellen Weihnachtsmahlzeiten. Am Weihnachtsabend wird eine Pastete in Form einer Brasse serviert.
Baskisches Spielgerät im Berliner Museum Europäischer Kulturen
Baskische Literatur
Geschichte.
In vorgeschichtlicher Zeit war das Baskenland in die überregionale kulturelle Entwicklung eingebunden, worauf Dolmen (), Menhire () und Steinkreise () verweisen.
Das älteste im Baskenland gefundene menschliche Skelett stammt aus der Zeit um 7000 v. Chr. Um 3500 v. Chr. begann dort das Neolithikum und um 2000 v. Chr. mit der frühen Bronzezeit das Zeitalter der Metalle. Um 900 v. Chr. wanderten Kelten in das Land ein. Die Römer legten in den Randgebieten des Baskenlandes befestigte Städte an. Die Christianisierung des Baskenlandes, die wie alle kulturellen Einflüsse von außen hier nur langsam vorankam, zog sich bis zum Spätmittelalter hin.
Nur Anfang des 11. Jahrhunderts unter Sancho dem Großen ("Sancho el Mayor"), dem „König aller Basken“, war das Baskenland diesseits und jenseits der Pyrenäen einmal politisch geeint. Zu bedeutenden Stadtgründungen an der baskischen Küste kam es im 13. und 14. Jahrhundert, darunter Bilbao im Jahr 1300. Labourd und Soule nördlich der Pyrenäen, die zwischenzeitlich unter englischer Herrschaft standen, fielen Mitte des 15. Jahrhunderts zurück an Frankreich.
Das 15. und 16. Jahrhundert waren wirtschaftlich gute Zeiten für das Baskenland, da baskisches Eisenerz im europäischen Ausland stark nachgefragt war, baskische Fischer sich im Nordatlantik aus reichen Fischgründen bedienen konnten und Schiffswerften an der baskischen Küste aus dem Vollen schöpften. Mit der Französischen Revolution verlor das nördliche Baskenland seine Einheit und Sonderrechte und wurde dem Département "Basses-Pyrénées" („Unteren Pyrenäen“, seit 1969 "Pyrénées Atlantiques") unterstellt. Der Spanische Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon I. und die Carlistenkriege im 19. Jahrhundert stellten die im Baskenland stets hoch gehaltenen politischen Autonomierechte in Form der "Fueros" mehrfach in Frage und hatten schließlich ihr Ende zur Folge.
Während 6.000 baskische Soldaten aus dem nördlichen, französischen Baskenland im Ersten Weltkrieg ihr Leben ließen, erlebte das von der spanischen Neutralität profitierende südliche Baskenland einen wirtschaftlichen Aufschwung. Umgekehrt stand dieses im Brennpunkt des Geschehens, als es im Spanischen Bürgerkrieg unter anderem die weitgehende Zerstörung Gernikas erlebte und nachfolgend die Unterdrückung in der Franco-Diktatur. In der Übergangsphase zur gegenwärtigen spanischen Demokratie lebten die baskischen Autonomieansprüche wieder auf und kamen bei der Einrichtung der Autonomen Gemeinschaft Baskenland zur Entfaltung. Weitergehende und zum Teil mit den terroristischen Mitteln der ETA untersetzte Forderungen nach vollständiger Unabhängigkeit des Baskenlandes blieben jedoch unerfüllt.
Euskadi: Politik, Parteien und Wahlen im 21. Jahrhundert.
Am 29. Dezember 2007 demonstrierten anlässlich eines Freundschaftsspiels "Euskal Herria" – "Catalunya" im Stadion des Erstligisten Athletic Bilbao mehrere Tausend Basken und Katalanen für die offizielle Zulassung der baskischen und katalanischen Fußballnationalmannschaften, auch Forderungen nach Unabhängigkeit dieser Regionen wurden vielfach artikuliert. Offizielle Vertreter der Regierungen von Galicien, Katalonien und Baskenland unterzeichneten eine Erklärung ("Declaración de San Mamés"), in der sie sich für die offizielle Zulassung eigener nationaler Sportauswahlen aussprechen.
Am 7. März 2008, zwei Tage vor den spanischen Parlamentswahlen, wurde der Kommunalpolitiker der regierenden Sozialisten Isaias Carrasco in seinem baskischen Heimatort von einem ETA-Attentäter erschossen. Auch nach den Wahlen setzte ETA die Anschlagsserie fort. Am 27. Mai 2008 beschloss das baskische Parlament eine unverbindliche Volksbefragung für den 25. Oktober desselben Jahres, in der sich die Bevölkerung über eine mögliche Vorgehensweise zur Konfliktlösung äußern sollte. Auf die Normenkontrollklage der Zentralregierung erklärte das Verfassungsgericht am 11. September 2008 das baskische Gesetz über das Referendum für verfassungswidrig und nichtig.
Erstmals seit dem Ende der Diktatur wurden bei den Wahlen zum Parlament der Autonomen Gemeinschaft Baskenland (CAV) am 1. März 2009 die baskischen Nationalisten abgelöst. Während der darauf folgenden Wahlperiode regierte eine Koalition aus spanischen Sozialisten (PSOE) und der konservativen Volkspartei (PP) Partido Popular die Region. Mit knapp 31 % der gültig gewerteten Stimmen blieb die PSOE aber deutlich hinter der Baskisch-Nationalistischen Partei (PNV) zurück, die 39 % der gültig gezählten Stimmen erreichte. Mit den 14 % der PP kam die Koalition auf 45 % der gültig gewerteten Stimmen. Die Wahlen brachten folgendes offizielles Ergebnis:
Damit erreichten die spanienweit organisierten Parteien PP und PSE-EE zusammen erstmals seit Einführung der Demokratie eine Sitzmehrheit im Parlament der Autonomen Gemeinschaft Baskenland. Dem Aufruf, gegen den Wahlausschluss der Linksseparatisten mit der Abgabe von ungültigen Stimmen für die verbotenen Listen zu protestieren, kamen etwa 101.000 Wähler nach, was 8,84 % der Stimmen entsprach. Die Wahlbeteiligung lag etwa 3,2 % unter der von 2005. Das Wahlbündnis aus PSOE und PP wählte am 5. Mai 2009 den Sozialisten Patxi López zum Lehendakari (Präsidenten des Baskischen Parlaments), womit die drei Jahrzehnte dauernde Regierungszeit der Nationalisten vorübergehend beendet wurde.
Zu den Parlamentswahlen 2012 trat erstmals das linksnationalistische Parteienbündnis Euskal Herria Bildu an und konnte auf Anhieb 25 % der Stimmen auf sich vereinen. Die PNV ging als stärkste Partei daraus hervor und regierte ab 2012 wieder die autonome Gemeinschaft Baskenland als von EH Bildu tolerierte Minderheitsregierung unter dem Ministerpräsidenten ("lehendakari") Iñigo Urkullu. Die Regionalwahlen 2016 brachten starke Verluste für die PSE-EE, die fast die Hälfte ihrer Sitze einbüßte (von 16 auf 9) und nur noch knapp 12 % erreichte. Elkarrekin Podemos, ein linkes Wahlbündnis aus Podemos Euskadi, Ezker Anitza und der Partei Equo, konnte aus dem Stand knapp 15 % der Stimmen erzielen und erhielt 11 Sitze. Die PNV konnte um ca. 3 %-Punkte zulegen und stellt – nunmehr in einer Koalition mit der PSE-EE – weiter den Lehendakari.
Die Wahlen brachten folgendes Resultat:
Literatur.
Reihenpublikation "Towards a Basque State": |
567 | 280975 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=567 | Bettina von Arnim | Bettina von Arnim (geborene "Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano", auch "Bettine von Arnim"; * 4. April 1785 in Frankfurt am Main; † 20. Januar 1859 in Berlin) war eine deutsche Schriftstellerin, Zeichnerin und Komponistin und bedeutende Vertreterin der deutschen Romantik.
Leben.
Jugend.
Bettina Brentano war das siebte von zwölf Kindern des Großkaufmanns Peter Anton Brentano und seiner zweiten Frau Maximiliane La Roche. Die aus Italien stammende altadelige Familie war begütert. Sie besaß in Frankfurt am Main in der Großen Sandgasse das später von Bettinas Brüdern geleitete "Haus zum Goldenen Kopf", die Zentrale einer blühenden Ex- und Importfirma, von der Bettina ein beträchtliches Erbe zufiel. Von ihren Geschwistern wurde Bettina schon früh „der Kobold“ genannt; der Übername blieb ihr später in der Berliner Gesellschaft.
1793 starb Bettinas Mutter. Die Tochter wurde deswegen bis zu ihrem 11. Lebensjahr (1794–1796) in einem Kloster in Fritzlar – der Ursulinenschule Fritzlar – erzogen. Nach dem Tod des Vaters lebte sie ab 1797 bei ihrer Großmutter Sophie La Roche in Offenbach am Main, später in Frankfurt am Main. Ihre Schwester Kunigunde Brentano war mit dem Rechtsgelehrten Friedrich Karl von Savigny verheiratet und lebte in Marburg, wo Bettina einige Zeit bei ihnen wohnte.
1804 begannen Freundschaft und Briefwechsel mit Karoline von Günderrode.
1806–1808 erfolgte die Herausgabe der Volksliedersammlung "Des Knaben Wunderhorn" durch ihren Bruder Clemens Brentano und Achim von Arnim und ihre Mitarbeit an Arnims "Zeitung für Einsiedler".
1807, in ihrem 22. Lebensjahr, kam es zu einer ersten Begegnung mit Goethe in Weimar. Wieland hatte sie diesem als Enkelin der Sophie La Roche empfohlen.
1810 folgte sie den Savignys nach Berlin. Auf dieser Reise traf sie am 8. Mai in Wien ein und wohnte dort bei ihrer Schwägerin Antonie Brentano, die sie Ende Mai mit Ludwig van Beethoven bekannt machte. Folgt man ihren eigenen Briefen und Erinnerungen, so begegnete sie Beethoven nur dreimal, ehe sie die Stadt am 3. Juni wieder verließ und mit der Familie Savigny nach Prag weiterreiste. Diese Begegnung prägte sie jedoch maßgeblich.
Ehe mit Achim von Arnim.
1811 heiratete Bettina Brentano Achim von Arnim, den sie bereits in Frankfurt als Freund und literarischen Arbeitskollegen ihres Bruders Clemens Brentano kennengelernt hatte. Die Arnims waren bis zu seinem plötzlichen Tod 1831 zwanzig Jahre verheiratet. Das Paar lebte überwiegend getrennt – während Bettina in Berlin lebte, bewirtschaftete Achim das Gut Wiepersdorf.
Der Ehe entstammten sieben Kinder:
Soziale und literarische Arbeit.
Bettina von Arnims literarisches und soziales Engagement trat erst nach dem Tod ihres Mannes 1831, dessen Werke sie herausgab, ins Licht der Öffentlichkeit. Die neue Autonomie, die der Witwenstand ermöglichte, führte zu einer Verstärkung ihres öffentlichen Wirkens. Sie wurde zur Herausgeberin seiner "Gesammelten Werke". Während der Choleraepidemie in Berlin engagierte sie sich für soziale Hilfsmaßnahmen in den Armenvierteln und pflegte Erkrankte. Aus Anlass der Thronbesteigung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. veröffentlichte sie 1843 die Sozialreportage "Dies Buch gehört dem König". Das aus fiktiven Dialogen zwischen der Mutter Goethes und der Mutter des preußischen Königs bestehende Werk wurde in Bayern verboten.
Der spätere Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) studierte 1841–1843 in Berlin, wurde von Bettina von Arnim empfangen und beschrieb diese in einem Brief an seine Schwester Louise am 29. Januar 1842 wie folgt: „Ein 54jähriges Mütterchen, klein aber von schöner Haltung, mit wahrhaften Zigeunerzügen im Angesicht, aber so wunderbar interessant, wie selten ein weiblicher Kopf; schöne, echte kastanienbraune Locken, die braunsten, wundersamsten Augen, die mir je vorgekommen sind.“. Über einen Besuch von Wilhelm Junkmann bei Bettina von Arnim berichtet 1846 Annette von Droste-Hülshoff, sie habe „über die Maßen schwadroniert und geschimpft auf Westfalen, Katholiken, den münsterschen Adel […] und endlich auf die Lichtfreunde […].“
In der Ernüchterung, die der gescheiterten Revolution von 1848 folgte, verfasste sie 1852 die Fortsetzung "Gespräche mit Dämonen", in der sie für die Abschaffung der Todesstrafe und die politische Gleichstellung von Frauen und von Juden eintritt. Ihre weitreichende Korrespondenz zur Ermittlung statistischer Angaben für ihr "Armenbuch" erregte großes Aufsehen. Das Buch wurde bereits vor seinem Erscheinen von der preußischen Zensur verboten, da man Bettina von Arnim verdächtigte, den Weberaufstand mit angezettelt zu haben.
Sie stand den Ideen der Frühsozialisten nahe; 1842 traf sie mit Karl Marx zusammen, hielt jedoch an der Idee eines "Volkskönigs" fest. Der König sollte erster Bürger einer Gemeinschaft von Bürgern sein und mit ihnen den Staat erschaffen, in dem sie leben wollten.
Tod und Nachwirkung.
1854 erlitt Bettina von Arnim einen Schlaganfall, von dem sie sich nicht mehr erholte.
Am 20. Januar 1859 starb sie im Kreise ihrer Familie, zu ihrer Seite das von ihr entworfene und gefertigte Goethe-Monument. Sie wurde neben ihrem Mann an der Kirche von Wiepersdorf beigesetzt. Auf ihrem Grabstein ist fälschlicherweise als Geburtsjahr 1788 angegeben, tatsächlich wurde sie 1785 geboren.
1985 wurde aus Anlass ihres 200. Geburtstages in Berlin die Bettina-von-Arnim-Gesellschaft gegründet. Sie hat das Ziel, Leben und Werk der Autorin einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Gesellschaft schreibt alle drei Jahre einen undotierten Forschungspreis aus und gibt das "Internationale Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft" heraus.
1991 wurde vom "Freundeskreis Schloss Wiepersdorf – Bettina und Achim von Arnim-Museum e. V." im Schloss Wiepersdorf ein Museum eingerichtet, das Exponate aus dem Leben des Dichterpaares, einiger ihrer Nachfahren und ihres Umfeldes zeigt.
Sie ist auf dem 1992 erschienenen 5-DM-Schein der letzten D-Mark-Banknotenserie abgebildet.
An der Ursulinenschule in Fritzlar, an der Bettina von Arnim Internatsschülerin war, wird seit 2002 das "Bettina-von-Arnim-Forum" veranstaltet.
Die Bettinaschule im Frankfurter Westend ist nach Bettina von Arnim benannt, ebenso die Bettina-von-Arnim-Schule in Berlin-Reinickendorf und die Bettina von Arnim IGS Otterberg in Otterberg.
Kontakte.
Bettina von Arnim war bekannt für ihre zahlreichen Kontakte zu Persönlichkeiten aus Politik und Kultur:
Goethe.
1806 begann die Freundschaft Bettina Brentanos mit Goethes Mutter Katharina Elisabeth Goethe. Der Dichter hatte auf die ihm schwärmerisch erscheinenden Briefe Bettinas zunächst nicht geantwortet. Doch ein Jahr später durfte sie in Weimar erstmals den von ihr überaus verehrten Johann Wolfgang Goethe besuchen. Es begann ein Briefwechsel zwischen den beiden, der später von Bettina von Arnim herausgegeben und nach Goethes Tod unter dem Titel "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" berühmt wurde. 1811, im Jahr ihrer Heirat, kam es nach einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen ihr und Goethes Ehefrau Christiane zum Bruch mit Goethe. In einer Gemäldeausstellung des Goethe-Vertrauten Johann Heinrich Meyer hatte sich Bettina von Arnim abfällig über die Werke von „Kunschtmeyer“ geäußert. Christiane riss ihr daraufhin die Brille von der Nase, und Bettina nannte Christiane eine „wahnsinnige Blutwurst“. Goethe verbot Bettina von Arnim und ihrem Ehemann fortan sein Haus. Als er das Ehepaar ein Jahr später in Bad Teplitz traf, nahm er von ihnen keine Notiz und schrieb seiner Frau: „Ich bin sehr froh, daß ich die Tollhäusler los bin.“ Wiederholte Briefe, in denen Bettina ihn verzweifelt um erneute Kontaktaufnahme bat, ließ er unbeantwortet.
1824 entwarf Bettina Brentano ein Goethedenkmal, einen Gegenentwurf zu Christian Daniel Rauchs Modell für die Frankfurter Maininsel. Unter der Aufsicht des Bildhauers Ludwig Wichmann fertigte sie mehrere Gipsmodelle an und reichte ein Modell, das auch im Städelschen Kunstinstitut ausgestellt wurde, bei dem zuständigen Denkmalkomitee ein. Letztlich kam aber aufgrund fehlender finanzieller Mittel kein Entwurf zur Realisierung. 1851 verwendete der Bildhauer Carl Steinhäuser den Entwurf Bettina Brentanos für die Ausführung des Denkmals "Goethe und Psyche", 1855 wurde es in Weimar aufgestellt. Heute befindet es sich im Neuen Museum Weimar.
Beethovens „unsterbliche Geliebte“?
Edward Walden glaubt in seinem Buch "Beethoven’s Immortal Beloved" (2011) Anhaltspunkte dafür gefunden zu haben, dass Bettina von Arnim Beethovens Unsterbliche Geliebte gewesen sein könnte – die Adressatin jenes berühmten Briefs, den der Komponist am 6./7. Juli 1812 in Teplitz an eine Frau in Karlsbad schrieb. Er stützt sich dabei im Wesentlichen auf zwei angeblich von Beethoven an Bettina geschriebene Briefe aus den Jahren 1810 und 1812, die allerdings längst als Erfindungen Bettinas entlarvt wurden. Walden selbst räumt ein: „Falls dieser Brief an Bettina [von 1812] echt ist, wäre es schlüssig bewiesen, daß Bettina die "Unsterbliche Geliebte" war, aber das Original ist verschollen, und seine Authentizität wird heutzutage stark angezweifelt.“ Doch selbst wenn dieser Brief echt wäre, würde das nichts daran ändern, dass Bettina von Arnim – mit ihrem Mann und ihrer Schwester Gunda – erst am 24. Juli 1812, von Berlin kommend, in Teplitz eintraf, als Beethoven den Brief längst geschrieben hatte. In Karlsbad ist sie zur fraglichen Zeit gar nicht gewesen.
Werk und Beurteilung.
Bettina von Arnim gab ihre Briefwechsel mit Johann Wolfgang von Goethe, Karoline von Günderrode, Clemens Brentano, Philipp von Nathusius und Friedrich Wilhelm IV. in zum Teil sehr stark bearbeiteter Form heraus. Diese Briefbücher, die nach den Grundsätzen der romantischen Poetik komponiert waren, wurden von den Lesern oft für authentische Dokumente gehalten, was zu Fälschungsvorwürfen gegen Bettina von Arnim führte.
Insbesondere das 1835 erschienene Buch "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" wurde ein Verkaufserfolg und beeinflusste das Goethe-Bild der Folgezeit stark, besonders unter den Romantikern. Die Originalbriefe wurden im Jahr 1929 publiziert. In dem Briefroman "Die Günderode" verarbeitete sie die Monate ihrer Freundschaft mit Karoline von Günderrode im Jahr 1804 und deren Freitod.
Bettina von Arnim erfuhr und erfährt sehr unterschiedliche Beurteilungen. Zeitgenossen beschrieben sie als „grillenhaftes, unbehandelbares Geschöpf“, als koboldhaftes Wesen. Man sieht sie aber auch als emanzipierte, vielbegabte und neugierige Frau, die sich erfolgreich für persönliche Unabhängigkeit und geistige Freiheit einsetzte, für sich wie auch für andere Menschen.
Literarische Rezeption.
Christian Dietrich Grabbe schrieb über Bettinas Goethe-Buch: „Die Vorrede beginnt damit, daß das Buch nicht für die Bösen, sondern für die Guten sey. Bettina, es werden aber die Guten bös werden, haben sie die Ekelhaftigkeiten gelesen.“
Ludwig Tieck schrieb 1835 in einem Brief über „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“: „Sie können es nicht so wissen wie ich, wie dieses fatale Buch eine einzige grobe Lüge ist. Mich hat in unsern Zeiten noch nichts so sehr, wie dieses Geschreibsel empört.“
Bettina von Arnims Leben und insbesondere ihre Beziehung zu Goethe werden sehr ausführlich von Milan Kundera in seinem Roman "Die Unsterblichkeit" behandelt. Kundera sieht Bettina als Frau, die zeitlebens versuchte, durch Kontakt zu herausragenden Persönlichkeiten ihrer Zeit und die Suggestion einer tiefen emotionalen Beziehung zu ihnen eigenen Ruhm zu erwerben. Illustriert wird diese Interpretation hauptsächlich durch die Analyse ihres Briefverkehrs mit Goethe, der von ihr bei der Veröffentlichung vorgenommenen Änderungen und des öffentlichen Streits mit Christiane Goethe.
Sarah Kirsch zeichnet im "Wiepersdorf-Zyklus", der während einer Arbeitswoche im „[v]olkseigenen Schloß“ entstand, ein Bild ihres persönlichen Lebensgefühls in der DDR der 1970er Jahre. Rahmenhandlung ist der Aufenthalt einer an die Autorin erinnernden Schriftstellerin, in dem „[e]hrwürdige[n] schöne[n] Haus [m]it dem zwiefachen Dach“. Im zweiten Teil stellt sie der Wiepersdorfer Szenerie „[d]ie schönen Fenster im Malsaal“, „außen“ „[m]aifrischer Park“ mit den „lächeln[den]“ „Steinbilder[n]“ die Enge ihrer Hochhauswohnung „in der verletzenden viereckigen Gegend“ gegenüber und spricht bewundernd die Gutsherrin an: „Bettina! Hier [h]ast du mit sieben Kindern gesessen […] ich sollte mal an den König schreiben“. Im neunten Teil fokussiert die Dichterin, in Anspielung auf Bettinas Briefe an Friedrich Wilhelm IV., die Ähnlichkeiten der privaten und politischen Situation: „Bettina, es ist alles beim alten. Immer sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben [d]enen des Herzens und jenen des Staates“.
In Christa Wolfs Roman "Kein Ort. Nirgends" (1979) ist Bettina von Arnim Teil der Winkeler Gesellschaft, in der 1804 die (fiktive) Begegnung von Heinrich von Kleist mit Karoline von Günderrode stattfindet.
Bettina von Arnim ist die weibliche Protagonistin in "Das Erlkönig-Manöver" (2007) von Robert Löhr. Der historische Roman stellt vor allem ihre Zerrissenheit zwischen ihrem Idol Goethe und ihrem Ehemann Achim von Arnim dar.
Sie ist auch Namensgeberin der 1847 gegründeten, aber kurz danach wieder aufgegeben deutschen Siedlung Bettina (Texas).
Zitate.
<poem style="margin-left:2em">
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet,
Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet,
Das weiße Haus inmitten aufgestellt,
Was ist's, worin sich hier der Sinn gefällt?
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen,
Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen
Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt,
Nichts ist's, was mir den Blick gefesselt hält.
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Und könnt ich Paradiese überschauen,
Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen,
Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt,
Denn der allein umgrenzet meine Welt.
</poem>
Musikalisches Werk.
Musik spielte schon früh in Bettina von Arnims Leben eine bedeutende Rolle: Bereits zu ihrer Zeit im Ursulinenkloster sang sie im Chor. In Offenbach erhielt sie Unterricht in Klavier und Musiktheorie von Philipp Carl Hoffmann (1789–1842) und besuchte auch häufig das Theater in Frankfurt. Ab 1809 nahm sie Gesangs- und Kompositionsunterricht bei dem Münchner Kapellmeister Peter von Winter (1754–1825). Sie komponierte Lieder und Duette mit Klavierbegleitung, einige Werke blieben unvollendet.
1920 wurde ihr musikalisches Werk erstmals veröffentlicht, im vierten Band der Bettina-von-Arnim-Werkausgabe. Der Herausgeber Max Friedlaender hat ihre Kompositionen jedoch stark umgearbeitet, sowohl Melodien als auch die Begleitung.
Erst seit 1996 liegen durch die Neuausgabe von Renate Moering im Furore-Verlag Bettina von Arnims Werke im Urtext vor, die Ausgabe basiert auf den Autographen und Erstdrucken.
Werke für Gesang und Klavier (Auswahl)
Notenausgabe |
568 | 32783 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=568 | Belle Boyd | Maria Isabella Boyd (* 9. Mai 1844 in Bunker Hill, Virginia; † 11. Juni 1900 in Kilbourne, Wisconsin), genannt Belle Boyd, war eine US-amerikanische Spionin der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg. Da sie ihre Informationen hauptsächlich aus Flirts mit Unionssoldaten bezog, erhielt sie die Spitznamen "La Belle Rebelle" oder "Cleopatra der Sezession". Obwohl bei weitem nicht die erfolgreichste Spionin während des Krieges, machten mehrere Verhaftungen und ihre Autobiografie "Belle Boyd in Camp and Prison" sie zu einer gefeierten Berühmtheit.
Familie und erste Jahre.
Belle Boyd wurde unter dem Namen Maria Isabella als Tochter des wohlhabenden Geschäftsinhabers Benjamin Reed Boyd und seiner Frau Mary Rebecca Glenn geboren. Die Familie hatte schottische Wurzeln und Verwandte in New Orleans. Ein Verwandter bezeichnete Belle von klein auf als Wildfang, der bevorzugt Aktivitäten im Freien nachging. Einer Geschichte zufolge ritt sie hoch zu Ross ins Esszimmer, als ihre Eltern sie aufgrund ihres zarten Alters nicht an einer Feier teilnehmen lassen wollten. Mit ihrer schlagfertigen Begründung, dass ja zumindest das Pferd alt genug war, um teilzunehmen, brachte sie die Gäste auf ihre Seite und entging einer Strafe. Im Alter von zwölf Jahren besuchte sie das Mount Washington Female College in Baltimore, das sie mit sechzehn Jahren abschloss.
Spionage.
Zum Beginn des Bürgerkrieges war Belle siebzehn Jahre alt und lebte mit ihren Eltern in Martinsburg, wo die Familie ein Hotel betrieb. Mehrere Boyds, darunter ihr Vater, meldeten sich für die konföderierte Armee, Belle selbst sammelte zunächst Spenden. Allerdings wurde ihr nach eigenen Angaben diese Tätigkeit schnell „zu zahm und monoton für mein Temperament“ und eine Zeit lang arbeitete sie als Krankenschwester im Lazarett. Am 3. Juli 1861 musste sich die konföderierte Armee vor Unionstruppen zurückziehen, die in Martinsburg einmarschierten. Am nächsten Tag, dem 4. Juli und somit dem Unabhängigkeitstag, verschaffte sich ein Unionssoldat gewaltsam Zutritt ins Haus der Boyds, um ihre konföderierten Flaggen abzunehmen und stattdessen die Unionsflagge zu hissen. Wutentbrannt darüber, dass er ihre Mutter beiseite stieß und beschimpfte, erschoss Belle den Soldaten und entging durch vorgetäuschte Reue einer Strafe.
Von nun an wurde das Haus von Unionssoldaten bewacht und Belle nutzte die Gelegenheit, um zu ihnen Kontakte zu knüpfen und Informationen über Truppenbewegungen zu sammeln, die sie in Briefen an konföderierte Kommandanten wie General Thomas „Stonewall“ Jackson und General J.E.B. Stuart sandte. Allerdings waren die Nachrichten unverschlüsselt, weshalb sie sich nach dem Abfangen eines Briefs vor einer Jury rechtfertigen musste. Belle stellte sich ahnungslos und kam einmal mehr ohne Strafe davon, woraufhin ihre Eltern sie nach Front Royal zu ihrem Onkel und ihrer Tante sandten. Inspiriert von den Methoden einer weiteren Spionin der Südstaaten, Rose O’Neal Greenhow, wandte sie sich für eine bessere Ausbildung in Spionage an Oberst Turner Ashby, der selbst regelmäßig in der Verkleidung eines Tierarztes die Unionstruppen bespitzelte. Ca. ab Oktober 1861 begann sie als Kurier zwischen den Generälen Jackson und Beauregard zu arbeiten.
Im März 1862 wurde sie das erste Mal verhaftet und in Baltimore in einem Hotel untergebracht. Da sie keine kompromittierenden Nachrichten bei sich hatte, wurde sie nach einer Woche mangels Beweisen freigelassen. In der Zwischenzeit hatte sie sich dank ihres Charmes mit mehreren Unionssoldaten angefreundet, die ihr arglos ihre Marschbefehle verrieten. Mitte Mai war Front Royal von der Unionsarmee besetzt. Belle belauschte im Hotel ihrer Tante eine Stabssitzung, in der Pläne gemacht wurden, Jacksons Truppen einzukreisen und ihn gefangen zu nehmen. Sie schrieb die Informationen verschlüsselt auf und ritt anschließend 15 Meilen weit ins Lager der Konföderierten, um Jackson die Nachricht persönlich zu überbringen. Dank ihrer Kontakte zu Unionssoldaten erhielt sie weitere Informationen, die sie am 23. Mai während der Schlacht bei Front Royal bei einem waghalsigen Durchbruch der Unionsreihen zu Jackson brachte. Diesem gelang es, die Stadt wieder einzunehmen und er schrieb Belle:
Verhaftungen und Verbannung.
Im Frühsommer wurde Belle nach einer Denunzierung durch eine Nachbarin ein weiteres Mal verhaftet und ins Gefängnis nach Baltimore gesandt. Dort betörte sie den Gefängnisaufseher, sie mit einer Verwarnung gehen zu lassen. Ihre unverhohlenen Sympathien für die Südstaaten ließen sie jedoch gravierende Fehler machen, sie benutzte selten eine Verschlüsselung für ihre Nachrichten und mochte dramatische Aktionen. Weitere Verhaftungen folgten und am 29. Juli 1862 wurde sie im Old Capitol Prison in Washington, D.C. inhaftiert. Dort machte sie die Bekanntschaft des Telegrafen J. O. Kerbey, der mit der Unionsspionin Elizabeth van Lew zusammenarbeitete. Während seiner Spionagetätigkeit hatte er einen Eid auf die Konföderation unterzeichnet, weshalb Kriegsminister Edwin M. Stanton Kerbey nach seiner Rückkehr zur Union vorübergehend verhaften ließ. Belle, die Kerbey für einen loyalen Südstaatler hielt, entwarf einen Fluchtplan für ihn und nannte ihm sichere Stationen der Konföderation auf Unionsgebiet, was er unmittelbar nach seiner Entlassung an die Union weitertrug. Im Gefängnis war sie unter konföderierten Mitgefangenen eine Berühmtheit und sie genoss es, die Wachen mit Konföderationsflaggen und Liedern aus den Südstaaten zu hänseln.
Im Rahmen eines Gefangenenaustauschs wurde sie einen Monat später freigelassen und zog nach Richmond. Inzwischen war sie aufgrund ihres Wagemuts sowohl im Norden als auch im Süden bekannt und Jackson ernannte sie zu einem Flügeladjutant ehrenhalber. Je berühmter sie wurde, desto weniger konnte sie allerdings im Geheimen für die Südstaaten arbeiten. Im Sommer 1863 kehrte sie nach Martinsburg zurück, dieses gehörte jedoch nun zum unionstreuen West Virginia. Belle wurde erneut verhaftet und ins Caroll Prison in Washington, D.C. gebracht. Dort erkrankte sie schwer an Typhus und wurde im Dezember 1863 in die Südstaaten verbannt. Sechs Monate später, im Jahr 1864, meldete sie sich als Kurier, um an Bord des Blockadebrechers "Greyhound" Papiere der Konföderation nach England zu bringen. Das Schiff wurde jedoch aufgegriffen und Belle einmal mehr verhaftet, allerdings gelang es ihr Samuel Wylde Hardinge, der das Enterkommando führte, zu betören. Diesmal wurde sie nach Kanada verbannt, von wo aus sie nach England reiste. Hardinge wurde für seine Romanze mit Belle vor das Militärgericht gestellt und unehrenhaft aus der Armee entlassen. Er und Belle heirateten am 25. August 1864. Historiker sind sich uneins, ob Hardinge in England starb oder ob er vorher in die Vereinigten Staaten zurückkehrte.
Nachkriegszeit.
Mit knapp 21 Jahren verwitwet und schwanger mit einer Tochter, brauchte Belle dringend Geld und schrieb mit Hilfe des englischen Journalisten George Augustus Sala ihre Memoiren "Belle Boyd in Camp and Prison. In Two Volumes". Darin verteidigte sie u. a. die Sklaverei in den Südstaaten mit der Begründung, die Schwarzen würden „Dienst gegenüber der Freiheit“ bevorzugten, da sie lediglich ein „halbwüchsiges Leben“ führen würden. Sie wurde Schauspielerin, die sowohl in England als auch den Vereinigten Staaten auftrat und heiratete 1869 den ehemaligen britischen Offizier John Hammond, mit dem sie vier Kinder hatte. Die Ehe wurde 1884 geschieden und zwei Monate später ging Belle ihre dritte Ehe ein, diesmal mit einem siebzehn Jahre jüngeren Schauspieler namens Nathaniel High.
In ihren späteren Jahren reiste sie durch die Vereinigten Staaten und hielt Vorträge über ihre Kriegserfahrungen. Mittlerweile war sie so berühmt geworden, dass diverse Hochstapler sich als sie ausgaben. Belle war gezwungen, Beglaubigungsschreiben mit sich zu führen, um ihre Identität zu beweisen. In der Presse nannte man sie die „Jeanne d’Arc der Rebellen“ bzw. die „Sirene des Shenandoah River“, obwohl ihre tatsächliche Leistung als Spionin von Historikern als eher gering eingeschätzt wird. Stattdessen war sie zu einer Symbolfigur für den Widerstand des Südens geworden.
Belle Boyd starb am 11. Juni 1900 während einer Reise durch die Vereinigten Staaten in Kilbourn, heute Wisconsin Dells, an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Kilbourn Cemetery, heute Spring Grove Cemetery, beigesetzt. Das Geschäft ihres Vaters ist mittlerweile das "Belle Boyd House and Museum" und wird von der "Berkeley Historical Society" verwaltet. |
570 | 98555865 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=570 | BVerfG | |
571 | 31602 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=571 | BeOS | BeOS ist ein Betriebssystem der ehemaligen Be Incorporated. Aufgrund seiner Multimedia-Fähigkeiten wurde es von Be auch als „Media OS“ bezeichnet. Am Markt konnte es sich jedoch nicht behaupten und wurde 2001 eingestellt. In der Folge entstand unter anderem Haiku, eine freie Re-Implementierung von BeOS.
System.
Bei BeOS handelt es sich um ein Einbenutzersystem mit einem modularen Hybridkernel für 32-Bit-x86- (ab Pentium) und PowerPC-Prozessoren (PowerPC 603 und 604, G3 nur auf Upgradekarten). Es unterstützt Mehrprozessorsysteme mit bis zu acht Prozessoren und ist multitasking- und multithreadingfähig. BeOS verwendet ein eigenes BeFS genanntes 64-Bit-Journaling-Dateisystem. BeOS liest und beschreibt auch Partitionen, die mit den Windows-Dateisystemen FAT16, FAT32 oder dem Mac-OS-Dateisystem HFS formatiert sind. Auf Partitionen, die mit dem Windows-Dateisystem NTFS oder dem Linux-Dateisystem ext2 formatiert sind, kann lesend zugegriffen werden. Zudem verfügt BeOS über einen Speicherschutz, so dass ein abgestürztes Programm nicht das gesamte System beschädigt. Dies war bei Erscheinen von BeOS eine echte Neuerung im Heimanwenderbereich, verfügten doch die damals populärsten Betriebssysteme Windows 95 und klassisches Mac OS nicht über diese Technik.
BeOS brachte mit "bootman" seinen eigenen Bootmanager mit, der komplett in den Master Boot Record passt. Er kann keine Dateisysteme lesen und lädt daher ein Betriebssystem so, als ob es direkt gestartet würde, dadurch kann "bootman" nahezu jedes Betriebssystem starten. BeOS verzichtete auf die Trennung von Kernel und grafischer Oberfläche.
Versionen.
Developer Release.
Software-Entwickler erhielten Developer Releases (DR) zusammen mit der BeBox und bekamen dann das jeweils neueste Developer Release zugesandt.
Die früheren Developer Releases laufen nur auf der BeBox von Be, erst ab der DR-Version 8.2 wird auch der Power Macintosh unterstützt. Die erste offiziell erhältliche Version war DR6; DR5 wurde nur an wenige speziell ausgewählte Firmen ausgeliefert. Die DR9 wurde im Mai 1997 auf der BeDC (Be Developer Conference) verteilt und danach an alle registrierten Entwickler verschickt. Die DR9 trägt auch den Namenszusatz AADR, was für "advanced access preview release" steht, da dies die letzte Version ist, die nur für Entwickler gedacht war und nahezu identisch ist mit der kurze Zeit später erschienenen Preview Release 1. Die DR9 brachte gegenüber der DR8 einige tiefgreifende Änderungen mit sich. So wurde das Dateisystem zu einem 64-Bit-Dateisystem erweitert, was Dateien größer als 2 GB erlaubt, und um Journaling-Funktionen ergänzt.
DR6 und frühere Versionen laufen heute nur noch auf ganz wenigen BeBoxen, da deren Bootloader für spätere Versionen geändert wurde. BeBoxen, die auf diese Weise aktualisiert wurden, können die alten Versionen daher nicht mehr betreiben.
Preview Release.
Die Preview Release 1 (PR1) von BeOS, die vor Erscheinen der Preview Release 2 einfach nur als Preview Release bezeichnet wurde, erschien im Juli 1997 und basiert weitgehend auf der zuvor an Entwickler gelieferten DR9. Die PR1 brachte aber dennoch gegenüber den Developer Releases weitere Neuerungen, wie die Unterstützung für AppleTalk, PostScript-Drucker, Unicode und softwareseitiges OpenGL. Der Preis für den "Full Pack" (CD mit Handbuch und zwei Updates) der Preview Release 1 betrug 49,95 US-Dollar. Es gab aber auch einen so genannten "Trial Pack," der aus einer auf CD gelieferten, uneingeschränkt lauffähigen Preview Release besteht und für 10 US-Dollar erhältlich war.
Die ab Oktober 1997 erhältliche Preview Release 2 war ab November 1997 auch zum kostenlosen Download auf der Internetseite von Be verfügbar. Laut Angaben von Be wurde diese, bis sie mit Erscheinen von Release 3 nicht mehr verfügbar war, insgesamt mehr als 1 Million Mal heruntergeladen.
Release 3.
Das im März 1998 erschienene BeOS 3 ist die erste Version, die auch für die 32-Bit-x86-Architektur IA-32 erhältlich war. Diese kostete anfangs 69,95 US-Dollar, später 99,95 US-Dollar. Es folgte Version 3.1, die weitere Treiber enthält und das Lesen von FAT16-Dateisystemen erlaubt und Festplattenlaufwerke, die 8 GB oder mehr umfassen, unterstützt. BeOS 3.2 bringt erneut weitere Treiber speziell für die x86-Architektur. Auf Basis von Release 3.2 erschien auch eine Live-CD für x86, die für 10 US-Dollar erhältlich war.
Release 4.
BeOS 4 erschien im Dezember 1998 und kostete 99,95 oder 69,95 US-Dollar (bei Bestellung über Bes Webseite). Es bringt gegenüber der Vorgängerversion erneut zusätzliche Treiber und Unterstützung für die gängigsten SCSI-Kontroller auf der x86-Plattform – von Adaptec und Symbios Logic. Eine weitere grundlegende Neuerung ist der Wechsel des Compilers der Version für x86-Prozessoren vom CodeWarrior zum EGCS, da dieser den Code besser für x86-Prozessoren optimiert. Dies machte es erforderlich, dass alle für Release 3 geschriebenen Programme entsprechend angepasst und neu kompiliert werden mussten, da auch das gesamte BeOS für x86 mit diesem Compiler übersetzt worden war.
Eine weitere Neuerung war der Umstieg vom bisher verwendeten Linux Loader (LILO) auf den BeOS-Bootmanager "bootman".
Im Februar 1999 machte das Unternehmen Be allen Computerherstellern das Angebot, kostenlose BeOS-Lizenzen zu erhalten. Dieses Angebot galt jedoch nur, wenn die Rechner die Möglichkeit boten, wahlweise Windows oder BeOS zu booten, die beide auf Festplatte installiert sein mussten. Dieses Angebot wurde von verschiedenen Computerherstellern wahrgenommen, so etwa von Fujitsu und Hitachi.
Version 4 sollte eine Aktualisierung auf Version 4.1 folgen, doch stattdessen erhielt die Folgeversion, da sie erhebliche Neuerungen enthält, die Versionsnummer 4.5 und erschien etwas verspätet im Juni 1999. So bietet Version 4.5 erstmals experimentelle Unterstützung für USB und PCMCIA, bringt einen eigenen Mediaplayer mit, und es wird erneut die Anzahl der unterstützten Hardware erhöht, nicht unterstützte Grafikkarten können nun aber mittels eines VESA-Treibers angesprochen werden. Ebenfalls mit BeOS 4.5 erschien ein experimentelles Programm namens "World O' Networking" (WON), das auf der BeOS 4.5- und BeOS 5-CD mitgeliefert wurde und bis zum Erscheinen von BeOS 5 auch von Bes FTP-Server heruntergeladen werden konnte. Dieses Programm erlaubte es, auf Windows-Rechner über das Netzwerk zuzugreifen.
Es folgten noch Updates auf Version 4.5.1 und 4.5.2, die hauptsächlich Bugfixes enthielten, aber auch ein paar neue Treiber enthalten.
Release 5.
Die letzte von Be entwickelte und veröffentlichte Version war BeOS 5. Sie erschien im März 2000 als „Professional“ und als „Personal Edition“. Die „Professional“ Variante von BeOS 5 wurde in Deutschland und in der Deutschschweiz ab August 2000 vom Unternehmen Koch Media mit deutschem Handbuch und einer weiteren CD mit Free- und Shareware für 169 DM bzw. 149 Franken vertrieben. Die „Personal Edition“ ist eine Gratisversion zur privaten Nutzung, die zuerst nur auf Windows, dann auch auf Linux installiert und von dort gestartet werden kann. Dazu legt das Installationsprogramm eine Image-Datei an. In dieser Image-Datei ist das Abbild eines mit dem BeFS-Dateisystem formatierten Datenträgers mitsamt BeOS-Installation enthalten. Das in der Image-Datei enthaltene BeOS kann mit dem BeOS-Bootmanager "bootman" gestartet werden, der entweder auf Diskette oder im MBR untergebracht werden kann, oder mit einem Startskript aus dem bereits laufenden Dateisystem (was jedoch Schwierigkeiten bei der Hardwareerkennung bereiten kann).
Die kostenlose „Personal Edition“ wurde auch von verschiedenen Computer-Magazinen auf der Heft-CD mitgeliefert. Dadurch vergrößerte sich die Nutzerzahl schnell, der kommerzielle Erfolg blieb jedoch aus.
Die Updates 5.0.1 und 5.0.2 erschienen nur für BeOS 5 „Professional“, das finale Update 5.0.3 für beide Varianten.
Vor der Übernahme von Be durch Palm gab es Gerüchte um ein BeOS 5.1, das jedoch nie erschien. Eine geleakte Version mit der Versionsnummer R5.1d0 (Codename Dano/EXP) trägt das Datum vom 15. November 2001. Nach der Übernahme stellte der neue Eigentümer Palm jedoch klar, dass BeOS nicht weiterentwickelt werde. Es entstanden verschiedene auf BeOS 5.0.3 aufbauende Varianten, die zusätzliche Treiber und Software enthalten. Beispiele dafür sind "BeOS Max" und die "BeOS Developer Edition." Diese Distributionen verstoßen jedoch gegen die Lizenz von BeOS 5 Personal Edition, welche besagt, dass BeOS nicht in veränderter Form weitergegeben werden darf.
Anwendungen.
BeOS bringt standardmäßig bereits verschiedene Anwendungen mit, etwa den Browser NetPositive, einen Mediaplayer, einen Bildbetrachter (ShowImage), ein E-Mail-Programm (BeMail) und einen Webserver (PoorMan). Zusätzlich bringt BeOS mit SoftwareValet ein Programm mit, das es erlaubt, auf einfache Weise neue Software zu installieren, die in entsprechenden Archiven mit der Endung ".pkg" untergebracht ist.
Des Weiteren existieren viele verschiedene Free- und Shareware-Programme, da Be schon früh freie Entwickler für BeOS begeistern konnte. Beispiele für derartige Software sind AbiWord und BeZilla (Mozilla-Portierung).
Im April 1996 erschien mit CodeWarrior eine Integrierte Entwicklungsumgebung für BeOS. Ab BeOS 3 gibt es auch von größeren kommerziellen Anbietern verschiedene Software für BeOS, so existieren mit BeBasic und Gobe Productive zwei Office-Pakete für BeOS. Insbesondere Gobe Productive von ehemaligen Mitarbeitern der Apple Works Suite hatte sehr innovative Ansätze. Weitere Software folgte, etwa der Browser Opera. Das Unternehmen BeatWare bot gleich mehrere ihrer Produkte für BeOS an, nämlich das E-Mail-Programm Mail-It, den FTP-Client Get-It und das Grafikprogramm e-Picture. Bei Erscheinen der kostenlosen Personal Edition von BeOS 5 gab BeatWare bekannt, dass Mail-It und Get-It ebenfalls kostenlos erhältlich sind. Von Adamation gab es einen der ersten Home-Videoeditoren, Personal Studio.
Viele weitere kommerzielle Programme gab es insbesondere aus dem Multimediabereich. Videoschnittprogramme (VideoWave), Animationssoftware (Cinema 4D) oder Software zur Audiobearbeitung, etwa Nuendo von Steinberg, waren angekündigt und wurden teilweise auch auf Messen vorgeführt, erschienen jedoch größtenteils nie in einer endgültigen Version. Von der mittlerweile etablierten IK Multimedia existieren Ports von T-Racks und Groovemaker, nachdem man sich auf der Musikmesse in Frankfurt von den Qualitäten des Systems überzeugte. Die Hersteller waren von der generellen Überlegenheit des Systems überzeugt, allerdings vermochte es die Führung von Be Inc. nicht, den notwendigen Support für die Softwarehersteller zu bieten. Der strategische Richtungswechsel auf BeIA war somit für die meisten Unternehmen der Grund, trotz Vorstellung der Produkte auf dem BeOS auf der Cebit, der Musikmesse in Frankfurt oder in Arnheim die Entwicklung einzustellen. Auf einer Entwicklermesse in Frankfurt zeigte sich jedoch deutlich der hohe Latenz- und Geschwindigkeitsunterschied zu Windows-basierten Systemen.
Geschichte.
BeOS wurde ursprünglich für ein Mehrprozessor-System auf Basis des AT&T Hobbit-Prozessors entwickelt. Die Verwendung von zwei Prozessoren gehörte zur Firmenphilosophie, der Slogan „One processor per person is not enough“ drückte dies aus. Schon dieses System trug den Namen BeBox. Noch während der Entwicklung von BeOS wurde die Produktion dieses Prozessors von AT&T eingestellt. Die BeBox wurde daher auf Basis des damals noch jungen RISC-Prozessors PowerPC neu entwickelt. Die erste erschienene BeBox besitzt zwei dieser Prozessoren vom Typ 603 mit je 66 MHz. Das Design ist jedoch sehr unglücklich, da der verwendete Prozessor-Kontroller nur zwei Prozessoren oder einen Prozessor und dessen 2nd-Level-Cache verwalten kann. Dieses Problem wurde auch mit der zweiten BeBox auf Basis von zwei Prozessoren vom Typ 603e mit je 133 MHz nicht vollständig gelöst. Später wurde das System auf Macintosh und dann auf Intel-kompatible Rechner portiert.
Als die BeBox zusammen mit der ersten Entwicklerversion von BeOS im Oktober 1995 auf der Bildfläche erschien – sie konnte nur über die Internetseite von Be bestellt werden – wurden die Geeks als erste Zielgruppe anvisiert. Diese sollten das System nehmen und mit der Unterstützung von Be daraus machen, was auch immer sie wollten. Im Vergleich zu anderen Systemherstellern bot Be den Entwicklern einen besseren Support, guten Kontakt, und den Entwicklerwünschen wurde schnell entsprochen.
Das System sprach damals auch viele Amiga-Entwickler und -Nutzer an, von denen viele auf der Suche nach einer neuen Plattform waren. Noch im Mai 1996 wurde auf dem deutschen Amiga-Meeting in Burlafingen die "DeBUG" (Deutsche BeBox User Group, später Deutsche Be User Group) gegründet, die bis heute besteht.
Im Sommer 1996 wurde BeOS als Kandidat für die Nachfolge des klassischen Mac OS gehandelt, was im Wesentlichen darauf zurückzuführen war, dass das System mittlerweile auf den Macintosh-Rechnern von Apple lief und eben jene Funktionen bot, die dem klassischen Mac OS zu einem modernen Betriebssystem fehlten.
Noch 1997 konnte man auf der Website von Be lesen, dass BeOS als Betriebssystem entwickelt wurde, welches den alten Ballast abschüttelt und das beste aus der Welt von Unix, Mac OS und AmigaOS aufgreift, auch wenn vom AmigaOS erst sehr spät einige Ideen – hauptsächlich auf Druck der Entwicklergemeinde – übernommen wurden. Dazu gehörte zum Beispiel das vom Amiga bekannte „DataTypes“-System.
Durch die Aufgabe der eigenen Hardware (BeBox) im Januar 1997 gehörte die Mehrprozessorphilosophie der Vergangenheit an, da weder bei Macs noch bei IBM-kompatiblen PCs Mehrprozessorsysteme üblich waren. Aber dennoch läuft das System bis heute auf mehreren Prozessoren.
Im Jahr 1998 präsentierte sich BeOS mit dem Intel-Port als komplett neues, multimediataugliches Betriebssystem. Dies ging so weit, dass sogar behauptet wurde, das System sei von Grund auf für Multimedia entwickelt worden, auch wenn zwei Jahre vorher Multimedia noch kein explizites Thema für BeOS war. Auch für die Entwicklergemeinde hatte sich einiges geändert. Der Erfolgsdruck auf Seiten des Herstellers wurde spürbar. Be erwies sich als sehr unstet, und die oft auftretenden Zielwechsel hatten spürbare Auswirkungen: 1998 hatten sowohl Entwickler- wie auch Nutzergemeinde mindestens zweimal komplett gewechselt, auch das System war in vielen Komponenten immer wieder verworfen und neu entwickelt worden.
1999 sah dennoch nach einem erfolgreichen Jahr für BeOS aus, das System erlangte nach und nach mehr Reife, die Hardwareunterstützung erreichte akzeptable Ausmaße. Die großen Hoffnungen bewahrheiteten sich jedoch nicht, gerade die großen Softwarehersteller zögerten, Software, beispielsweise zur Text- und Grafikverarbeitung, zu portieren.
Die letzte unter der Leitung von Be erschienene Version war BeOS 5 aus dem Jahr 2000. Diese erschien sowohl als „Professional Edition“, die kommerziell vertrieben wurde, als auch als kostenlose „Personal Edition“, die auch von verschiedenen Computer-Magazinen auf der Heft-CD mitgeliefert wurde. Durch diese Version vergrößerte sich die Nutzerzahl stark, der kommerzielle Erfolg blieb jedoch aus. Dennoch hatten einige Firmen aus dem Multimediabereich bereits Portierungen ihrer Produkte angekündigt. Überraschend kam dann ein erneuter Kurswechsel von Be: BeOS als eigenständiges Produkt wurde aufgegeben zugunsten von BeIA, einem Betriebssystem für sogenannte Internet Appliances. BeOS sollte nur noch als Entwicklungsplattform für BeIA dienen und nur in sehr eingeschränktem Maße – wie es die Entwicklung von BeIA erforderte – weiter gewartet und veröffentlicht werden. Dies führte dazu, dass nicht nur viele Anwender, sondern vor allem die professionellen Anbieter BeOS den Rücken kehrten – noch bevor ihre Anwendungen fertig portiert waren.
Das Unternehmen Be musste dann 2001 Gläubigerschutz beantragen, da das Geschäft mit den Internet Appliances so schnell vorbei war, wie es begonnen hatte. Sehr zügig wurden alle geistigen Besitztümer von Be an das Unternehmen Palm verkauft und die Entwicklung von BeOS offiziell eingestellt.
Nachfolgeprojekte.
Haiku (OpenBeOS).
Mit dem Ende von Be und der Tatsache, dass Palm an einer Weiterentwicklung nicht interessiert war, begann die Entwicklung von Haiku (damals noch unter dem Namen "OpenBeOS"), einer Implementierung als Open Source. Mittlerweile wird ein bootfähiges Image der ersten Betaversion von Haiku angeboten.
ZETA.
ZETA ist eine Weiterentwicklung von BeOS auf Basis dessen originären Quelltexts und ein proprietäres, kostenpflichtiges Betriebssystem, das aufgrund schlechter Verkaufszahlen und rechtlicher Konflikte eingestellt wurde. Es kam am 3. November 2003 auf den Markt und wurde bis Anfang 2006 vom Mannheimer Unternehmen yellowTAB herausgegeben. Nach dessen Insolvenz veröffentlichte das Unternehmen Magnussoft Anfang 2007 mit ZETA 1.5 die letzte Version; bereits im April 2007 wurde es eingestellt.
Als daraufhin der Hauptentwickler, Bernd Korz, öffentlich Überlegungen über eine Freigabe des unter seiner Leitung entstandenen Quelltexts anstellte, meldete sich ein Vertreter von Access, Inc., Inhaber der BeOS-Rechte, zu Wort und erklärte, Bernd Korz habe nie eine Lizenz zur Nutzung des BeOS-Quelltexts besessen und folglich sei ZETA ein illegales Derivat. Magnussoft reagierte, indem es ZETA „vorläufig“ vom Markt nahm.
BlueEyedOS.
BlueEyedOS versuchte aufbauend auf dem Linux-Kernel und einem X-Server ein System unter LGPL zu erstellen, das sowohl optisch als auch von den Schnittstellen kompatibel zu BeOS ist. Die Arbeit an BlueEyedOS begann am 1. Juli 2001 unter dem Namen "BlueOS" und wurde im Februar 2005 eingestellt.
Cosmoe.
Cosmoe wurde von Bill Hayden als ein quelloffenes Betriebssystem entworfen, das auf dem Quellcode von AtheOS basiert, jedoch als Kernel nicht den ursprünglichen AtheOS-Kernel, sondern den Linux-Kernel verwendet. Es ähnelt optisch BeOS. Das Ziel des Projekts war jedoch, dass es auch quellcodekompatibel zu BeOS wird.
Cosmoe unterliegt der GPL und LGPL. Die letzte Version 0.7.2 wurde am 17. Dezember 2004 veröffentlicht. Projektautor Hayden erklärte im Dezember 2006 in einem Interview, dass er seit längerer Zeit nicht mehr an dem Betriebssystem gearbeitet habe und dass er es begrüßen würde, wenn ein Nachfolger die Entwicklung weiterführen würde. In einem Posting vom 6. Februar 2007 erklärte er, dass er die Entwicklung wieder aufgenommen habe. Am Ende desselben Monats verbreitete er zudem, die Veröffentlichung von Version 0.8 stehe unmittelbar bevor. Diese ist jedoch ausgeblieben, sodass Cosmoe als verwaist angesehen werden muss.
ZevenOS.
ZevenOS griff 2008 zumindest optisch den Ansatz von BlueEyedOS wieder auf, ein Linux-System als Betriebssystem-Grundlage zu verwenden (Details Liste von Linux-Distributionen). |
572 | 2621156 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=572 | Bevölkerung | Der Begriff Bevölkerung wird als Bezeichnung für die menschliche Population innerhalb geografischer Grenzen verwendet und unterscheidet sich von abstammungsbezogenen Gruppierungen wie Stamm, Volk und Ethnie.
Demografie.
In der Wissenschaft ist die Bevölkerung das primäre Untersuchungsobjekt der Demografie, die sich mittels statistischer Methoden der Struktur und Entwicklung der Bevölkerung nähert. Die räumliche Verteilung der Bevölkerung in einem bestimmten Raum wird dabei sowohl von der "Demografie" wie auch der Bevölkerungsgeografie untersucht, die historische Entwicklung von Bevölkerungen von der Bevölkerungsgeschichte. In der Epidemiologie ist die beobachtete Bevölkerung, Bevölkerungsgruppe oder Population die Grundgesamtheit, auf welche sich die berechneten Kennzahlen beziehen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu beschreiben.
Geschichte.
Bis zum 18. Jahrhundert bedeutete "Bevölkerung" nicht die Populationsbestandsaufnahme, sondern war eine eingedeutschte Form des aus dem französischen "peuplement" abgeleiteten Begriffes "Peuplierung" (auch: "Pöblierung"), der die Populationsanreicherung, -verdichtung und -wandlung als demografischen Prozess im Allgemeinen und als Gegenstand der (zumeist absolutistisch geprägten) Bevölkerungspolitik im Besonderen bezeichnete. Doch bereits das Grimmsche Wörterbuch gibt Mitte des 19. Jahrhunderts ausschließlich die heutige Bedeutung („Einwohnerschaft“) an.
Bevölkerung in Deutschland nach öffentlichem Recht.
Nach dem öffentlichen Recht Deutschlands gilt eine Person als Einwohner Deutschlands, die in einer Gemeinde oder territorialen Einheit ihren ständigen Wohnsitz hat oder dort wohnberechtigt ist; dies schließt die gemeldeten Ausländer ein.
Allerdings lassen sich hierbei mehrere Bevölkerungsbegriffe unterscheiden, die im Folgenden erläutert werden. Je nachdem, welchen Begriff eine Kommune oder Region bei der Nennung der Einwohnerzahlen verwendet, kann es somit zu sehr unterschiedlichen Gesamtzahlen kommen. Insbesondere wird bei vielen Städten derjenige Begriff als Einwohnerzahl verwendet, welcher die höchste Einwohnerzahl der Stadt darstellt.
Ortsanwesende Bevölkerung.
Dieser heute meist nicht mehr verwendete Begriff beinhaltet alle Einwohner, die sich an einem bestimmten Stichtag an dem maßgebenden Ort aufgehalten haben. Dies führt vor allem zu Problemen bei Personen, die sich auf Reisen befanden und somit gelegentlich sowohl an ihrem Aufenthaltsort und oftmals auch noch an ihrem eigentlichen Wohnort gezählt wurden (Doppelzählung).
Wohnbevölkerung.
Unter "Wohnbevölkerung" versteht man alle Einwohner, die am maßgebenden Ort ihre alleinige Wohnung haben oder bei Einwohnern, die mehrere Wohnsitze haben, nur diejenigen, die vom maßgebenden Ort aus ihrer Arbeit oder Ausbildung nachgehen. Es zählen also nur solche Personen als Einwohner, die am maßgebenden Ort ihren "überwiegenden Aufenthalt" haben. Die Frage, ob es sich hierbei um die Haupt- oder Nebenwohnung handelt ist hier nicht maßgebend. Da in Universitätsstädten die Studenten meist nur mit einer Nebenwohnung gemeldet waren, war dies unerheblich. Sie zählten bei der "Wohnbevölkerung" mit, weil sie in der Regel in der Universitätsstadt ihren überwiegenden Aufenthalt haben. Die "Wohnbevölkerung" kommt im geltenden Melderecht nicht mehr vor.
Bevölkerung am Ort der Hauptwohnung.
Dieser heute von den meisten Statistischen Ämtern verwendete Begriff umfasst alle Bewohner, die am maßgebenden Ort ihre alleinige Wohnung haben, oder bei Einwohnern mit mehreren Wohnungen, die Hauptwohnung. Man geht also davon aus, dass die Hauptwohnung auch der „überwiegende Aufenthalt“ einer Person ist, wobei hiernach nicht mehr gefragt wird. Alle Personen mit Nebenwohnungen werden somit nicht mitgezählt. Da Studenten – wie beim Begriff "Wohnbevölkerung" ausgeführt – oftmals nur einen Zweitwohnsitz in der Universitätsstadt haben, zählen sie somit nicht zu den Einwohnern dazu. Viele Städte versuchen daher mit besonderen Angeboten (etwa kostengünstigeres Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln) die Studenten dazu zu bewegen, dass sie ihren Wohnsitz zur Hauptwohnung erklären.
Die „amtlichen“ Bevölkerungszahlen werden von den Statistischen Landesämtern ermittelt. Die Feststellung der Bevölkerungszahlen erfolgt nach dem Bevölkerungsstatistikgesetz, auf der Grundlage der Volkszählung vom 25. Mai 1987 nach den Ergebnissen der Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung und der Wanderungsstatistik. Erhebungsunterlagen der Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung sind die Meldungen der Standesämter über Geburten und Sterbefälle; Erhebungsunterlagen der Wanderungsstatistik sind die Mitteilungen der Einwohnermeldeämter über Zu- und Fortzüge, sowie Statusänderungen. Für die Zuordnung von Personen mit mehreren Wohnungen ist der Ort der Hauptwohnung maßgeblich. Hauptwohnung ist nach des BMG und nach § 16 Meldegesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Juli 1982, geändert durch das Gesetz vom 14. März 1988 bei verheirateten Personen, die nicht dauernd getrennt von ihrer Familie leben, die vorwiegend benutzte Wohnung der Familie, bei allen übrigen Personen deren vorwiegend benutzte Wohnung.
Wohnberechtigte Bevölkerung.
Dieser weitestgehende Begriff umfasst alle Einwohner, die mit Haupt- und Nebenwohnungen am maßgebenden Ort gemeldet sind, weil alle jene Einwohner amtlich gemeldet und somit „berechtigt“ sind, an diesem Ort zu wohnen. Diese Einwohnerzahlen ergeben jedoch ein vollständig falsches Bild der Gesamtbevölkerung, weil Personen mit mehreren Wohnsitzen auch entsprechend mehrfach gezählt werden. Würde man die entsprechenden Einwohnerzahlen aller Städte und Gemeinden eines Landes addieren, so hätte dieses bedeutend mehr Einwohner. Dennoch verwenden viele Städte den Einwohnerbegriff im Sinne der „wohnberechtigten Bevölkerung“, um die Gesamtzahl der Einwohner entsprechend zu erhöhen. Bei Großstädten kann das mitunter mehrere Tausend Einwohner mehr bedeuten.
Ausländische Bevölkerung.
Zur ausländischen Bevölkerung zählen alle Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 Grundgesetz sind, also nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Zu ihnen gehören auch Staatenlose und Personen, bei denen die Staatsangehörigkeit ungeklärt ist. Deutsche, die zugleich eine fremde Staatsangehörigkeit besitzen, gehören nicht zu den Ausländerinnen und Ausländern. |
579 | 2458679 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=579 | Börse | Eine Börse ist ein nach bestimmten Regeln organisierter Markt für standardisierte Handelsobjekte.
Allgemeines.
Gehandelt werden kann zum Beispiel mit Wertpapieren (etwa Aktien, Anleihen), Devisen, bestimmten Commodities (z. B. Agrarprodukte, Metalle und andere Rohstoffe) oder mit hiervon abgeleiteten Rechten. Die Börse führt Angebot und Nachfrage – vermittelt durch Börsenmakler oder Skontroführer (während festgelegter Handelszeiten) – zusammen und gleicht sie durch (amtliche) Festsetzung von Preisen (Börsenkurse) aus. Die Feststellung der Kurse oder Preise der gehandelten Objekte richtet sich laufend nach Angebot und Nachfrage.
Eine Börse dient der zeitlichen und örtlichen Konzentration des Handels von fungiblen Sachen unter beaufsichtigter Preisbildung. Ziele sind eine erhöhte Markttransparenz für Effekten, die Steigerung der Effizienz und der Marktliquidität, die Verringerung der Transaktionskosten sowie der Schutz vor Manipulationen. Anders als im außerbörslichen Handel (auch OTC-Handel von genannt) wird börslicher Handel börsenaufsichtsrechtlich durch staatliche Aufsichtsämter (in Deutschland: die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)) sowie durch die Handelsüberwachungsstellen der Börsen kontrolliert.
Durch den in der ISO 10383 geregelten Marktidentifikationscode ist jede Börse genau wie jede andere Handelsplattform weltweit eindeutig identifizierbar.
Für An- und Verkäufer von Finanzprodukten übernehmen die Börsen die wichtige Funktion des Zentralen Kontrahenten.
Etymologie.
Es gibt über die Wortherkunft verschiedene Literaturmeinungen. Die Burse war eine Gemeinschaft, die aus einer gemeinsamen Kasse lebte wie auch die Bezeichnung für deren Unterkunft. Das Wort steht für „Ledertasche, Geldsäckchen“ (), das wiederum auf für eine abgezogene Tierhaut bzw. Fell zurückgeht. Einige Historiker bringen den Begriff in Verbindung mit Byrsa, einem Hügel mit einer mauergeschützten Festung über dem Hafen der antiken Stadt Karthago im heutigen Tunesien.
Eine seit Jahrhunderten tradierte Version der Namensherkunft besagt, dass die in Brügge ansässige Kaufmannsfamilie "Van ter Beurze (Buerze, Buerse)", deren Name erstmals 1257 erschien und deren Haus seit 1285 sehr häufig als „ter Buerse“ oder „ter ouder Buerse“ erwähnt wird, in ihrem Haus regelmäßig stattfindende geschäftliche Zusammenkünfte mit – vor allem italienischen – Kaufleuten unterhielt. Ihr Wappen zeigte drei Geldbeutel. Ab 1409 vermittelte diese Börse abwesende Güter und Wechsel. Der flämische Familienname ging in das niederländische Wort für Geldbeutel () vom Haus über auf die Treffen selbst und wurde in den darauffolgenden Jahren auch in anderen europäischen Sprachen übernommen, wo es noch heute vorkommt beispielsweise , , oder .
Geschichte.
Von Brügge aus verbreiteten sich Warenbörsen weltweit, 1414 in Antwerpen, 1531 in Frankreich (Toulouse, ; 1549 in Lyon, ; 1550 in Rouen, ) und Deutschland (Augsburger Börse), 1571 in England (London; ) oder 1611 in den Niederlanden (Amsterdamer Börse; als Warenbörse ). Die erste kommerzielle Pariser Börse gab es im Jahre 1639, als die Funktionen von Waren- und Aktienbörse getrennt wurden. Ein Dekret vom 2. April 1639 gab den Händlern die Bezeichnung Aktienhändler (), deren amtlicher Handel die Bezeichnung „Parkett“ () erhielt. Seitdem wird jeder Börsensaal als "Parkett" und der Handel hierin als Parketthandel bezeichnet.
Arten.
Wichtige Börsenarten in der Aufteilung nach Art der Handelsgegenstände sind:
Weitere Börsenarten oder börsen-ähnlich organisierte Märkte sind:
Börsen können auch danach unterschieden werden, ob sie über ein organisiertes Handelssystem verfügen, das nach einem reinen Auktionssystem organisiert ist (wie Nebenwerte und Freiverkehr an der Deutschen Börse), ein Market-Maker-System darstellt wie die NASDAQ oder über ein Mischsystem wie die NYSE verfügt. Market-Maker-Systeme () sind dadurch gekennzeichnet, dass die ständige Präsenz von Market-Makern täglich für die Ausführung sämtlicher Wertpapierorders sorgt, indem sie diese Orders selbst kauft oder aus Eigenbeständen jeweils nach Quotierung verkauft. Das Auktionsprinzip () erfordert für jede Transaktion das Vorliegen korrespondierender Orders zum angegebenen Börsenkurs und zu der entsprechenden Menge. Zu einer Kauforder muss also eine entsprechende Verkaufsorder oder umgekehrt vorliegen, bei denen Kurs- und Mengenwunsch der Kontrahenten mindestens für einen Kontrahenten erfüllt werden können.
Die klassische Form der Börse war die Präsenzbörse (auch Parketthandel genannt). Dort trafen sich die Makler in persona und schlossen durch Gespräche ihre Geschäfte ab. In den 1990er-Jahren zogen Computer ein, das Orderrouting läuft seither elektronisch, der Handel wird von Programmen unterstützt.
Bei Computerbörsen wie beim vollelektronischen Handelsplatz Xetra übernimmt ein Computerprogramm die Berechnungen und die Kommunikation. Hier werden Eingaben über Dialogfenster gemacht; das Computersystem wickelt den Handel ab und errechnet die Kurse (z. B. den Tagesdurchschnitt). Der Hauptanteil des Umsatzes wird gegenwärtig weltweit über computergestützte Börsen abgewickelt, wobei teilweise die Makler selbst am Bildschirm sitzen.
Für die Abwicklung von Lieferung und Zahlung haben sich zwischen den Marktteilnehmern teilweise nicht kodifizierte (nicht festgeschriebene) Usancen gebildet. Daneben wurden in der letzten Zeit in Deutschland auch Anweisungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht über die Mindestanforderungen im Handel mit Wertpapieren veröffentlicht (beispielsweise zu Aktien und Obligationen).
Nach Art der Abwicklung des Handels unterscheidet man:
Rechtsfragen.
Wie jeder Markt bedarf auch die Börse einer Marktordnung, die den Börsenhandel geschriebenen Rechtsnormen und ungeschriebenem Gewohnheitsrecht unterwirft. In Deutschland gibt es als geschriebene Rechtsnorm das Börsengesetz (BörsG) und die von regionalen Börsen erlassenen Börsenordnungen. Das BörsG enthält gemäß Abs. 1 BörsG Regelungen insbesondere zum Betrieb und zur Organisation von Börsen, zur Zulassung von Handelsteilnehmern, Finanzinstrumenten, Rechten und Wirtschaftsgütern zum Börsenhandel, zur Ermittlung von Börsenpreisen, zu den Zuständigkeiten und Befugnissen der zuständigen obersten Landesbehörde (Börsenaufsichtsbehörde) und zur Ahndung von Verstößen. Nach der Legaldefinition des Abs. 1 BörsG sind Börsen teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, die multilaterale Systeme regeln und überwachen, welche die Interessen einer Vielzahl von Personen am Kauf und Verkauf von dort zum Handel zugelassenen Handelsobjekten innerhalb des Systems nach nicht-diskretionären Bestimmungen in einer Weise zusammenbringen oder das Zusammenbringen fördern, die zu einem Vertrag über den Kauf dieser Handelsobjekte führt. Organe der Börse sind nach Abs. 1 BörsG die Börsengeschäftsführung, der Börsenrat, der Sanktionsausschuss und die Handelsüberwachungsstelle. Die Errichtung und der Betrieb einer Börse bedarf der schriftlichen Erlaubnis der Börsenaufsichtsbehörde ( Abs. 1 BörsG). Zum Besuch der Börse, zur Teilnahme am Börsenhandel und für Personen, die berechtigt sein sollen, für ein zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenes Unternehmen an der Börse zu handeln (Börsenhändler), ist eine Zulassung durch die Geschäftsführung erforderlich ( Abs. 1 BörsG). Handelsobjekte, die an der Börse gehandelt werden sollen und nicht zum Handel im regulierten Markt zugelassen oder in den regulierten Markt oder in den Freiverkehr einbezogen sind, bedürfen gemäß Abs. 1 BörsG der Zulassung zum Handel durch die Geschäftsführung. Generelle Zulassungsnormen für Wertpapiere sind in den § ff. BörsG geregelt. Keiner Zulassung bedürfen gemäß BörsG Staatsanleihen wie Bundeswertpapiere oder Landesanleihen der Bundesländer und Staatsanleihen von Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums. Preise, die während der Börsenzeit an einer Börse festgestellt werden, sind gemäß Abs. 1 BörsG Börsenpreise. Diese müssen ordnungsmäßig zustande kommen und der wirklichen Marktlage des Börsenhandels entsprechen (§ 24 Abs. 2 BörsG). Nach Abs. 1 BörsG ist die Geschäftsführung zur Aussetzung des Handels befugt. Die Geschäftsführung einer Wertpapierbörse lässt gemäß Abs. 1 BörsG Skontroführer zu.
An den Börsen gelten darüber hinaus besondere ungeschriebene Handelsbräuche, sogenannte Börsenusancen, die auf freiwilliger und dauernder tatsächlicher Übung beruhen. Anders als bei normalen Geschäften soll im schnelllebigen Börsenhandel sofortige Rechtssicherheit erlangt werden können, so dass die nachträgliche Aufhebung von Wertpapiergeschäften (Stornierung) aufgrund von z. B. Irrtümern nur in einem sehr eingeschränkten Zeitraum (handelsüblich zwischen 30 Minuten und 2 Handelsstunden) möglich ist (siehe Mistrade zu Fristen für Mistradeanträge).
Börsenpflichtblätter.
Verschiedene Kapitalmarktregeln verlangen eine Publikation bestimmter Vorgänge, die für das Börsengeschehen relevant sind. Börsennotierte Unternehmen und Wertpapieremittenten müssen diese Bekanntmachungen in den Pflichtblättern der entsprechenden Börsen veröffentlichen.
Die Zulassungsstelle einer Börse bestimmt gemäß Abs. 5 Börsengesetz mindestens drei inländische Tageszeitungen mit überregionaler Verbreitung als "überregionale Börsenpflichtblätter". Daneben kann sie weitere (regionale) Börsenpflichtblätter benennen.
Die Börse München hat die folgenden Börsenpflichtblätter für die Jahre 2021 und 2022 festgelegt:
Überregionale Börsenpflichtblätter:
regionale Börsenpflichtblätter:
Handelszeiten.
Börsen sind an Handelstagen geöffnet. Bei den "Handelszeiten" (oder "Börsenzeiten") an allen Börsen wird unterschieden zwischen dem Parketthandel und dem Computerhandel (wie zum Beispiel Xetra). Kleinere Börsen verfügen oftmals nur über den Parketthandel. Der Parketthandel beginnt an den Börsen Frankfurt und Stuttgart um 08:00 Uhr Ortszeit (bezogen auf Deutschland), an den Börsen Berlin, Düsseldorf und München ebenfalls um 08:00 Uhr, er endet um 20:00 Uhr Ortszeit und in Stuttgart um 22:00 Uhr. Der Xetra beginnt um 9:00 Uhr und endet bereits um 17:30 Uhr Ortszeit. Die Handelszeiten der NASDAQ, der größten elektronischen Börse in den USA, und der NYSE sind von 9:30 bis 16:00 New Yorker Ortszeit (EST), was 15:30 bis 22:00 Uhr deutscher Zeit (MEZ) entspricht. Auch außerhalb der regulären Handelszeiten können Anleger an der Börse kaufen und verkaufen. Der vorbörsliche Handel an der NYSE beginnt zum Beispiel bereits um 10:00 Uhr und endet nachbörslich um 02:00 Uhr (MEZ).
Die Tokioter Börse hat ihre Handelszeiten von 9:00 Uhr bis 11:30 Uhr und 12:30 Uhr bis 15:00 Uhr Ortszeit (entspricht 1:00 Uhr bis 3:30 Uhr und 4:30 Uhr bis 7:00 Uhr MEZ).
Wichtige Handelsplätze.
International bedeutende Börsenplätze sind
Nach Marktkapitalisierung und Handelsumsätzen gemessen ist der wichtigste Handelsverbund für den CEE-Raum die CEE Stock Exchange Group. Danach folgt die polnische Warschauer Börse, die bezüglich der Marktkapitalisierung bereits größer ist als die Wiener Börse – betrachtet man diese eigenständig.
Die weltweiten Börsen sind mit einem täglichen Transaktionsvolumen von etwa 2 Billionen US-Dollar ein entscheidender Faktor der Weltwirtschaft.
Börsenplatz Deutschland.
In Deutschland gibt es acht Wertpapierbörsen, eine Strombörse (EEX) und eine Terminbörse (Eurex).
Die wichtigste Börse in Deutschland ist die Frankfurter Wertpapierbörse (FWB), einschließlich der Handelsplätze Xetra und Börse Frankfurt. Ein Großteil des Aktienhandels in Deutschland wird über die Handelsplätze Xetra und Börse Frankfurt abgewickelt (März 2008: Anteil am Handel mit deutschen Aktien rund 98 Prozent, bei ausländischen Aktien rund 84 Prozent.) Ausgehend vom Handel mit Sorten und Wechselbriefen im 16. und 17. Jahrhundert und dem ab 1820 beginnenden Aktienhandel hat sich die FWB seitdem zu einer der führenden internationalen Börsen für Aktien und Anleihen entwickelt. Trägerin und Betreiberin ist die Deutsche Börse AG.
Außerdem gibt es in Deutschland noch sieben weitere Wertpapierbörsen (die bis auf gettex, Tradegate und die EEX auch als Regionalbörsen bezeichnet werden). Unter diesen ist die Börse Stuttgart (Baden-Württembergische Wertpapierbörse) mit einem durchschnittlichen Anteil von 34 Prozent am Orderbuchumsatz des deutschen Parketthandels zweitgrößter Handelsplatz. Von besonderer Bedeutung ist der Handel von verbrieften Derivaten, wie Optionsscheinen (Handelssegment Euwax). An der Wertpapierbörse Hamburg/Hannover, die unter der gemeinsamen Träger- und Betreibergesellschaft Börsen AG den dritten Rang der deutschen Börsen einnimmt, hat der Fondshandel große Bedeutung.
Nach Auflösung der Bremer Börse 2007 bestehen außer der Börse Frankfurt noch folgende deutsche Börsen:
1897 gab es noch folgende Börsen in Deutschland: Berlin, Breslau, Danzig, Düsseldorf, Elbing, Essen, Frankfurt am Main, Gleiwitz, Halle an der Saale, Königsberg, Magdeburg, Memel, Posen, Stettin (alle Preußen), München, Augsburg (Bayern), Leipzig, Dresden, Zwickau, Chemnitz (Sachsen), Stuttgart (Württemberg), Mannheim (Baden), Mülhausen, Straßburg (Elsaß-Lothringen), Bremen, Hamburg, Lübeck.
Von den Nationalsozialisten wurden 1934 die bisher 21 deutschen Börsen zu 9 Börsen zusammengefasst: Berlin, Breslau, Hannover, Stuttgart, Hamburg (Bremen und Lübeck gingen in dieser Börse auf), die Sächsische oder Mitteldeutsche Börse in Leipzig (Dresden, Zwickau, Halle und Chemnitz gingen in dieser Börse auf), die Rheinisch-westfälische Börse in Düsseldorf (Essen und Köln gingen in dieser Börse auf), die Rhein-Mainische Börse in Frankfurt (mit Mannheim) und die Bayerische Börse in München (mit Augsburg).
Börsenplatz USA.
Die wichtigsten Börsen in den USA sind die NYSE Amex (früher American Stock Exchange), die Chicago Mercantile Exchange (CME), die National Association of Securities Dealers Automated Quotations (NASDAQ), die New York Mercantile Exchange (NYMEX) und die New York Stock Exchange (NYSE). Älteste amerikanische Börse ist die 1790 gegründete Philadelphia Stock Exchange.
Dark Trade.
Der überwiegende Teil des Handels findet außerbörslich statt. In Deutschland rund die Hälfte, in den USA etwa zwei Drittel des Gesamtvolumens. Ein erheblicher Teil der Transaktionen geschieht verdeckt und nicht öffentlich. Dark Pools sind eine spezielle Form von Handelsplätzen, die dazu dienen, Auftragsbestand und Marktteilnehmer zu verdunkeln. Diese Intransparenz liegt insbesondere im Interesse institutioneller Investoren. In den USA hat sich der Anteil reiner Dark Pools am abgewickelten Volumen in den Jahren 2008 bis 2014 von 8 % auf 15 % fast verdoppelt. Da diese Handelsform einem Kundenbedürfnis entspricht, werden Dark Pools auch an den regulären Börsen angeboten, so betreibt die Schweizer Börse "SIX Liquidnet Service" und die Deutsche Börse "Xetra Midpoint". Auch Großbanken wie UBS und Credit Suisse betreiben eigene Dark Pools.
Historische Entwicklung.
Im Frankreich des 12. Jahrhunderts wurden die "courretiers de change" mit der Verwaltung und Regulierung der Schulden von landwirtschaftlichen Gemeinden im Namen der betroffenen Banken tätig. Weil diese Männer auch mit Schulden handelten, können sie als die ersten Makler bezeichnet werden. Nach einem weit verbreiteten Irrglauben trafen sich im späten 13. Jahrhundert Rohstoffhändler in Brügge im Haus eines Mannes namens Van der Beurze, aus dem im Jahre 1409 die "Brugse Beurse" entstanden sein soll. Bis dahin war es ein informelles Treffen, aber eigentlich hatte die Familie Van der Beurze ein Gebäude in Antwerpen, wo diese Versammlungen stattfanden.
Gründungen einzelner Börsen.
Die erste Börse wurde 1409 in Brügge gegründet. Es handelte sich um eine Wechselbörse, einen institutionalisierten Handelsplatz der Fernhändler für Wechsel. 1531 entstand ein zentral gelegenes festes Gebäude, das in zeitgenössischen Stadtplänen als „Byrsa Brugensis“ (Börse von Brügge) benannt wurde.
Die Börsen in Augsburg und Nürnberg entstanden 1540 als erste in Deutschland. In Süddeutschland wurde der Begriff der Börse jedoch lange nicht genutzt, man sprach von „Platz“.
Das erste offizielle Börsengebäude der Welt wurde 1613 in Amsterdam eröffnet. |
580 | 114381 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=580 | Baryon | Baryonen sind subatomare Teilchen mit relativ großer Masse. Zu ihnen gehören das Proton und das Neutron (Sammelbegriff: Nukleonen) sowie eine Reihe weiterer, noch schwererer Teilchen. Sie sind (im Regelfall) aus drei Quarks zusammengesetzt.
Baryonen sind Fermionen, d. h., sie haben halbzahligen Spin und unterliegen dem Paulischen Ausschließungsprinzip (Pauli-Prinzip).
Baryonen können nur als Paare von Baryon und Antibaryon erzeugt oder vernichtet werden. Bei der Umwandlung eines Baryons („Zerfall“) entsteht immer ein anderes Baryon. Das leichteste Baryon, das Proton, ist stabil.
Zusammen mit den Mesonen werden Baryonen zur Klasse der Hadronen (zusammengesetzte Teilchen, die der starken Wechselwirkung unterliegen) zusammengefasst. Im Unterschied zu den Baryonen haben Mesonen ganzzahligen Spin, und ihre Zahl bleibt nicht erhalten.
Etymologie.
Die Bezeichnung „Baryon“ kommt von altgriechisch ("barýs" ‚schwer‘, ‚gewichtig‘) als Gegensatz zu den „leichten“ Leptonen und den „mittelschweren“ Mesonen. Die Namensgebung passt zu den zuerst entdeckten Teilchen: das leichteste Baryon (das Proton) ist siebenmal so schwer wie das leichteste Meson (das Pion) und fast 2000-mal so schwer wie das leichteste geladene Lepton (Elektron). Allerdings gibt es Mesonen mit schweren Quarks, die deutlich schwerer sind als das Proton, und auch das Tau-Lepton ist schwerer.
Eigenschaften.
Spin.
Baryonen sind Fermionen, d. h., sie haben halbzahligen Spin und unterliegen dem Paulischen Ausschließungsprinzip (Pauli-Prinzip). Sie werden durch die Fermi-Dirac-Statistik beschrieben. Die Baryonen der niedrigsten Energie haben Spins von und
Isospin.
Proton und Neutron, aber auch Gruppen anderer Baryonen (z. B. Sigma-Baryonen) haben sehr ähnliche Eigenschaften, so dass man sie als unterschiedliche Ladungszustände eines Teilchens interpretieren kann. Dies wird durch den Isospin-Formalismus beschrieben.
Strangeness, Charm, Bottomness.
In den 1950er Jahren wurden Baryonen entdeckt, die – zusammen mit K-Mesonen – über die starke Wechselwirkung erzeugt wurden, aber nur über die schwache Wechselwirkung zerfielen. Dieses „seltsame“ Verhalten wurde über eine Quantenzahl "Strangeness (S)" beschrieben, die nur bei der schwachen Wechselwirkung nicht erhalten bleibt. Im Quarkmodell beschreibt "S" die Anwesenheit eines s-Quarks.
Den in den 1970er und 1980er Jahren entdeckten Baryonen mit den schwereren c- und b-Quarks werden entsprechend die Quantenzahlen "Charme (C)" und "Bottomness (B′)" zugeordnet.
Baryonenzahl.
Bei der Umwandlung („Zerfall“) eines Baryons entsteht immer ein anderes Baryon. Baryonen können nur als Paare von Baryon und Antibaryon erzeugt oder vernichtet werden. Ordnet man Baryonen und Antibaryonen die Baryonenzahl bzw. zu, so bleibt die Gesamtbaryonenzahl stets konstant. Die Baryonenzahl ist eine additive Quantenzahl, d. h. für Systeme mehrerer Teilchen addieren sich die Quantenzahlen der einzelnen Konstituenten zur Quantenzahl des Gesamtsystems.
Die Baryonenzahl ist nach heutigem Kenntnisstand eine absolute Erhaltungsgröße. Im Unterschied zu anderen erhaltenen Quantenzahlen ist für die Baryonenzahl keine zugehörige Symmetrie bekannt. Experimente suchen nach einem mögliche Zerfall des Protons, der diesen Erhaltungssatz verletzen würde.
Masse.
Baryonen, die aus leichten Quarks (u, d, s) zusammengesetzt sind, haben Massen zwischen knapp 1 und Baryonen mit schwereren Quarks (c, b) haben Massen bis Das leichteste Baryon, das Proton, hat eine Masse von
Lebensdauer.
Baryonen, die aufgrund von Erhaltungssätzen nur über die schwache Wechselwirkung zerfallen können, sind relativ langlebig (typischerweise 10−10 s; das Neutron mit einer mittleren Lebensdauer von fast 15 Minuten ist ein Sonderfall). Über die starke Wechselwirkung zerfallende Baryonen haben hingegen Lebensdauern von typischerweise Sie werden als Baryonresonanzen bezeichnet. Das leichteste Baryon, das Proton, ist nach heutigem Wissensstand stabil.
Nomenklatur.
Für die Baryonen hat die Particle Data Group die folgende Nomenklatur festgelegt:
Baryonen im Quarkmodell.
Zusammensetzung.
Baryonen bestehen aus drei Quarks, den so genannten Valenzquarks, die die Ladung und Quantenzahl des Baryons bestimmen, sowie aus dem Feld der starken Wechselwirkung, das sich in Gluonen und virtuellen Quark-Antiquark-Paaren, den so genannten Seequarks manifestiert. Während in Atomkernen der Beitrag des Feldes noch relativ moderat ist (die typische Bindungsenergie eines Nukleon beträgt 8 MeV, was weniger als 1 % der Nukleonmasse ist), ist er in Baryonen weit stärker: Im Proton tragen die drei Valenzquarks nur ca. 1 % zur Masse bei. Man kann die Baryonen rechnerisch so behandeln, als würde sich der Beitrag des Feldes auf die drei Valenzquarks aufteilen und ihnen damit eine deutlich höhere Masse verleihen. Die „effektiven“ Quarks bezeichnet man als Konstituentenquarks.
Die drei leichten Quarks – "up" (u), "down" (d) und "strange" (s) – haben Konstituentenquarkmassen von etwa der gleichen Größenordnung (wobei das s-Quark ca. 50 % schwerer ist als u- und d-Quark); "charm"-Quark (c) und "bottom"-Quark (b) sind deutlich schwerer. Baryonen mit "top"-Quarks (t) wurden nicht beobachtet, und aufgrund der extrem kurzen Lebensdauer des t-Quarks ist nicht zu erwarten, dass sich solche Baryonen bilden können.
Dass es gerade drei Valenzquarks sein müssen, ergibt sich aus der Theorie der starken Wechselwirkung, der Quantenchromodynamik (QCD). Jedes Quark trägt eine „Farbladung“, die drei verschiedene Werte, willkürlich „rot“, „grün“ und „blau“ genannt, annehmen kann. Diese Ladungen müssen sich insgesamt aufheben, was nur als Kombination rot+grün+blau möglich ist.
Quantenzahlen.
Die Quantenzahlen der Baryonen lassen sich im Quarkmodell gut erklären.
Baryonen aus leichten Quarks (u, d, s).
Multipletts.
Eine wichtige Konsequenz des Aufbaus der Baryonen aus Quarks ist, dass es Gruppen von Baryonen mit ähnlichen Eigenschaften gibt, so genannte Multipletts. Betrachten wir zunächst Baryonen, die aus den drei leichten Quarks "up" (u), "down" (d) und "strange" (s) aufgebaut sind, die als Konstituentenquarks ähnliche Massen haben (das s-Quark etwas höhere als d und u). Dann gibt es zehn mögliche Kombinationen:
Eine mögliche Einschränkung ergibt sich aus dem Pauli-Prinzip: Da Quarks halbzahligen Spin haben, muss ihre Gesamtwellenfunktion antisymmetrisch sein: Sie muss ihr Vorzeichen wechseln, sobald man die Quantenzahlen zweier Quarks vertauscht.
Die Wellenfunktion ist dabei das Produkt aus vier Bestandteilen:
Das Baryon-Dekuplett ("JP = +").
In der Tat wurden zehn Baryonen (Dekuplett) mit Spin und positiver Parität gefunden, die perfekt zu diesem Schema passen:
Die Masse dieser Isospin-Multipletts steigt mit der Strangeness-Quantenzahl um jeweils was sich auf die höhere Masse des s-Quarks zurückführen lässt.
Alle diese Baryonen haben positive Parität, was dazu passt, dass alle Quarks im Grundzustand (Bahndrehimpuls 0) sind.
Historisch gesehen war die Existenz von Spin--Baryonen mit drei Quarks gleichen Flavours (Δ++, Δ− und Ω−) ein Indiz dafür, dass es neben Ort, Spin und Flavour einen weiteren Freiheitsgrad – die Farbladung – geben musste, damit das Pauli-Prinzip erfüllt war.
Das Baryon-Oktett ("JP = +").
Wenn die Spins der der Quarks zu koppeln, hat die Spinwellenfunktion gemischte Symmetrie. Aus gruppentheoretischen Überlegungen ergibt sich ein Oktett – ohne die Kombinationen ddd, uuu und sss, aber mit einem zusätzlichen Singulett der Kombination dus.
Genau dies wurde beobachtet. Das Isospinduplett aus ddu und duu sind Neutron und Proton, zusätzlich zum Isospintriplett der Σ-Baryonen und zum Duplett der Ξ-Baryonen gibt es ein Singulett, das Λ-Baryon.
Massenaufspaltung.
Da sich die verschiedenen Zeilen der Multipletts durch die Anzahl der strange-Quarks unterscheiden (die Strangeness nimmt jeweils nach unten hin zu), liefert der Massenunterschied zwischen dem strange- und den nicht-strange-Quarks ein Maß für die Massenaufspaltung der einzelnen Isospinmultipletts.
Ferner existiert eine grundlegende Aufspaltung zwischen den Massen in Oktett und Dekuplett, die auf die (farbmagnetische) Spin-Spin-Wechselwirkung zurückzuführen ist. So hat z. B. die Quarkkombination (uus) je nach Spin unterschiedliche Massen: m(Σ+) = , m(Σ*+) =
Innerhalb der Isospinmultipletts ist die Aufspaltung gering: z. B. m(Σ0) = , m(Σ−) = .
Baryonen mit schweren Quarks (c, b).
Auch die schwereren Quarks "charm" und "bottom" können Bestandteile von Baryonen sein, z. B. hat das Λc die Zusammensetzung "udc". Das Top-Quark hingegen kann keine gebundenen Zustände bilden, weil es zu schnell zerfällt.
Durch Hinzunahme dieser Quarks lassen sich Multipletts höherer Dimension bilden. Die Teilmultipletts unterscheiden sich allerdings deutlich in den Massen, da c und b erheblich schwerer sind.
Angeregte Zustände.
Neben den beschriebenen Grundzuständen der Baryonen gibt es noch eine große Zahl angeregter Zustände mit radialer Anregung der Quarks (entsprechend der Hauptquantenzahl der Elektronen im Atom) oder Drehimpulsanregung (entsprechend der Nebenquantenzahl). Solche Baryonen können höhere Spins haben (extremes Beispiel: für das Δ(2420)) und zerfallen über die starke Wechselwirkung meist in ein Baryon und ein oder mehrere Mesonen. Ihre Lebensdauer ist extrem kurz, sie liegt typischerweise in der Größenordnung von 10−24 s, entsprechend einer Zerfallsbreite von 100 MeV und höher.
Exotische Baryonen.
Es ist möglich, dass Hadronen mit halbzahligem Spin nicht aus drei (Valenz-)Quarks, sondern aus einer anderen Zahl von Quarks zusammengesetzt sind. Da freie Teilchen immer die Gesamtfarbladung 0 haben müssen (Confinement), muss die Zahl der Quarks abzüglich der Antiquarks durch drei teilbar sein. 2015 und 2019 wurden Pentaquarks mit der Zusammensetzung qqqqq nachgewiesen.
Baryonische Materie in der Kosmologie.
Als Baryonische Materie bezeichnet man in der Kosmologie und der Astrophysik die aus Atomen aufgebaute Materie, um diese von dunkler Materie, dunkler Energie und elektromagnetischer Strahlung zu unterscheiden. Im sichtbaren Universum gibt es mehr Baryonen als Antibaryonen, diese Asymmetrie nennt man Baryonenasymmetrie.
Forschungsgeschichte.
Im Jahr 1919 führte Ernest Rutherford die erste künstliche Kernumwandlung durch und wies nach, dass dabei Wasserstoffkerne emittiert wurden. Damit war deutlich geworden, dass auch der Atomkern eine Struktur besitzen musste. Bald wurde klar, dass Atomkerne neben Wasserstoffkernen (Protonen) weitere, elektrisch neutrale Teilchen (Neutronen) beinhalten mussten. Mit dem Nachweis des Neutrons durch James Chadwick 1930 hatte man die Bestandteile normaler Materie – Elektron, Proton und Neutron – gefunden. Da Proton und Neutron sehr ähnliche Eigenschaften hatten, wurden sie von Werner Heisenberg als ein Teilchen (Nukleon) mit zwei Ladungszuständen (Isospin) beschrieben.
1950 wurde das Λ-Baryon als erstes weiteres „schweres“ Teilchen in Reaktionen mit kosmischer Strahlung entdeckt, es folgten die Entdeckung von Σ und Ξ. Mit Zyklotron-Experimenten wurden „Resonanzen“ (starker Anstieg der Reaktionswahrscheinlichkeit bei bestimmter Energie) bei der Reaktion von Pionen mit Nukleonen entdeckt und von Murray Gell-Mann als Quadruplett von Δ-Teilchen gedeutet. Der Name „Baryon“ etablierte sich für diese Teilchen.
Kazuhiko Nishijima und Gell-Mann fanden 1953 bzw. 1956 unabhängig voneinander eine Gesetzmäßigkeit, die heute als Gell-Mann-Nishijima-Formel bekannt ist. Im Jahr 1961 gelang es Gell-Mann und Yuval Ne’eman, die bekannten Hadronen aufgrund gruppentheoretischer Überlegungen in bestimmten Schemata (den „Achtfachen Weg“, engl.: "eightfold way") anzuordnen – die Baryonen in ein Oktett und ein Dekuplett.
Vom Spin--Dekuplett waren zu diesem Zeitpunkt das Δ-Quadruplett und das Σ*-Triplett bekannt. Nach dem Nachweis des Ξ*-Dupletts im Jahr 1963 fehlte als letztes das Teilchen mit Strangeness dessen Masse Gell-Mann berechnete (Gell-Mann-Okubo-Massenformel). Aufgrund dieser Voraussagen wurde 1964 tatsächlich das Ω-Baryon mit einem speziell hierfür ausgelegten Experiment gefunden. Damit galt die Richtigkeit des „Achtfachen Wegs“ als erwiesen. Zur Erklärung dieser Ordnung postulierte Gell-Mann 1964 (und unabhängig von ihm George Zweig), dass Mesonen und Baryonen aus noch kleineren Teilchen zusammengesetzt seien, und nannte diese Quarks.
In den späten 1960er Jahren zeigten Experimente mit tief inelastischer Streuung hochenergetischer Elektronen am SLAC, später auch weitere Experimente mit Neutrinos und Myonen an anderen Orten, dass Nukleonen tatsächlich eine Substruktur haben und Teilchen mit Spin enthalten.
Nachdem 1974 mit dem J/ψ-Meson das zuvor postulierte c-Quark nachgewiesen wurde, entdeckte man im Jahr darauf mit dem (Λc = udc) das erste Baryon mit
Das erste Baryon mit einem b-Quark (Λb = udb) wurde 1981 gefunden.
2015 gab es den ersten experimentellen Hinweis auf ein Pentaquark.
Liste der Baryonen.
Die Liste der Baryonen enthält die Zusammenstellung aller bekannten Baryonen sowie der vorhergesagten Baryonen mit Gesamtdrehimpuls oder und positiver Parität. |
581 | 1746099 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=581 | Buddhismus | Der Buddhismus ist eine der großen Weltreligionen. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen ist der Buddhismus keine theistische Religion, hat also als sein Zentrum nicht die Verehrung eines allmächtigen Gottes. Vielmehr gründen sich die meisten buddhistischen Lehren auf umfangreiche philosophisch-logische Überlegungen in Verbindung mit Leitlinien der Lebensführung, wie es auch im chinesischen Daoismus und Konfuzianismus der Fall ist. Zudem ist die Praxis der Meditation und daraus herrührendes Erfahrungswissen ein wichtiges Element im Buddhismus.
Wie andere Religionen umfasst auch der Buddhismus ein weites Spektrum an Erscheinungsformen, die sowohl philosophische Lehre beinhalten als auch Klosterwesen, kirchen- oder vereinsartige Religionsgemeinschaften und einfache Volksfrömmigkeit. Sie werden im Fall des Buddhismus aber durch keine zentrale Autorität oder Lehrinstanz, die Dogmen verkündet, zusammengehalten.
Gemeinsam ist allen Buddhisten, dass sie sich auf die Lehren des Siddhartha Gautama berufen, der in Nordindien lebte, nach den heute in der Forschung vorherrschenden Datierungsansätzen im 6. und möglicherweise noch im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. Er wird als der „historische Buddha“ bezeichnet, um ihn von den mythischen Buddha-Gestalten zu unterscheiden, die nicht historisch bezeugt sind. „Buddha“ bedeutet wörtlich „der Erwachte“ und ist ein Ehrentitel, der sich auf ein Erlebnis bezieht, das als Bodhi („Erwachen“) bezeichnet wird. Gemeint ist damit nach der buddhistischen Lehre eine fundamentale und befreiende Einsicht in die Grundtatsachen allen Lebens, aus der sich die Überwindung des leidhaften Daseins ergibt. Diese Erkenntnis nach dem Vorbild des historischen Buddha durch Befolgung seiner Lehren zu erlangen, ist das Ziel der buddhistischen Praxis – wobei von den beiden Extremen der selbstzerstörerischen Askese und des ungezügelten Hedonismus, aber auch generell von Radikalismus abgeraten wird, vielmehr soll ein Mittlerer Weg eingeschlagen werden. In diesem Zusammenhang stellen die Aussagen des Religionsgründers Buddha in der Überlieferung die zentrale Autorität dar, und es gibt einen historisch gewachsenen Kanon an Texten, mit dem im Rahmen von Buddhistischen Konzilien die Grundlinien der Religion bestimmt worden sind. Gleichwohl handelt es sich nicht um Dogmen im Sinne einer Offenbarungsreligion, deren Autorität sich auf den Glauben an eine göttlich inspirierte heilige Schrift stützt. Dementsprechend wird der Buddha im Buddhismus verehrt, aber nicht in einem engeren Sinne angebetet.
Der Buddhismus hat weltweit je nach Quelle und Zählweise zwischen 230 und 500 Millionen Anhänger – und ist damit die viertgrößte Religion der Erde (nach Christentum, Islam und Hinduismus). Der Buddhismus stammt aus Indien und ist heute am meisten in Süd-, Südost- und Ostasien verbreitet. Etwa die Hälfte aller Buddhisten lebt in China. Er hat seit dem 19. Jahrhundert aber auch begonnen, in der westlichen Welt Fuß zu fassen.
Überblick.
Entwicklung.
Der Buddhismus entstand auf dem indischen Subkontinent durch Siddhartha Gautama. Der Überlieferung zufolge erlangte er im Alter von 35 Jahren durch das Erlebnis des „Erwachens“ eine innere Transformation. Zunächst habe er es nicht für möglich gehalten, über seine Einsichten überhaupt zu sprechen, habe sich aber dann dazu bewegen lassen, sie in eine ausformulierte Lehre zu kleiden, um sie nach Möglichkeit weiterzugeben. Er gewann bald Schüler und gründete die buddhistische Gemeinde. Bis zu seinem Tod im Alter von etwa 80 Jahren wanderte er schließlich lehrend durch Nordindien.
Von der nordindischen Heimat Siddhartha Gautamas verbreitete sich der Buddhismus zunächst auf dem indischen Subkontinent, auf Sri Lanka und in Zentralasien. Insgesamt sechs buddhistische Konzile trugen zur „Kanonisierung“ der Lehren und, gemeinsam mit der weiteren Verbreitung in Ost- und Südostasien, zur Entwicklung verschiedener Traditionen bei. Der nördliche Buddhismus (Mahayana) erreichte über die Seidenstraße Zentral- und Ostasien, wo sich weitere Traditionen, wie etwa Chan (China), Zen (Japan) und Amitabha-Buddhismus (Ostasien), entwickelten. In die Himalaya-Region gelangte der Buddhismus auch direkt aus Nordindien; dort entstand der Vajrayana (Tibet, Bhutan, Nepal, Mongolei u. a.). Aspekte des Buddhismus drangen auch in andere religiöse Traditionen ein oder gaben Impulse zu deren Institutionalisierung (vgl. Bön und Shintō bzw. Shinbutsu-Shūgō). Von Südindien und Sri Lanka gelangte der südliche Buddhismus (Theravada) in die Länder Südostasiens, wo er den Mahayana verdrängte. Der Buddhismus trat in vielfältiger Weise mit den Religionen und Philosophien der Länder, in denen er Verbreitung fand, in Wechselwirkung. Dabei wurde er auch mit religiösen und philosophischen Traditionen kombiniert, deren Lehren sich von denen des ursprünglichen Buddhismus stark unterscheiden.
Lehre.
Die Grundlagen der buddhistischen Praxis und Theorie sind vom Buddha in Form der Vier Edlen Wahrheiten formuliert worden: Die Erste Edle Wahrheit lautet, dass das Leben in der Regel vom Leiden (dukkha) an Geburt, Alter, Krankheit und Tod geprägt ist, sowie von subtileren Formen des Leidens, die vom Menschen oft nicht als solches erkannt werden, wie etwa das Hängen an einem Glück, das jedoch vergänglich ist (in diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass das Wort „dukkha“ sich auch auf Bedeutungen wie „Unbefriedigtsein, Frustration“ erstreckt). Die Zweite Edle Wahrheit lautet, dass dieses Leid in Abhängigkeit von Ursachen entsteht, nämlich im Wesentlichen durch die "Drei Geistesgifte," die in deutscher Übersetzung meist als „Gier“, „Hass“ und „Unwissenheit / Verblendung“ bezeichnet werden. Die Dritte Edle Wahrheit besagt, dass das Leiden, da durch Ursachen bedingt, zukünftig aufgehoben werden kann, wenn nur diese Ursachen aufgelöst werden können, und dass dann vollständige Freiheit von Leiden erlangt werden kann (also auch Freiheit von Geburt und Tod). Die Vierte Edle Wahrheit besagt, dass es Mittel zu dieser Auflösung der Leidensursachen gibt, und damit zur Entstehung von wirklichem Glück: Dies ist die Praxis der Übungen des Edlen Achtfachen Pfades. Sie bestehen in: rechter Erkenntnis, rechter Absicht, rechter Rede, rechtem Handeln, rechtem Lebenserwerb, rechter Übung, rechter Achtsamkeit und rechter Meditation, wobei mit "recht" die Übereinstimmung der Praxis mit den Vier Edlen Wahrheiten, also der Leidvermeidung gemeint ist.
Nach der buddhistischen Lehre sind alle unerleuchteten Wesen einem endlosen leidvollen Kreislauf (Samsara) von Geburt und Wiedergeburt unterworfen, Ziel der buddhistischen Praxis ist, aus diesem Kreislauf des ansonsten immerwährenden Leidenszustandes herauszutreten. Dieses Ziel soll durch die Vermeidung von Leid, also ethisches Verhalten, die Kultivierung der Tugenden (Fünf Silas), die Praxis der „Versenkung“ (Samadhi, vgl. Meditation) und die Entwicklung von Mitgefühl (hier klar unterschieden von Mitleid) für alle Wesen und allumfassender Weisheit (Prajna) als Ergebnisse der Praxis des Edlen Achtfachen Pfades erreicht werden. Auf diesem Weg werden Leid und Unvollkommenheit überwunden und durch Erleuchtung (Erwachen) der Zustand des Nirwana realisiert. Nirwana ist nicht einfach ein Zustand, in dem kein Leid empfunden wird, sondern eine umfassende Transformation des Geistes, in dem auch alle Veranlagungen, Leiden je hervorzubringen, verschwunden sind. Es ist ein transzendenter Zustand, der nicht sprachlich oder vom Alltagsverstand erfasst werden kann, aber im Prinzip von jedem fühlenden Wesen verwirklicht werden könnte.
Indem jemand Zuflucht zum Buddha (dem Zustand), zum Dharma (Lehre und Weg zu diesem Zustand) und zur Sangha (der Gemeinschaft der Praktizierenden) nimmt, bezeugt er seinen Willen zur Anerkennung und Praxis der Vier Edlen Wahrheiten und seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Praktizierenden des Dharma. Die Sangha selbst unterteilt sich in die Praktizierenden der Laien-Gemeinschaft und die ordinierten der Mönchs- bzw. Nonnenorden.
Siddhartha Gautama.
Die Lebensdaten Siddhartha Gautamas gelten traditionell als Ausgangspunkt für die Chronologie der südasiatischen Geschichte, sie sind jedoch umstritten. Die herkömmliche Datierung (563–483 v. Chr.) wird heute kaum noch vertreten. Die neuere Forschung geht davon aus, dass Siddhartha nicht 563 v. Chr. geboren wurde, sondern mehrere Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert später. Die gegenwärtig vorherrschenden Ansätze für die Datierung des Todes schwanken zwischen ca. 420 und ca. 368 v. Chr.
Nach der Überlieferung wurde Siddhartha in Lumbini im nordindischen Fürstentum Kapilavastu, heute ein Teil Nepals, als Sohn des Herrscherhauses von Shakya geboren. Daher trägt er den Beinamen "Shakyamuni", „Weiser aus dem Hause Shakya“.
Im Alter von 29 Jahren wurde ihm bewusst, dass Reichtum und Luxus nicht die Grundlage für Glück sind. Er erkannte, dass Leid wie Altern, Krankheit, Tod und Schmerz untrennbar mit dem Leben verbunden ist, und brach auf, um verschiedene Religionslehren und Philosophien zu erkunden, um die wahre Natur menschlichen Glücks zu finden. Sechs Jahre der Askese, des Studiums und danach der Meditation führten ihn schließlich auf den Weg der Mitte. Unter einer Pappelfeige in Bodhgaya im heutigen Nordindien hatte er das Erlebnis des Erwachens (Bodhi). Wenig später hielt er in Isipatana, dem heutigen Sarnath, seine erste Lehrrede und setzte damit das „Rad der Lehre“ (Dharmachakra) in Bewegung.
Danach verbrachte er als ein Buddha den Rest seines Lebens mit der Unterweisung und Weitergabe der Lehre, des Dharma, an die von ihm begründete Gemeinschaft. Diese Vierfache Gemeinschaft bestand aus den Mönchen (Bhikkhu) und Nonnen (Bhikkhuni) des buddhistischen Mönchtums sowie aus männlichen Laien (Upāsaka) und weiblichen Laien (Upasika). Mit seinem (angeblichen) Todesjahr im Alter von 80 Jahren beginnt die buddhistische Zeitrechnung.
Geschichte und Verbreitung des Buddhismus.
Die ersten drei Konzile.
Drei Monate nach dem Tod des Buddha traten seine Schüler in Rajagarha zum ersten Konzil ("sangiti") zusammen, um den Dhamma (die Lehre) und den Vinaya (die Mönchsregeln) zu besprechen und gemäß den Unterweisungen des Buddha festzuhalten. Die weitere Überlieferung erfolgte mündlich. Etwa 100 Jahre später fand in "Vesali" das zweite Konzil statt. Diskutiert wurden nun vor allem die Regeln der Mönchsgemeinschaft, da es bis dahin bereits zur Bildung verschiedener Gruppierungen mit unterschiedlichen Auslegungen der ursprünglichen Regeln gekommen war.
Während des zweiten Konzils und den folgenden Zusammenkünften kam es zur Bildung von bis zu 18 verschiedenen Schulen (Nikaya-Schulen), die sich auf unterschiedliche Weise auf die ursprünglichen Lehren des Buddha beriefen. Daneben entstand auch die Mahasanghika, die für Anpassungen der Regeln an die veränderten Umstände eintrat und als früher Vorläufer des Mahayana betrachtet werden kann. Die ersten beiden Konzile sind von allen buddhistischen Schulen anerkannt. Die anderen Konzilien werden nur von einem Teil der Schulen akzeptiert. Die Historizität der Konzile stuft der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer allerdings als unwahrscheinlich ein.
Im 3. Jahrhundert v. Chr. trat in Pataliputra (heute Patna), unter der Schirmherrschaft des Königs Ashoka und dem Vorsitz des Mönchs "Moggaliputta Tissa", das 3. Konzil zusammen. Ziel der Versammlung war es, sich wieder auf eine einheitliche buddhistische Lehre zu einigen. Insbesondere Häretiker sollten aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und falsche Lehren widerlegt werden. Im Verlauf des Konzils wurde zu diesem Zweck das Buch "Kathavatthu" verfasst, das die philosophischen und scholastischen Abhandlungen zusammenfasste. Dieser Text wurde zum Kernstück des Abhidhammapitaka, einer philosophischen Textsammlung. Zusammen mit dem Suttapitaka, den niedergeschriebenen Lehrreden des Buddha, und dem Vinayapitaka, der Sammlung der Ordensregeln, bildet es das in Pali verfasste Tipitaka (Sanskrit: Tripitaka, deutsch: „Dreikorb“, auch Pali-Kanon), die älteste große Zusammenfassung buddhistischen Schriftgutes.
Nur diese Schriften wurden vom Konzil als authentische Grundlagen der buddhistischen Lehre anerkannt, was die Spaltung der Mönchsgemeinschaft besiegelte. Während der Theravada, die "Lehre der Älteren," sich auf die unveränderte Übernahme der ursprünglichen Lehren und Regeln einigte, legte die Mahasanghika keinen festgelegten Kanon von Schriften fest und nahm auch Schriften auf, deren Herkunft vom Buddha nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte.
Ausbreitung in Südasien und Ostasien.
In den folgenden Jahrhunderten verbreitete sich die Lehre in Süd- und Ostasien. Während der Regierungszeit des Königs Ashoka (3. Jahrhundert v. Chr.) verbreitete sich der Buddhismus über ganz Indien und weit darüber hinaus. Auch Teile von Afghanistan gehörten zu seinem Reich. Im Grenzgebiet zu Pakistan entstand dort, beeinflusst von griechischen Bildhauern, die mit Alexander dem Großen ins Land gekommen waren, in Gandhara die graeco-buddhistische Kultur, eine Mischung von indischen und hellenistischen Einflüssen. In deren Tradition entstanden unter anderem die Buddha-Statuen von Bamiyan.
Ashoka schickte Gesandte in viele Reiche jener Zeit. So verbreitete sich die Lehre allmählich über die Grenzen jener Region, in welcher der Buddha gelebt und gelehrt hatte, hinaus. Im Westen reisten Ashokas Gesandte bis in den Nahen Osten, Ägypten, zu den griechischen Inseln und nach Makedonien. Über Sri Lanka gelangte die Buddha-Lehre in den folgenden Jahrhunderten zum malayischen Archipel (Indonesien, Borobudur) und nach Südostasien, also Kambodscha (Funan, Angkor), Thailand, Myanmar (Pegu) und Laos. Im Norden und Nordosten wurde der Buddhismus im Hochland des Himalaya (Tibet) sowie in China, Korea und in Japan bekannt.
Zurückdrängung in Indien.
Während der Buddhismus so weitere Verbreitung fand, verschwand er aus den meisten Gegenden Indiens ab dem 12. Jahrhundert. Die Gründe werden zum einen in der gegenseitigen Durchdringung von Buddhismus und Hinduismus gesehen, zum anderen in der moslemischen Invasion Indiens, in deren Verlauf viele Mönche getötet und Klöster zerstört wurden. Auch die heute noch bekannten letzten Hochburgen des Buddhismus auf dem indischen Subkontinent (Sindh, Bengalen) gehörten zu den islamisierten Gebieten. Auf dem malayischen Archipel (Malaysia, Indonesien) sind heute (mit Ausnahme Balis) nur noch Ruinen zu sehen, die zeigen, dass hier einstmals buddhistische Kulturen geblüht hatten.
Weiterentwicklung.
Eine vielfältige Weiterentwicklung der Lehre war durch die Worte des Buddha vorbestimmt: Als Lehre, die ausdrücklich in Zweifel gezogen werden darf, hat der Buddhismus sich teilweise mit anderen Religionen vermischt, die auch Vorstellungen von Gottheiten kennen oder die die Gebote der Enthaltsamkeit weniger streng oder gar nicht handhabten.
Der Theravada („die Lehre der Ältesten“) hält sich an die Lehre des Buddha, wie sie auf dem Konzil von Patna festgelegt wurde. Er ist vor allem in den Ländern Süd- und Südostasiens (Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha) weit verbreitet. Der Mahayana („das große Fahrzeug“) durchmischte sich mehr mit den ursprünglichen Religionen und Philosophien der Kulturen, in denen der Buddhismus einzog. So kamen z. B. in China Elemente des Daoismus hinzu, wodurch schließlich die Ausprägung des Chan-Buddhismus und später in Japan Zen entstand.
Insbesondere der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts hat in vielen Ländern Asiens zu einer Renaissance des Buddhismus geführt. Die Schaffung einer internationalen buddhistischen Flagge 1885 ist dafür ein symbolischer Ausdruck. Besonders den Initiativen von Thailand und Sri Lanka ist die 1950 erfolgte Gründung der World Fellowship of Buddhists (WFB) zu verdanken.
Heutige Verbreitung in Asien.
Heute leben weltweit näherungsweise 450 Millionen Buddhisten. Diese Zahl ist jedoch nicht verbindlich, da es starke Schwankungen zwischen einzelnen Statistiken gibt. Die Länder mit der stärksten Verbreitung des Buddhismus sind China, Bhutan, Japan, Kambodscha, Laos, Mongolei, Myanmar, Sri Lanka, Südkorea, Taiwan, Thailand und Vietnam.
In Indien beträgt der Anteil an der Bevölkerung heute weniger als ein Prozent. Neuerdings erwacht jedoch wieder ein intellektuelles Interesse an der buddhistischen Lehre in der gebildeten Schicht. Auch unter den Dalit („Unberührbaren“) gibt es, initiiert durch Bhimrao Ramji Ambedkar, den „Vater der indischen Verfassung“, seit 1956 eine Bewegung, die in der Konversion zum Buddhismus einen Weg sieht, der Unterdrückung durch das Kastensystem zu entkommen.
Situation in anderen Erdteilen.
Seit dem 19. und insbesondere seit dem 20. Jahrhundert wächst auch in den industrialisierten Staaten Europas, den USA und Australien die Tendenz, sich dem Buddhismus als Weltreligion zuzuwenden. Im Unterschied zu den asiatischen Ländern gibt es im Westen die Situation, dass die zahlreichen und oft sehr unterschiedlichen Ausprägungen der verschiedenen Lehrrichtungen nebeneinander in Erscheinung treten.
Organisationen wie die 1975 gegründete EBU (Europäische Buddhistische Union) haben sich zum Ziel gesetzt, diese Gruppen miteinander zu vernetzen und sie in einen Diskurs mit einzubeziehen, der einen längerfristigen Prozess zur Inkulturation und somit Herausbildung eines europäischen Buddhismus begünstigen soll. Ein weiteres Ziel ist die Integration in die europäische Gesellschaft, damit die buddhistischen Vereinigungen ihr spirituelles, humanitäres, kulturelles und soziales Engagement ohne Hindernisse ausüben können.
In vielen Ländern Europas wurde der Buddhismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts öffentlich und staatlich als Religion anerkannt. In Europa erhielt der Buddhismus zuerst in Österreich die volle staatliche Anerkennung (1983). In Deutschland und der Schweiz ist der Buddhismus staatlich nicht als Religion anerkannt.
Siehe auch:
Die Lehren des Buddhismus.
In seiner ursprünglichen Form, die aus der vorliegenden ältesten Überlieferung nur eingeschränkt rekonstruierbar ist, und durch seine vielfältige Fortentwicklung ähnelt der Buddhismus teils einer in der Praxis angewandten Denktradition oder Philosophie.
Der Buddha selbst sah sich weder als Gott noch als Überbringer der Lehre eines Gottes. Er stellte klar, dass er die Lehre, Dhamma (Pali) bzw. Dharma (Sanskrit), nicht aufgrund göttlicher Offenbarung erhalten, sondern vielmehr durch eigene meditative Schau (Kontemplation) ein Verständnis der Natur des eigenen Geistes und der Natur aller Dinge gewonnen habe. Diese Erkenntnis sei jedem zugänglich, der seiner Lehre und Methodik folge. Dabei sei die von ihm aufgezeigte Lehre nicht dogmatisch zu befolgen. Im Gegenteil warnte er vor blinder Autoritätsgläubigkeit und hob die Selbstverantwortung des Menschen hervor. Er verwies auch auf die Vergeblichkeit von Bemühungen, die Welt mit Hilfe von Begriffen und Sprache zu erfassen, und mahnte gegenüber dem geschriebenen Wort oder feststehenden Lehren eine Skepsis an, die in anderen Religionen in dieser Radikalität kaum anzutreffen ist.
Von den monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) unterscheidet der Buddhismus sich grundlegend. So kennt die buddhistische Lehre weder einen allmächtigen Gott noch eine ewige Seele. Das, und auch die Nichtbeachtung des Kastensystems, unterscheidet ihn auch von Hinduismus und Brahmanismus, mit denen er andererseits die Karma-Lehre teilt. In deren Umfeld entstanden, wird er mitunter als eine Reformbewegung zu den vedischen Glaubenssystemen Indiens betrachtet. Mit dieser antiritualistischen und antitheistischen Haltung ist die ursprüngliche Lehre des Siddhartha Gautama sehr wahrscheinlich die älteste hermeneutische Religion der Welt.
Dharma.
"Dharma" (Sanskrit) bzw. "Dhamma" (Pali) bezeichnet im Buddhismus im Wesentlichen zweierlei:
Kern der Lehre des Buddha sind die von ihm benannten "Vier Edlen Wahrheiten", aus der vierten der Wahrheiten folgt als Weg aus dem Leiden der "Achtfache Pfad".
Im Zentrum der „Vier edlen Wahrheiten“ steht das Leiden (dukkha), seine Ursachen und der Weg, es zum Verlöschen zu bringen. Der Achtfache Pfad ist dreigeteilt, die Hauptgruppen sind: die Einsicht in die Lehre, ihre ethischen Grundlagen und die Schwerpunkte des geistigen Trainings (Meditation/Achtsamkeit).
Das bedingte Entstehen.
Die „bedingte Entstehung“, auch „Entstehen in Abhängigkeit“ bzw. „Konditionalnexus“ (Pali: Paticcasamuppada, Sanskrit: Pratityasamutpada), ist eines der zentralen Konzepte des Buddhismus. Es beschreibt in einer Kette von 12 miteinander verwobenen Elementen die Seinsweise aller Phänomene in ihrer dynamischen Entwicklung und gegenseitigen Bedingtheit. Die Essenz dieser Lehre kann zusammengefasst werden in dem Satz: „Dieses ist, weil jenes ist“.
Ursache und Wirkung: Karma.
"Kamma" (Pali) bzw. "Karma" (Sanskrit) bedeutet „Tat, Wirken“ und bezeichnet das sinnliche Begehren und das Anhaften an die Erscheinungen der Welt (Gier, Hass, Ich-Sucht), die Taten, die dadurch entstehen, und die Wirkungen von Handlungen und Gedanken in moralischer Hinsicht, insbesondere die Rückwirkungen auf den Akteur selbst. Es entspricht in etwa dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Karma bezieht sich auf alles Tun und Handeln sowie alle Ebenen des Denkens und Fühlens. All das erzeugt entweder gutes oder schlechtes Karma oder kann karmisch gesehen neutral sein.
Gutes wie schlechtes Karma erzeugt die Folge der Wiedergeburten, das Samsara. Höchstes Ziel des Buddhismus ist es, diesem Kreislauf zu entkommen, indem kein Karma mehr erzeugt wird – Handlungen hinterlassen dann keine Spuren mehr in der Welt. Im Buddhismus wird dies als Eingang ins Nirwana bezeichnet.
Da dieses Ziel in der Geschichte des Buddhismus oft als unerreichbar in einem Leben galt, ging es, besonders bei den Laien, mehr um das Anhäufen guten Karmas als um das Erreichen des Nirwana in diesem Leben. Gekoppelt daran ist der Glaube, dass das erworbene Verdienst (durch gute Taten, zeitweiligen Beitritt in den Sangha, Spenden an Mönche, Kopieren von Sutras und vieles mehr) auch rituell an andere weitergegeben werden könne, selbst an Verstorbene oder ganze Nationen.
Der Kreislauf des Lebens: Samsara.
Der den wichtigen indischen Religionen gemeinsame Begriff "Samsara", „beständiges Wandern“, bezeichnet den fortlaufenden Kreislauf des Lebens aus Tod und Geburt, Werden und Vergehen. Das Ziel der buddhistischen Praxis ist, diesen Kreislauf zu verlassen. Samsara umfasst alle Ebenen der Existenz, sowohl jene, die wir als Menschen kennen, wie auch alle anderen, von den Höllenwesen (Niraya Wesen) bis zu den Göttern (Devas). Alle Wesen sind im Kreislauf des Lebens gefangen, daran gebunden durch Karma: ihre Taten, Gedanken und Emotionen, durch Wünsche und Begierden. Erst das Erkennen und Überwinden dieser karmischen Kräfte ermöglicht ein Verlassen des Kreislaufs. Im Mahayana entstand darüber hinaus die Theorie der Identität von Samsara und Nirwana (in westlich-philosophischen Begriffen also Immanenz statt Transzendenz).
Nicht-Selbst und Wiedergeburt.
Die Astika-Schulen der indischen Philosophie lehrten das „Selbst“ (p. "attā", skt. "ātman"), vergleichbar mit dem Begriff einer persönlichen Seele. Der Buddha verneinte die Existenz von ātta als persönliche und beständige Einheit. Im Gegensatz dazu sprach er von dem „Nicht-Selbst“ (p. "anattā", skt. "anātman"). Die Vorstellung von einem beständigen Selbst ist Teil der Täuschung über die Beschaffenheit der Welt. Gemäß der Lehre des Buddhas besteht die Persönlichkeit mit all ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen in der Welt aus den Fünf Gruppen, (p. "khandhā", skt. "skandhas"): Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewusstsein. Das Selbst ist aus buddhistischer Sicht keine konstante Einheit, sondern ein von beständigem Werden, Wandeln und Vergehen gekennzeichneter Vorgang.
Vor diesem Hintergrund hat das zur Zeit des Buddha bereits existierende Konzept der "Wiedergeburt", "punabbhava", (p.; "puna" ‚wieder‘, "bhava" ‚werden‘) im Buddhismus eine Neudeutung erfahren, denn die traditionelle vedische Reinkarnationslehre basierte auf der Vorstellung einer Seelenwanderung. Wiedergeburt bedeutet im Buddhismus aber nicht individuelle Fortdauer eines dauerhaften Wesenskernes, auch nicht Weiterwandern eines Bewusstseins nach dem Tode. Vielmehr sind es unpersönliche karmische Impulse, die von einer Existenz ausstrahlend eine spätere Existenzform mitprägen.
Das Erwachen (Bodhi).
"Bodhi" ist der Vorgang des „Erwachens“, oft ungenau mit dem unbuddhistischen Begriff „Erleuchtung“ wiedergegeben. Voraussetzungen sind das vollständige Begreifen der „Vier edlen Wahrheiten“, die Überwindung aller an das Dasein bindenden Bedürfnisse und Täuschungen und somit das Vergehen aller karmischen Kräfte. Durch Bodhi wird der Kreislauf des Lebens und des Leidens (Samsara) verlassen und Nirwana erlangt.
Die buddhistische Tradition kennt drei Arten von "Bodhi":
Verlöschen: Nirwana.
"Nirwana" (Sanskrit) bzw. Nibbana (Pali) bezeichnet die höchste Verwirklichungsstufe des Bewusstseins, in der jede Ich-Anhaftung und alle Vorstellungen/Konzepte erloschen sind. Nirwana kann mit Worten nicht beschrieben, es kann nur erlebt und erfahren werden als Folge intensiver meditativer Übung und anhaltender Achtsamkeitspraxis. Es ist weder ein Ort – also nicht vergleichbar mit Paradies-Vorstellungen anderer Religionen – noch eine Art Himmel und auch keine Seligkeit in einem Jenseits. Nirwana ist auch kein nihilistisches Konzept, kein „Nichts“, wie westliche Interpreten in den Anfängen der Buddhismusrezeption glaubten, sondern beschreibt die vom Bewusstsein erfahrbare Dimension des Letztendlichen. Der Buddha selbst lebte und unterrichtete noch 45 Jahre, nachdem er Nirwana erreicht hatte. Das endgültige Aufgehen oder „Verlöschen“ im Nirwana nach dem Tod wird als Parinirvana bezeichnet.
Meditation und Achtsamkeit.
Weder das rein intellektuelle Erfassen der Buddha-Lehre noch das Befolgen ihrer ethischen Richtlinien allein reicht für eine erfolgreiche Praxis aus. Im Zentrum des Buddha-Dharma stehen daher Meditation und Achtsamkeitspraxis. Von der Atembeobachtung über die Liebende-Güte-Meditation (metta), Mantra-Rezitationen, Gehmeditation, Visualisierungen bis hin zu thematisch ausgerichteten Kontemplationen haben die regionalen buddhistischen Schulen eine Vielzahl von Meditationsformen entwickelt. Ziele der Meditation sind vor allem die Sammlung und Beruhigung des Geistes (samatha), das Trainieren klar-bewusster Wahrnehmung, des „tiefen Sehens“ (vipassana), das Kultivieren von Mitgefühl mit allen Wesen, die Schulung der Achtsamkeit sowie die schrittweise Auflösung der leidvollen Ich-Verhaftung.
Achtsamkeit (auch Bewusstheit, Vergegenwärtigung) ist die Übung, ganz im Hier und Jetzt zu verweilen, alles Gegenwärtige klarbewusst und nicht wertend wahrzunehmen. Diese Hinwendung zum momentanen Augenblick erfordert volle Wachheit, ganze Präsenz und eine nicht nachlassende Aufmerksamkeit für alle im Moment auftauchenden körperlichen und geistigen Phänomene.
Buddhistische Schulen.
Es gibt drei Hauptrichtungen des Buddhismus: Hinayana („Kleines Fahrzeug“), aus dessen Tradition heute nur noch die Form des Theravada („Lehre der Älteren“) existiert, Mahayana („Großes Fahrzeug“) und Vajrayana (im Westen meist als Tibetischer Buddhismus bekannt oder irreführenderweise als „Lamaismus“ bezeichnet). In allen drei Fahrzeugen sind die monastischen Orden Hauptträger der Lehre und für deren Weitergabe an die folgenden Generationen verantwortlich. Üblicherweise gilt auch der Vajrayana als Teil des großen Fahrzeugs. Der Begriff Hinayana wurde und wird von den Anhängern der ihm zugehörigen Schulen abgelehnt, da er dem Mahayana entstammt.
Theravada.
"Theravada" bedeutet wörtlich „Lehre der Ordens-Älteren“ und geht auf diejenigen Mönche zurück, welche die Lehrreden noch direkt vom Buddha gehört haben, z. B. Ananda, Kassapa, Upali. Der Theravada-Buddhismus ist die einzige noch bestehende Schule der verschiedenen Richtungen des Hinayana. Seine Tradition bezieht sich in ihrer Praxis und Lehre ausschließlich auf die ältesten erhaltenen Schriften der buddhistischen Überlieferung, die im "Tipitaka" (Pali) (auch Tripitaka (Sanskrit) oder Pali-Kanon), zusammengefasst sind. Dieser „Dreikorb“ (Pitaka: Korb) besteht aus folgenden Teilen:
Die Betonung liegt im Theravada auf dem Befreiungsweg des einzelnen aus eigener Kraft nach dem Arhat-Ideal und der Aufrechterhaltung und Förderung des Sangha. Theravada ist vor allem in den Ländern Süd- und Südostasiens (Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha) verbreitet.
Hinayana.
Der "Hinayana-Buddhismus" (Sanskrit, n., हीनयान, hīnayāna, „kleines Fahrzeug“) bezeichnet einen der beiden großen Hauptströme des Buddhismus. Hinayana ist älter als die andere Hauptrichtung, der Mahayana. Im Hinayana strebt ein Mensch nach dem Erwachen, um selbst nicht mehr leiden zu müssen. Hinayana bezieht sich also nur auf eine Person, die danach strebt, vollkommen zu sein. In diesem Aspekt unterscheidet er sich vom Mahayana, in dem versucht wird, auch andere Lebewesen zum Erwachen zu führen.
Mahayana.
Der "Mahayana-Buddhismus" („großes Fahrzeug“) geht im Kern auf die Mahasanghika („große Gemeinde“) zurück, eine Tradition, die sich in der Folge des zweiten buddhistischen Konzils (etwa 100 Jahre nach dem Tod des Buddha) entwickelt hatte. Der Mahayana verwendet neben dem Tripitaka auch eine Reihe ursprünglich in Sanskrit abgefasster Schriften („Sutras“), die zusammen den Sanskrit-Kanon bilden. Zu den bedeutendsten Texten gehören das Diamant-Sutra, das Herz-Sutra, das Lotos-Sutra und die Sutras vom reinen Land. Ein Teil dieser Schriften ist heute nur noch in chinesischen oder tibetischen Übersetzungen erhalten.
Im Unterschied zur Theravada-Tradition, in der das Erreichen von Bodhi durch eigenes Bemühen im Vordergrund steht, nimmt im Mahayana das Bodhisattva-Ideal eine zentrale Rolle ein. Bodhisattvas sind Wesen, die als Menschen bereits Bodhi erfuhren, jedoch auf das Eingehen in das Parinirvana verzichteten, um stattdessen allen anderen Menschen, letztlich allen Wesen, zu helfen, ebenfalls dieses Ziel zu erreichen.
Bedeutende Schulen des Mahayana sind beispielsweise die des Zen-Buddhismus, des Nichiren-Buddhismus und des Amitabha-Buddhismus.
Vajrayana.
"Vajrayana" („Diamantfahrzeug“) ist eigentlich ein Teil des Mahayana. Im Westen ist er meist fälschlicherweise nur als Tibetischer Buddhismus oder als Lamaismus bekannt, tatsächlich ist er jedoch eine Sammelbezeichnung für verschiedene Schulen, die außer in Tibet auch in Japan, China und der Mongolei (geschichtlich auch in Indien und Südostasien) verbreitet sind.
Er beruht auf den philosophischen Grundlagen des Mahayana, ergänzt diese aber um tantrische Techniken, die den Pfad zum Erwachen deutlich beschleunigen sollen. Zu diesen Techniken gehören neben der Meditation unter anderem Visualisierung (geistige Projektion), das Rezitieren von Mantras und weitere tantrische Übungen, zu denen Rituale, Einweihungen und Guruyoga (Einswerden mit dem Geist des Lehrers) gehören.
Diese Seite des Mahayana legt besonderen Wert auf geheime Rituale, Schriften und Praktiken, welche die Praktizierenden nur schrittweise erlernen. Daher wird Vajrayana innerhalb des Mahayana auch „esoterische Lehre“ genannt, in Abgrenzung von „exoterischen Lehren“, also öffentlich zugänglichen Praktiken wie dem Nenbutsu des Amitabha-Buddhismus.
Der tibetische Buddhismus legt besonderen Wert auf direkte Übertragung von Unterweisungen von Lehrer zu Schüler. Eine wichtige Autorität des tibetischen Buddhismus ist der Dalai Lama.
Die vier Hauptschulen des Tibetischen Buddhismus sind:
Der Tibetische Buddhismus ist heute in Tibet, Bhutan, Nepal, Indien (Ladakh, Sikkim), der Mongolei und Teilen Russlands (Burjatien, Kalmückien, Tuwa, Republik Altai) verbreitet.
Etwa im 9. Jahrhundert verbreitete sich der Vajrayana auch in China. Als eigene Schule hielt er sich nicht, hatte aber Einfluss auf andere Lehrtraditionen dort. Erst in der Qing-Zeit wurde der Vajrayana der Mandschu unter Förderung der tibetischen Richtungen wieder eine staatliche Religion.
Er wurde noch im gleichen Jahrhundert seiner Einführung in China nach Japan übertragen. Dort wird Vajrayana in der Shingon-Schule gelehrt. Mikkyō (jap. Übersetzung von Mizong) hatte aber Einfluss auf Tendai und alle späteren Hauptrichtungen des japanischen Buddhismus.
Buddhistische Feste und Feiertage.
Buddhistische Zeremonien, Feste und Feiertage werden auf unterschiedliche Art und Weise zelebriert. Einige werden in Form einer Puja gefeiert, was im Christentum etwa einer Andacht – ergänzt durch eine Verdienstübertragung – entsprechen würde. Andere Feste sind um zentrale Straßenprozessionen herum organisiert. Diese können dann auch Volksfest-Charakter mit allen dazugehörigen Elementen wie Verkaufsständen und Feuerwerk annehmen. In Japan zum Beispiel werden sie dann Matsuris genannt. Die Termine für die Feste richteten sich ursprünglich hauptsächlich nach dem Lunisolarkalender. Heute sind dagegen einige auf ein festes Datum im Sonnenkalender festgelegt. |
582 | 1029574 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=582 | Bonaventura Cavalieri | Bonaventura Francesco Cavalieri (* 1598 wahrscheinlich in Mailand; † 3. Dezember oder 30. November 1647 in Bologna; mit Gelehrtennamen "Cavalerius") war ein italienischer Jesuat, Mathematiker und Astronom.
Leben.
Bonaventura Cavalieri arbeitete auf dem Gebiet der Geometrie und lehrte an der Universität Bologna. Gleichzeitig war er Prior eines Jesuitenklosters. Die von ihm ausgeführten Berechnungen von Oberflächen und Volumina, die durch Johannes Keplers Fassrechnung angeregt wurden, nahmen Methoden der Infinitesimalrechnung vorweg und waren für ihre Entwicklung bedeutend.
Bekannt wurde Cavalieri hauptsächlich durch das "Prinzip der Indivisibilien". Dieses Prinzip war in einer Vorform bereits 1604 und 1615 von Johannes Kepler verwendet worden. In der frühen Version von 1635 wird angenommen, dass eine Linie aus einer unendlichen Zahl von Punkten ohne Größe besteht, eine Oberfläche aus einer unendlichen Zahl von Linien ohne Breite und ein Körper aus einer unendlichen Zahl von Oberflächen ohne Höhe. Als Reaktion auf Einwände formulierte er das Prinzip neu und veröffentlichte es so 1647 mit einer Verteidigung der Theorie. 1653 wurden seine Werke mit späteren Korrekturen neu herausgegeben.
Das Cavalierische Prinzip besagt, dass zwei Körper das gleiche Volumen haben, wenn alle ebenen Schnitte den gleichen Flächeninhalt besitzen, die parallel zu einer vorgegebenen Grundebene und in übereinstimmenden Abständen ausgeführt werden.
Stefano degli Angeli (1623–1697) war sein Schüler. Er wünschte sich Michelangelo Ricci und Evangelista Torricelli als Herausgeber seiner nachgelassenen Schriften. Torricelli starb aber kurz vor ihm und Ricci fand keine Zeit. Sie wurden erst 1919 veröffentlicht. |
583 | 653555 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=583 | Bibel | Als Bibel ( ‚Bücher‘) oder (Die) Heilige Schrift bezeichnet man die wichtigste religiöse Textsammlung im Judentum wie auch im Christentum. Sie gilt Gläubigen als "göttlich inspiriert", mindestens aber als orientierender Maßstab und wird darum im religiösen wie im kulturellen Leben immer wieder angeeignet. Die jüdische und die christliche Bibel haben sich im Lauf ihrer Entwicklung gegenseitig beeinflusst; sie sind parallel zueinander, teilweise in Abgrenzung voneinander entstanden.
Die Bibel des Judentums ist der dreiteilige Tanach, der aus der Tora (Weisung), den Nevi’im (Propheten) und Ketuvim (Schriften) besteht. Während die Tora nach ihrem Selbstzeugnis von Gott dem Mose am Sinai gegeben wurde und einige ihrer Texte von Mose auch selbst niedergeschrieben wurden, stellt sich das aus historischer Sicht anders dar. Denn erst seit dem 9. oder 8. Jahrhundert v. Chr. entwickelte sich in Israel eine Schriftkultur aus einer vorausgehenden Kultur der mündlichen Überlieferung, und erst in hellenistischer und römischer Zeit hatten größere Teile der Bevölkerung die Möglichkeit, biblische Texte auch privat zu lesen und sich dadurch anzueignen. Ein Teil der frühjüdischen Literatur wurde in den jüdischen Bibelkanon aufgenommen, andere Schriften jedoch nicht.
Während dieser Prozess noch im Gange war, entstand das Christentum und bezog sich von Anfang an auf die heiligen Schriften Israels. Jesus von Nazaret deutete sein Wirken im Licht dieser Texte, und die erste christliche Gemeinde sah diese Schriften durch die Auferstehung Jesu Christi als erfüllt an. Das Christentum eignete sich so die heiligen Schriften Israels und weitere frühjüdische Literatur (als Altes Testament) an, schuf aber auch eigene Texte, von denen einige verbindliche Bedeutung erlangten und schließlich als Neues Testament dem Alten Testament angefügt wurden.
Die christliche Bibel ist das am häufigsten gedruckte und publizierte und in die meisten Sprachen übersetzte schriftliche Werk der Welt.
Buchtitel.
Bibel.
Das Wort „Bibel“ (mittelhochdeutsch "bibel", älter "biblie") entstand aus kirchenlateinisch "biblia," einem Lehnwort aus dem Koine-Griechischen.
Das Neutrum „Buch“ ist eine Verkleinerungsform von „Buch“, benannt nach der phönizischen Hafenstadt Byblos. Diese Hafenstadt war in der Antike ein Hauptumschlagplatz für Bast, aus dem die Papyrusrollen hergestellt wurden. Der Plural von lautet „Schriftrollen, Bücher“. In der Septuaginta war vor allem eine ehrfürchtige Bezeichnung für die Tora; Johannes Chrysostomos bezeichnete als erster mit diesem Plural die Gesamtheit der christlichen heiligen Schriften (Altes und Neues Testament).
Im Kirchenlatein wurde die Bezeichnung "biblia" zunächst als Neutrum Plural "biblia, -orum", seit etwa 1000 n. Chr. aber als Femininum Singular "biblia, -ae" aufgefasst. Die nationalen Sprachen übernahmen das Wort im Singular; im Deutschen wurde es zu "Bibel". „Der Name deutet an: Was uns heute als ein einziger Band in Händen liegt und was wir mit Selbstverständlichkeit als eine Einheit verstehen: "die" Bibel, ist tatsächlich eine Vielheit.“ Die Bezeichnung als „Buch der Bücher“ bringt einerseits die religiöse Bedeutung der Bibel zum Ausdruck, andererseits die innere Pluralität.
Auch nachdem der Kodex als Buchform die Schriftrolle ablöste, wurden nur selten alle biblischen Schriften in einem Buch vereint; die Regel war, dass die Bibel als Sammlung mehrteiliger Bücher in einem Bücherschrank, etwa im Skriptorium eines Klosters, existierte, wie es die Illustration des Codex Amiatinus (frühes 8. Jahrhundert, Northumbrien) zeigt. Dass ein einziges Buch annähernd die gesamte jüdische oder christliche Bibel enthielt, wurde erst mit der Erfindung des Buchdrucks allgemein üblich.
Heilige Schrift.
Das Neue Testament bezieht sich auf die heiligen Schriften des Judentums häufig mit dem Ausdruck „die [heiligen] Schriften“ und folgt damit jüdisch-hellenistischem Sprachgebrauch. Einmal verwendet Paulus von Tarsus auch die Form „heilige Schriften“ . Der Singular „die Schrift“ bezeichnet im Neuen Testament häufig einen einzelnen Satz (modern gesprochen: eine Bibelstelle), aber auch die jüdischen heiligen Schriften als eine Einheit – auch das hat Parallelen im Judentum, zum Beispiel bei Philon von Alexandria und in den Chronikbüchern. In der Alten Kirche setzt sich dieser Sprachgebrauch fort; als „heilige Schrift(en)“ wird dann auch die Gesamtheit von Büchern des Alten und des Neuen Testaments bezeichnet.
Altes und Neues Testament.
Dass die beiden Teile der christlichen Bibel als Altes und Neues Testament bezeichnet werden, geht auf Paulus von Tarsus zurück, der einen alten und einen neuen „Bund“ gegenüberstellte. Der alte Bund wird durch die Tora des Mose repräsentiert . Paulus sah sich selbst als Diener des neuen Bundes, der durch Christus vermittelt sei und bei der Abendmahlsfeier vergegenwärtigt werde . Im Brief an die Hebräer entfaltet ein anonymer christlicher Autor, inwiefern der neue Bund den alten ersetze. Stets ist mit „Bund“ (, lateinisch: "testamentum") eine Ordnung und nicht etwa ein Buch oder eine Schriftensammlung gemeint.
Melito von Sardes prägte um 180 n. Chr. für den ersten Teil der christlichen Bibel den Begriff „Bücher des alten Bundes“ und legte zugleich auch eine Liste der damit gemeinten Schriften vor. Er berichtete darüber in einem Brief an seinen Bruder Onesimos, der im Exzerpt durch Eusebius von Caesarea erhalten blieb:
Auffällig ist, dass Melito das Buch Ester nicht nennt, und auch nicht die deuterokanonischen Schriften, also jüdische Schriften, die sich in der Septuaginta, nicht aber im Tanach finden: Buch Judit, Buch Tobit, 1. Buch der Makkabäer, 2. Buch der Makkabäer, Baruch, Buch der Weisheit und Jesus Sirach. Die Anerkennung dieser Bücher als Heilige Schriften verlief im Christentum recht zögerlich: im lateinischen Westen um 400, im Osten erst im 7. Jahrhundert. Das war umstritten – Hieronymus plädierte dagegen – und die Motive sind nicht ganz klar. Eine Rolle könnte gespielt haben, dass Tobit, Jesus Sirach und das Buch der Weisheit als religiöse Erbauungsliteratur beliebt waren und sich auch für den Unterricht von Neuchristen einsetzen ließen.
„Melitos Formulierung … ist … so aufzufassen, dass der ‚alte Bund‘ Gottes mit Israel durch die genannten Schriften repräsentiert wird, aber nicht, dass diese Schriften selbst ‚Bund‘ bzw. ‚Testament‘ heißen.“ Ein solcher Sprachgebrauch wurde erst um 200 n. Chr. üblich und ist dann bei Clemens von Alexandria und Origenes anzutreffen.
Ende des 20. Jahrhunderts schlugen christliche Theologen vor, den Begriff „Altes Testament“ aufzugeben, da er abwertend klinge, und stattdessen vom „Ersten Testament“ zu sprechen (Erich Zenger, J. A. Sanders). Diese Begriffsprägung konnte sich nicht allgemein durchsetzen, zumal die Antike Altes grundsätzlich höher als Neues einschätzte. Üblich geworden sind aber die Bezeichnungen Hebräische bzw. Jüdische Bibel bzw. deren jüdische Bezeichnung Tanach.
Zitierweise.
Die Bibel wird nicht nach Seitenzahlen, sondern nach Buch, Kapitel und Vers zitiert. Das hat den Vorteil, dass verschiedene Bibelübersetzungen verglichen werden können. Außerdem kann der Leser mit dieser Methode seine Übersetzung und den hebräischen oder griechischen Bibeltext vergleichen.
Besonderheiten:
Die Kopisten der Hebräischen Bibel entwickelten zum Zweck der Textsicherung ein System von Sinnabschnitten und Versen: Jeder Sinnabschnitt begann mit einer neuen Zeile. Wenn eine weitere Untergliederung notwendig war, so ließ man einen Leerraum innerhalb der Zeile. Diese Unterteilung wird seit dem späten Mittelalter auch durch die hebräischen Buchstaben פ und ס im Text markiert. Parallel dazu entstand eine Unterteilung des Textes in Verse (markiert durch Sof pasuq). Die Verszählung selbst stammt aus der Vulgata-Tradition. Nachdem die heute übliche Kapiteleinteilung im 13. Jahrhundert von Stephan Langton vorgenommen wurde, nummerierte der Pariser Buchdrucker Robert Estienne im 16. Jahrhundert in seinen Bibelausgaben Kapitel und Verse.
Die jüdische Bibel: Tanach.
Entstehung des masoretischen Textes.
Der "Tanach" oder "Tenach" (), ein Akronym aus den drei Anfangsbuchstaben seiner Teile, wurde überwiegend auf Hebräisch, kurze Passagen auch auf Aramäisch verfasst. Dieser sogenannte Masoretische Text (besser: Masoretische Textgruppe) hat einen langen Normierungsprozess durchlaufen, der im 8./9. Jahrhundert n. Chr. abgeschlossen war.
Bedeutung der Schriftrollen vom Toten Meer.
Die Textfunde vom Toten Meer ermöglichen „mit ihren Korrekturen erster und zweiter Hand, ihrem Layout, aber auch ihrer Intertextualität faszinierende direkte Einblicke in die Text- und Literaturgeschichte antiker Texte“ und bereichern damit auch die Kenntnis des antiken Judentums. Wenn man den Masoretischen Text, den samaritanischen Pentateuch und die Septuaginta als die drei mittelalterlichen Standardtexte ansieht, zeigt sich, dass in den Höhlen nahe Qumran hebräische Vorläufer für jeden dieser Texttypen deponiert wurden. Aber der größte Teil der Textfunde steht keinem dieser drei Texttypen nahe („unabhängige Texte“). Ganz anders die Textfunde aus Nachal Chever und Wadi Murabbaʿat, die aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. stammen und weitgehend mit dem masoretischen Text identisch sind. Daniel Stökl Ben Ezra erläutert, dass man durch die Auswertung der Qumran-Textfunde immer mehr dazu übergehe, den Masoretischen Text als eine von mehreren antiken Textformen anzusehen. „Man muss die Qumranhandschriften und die Vorformen von LXX [= Septuaginta] und SP [= Samaritanischem Pentateuch] überall gleichwertig mit dem MT [= Masoretischen Text] diskutieren. An vielen Stellen ist der MT eindeutig sekundär. Eine Suche nach "dem" Urtext ist methodisch unmöglich.“ Wie in einem breiten Flussbett mehrere Wasserströme mal nebeneinanderher verlaufen, mal ihr Wasser mischen und sich dann wieder ein Stück Weges voneinander trennen – so stellt sich die Textgeschichte der Hebräischen Bibel nach Qumran dar.
Kanonisierung.
Der griechische Begriff „Kanon“ bedeutet „Richtschnur“ oder „Richtmaß“. Innerhalb der christlichen Theologie trat seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. eine Bedeutungsentwicklung von Glaubensregeln hin zu abgegrenzten religiösen Büchersammlungen ein. Für das Judentum vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ist eine solche Begrifflichkeit anachronistisch, denn damals stand der Opferkult im Mittelpunkt des religiösen Lebens. In der Diaspora boten Synagogengottesdienste einen gewissen Ersatz für nur selten mögliche Tempelbesuche; diese Gottesdienste bestanden aus Gebeten sowie der Lesung aus der Tora und den Prophetenbüchern. Flavius Josephus erläuterte, dass es im Judentum 22 Bücher Heiliger Schriften gebe entsprechend der Anzahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets:
Das 4. Buch Esra zählt 24 Bücher, nach der doppelten Zahl der Zwölf Stämme Israels bzw. der Monate. Das waren Heilige Schriften, die als göttlich inspiriert und besonders autoritativ galten. Doch ist es sinnvoll, zwischen dem Status eines Buchs als Heiliger Schrift und seiner tatsächlichen Bedeutung für das Leben einer Glaubensgemeinschaft zu unterscheiden, also zwischen einem Kern sehr bedeutsamer Schriften und einer Grauzone um sie herum. Die Schriftrollen vom Toten Meer ermöglichen einen Einblick in ein (möglicherweise nicht repräsentatives) Segment des antiken Judentums:
Einteilung.
Die Einteilung der Hebräischen Bibel in drei Schriftengruppen Tora, Neviim und Ketuvim (Akronym: TaNaCh) entspricht der Reihenfolge ihrer Kanonwerdung und impliziert auch eine Gewichtung. Doch blieb zunächst noch einiges im Fluss, so gab es auch die Abfolge Tora, Ketuvim, Neviim (Akronym: TaKeN), und die Psalmen konnten gelegentlich als letztes der Prophetenbücher gezählt werden. Die drei Hauptteile haben je einen programmatischen Schlusstext (Kolophon):
Tora.
Die Tora („Weisung“ oder „Lehre“) bildet den ersten Teil des Tanach. Aus der hebräischen Torarolle, ohne Teamim oder Nikud, wird abschnittweise in der Synagoge vorgelesen. Der Vorlesungszyklus beginnt und endet im Herbst mit dem Torafreudenfest. Die 54 Wochenabschnitte werden Paraschot bzw. Paraschijot "פרשיות" (hebr. „Einteilung“) oder Sidrot "סדרות" (aramäisch „Ordnung“) genannt.
In der hebräischen Sprache werden die fünf Bücher der Tora anhand ihrer ersten bedeutenden Worte benannt:
Diese Einteilung erfolgte nach bestimmten inhaltlichen Gesichtspunkten: Jeder Bericht in den Büchern hat einen klaren Anfang und eine deutliche Zäsur am Ende, ist aber trotzdem mit den anderen verbunden. Die fünf Bücher werden in Buchform auch "Chumasch" oder "Pentateuch" (griechisch „fünf Buchrollen“) genannt.
Die Tora umfasst die Geschichte der Schöpfung und der Israeliten seit den Erzvätern (ab Gen 12), Israels Auszug aus Ägypten (Ex 1-15), dem Empfang der Gebote durch Mose (Ex 19 ff.) und dem Zug ins verheißene Land (Lev-Num). Der Begriff „Tora“ bezieht sich nicht nur auf die Mitzwot (Gebote Gottes), den ethischen Monotheismus und die jüdische Kultur, sondern auf die gesamte Ordnung der Schöpfung. Sie nimmt Bezug auf älteste erzählerische Stoffe und Traditionen, die vermutlich im Verlauf von Wanderungsbewegungen semitischer Völker im Allgemeinen und der Hebräer im Besonderen aus Mesopotamien über Kanaan nach und aus Ägypten entstanden. Die Hebräer wurden spätestens 1200 v. Chr. im Kulturland Kanaan sesshaft. Diese Stoffe und Traditionen wurden über Jahrhunderte zunächst mündlich tradiert. Ihre Verschriftung und Zusammenstellung ist für frühestens um 1000 v. Chr. herum belegbar, nachdem die Zwölf Stämme Israels ein Staatswesen mit Saul als erstem König Israels wählten. Die Tora wurde nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil (539 v. Chr.) bis spätestens 400 v. Chr. kanonisiert.
Neviim.
Zu den Neviim („Propheten“) zählen:
Diese Bücher erzählen in chronologischer und religiöser Ordnung die Geschichte Israels vom Tod Moses, der Landverteilung an die zwölf Stämme Israels bis zur Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels (586 v. Chr.). Die Neviim beginnen mit der Unterordnung Josuas, des Sohnes Nuns, unter die Autorität Moses und schließt mit Maleachi als letztem Propheten mit der Rückbindung an die Tora.
Die drei Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel sind analog zu den drei Erzvätern jeweils einem Buch zugeteilt; die übrigen Propheten bilden als Analogie zu den zwölf Söhnen Jakobs das Zwölfprophetenbuch. Die Prophetenbücher wurden frühestens im 4. Jahrhundert v. Chr. kanonisiert. Am Schabbat und an den Feiertagen wird nach der Toravorlesung in der Synagoge jeweils in der Haftara ein Abschnitt aus den "Neviim" vorgelesen.
Ketuvim.
Zu den Ketuvim („Schriften“) gehören:
In diesen Werken ist eher wörtliche Rede von Menschen als von Gott überliefert. Sie sind vermutlich alle nach dem Exil und später als die vorherigen Propheten entstanden, überwiegend anzunehmen ab 200 v. Chr. Einige könnten vor oder parallel zu den zwölf kleinen Propheten entstanden sein. Dennoch ist ihre Bedeutung diesen nachgeordnet. Das zweite Chronikbuch endet mit dem Ausblick auf den Neubau des 3. Jerusalemer Tempels und die Anerkennung JHWHs als Herrn der ganzen Erde. Ihre Kanonisierung geschah vermutlich spät. Für das Buch Daniel wird von einigen Exegeten eine Kanonisierung erst für 135 n. Chr., zusammen mit dem Abschluss des Tanach, angenommen.
Fünf dieser Bücher werden als „Festrollen“ ("Megillot") im Synagogengottesdienst verlesen und sind bestimmten Feiertagen zugeordnet:
Übersetzungen.
Von jüdischen Übersetzern wurde die hebräische Bibel in verschiedene Sprachen übersetzt. Die älteste dieser Übersetzungen ist die Septuaginta (lateinisch für "siebzig", = Die Übersetzung der Siebzig, Abkürzung "LXX"). Ab etwa 250 v. Chr. begannen hellenistische Juden zunächst mit der Übersetzung der Tora in die griechische Koine. Diese in den folgenden Jahrhunderten um weitere Bücher ergänzte und überarbeitete Übersetzung war Grundlage sowohl für jüdischen Philosophen wie Philon von Alexandria als auch für die Autoren des Neuen Testaments.
Die bekannteste Übersetzung des Tanach in deutscher Sprache ist jene von Martin Buber und Franz Rosenzweig in vier Bänden: "Die Schrift" (ab 1925). Rund hundert Jahre früher machte sich das Team von Leopold Zunz daran, den Tanach ins Deutsche zu übersetzen, die sogenannte Rabbinerbibel. Im 20. Jahrhundert sind weitere deutsche Ausgaben entstanden, zum Beispiel jene von Naftali Herz Tur-Sinai.
Die christliche Bibel: Altes und Neues Testament.
Altes Testament.
Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. erarbeiteten Diasporajuden in Alexandria eine Übersetzung der Tora in die griechische Verkehrssprache, die Koine. Das war notwendig, denn wie epigraphische Quellen zeigen, sprachen die Juden im Ptolemäerreich selbst Griechisch. Außerdem konnte man so die eigene Religion in den intellektuellen Zentren, der Akademie und der Bibliothek Alexandrias, ganz anders vertreten. Die Übersetzung anderer Bücher des Tanach folgte später im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. und zog sich bei den zuletzt bearbeiteten Büchern Hoheslied, Kohelet und Esra/Nehemia noch bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. hin. Diese Septuaginta genannte Übersetzung lag auch dem Urchristentum großenteils schon vor. Während der Umfang des griechischen Kanons nicht bekannt ist, nimmt man an, dass die Dreiteilung des jüdischen Kanons von Christen bewusst aufgegeben wurde. Diese schufen offenbar für ihre Septuaginta-Codices eine Gliederung in vier Hauptteile: Pentateuch – Geschichtsbücher – Hagiographen – Propheten. Indem sie die Propheten ans Ende rückten, stellten sie eine inhaltliche Verbindung zu den Schriften des Neuen Testaments her. Dazu wurde der dritte jüdische Kanonteil (Ketuvim) aufgelöst. Fünf Bücher aus dieser Gruppe bildeten als Hagiographen einen eigenen Block, die übrigen wurden neu verteilt:
Die unterschiedlichen Gliederungen von Tanach und Altem Testament der Septuaginta könnte man als „Tora-Perspektive“ und „Propheten-Perspektive“ charakterisieren. Die Makrostruktur der Septuaginta findet sich, bei allen Unterschieden im Detail, auch in der Vulgata, in der Lutherbibel und den meisten modernen christlichen Bibelübersetzungen (Ausnahme: Bibel in gerechter Sprache). Darin wird ein geschichtstheologisches Schema Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft erkennbar: „So öffnet sich in der christlichen Bibel die Prophetie auf das sich anschließende Neue Testament hin.“ Erich Zenger und Christian Frevel schlagen in Abwandlung davon eine vierteilige Struktur vor, die sich im Alten und im Neuen Testament wiederhole:
Paulus als Leser der Septuaginta.
Paulus von Tarsus entwickelte sein Selbstverständnis, sein Israelverständnis und seine Christusbotschaft durch das Studium des Buchs Jesaja in der griechischen Fassung der Septuaginta. Dabei war er anscheinend frei, den Wortlaut des Textes zu variieren, um sein Textverständnis deutlich zu machen. Eine Schlüsselstelle ist . Interessant ist hier die Reihenfolge: Zuerst zitiert Paulus „Moses“ ( nach der Septuaginta) und dann „Jesaja“ , die beide als redende Personen vorgestellt werden. Jesaja entfaltet den Inhalt der Moseworte.
Das Neue Testament setzt den ganzen Tanach als Basis des jüdischen Gottesdienstes voraus, etwa bei Jesu Antrittspredigt in Nazareth, die nach mit einer Lesung der „Schrift“ begann. Vom „Gesetz“ ist oft im Zusammenhang mit Tora-Auslegungen Jesu die Rede, etwa zu Beginn der Bergpredigt. bekräftigt die kanonische Geltung der Tora bis zur Parusie:
Häufig stehen „Gesetz und Propheten“ als Kürzel für die Gesamtheit der biblischen Überlieferung vom Bundeswillen Gottes. Auch eine dreigliedrige Form des Tanach wird im Mund des Auferstandenen für die Christen verbindlich gemacht :
Die sogenannten deuterokanonischen Schriften wurden in die Vulgata, die lateinische Übersetzung der Septuaginta, aufgenommen. Daher enthält das römisch-katholische AT 46 Bücher. Der orthodoxe Bibelkanon umfasst zudem das Gebet des Manasse, ein sogenanntes 1. Buch Esra, so dass das hebräische Esra-Buch als 2. Buch Esra gilt, das 3. Buch der Makkabäer, Psalm 151, das 4. Buch der Makkabäer und in den slawischen Kirchen eine Esra-Apokalypse (auch bekannt als 4. Esra).
Die evangelischen Kirchen dagegen erkennen im Anschluss an die Lutherbibel nur den Tanach als kanonisch an, teilen ihn aber in 39 Bücher ein (mit dem NT also 66) und ordnen sie anders an. In dieser Form blieb der jüdische Kanon im Protestantismus gültig. Martin Luther stellte weitere von ihm übersetzte Schriften der Septuaginta als „Apokryphen“ ans Ende des AT und bewertete sie als „der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen“. In überkonfessionellen oder ökumenischen Bibelübersetzungen stehen diese Bücher optisch abgesetzt am Ende des AT.
Neues Testament.
Das Christentum scheint, soweit erkennbar, von Anfang an den Kodex gegenüber der Schriftrolle bevorzugt zu haben. Die Gründe dafür sind nicht bekannt; möglicherweise boten sich die mit 15 bis 25 cm Höhe relativ kleinformatigen Kodizes aus praktischen Gründen an oder waren preisgünstiger. Reste von Papyruskodizes mit griechischen alt- und neutestamentlichen Texten stammen aus dem 2. und 3. Jahrhundert: Das älteste bekannte Fragment des NT überhaupt ist der Papyrus aus einem Kodex mit einem Text aus dem Evangelium nach Johannes, entstanden etwa um 125. Die ältesten bekannten Codices, die das ganze AT und ganze NT enthalten, sind der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus Graecus 1209 aus dem vierten und der Codex Alexandrinus aus dem fünften Jahrhundert. Solche großen und aufwändig gestalteten Kodizes sind zeittypisch und wurden damals auch für die Texte von Homer oder Vergil geschaffen.
Das NT umfasste zur Zeit seiner endgültigen Begrenzung (um 400) 27 griechische Einzelschriften. Alle zusammen erreichen insgesamt nur ein starkes Viertel des Umfangs des AT. Diese 27 Bücher entstanden wohl überwiegend zwischen 70 und 100 n. Chr. im Urchristentum. Sie sind fast durchgängig in der damaligen Umgangssprache, der griechischen Koine, verfasst. Zudem enthalten sie einige aramäische Begriffe und Zitate. Aramäisch war die damalige Umgangssprache in Palaestina und die Muttersprache Jesu.
Das NT besteht aus fünf erzählenden Schriften, nämlich den vier Evangelien
sowie der
und aus Briefen an christliche Gemeinden und Einzelpersonen:
sowie der Offenbarung des Johannes, einer Apokalypse.
Die Evangelien verkünden Jesus von Nazaret nacherzählend als den im AT verheißenen Messias und bezeichnen ihn daher wie auch alle übrigen NT-Schriften als Jesus Christus (Christos bedeutet „der Gesalbte“). Die Apostelgeschichte erzählt von der Ausbreitung des Christentums von der Gründung der Jerusalemer Urgemeinde an bis nach Rom. Dabei bezieht sie sich ständig auf biblische Überlieferung. Die Briefe geben Antworten auf Glaubensfragen und praktischen Rat für viele Lebenslagen, etwa Konflikte innerhalb der verschiedenen Gemeinden.
Bei der Kanonisierung des NT bestätigte die Alte Kirche auch die Bücher des Tanach als „Wort Gottes“. Fast alle christlichen Konfessionen erkennen die 27 NT-Schriften als kanonisch an. Die syrisch-orthodoxen Kirchen erkennen einige davon nicht an. Die Johannesoffenbarung wird auch in den anderen orthodoxen Kirchen nicht öffentlich verlesen.
Verhältnis des NT zum AT.
Das Christentum nannte die viel ältere jüdische Sammlung heiliger Schriften „Altes“ Testament im Verhältnis zu seinem „Neuen“ Testament. Der lateinische Begriff "testamentum" übersetzt den griechischen Ausdruck "diatheke", der seinerseits das hebräische "berith" (Bund, Verfügung) übersetzt. Er steht nicht wie in der antiken Umwelt für ein zweiseitiges Vertragsverhältnis, sondern für eine einseitige unbedingte Willenserklärung. Dies bezieht sich im AT auf Gottes Taten und Bekundungen in der menschlichen Geschichte, besonders auf seinen Bundesschluss mit dem ganzen Volk Israel am Berg Sinai nach der Offenbarung der Gebote . Ihm gehen Gottes Schöpfungsbund mit Noach , die Berufung Abrahams zum „Vater vieler Völker“ und der Bund mit Mose zur Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei voraus . Zudem wird in der Prophetie ein „neuer Bund“ verheißen , der alle Völker einbeziehen werde .
Für die Urchristen hat sich diese Verheißung in Jesus Christus als dem sterblicher Mensch gewordenen Wort Gottes erfüllt. In seinem Tod und seiner Auferstehung wurde für sie Gottes „letzter Wille“ offenbar. Dieser ersetzte Gottes Bund mit dem jüdischen Volk aber nicht, sondern erfüllte und bekräftigte ihn so endgültig. Jesus Christus habe die Tora in seiner Lebenshingabe erfüllt, so dass seine Auslegung maßgebend geworden sei. Darum bekräftigten die Urchristen einerseits die Geltung aller Gebote , andererseits ihre Begrenzung auf die Zehn Gebote in Jesu Auslegung, also die Konzentration auf die Gottes- und Nächstenliebe. Daher hoben sie viele andere Toragebote auf oder relativierten sie.
Die Judenchristen und Heidenchristen der Paulusgemeinden deuteten die Tora und ihre Rolle für den eigenen Glauben verschieden. Die „Alte Kirche“ bewahrte den ganzen Tanach als Gottes endgültige, schriftlich fixierte Offenbarung, so dass er im Christentum „Gottes Wort“ blieb. Die Gegenüberstellung von „altem“ und „neuem“ Bund ist besonders auf den Exodus Israels und die Kreuzigung und Auferstehung Jesu bezogen. Sie werden gemeinsam als jene Taten Gottes aufgefasst, in denen er sein volles Wesen zeigt. Sein „letzter Wille“ widerspricht seinem „ersten Willen“ nicht, sondern bestätigt und erneuert ihn für die ganze Welt.
In der Kirchengeschichte wurde „alt“ jedoch bis 1945 meist als „veraltet“, „überholt“ und somit als Herabsetzung und Abwertung des Judentums gedeutet. Dieses galt als "falsche", zum Untergang bestimmte Religion. Das Selbstopfer Jesu Christi am Kreuz habe die Sinaioffenbarung, die Kirche habe das erwählte Volk Israel „abgelöst“; Gott habe Israel damit in der einen oder anderen Form „enterbt“ und der Kirche die Verheißungen übergeben (siehe Substitutionstheologie). Nach dem Holocaust begann vor allem in Deutschland ein grundsätzliches Umdenken. Seit den 1960er-Jahren übersetzten viele Theologen „Altes“ als „Erstes“ Testament oder ersetzten den Begriff durch „Hebräische“ oder „Jüdische Bibel“, um Vorrang und Weitergeltung des Bundes Gottes mit Israel/dem Judentum zu betonen und die Abwertung seiner Religion und Bibelauslegung zu überwinden.
Die christliche Exegese interpretiert AT-Texte zunächst aus ihrem Eigenkontext, um eine voreilige Deutung vom NT her zu vermeiden. So sprach der Alttestamentler Walther Zimmerli von einem auch durch das NT nicht abgegoltenen „Verheißungsüberschuss“ des AT, den gerade Jesus Christus selbst durch seine anfängliche Erfüllung bekräftigt habe.
Normativer Anspruch als „Wort Gottes“.
Die meisten Richtungen im Christentum lehren, dass Gott die biblische Überlieferung lenkte und inspirierte, ihre Schreiber also vom Heiligen Geist bewegt und vor schwerwiegenden Fehlern bewahrt wurden. Sie fassen den Text ihrer Bibel aber nicht vollständig als direktes Ergebnis göttlicher Eingebung oder göttlichen Diktats auf, sondern als menschliches Zeugnis, das Gottes Offenbarungen enthält, reflektiert und weitergibt.
Im Katholizismus und in der lutherischen Orthodoxie galt lange Zeit die Theorie der Verbalinspiration. Manche Evangelikale setzen den Bibeltext unmittelbar mit Gottes Offenbarung gleich und schreiben seinem Wortlaut daher eine „Irrtumsfreiheit“ "(Inerrancy)" zu. Diese Auffassung wird oft als Biblizismus oder biblischer Fundamentalismus bezeichnet. Er reagiert auf die als Angriff auf den Glauben empfundene Historisch-kritische Methode seit der Aufklärung.
Für alle Christen ist Jesus Christus, seine Person und sein Werk, das maßgebende, alle äußeren Worte erhellende Zentrum der Bibel. Seine Kreuzigung und Auferstehung gelten für sie als Wendepunkt der Heilsgeschichte.
Eine Analyse des Verhältnisses von „Bibel“ und „Wort Gottes“ stützt sich auf die Aussagen der Bibel und zeigt, dass der Begriff „Wort Gottes“ in der Bibel in dreifacher Weise vorkommt: für prophetische Aussprüche, für die zentrale Heilsbotschaft (d. h. das „Evangelium“) und manchmal für Jesus Christus.
Für römische Katholiken erlangte die Bibel ihre Autorität als Wort Gottes erst durch das Lehramt des Papstes, der auch den Bibelkanon endgültig festgelegt habe. Für sie ist die Überwindung der Erbsünde durch Jesu stellvertretendes Sühneopfer, daraufhin das Zusammenwirken von menschlicher Bemühung und Gottes Gnadenangebot (Synergismus) zentraler Inhalt der Bibel und Maßstab ihrer Auslegung.
Für Protestanten ist es im Anschluss an Martin Luther das Gnadengeschenk Jesu Christi ohne jedes eigene Zutun. Für die Liberale Theologie ist es das menschliche Vorbild des historischen Jesus, das die grenzenlose Gottesliebe bestätigt. Die evangelischen Konfessionen betrachten die ganze Bibel als alleinigen Maßstab ihres Glaubens, als "norma normans"; siehe auch sola scriptura. Der Theologe Dietrich Kuessner formuliert:
Demnach haben sich alle Glaubensäußerungen, Bekenntnisschriften und Dogmen an der Bibel zu messen und sollen ihr daher nicht widersprechen. In der katholischen Kirche ist das päpstliche Lehramt die maßgebende und letzte Autorität zur Schriftauslegung; zudem wird die "Kirchliche Tradition" oft als gleich mit der Bibel angesehen. Die evangelische Kirche lehnt dieses übergeordnete Amt und die starke Stellung der Tradition ab, da beides nicht biblisch begründet sei. Hier gibt es faktisch keine einheitliche Lehre, da die Schriftauslegung nach den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften letztlich Sache des Heiligen Geistes bleibt. Dieser offenbare die Wahrheit des Wortes Gottes dem einzelnen Gewissen des Gläubigen.
Übersetzungen.
Seit etwa 200 verwendeten die orthodoxen Kirchen Bibeln in der jeweiligen Landessprache. Für die katholische Kirche blieb seit 400 die lateinische Vulgata maßgebend. Hieronymus hatte sie geschaffen, als Latein noch Umgangssprache war. In den späteren romanischen, germanischen und keltischen Gebieten Westeuropas wurde die Bibel dann weiterhin fast nur auf Lateinisch verbreitet. Die heute in allen christlichen Bibelausgaben übliche und weitgehend einheitliche Einteilung des Textes in Kapitel führte Stephen Langton, Erzbischof von Canterbury, im Jahr 1205 in die Vulgata ein. Die Einteilung des NT in Verse führte der Pariser Buchdrucker Robert Estienne 1551 an einer griechischen und lateinischen Bibelausgabe erstmals durch. Ohne die sieben deuterokanonischen Bücher umfasst die Bibel 66 Bücher mit 1189 Kapiteln und mehr als 31.150 Versen.
Im 4. Jahrhundert übersetzte der gotische Bischof Wulfila, ein Anhänger des Arianismus, die Bibel in die Gotische Sprache, die nach ihm benannte Wulfilabibel. Im Spätmittelalter entstanden weitere Bibelübersetzungen, darunter die von Petrus Valdes, John Wyclif, Jan Hus und William Tyndale. Besonders die Reformatoren sahen den direkten Zugang zur Bibel in der Landessprache als wesentlich für den christlichen Glauben an. Die Übersetzungen Martin Luthers und Huldrych Zwinglis (1522 bis 1534) wurde erstmals einer größeren Leserschaft im deutschen Sprachraum zugänglich. Maßgeblichen Beitrag dazu leistete die Erfindung des Buchdrucks. Die weit verbreitete Lutherbibel bahnte die Entwicklung zur deutschen Schriftsprache und die Bibelkritik der Aufklärung an. Gedruckt wurde sie in der Schwabacher. Als Reaktion auf die volkssprachlichen Bibelübersetzungen der Reformierten entstanden katholische Korrekturbibeln.
Zu den qualitativ anerkannten heutigen deutschsprachigen Bibelübersetzungen gehören die zuletzt 2017 revidierte Lutherbibel, die Elberfelder Bibel, die Zürcher Bibel und die Einheitsübersetzung. Zu den gängigen freieren Übertragungen gehören die Schlachter-Bibel, die „Gute Nachricht Bibel“, die „Hoffnung für alle“, „Neues Leben Bibel“ und die „BasisBibel“. Im März 2018 existierten Gesamtübersetzungen in 674 Sprachen und Teilübersetzungen in 3324 Sprachen. Damit waren in den vier Jahren zuvor 163 Gesamtübersetzungen hinzugekommen.
Verbreitung und Sammlungen.
Die christliche Bibel ist das meistgedruckte, am häufigsten übersetzte und am weitesten verbreitete Buch der Welt. Allein 2014 wurden weltweit fast 34 Millionen vollständige Bibeln verbreitet. Dafür setzen sich Bibelgesellschaften wie die Deutsche Bibelgesellschaft, das Katholische Bibelwerk und die evangelikale Organisation Wycliff ein. Zur Verbreitung biblischer Erzählungen tragen auch Bilderbibeln, Armenbibeln und Kinderbibeln sowie seit langer Zeit auch bildliche Darstellungen biblischer Geschichten bei. Neben handlichen Bibeln zum persönlichen Gebrauch gibt es aufwändig bearbeitete "Studienbibeln" mit umfangreichen Kommentaren und Verzeichnissen und für den liturgischen Gebrauch dekorativ gestaltete "Altarbibeln" oder Bibelteile (Lektionar).
Sowohl das Alte als auch das Neue Testament liegen als Hörbuch-Ausgaben im mp3-Format vor.
Mittlerweile ist auch eine große Zahl von Online-Bibeln kostenlos verfügbar.
Historische Bibeln werden in Bibelmuseen bewahrt und gesammelt; darunter sind die British Library, die Württembergische Landesbibliothek, die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und weitere.
Bibel im Islam.
Der Islam betrachtet die Bibel als Offenbarungszeugnis Gottes, das Menschen teilweise verfälscht haben. Der Koran hat eine Reihe biblischer und apokrypher Geschichten und Lehren übernommen und variiert, die Mohammed wahrscheinlich mündlich aus Inhalten der syrischen Kirche überliefert wurden. Er nennt die Tora (arabisch "Taurat"), die Psalmen (arabisch "Zabūr") und das Evangelium (arabisch "Indschīl") „Heilige Schriften“, die von Gott stammen, aber später von Menschen verändert, teils sogar verfälscht worden seien:
Daher sind viele Muslime mit wichtigen Inhalten der Bibel vertraut, wenn auch in koranischer Version, die oft den biblischen Wortlaut verkürzt, verändert, paraphrasiert und von seinem Eigenkontext löst. Diese interpretierende Wiedergabe ist für sie maßgebend, entsprechend dem Anspruch des Korans, der sich als endgültige Offenbarung Allahs versteht, die alle früheren Offenbarungen aufnimmt und ihre Wahrheit wiederherstellt.
Der Koran sieht in den biblischen Geschichten, die er nacherzählt, Mohammeds Kommen und seine Berufung zum „Siegel der Propheten“ Gottes vorgebildet und prophezeit. Huseyn al-Dschisri deutete 114 Stellen in der Bibel – vor allem den "paraklētos" („Beistand“, „Fürsprecher“) in ; ; – als Hinweise auf Mohammeds Prophetentum.
Parallelen zur Urgeschichte der hebräischen Bibel sind im Koran
Der Koran nennt 20 Figuren der Bibel, die dort nicht alle als Propheten gelten, als Vorläufer Mohammeds. Besonders Abraham, der „Freund Gottes“, ist für den Koran Vorbild des wahren Gläubigen. Er habe – wie auch nachbiblische jüdische Überlieferung erzählt – erkannt, dass Gott mächtiger als Gestirne ist (Sure 6:78f). Die ihm folgten, ohne Juden oder Christen zu werden "(Hanīfen)", sind den Muslimen gleichwertig (Sure 21:51–70). Ihm wurde auch im Koran ein Sohn verheißen, den er opfern sollte (Sure 37:99–113). Dabei deuten die Muslime diese Geschichte nicht auf Isaak, sondern auf Ismael, den von der Magd Hagar geborenen ältesten Sohn Abrahams, der als Stammvater der Araber gilt. Abraham und Ismael sollen, gemäß Sure 2:125 die Kaaba als "erstes" Gotteshaus in Mekka gegründet haben.
Von Joseph, Jakobs zweitjüngstem Sohn, erzählt Sure 12. Moses wird in 36 Suren erwähnt: Er ist auch im Koran der mit Gott unmittelbar redende Prophet (Sure 4:164), der sein Volk Israel aus Ägypten befreite und ihm die Tora vermittelte. Die Zehn Gebote liegen Sure 17:22–39 zugrunde. König David empfängt und übermittelt als Prophet die Psalmen; Salomos große Weisheit preist Sure 21:78f.
Von den Figuren des Neuen Testaments stellt der Koran "Maryam" (Maria – Mutter Jesu), "Johannes den Täufer" (Sure 3:38–41; 19:2–15; 21:89f) und "ʿĪsā ibn Maryam" („Jesus, der Sohn der Maria“) besonders heraus. Letzterer habe die Aufgabe, das Volk Israel zum Gesetzesgehorsam zurückzurufen und den Christen das Evangelium als schriftliche Offenbarungsurkunde zu vermitteln. Er verkünde wie Mohammed Gottes kommendes Endgericht, aber nur als Mensch, der aus Sicht des Koran nicht gekreuzigt wurde (Sure 4:157). Seine Auferstehung wird daher nur angedeutet. Die jungfräuliche Geburt wird im Koran ebenso bezeugt, wie Jesus als der verheißene Messias, das Wort Gottes und ein Mensch frei von Sünde.
Als Gesandte Gottes sind diese Propheten im Koran moralische Autoritäten, sodass er von ihren in der Bibel geschilderten dunklen Seiten (zum Beispiel Davids Ehebruch und Mord) nichts berichtet.
Bibelkritik.
Im Judentum setzt die Bibelkritik erst spät ein. Im Christentum gibt es seit etwa 1700 immer wieder Diskussionen darüber, inwiefern die biblischen Erzählungen als historische Berichte gelten können. Dabei treffen verschiedene Auffassungen aufeinander.
Quellenlage.
Ein Problem der Bibelwissenschaft ist, dass es keine Originalmanuskripte der biblischen Bücher gibt. Zum Beispiel stammen die ältesten erhaltenen oder bekannten Manuskripte des Neuen Testaments aus dem 2. Jahrhundert und sind damit mindestens hundert Jahre nach Jesu Tod entstanden. Selbst aus dieser Zeit gibt es nur wenige erhaltene Seiten. Die ältesten erhaltenen Vollbibeln entstanden erst im 4. Jahrhundert (Codex Vaticanus, Codex Sinaiticus). Zuweilen wird als Problem empfunden, dass die Verfasser der Evangelien unbekannt sind und sich nur indirekt etwas über sie, ihren Lebensraum, ihre Intention und ihre Adressatengruppen erschließen lässt. Die Verlässlichkeit ihrer Berichte kann daher angezweifelt werden.
Formkritik.
Die in der Neuzeit entwickelte historisch-kritische Exegese versucht, die jeweilige literarische Form der Texte der Bibel zu erfassen, im Rahmen der Literar- und Formkritik. Demnach erzähle die Bibel nicht Geschichte, sondern Heilsgeschichte. Der historische Gehalt der biblischen Erzählungen wird dann in ihren verschiedenen Teilen sehr unterschiedlich beurteilt; einem Teil der Bibel wird hohe geschichtliche Zuverlässigkeit zugeschrieben. Die Evangelien verstehen sich nach Meinung der Historisch-Kritischen als „Frohe Botschaft“. Ihr Ziel sei, den Glauben an den „auferstandenen Jesus Christus“ zu bezeugen. Den Evangelien sei zwar historisch zuverlässiges Material zu entnehmen, wichtiger aber sei es, die Glaubensbotschaft der Evangelien verständlich und lebendig zu machen.
Auf Grund von Bibeltexten wie dem Beginn des Lukasevangeliums oder dem Ende des Johannesevangeliums betrachten konservative Theologen Bibeltexte als historische Berichte. Die Haltung zur Bibel wird dann auch in Glaubensbekenntnissen festgehalten, etwa in der "Basis der Evangelischen Allianz" von 1970: Demnach ist die Bibel als inspirierte Heilige Schrift „in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ „völlig zuverlässig“. Ein Teil der evangelikalen Bewegung formuliert noch schärfer und sagt, dass die Bibel „in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler“ sei, und schließt dabei auch „Aussagen im Bereich der Geschichte und Naturwissenschaft“ mit ein "(Fundamentalistische Hermeneutik)".
Nichttheologische Wissenschaftler verstehen die Bibel häufig als ein literarisches Werk, teilweise als Weltliteratur. Gattungsgeschichtlich gehören die Texte in die literarischen Kategorien Prolog, Liebeslyrik, Hymne, Paradoxon, Monolog, Dialog, Rätsel, Ellipse, Gebet, Gleichnis, Parabel, Gedicht, Brief und Geschichtsschreibung. Die Texte stellen eine wertvolle Quellensammlung für die Erforschung ihrer jeweiligen Entstehungszeit dar. Die Historizität der Erzählungen selbst wird von einigen als relativ gering eingeschätzt.
Weniger weit verbreitet ist der Glaube, bei der Bibel handele es sich um ein magisches Buch, mit welchem wichtige Ereignisse in der Zukunft vorhergesehen werden könnten. Manche Menschen haben einige Zeit ihres Lebens damit verbracht, den vermuteten "Bibelcode" zu entschlüsseln, um an die geheimen Botschaften zu gelangen. Die Existenz eines solchen Codes konnte nicht bewiesen werden.
Literatur.
Überblicks- und Nachschlagewerke
Fachliteratur
Populärwissenschaftliches
Weblinks.
Bibelausgaben und -Übersetzungen
Informationen
Literarische Rezeption |
584 | 110681 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=584 | BSD | BSD steht für: |
585 | 10934 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=585 | Byzantinisches Reich | Das Byzantinische Reich (auch Oströmisches Reich oder kurz Byzanz bzw. Ostrom) war der Nachfolgestaat des Römischen Reiches im östlichen Mittelmeerraum, der aus der Reichsteilung von 395 hervorging, bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 existierte und damit den Untergang von Westrom um fast 1000 Jahre überlebte.
Die Bezeichnung, die sich von Byzanz, dem ursprünglichen Namen der Hauptstadt Konstantinopel herleitet, ist modernen Ursprungs. In der Spätantike und im Mittelalter lautete die Eigenbezeichnung Βασιλεία τῶν ῾Ρωμαίων ("Basileia tōn Rhōmaiōn", dt.: "Reich der Römer"). Zur Zeit seiner größten Ausdehnung in der Mitte des sechsten Jahrhunderts schloss das Reich zurückeroberte Provinzen des untergegangenen Westreichs ein und erstreckte sich von Südspanien über Italien die Balkanhalbinsel, Kleinasien und Syrien bis nach Ägypten und über weitere Teile Nordafrikas. Seit dem siebten Jahrhundert weitgehend auf Kleinasien und Südosteuropa beschränkt, war es während der längsten Zeit seiner Existenz dennoch das mächtigste, reichste und kulturell bedeutendste Staatswesen der Christenheit.
Die Geschichte des Reiches war vom Abwehrkampf gegen äußere Feinde geprägt, der seine Kräfte erheblich beanspruchte und seine Ressourcen in der Spätzeit erschöpfte. Zuvor wechselten sich Phasen des Rückzugs, etwa nach den Gebietsverlusten im siebten Jahrhundert, mit solchen der Expansion ab, wie während der Eroberungen im zehnten und elften Jahrhundert. Im Inneren kam es besonders bis ins neunte Jahrhundert immer wieder zu unterschiedlich stark ausgeprägten theologischen Auseinandersetzungen sowie zu vereinzelten Bürgerkriegen, doch blieb das an römischen Strukturen orientierte staatliche Fundament bis ins frühe 13. Jahrhundert weitgehend intakt.
Da die Christianisierung Osteuropas wesentlich von Byzanz ausging, übte es einen starken Einfluss auf Kunst und Kultur der Länder der Orthodoxie aus. Dies betrifft insbesondere Griechenland und Russland, die sich zeitweilig als Nachfolger Ostroms betrachteten. Aber auch für Westeuropa ist der byzantinische Einfluss von großer Bedeutung. Da das Erbe der Antike in Byzanz stärker bewahrt wurde, nahm das Reich vor und während der Renaissance eine wichtige kulturelle Mittlerrolle ein. Bedeutende Werke der Antike, etwa des Rechts oder der Literatur sind dem Westen durch byzantinische Gelehrte überliefert worden.
Begriffsbestimmung und Begriffsgeschichte.
Der Byzantinist Georg Ostrogorsky charakterisierte das Byzantinische Reich als eine Mischung aus römischem Staatswesen, griechischer Kultur und christlichem Glauben.
In der modernen Forschung wird die Geschichte des Byzantinischen Reiches in drei Phasen unterteilt:
Neben dieser traditionellen Periodisierung existieren auch teils davon abweichende Überlegungen; so setzt sich in der neueren Forschung zunehmend die Tendenz durch, die im engeren Sinne „byzantinische“ Geschichte erst mit dem späten sechsten oder siebten Jahrhundert beginnen zu lassen und die Zeit davor der (spät-)römischen Geschichte zuzurechnen. Zwar ist diese Position nicht unumstritten, doch in der Praxis beschäftigten sich mit der oströmischen Geschichte vor dem frühen 7. Jahrhundert heute in der Tat vor allem Althistoriker, während sich die meisten Byzantinisten inzwischen auf die Folgezeit konzentrieren.
Die von der Hauptstadt abgeleitete Bezeichnung "Byzantinisches Reich" ist nur in der modernen Forschung üblich. Die Byzantiner – und die Griechen bis ins 19. Jahrhundert hinein – betrachteten und bezeichneten sich selbst als „Römer“ ( "Rhōmaîoi"; vgl. Rhomäer). Das Wort „Griechen“ ( "Héllēnes/Éllines") wurde fast nur für die vorchristlichen, paganen griechischen Kulturen und Staaten verwendet. Erst um 1400 bezeichneten sich auch einige gebildete Byzantiner wie Georgios Gemistos Plethon als „Hellenen“.
Die heute üblichen Bezeichnungen „Byzantiner“ und „Byzantinisches Reich“ sind modernen Ursprungs. Zeitgenossen sprachen stets von der ("Basileía tōn Rhōmaíōn", "Vasilía ton Romäon" „Reich der Römer“) oder der ("Rhōmaïkḗ Autokratoría", "Romaikí Aftokratoría" „Römischer Herrschaftsbereich“ bzw. „Römisches Kaiserreich“; dies ist die direkte Übersetzung des lateinischen "Imperium Romanum" ins Griechische). Nach ihrem Selbstverständnis waren sie also nicht die Nachfolger des Römischen Reiches – sie "waren" das Römische Reich. Deutlich wird dies auch dadurch, dass die Bezeichnungen „Oströmisches“ und „Weströmisches Reich“ modernen Ursprungs sind und es nach zeitgenössischer Auffassung nur "ein" Reich unter zwei Kaisern gab, solange beide Reichsteile existierten.
Formal war dieser Anspruch berechtigt, da es im Osten keinen Einschnitt wie im Westen gegeben hatte und Byzanz in einem weitaus nahtloser an die Spätantike anschließenden Zustand fortbestand, der sich erst nach und nach veränderte und zu einer Gräzisierung des Staates unter Herakleios führte. Allerdings war bereits vorher die vorherrschende Identität des Oströmischen Reiches griechisch und Latein nur die Sprache der Herrschaft gewesen, die in der Armee, am Hof und in der Verwaltung benutzt wurde, nicht im Alltag. Altgriechisch und seit der Wende um 600 das Mittelgriechische, lautlich mit dem heutigen Griechisch schon fast identisch, ersetzte nicht nur seit Herakleios Latein als Amtssprache, sondern war auch die Sprache der Kirche, Literatursprache (bzw. Kultursprache) und Handelssprache.
Das Oströmische/Byzantinische Reich verlor seinen römisch-spätantiken Charakter erst im Laufe der arabischen Eroberungen im siebten Jahrhundert. Es sah sich zeit seines Bestehens als unmittelbar und einzig legitimes, weiterbestehendes Römisches Kaiserreich und leitete daraus einen Anspruch auf Oberhoheit über alle christlichen Staaten des Mittelalters ab. Dieser Anspruch war zwar spätestens seit dem 7. Jahrhundert nicht mehr durchsetzbar, wurde aber in der Staatstheorie konsequent aufrechterhalten.
Politische Geschichte.
Die Spätantike: Das Oströmische Reich.
Die Reichsteilungen seit Konstantin dem Großen.
Die Wurzeln des Byzantinischen Reiches liegen in der römischen Spätantike (284–641). Das Byzantinische Reich stellte keine Neugründung dar, vielmehr handelt es sich um die bis 1453 weiter existierende östliche Hälfte des 395 endgültig geteilten Römerreichs, also um die direkte Fortsetzung des "Imperium Romanum". Die damit verbundene Frage, wann die byzantinische Geschichte konkret beginnt, ist allerdings nicht eindeutig zu beantworten, da verschiedene Forschungsansätze möglich sind. Vor allem in der älteren Forschung wurde als Beginn oft die Regierungszeit Kaiser Konstantins des Großen (306 bis 337) angesehen, während in der neueren Forschung die Tendenz vorherrscht, erst die Zeit ab dem 7. Jahrhundert als „byzantinisch“ und die davor liegende Zeit noch als eindeutig zur Spätantike gehörig zu charakterisieren, wenngleich auch dies nicht unumstritten ist.
Konstantin setzte sich in einem von 306 bis 324 dauernden Machtkampf im Imperium als Alleinherrscher durch (im Westen bereits seit 312), reformierte Heer und Verwaltung und festigte das Reich nach außen. Er begünstigte als erster römischer Kaiser aktiv das Christentum "(konstantinische Wende)", was enorme Auswirkungen hatte; zum anderen schuf er die spätere Hauptstadt des Byzantinischen Reiches. Zwischen 325 und 330 ließ er die alte griechische Polis Byzanz großzügig ausbauen und benannte sie nach sich selbst in Konstantinopel um. Bereits zuvor hatten sich Kaiser Residenzen gesucht, die näher an den bedrohten Reichsgrenzen lagen und/oder besser zu verteidigen waren als Rom, das spätestens nach der kurzen Herrschaft des Kaisers Maxentius in der Regel nicht mehr Sitz der Kaiser, sondern nur noch ideelle Hauptstadt war. Allerdings erhielt Konstantinopel im Unterschied zu anderen Residenzstädten einen eigenen Senat, der unter Konstantins Sohn Constantius II. dem römischen formal gleichgestellt wurde. Mehr und mehr entwickelte sich die Stadt in der Folgezeit zum verwaltungsmäßigen Schwerpunkt des östlichen Reichsteils. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts kamen sogar die Bezeichnungen "Nova Roma" und "Νέα ῾Ρώμη" "(Néa Rhṓmē)" auf – das „Neue Rom“. Trotz dieses bewussten Gegensatzes zur alten Hauptstadt blieb das alte Rom weiterhin der Bezugspunkt der Reichsideologie. Seit der Zeit des Kaisers Theodosius I. war Konstantinopel dann die dauerhafte Residenz der im Osten regierenden römischen Kaiser.
Nach Konstantins Tod 337 gab es zumeist mehrere "Augusti" im Imperium, denen die Herrschaft über bestimmte Reichsteile oblag. Dabei wurde allerdings zugleich die Einheit des "Imperium Romanum" nie in Frage gestellt, vielmehr handelte es sich um ein Mehrkaisertum mit regionaler Aufgabenteilung, wie es seit Diokletian üblich geworden war. Den Osten regierten Constantius II. (337 bis 361), Valens (364 bis 378) und Theodosius I. (379 bis 395). Nach dem Tod des Theodosius, der 394/395 als letzter Kaiser kurzzeitig faktisch über das gesamte Imperium herrschte, wurde das Römische Reich 395 erneut in eine östliche und eine westliche Hälfte unter seinen beiden Söhnen Honorius und Arcadius aufgeteilt. Solche „Reichsteilungen“ hatte es zwar schon oft gegeben, aber diesmal erwies sie sich als endgültig: Arcadius, der in Konstantinopel residierte, gilt daher manchen Forschern als erster Kaiser des Oströmischen beziehungsweise "Frühbyzantinischen Reiches." Dennoch galten weiterhin alle Gesetze in beiden Reichshälften (sie wurden meist im Namen beider Kaiser erlassen), und der Konsul des jeweils anderen Teiles wurde anerkannt. Umgekehrt rivalisierten beide Kaiserhöfe während des fünften Jahrhunderts um den Vorrang im Gesamtreich.
Im späten vierten Jahrhundert, zur Zeit der beginnenden sogenannten Völkerwanderung, war zunächst die östliche Reichshälfte Ziel germanischer Kriegerverbände wie der West- und der Ostgoten. In der Schlacht von Adrianopel erlitt das oströmische Heer 378 eine schwere Niederlage gegen meuternde (West-)Goten, denen dann 382 von Theodosius I. südlich der Donau als formal reichsfremde "Foederati" Land zugewiesen wurde. Seit Beginn des fünften Jahrhunderts richteten sich die äußeren Angriffe dann aber zunehmend auf das militärisch und finanziell schwächere Westreich, das zugleich in endlosen Bürgerkriegen versank, die zu einem langsamen Zerfall führten. Ob den germanischen Kriegern eine entscheidende Rolle beim Untergang Westroms zukam, ist in der neueren Forschung sehr umstritten. Im Osten konnte hingegen weitgehende innenpolitische Stabilität bewahrt werden. Nur vereinzelt musste sich Ostrom der Angriffe des neupersischen Sassanidenreichs erwehren, des einzigen gleichrangigen Konkurrenten Roms, mit dem aber zwischen 387 und 502 fast durchgängig Frieden herrschte. 410 wurde die Stadt Rom von meuternden westgotischen "foederati" geplündert, was auch im Osten eine deutliche Schockwirkung auf die Römer hatte, während die östliche Reichshälfte, abgesehen vom Balkanraum, den wiederholt Kriegerverbände durchzogen, weitgehend unbehelligt blieb und vor allem den inneren Frieden ("pax Augusta") alles in allem wahren konnte. Ostrom versuchte durchaus, die Westhälfte zu stabilisieren, und intervenierte wiederholt mit Geld und Truppen. So wurde die erfolglose Flottenexpedition gegen die Vandalen 467/468 (siehe Vandalenfeldzug) wesentlich von Ostrom getragen. Doch letztlich war der Osten zu sehr mit der eigenen Konsolidierung beschäftigt, um den Verfall des Westreichs aufhalten zu können.
Das Oströmische Reich nach dem Untergang des Westreichs.
Im späteren fünften Jahrhundert hatte auch das Ostreich mit schweren Problemen zu kämpfen. Einige politisch bedeutsame Positionen wurden von Soldaten, nicht selten Männer „barbarischer“ Herkunft, dominiert (insbesondere in Gestalt des "magister militum" Aspar), die immer unbeliebter wurden: Es drohte die Gefahr, dass auch in Ostrom, so wie es bereits zuvor im Westen geschehen war, die Kaiser und die zivile Administration dauerhaft unter die Vorherrschaft mächtiger Militärs geraten würden. Unter Kaiser Leo I. (457–474) versuchte man daher, die vor allem aus "foederati" bestehende Gefolgschaft Aspars zu neutralisieren, indem man gegen sie insbesondere Isaurier, die Bewohner der Berge Südostkleinasiens waren, also Reichsangehörige, ausspielte. Leo stellte zudem eine neue kaiserliche Leibgarde auf, die "excubitores," die dem Herrscher persönlich treu ergeben waren; auch unter ihnen fanden sich viele Isaurier. In Gestalt von Zeno konnte einer von ihnen 474 sogar den Kaiserthron besteigen, nachdem Aspar 471 ermordet worden war. Auf diese Weise gelang es den Kaisern zwischen 470 und 500 schrittweise, das Militär wieder unter Kontrolle zu bringen. Denn unter Kaiser Anastasios I. konnte dann bis 498 auch der gewachsene Einfluss der Isaurier unter großen Kraftanstrengungen wieder zurückgedrängt werden. In der neueren Forschung wird die Ansicht vertreten, dass die Ethnizität der Beteiligten bei diesem Machtkampf in Wahrheit eine untergeordnete Rolle gespielt habe: Es sei nicht etwa um einen Konflikt zwischen „Barbaren“ und „Römern“, sondern vielmehr um ein Ringen zwischen dem kaiserlichen Hof und der Armeeführung gegangen, in dem sich die Kaiser zuletzt durchsetzen konnten. Das Heer blieb zwar auch weiterhin von auswärtigen, oft germanischen, Söldnern geprägt; der Einfluss der Feldherren auf die Politik war fortan allerdings begrenzt, und die Kaiser gewannen wieder stark an Handlungsfreiheit.
Etwa zur gleichen Zeit endete im Westen das Kaisertum, das bereits im späten 4. Jahrhundert gegenüber den hohen Militärs zunehmend an Macht eingebüßt hatte, wodurch die letzten Westkaiser faktisch kaum noch selbstständig herrschten. Hinzu kam im 5. Jahrhundert der sukzessive Verlust der wichtigsten westlichen Provinzen (vor allem der reichen Provinzen Africa und Gallien) an die neuen germanischen Herrscher, was einen nicht mehr kompensierbaren Verlust an Finanzmitteln und damit eine Erosion der weströmischen Staatsgewalt bedeutete. Der machtlose letzte weströmische Kaiser Romulus Augustulus wurde im Jahr 476 von dem Heerführer Odoaker abgesetzt (der letzte von Ostrom anerkannte Kaiser war allerdings Julius Nepos, der 480 in Dalmatien ermordet wurde). Odoaker unterstellte sich dem Ostkaiser. Dieser war fortan "de iure" wieder alleiniger Herr über das Gesamtreich, wenngleich die Westgebiete faktisch verloren waren. Die meisten Reiche, die sich nun unter Führung von nichtrömischen "reges" auf den Trümmern des zerfallenen Westreichs bildeten, erkannten den (ost-)römischen Kaiser aber lange Zeit zumindest als ihren nominellen Oberherrn an. Kaiser Anastasios I. stärkte um die Wende zum sechsten Jahrhundert auch die Finanzkraft des Reiches, was der späteren Expansionspolitik Ostroms zugutekam.
Das Zeitalter Justinians.
Im sechsten Jahrhundert eroberten unter Kaiser Justinian (527–565) die beiden oströmischen Feldherren Belisar und Narses große Teile der weströmischen Provinzen – Italien, Nordafrika und Südspanien – zurück und stellten damit das "Imperium Romanum" für kurze Zeit in verkleinertem Umfang wieder her. Doch die Kriege gegen die Reiche der Vandalen und Goten im Westen und gegen das mächtige Sassanidenreich unter Chosrau I. im Osten, sowie ein Ausbruch der Pest, die ab 541 die ganze Mittelmeerwelt heimsuchte, zehrten erheblich an der Substanz des Reiches. Während der Regierungszeit Justinians, der als letzter "Augustus" Latein zur Muttersprache hatte, wurde auch die Hagia Sophia erbaut, für lange Zeit die größte Kirche der Christenheit und der letzte große Bau des Altertums. Ebenso kam es 534 zur umfassenden und wirkmächtigen Kodifikation des römischen Rechts (das später so genannte "Corpus iuris civilis)." Auf dem religionspolitischen Sektor konnte der Kaiser trotz großer Anstrengungen keine durchschlagenden Erfolge erzielen. Die andauernden Spannungen zwischen orthodoxen und monophysitischen Christen stellten neben der leeren Staatskasse, die Justinian hinterließ, eine schwere Hypothek für seine Nachfolger dar. Justinians lange Herrschaft markiert eine wichtige Übergangszeit vom spätantiken zum mittelbyzantinischen Staat, auch wenn man Justinian, den „letzten römischen Imperator“ (Georg Ostrogorsky), insgesamt sicherlich noch zur Antike zu zählen hat. Unter seinen Nachfolgern nahm dann auch die Bedeutung und Verbreitung der lateinischen Sprache im Reich immer weiter ab, und Kaiser Maurikios gab mit der Einrichtung der Exarchate in Karthago und Ravenna erstmals den spätantiken Grundsatz der Trennung von zivilen und militärischen Kompetenzen auf, wenngleich er im Kerngebiet des Reiches noch an der herkömmlichen Verwaltungsform festhielt.
Ab der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts brachten leere Kassen und an allen Fronten auftauchende Feinde das Reich erneut in ernste Schwierigkeiten. In der Regierungszeit von Justinians Nachfolger Justin II., der 572 einen Krieg mit Persien provozierte, infolge seiner Niederlage einen Nervenzusammenbruch erlitt und dem Wahnsinn verfiel, besetzten die Langobarden bereits ab 568 große Teile von Italien. Währenddessen drangen die Slawen seit etwa 580 in den Balkanraum ein und besiedelten ihn bis zum Ende des siebten Jahrhunderts größtenteils. Mit dem gewaltsamen Tod des Kaisers Maurikios im Jahr 602, der 591 einen vorteilhaften Frieden mit den Sassaniden hatte schließen können und energisch gegen die Slawen vorgegangen war, eskalierte die militärische Krise.
Die Dynastie des Herakleios und der Übergang zum Byzantinischen Reich.
Maurikios war der erste oströmische Kaiser, der einem Usurpator erlag, und seinem übel beleumundeten Nachfolger Phokas gelang es nicht, die Stellung des Monarchen wieder zu stabilisieren. Seit 603 erlangten zudem die sassanidischen Perser unter Großkönig Chosrau II. zeitweilig die Herrschaft über die meisten östlichen Provinzen. Bis 619 hatten sie Ägypten und Syrien (die reichsten oströmischen Provinzen) erobert und standen 626 sogar vor Konstantinopel. Ostrom schien am Rande des Untergangs zu stehen, da auf dem Balkan auch die Awaren und ihre slawischen Untertanen auf kaiserliches Gebiet vordrangen. Begünstigt wurden diese Vorgänge noch durch einen Bürgerkrieg zwischen Kaiser Phokas und seinem Rivalen Herakleios. Letzterer konnte sich im Jahr 610 durchsetzen und nach hartem Kampf auch die Wende im Krieg gegen die Perser herbeiführen: In mehreren Feldzügen drang er seit 622 auf persisches Gebiet vor und schlug ein sassanidisches Heer Ende 627 in der Schlacht bei Ninive. Zwar waren die Sassaniden militärisch nicht entscheidend besiegt worden, aber Persien war nun auch an anderen Fronten bedroht und wünschte daher Ruhe im Westen. Der unbeliebte Chosrau II. wurde gestürzt, und sein Nachfolger schloss Frieden mit Ostrom. Persien räumte die eroberten Gebiete und versank aufgrund interner Machtkämpfe bald im Chaos. Nach dieser gewaltigen Anstrengung waren die Kräfte des Oströmischen Reichs jedoch erschöpft. Die Senatsaristokratie, die ein wesentlicher Träger der spätantiken Traditionen gewesen war, war zudem bereits unter Phokas stark geschwächt worden. Die Herrschaft über den größten Teil des Balkans blieb verloren.
Herakleios ließ den Sieg über die Perser und die Rettung des Imperiums dennoch aufwändig feiern und übertrieb dabei wohl seinen Erfolg. Doch der oströmische Triumph war von kurzer Dauer. Der militärischen Expansion der durch ihren neuen muslimischen Glauben angetriebenen Araber, die in den 630er-Jahren einsetzte, hatte das Reich nach dem langen und kräftezehrenden Krieg gegen Persien nicht mehr viel entgegenzusetzen. Herakleios musste erleben, wie die eben erst von den Sassaniden geräumten Orientprovinzen erneut verloren gingen, dieses Mal für immer. In der entscheidenden Schlacht am Jarmuk am 20. August 636 unterlagen die Oströmer einem Heer des zweiten Kalifen ʿUmar ibn al-Chattāb, und der ganze Südosten des Reichs, einschließlich Syriens, Ägyptens und Palästinas, ging bis 642 vollständig verloren; bis 698 verlor man auch "Africa" mit Karthago.
Nach 636 stand Ostrom am Rand des Abgrunds. Im Gegensatz zu seinem langjährigen Rivalen, dem Sassanidenreich, das trotz heftiger Gegenwehr 642/651 unterging, konnte sich das Oströmische bzw. Byzantinische Reich aber immerhin erfolgreich gegen eine vollständige islamische Eroberung verteidigen. Die kaiserlichen Truppen, die bisher die vorderorientalischen Provinzen verteidigt hatten, mussten sich aber nach Kleinasien zurückziehen, das von arabischen Angriffen heimgesucht wurde "(Razzien)". Im Verlauf des siebten Jahrhunderts verlor Byzanz infolge der islamischen Expansion zeitweilig sogar die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer (Niederlage bei Phoinix 655) und konnte zudem auch Kleinasien nur mit Mühe halten, während auf dem Balkan Slawen und Bulgaren das Reich bedrängten und die kaiserliche Herrschaft hier auf einige wenige Orte begrenzten. So waren die Oströmer um 700 im Wesentlichen auf einen Rumpfstaat mit Kleinasien, dem Umland der Hauptstadt, einiger Gebiete in Griechenland sowie in Italien reduziert. Der Verlust Ägyptens 642 bedeutete den härtesten Schlag für Byzanz, da die hohe Wirtschaftsleistung (Ägypten war die Provinz mit dem höchsten Steueraufkommen) und das Getreide Ägyptens für Konstantinopel essentiell gewesen waren.
Die mittelbyzantinische Epoche.
Das siebte Jahrhundert: Abwehrkämpfe unter der herakleischen Dynastie gegen den Islam.
Was das Reich an Gebieten verlor, gewann es indes an innerer Gleichförmigkeit, zumal seit dem späten 6. Jahrhundert ein Bevölkerungsverlust nachweisbar ist. Die antike Zivilisation war seit Jahrhunderten von der Existenz zahlreicher größerer und kleinerer Städte – "póleis" – geprägt gewesen; diese Zeit endete nun. Die meisten Städte wurden aufgegeben oder schrumpften auf die Größe von befestigten Dörfern, den sogenannten "kastra." Auch die alte, städtisch geprägte Oberschicht ging nun unter; unter den Bedingungen der heftigen Kämpfe trat eine neue Militärelite an ihre Stelle, deren Angehörige kein Interesse mehr an der Pflege antiker Bildungsgüter hatten.
Die verlorenen südlichen und orientalischen Provinzen hatten sich kulturell erheblich vom Norden unterschieden und gehörten seit dem fünften Jahrhundert mehrheitlich den orientalisch-orthodoxen, monophysitischen Kirchen an, die mit der griechisch-orthodoxen Kirche der nördlichen Provinzen seit 451 im Streit gelegen hatten. Dieser Konflikt war vielleicht einer der Gründe für die baldige Akzeptanz der neuen muslimischen Herren in Syrien und Ägypten (was aber in der neueren Forschung wieder stark umstritten ist). Der unter kaiserlicher Kontrolle verbliebene Norden des Reiches gelangte jedenfalls zu größerer Geschlossenheit und höherer Kampfbereitschaft. Der Preis für das Überleben war jedoch der dauerhafte Verlust von zwei Dritteln des Reiches und der meisten Steuereinkünfte.
Indem bereits Herakleios Griechisch, das in den verbliebenen Reichsgebieten ohnehin die dominierende Sprache war, zur alleinigen Amtssprache machte, vollzog er einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Byzantinischen Reich des Mittelalters. Viele Forscher sehen daher erst in diesem Kaiser, der den Titel "Imperator" ablegte und sich fortan offiziell "Basileus" nannte, zugleich den letzten (ost-)römischen und auch den ersten byzantinischen Kaiser. Einigkeit besteht darin, dass das siebte Jahrhundert insgesamt einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Reiches markiert. Strittig ist nur, ob man die drei Jahrhunderte davor noch zur römischen oder bereits zur byzantinischen Geschichte zählen soll; indem man diese Zeit heute als Spätantike bezeichnet und als Transformationsepoche versteht, hat die Frage nach dem „Beginn“ von Byzanz aber erheblich an Relevanz eingebüßt. Fest steht, dass sich mit der oströmischen Geschichte bis Herakleios neben Byzantinisten auch viele Althistoriker befassen, nicht aber mit den folgenden Jahrhunderten, die das Arbeitsfeld der Byzantinistik darstellen.
Die überkommenen spätantiken Strukturen von Staat und Gesellschaft waren der radikal veränderten Situation vielfach nicht mehr angemessen. Es verwundert ohnehin, dass Byzanz den nachfolgenden, Jahrzehnte andauernden Kampf ums Überleben gegen eine enorme feindliche Übermacht überstand. Ein wichtiger Faktor dafür war – neben wiederholten innerarabischen Streitigkeiten und den geographischen Besonderheiten Kleinasiens – wohl das neue System von Militärprovinzen, der sogenannten "Themen". Die Themen wurden sehr wahrscheinlich erst nach der Regierungszeit des Herakleios geschaffen (anders noch die ältere Forschung), um den ständigen Angriffen und dem Verfall des städtischen Lebens außerhalb der Hauptstadt zu begegnen. Insgesamt gilt für diese Phase: Tendenzen, die bereits seit langem vorhanden waren, kamen nach 636 in vielen Bereichen von Staat und Gesellschaft voll zum Tragen. Zugleich endeten zahlreiche Traditionsstränge – die spätantike Phase des Oströmischen Imperiums gelangte an ihr Ende, und es entstand das Byzantinische Reich des Mittelalters.
Die Zeit von der Mitte des siebten bis ins späte achte Jahrhundert war weitgehend von schweren Abwehrkämpfen geprägt, in denen die Initiative fast ausschließlich bei den Feinden von Byzanz lag. Kaiser Konstans II. verlegte seine Residenz von 661 bis 668 ins sizilianische Syrakus, vielleicht, um von dort aus die Seeherrschaft gegen die Araber zu sichern, doch kehrten seine Nachfolger wieder in den Osten zurück. Im Jahr 681 musste Kaiser Konstantin IV. Pogonatos das neugegründete Bulgarenreich auf dem Balkan anerkennen. Um 678 soll es zu einer ersten Belagerung Konstantinopels durch die Araber gekommen sein, die durch den Einsatz des sogenannten Griechischen Feuers, das sogar auf dem Wasser brannte, zurückgeschlagen werden konnten. In der modernen Forschung werden die erst späteren Quellenberichte jedoch zunehmend angezweifelt; wahrscheinlicher sind wellenartige Angriffe und Seeblockaden, aber keine regelrechte Belagerung der Hauptstadt. Das Reich blieb in der Folgezeit auf Kleinasien beschränkt, hinzu kamen noch Gebiete auf dem Balkan und in Italien sowie bis 698 in Nordafrika.
Das achte und neunte Jahrhundert: Abwehrkämpfe und Bilderstreit.
Kaiser Justinian II., in dessen Regierungszeit Byzanz wenigstens teilweise wieder in die Offensive ging, war der letzte Monarch der herakleischen Dynastie. Im Rahmen einer später oft wiederholten Praxis wurden slawische Siedler vom Balkan nach Kleinasien deportiert und dort angesiedelt. Ziel war eine Stärkung der Grenzverteidigung, es kam in der Folgezeit aber auch immer wieder zu Desertionen; ebenso wurden teils Bevölkerungsgruppen von Kleinasien auf den Balkan transferiert. Justinian fiel 695 jedoch einer Verschwörung zum Opfer, wurde verstümmelt (ihm wurde die Nase abgeschnitten) und ins Exil geschickt, wo er eine Prinzessin aus dem Volke der turkischen Chasaren heiratete. Er gelangte schließlich mit bulgarischer Unterstützung wieder an die Macht, bevor er 711 umgebracht wurde.
Die bedrohlichste Belagerung Konstantinopels durch die Araber fand 717–718 statt; nur dank der Fähigkeiten Kaiser Leos III., der erfolgreichen Flottenoperationen (wobei die Byzantiner das Griechische Feuer einsetzten) und eines extrem harten Winters, der den Arabern schwer zu schaffen machte, konnte sich die Hauptstadt halten. 740 wurden die Araber bei Akroinon von den Byzantinern entscheidend geschlagen. Wenngleich die Abwehrkämpfe gegen die Araber weitergingen, war die Existenz des byzantinischen Reiches nun nicht mehr ernsthaft von ihnen gefährdet. Auf dem Balkan war Byzanz währenddessen in schwere Kämpfe mit den Slawen verwickelt, die nach dem Zerfall des Awarenreiches in die byzantinischen Gebiete einrückten. Weite Teile des Balkans waren dem byzantinischen Zugriff entzogen, doch gelang es in der Folgezeit, in Griechenland nach und nach von den Slawen Gebiete zurückzugewinnen, die seit dem siebten Jahrhundert in die "Sklaviniai" eingezogen waren. Die Slawen wurden unterworfen und hellenisiert, zudem siedelte man Menschen aus Kleinasien und dem Kaukasusraum nach Griechenland um. Dafür erwuchs dem Reich an der Donau ein neuer Gegner in Gestalt der Bulgaren, die nun erfolgreich eine eigene Staatsbildung anstrebten.
Kaiser Leo III. soll 726 den sogenannten Bilderstreit entfacht haben, der über 110 Jahre andauern sollte und mehrmals Bürgerkriege aufflackern ließ. Allerdings sind die Schriften der bilderfeindlichen Autoren nach dem Sieg der Ikonodulen vernichtet worden, sodass die Quellen für diese Zeit fast ausschließlich aus der Perspektive des Siegers geschrieben wurden und dementsprechend problematisch sind. Ausgelöst durch einen Vulkanausbruch in der Ägäis habe demnach Leo 726 die Christus-Ikone über dem Chalketor am Kaiserpalast entfernt. In der neueren Forschung wird dies bisweilen bezweifelt, denn aufgrund der tendenziösen Quellen sei oft unklar, welche Schritte Leo genau unternommen hat; eventuell seien spätere Handlungen in die Zeit Leos projiziert worden. Insofern kann nicht einmal eindeutig geklärt werden, wie scharf ausgeprägt Leos Bilderfeindschaft tatsächlich gewesen ist. Leo und seine direkten Nachfolger sind aber anscheinend keine Anhänger der Ikonenverehrung gewesen. Ihre militärischen Erfolge ermöglichten es diesen Kaisern offenbar, ohne größeren Widerstand Ikonen (die in der Ostkirche allerdings damals noch keine so große Rolle wie heute spielten) durch Kreuzesdarstellungen zu ersetzen, die von allen Byzantinern anerkannt werden konnten. Dass die Abkehr von der Bilderverehrung durch Einflüsse aus dem islamischen Bereich angeregt wurde, wird heute oft sehr skeptisch gesehen. Denn die ikonoklastischen Kaiser waren auch überzeugte Christen, die eben deshalb die Ikonen ablehnten, weil sich ihrer Meinung nach das göttliche Wesen nicht einfangen ließ. Zudem war das Kreuz, das die Ikonen ersetzen sollte, im islamischen Bereich geächtet. Die moderne Forschung geht auch nicht mehr davon aus, dass Leo ein regelrechtes Bilderverbot erließ oder dass es gar zu schweren Unruhen kam, wie die späteren ikonodulen Quellen unterstellen. Offenbar wurde diese erste Phase des Bilderstreits nicht mit der Härte geführt wie die zweite Phase im neunten Jahrhundert.
Leo führte im Inneren mehrere Reformen durch und war auch militärisch sehr erfolgreich. So ging er in Kleinasien offensiv gegen die Araber vor, wobei sein Sohn Konstantin sich als fähiger Kommandeur erwies. Als Konstantin seinem Vater schließlich 741 als Konstantin V. auf den Thron nachfolgte, schlug er den Aufstand seines Schwagers Artabasdos nieder. Konstantin war ein Gegner der Bilderverehrung und schrieb zu diesem Zweck sogar mehrere theologische Abhandlungen. Durch das Konzil von Hiereia 754 sollte die Bilderverehrung auch formal abgeschafft werden, doch ergriff Konstantin nur wenige konkrete Maßnahmen und verbot sogar explizit Vandalismus kirchlicher Einrichtungen. Obwohl militärisch sehr erfolgreich (sowohl gegen Araber als auch gegen die Bulgaren), wird Konstantin in den erhaltenen byzantinischen Quellen als grausamer Herrscher beschrieben – zu Unrecht und offenbar aufgrund seiner Einstellung gegen die Ikonen. Denn andere Quellen belegen nicht nur seine relative Beliebtheit in der Bevölkerung, sondern auch sein immenses Ansehen im Heer. Innenpolitisch führte Konstantin mehrere Reformen durch und scheint eine eher gemäßigte bilderfeindliche Politik betrieben zu haben. Mehrere politische Gegner, die der Kaiser bestrafen ließ, wurden wohl erst im Nachhinein zu Märtyrern verklärt, die angeblich wegen ihrer bilderfreundlichen Position getötet wurden. Konstantin war also kein gnadenloser Bilderstürmer, wie in der älteren Forschung mit Bezug auf die ikonodulen Berichte angenommen wurde.
Konstantins religionspolitischem Kurs folgte auch sein Sohn Leo IV., doch dieser musste sich mehrerer Umsturzversuche erwehren und starb nach nur fünfjähriger Herrschaft 780. Für seinen minderjährigen Sohn Konstantin VI. übernahm dessen Mutter Irene die Regentschaft; bald allerdings zeigte sich, dass diese nicht beabsichtigte, die Macht abzugeben. Konstantin wurde später geblendet und starb an den Folgen. Irene betrieb wieder eine bilderfreundliche Politik. Unter ihrer Herrschaft erlebte der universale Anspruch des byzantinischen Kaisertums mit der Kaiserkrönung Karls des Großen schweren Schaden. 802 wurde Irene, die politisch eher ungeschickt agiert hatte, gestürzt, womit die durch Leo III. begründete "Syrische Dynastie" (nach dem Herkunftsland Leos III.) endete.
Außenpolitisch war auf dem Balkan gegen die Bulgaren vorerst wenig auszurichten. 811 wurde sogar ein byzantinisches Heer unter Führung Kaiser Nikephoros’ I. durch den Bulgarenkhagan Krum vernichtet, Nikephoros fiel im Kampf. Erst Leo V. konnte sich mit Khan Omurtag vertraglich einigen. Leo V. war es auch, der 815 erneut einen bilderfeindlichen Kurs einschlug und so die zweite Phase des Ikonoklasmus einleitete. Im neunten und vor allem im zehnten Jahrhundert wurden einige bedeutende außenpolitische Erfolge erzielt, auch wenn unter der amorischen Dynastie (ab der Thronbesteigung Michaels II. 820) Byzanz zunächst Gebietsverluste verzeichnete (Kreta und Sizilien fielen an die Araber). Außerdem musste Michael II. einen Aufstand abwehren, den Thomas der Slawe mit Unterstützung durch das Paulikianertum im Osten des Reiches begonnen hatte und 820 bis vor die Mauern Konstantinopels führte. Unter Michaels Sohn und Nachfolger Theophilos kam es schließlich zu einem letzten Aufflackern des Bilderstreits, welcher aber unter Michael III. (842–867), dem letzten Kaiser der Amorischen Dynastie, 843 endgültig überwunden wurde. Unter Michael III. vollzog sich die Annahme des Christentums durch die Bulgaren – und zwar in dessen östlicher Form, womit die byzantinische Kultur, die nun immer mehr aufblühte, auch zur Leitkultur für das Bulgarische Reich wurde. Der Bilderstreit wurde endgültig beendet, während in Kleinasien die Paulikianer vernichtet wurden und mehrere Siege über die Araber gelangen. Flottenexpeditionen nach Kreta und sogar Ägypten wurden unternommen, blieben aber erfolglos. Byzanz hatte die Phase der reinen Abwehrkämpfe damit überwunden.
Die makedonische Dynastie.
Michael III. erhob 866 Basileios zum Mitkaiser, doch ließ Basileios Michael im folgenden Jahr ermorden, bestieg selbst den Thron und begründete damit die Makedonische Dynastie. Michaels Andenken wurde stark verunglimpft – zu Unrecht, wie die neuere Forschung betont. Kulturell erlebte Byzanz jedoch wieder eine neue Blüte (sogenannte "Makedonische Renaissance") wie etwa zur Zeit Konstantins VII., der von Romanos I. Lakapenos zunächst von den Regierungsgeschäften ausgeschlossen worden war. Außenpolitisch gewann das Reich zudem nach und nach an Boden: Unter Nikephoros II. Phokas wurde Kreta zurückerobert; die Grenzsicherung im Osten lag nun weitgehend in den Händen der "Akriten." Johannes I. Tzimiskes, der wie Nikephoros II. nur als Regent für die Söhne Romanos’ II. regierte, weitete den byzantinischen Einfluss bis nach Syrien und kurzzeitig sogar bis nach Palästina aus, während die Bulgaren niedergehalten wurden. Byzanz schien wieder auf dem Weg zur regionalen Hegemonialmacht zu sein.
Das Reich erreichte unter den makedonischen Kaisern des zehnten und frühen elften Jahrhunderts seinen Machthöhepunkt. Durch die im Jahr 987 vollzogene Heirat der Schwester von Kaiser Basileios II. mit dem Kiewer Großfürsten Wladimir I. breitete sich der orthodoxe Glaube allmählich auf dem Gebiet der heutigen Staaten Ukraine, Weißrussland und Russland aus. Die russische Kirche unterstand dem Patriarchen von Konstantinopel. Basileos II. eroberte in jahrelangen Kämpfen das Erste Bulgarische Reich, was ihm den Beinamen "Bulgaroktónos" („Bulgarentöter“) einbrachte. Im Jahr 1018 wurde Bulgarien eine byzantinische Provinz, und auch im Osten wurde Basileios expansiv tätig.
Trotzdem durchlief das Byzantinische Reich bald darauf eine Schwächeperiode, die in hohem Grade durch das Wachstum des Landadels verursacht wurde, der das Themensystem untergrub. Ein Problem dabei war, dass das stehende Heer durch teils unzuverlässige Söldnerverbände ersetzt werden musste (was sich 1071 in der Schlacht bei Manzikert gegen die türkischen Seldschuken bitter rächen sollte). Bloß mit seinen alten Feinden, wie dem Kalifat der Abbasiden konfrontiert, hätte es sich vielleicht erholen können, aber um die gleiche Zeit erschienen neue Eindringlinge: die Normannen, die Süditalien eroberten (Fall von Bari 1071), und die Seldschuken, die hauptsächlich an Ägypten interessiert waren, aber auch Raubzüge nach Kleinasien, dem wichtigsten Rekrutierungsgebiet für die byzantinische Armee, unternahmen. Nach der Niederlage von Kaiser Romanos IV. bei Manzikert gegen Alp Arslan, den seldschukischen Sultan, ging der Großteil Kleinasiens verloren, unter anderem auch, da innere Kämpfe um den Kaiserthron ausbrachen und keine gemeinsame Abwehr gegen die Seldschuken errichtet wurde. Der Verlust Kleinasiens erfolgte jedoch nicht unmittelbar nach der Niederlage; vielmehr begann der Einfall der Seldschuken erst drei Jahre danach, als der neue Kaiser sich nicht an die Abmachungen hielt, die zwischen Romanos IV. und dem Sultan getroffen worden waren, und die Seldschuken so einen Vorwand zur Invasion hatten.
Die Zeit der Komnenenkaiser.
Das nächste Jahrhundert der byzantinischen Geschichte wurde durch die Dynastie Alexios I. Komnenos, geprägt, der 1081 an die Macht gelangte und anfing, die Armee auf Basis eines Feudalsystems wiederherzustellen. Es gelangen ihm bedeutende Fortschritte gegen die Seldschuken und auf dem Balkan gegen die ebenfalls turkvölkischen Petschenegen. Sein Ruf nach westlicher Hilfe brachte ungewollt den Ersten Kreuzzug hervor, denn statt der Söldner, um die der Kaiser gebeten hatte, kamen selbstständige Ritterheere, die unabhängig von seinen Befehlen agierten. Alexios verlangte zwar, dass jeder der Kreuzfahrerfürsten, der mit seinem Heer durch Byzanz zu ziehen gedachte, ihm den Lehnseid leisten sollte. Doch obwohl diese Unterwerfung von den meisten Kreuzfahrerfürsten akzeptiert und der Lehenseid geleistet wurde, vergaßen sie den Schwur gegenüber Alexios recht bald.
Weiterhin gestalteten sich die Beziehungen nach dem Ersten Kreuzzug, in dessen Verlauf es bereits zu jenen Spannungen gekommen war, zunehmend feindselig. Für weiteren Konfliktstoff sorgte der Briefwechsel zwischen dem fatimidischen Herrscher Ägyptens und dem byzantinischen Kaiser Alexios. In einem Brief, den Kreuzfahrer zu lesen bekamen, distanzierte sich Kaiser Alexios ausdrücklich von den lateinischen Eroberern des Heiligen Landes. Angesichts der traditionell guten und strategisch wichtigen Beziehungen zwischen den Fatimiden und Byzanz war dies verständlich, aber auch dadurch begründet, dass den Byzantinern das Konzept eines „Heiligen Krieges“ eher fremd war.
Ab dem zwölften Jahrhundert wurde paradoxerweise die Republik Venedig – einst bis etwa ins neunte Jahrhundert selbst ein Vorposten byzantinischer Kultur im Westen – zu einer ernsten Bedrohung für die Integrität des Reiches. Die gegen militärische Unterstützung beim Kampf gegen Normannen und Seldschuken verliehenen Handelsvorrechte versuchte Manuel I. durch Verhaftung aller Venezianer zurückzunehmen. Ein ähnliches Vorgehen erfolgte gegen die übrigen italienischen Händler. 1185 wurden zahlreiche "Lateiner" in einem pogromartigen Massaker umgebracht. Im selben Jahr erhoben sich die Bulgaren nördlich des Balkangebirges unter der Führung der Asseniden und konnten 1186 das Zweite Bulgarische Reich errichten. Dennoch erlebte Byzanz in dieser Zeit auch eine kulturelle Blüte. Unter den Kaisern Johannes II. Komnenos, dem Sohn des Alexios I., und dessen Sohn Manuel I. gelang es, die byzantinische Stellung in Kleinasien und auf dem Balkan zu festigen. Manuel I. hatte sich nicht nur mit den Angriffen des normannischen Königreiches in Süditalien und dem Zweiten Kreuzzug (1147–1149) auseinanderzusetzen, er betrieb auch eine ehrgeizige Westpolitik, die auf territoriale Gewinne in Italien und Ungarn abzielte; dabei geriet er in Konflikt mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa. Im Osten konnte er gegen die Seldschuken Erfolge erzielen. Sein Versuch, ihr Reich völlig zu unterwerfen, endete allerdings in der Niederlage bei Myriokephalon 1176.
In der Folge konnten die Seldschuken ihre Macht auf die benachbarten muslimischen Reiche (unter anderem das Reich der ebenfalls türkischen Danischmenden) in Kleinasien und auch gegen Byzanz zur Mittelmeerküste hin ausdehnen. Andronikos I., der letzte Komnenenkaiser, errichtete eine kurze, aber brutale Schreckensherrschaft (1183–1185), in deren Folge das von Alexios I. begründete Regierungssystem, das vor allem auf der Einbindung der Militäraristokratie beruhte, zusammenbrach. Damit verkamen auch die schlagkräftigen und straff organisierten Streitkräfte, mit denen das Reich unter Alexios, Johannes und Manuel ein letztes Mal erfolgreich in die Offensive gegangen war.
Das Reich wurde unter den nachfolgenden Kaisern aus dem Hause der Angeloi von schweren inneren Krisen erschüttert, die schließlich dazu führten, dass sich Alexios IV. an die Kreuzfahrer wandte und sie dazu bewog, für ihn und seinen Vater um den Thron zu kämpfen. Als die erhoffte Bezahlung ausblieb, kam es zur Katastrophe: Unter dem Einfluss Venedigs eroberten und plünderten die Ritter des Vierten Kreuzzugs 1204 Konstantinopel und gründeten das kurzlebige Lateinische Kaiserreich. Dies bewirkte eine dauerhafte Schwächung der byzantinischen Macht und sorgte dafür, dass sich die Kluft zwischen den orthodoxen Griechen und den katholischen "Lateinern" weiter vertiefte.
Die spätbyzantinische Zeit.
Die byzantinischen Reiche im Exil.
Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Teilnehmer des Vierten Kreuzzugs 1204 entstanden drei byzantinische Nachfolgestaaten: das Kaiserreich Nikaia, wo Kaiser Theodor I. Laskaris im Exil die byzantinische Tradition aufrechterhielt, das Despotat Epirus und das Kaiserreich Trapezunt, das sich unter den Nachkommen der Komnenen bereits vor der Eroberung Konstantinopels abgespalten hatte. Theodoros I. Laskaris und seinem Nachfolger Johannes III. Dukas Batatzes gelang es, in Westkleinasien ein wirtschaftlich blühendes Staatswesen aufzubauen und die Grenze zu den Seldschuken, die sich seit ihrer Niederlage gegen das Mongolische Reich 1243 im Niedergang befanden, zu stabilisieren. Gestützt auf diese Machtbasis konnten die Laskariden erfolgreich auch in Europa expandieren, Thrakien und Makedonien für Byzanz zurückerobern und die Konkurrenten um die Rückgewinnung Konstantinopels (das Reich von Epiros, das nach einer Niederlage gegen die Bulgaren 1230 stark geschwächt war, und das Zweite Bulgarische Reich, das auch durch einen Mongoleneinfall 1241 stark beeinträchtigt wurde) aus dem Feld schlagen.
Nach der kurzen Regierung des hochgebildeten Theodoros II. Laskaris übernahm der erfolgreiche Feldherr Michael VIII. Palaiologos die Regentschaft für den minderjährigen Johannes IV. Laskaris, den er schließlich blenden und in ein Kloster schicken ließ, und begründete so die neue Dynastie der Palaiologen, die das Reich bis zu seinem Untergang regieren sollte.
Die Zeit der Palaiologenkaiser.
Michael konnte eine Allianz seiner Gegner (Despotat Epiros, Fürstentum Achaia, Königreich Sizilien, Serbien und Bulgarien) in der Schlacht bei Pelagonia in Makedonien 1259 besiegen und durch einen glücklichen Zufall Konstantinopel 1261 zurückerobern. Das Reich war somit wiederhergestellt, aber große Teile seines ehemaligen Gebietes unterstanden nicht mehr seiner Kontrolle, denn die Herrscher, die sich nach dem Zusammenbruch im Jahr 1204 in diesen Teilgebieten etabliert hatten, waren nicht geneigt, sich Konstantinopel unterzuordnen. Auch Konstantinopel war nicht mehr die glanzvolle Metropole von einst: Die Einwohnerzahl war erheblich geschrumpft, ganze Stadtviertel verfallen, und beim Einzug des Kaisers waren zwar noch reichlich die Spuren der Eroberung von 1204 zu sehen, aber nirgendwo sah man Zeichen des Wiederaufbaus. Byzanz war nicht mehr die potente Großmacht, sondern nur noch ein Staat von höchstens regionaler Bedeutung. Michaels Hauptsorge galt aber nun der Sicherung des europäischen Besitzstandes und vor allem der Hauptstadt gegen erneute Kreuzzugsversuche aus dem Westen (vor allem durch Karl I. von Anjou, der die Staufer in Unteritalien ablöste); deshalb ging er 1274 auch die innenpolitisch höchst umstrittene Union von Lyon mit der Westkirche ein, um den Papst von der Unterstützung von Kreuzzügen abzuhalten. Als Karl I. von Anjou dennoch einen Angriff vorbereitete, setzte die byzantinische Diplomatie 1282 erfolgreich einen Aufstand in Sizilien in Gang, die Sizilianische Vesper. Daneben aber vernachlässigten die Palaiologen die Grenzverteidigung im Osten, was den verschiedenen türkischen Fürstentümern die Expansion in das byzantinische Kleinasien ermöglichte, das dem Reich in den 1330er Jahren sukzessive verloren ging. Nur die Stadt Philadelphia blieb anschließend in byzantinischer Hand, bevor auch sie 1390 an die Osmanen fiel.
Während sich in Kleinasien auf dem ehemaligen byzantinischen Reichsgebiet verschiedene souveräne türkische Fürstentümer (Mentesche, Aydin, Germiyan, Saruchan, Karesi, Teke, Candar, Karaman, Hamid, Eretna und die Osmanen in Bithynien) im Zuge der Auflösung des Sultanats der Rum-Seldschuken etablierten, stießen die Palaiologen in einer letzten, kraftvollen Offensive gegen die lateinische Herrschaft in Griechenland und annektierten bis 1336 ganz Thessalien und 1337 das durch die Familie Orsini dominierte Despotat Epirus direkt ins Byzantinische Reich. Unterdessen sah sich Kaiser Johannes V. Palaiologos mit den dramatischen Folgen der Großen Pestpandemie, auch „Schwarzer Tod“ genannt, in den Jahren 1346 bis 1353 konfrontiert, die das Fundament des Staates erschütterten. Darüber hinaus leistete sich Byzanz, obwohl an seinen Reichsgrenzen arg durch fremde Mächte bedrängt, mehrere Bürgerkriege, die längsten (1321–1328) zwischen Andronikos II. Palaiologos und seinem Enkel Andronikos III. Palaiologos. Diesem „Vorbild“ folgend, trugen ebenso Johannes V. Palaiologos und Johannes VI. Kantakuzenos mehrere Machtkämpfe (1341–1347 und 1352–1354) gegeneinander aus; dabei suchten beide Parteien die Hilfe der Nachbarn (Serben, Bulgaren, aber auch Aydın und Osmanen). Dies ermöglichte dem Serbenreich unter Stefan IV. Dušan den Aufstieg zur beherrschenden Macht des Balkans in den Jahren 1331–1355. So gerieten die Bulgaren nach der Schlacht bei Küstendil 1330 in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Serbien, außerdem errang Stefan bis 1348 die Hegemonie über weite Teile Makedoniens, Albaniens, Despotat Epirus und Thessaliens, die zuvor unter der Herrschaft des byzantinischen Kaisers gestanden hatten. Mit seiner Krönung zum Zaren der Serben und Selbstherrscher der Rhomäer beanspruchte dieser auch den byzantinischen Kaiserthron und die Herrschaft über Konstantinopel. Es gelang ihm aber nicht einmal, die zweite byzantinische Hauptstadt Thessaloniki zu erobern, und sein Großserbisches Reich zerfiel bereits nach seinem Tod 1355 in ein Konglomerat mehr oder weniger unabhängiger serbischer Fürstentümer (Despotate).
Während also die christliche Staatenwelt des Balkans zerstritten war und sich gegenseitig befehdete, setzten sich seit 1354 die Osmanen in Europa fest und expandierten in das byzantinische Thrakien, das sie in den 1360er Jahren großteils eroberten. Ein präventiver Schlag des südserbischen Königs Vukašin Mrnjavčević im Bündnis mit dem bulgarischen Zaren Iwan Schischman von Weliko Tarnowo gegen das Zentrum der osmanischen Herrschaft in Europa, Adrianopel, endete, trotz zahlenmäßiger Überlegenheit, in der Niederlage an der Mariza 1371. Durch den Sieg über die beiden slawischen Regionalmächte gewann der osmanische Sultan einen Teil Bulgariens und das serbische Makedonien, damit die Herrschaft über den südlichen Balkan. Schließlich zwang er 1373 den bulgarischen Herrscher, das Supremat der Osmanen anzuerkennen. Diesem Beispiel folgten das zu einem Kleinstaat gewordene Byzanz (Konstantinopel samt Umland, Thessaloniki mit Umland, Thessalien, einige Ägäisinseln, Despotat Morea) und das Nordserbische Reich des Fürsten Lazar Hrebeljanović, der ebenfalls ein Vasall der Osmanen wurde. Mehrmals ersuchte Byzanz den Westen um Hilfe und bot dafür sogar die Kirchenunion an, so 1439 auf dem Konzil von Ferrara und Florenz, was jedoch am Widerstand der byzantinischen Bevölkerung scheiterte („Lieber den Sultansturban als den Kardinalshut“).
Nach der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 und der Niederlage der westlichen Kreuzfahrer bei Nikopolis 1396 schien die Lage des Reiches aussichtslos. Erst die vernichtende Niederlage der Osmanen gegen Timur bei Angora 1402, der den Byzantinern wohlgesinnt war (bei dem Versuch Konstantinopel 1402 zu belagern, erschienen Timurs Unterhändler in Sultans Bayezid I. Lager und forderten ihn auf, dem christlichen Kaiser seine Gebiete zurückzugeben, die er ihm „gestohlen“ habe) und das als Resultat der Schlacht entstandene Chaos im Osmanenreich, gewährten den Griechen eine letzte Atempause. Doch die Möglichkeit, den Todesstoß durch die Osmanen abzuwenden, hatte das Reich durch den Entzug der dafür notwendigen territorialen Basis und Ressourcen nicht mehr, so dass einzig der Weg der Diplomatie übrig blieb. Die Gebietsverluste gingen dennoch weiter, da sich die europäischen Mächte auf kein Hilfskonzept für das bedrohte Byzanz einigen konnten. Besonders nach 1402 sahen sie dafür keine Notwendigkeit, befand sich doch das einst potente Türkenreich scheinbar im Zustand der inneren Auflösung – durch diesen fatalen Irrtum wurde die einmalige Chance vergeben, die Gefahr, die von der beträchtlich geschwächten Osman-Dynastie ausging, für alle Zeit auszuschalten.
Sultan Murad II., unter dem die Konsolidierungsphase des osmanischen Interregnums ihr Ende fand, nahm die Expansionspolitik seiner Vorfahren erneut auf. Nachdem er 1422 erfolglos Konstantinopel belagert hatte, schickte er einen Plünderungszug gegen das Despotat von Morea, die kaiserliche Sekundogenitur in Südgriechenland. 1430 annektierte er Teile des „fränkisch“ dominierten Epirus durch die Einnahme von Janina, während sich Fürst Carlo II. Tocco, als dessen Lehnsnehmer, in Arta mit dem „Rest“ abzufinden hatte (die Dynastie der Tocco wurde durch die Osmanen bis 1480 ganz aus dem heutigen Griechenland – Epirus, Ionische Inseln – verdrängt, wodurch die Herrschaft der „Franken“ über Zentralgriechenland, die seit 1204 bestanden hatte, bis auf wenige venezianische Festungen, endgültig ein Ende fand). Noch im gleichen Jahr besetzte er das seit 1423 venezianisch dominierte Thessaloníki, welches die Handelsrepublik Venedig von Andronikos Palaiologos, einem Sohn Kaiser Manuels erworben hatte, da jener im Glauben war, die Stadt alleine gegen die Türken nicht behaupten zu können. Alsbald zog er gegen das Königreich Serbien des Fürsten Georg Branković, der formell ein Vasall der Hohen Pforte war, da sich dieser weigerte, seine Tochter Mara dem Sultan zur Frau zu geben.
Bei einer osmanischen Strafexpedition Richtung Donau wurde 1439 die serbische Festung Smederevo zerstört und 1440 Belgrad erfolglos belagert. Der osmanische Rückschlag bei Belgrad rief seine christlichen Gegner auf den Plan. Unter der Führung Papst Eugens IV., der sich mit der Kirchenunion von Florenz von 1439 am Ziel sah, wurde erneut für einen Kreuzzug gegen die „Ungläubigen“ geplant. Ungarn, Polen, Serbien, Albanien, sogar das türkische Emirat Karaman in Anatolien, gingen eine anti-osmanische Allianz ein, doch durch den Ausgang der Schlacht bei Warna 1444 unter Władysław, König von Polen, Ungarn und Kroatien, und der zweiten Schlacht auf dem Amselfeld 1448 unter dem ungarischen Reichsverweser Johann Hunyadi, zerschlugen sich endgültig alle Hoffnungen der Christen, das Byzantinische Reich vor einer osmanischen Annexion zu bewahren.
Der Fall von Byzanz.
Am 29. Mai 1453, nach knapp zweimonatiger Belagerung, fiel die Reichshauptstadt an Mehmed II. Der letzte byzantinische Kaiser Konstantin XI. starb während der Kämpfe um die Stadt.
Der 29. Mai gilt auch heute noch bei den Griechen als Unglückstag, denn es begann die lange türkische Fremdherrschaft, während der nach teilweiser Sprachübernahme nur die Religion als bindende Kraft erhalten blieb. Die Anfangs- und Enddaten der Unabhängigkeit der Hauptstadt, 395 und 1453, galten lange auch als zeitliche Grenzen des Mittelalters. In der Folge wurden auch die verbliebenen Staaten byzantinischen Ursprungs erobert: das Despotat Morea 1460, das Kaiserreich Trapezunt 1461 und das Fürstentum Theodoro 1475. Lediglich Monemvasia unterstellte sich 1464 dem Protektorat von Venedig, das die Stadt bis 1540 gegen die Türken zu halten vermochte. Die Stadt stellte staatsrechtlich das dar, was vom „Römischen Reich“ im Lauf der Jahrhunderte übrig blieb.
Der Fall von Byzanz war einer der Wendepunkte von weltgeschichtlicher Bedeutung. Das Byzantinische Reich, das sich als eines der langlebigsten der Weltgeschichte erwiesen hatte, war damit politisch untergegangen (kulturell wirkt es bis in die heutige Zeit fort); mit ihm ging eine über zweitausendjährige Ära zu Ende. Aufgrund der Eroberung des Byzantinischen Reiches und Blockade des Bosporus sowie des Landwegs nach Asien durch die osmanischen Türken begann allerdings eine neue Ära, die das Zeitalter der europäischen Expansion und der Renaissance (begünstigt durch byzantinische Gelehrte, die nach dem Fall von Konstantinopel nach Westeuropa flohen) einleitete.
Verfassungs-, Wirtschafts- und kulturgeschichtliche Skizzierung.
Das Byzantinische Reich besaß – im Gegensatz zu anderen Reichen des Mittelalters – auch nach dem Einfall der Araber eine recht straff organisierte und effiziente Bürokratie, deren Zentrum Konstantinopel war. Daher konnte Ostrogorsky von einem "Staat" im modernen Sinne sprechen. Das Reich verfügte neben einem effizienten Verwaltungsapparat (siehe auch Ämter und Titel im Byzantinischen Reich) auch über ein organisiertes Finanzwesen sowie über eine stehende Armee. Kein Reich westlich des Kaiserreichs China konnte etwa über so große Beträge verfügen wie Byzanz. Zahlreiche Handelsrouten verliefen durch byzantinisches Gebiet und Konstantinopel selbst fungierte als ein wichtiger Warenumschlagsplatz, wovon Byzanz erheblich profitierte, etwa durch den Ein- und Ausfuhrzoll "(kommerkion)." Die wirtschaftliche Kraft und Ausstrahlung von Byzanz war so groß, dass der goldene Solidus zwischen dem vierten und elften Jahrhundert die Leitwährung im Mittelmeerraum war. Der Kaiser wiederum herrschte de facto fast uneingeschränkt über Reich (das sich immer noch dem Gedanken der Universalmacht verpflichtet fühlte) und Kirche, und dennoch war in keinem anderen Staat eine so große Aufstiegsmöglichkeit in die Aristokratie gegeben wie in Byzanz.
Nur Byzanz, so die zeitgenössische Vorstellung, war die Wiege des „wahren Glaubens“ und der Zivilisation. In der Tat war das kulturelle Niveau in Byzanz zumindest bis ins Hochmittelalter hinein höher als in allen anderen Reichen des Mittelalters. Dabei spielte auch der Umstand eine Rolle, dass in Byzanz wesentlich mehr vom antiken Erbe bewahrt wurde als in Westeuropa; ebenso war der Bildungsstandard lange Zeit höher als im Westen.
In weiten Teilen ist nur wenig über das „Neue Rom“ bekannt. Relativ wenige Aktenstücke sind überliefert, und in Teilen schweigt auch die byzantinische Geschichtsschreibung, die in der Spätantike mit Prokopios von Caesarea einsetzte und im Mittelalter mit Michael Psellos, Johannes Skylitzes, Anna Komnena und Niketas Choniates über einige bedeutende Vertreter verfügte (siehe dazu Quellenüberblick). Wenngleich für einige Zeiträume nur „kirchliche“ Quellen zur Verfügung stehen, darf dies nicht zu der Annahme verleiten, Byzanz sei ein theokratischer Staat gewesen. Die Religion war wohl oft bestimmend, aber die Quellenlage ist in Teilen und besonders für die Periode vom siebten bis neunten Jahrhundert zu dürftig, um ein klares Bild zu erhalten. Umgekehrt hat sich die Forschung auch von der Vorstellung eines byzantinischen Cäsaropapismus, in dem der Kaiser fast absolut über die Kirche geherrscht habe, verabschiedet.
Militär.
Byzanz verfügte während seiner gesamten Geschichte über ein stehendes Heer, ganz im Gegensatz zu den mittelalterlichen Reichen in Europa. Das römische Heerwesen der Spätantike wurde in der mittelbyzantinischen Zeit vollkommen neu organisiert. In der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts entstanden feste Militärdistrikte (Themen), die lange Zeit die Eckpfeiler der byzantinischen Verteidigung gegen äußere Feinde darstellten. Heer und Flotte zerfielen in je eine Zentraleinheit in der Hauptstadt und die in den Provinzen stationierten örtlichen Truppen, wobei die vier großen Themenarmeen des siebten und achten Jahrhunderts wohl je ca. 10.000 Mann umfasst haben dürften. Insgesamt erwies sich die byzantinische Armee als eine recht effektive Streitmacht (freilich abhängig von den jeweiligen Befehlshabern und Logistik), deren Gesamtstärke aber nur ungefähr schätzbar ist. Im siebten Jahrhundert dürfte sie bei rund 100.000 Mann gelegen haben, im achten Jahrhundert bei ca. 80.000 Mann und um 1000 bei ca. 250.000 Mann. Allerdings verlor die byzantinische Armee im Laufe der Zeit an Schlagkraft, vor allem ab dem 13. Jahrhundert erwiesen sich die Truppen nicht mehr in der Lage, der äußeren Bedrohung effektiv standzuhalten. Byzanz hatte zu dieser Zeit keine ausreichenden finanziellen Mittel mehr und musste sich zudem stark auf Söldner stützen, was die Lage noch einmal verschlimmerte. Mit dem Verlust zentraler Gebiete (vor allem in Kleinasien an die Türken) schrumpfte auch die byzantinische Armee immer mehr zusammen und wurde zu einer marginalen Größe. Die byzantinische Marine, die in mittelbyzantinischer Zeit noch eine wichtige Rolle gespielt hatte, existierte in spätbyzantinischer Zeit kaum noch.
Kulturelles Fortwirken.
Nach dem Fall Konstantinopels 1453 brachten Flüchtlinge aus Byzanz, darunter zahlreiche Gelehrte, ihr naturwissenschaftlich-technisches Wissen und die alten Schriften der griechischen Denker in die westeuropäischen Städte und trugen dort maßgeblich zur Entfaltung der Renaissance bei. Am längsten bestand die byzantinische Kultur auf dem damals venezianischen Kreta fort, die als sogenannte „Byzantinische Renaissance“ in die Geschichte einging. Diese Reste autonomer hellenistisch-byzantinischer Kultur wurden mit der Eroberung der Insel durch die Osmanen 1669 beendet.
Bis heute wirkt die byzantinische Kultur vor allem im Ritus der östlich-orthodoxen Kirchen fort. Durch byzantinische Missionsarbeit verbreitete sich das orthodoxe Christentum bei vielen slawischen Völkern und ist bis in die Gegenwart die vorherrschende Konfession in Osteuropa und Griechenland, in Teilen von Südosteuropa und Kaukasien sowie bei den meisten arabischen Christen. Die byzantinische Kultur und Denkweise hat alle orthodoxen Völker tief geprägt.
Die slawischen Reiche auf dem Balkan und am Schwarzen Meer übernahmen neben der orthodoxen Kirche auch profane byzantinische Bräuche. Vor allem Russland, Serbien, die Ukraine und Weißrussland, aber auch in etwas kleinerem Maße Bulgarien sollten das Erbe des Byzantinischen Reiches fortführen.
Schon im neunten Jahrhundert kamen die Rus mit Byzanz in Kontakt, wodurch sich – trotz immer wiederkehrender Versuche von Seiten der Rus, Konstantinopel zu erobern – intensive wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen zwischen dem Byzantinischen Reich und dem Reich der Kiewer Rus entwickelten, die 988 zum Übertritt der Rus zum orthodoxen Glauben führten. In den folgenden Jahrhunderten wurden auf ostslawischem Gebiet zahlreiche prachtvolle Kirchen nach byzantinischem Vorbild gebaut. So hat russische Architektur und Kunst neben (meist späteren) skandinavischen und ursprünglich slawischen vor allem byzantinische Wurzeln. Dasselbe betrifft in vollem Maße auch die Architektur und die Kunst der Ukraine und Weißrusslands.
Nach dem Untergang des Byzantinischen Reichs übernahm dann das russische Moskowiterreich in vielen Teilen byzantinisches Zeremoniell. Der Patriarch von Moskau errang bald eine Stellung, deren Bedeutung der des Patriarchen von Konstantinopel ähnelte. Als wirtschaftlich mächtigste orthodoxe Nation betrachtete sich Russland bald als "Drittes Rom" in der Nachfolge Konstantinopels. Iwan III., Herrscher des Großfürstentums Moskau, heiratete die Nichte von Konstantin XI., Zoe, und übernahm den byzantinischen Doppeladler als Wappentier. Iwan IV., genannt „der Schreckliche“, war der erste moskowitische Herrscher, der sich schließlich offiziell zum "Zaren" krönen ließ.
Aber auch die osmanischen Sultane betrachteten sich als legitime Erben des Byzantinischen Reiches, obwohl die seldschukischen und osmanischen Türken jahrhundertelang Erzfeinde der Rhomäer waren und das Byzantinische Reich letztlich erobert hatten. Schon Sultan Mehmed II. bezeichnete sich als „Kayser-i Rum“ (Kaiser von Rom) – die Sultane stellten sich somit ganz bewusst in die Kontinuität des (Ost-)Römischen Reiches, um sich zu legitimieren. Das Osmanische Reich, das sich in der Auseinandersetzung mit Byzanz entwickelte, hatte mit diesem mehr als nur den geografischen Raum gemeinsam. Der Historiker Arnold J. Toynbee bezeichnete das Osmanische Reich – allerdings sehr umstritten – als Universalstaat des „christlich-orthodoxen Gesellschaftskörpers“. Eine staatsrechtliche Fortsetzung fand das Byzantinische Reich in ihm jedenfalls nicht.
Nicht zuletzt lebt das kulturelle und sprachliche Erbe von Byzanz in den heutigen Griechen fort, vor allem im modernen Griechenland und auf Zypern sowie in der griechisch-orthodoxen Kirche (vor allem auch im Patriarchat von Konstantinopel in Istanbul). Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts deckte sich das griechische Siedlungsgebiet zudem noch in weiten Teilen mit den byzantinischen Kernländern.
Besonders die Anhänger der Megali Idea wollte Anfang des 20. Jahrhunderts ein neues Byzantinisches Reich, eine Art hellenisches Großreich mit der Hauptstadt Konstantinopel erschaffen.
Demographische Verhältnisse.
Das Byzantinische Reich war ein polyethnischer Staat, dem außer Griechen unter anderem auch Armenier, Illyrer und Slawen, in spätantiker/frühbyzantinischer Zeit zudem Syrer und Ägypter (kleinere Teile zogen nach dem Verlust dieser Provinzen auch ins Kernreich) sowie stets eine jüdische Minderheit einschloss. Die meisten Gebiete, über die sich das Byzantinische Reich erstreckte, waren seit Jahrhunderten hellenisiert, also dem griechischen Kulturkreis angeschlossen. Hier lagen bedeutende Zentren des Hellenismus wie Konstantinopel, Antiochia, Ephesos, Thessaloniki und Alexandria; hier bildete sich auch die orthodoxe Form des Christentums heraus. Athen blieb in der Spätantike weiterhin wichtiges Kulturzentrum, bis Kaiser Justinian 529 die dortige neuplatonische Schule der Philosophie verbieten ließ. Anschließend verschoben sich die demographischen Verhältnisse, da die neben der Hauptstadt wirtschaftlich und militärisch bedeutsamsten Gebiete die orientalischen Provinzen des Reiches waren. Als diese verloren gingen, spielte Kleinasien eine wichtige Rolle, erst seit dem Frühmittelalter auch wieder der Balkan. Als Kleinasien nach 1071 teilweise und im 14. Jahrhundert endgültig an türkische Invasoren fiel, begann der Niedergang von der Groß- zur Regionalmacht und schließlich zum Kleinstaat.
Die Bevölkerung lag in spätantiker Zeit wohl bei ca. 25 Millionen, wenngleich nur Schätzungen möglich sind; Konstantinopel mag in dieser Zeit bis zu 400.000 Einwohner gezählt haben. Die Bevölkerungszahlen gingen bereits Mitte des 6. Jahrhunderts infolge von Seuchen und Kriegen zurück (genaue Zahlen sind nicht zu ermitteln), es folgte auch ein urbaner Niedergangsprozess, wenngleich es ab dem 9. Jahrhundert wieder zu einer demographischen und wirtschaftlichen Neubelebung kam. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts wird das Reich wohl rund 18 Millionen Einwohner gezählt haben. Die folgende Zeit war vor allem ab dem 13. Jahrhundert geprägt von starken Gebietsverlusten, entsprechend nahm die Einwohnerzahl stark ab; diese Tendenz war nicht wieder umzukehren, wobei auch die Hauptstadt immer mehr entvölkert wurde.
Grundlinien der Rezeption.
Die ältere, westliche Forschungsmeinung sah in Byzanz oft nur eine dekadente, halborientalische „Despotie“, so etwa Edward Gibbon. Dieses Bild wurde durch John Bagnell Bury, Cyril Mango, Ralph-Johannes Lilie, John F. Haldon und andere längst verworfen. Es wird inzwischen immer darauf hingewiesen, dass Byzanz als Vermittler von kulturellen Werten und dem Wissen der Antike Unschätzbares geleistet hat. Es war zudem der „Schutzschild“ Europas über viele Jahrhunderte hinweg, erst gegenüber den Persern und Steppenvölkern, später gegenüber den muslimischen Kalifaten und Sultanaten. Ironischerweise konnte das Byzantinische Reich diese Funktion erst nach der verheerenden Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 nicht mehr wahrnehmen.
Quellenüberblick.
Die erzählenden Quellen stellen das Grundgerüst der byzantinischen Geschichte dar, zumal nur wenige Aktenstücke den Untergang von Byzanz überdauert haben. Für die spätantike Phase des Reiches sind vor allem Ammianus Marcellinus (der noch Latein schrieb), Olympiodoros von Theben, Priskos, Malchos von Philadelphia, Zosimos sowie Prokopios von Kaisareia zu nennen. An Letzteren schlossen Agathias und Menander Protektor an. Als das letzte Geschichtswerk der Antike können die von Theophylaktos Simokates verfassten "Historien" angesehen werden. In mittelbyzantinischer Zeit entstanden bis Anfang des neunten Jahrhunderts zwar anscheinend auch Geschichtswerke (Traianos Patrikios), doch sind diese nicht erhalten. Sie wurden aber von den Chronisten Nikephoros und Theophanes benutzt. An Theophanes schloss der sogenannte Theophanes Continuatus an, daneben entstanden im zehnten Jahrhundert die sogenannte "Logothetenchronik" sowie das Geschichtswerk des Leon Diakonos. Auch regionale Chroniken wie die Chronik von Monemvasia sind zu nennen. Im elften Jahrhundert schrieben Michael Psellos und Johannes Skylitzes. Im zwölften Jahrhundert unter anderem Anna Komnena und Johannes Kinnamos. Für die nachfolgende spätbyzantinische Zeit sind vor allem Niketas Choniates, Nikephoros Gregoras, Georgios Akropolites, Theodoros Skutariotes und Georgios Pachymeres von Bedeutung. Über die letzten Jahre des Reiches berichten schließlich Laonikos Chalkokondyles, Doukas, Georgios Sphrantzes sowie Michael Kritobulos.
Daneben ist eine Vielzahl von hagiographischen Werken zu nennen, ebenso sind die diversen Fachschriften – etwa im medizinischen, geographischen, administrativen (Philotheos) oder militärischen Bereich sowie das wichtige mittelbyzantinische Lexikon "Suda" –, Briefe, Siegel, Münzen und archäologische Befunde etc. von großer Bedeutung.
Literatur.
Bezüglich aktueller bibliografischer Informationen sei vor allem auf die "Byzantinische Zeitschrift" hingewiesen. Daneben siehe unter anderem die Hinweise im "Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik." Eine der wichtigsten Forschungsinstitutionen der Byzantinistik stellt die "Dumbarton Oaks Research Library and Collection" dar (siehe auch Dumbarton Oaks Papers). |
586 | 539420 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=586 | Björk | Björk Guðmundsdóttir (* 21. November 1965 in Reykjavík) ist eine isländische Sängerin, Musikproduzentin, Komponistin, Songwriterin und Schauspielerin mit einem breiten Interesse an unterschiedlichen Arten von Musik, unter anderem Popmusik, Elektronische Musik, Trip-Hop, Alternative Rock, Jazz, Folk-Musik und Klassische Musik. Bislang hat sie weltweit über 20 Millionen Alben verkauft.
Kindheit und Jugend.
Björk wurde am 21. November 1965 als Tochter von Hildur Rúna Hauksdóttir und Guðmundur Gunnarsson geboren. Ab 1970 besuchte sie die Musikschule "Barnamúsíkskóli Reykjavíkur", auf der sie zehn Jahre lang u. a. in Gesang, Klavier und Flöte unterrichtet wurde.
Frühe Karriere.
Im Alter von elf Jahren erlernte Björk an der Grundschule das Klavierspiel. Einer der Lehrer sandte eine Aufnahme, auf der sie das Lied "I Love To Love" von Tina Charles singt, an den isländischen Radiosender Radio One. Während der Ausstrahlung der Aufnahme in ganz Island wurde ein Mitarbeiter des isländischen Plattenverlegers Fálkinn auf Björk aufmerksam und bot ihr daraufhin einen Vertrag an. Mit Hilfe ihres Stiefvaters, der Gitarre spielte, nahm sie 1977 ihr erstes Album auf, das einfach nur "Björk" heißt. Es enthielt verschiedene isländische Kinderlieder und Coverversionen populärer Titel wie z. B. "The Fool on the Hill" von den Beatles (auf isländisch "Álfur Út Úr Hól"). Das Album wurde ein großer Erfolg in Island, blieb außerhalb der Insel aber unbeachtet.
Schon bald begann Björk, sich für Punk-Musik zu interessieren. Mit 14 Jahren gründete sie die Mädchen-Punkgruppe "Spit and Snot", der 1979 die Fusionjazz-Gruppe Exodus folgte. 1980 verließ sie die Musikschule und gründete im Jahr 1981 zusammen mit Jakob Magnússon, dem Bassisten von Exodus, die Gruppe Tappi Tíkarrass. Im selben Jahr veröffentlichten sie die Single "Bitið fast í vitið", zwei Jahre später das erste Album, "Miranda".
Danach arbeitete Björk mit den Musikern Einar Örn Benediktsson und Einar Melax von der Musikgruppe Purrkur Pillnikk und Guðlaugur Óttarsson, Sigtryggur Baldursson und Birgir Mogensen von Þeyr. Nachdem sie Lieder geschrieben und geprobt hatten, nannten sie sich KUKL, was auf Isländisch so viel wie "Hexerei" bedeutet. Sie fanden sehr schnell ihren eigenen Klang, den man am ehesten mit Gothic vergleichen könnte. Schon bei KUKL begann Björk, ihren unverkennbaren Gesangsstil zu entwickeln.
KUKL tourten mit der englischen Anarcho-Punk-Gruppe Crass durch Island, besuchten später England und 1984 oder 1985 West-Berlin, wo sie in einem Veranstaltungslokal namens NOX vor 20 Zuschauern und später in einem besetzten Haus auftraten. Max Goldt beschreibt diese Auftritte in einem seiner Bücher ausführlich. KUKL traten auch mit der Band Flux of Pink Indians auf. Aus dieser Zusammenarbeit gingen die zwei Alben "The Eye" (1984) und "Holidays in Europe" (1986, beide bei Crass Records) hervor. So lernten sie auch Derek Birkett (Bassist bei Flux) und Tim Kelly (Gitarre) kennen, die 1985 das Label One Little Indian Records gründeten. Im Sommer 1986 formten Björk und einige Mitglieder von KUKL eine neue Gruppe namens Pukl, die schon bald in The Sugarcubes umbenannt wurde.
Popularität.
Die erste Single der Sugarcubes, "Ammæli" ("Geburtstag"), wurde gleich ein großer Erfolg in England, und die Gruppe erlangte in den USA und England schnell Kultstatus. Bald darauf folgten auch Anrufe von Plattenfirmen. Die Gruppe unterschrieb bei One Little Indian in England und bei Elektra Records in den Vereinigten Staaten und nahm 1988 ihr erstes Album, "Life’s Too Good", auf. Das Album brachte den Sugarcubes innerhalb kurzer Zeit internationale Bekanntheit. Damit waren sie die erste isländische Band, die weltweit populär wurde. Während der Zeit bei den Sugarcubes arbeitete Björk an verschiedenen anderen Projekten. Auf dem Album "Gling-Gló", das in Island veröffentlicht wurde, nahm sie zusammen mit der Bebop-Gruppe "Tríó Guðmundar Ingólfssonar" eine Sammlung von populären Jazz-Stücken in isländischer Sprache auf, z. B. "Ó Pabbi Minn (O mein Papa)" und "Ég veit ei hvað skal segja". 1991 sang sie ein Lied auf dem "Island"-Album von Current 93 und Hilmar Örn Hilmarsson alias "HÖH". Zudem lieferte sie den Gesang zum Album "Ex:El" von 808 State. Mit dieser Zusammenarbeit wuchs ihr Interesse an House-Musik.
Als sich 1992 zwischen Björk und Einar Örn Spannungen aufbauten, entschlossen sie sich dazu, getrennte Wege zu gehen. Björk zog nach London und dachte über eine Solokarriere nach. Sie begann, mit Nellee Hooper zusammenzuarbeiten, der schon Alben für Musikgruppen wie z. B. Massive Attack produziert hatte. Mit ihm zusammen produzierte sie ihren ersten internationalen Soloerfolg "Human Behaviour", dem im Juni 1993 ihr Soloalbum-Debüt folgte, das den schlichten Namen "Debut" trug und von den Kritikern sehr gut aufgenommen wurde. Vom New Musical Express als „Album des Jahres“ betitelt, erreichte es in den Vereinigten Staaten Platin-Status. Es enthält sowohl Lieder, die Björk schon als Jugendliche geschrieben hatte, als auch solche, die zusammen mit Hooper entstanden.
Der Erfolg von "Debut" veranlasste Björk dazu, verstärkt mit anderen Künstlern zusammenzuarbeiten, z. B. mit David Arnold am Track "Play Dead", der im Film "The Young Americans" als Titelmusik verwendet wurde. 1994 kehrte sie zurück ins Studio, um an ihrem nächsten Album zu arbeiten. Diesmal halfen ihr Nellee Hooper, Tricky, Graham Massey von 808 State und der Produzent elektronischer Musik Howie B. Das Album "Post" enthält vorwiegend Songs, die von Liebe und Beziehungen handeln, darunter auch wütende und konfrontative Tracks. Wie schon jene von "Debut" waren auch die Songs von "Post" teilweise bereits Jahre zuvor geschrieben worden.
Des Weiteren schrieb Björk das Lied "Bedtime Story" für Madonnas Album "Bedtime Stories". Madonna hätte gern Material für ein ganzes Album gehabt, Björk lehnte dies jedoch ab. Auch deren Einladung lehnte Björk mit der Begründung ab, dass ein Zusammentreffen zufällig und nicht unter verkrampften Umständen stattfinden sollte. 1995 war das Album "Post" fertiggestellt; es erschien im Juni, erreichte Platz 2 in den britischen Charts und in den Vereinigten Staaten wiederum Platin-Status. 1996 wurde das Remixalbum "Telegram" veröffentlicht, das uncharakteristische Remixe von "Post" enthielt. Für die Fotos von "Telegram" arbeitete Björk zum ersten Mal mit ihrem Lieblingsfotografen, dem Japaner Nobuyoshi Araki, zusammen. Dies war insofern ungewöhnlich, als Araki normalerweise nur Asiaten fotografiert. Er machte für Björk eine Ausnahme, nachdem ihm diese einen leidenschaftlichen Brief geschrieben hatte.
1997 stellte Björk in Spanien ihr Album "Homogenic" fertig. Sie arbeitete dafür mit Mark Bell von LFO, Eumir Deodato und Howie B zusammen. In stilistischer Hinsicht ist es ein sehr extrovertiertes Album, das eine emotionale Seite von Björk preisgibt. Auch ihre starke Verbundenheit zu Islands Landschaft und Natur wird von ihrer Musik nachgezeichnet. "Homogenic" erreichte 2001 in den Vereinigten Staaten Gold-Status.
2001 erschien das Album "Vespertine", stilistisch nun wieder sehr introvertiert. Björk benutzt hier komplexe Rhythmen, Inuit-Chöre, Klänge der Experimentalgruppen Matmos und Oval, von Thomas Knak aus Dänemark, der Harfenspielerin Zeena Parkins und auch eines Kammerorchesters. Als Inspirationsquelle dienten die Texte des amerikanischen Dichters E. E. Cummings und die Arbeiten des unabhängigen Filmemachers Harmony Korine. Aus dem Album gingen drei Singles hervor: "Hidden Place", "Pagan Poetry" und "Cocoon". Da die Videos dieser Singles (vor allem das von "Pagan Poetry") einige kontroverse Bilder (u. a. Björk halbnackt) zeigten, mussten diese teilweise zensiert werden, um in den USA gespielt werden zu können. Das Video zu "Cocoon" wurde dort erst gar nicht ausgestrahlt. "Vespertine" wurde am 26. Mai 2018 am Nationaltheater Mannheim in einem neuen Arrangement für Solostimmen, Chor und Orchester auf der Opernbühne unter der Regie der dänischen Künstlergruppe Hotel Pro Forma uraufgeführt.
"Family Tree", eine Art „Greatest-Hits-Box“, erschien 2003 und enthielt CDs und DVDs, welche die verschiedenen Schaffensphasen aus den ersten zehn Jahren ihrer Solokarriere nachzeichneten.
Im August des Jahres 2004 erschien dann das Album "Medúlla". Nach Björks Angaben war das Ziel, von den klanglich immer epischer werdenden Vorgängeralben auf den absoluten Kern („Medúlla“ bedeutet Mark eines Organs, z. B. Knochenmark) der Musik zu stoßen: die menschliche Stimme. Mitten in den Arbeiten am Album entschloss sich Björk folgerichtig dazu, dass es am besten sei, wenn die einzelnen Lieder nur aus Gesang bestehen; daher entfernte sie fast die komplette Instrumentierung aus den vorherigen Aufnahmen. Als Vokalisten lud sie unter anderem Hip-Hop-Beatbox-Künstler Rahzel, Mike Patton (Faith No More) und Robert Wyatt zur Mitwirkung ein. Selbst Außergewöhnliches wie Inuit-Kehlkopfgesang wurde in die Lieder integriert. Für die Texte ließ sie sich wiederum von E. E. Cummings inspirieren (Lied "Sonnets/Unrealities XI").
Im August 2004 sang Björk während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen das Lied "Oceania" vom Album "Medúlla". Wie gewohnt war der Auftritt eher unkonventionell. Während sie sang, entfaltete sich ihr Kleid zu einem 900 m² großen Tuch, auf dem eine Weltkarte zu sehen war. Die Karte wurde über alle Athleten ausgebreitet. Kurz nach den Olympischen Spielen wurde das Lied "Oceania" als Radio-Single veröffentlicht. Zudem zirkulierte im Internet eine leicht abgeänderte Version des Songs, auf der zusätzlich Gesang von Kelis zu hören ist (diese Version des Liedes wurde später auf der Single "Who Is It?" kommerziell veröffentlicht). Nach der Tsunami-Katastrophe in Südostasien startete Björk das Projekt „Army of Me-Xes“, in dem sie ihre Fans und Musiker dazu aufrief, den Erfolg "Army of Me" von 1995 zu remixen. Mit den ihrer Meinung nach 20 besten der insgesamt 600 Einsendungen wurde ein neues Album veröffentlicht. Der Erlös des Albums kam UNICEF zugute.
2005 erschien mit "The Music from Matthew Barney’s Drawing Restraint 9" ein Soundtrack, den Björk für den gleichnamigen Film ihres ehemaligen Lebensgefährten Matthew Barney komponiert hatte. Das Album besteht hauptsächlich aus Liedminiaturen, die mit Gesang konterkariert werden.
Im Mai 2007 erschien dann ihr sechstes Studioalbum "Volta". Ende 2008 hatte sie einen Gastauftritt in der isländischen Comedyserie "Dagvaktin", mit Jón Gnarr in der Hauptrolle.
Am 7. Oktober 2011 erschien das Studioalbum "Biophilia" in Deutschland (europaweiter Start war der 10. Oktober bzw. 11. Oktober in Nordamerika), das von einem Multimediapaket aus Apps, Installationen, Live-Shows, Workshops, speziell angefertigten Instrumenten, einer Filmdokumentation und einer Website mit 3D-Animationen begleitet wird. Daraus sind zuvor die Single-Auskopplungen "Cosmogony" und "Crystalline" veröffentlicht worden. "Crystalline" erschien außerdem als Remix-EP in Zusammenarbeit mit dem syrischen Dabke-Musiker Omar Souleyman. Die EP enthält zusätzlich die beiden Titel "Mawal" und "Tesla". "Biophilia" folgte eine Welttournee, die 2011 begann und deren letztes Konzert Anfang September 2013 im Londoner Alexandra Palace stattfand. Auch auf das Studioalbum "Vulnicura", das am 21. Januar 2015 erschien und Björks Trennung von Matthew Barney thematisiert, folgte eine Tournee. Im Jahr 2017 veröffentlichte Björk ihr Album "Utopia". 2022 erschien ihr zwölftes Studioalbum "Fossora".
Der "Rolling Stone" listete Björk 2010 auf Rang 60 der 100 größten Sänger sowie 2015 auf Rang 81 der 100 größten Songwriter aller Zeiten.
Björk in Filmen.
Bereits im Jahr 1990 spielte Björk in dem Film "Juniper Tree" mit, der ein Märchen der Brüder Grimm erzählt. 1994 hatte sie einen Cameo-Auftritt in "Prêt-à-Porter". 1999 wurde ihr angeboten, die Filmmusik zu "Dancer in the Dark" zu schreiben. Daraufhin bot ihr Lars von Trier auch die Hauptrolle der Selma an. Björk wollte sich schon seit ihrer Kindheit an einem Musical beteiligen, weigerte sich aber lange, die Rolle anzunehmen. In einem Interview sagte sie, sie sei stur und könne auch noch zehn Jahre lang nein sagen. Schließlich gestand sie aber ein, sich in Selma verliebt zu haben und aus tiefstem Herzen zu empfinden, dass Selma gehört werden müsse. Ohne eine fundierte schauspielerische Ausbildung absolviert zu haben, gelang Björk schließlich eine preisgekrönte Leistung, indem sie, wie sie sagte, bei den Dreharbeiten selbst zu Selma wurde. Lars von Trier dazu: "„It was not acting, it was feeling.“ (dt.: „Das war keine Schauspielerei, das war Einfühlung.“)"
Beim Cannes Film Festival 2000 erhielt sie die Auszeichnung für die beste Darstellerin, ebenso bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises im selben Jahr. Als beste Darstellerin in einem Drama war sie außerdem für einen Golden Globe nominiert.
Der Soundtrack zum Film erschien unter dem Titel "Selmasongs". Das Stück "I’ve Seen It All" erhielt jeweils eine Golden-Globe- und Oscar-Nominierung in der Kategorie Bester Filmsong.
Nach der kräftezehrenden Rolle der Selma wollte Björk eigentlich in keinem Film mehr mitspielen. Später nahm sie für den Experimentalfilm "Drawing Restraint 9" ihres ehemaligen Lebensgefährten Matthew Barney dennoch eine Rolle an; auch der Soundtrack stammt von ihr.
Am 27. Juni 2013 wurde auf dem britischen Channel 4 der 60-minütige Dokumentarfilm "The Nature of Music" mit David Attenborough gezeigt, in dem er und Björk über Geschichte und kulturelle Bedeutung von Musik sprechen.
Im August 2020 wurde bekannt, dass Björk die Rolle der „Slav Witch“ in dem Film "The Northman" von Robert Eggers übernehmen wird.
Person.
Björk wird gewöhnlich nur bei ihrem Vornamen genannt. Dies ist üblich in Island, wo Familiennamen Ausnahme und Vatersnamen die Regel sind – "Guðmundsdóttir" bedeutet „Guðmundurs Tochter“.
Sie war nicht nur künstlerisch, sondern auch privat einige Zeit mit dem britischen Musiker Tricky liiert. Darauf folgte eine Affäre mit dem britischen Musiker Goldie.
Björk ist zweifache Mutter. Mit dem ehemaligen Gitarristen der Sugarcubes, Þór Eldon Jónsson, mit dem sie in den 1980er Jahren zusammenlebte, hat sie einen Sohn (* 8. Juni 1986). Mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten, dem US-amerikanischen Medienkünstler Matthew Barney, hat sie eine Tochter (* 3. Oktober 2002). Auf ihrem Album "Vulnicura" (2015) thematisierte sie die Trennung von Matthew Barney.
Im Jahr 2000 schlug der damalige isländische Premierminister Davíð Oddsson vor, Björk die isländische Insel Elliðaey zu schenken, um ihr auf diese Art und Weise für ihren Beitrag zur Steigerung des internationalen Rufs Islands zu danken. Allerdings zog er seinen Vorschlag nach lokalen Protesten zurück.
Björk hat 2008 mit der Risikoinvestmentgesellschaft Auður Capital zusammen einen Fonds aufgelegt, mit dem Spenden zur Rettung der Volkswirtschaft ihres Heimatlandes gesammelt wurden.
Björk vertritt feministische Positionen. Sie sagt: Sie selbst hat immer wieder sexistische Anwürfe erfahren, indem ihr mehrfach die Autorenschaft an ihrer Musik abgesprochen wurde. Die Koproduzentin Arca, die Björk zur Arbeit am Album "Vulnicura" hinzugezogen hatte, bezeichnete die Musikpresse irrtümlich als „sole producer“, als alleinige Produzentin des Albums. Damit stellte die Presse die Autorenschaft von Björk an ihrer Musik infrage – ein Verhalten, was bei Musikern wie Kanye West, der nicht nur mit "Arca," sondern einer ganzen Reihe anderer Produzenten zusammenarbeitet, keinesfalls vorkomme und dadurch sexistisch sei. Ähnlich verlief die Fehlzuschreibung der Credits bei Björks Album "Vespertine": Björk arbeitete drei Jahre lang an der Produktion des Albums. Matmos fügten in den letzten Wochen noch etwas Perkussion hinzu und wurden anschließend als alleinige Produzenten des Albums bezeichnet. Trotz des Dementis von Matmos sei das tatsächliche Ausmaß von Björks Autorenschaft und Produzentinnentätigkeit von der Musikpresse nicht wahrgenommen worden. Als direkte Reaktion auf diese Vorkommnisse startete Antye Greie-Ripatti eine Visibility-Kampagne für elektronische Musikerinnen bzw. Produzentinnen und kuratiert diese.
Auseinandersetzungen mit Paparazzi.
Im Februar 1996 attackierte Björk auf dem Bangkok International Airport nach einem Langstreckenflug die TV-Journalistin Julie Kaufman. Björk hatte im Vorfeld gefordert, bis zu einer Pressekonferenz von der Presse in Ruhe gelassen zu werden. Als Kaufman auf den Sohn Björks, Sindri, mit den Worten „Welcome to Bangkok“ zukam, während Björk sich von den Reportern entfernte, griff Björk sie an, stieß sie zu Boden und schlug ihren Kopf mehrfach gegen den Betonboden, bis Sicherheitspersonal eingriff. Laut Björks Produktionsfirma hatte die Journalistin Björk belästigt. Nachdem Björk sich entschuldigt hatte, zog die Journalistin ihre Anzeige zurück.
Im Januar 2008 kam es zu einem weiteren Vorfall: Ein Journalist hatte Björk bei der Ankunft auf dem Auckland International Airport fotografiert. Sie riss die Rückseite seines Pullovers herunter und stürzte dabei. Auch hier wurden keine weiteren rechtlichen Schritte unternommen.
Diskografie.
Kollaborationen.
Tappi Tíkarrass:
KUKL:
The Sugarcubes:
Dirty Projectors:
Death Grips: |
587 | 2978954 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=587 | Bundesminister (Deutschland) | Bundesminister (Abkürzung: BM) ist die Amtsbezeichnung für ein Mitglied der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland. Ein Bundesminister leitet den ihm zugewiesenen Geschäftsbereich – meistens ein Bundesministerium –, innerhalb der Richtlinien, die vom Bundeskanzler als Vorsitzenden der Bundesregierung aufgestellt werden, in eigener Verantwortung.
Rechtsgrundlagen.
Die einschlägigen Bestimmungen für das Amt eines Bundesministers nennt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (kurz "GG") in seinen Artikeln 62 bis 69. Demnach wird ein Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Er leistet bei seiner Amtsübernahme einen Amtseid vor dem Deutschen Bundestag. Bundesminister dürfen während ihrer Amtszeit keine weiteren beruflichen Tätigkeiten ausüben. Ihr Amt endet mit der Entlassung durch den Bundespräsidenten – entweder auf eigenen Antrag (Rücktritt) oder auf Vorschlag des Bundeskanzlers –, mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages sowie mit jeder Beendigung des Amtes des Bundeskanzlers.
Weitere Bestimmungen, vor allem zu Amtspflichten, Besoldung und Unvereinbarkeiten, enthält das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (Bundesministergesetz, kurz "BMinG").
Geschäftsverteilung.
Der Bundeskanzler hat grundsätzlich die alleinige Kompetenz, über die Anzahl der Bundesminister und ihre Aufgabenverteilung zu entscheiden. Ein Bundesminister kann zugleich mehrere Ressorts übernehmen; dabei wird er zusätzlich zu seinem ursprünglichen Ministeramt zum Bundesminister eines weiteren Bundesministeriums ernannt. Der erste derartige Fall trat 1956 auf: Der DP-Politiker Hans-Joachim von Merkatz wurde am 16. Oktober 1956 unter Beibehaltung seines Amtes als Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates zusätzlich zum Bundesminister der Justiz ernannt.
Auch ein Bundeskanzler kann zugleich zum Bundesminister ernannt werden: So waren Konrad Adenauer (von 1951 bis 1955) und Helmut Schmidt (für zwei Wochen im Jahr 1982) zugleich Bundesminister des Auswärtigen.
Bundesminister, die kein Bundesministerium führen, tragen die Bezeichnung "Bundesminister für besondere Aufgaben". Übernimmt ein Bundesminister nur vorübergehend ein weiteres Ressort, bis dieses durch eine ordentliche Ernennung eines Bundesministers besetzt ist, wird diese zeitweilige Amtsführung als "mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt" bezeichnet.
Pflichtminister.
Das Grundgesetz geht von drei obligatorischen Bundesministern aus, denen besondere Aufgaben zugewiesen werden:
Amtsbezüge.
Laut BMinG sollen Bundesminister Amtsbezüge „in Höhe von Eineindrittel des Grundgehalts der Besoldungsgruppe B 11, einschließlich zum Grundgehalt allgemein gewährter Zulagen“ erhalten. Dies entspräche über 20.800 Euro brutto monatlich. Allerdings liegen die Amtsbezüge tatsächlich, aufgrund mehrfacher Nichtanwendung der Besoldungserhöhungen gemäß dem Gesetz über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre, bei etwa 15.000 Euro.
Ein ausgeschiedenes Mitglied der Bundesregierung hat Anspruch auf ein Ruhegehalt, „wenn es der Bundesregierung mindestens vier Jahre angehört hat“ (wobei Amtszeiten als Parlamentarischer Staatssekretär und „vorausgegangene Mitgliedschaft in einer Landesregierung“ berücksichtigt werden), oder wenn es durch Abwahl oder Rücktritt des Bundeskanzlers aus dem Amt scheidet ( BMinG).
Amtseid.
Die Bundesminister leisten bei ihrer Amtsübernahme den in Abs. 2 i. V. m. GG vorgeschriebenen Eid vor dem Deutschen Bundestag:
„Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“
Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden.
Weibliche Bundesminister und „Bundesministerin“ als Amtsbezeichnung.
Die erste Frau im Amt eines Bundesministers war Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) als Bundesministerin für Gesundheit von 1961 bis 1966.
Ab den 1990er-Jahren setzte sich die Form „Bundesministerin“ als Bezeichnung für weibliche Bundesminister durch. Zuvor war das generische Maskulinum als Bezeichnung für Mitglieder der Bundesregierung üblich. Nachdem sich eine interministerielle Arbeitsgruppe „Rechtssprache“ ab Herbst 1987 mit der sprachlichen Gleichstellung in der Amts-, der normgebundenen Verwaltungs- und der Vorschriftensprache befasst hatte, stimmte der Deutsche Bundestag am 15. Januar 1993 einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend zu, worin die Bundesregierung unter anderem aufgefordert wurde, „in bezug auf konkrete Personen in der Amtssprache die voll ausgeschriebene Parallelformulierung als die sinnvollste Lösung anzusehen“, also die Bezeichnungen "Bundesminister" und "Bundesministerin" parallel zu verwenden.
Statistisches.
Der insgesamt am längsten amtierende Bundesminister war Innen- und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) mit 22 Jahren und sieben Monaten, während Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (DP, später CDU) mit 17 Jahren und zwei Monaten die längste ununterbrochene Amtszeit aufweist. Das am längsten amtierende Mitglied der Bundesregierung war hingegen Angela Merkel (CDU) mit 23 Jahren und acht Monaten (davon etwa sieben Jahre und zehn Monate als Bundesministerin). |
588 | 235041861 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=588 | Liste der byzantinischen Kaiser | Diese Liste der byzantinischen Kaiser bietet einen systematischen Überblick über die Herrscher des Byzantinischen Reiches. Sie enthält alle Kaiser von Konstantin dem Großen (306–337), der nach der Erringung der Alleinherrschaft im Römischen Reich ab 324 die neue Kaiserresidenz Konstantinopel errichten ließ und ab diesem Zeitpunkt als erster byzantinischer Kaiser gilt, bis Konstantin XI. Palaiologos, der Konstantinopel 1453 an die Osmanen verlor.
In der Forschung werden die Herrscher der spätantik-frühbyzantinischen Phase des Reiches (bis Herakleios 641), in der noch Latein die Hof- und Verwaltungssprache war, in der Regel auch als oströmische Kaiser bezeichnet und zumindest bis zu Justinian I. noch zu den römischen Kaisern gezählt. Nicht zu den byzantinischen Kaisern werden die von 284 bis 324 im Osten des Reiches regierenden Tetrarchen Diokletian, Galerius, Maximinus Daia und Licinius gerechnet. Für die Zeit zwischen 1204 und 1261, als Konstantinopel als Lateinisches Kaiserreich von den Kreuzfahrern beherrscht wurde, werden die Herrscher des Kaiserreiches Nikaia als byzantinische Kaiser geführt. Die Herrscher des Kaiserreiches Trapezunt (1204–1461) aus der Dynastie der Komnenen gelten nicht als byzantinische Kaiser.
Erläuterungen.
Die nachstehende Liste führt die Kaiser mit ihrem Porträt (v. a. zeitgenössische Büsten, Mosaiken oder Münzen), ihren im deutschen Sprachraum üblicherweise verwendeten Namen, ihre vollständigen Namen (ohne Titulatur), ihre Regierungszeit (bei Usurpatoren und Thronprätendenten: Zeit ihres Herrschaftsanspruchs) und unter Anmerkungen etwaige Besonderheiten auf. Für die frühbyzantinische Zeit wird bei originär griechischen Namen der griechischen Version der Vorzug gegeben (Beispiel: Zenon), es sei denn, die lateinische ist deutlich verbreiteter (Beispiel: Hypatius). Bei Homonymie wird der lateinische Ausgangsname in fortlaufender Zählung auch nach der Spätantike beibehalten (Beispiele: Leo III. statt "Leon", Theodosius III. statt "Theodosios"). Einige Kaiser änderten ihren Namen im Laufe ihres Lebens, etwa durch Adoption oder beim Herrschaftsantritt. Angegeben wird der zuletzt geführte Name ohne Funktions- und Ehrentitel. Inoffizielle bzw. spätere Beinamen sind "kursiv" gesetzt.
Weiß hinterlegt und gefettet sind die legitim herrschenden Kaiser ("Augusti, Basileis"; Beispiel: Konstantin I.) sowie ihre nominell gleichrangigen Mitregenten "(Symbasileis)". Die Fettung entfällt bei Kaiserinnen bzw. nicht durchgängig anerkannten oder ungekrönten Kaisern (Beispiele: Irene, Konstantin (XI.)); das gilt auch für Gegenkaiser, die zeitweise den legitimen Herrscher verdrängten, sofern sie der herrschenden Dynastie entstammten und ihre Herrschaft vom Senat oder der Kirche (d. h. dem Patriarchen) anerkannt war (Beispiele: Basiliskos, Artabasdos).
Blau hinterlegt und gefettet sind Mitkaiser, die für einen nominell legitimen Herrscher durchgängig die faktische Regentschaft ausgeübt haben (Beispiel: Romanos I.). Die Fettung entfällt bei einer nur zeitweiligen oder illegitimen Ausübung selbstständiger Regierungstätigkeit (Beispiel: Matthaios Asanes Kantakuzenos).
Mitregenten und Unterkaiser bzw. designierte Thronfolger ("Caesares", Sebastokratoren, Despoten), die zu keinem Zeitpunkt legitim eigenständig geherrscht haben, werden in der Anmerkungsspalte den jeweiligen Kaisern unter Angabe ihrer nominellen Regierungsjahre bzw. der Jahre ihrer Würdenträgerschaft, soweit bekannt, zugeordnet (Beispiel: Dalmatius). Titelträger unter mehreren Kaisern werden in der Anmerkungsspalte nur einmal aufgeführt (i. d. R. bei dem Kaiser, der den/die Titel zuerst verliehen hat; Beispiel: Konstantin Dukas Porphyrogennetos, Mitkaiser unter Michael VII., wird unter Alexios I. nicht nochmals gelistet). Mit Schrägstrich vorangestellte "kursive" Jahreszahlen bezeichnen das Jahr der Akklamation bzw. Designation bei später erfolgter Krönung bzw. offizieller Amtseinführung (Beispiel: Michael IX. "1281" als Mitkaiser designiert, 1295 gekrönt). Aufgeführt sind auch Nicht-Byzantiner, denen der Titel formell vom Kaiser verliehen wurde (Beispiel: Terwel). So genannte „Kaisermacher“ werden mit der Präposition „durch“ gekennzeichnet (Beispiel: „durch Aspar“). Kaiserinnen "(Augustae, Basilissai)" werden als Regentinnen genannt, wenn sie dem Kaiser nominell gleichgestellt waren und für ihn die Macht ausgeübt haben (Beispiel: Pulcheria) oder nach dem Tod des Kaisers selbst (übergangsweise) die Herrschaft übernommen haben (Beispiel: Domnica).
"Kursiv" gesetzt sind:
Rot hinterlegt sind Gegenkaiser und Usurpatoren. Das gilt nicht für Gegenkaiser in Konstantinopel, deren Herrschaft vom Senat oder der Kirche anerkannt wurde, auch wenn der legitime Herrscher auf Reichsterritorium weiterhin eigene Regierungstätigkeit entfaltet und dem Rivalen Widerstand geleistet hat (siehe oben). Unter „Gegenkaiser“ werden Usurpatoren bzw. Thronprätendenten im engeren Sinne verstanden, die sich den Kaisertitel selbst zugelegt haben oder von ihren Truppen bzw. Unterstützern akklamiert worden sind. Als „Usurpator“ werden in der Liste Gestalten bezeichnet, für die "entweder" der formale Akt der Kaisererhebung nicht sicher überliefert ist, die sich aber de facto kaiserliche Befugnisse angemaßt bzw. illoyal verhalten und eine nicht unbedeutende territoriale Machtbasis oder dynastische Position innegehabt haben "oder" bei denen die Empörung geografisch so begrenzt (maximal eine Provinz/ein Thema) und so kurzzeitig (maximal wenige Tage) war, dass de facto keinerlei Gefährdung des legitimen Herrschers bestanden hat.
Aufgeführt sind auch nichtbyzantinische Herrscher, die auf ehemaligem Reichsgebiet bzw. in Territorien unter nomineller byzantinischer Oberhoheit den Kaisertitel oder eine kaiserähnliche Stellung beansprucht haben ("imitatio imperii"; Beispiele: Theudebert, Stefan Dušan). Sofern die Regentenposition durch den Erhalt römischer bzw. byzantinischer Ehrentitel offiziell legitimiert war, sind die Figuren beim jeweiligen Kaiser aufgeführt (Beispiel: Chlodwig unter Anastasios I.).
"Kursiv" gesetzt sind:
Usurpatoren, die zeitweise auch legitime Träger einer der oben genannten kaiserlichen Würden waren, sind nicht eigens aufgeführt, sondern bleiben als solche in der Anmerkungsspalte dem jeweiligen Kaiser zugeordnet (Beispiele: Anastasios II., Kaiser 713–715/16, oder Johannes Dukas, "Caesar" seit 1061 unter Konstantin X. und dessen Nachfolgern, werden unter Leo III. bzw. Michael VII. nicht eigens als Gegenkaiser gelistet).
Hinsichtlich der Gegenkaiser erhebt die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zumal von einigen außer ihren Namen nichts oder fast nichts bekannt ist. |
590 | 232387325 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=590 | Buchstabe | Ein Buchstabe ist ein Schriftzeichen, das in einer Alphabetschrift verwendet wird. Die Gesamtheit der Buchstaben einer Phonem-basierten Schriftsprache ergibt ein Alphabet, wobei die Laute (Phoneme) in Gestalt von Zeichen (Graphemen) fixiert werden. In vielen Schriften werden Großbuchstaben (Majuskeln) und Kleinbuchstaben (Minuskeln) unterschieden.
Insbesondere gedruckte Buchstaben werden auch als "Lettern" bezeichnet (von lateinisch "littera" „Buchstabe“), wie auch die Drucktypen in der Zeit des Bleisatzes (siehe Letter).
Etymologie.
Das Wort entstand wahrscheinlich aus den germanischen, zum Los bestimmten Runenstäbchen ("*bōks"). Diese als Runen bezeichnete Schriftzeichen wurden damals oft mittels Punzieren in Waffen, aber auch in Stäbchen aus dem harten und schweren Holz der Buche geritzt. Die derart beschriebenen Stäbchen benutzten die Germanen als Orakel für wichtige Entscheidungen und nach einer Theorie leitet sich deshalb das Wort „Buchstabe“ von diesen kultisch bedeutsamen Buchenstäbchen ab. Nach einer anderen Theorie geht der Ausdruck „Stab“ auf den kräftigen Zentralstrich der Runen zurück, mit dem sie jeweils gebildet werden.
Die Verbindung zwischen „Buche“ und „Buchstabe“ wird dabei aus sachlichen Gründen angezweifelt, denn der Ausdruck „Buchstabe“ sei für die im Buch verwendeten lateinischen Schriftzeichen verwendet worden, nicht aber für die germanischen Runenzeichen, die im Altnordischen beispielsweise „stafr“ und „rūnastafr“ hießen.
Buchstabieren.
Beim Buchstabieren von schwierigen oder seltenen Wörtern oder Eigennamen der geschriebenen Sprache, aber auch bei Funk- und Fernsprechverbindungen, greift man zur Vermeidung von Fehlern und Falschübermittlungen auf das Hilfsmittel der Buchstabiertafel zurück: Wörter, deren Anfangsbuchstabe für den genannten Buchstaben steht, ersetzen hier einzelne Buchstaben. |
592 | 3257043 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=592 | Belgien | Belgien (amtlich "Königreich Belgien", ) ist ein föderaler Staat in Westeuropa. Es liegt zwischen der Nordsee und den Ardennen und grenzt an die Niederlande, Deutschland, Luxemburg und Frankreich. Belgien hatte im Jahr 2020 rund 11,6 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 30.688 Quadratkilometern. Mit 378 Einwohnern pro Quadratkilometer zählt Belgien zu den am dichtesten besiedelten Staaten. Der Grad der Urbanisierung Belgiens ist mit fast 98 Prozent der höchste in Europa. Brüssel ist die Hauptstadt und Sitz der belgischen Königsfamilie sowie Zentrum der größten Agglomeration. Die bevölkerungsreichste Stadt ist Antwerpen, gefolgt von Gent, Charleroi, Lüttich (Liège), Brüssel, Brügge (Brugge), Namur und Löwen.
Seit der Unabhängigkeit 1830 und Verfassungsgebung 1831 ist Belgien eine parlamentarische Erbmonarchie (siehe auch belgische Monarchie). Der Norden des Landes mit den Flamen ist niederländisches, der Süden mit den Wallonen französisches Sprachgebiet (vgl. Flämische und Französische Gemeinschaft). Die Region Brüssel-Hauptstadt ist offiziell zweisprachig, jedoch mehrheitlich frankophon bewohnt. Im deutschsprachigen Gebiet in Ostbelgien sind Standarddeutsch und westmitteldeutsche Mundarten verbreitet (vgl. Deutschsprachige Gemeinschaft).
Der seit dem 19. Jahrhundert anhaltende flämisch-wallonische Konflikt prägt die oft einander zuwiderlaufenden Interessen der Vertreter der beiden großen Bevölkerungsgruppen in der belgischen Politik. Die Sprachgesetzgebung ist eine Folge dieses Konflikts. Seit den 1970er Jahren wird versucht, diesem Problem durch eine Dezentralisierung der Staatsorganisation zu begegnen. Dazu wurde Belgien in einen Bundesstaat, bestehend aus drei Regionen und drei Gemeinschaften, umgewandelt. Die Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt sowie die Flämische, die Französische und die Deutschsprachige Gemeinschaft bilden seither das politische Grundgefüge des Landes. Der Staatsaufbau Belgiens gilt als komplex, da u. a. die Hoheitsgebiete der Regionen mit jenen der Gemeinschaften nicht deckungsgleich sind. So überschneiden sich die Zuständigkeiten der Französischen und der Flämischen Gemeinschaft in der offiziell zweisprachigen Region Brüssel-Hauptstadt, und das kleine Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft gehört zur mehrheitlich französischsprachigen Region Wallonien. Jedoch strebt die Deutschsprachige Gemeinschaft die Ausgliederung aus Wallonien und die Erhebung zur gleichberechtigten vierten belgischen Region neben Flandern, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt an.
Belgien ist Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der heutigen Europäischen Union (EU), deren wichtigste Institutionen in seiner Hauptstadt Brüssel ihren Sitz haben. Der belgische Staat ist neben den Niederlanden und Luxemburg Mitglied in der Wirtschaftsunion Benelux.
Landesname.
Der Name "Belgien" begründet sich auf die römische Provinz "Gallia Belgica". Dieser nordöstliche Teil Galliens wurde von Stämmen keltischer (d. h. die Belger) und germanischer (d. h. "Germani cisrhēnani") Herkunft bewohnt. Im 18. Jahrhundert galt das französische Adjektiv "belge" oder "belgique" als Entsprechung von "Nederlands" ‚niederländisch‘; der kurzlebige unabhängige Belgische Staat von 1790 hieß z. B. auf Französisch "États belgiques unis" und wurde auf Niederländisch meist "Verenigde Nederlandse Staten" genannt. Später beschränkte sich der Gebrauch von "belge" und "belgique" zunehmend auf die südlichen Niederlande, das heutige Belgien.
Geographie.
Laut den Berechnungen des "Königlichen Belgischen Instituts für Naturwissenschaften" hat Belgien eine Fläche von 30.688 km². Davon umfasst
25 % der Landfläche Belgiens werden für Landwirtschaft genutzt.
Geologie und Geomorphologie.
Im Gefolge der nacheiszeitlichen Flandrischen Transgression kam es zur Bildung von Strandwällen, die heute noch als ein bis zu 50 Meter hoher, geschlossener Dünengürtel an der belgischen Küste vorhanden sind. Daraufhin folgt eine ungefähr 10 bis 20 Kilometer breite Zone aus Marschland.
Weiter im Binnenland liegt die sogenannte Flussgeest. Hier wurden die Ablagerungen des Maas-Schwemmfächers in der letzten Kaltzeit mit Sanden großer Mächtigkeit überdeckt. Im leicht welligen Land wechseln sich Äcker und Wiesen mit Waldstücken und Heiden ab; zum Teil kommen auch Hochmoore vor.
Westlich einer Linie Antwerpen-Brüssel schließt sich die weite flandrische Ebene an. In ihrem Nordteil ist sie ebenfalls von Sanden bedeckt, im Süden dominieren Lehmböden, die für die Landwirtschaft günstiger sind. Hier wird die Ebene von einer lockeren Kette von tertiärzeitlichen Hügeln überragt.
Nach Westen hin vermittelt die Ebene zum Nordfranzösischen Schichtstufenland, das größtenteils aus mesozoischen Sedimenten aufgebaut ist (→ Pariser Becken).
Die Täler der Sambre und der Maas bilden eine scharfe Grenze an einer tektonischen Störungszone, welche die Tertiär- und Kreideplateaus im Nordwesten von den Ardennen als Teil des Rheinischen Schiefergebirges im Südosten trennt. Die stark bewaldeten Ardennen bestehen aus unterschiedlich widerständigen paläozoischen Schiefern, Sandsteinen, Grauwacken und Quarziten. Sie erreichen in Belgien mit der Botrange im Hohen Venn eine Höhe von 694 Metern.
An der Störungszone der Haine-Sambre-Maas-Furche liegen reiche Fundstätten von Steinkohle. Dort, im Nordfranzösischen Kohlerevier, entstand ab 1830 das erste kontinentaleuropäische Bergbau- und Schwerindustrierevier. Ab 1901 wurde auch das Limburger Steinkohlerevier erschlossen.
Flandern und Region Brüssel-Hauptstadt.
Flandern bildet den Nordteil des Landes und besteht weitgehend aus Flachland. Es ist die bevölkerungsreichste Region des Landes. Die politisch eigenständige Hauptstadtregion Brüssel befindet sich als Enklave innerhalb der flämischen Region. Dieser Landesteil besteht teilweise aus sandigen Geestrücken – so zum Beispiel in der Provinz Limburg, die sich im Osten der flämischen Region befindet. Die Geest wird auch von Marschlandschaften unterbrochen, was insbesondere den Bereich der Flüsse betrifft. Hierunter sind die Maas und die Schelde die bedeutendsten. Im äußersten Westen Flanderns befindet sich die 65 Kilometer lange Küste mit der Hafenstadt Ostende. Insbesondere die Provinzen Antwerpen, Flämisch-Brabant mit dem Umland Brüssels und Ostflandern sind sehr dicht besiedelt.
Wallonische Region.
Die Wallonische Region umfasst den südlichen Teil Belgiens. Sie ist bezogen auf die Fläche die größte Region des Landes. Ihr Gebiet ist im Bereich der Ardennen gebirgig und dünn besiedelt und wird durch die Flusstäler von Maas, Sambre und Ourthe durchschnitten. Entlang der genannten Flüsse befinden sich die wichtigsten Städte der Region, insbesondere Lüttich, Namur und Charleroi. Im Westen der Region befinden sich ferner Mons sowie Mouscron und Tournai, die sich in einem grenzüberschreitenden Ballungsgebiet mit der nordfranzösischen Stadt Lille befinden. In Nil-Saint-Vincent (Gemeinde Walhain) in der dicht besiedelten Provinz Wallonisch-Brabant befindet sich der geographische Mittelpunkt Belgiens. Die höchste Erhebung des Landes befindet sich mit dem Signal de Botrange () im Hohen Venn in Ostbelgien nahe der Grenze zu Deutschland. Höchstgelegene Ortschaft Belgiens ist das ostbelgische Mürringen ().
Gewässer.
Es gibt unter anderem folgende Flüsse und Kanäle:
Städte.
Im Jahr 2021 lebten 98 Prozent der Einwohner Belgiens in Städten.
Komplizierter Grenzverlauf.
Sowohl im Grenzverlauf zu den Niederlanden, Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden mit den Gemeinden Baarle-Nassau sowie Baarle-Hertog als auch in Ostbelgien, Grenze zwischen Belgien und Deutschland gibt es zahlreiche Exklaven sowie Enklaven so u. a. die Vennbahn-Exklaven. Auch innerhalb Belgiens gibt es Exklaven und Enklaven, so z. B. die Gemeinde Voeren ist eine Exklave der belgischen Provinz Limburg und der Region Flandern. Auch die Gemeinde Comines-Warneton ist eine Exklave der belgischen Provinz Hennegau und der Region Wallonien.
Bevölkerung.
Demographie.
Belgien hatte 2020 11,5 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug 0,5 Prozent. Trotz eines Sterbeüberschusses (Geburtenziffer von 9,9 pro 1000 Einwohner, Sterbeziffer von 11,0 pro 1000 Einwohner) wuchs die Bevölkerung durch Migration. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,6. Die Lebenserwartung der Einwohner Belgiens ab der Geburt lag 2020 bei 80,8 Jahren (Frauen: 83,1, Männer: 78,6). Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 41,9 Jahren und damit unter dem europäischen Wert von 42,5.
Bevölkerungsstruktur.
Die Bevölkerung Belgiens wird in der Regel in Sprachgruppen eingeteilt. Genaue Daten zur Verteilung sind seit der Festlegung der offiziellen Sprachgrenze 1962 nicht mehr erhoben worden. Hiernach stellen die niederländischsprachigen Flamen knapp 60 Prozent der Bevölkerung dar. Als Flamen werden in diesem verallgemeinernden Sinne nicht allein die Einwohner der Provinzen West- und Ostflandern, sondern auch die der anderen niederländischsprachigen Provinzen (Antwerpen, Brabant, Limburg) und die niederländischsprachigen Bewohner der Region Brüssel-Hauptstadt bezeichnet. Die Wallonen und die frankophonen Bewohner der Region Brüssel-Hauptstadt und ihres Umlandes, die meist zusammenfassend als "französischsprachige Belgier" bezeichnet werden, bilden etwas weniger als 40 Prozent der Einwohner des Landes. Hinzu kommt als dritte Bevölkerungsgruppe mit einem offiziellen Sprachgebiet die Deutschsprachige Gemeinschaft im Osten des Landes; hier lebt weniger als ein Prozent der belgischen Bevölkerung ( am ). Insgesamt wird die Zahl der deutschsprachigen Ostbelgier inklusive derer, die als Minderheit in mehrheitlich frankophonen Landkreisen (z. B. Malmedy) wohnen, auf 110.000 geschätzt.
Zu den Minderheiten, die über kein offizielles eigenes Sprachgebiet verfügen, deren Rechte jedoch teilweise über sogenannte Fazilitäten (Erleichterungen) geregelt sind, gehören kleinere, westgermanische Dialekte sprechende Gruppen im offiziell französischen Sprachgebiet (etwa Luxemburgisch im Areler Land und Platdiets in den Plattdeutschen Gemeinden). Als "Voyageurs", "Gens du voyage" oder "Woonwagenbewoners" werden in Belgien lebende Gruppen sowohl der Jenischen, Manouches und Roma als auch Wohnwagenbewohner anderer Herkunft bezeichnet. Die Anzahl der "Gens du voyage" wurde 2005 auf insgesamt 15.000 bis 20.000 Personen, 0,15 Prozent der belgischen Bevölkerung, geschätzt. Die weitere Wohnbevölkerung besteht aus Zugewanderten aus vielen Teilen Europas und Afrikas. Ihre sprachliche Situation ist statistisch nicht näher erfasst.
Im Jahr 2012 hatte 25 Prozent der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund. Seit 1945 gibt es 2,8 Millionen Neubelgier ausländischer Abstammung. Hiervon sind rund 1,2 Millionen europäischer Abstammung und rund 1,35 Millionen stammen aus Ländern außerhalb Europas (Marokko, Türkei, Algerien, Kongo). Seit der Lockerung des belgischen Staatsangehörigkeitsrechts haben mehr als 1,3 Millionen Migranten die belgische Staatsbürgerschaft erworben. Die größte Einwanderergruppe sind Marokkaner (mehr als 450.000 einschließlich ihrer in Belgien lebenden Nachkommen). Türken bilden die zweitgrößte ethnische Minderheit (rund 220.000). 89,2 Prozent der Einwohner mit türkischer Herkunft wurden eingebürgert, ebenso 88,4 Prozent der Personen marokkanischer Herkunft, 75,4 Prozent der mit italienischer, 56,2 Prozent der mit französischer und 47,8 Prozent der mit niederländischer Herkunft. Die sprachliche Situation, etwa inwieweit die Nachkommen von Einwanderern noch die Muttersprache ihrer Eltern oder Großeltern sprechen, ist statistisch nicht umfassend erhoben.
Sprachen.
In Belgien haben drei Sprachen den Status einer Amtssprache:
Im Unterschiede zur Schweiz (dortige Sprachgruppenanteile) bildet das Nebeneinander der Sprachgruppen einen erheblichen Konfliktstoff.
Nach der Unabhängigkeit Belgiens 1830 galt allein Französisch als Amtssprache. Im Jahr 1873 wurde Niederländisch als zweite Amtssprache rechtlich anerkannt, dennoch blieb Französisch die vorherrschende Verwaltungs- und Unterrichtssprache in ganz Belgien. 1919 kam Deutsch als Amtssprache im neu hinzugewonnenen Gebiet im Osten des Landes dazu; Ostbelgien war nach dem Versailler Vertrag dem belgischen Staat angegliedert worden. Nach dem Ersten Weltkrieg forderte die Mehrheit der Flamen mit Nachdruck, dass das Niederländische auch als Verwaltungs- und Unterrichtssprache an Schulen und Universitäten verwendet und der französischen Amtssprache gleichgestellt werden solle. Tatsächlich sprach die Mehrheit der belgischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein lokale Formen niederländischer bzw. französischer Dialekte (Mundarten des Flämischen, Brabantischen, Limburgischen, Wallonischen etc.), die bis heute die umgangssprachliche Realisierung der Standardsprachen in der Phonetik, teilweise auch im Wortschatz und der Formenbildung prägen. So enthält das umgangssprachliche Brüsseler Französisch zahlreiche flämische Elemente, da hier eine ursprünglich überwiegend flämischsprachige Stadt durch kulturellen und politischen Wandel (Hauptstadt des neugegründeten frankophon definierten belgischen Staates 1830) allmählich franzisiert worden ist; bei diesem Sprachwechsel großer Teile der Brüsseler Bevölkerung gingen Elemente der germanischen Volkssprache in das lokale Französisch ein.
1921 legte die belgische Regierung drei Sprachgebiete mit territorialer Einsprachigkeit fest, die zweisprachige Gebiete nicht ausreichend berücksichtigte und zu langwährenden innenpolitischen Konflikten führte: die niederländische Sprachzone in Flandern, die französische Sprachzone in der Wallonie und die deutsche Sprachzone in Ostbelgien. Sonderregelungen entstanden in und um Brüssel, das als zweisprachig gilt (siehe Sprachenverhältnisse in Brüssel), sowie in den später eingerichteten Fazilitätengemeinden entlang der romanisch-germanischen Sprachgrenze. Nicht berücksichtigt wurden jene gebildeten Bevölkerungsteile Flanderns, insbesondere in Antwerpen und anderen Städten, für die Französisch eine bevorzugte Sprache und mitunter sogar Muttersprache war; mit Ausnahme der Hauptstadt Brüssel waren nach 1921 in den als einsprachig definierten Landesteilen keine allophonen Sprachinseln vorgesehen. Der flämisch-wallonische Konflikt, der zunächst vor allem soziale Ursachen hatte (Verarmung der flämischen Bauernschaft zur Zeit der Industriellen Revolution, soziale Benachteiligung dieser Bevölkerungsschicht im politischen und gesellschaftlichen Gefüge des Landes bei gleichzeitigem Wirtschaftsboom und Aufstieg der Wallonie im 19. und frühen 20. Jahrhundert), dauert bis heute an, obwohl sich die sozio-ökonomischen Verhältnisse seit dem Niedergang der für die Wallonie prägenden Montanindustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Aufschwung neuer Wirtschaftszweige in Flandern grundlegend gewandelt haben.
Den Status von Regionalsprachen haben seit 1990 das romanische Lothringisch, Champenois, Limburgisch, Luxemburgisch, Ripuarisch, Picardisch und Wallonisch.
Religion.
Die Mehrheit der Belgier gehört christlichen Kirchen an: Etwa 75 Prozent der belgischen Staatsbürger sind römisch-katholisch, rund 1 Prozent gehört der Vereinigten Protestantischen Kirche an und 8 Prozent islamischen Gemeinden. Daneben existieren kleinere christlich-orthodoxe, jüdische, buddhistische und hinduistische Minderheiten. Der Anteil nicht konfessionell gebundener Menschen beträgt etwa 16 Prozent.
Traditionell war Belgien ein katholisches Land. Die Zugehörigkeit zum katholischen Glauben war ein wesentlicher Grund für die Belgische Revolution und die Abspaltung (1830) vom überwiegend protestantischen Norden der vom Wiener Kongress 1815 gebildeten Vereinigten Niederlande. Die katholische Mehrheit erstreckt sich auf alle drei Sprachgebiete (flämisch, französisch, deutsch). Mit der Katholieke Universiteit Leuven ist eine der bedeutendsten Universitäten des Landes konfessionell gebunden. Vor allem das ländliche Flandern war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stark katholisch geprägt; im frühzeitig industrialisierten Wallonien bedingten der Liberalismus und die sozialistische Arbeiterbewegung eine stärkere Säkularisierung, die in den 1960er-Jahren auch den flämischen Landesteil erfasst hat.
Die Vereinigte Protestantische Kirche hat 45.000 Gemeindeglieder in 110 Gemeinden, davon 70 wallonische, 35 flämische, drei deutsch- und zwei englischsprachige mit 85 Pfarrern. Sie ist eine unierte Kirche und enthält somit lutherische und reformierte (calvinistische) Elemente. Daneben bestehen protestantische Freikirchen, darunter die Baptisten in Belgien.
Im Jahr 2011 lebten eine Million Einwohner mit muslimischem Hintergrund in Belgien. Muslime bilden 22 Prozent der Bevölkerung in der Region Brüssel-Hauptstadt, 4 Prozent in Wallonien und 3,9 Prozent in Flandern. Die Mehrheit der belgischen Muslime lebt in großen Städten, beispielsweise in Antwerpen, Lüttich, Charleroi und vor allem in Brüssel. Die größte Einwanderergruppe sind die rund 400.000 aus Marokko stammenden Einwohner Belgiens. Die rund 220.000 Türken sind die drittgrößte Einwanderergruppe und die zweitgrößte muslimische Bevölkerungsgruppe.
Die föderale belgische Regierung erkennt sechs Religionen und eine nicht-konfessionelle Weltanschauung an und fördert sie: die römisch-katholische Kirche, die Vereinigte Protestantische Kirche von Belgien, die orthodoxe Kirche, die anglikanische Kirche, den Islam, das Judentum und die freigeistige Weltanschauungsgemeinschaft.
Eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers ergab 2020, dass für 24 Prozent der Menschen in Belgien Religion wichtig ist, für 25 Prozent ist sie weder wichtig noch unwichtig und für 51 Prozent ist sie unwichtig.
Homosexualität.
In Belgien ist Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert. Die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Homosexuellen ist verhältnismäßig hoch. Belgien gilt als sehr liberales Land bezüglich der Rechte Homosexueller und deren Gleichstellung. Homosexuelle Handlungen wurden bereits im Jahr 1974 entkriminalisiert; seit 2003 existieren zudem Antidiskriminierungsgesetze. Als zweiter Staat der Welt öffnete Belgien nach den Niederlanden im Jahr 2003 die gleichgeschlechtliche Ehe. Die Vereinigte Protestantische Kirche erlaubt seit 2007 die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare.
Antisemitismus.
Die Stadt Antwerpen hat eine der größten jüdischen Gemeinschaften Europas, daher prägen orthodoxe und ultra-orthodoxe Juden in einigen Vierteln das Stadtbild. Unia, das „Zentrum für Chancengleichheit und Kampf gegen Rassismus“ in Belgien, registrierte 101 Meldungen antisemitischer Straftaten im Jahr 2018. Dies bedeutet nahezu eine Verdopplung im Vergleich zum Jahr 2017, in dem 56 antisemitische Straftaten erfasst wurden.
Seit mehreren Jahren steht der Karnevalsumzug der Stadt Aalst in der Kritik, da er öfters auf antijüdische Stereotype zurückgreift. Ein am Umzug teilnehmender Verein, der bereits im Jahr zuvor für antisemitischen Puppen verantwortlich gewesen war, verwendete auch 2020 antisemitische Karikaturen. der Bürgermeister von Aalst, Christoph D’Haese von der Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie, wollte die Puppen und Karikaturen nicht verurteilen. In diesem Zusammenhang hat im Dezember 2019 die UNESCO den Aalster Straßenkarneval von der Liste des Immateriellen Kulturerbes gestrichen, und inzwischen wurde die EU-Kommission aufgefordert, ein Strafverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Belgien einzuleiten.
Die Zahl der Meldungen von judenfeindlichen Inhalten im Internet hat sich in Belgien innerhalb eines Jahres vervierfacht: „Juden schmieden eine Verschwörung gegen die Welt“ oder „Hitler hat seine Arbeit nicht beendet“, sind Sprüche, die regelmäßig auftauchen. Zudem soll nach Einschätzung der Medien die rechtsradikale flämische Studentenbewegung „Schild & Vrienden“ den Antisemitismus geschürt haben. Beispiele für judenfeindliche Akte sind auch der Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel, bei dem am 24. Mai 2014 vier Menschen durch Schüsse getötet wurden, und die Terroranschläge in der Brüsseler Innenstadt und am Flughafen Brüssel-Zaventem im März 2016.
Geschichte.
Als Provinz Belgica – ein von Cäsar eingeführter Name – erlebte das heutige Gebiet Belgien viele Herrschaften. Es war im Frühmittelalter Teil des fränkischen Reiches und wurde bei dessen Teilungen ebenfalls immer wieder politisch geteilt. Später war es überwiegend Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches und zerfiel in einzelne Herzogtümer und Grafschaften.
Vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit stellten die Städte Flanderns mit ihren Tuchindustrien eines der beiden Zentren der europäischen Wirtschaft dar (neben den Städten Norditaliens). Die einzelnen Territorien gerieten politisch unter das Haus Burgund, das 1477 infolge der Heirat der burgundischen Alleinerbin Maria von Burgund mit Maximilian I., Erzherzog von Österreich und späterer römisch-deutscher König und Kaiser, den Habsburgern beerbt wurde. 1555/56 wurde die Teilung der Habsburger in eine spanische und eine österreichische Linie vollzogen. Die niederländischen Provinzen wurden den spanischen Habsburgern zugesprochen.
1579 bildeten sich die katholische Union von Arras und die calvinistisch-protestantische Utrechter Union. Die Provinzen der Union von Utrecht lösten sich 1581 von Spanien und gründeten die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, deren Unabhängigkeit nach dem Ende des Achtzigjährigen Krieges im Westfälischen Friede von 1648 anerkannt wurde. Die Provinzen der Union von Arras, Flandern und Brabant, wurden als Spanische Niederlande von einem spanischen Statthalter verwaltet. Nach dem Aussterben der spanischen Habsburger (1700) und dem daraus resultierenden Spanischen Erbfolgekrieg kamen 1714 die von da an österreichischen Niederlande unter die Herrschaft der österreichischen Habsburger.
Infolge der absolutistisch-zentralistischen Bestrebungen des österreichischen Herrschers Joseph II. kam es 1789 zur Brabanter Revolution und 1790 zur Ausrufung der kurzlebigen Vereinigten Belgischen Staaten. Das revolutionäre Frankreich annektierte zwischen 1792 und 1794 die Österreichischen Niederlande, 1795 folgte die Eingliederung in die Französische Republik. Auf dem Wiener Kongress (1815) wurden die Provinzen den (nördlichen) Niederlanden zugesprochen. Residenzstadt des niederländischen Königs wurde Brüssel.
Im Zuge der Belgischen Revolution wurde das Land 1830 von den Niederlanden unabhängig. Es wurde eine parlamentarische Monarchie errichtet und Leopold von Sachsen-Coburg zum ersten König der Belgier ernannt. Leopold II., Sohn des ersten Königs, erwarb den Kongo in Afrika als Privatbesitz. Nachdem die Kongogräuel (brutale Exzesse bei der wirtschaftlichen Ausbeutung des Kongo) international bekannt geworden waren, musste Leopold das Gebiet 1908 als Kolonie an den belgischen Staat abtreten. Während Leopolds Schreckensherrschaft waren in dem afrikanischen Land schätzungsweise 10 Millionen Menschen durch Sklaverei und Zwangsarbeit ums Leben gekommen. 1960 wurde der Kongo unabhängig.
Im Ersten Weltkrieg wurde das neutrale Belgien vom Deutschen Reich entsprechend dem Schlieffen-Plan überfallen und von der deutschen Armee fast gänzlich eingenommen. Das deutsche Militär ging dabei auch gegen Zivilisten mit Erschießungen, Bränden und Geiselnahmen vor. In Dinant und mehreren anderen belgischen Städten kam es zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Begründet wurden diese Übergriffe mit Partisanenaktivitäten, deren reale Grundlage jedoch umstritten ist (siehe Francs-tireurs). Im Verlauf des Stellungskrieges wurden viele Städte in Flandern zerstört, Teile des Landes verwüstet. Als im Deutschen Reich die Arbeitskräfte knapp wurden, mussten Zehntausende belgische Zivilisten – Flamen wie Wallonen – Zwangsarbeit für das kaiserliche Militär und die deutsche Rüstungsindustrie leisten.
Nach dem Krieg wurde das mehrheitlich deutschsprachige Gebiet Eupen-Malmedy durch den Vertrag von Versailles 1919 unter belgischer Verwaltung gestellt. Nach einer im Jahr 1920 wurde Ostbelgien 1925 belgisches Staatsgebiet. Belgien beteiligte sich außerdem an der Ruhrbesetzung.
Im Zweiten Weltkrieg erklärte sich das Land als neutral. Im Mai 1940 wurde es (wie auch die Niederlande und Luxemburg) von der deutschen Wehrmacht auf dem sogenannten Westfeldzug besetzt. Belgien blieb bis 1944/45 besetzt, Minderheiten wie Juden und Roma wurden in Konzentrationslager deportiert. Bis zur Befreiung durch die Westalliierten hatte es – wie halb Europa – unter der Willkürherrschaft der nationalsozialistischen Diktatur und die jüdische Bevölkerung unter ihrer Verfolgung und Vernichtung zu leiden; Städte und Landschaften blieben aber weitgehend von Kriegszerstörungen verschont. Lediglich die Ardennenoffensive im Dezember 1944 und Januar 1945 führte im Osten des Landes, vor allem um Sankt Vith und Bastogne, zu schweren Zerstörungen.
Die bereits seit 1944 geplante "Zoll- und Wirtschaftseinheit" von Belgien, den Niederlanden und Luxemburg wurde im Haager Vertrag am 3. Februar 1958 vereinbart und ist am 1. November 1960 in Kraft getreten (Benelux-Länder). Belgien zählt zu den Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und hat eine wichtige Rolle im europäischen Einigungsprozess gespielt. Das Land bzw. die belgische Hauptstadt Brüssel wurde Sitz internationaler Organisationen wie der NATO und der Europäischen Union.
Die Innenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg war von einer Föderalisierung geprägt, die sezessionistische Tendenzen der verschiedenen Sprachräume, insbesondere des flämischen Nordens, abzumildern versuchte. In Flandern erzielen separatistische Parteien hohe Stimmenanteile.
"Siehe auch: Liste der Premierminister von Belgien, Belgisch-Kongo, Flämisch-wallonischer Konflikt und Flämische Bewegung"
Politik.
Staatsform und Institutionen.
Belgien ist de jure, d. h. rein verfassungsrechtlich, eine konstitutionelle Monarchie, hat sich jedoch de facto zu einer parlamentarischen Monarchie entwickelt, die seit der Verfassungsänderung 1993 bundesstaatlich organisiert ist. Die Bundeslegislative setzt sich zusammen aus dem König sowie den beiden Parlamentskammern, der bedeutenderen Abgeordnetenkammer mit 150 und dem Senat mit 60 Mitgliedern. Das aktive und passive Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene existiert erst 1948 zu denselben Bedingungen wie das Wahlrecht für Männer.
Der König gehört auch der Exekutive an, die er zusammen mit der 15-köpfigen Föderalregierung bildet, der wiederum der Premierminister als "primus inter pares" vorsteht.
Die föderalen Institutionen sind verantwortlich für Justizwesen, Finanzpolitik, innere Sicherheit, Außenpolitik, Landesverteidigung und soziale Sicherheit.
Hoheitssymbole.
Das Königreich Belgien verfügt über eine Flagge sowie ein großes, mittleres und kleines Wappen.
Politische Parteien.
Die meisten politischen Parteien spalteten sich in den 1960er- bis 1980er-Jahren in jeweils eine flämische und eine frankophone Partei auf, häufig gibt es auch ein deutschsprachiges Pendant. Parteien derselben Gruppierung arbeiten aber mehr oder weniger eng zusammen und bilden manchmal auch Fraktionsgemeinschaften. Die deutschsprachigen Parteien sind ausschließlich regional tätig.
Flämisch-wallonische Konflikte.
Belgien ist von innerer Zerrissenheit – vor allem zwischen der flämischen (niederländischsprachigen) und der wallonischen (französischsprachigen) Bevölkerung – geprägt. Daher sind zum Beispiel Volkszählungen, welche die gesprochene Sprache der Einwohner erheben, seit 1961 verboten, um nicht immer wieder aufgrund von sich wandelnden statistischen Ergebnissen neue Konflikte um die Zugehörigkeit bestimmter auf der Sprachengrenze liegender Gemeinden zur einen oder anderen Region anzufachen. Um insbesondere die Situation in diesen gemischtsprachlichen Gegenden zu entschärfen, wurden zum Teil Fazilitätengemeinden mit besonderen Minderheitenrechten (insbesondere im Schulbereich) geschaffen.
„Insgesamt gesehen haben die Spannungen zwischen den beiden großen Volksgruppen Belgiens in der letzten Generation abgenommen. Ein Ende Belgiens ist nicht in Sicht“, urteilte 2018 der Historiker Christoph Driessen in seinem Buch "Geschichte Belgiens" und verwies darauf, dass die separatistischen Parteien in Flandern in der Minderheit seien und es in Wallonien praktisch keine separatistischen Bestrebungen mehr gebe. Jüngere Belgier sowie viele Einwanderer könnten mit dem Sprachenstreit weniger anfangen als frühere Generationen; sie folgen anderen Identifikationsmodellen, in denen der Frage der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Sprachgruppe weniger Gewicht zukommt. Dass es einen innerbelgischen Zusammenhalt gebe, habe auch die Begeisterung für die gesamtbelgische Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 gezeigt, bei der Belgien den dritten Platz belegte. Nichtsdestoweniger ist zu beobachten, dass trotz des verpflichtenden Schulunterrichts in der jeweils anderen Landessprache gute Kenntnisse des Niederländischen in Wallonien kaum verbreitet sind und die flüssige Beherrschung des Französischen in Flandern im Vergleich zu früheren Generationen abgenommen hat. Nicht nur in der Staatsstruktur, auch kulturell führen beide Bevölkerungsgruppen ein weitgehend getrenntes Dasein. Im kulturellen Sektor besteht eine ausgeprägte Affinität Flanderns zu den Niederlanden und Walloniens zu Frankreich. Gleichwohl wird darauf geachtet, dass auf föderaler politischer Ebene die Mehrsprachigkeit Belgiens demonstriert wird; so müssen Spitzenpolitiker, insbesondere in Regierungsämtern, die zweite Landessprache beherrschen (oder lernen), um zu reüssieren, und der König hält Ansprachen, die sich an alle Belgier richten, konsequent in allen drei Amtssprachen.
Politische Entwicklungen seit 2008.
Im März 2008 verständigten sich flämische und frankophone Christdemokraten (CD&V und cdH) und Liberale (VLD und MR) sowie die wallonischen Sozialisten (PS) auf die Bildung einer gemeinsamen Regierung mit Yves Leterme (CD&V) als Premierminister.
Am 18. Dezember 2008 teilte der Kassationshof – das höchste ordentliche Gericht in Belgien – in einem Brief an den Kammervorsitzenden Herman Van Rompuy mit, dass Leterme versucht habe, das Gericht in der Frage des geplanten Verkaufs der belgischen Bank Fortis an den französischen Finanzkonzern BNP Paribas zu beeinflussen; dies hatte Leterme kurz zuvor noch bestritten. Tags darauf trat Leterme zurück.
Ab dem 30. Dezember 2008 führte Herman Van Rompuy (CD&V) die belgische Föderalregierung, welche sich aus derselben Fünfparteien-Koalition zusammensetzte. Nachdem er jedoch am 19. November 2009 zum ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates designiert worden war, legte er sein Amt am 25. November 2009 nieder. Am gleichen Tag noch wurde Yves Leterme erneut zum Premierminister ernannt und führte seither seine zweite Föderalregierung in dieser Legislaturperiode. Diese Regierung zerbrach im April 2010 wieder, als nach internen Streitigkeiten um eine Lösung im Konflikt um den zweisprachigen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde die flämische liberale Partei OpenVLD ihren Rückzug aus der Regierung bekanntgab.
Bei den vorgezogenen Neuwahlen am 13. Juni 2010 gewannen die flämischen Nationalisten der N-VA unter Bart De Wever 27 der 150 Sitze und stellten damit unter den flämischen Parteien die stärkste Fraktion im Parlament. In Wallonien wurde die sozialistische PS von Elio Di Rupo stärkste politische Kraft. Die Regierungsbildung war schwierig, und erst anderthalb Jahre später konnte Elio Di Rupo eine Koalitionsregierung bilden, die am 5. Dezember 2011 ernannt wurde. Als „Tripartite“ aus den Parteifamilien der Sozialisten, Liberalen und Christdemokraten bestehend, hatte sie unter den flämischen Parteien keine Mehrheit. Mit dem Sozialisten Elio Di Rupo wurde erstmals seit dem Ende der letzten Regierung von Paul Vanden Boeynants 1979 ein Frankophoner und ein Sozialist zum belgischen Ministerpräsidenten gewählt. Bis zu seiner Wahl blieb die Regierung Leterme geschäftsführend im Amt. Die Zeitspanne von 541 Tagen von der Wahl bis zur Bildung der neuen Regierung stellt einen Rekord in der modernen Weltgeschichte dar.
Am 21. Juli 2013 – dem belgischen Nationalfeiertag – dankte König Albert II. zugunsten seines ältesten Sohnes Philippe ab, nachdem er dies am 3. Juli 2013 angekündigt hatte.
Bei der Wahl vom 25. Mai 2014 verloren vor allem die Sozialisten Stimmen, wodurch die vormalige Regierung keine Mehrheit mehr hatte. Die N-VA konnte weitere Zugewinne verbuchen. Am 11. Oktober 2014 wurde die neue Regierung, die "Coalition suédoise" („schwedische Koalition“) genannt wurde, unter dem frankophonen Premierminister Charles Michel vereidigt. Im Gegensatz zu den bisher üblichen breiten Koalitionen stammen alle beteiligten Parteien, die flämischen Nationalisten (N-VA), Christdemokraten (CD&V) und die Liberalen beider Sprachgruppen (MR und Open VLD) aus dem Mitte-rechts-Spektrum. Erstmals seit 1988 waren die Sozialisten nicht an der Regierung beteiligt, die auf frankophoner Seite keine Mehrheit hatte.
Die Regierung Michel I stürzte im Dezember 2018 über die Ratifizierung des UN-Migrationspakts, die von der N-VA abgelehnt wurde und die sich dann aus der Regierung zurückzog. Daraufhin bildete Charles Michel die Regierung Michel II ohne die N-VA-Mitglieder, die aber vor einem Misstrauensvotum am 18. Dezember 2018 zurücktrat und anschließend geschäftsführend im Amt blieb, auch über die Parlamentswahlen vom 26. Mai 2019 hinaus, da sich keine neue Mehrheit fand.
Nachdem Charles Michel als Nachfolger von Donald Tusk zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt wurde, kündigte er am 26. Oktober 2019 seinen Rücktritt an. Am 27. Oktober 2019 ernannte der König Sophie Wilmès zur neuen geschäftsführenden Ministerpräsidentin, die erste Frau in diesem Amt seit der Unabhängigkeit vor 188 Jahren. Am 17. März 2020 wurde sie vom König als ordentliche Premierministerin der Regierung Wilmès II vereidigt, nachdem ihr angesichts der COVID-19-Pandemie alle Parteien mit Ausnahme der wallonischen Kommunisten, der flämischen Nationalisten der N-VA und der der flämischen Rechtsextremisten von "Vlaams Belang" die Unterstützung zusagten. Sie versprach, sich nur um die COVID-19-Pandemie in Belgien und deren Folgen zu kümmern und nach einem halben Jahr die Vertrauensfrage zu stellen. Nachdem die Regierungsbildung weiter stockte, sich folglich eine neue Koalition sammelte, jedoch für einen der "Informateurs" wegen einer Infektion mit COVID-19 die Quarantäne angeordnet wurde, wurde die Zeit erneut verlängert.
Am 1. Oktober 2020 wurde die neue Regierung unter Premierminister Alexander De Croo vereidigt, die erstmals aus sieben Parteien der vier Parteifamilien der Sozialisten, Liberalen, Christdemokraten und Grünen besteht, und „Vivaldi-Koalition“ genannt wird. Sie gilt als linksliberal, ist erstmals paritätisch mit zehn Frauen und zehn Männern besetzt, deutlich jünger und mit fünfzehn Regierungsmitgliedern besetzt, die nie zuvor ein föderales politisches Amt ausübten. Sophie Wilmès wurde darin Außenministerin.
Europapolitik.
Belgien hat eine strategische geographische Position im Herzen Europas, inmitten eines europäischen Ballungsraumes und in der Nähe der größten Seehäfen. Dadurch besteht eine gewisse Abhängigkeit vom internationalen Handel, wobei die wichtigsten Handelspartner die Nachbarstaaten Niederlande, Deutschland und Frankreich sind. Das macht Belgien zu einer der offensten Volkswirtschaften in der Europäischen Union. Vor diesem Hintergrund verfolgt Belgien traditionell eine Öffnungspolitik zu den europäischen Nachbarn, zum einen durch die Benelux-Gemeinschaft, zum anderen im Rahmen des Europarates und der Europäischen Union, zu deren Gründungsmitgliedern Belgien gehört. Das Land ist ebenfalls Gründungsmitglied der Europäischen Währungsunion. Eurobarometer-Umfragen zeigen regelmäßig, dass die belgische Bevölkerung etwa zu zwei Drittel pro-europäisch eingestellt ist, was über dem EU-Durchschnitt von knapp über 50 Prozent liegt. Die belgische Hauptstadt Brüssel ist Sitz mehrerer EU-Institutionen und Agenturen wie die Kommission, das Parlament, der Ministerrat, der Wirtschaft- und Sozialausschuss oder der Ausschuss der Regionen, sowie zahlreicher Lobbying-Gruppen, Nichtregierungsorganisationen usw., die im Bereich der Europapolitik arbeiten.
Die belgischen Regierungen seit 1945 haben sich für den Aufbau Europas eingesetzt. Unter belgischem Ratsvorsitz in der zweiten Hälfte 2001 wurde die Einberufung des Verfassungskonvents beschlossen, der einige Jahre später den Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) hervorbringen sollte. Belgien setzte sich für den Ratifizierungsprozess des VVE ein und – nach dessen Scheitern – für die Erhaltung der Substanz des VVE im Vertrag von Lissabon, der am 13. Dezember 2007 unterschrieben wurde und am 1. Dezember 2009 in Kraft trat.
Belgiens Verteidigungspolitik stützt sich nicht nur auf die NATO (Belgien ist Gründungsmitglied), sondern auch auf die EU im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die Hauptstadt Brüssel ist sowohl Sitz der NATO-Hauptorgane als auch der Europäischen Verteidigungsagentur der EU, was Belgien zum Zentrum der euro-atlantischen Verteidigungsstrukturen macht. Das Land stellt für die EU Battlegroups Truppen bereit und beteiligt sich an Einsätzen der EU, beispielsweise an der EUFOR. Durch seine historischen Verbindungen zum afrikanischen Land Kongo hat sich Belgien als Meinungsführer bei Angelegenheiten der Großen Seen und Zentralafrikas innerhalb der EU etabliert und ist maßgeblich um eine friedliche Stabilisierung des Ostkongo bemüht.
Durch Belgiens föderale Struktur, die der Lokalebene außerordentlich viele Kompetenzen zuweist, sind sowohl die Regionen als auch die Gemeinschaften maßgeblich an der Formulierung der belgischen Europapolitik beteiligt, jedoch zugleich von der Umsetzung politischer Ziele der EU betroffen – was eventuelle lokale Unterschiede bei der Umsetzung erklärt. Zum Beispiel sind sie zuständig für Kulturpolitik und können in diesem Bereich Verträge mit ausländischen Staaten abschließen, sodass sie im Ausland ein eigenständiges Profil aufgebaut haben, zum Beispiel indem sie in einigen belgischen Botschaften Kulturreferenten stellen.
In der zweiten Hälfte 2010 hatte Belgien den Vorsitz des Ministerrates inne. Diese belgische Ratspräsidentschaft bildete das Mittelstück der Trio-Präsidentschaft mit Spanien (erste Hälfte 2010) und Ungarn (erste Hälfte 2011). Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde der Belgier Herman Van Rompuy in das neugeschaffene Amt des Präsidenten des Europäischen Rates berufen; seit dem 1. Dezember 2019 hat der Belgier Charles Michel dieses Amt inne.
Militär.
Die Belgischen Streitkräfte (niederländisch "Defensie van België", französisch "Armée belge") untergliedern sich in Heer, Marine, Luftstreitkräfte und medizinisches Korps (niederländisch "Medische Component", französisch "Corps médical"). 2006 hatten die Belgischen Streitkräfte eine Stärke von 36.000 Mann. Der freiwillige Wehrdienst wurde formell 1994 abgeschafft. Belgien gab 2017 knapp 0,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 4,4 Milliarden US-Dollar für seine Streitkräfte aus.
Die Landstreitkräfte sind mit 24.600 die größte der Teilstreitkräfte.
Die belgischen Luftstreitkräfte (niederländisch "Luchtmacht", französisch "Force Aérienne Belge") ist mit 6350 Mann die zweitgrößte Teilstreitkraft. Ihr stehen 72 F-16-Kampfflugzeuge sowie 31 Hubschrauber zur Verfügung.
Die Marine ist in einem gemeinsamen Benelux-Kommando organisiert. Sie verfügt über zwei Wielingen-Fregatten, sechs Minenjäger und ein Flusspatrouillenschiff.
Polizei.
Die Polizeireform von 2001 hat eine auf zwei Ebenen strukturierte integrierte Polizei geschaffen:
Verwaltungsgliederung.
Belgien ist seit 1993 ein Bundesstaat, der sich sowohl in drei "Regionen" als auch in drei "Gemeinschaften" gliedert. Als nachgeordnete Verwaltungseinheiten bestehen zehn "Provinzen" und 43 "Arrondissements". Die lokale Selbstverwaltung wird von den 589 Gemeinden ausgeübt.
Sowohl die Regionen als auch die Gemeinschaften sind Gliedstaaten des belgischen Bundesstaates; sie unterscheiden sich durch ihre territoriale Abgrenzung und ihre Kompetenzen. Die "Regionen" (niederländisch "gewesten," französisch "régions") sind zuständig für große Bereiche der Wirtschafts-, Umwelt-, Verkehrs- und Agrarpolitik, zudem üben sie die Rechts- und ggf. Fachaufsicht über Provinzen, Arrondissements und Gemeinden aus. Die "Gemeinschaften" (niederländisch "gemeenschappen", französisch "communautés;" früher häufig auch als Kultur- bzw. Sprachgemeinschaften bezeichnet) verantworten das gesamte Bildungswesen, die Kulturpolitik sowie weitere „personenbezogene Angelegenheiten“ (Bereiche der Familien-, Gesundheits- und Sozialpolitik, unter anderem die öffentlichen Krankenhäuser). Auch im Vergleich mit anderen Bundesstaaten verfügen Regionen und Gemeinschaften zusammengenommen über ein hohes Maß an Kompetenzen, zudem können sie in ihren Verantwortungsbereichen eigenständig Verträge mit ausländischen Staaten abschließen. Vom belgischen Staat abgeschlossene internationale Verträge, die Kompetenzen der Regionen bzw. Gemeinschaften betreffen, bedürfen der Zustimmung derer Parlamente; dies gilt beispielsweise für die Verträge der Europäischen Union. Bei der Bundesebene sind vor allem die Zuständigkeit für Außen-, Verteidigungs- und Finanzpolitik, die sozialen Sicherungssysteme sowie die Polizei und Justiz verblieben.
Die territoriale Abgrenzung der Regionen und Gemeinschaften richtet sich nach den Sprachgebieten: Die Flämische Region umfasst das niederländische Sprachgebiet, die Wallonische Region das französische und das deutsche Sprachgebiet, die zweisprachige Region Brüssel-Hauptstadt das französisch-niederländische Sprachgebiet. Die Flämische Gemeinschaft übt ihre Befugnisse auf dem niederländischen und dem zweisprachigen Sprachgebiet aus, die Französische Gemeinschaft auf dem französischen und dem zweisprachigen Sprachgebiet, die Deutschsprachige Gemeinschaft auf dem deutschen Sprachgebiet. Regionen und Gemeinschaften verfügen jeweils über ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Allerdings haben die Flämische Gemeinschaft und die Flämische Region ihre Institutionen zusammengelegt, so dass es nur ein "Flämisches Parlament" und eine "Flämische Regierung" gibt, die sowohl die Befugnisse der Region als auch die der Gemeinschaft ausüben.
Außerdem kennt Belgien auf einer tieferen Verwaltungsebene die zehn "Provinzen," die innerhalb der Regionen liegen:
Die unterste Verwaltungsebene stellen die 581 Gemeinden dar (siehe auch Liste der Gemeinden in Belgien, Liste der Gemeinden in Flandern, Liste der Gemeinden in Wallonien).
Staatshaushalt.
Der Staatshaushalt umfasste 2009 Erträge (Einnahmen) von 163 Milliarden Euro. Dem standen Aufwendungen (Ausgaben) in Höhe von 183 Milliarden Euro gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 20 Milliarden Euro beziehungsweise 6,0 % des Bruttoinlandsprodukts. Belgien ist es in den Jahren zwischen 1995 und 2007 gelungen, den relativen Anteil der Staatsverschuldung am Bruttosozialprodukt deutlich abzubauen. Dieser Erfolg wird hingegen durch die Folgen der Weltfinanzkrise seit 2007 gefährdet. Am 25. November 2011 stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s Belgien von der Bewertung „AA+“ auf „AA“ herab. Begründet wurde dies mit der schwelenden Staatskrise, dem geringen Wachstum und dem wachsenden Druck der Finanzmärkte.
Die Staatsverschuldung betrug zum 30. Juni 2016 455,3 Milliarden Euro oder 109,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) folgender Bereiche:
Wirtschaft.
Im Vergleich mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Europäischen Union, ausgedrückt in Kaufkraftstandards, erreichte Belgien 2014 einen überdurchschnittlichen Index von 118 (EU-28: 100). Das Bruttoinlandsprodukt Belgiens betrug im Jahr 2015 ca. 409,4 Milliarden Euro. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug im selben Jahr 36.500 Euro. Belgien stand trotz seiner kleinen Bevölkerung im Jahr 2016 auf Platz 20 der größten Güterexporteure. Dank seiner Lage im Herzen Europas ist es sehr eng in das Handelsnetz der Europäischen Union integriert. Die wichtigsten Handelspartner Belgiens sind die Nachbarländer Frankreich, Deutschland und die Niederlande. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Belgien Platz 20 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt das Land 2019 Platz 48 von 180 Ländern.
Die Arbeitslosenquote lag im Juni 2019 bei 5,4 Prozent und damit leicht unter dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 19 Prozent. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wurde 2019 auf rund fünf Millionen geschätzt.
Verteilung der erwerbstätigen Bevölkerung nach Sektoren (Stand: 201 und in Klammern Anteil an der gesamten Wertschöpfung 2016):
Tourismus.
Der Tourismus spielt in Belgien eine große Rolle. Im Travel and Tourism Competitiveness Report 2017 des World Economic Forum belegt Belgien Platz 21 von 136 Ländern. Belgien wurde 2016 von 7,5 Millionen ausländischen Touristen besucht, die dem Land Einnahmen in Höhe von 11,8 Milliarden US-Dollar brachten. Vor allem Deutsche, Briten, Luxemburger, Franzosen und Niederländer besuchen Belgien. Bei den Briten ist außerdem eine Art Erster-Weltkrieg-Tourismus entstanden. In Westflandern stehen noch viele alte Kriegsdenkmäler und -friedhöfe. Daneben sind alle Ferienbadeorte an der belgischen Nordseeküste (Knokke-Heist, Brügge, Blankenberge, De Haan, Bredene, Ostende, Middelkerke, Nieuwpoort, Koksijde und De Panne) sehr beliebt. Außerdem sind die Ardennen eine vielbesuchte Urlaubsregion. Von der belgischen Nordseeküste aus kann man viele Tagestouren unternehmen, etwa in die Nachbarländer Frankreich und Niederlande oder Großbritannien.
Als besonders nachgefragt haben sich auch Städtetouren nach Brüssel, Hasselt, Gent, Antwerpen und andere erwiesen. Die Stadt Brügge ist wahrscheinlich die Stadt mit dem größten Tourismus. Sie wird gelegentlich "Venedig des Nordens" genannt.
Es existiert ein eigenständiger Tourismusverband für Flandern sowie ein weiterer für das übrige Belgien.
Energiewirtschaft.
Elektrizitätsversorgung.
Belgien verfügt über zwei aktive Kernkraftwerke, die im Jahr 2022 für 46,4 Prozent der Gesamtstromerzeugung standen. In den Wintermonaten 2018/19 drohte ein Blackout, als sechs Reaktoren gleichzeitig vom Netz genommen werden sollten. Im Jahr 1999 wurde ein Atomausstieg vom Parlament beschlossen (siehe auch Kernenergie in Belgien) und 2003 ein Zeitplan bis 2025 festgelegt. Bei der Umsetzung kam es jedoch zu Verzögerungen. Im März 2022 gab die Föderalregierung die Verlängerung des Atomausstiegs bis 2035 bekannt.
Neben der Kernenergie für die Grundlast setzt Belgien u. a. auf den Ausbau von Offshore-Windparks vor der Küste und produziert eine Leistung von 2,26 Gigawatt. Belgien ist durch Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen (HGÜ) mit dem Vereinigten Königreich (Nemo Link; seit Januar 2019) und Deutschland (ALEGrO; seit November 2020) verbunden.
Medien.
Die föderale Struktur Belgiens spiegelt sich auch in der Medienszene des Landes wider. Es bestehen drei voneinander unabhängige Medienwelten auf Niederländisch, Französisch und Deutsch.
Der flämische Zeitungsmarkt ist der größte und wird von drei Verlagskonzernen dominiert: Corelio Media (u. a. Herausgeber von "De Standaard", "Het Nieuwsblad"), De Persgroep (u. a. Herausgeber von "Het Laatste Nieuws", "De Morgen", "De Tijd") und Concentra (u. a. Herausgeber von "Het Belang van Limburg", "Metro"). Die bedeutendsten Verlagsunternehmen in der Wallonie sind Rossel (u. a. Herausgeber von "Le Soir" wie auch Mitherausgeber von "L’Echo" und "Grenzecho") sowie IPM/Medi@bel.
Beim Rundfunk existieren für die drei Sprachgemeinschaften jeweils separate öffentlich-rechtliche Sender: VRT (Vlaamse Radio- en Televisieomroep) für Flandern, RTBF (Radio Télévision Belge Francophone) für die Wallonie und der BRF (Belgischer Rundfunk) für die deutschsprachige Gemeinschaft. Von den deutschsprachigen Ostbelgiern werden neben den BRF-Programmen viele Hörfunk- und Fernsehprogramme aus dem nahen Deutschland genutzt.
Bedeutendste deutschsprachige Zeitung ist das in Eupen täglich erscheinende "Grenz-Echo". Zu den Zeitschriften zählen unter anderem die deutschsprachige Ausgabe des "Belgischen Staatsblattes" (Amtsblatt der belgischen Regierung) in Brüssel, die landwirtschaftliche Publikation "Der Bauer" aus St. Vith, das städtische Mitteilungsblatt "Eupen aktuell", das Verbandsorgan "Der Öffentliche Nahverkehr in der Welt – Public Transport International" aus Brüssel oder das Quartalsmagazin "Geschwënn – Zäitschrëft vum Arelerland" für die Deutschsprachigen in Südostbelgien um die Stadt Arlon.
Vermögen.
Belgien stand laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017 auf Rang 17 weltweit beim nationalen Gesamtvermögen. Der Gesamtbesitz an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 2.453 Milliarden US-Dollar. Das Vermögen pro erwachsene Person beträgt 278.139 US-Dollar im Durchschnitt und 161.589 US-Dollar im Median (in Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 US-Dollar). Beim Vermögen je Einwohner gehört Belgien damit zu den zehn reichsten Ländern weltweit. Insgesamt war 54 Prozent des gesamten Vermögens der Belgier finanzielles Vermögen und 46 Prozent nicht-finanzielles Vermögen. Der Gini-Koeffizient bei der Vermögensverteilung lag 2017 bei 63, was auf eine relativ moderate Vermögensungleichheit hindeutet. Die obersten 10 Prozent der belgischen Bevölkerung besaßen 47,6 Prozent des Vermögens und die obersten ein Prozent besaßen 17,5 Prozent des Vermögens, was eine niedrigere Vermögenskonzentration ist als in den meisten anderen europäischen Ländern. Der Anteil der Belgier mit einem Vermögen von über einer Million US-Dollar wird auf 3,9 Prozent der Bevölkerung geschätzt.
Regionale Disparitäten.
Bereits seit dem 19. Jahrhundert bestehen in Belgien Streitigkeiten zwischen den frankophonen Wallonen und den niederländisch sprechenden Flamen (siehe auch flämisch-wallonischer Konflikt). Ein aktueller Streitpunkt hat seine Ursache in wirtschaftlichen Unterschieden zwischen den Landesteilen: Da sich die ehemals von Kohle- und Stahlindustrie geprägten wallonischen Regionen in einer Rezessionsphase befinden, ist die Arbeitslosigkeit dort im Vergleich zu den flämischen Regionen deutlich erhöht. Gleichzeitig wird das belgische Bruttonationaleinkommen zu zwei Dritteln in Flandern erwirtschaftet. Die flämische Region zahlt einen Solidarbeitrag, der in der Wallonie vor allem zur Finanzierung von Sozialleistungen verwendet wird. Diese Zahlungen sind jedoch in der flämischen Region politisch umstritten. Der wachsende Unmut über die wirtschaftliche Schwäche der wallonischen Region manifestiert sich insbesondere in der flämischen Separatistenbewegung, deren Hauptorganisationsträger die Partei Vlaams Belang ist.
Kennzahlen.
Die wichtigen Wirtschaftskennzahlen Bruttoinlandsprodukt, Inflation, Haushaltssaldo und Außenhandel entwickelten sich in den letzten Jahren folgendermaßen:
Infrastruktur und Verkehr.
Dank seiner zentralen Lage als europäisches Handelszentrum hat Belgien hat eines der weltweit dichtesten Verkehrsnetze. Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird, belegte Belgien 2016 den sechsten Platz unter 160 Ländern. Besonders gut schnitten die Parameter für internationale Schifffahrt und den logistischen Zeitaufwand ab.
Feuerwehr.
In der Feuerwehr in Belgien waren im Jahr 2019 landesweit 5.519 Berufsfeuerwehrleuten und 12.230 freiwilligen Feuerwehrleuten in 252 Feuerwachen und Feuerwehrhäusern organisiert, die 34 sogenannten Hilfeleistungszonen und der Feuerwehr Brüssel zugeteilt sind. Für Feuerwehreinsätze standen im gleichen Jahr 1.680 Löschfahrzeuge und 270 Drehleitern bzw. Teleskopmasten bereit. Die nationale Feuerwehrorganisation "Direction générale Sécurité civile" repräsentiert die belgische Feuerwehr mit ihren Feuerwehrangehörigen im Weltfeuerwehrverband CTIF.
Eisenbahn.
Belgien war mit der 1835 eingeweihten Strecke von Brüssel nach Mechelen das erste Land in Kontinentaleuropa mit Eisenbahnverbindungen.
Die staatliche Eisenbahngesellschaft heißt Nationale Gesellschaft der Belgischen Eisenbahnen (NMBS/SNCB) und betreibt eines der am dichtesten ausgebauten Bahnnetze der Welt. Für Brüssel und das Umland ist am 13. Dezember 2015 eine S-Bahn in Betrieb gegangen, seit 2018 verkehren ebenfalls in Antwerpen, Charleroi, Gent und Lüttich S-Bahnen.
Im internationalen Bahnverkehr ist Belgien mit Hochgeschwindigkeitsstrecken an seine Nachbarländer angebunden. Nach Deutschland, Frankreich, in die Niederlande, sowie ins Vereinigte Königreich über den Eurotunnel verkehren Eurostar-, ICE-, TGV- und Thalys-Züge. In die drei großen Nachbarländer und nach Luxemburg bestehen außerdem Intercity- und Regionalzugverbindungen. Der Nachtzugverkehr von und nach Belgien wurde 2020 mit dem Nightjet der Österreichischen Bundesbahnen wiederaufgenommen.
Die traditionsreiche Schlafwagengesellschaft Compagnie Internationale des Wagons-Lits, die unter anderem die Luxuszüge Orient-Express, Nord- und Süd-Express oder Ostende-Wien-Express betrieb, wurde von dem aus Lüttich stammenden Georges Nagelmackers gegründet.
Öffentlicher Nahverkehr.
Belgien verfügt über ein dicht ausgebautes Netz im öffentlichen Nahverkehr. Landesweit gibt es drei Nahverkehrsunternehmen: STIB/MIVB in Brüssel, De Lijn in Flandern und Transport en Commun (TEC) in der Wallonie.
Neben Busverkehr hat Belgien auch eine lange Geschichte mit städtischem Schienenverkehr. In Brüssel existiert ein Metro-System. Städtische Straßen- und Stadtbahnen verkehren zudem in Antwerpen, Brüssel, Charleroi und Gent. Ein neuer Betrieb in Lüttich ist in Bau.
Alle Orte entlang der gesamten Nordseeküste Belgiens sind mit der längsten Überland-Straßenbahnlinie der Welt verbunden, der Kusttram. Diese ist einer der letzten Überreste des einstigen landesweiten Überlandstraßenbahn-Netzes, welches von der Nationalen Kleinbahngesellschaft (SNCV/NMVB) betrieben wurde.
Schifffahrt.
Belgien ist ein wichtiges Transitland zwischen Mittel- und Westeuropa. Der bedeutendste Hafen ist Antwerpen an der Schelde, einer der größten und wichtigsten Seehäfen der Welt. Auch der Seehafen von Brügge-Zeebrügge gilt als einer der modernsten und bedeutendsten in Europa. Traditionelle Bedeutung als Fährhafen besaß, bis zur Eröffnung des Eurotunnels, der Hafen von Ostende.
Flugverkehr.
Der wichtigste Flughafen des Landes ist Brüssel-Zaventem. Weitere Flughäfen sind Brüssel-Charleroi, Lüttich, Antwerpen und Ostende-Brügge.
Die staatliche belgische Fluggesellschaft war bis zu ihrem Bankrott am 6. November 2001 die traditionsreiche Sabena. Sie ging in der SN Brussels Airlines auf, die sich wiederum mit Virgin Express zur Brussels Airlines vereinigte.
Straßenverkehr.
Das gesamte Straßennetz umfasste 2013 etwa 154.012 Kilometer, wovon 120.514 Kilometer asphaltiert sind.
Belgien besitzt ein sehr gut ausgebautes Autobahnnetz mit einer Länge von 1.756 Kilometern im Jahr 2010, das – wie auch alle anderen Straßen in Belgien – fast komplett mit Straßenlaternen ausgestattet und nachts beleuchtet ist. Jedoch soll diese Beleuchtung aus Gründen der Stromersparnis und damit des Klimaschutzes künftig eingeschränkt werden und folglich zwischen 0:30 Uhr und 4:30 Uhr abgeschaltet bleiben. Aufgrund des hohen ausländischen Verkehrsaufkommens war für 2008 eine Autobahnmaut in Höhe von 60 Euro geplant, die für heftige Diskussionen gesorgt hatte und bis heute nicht eingeführt wurde.
Bildung.
Das Bildungssystem ist in Belgien aufgrund der weitreichenden Befugnisse der einzelnen Gemeinschaften unterschiedlich, das Hochschulwesen wurde aber im Zuge des Bologna-Prozesses weitgehend auf zwischengemeinschaftlicher und europäischer Ebene vereinheitlicht.
Die föderale Instanz von Belgien ist zuständig für die Pensionen der Lehrer, das Festlegen des Minimalwissens zur Erlangung eines Diploms und für das Schulwesen (vom 6. bis zum 18. Lebensjahr).
Schulen der Flämischen Gemeinschaft.
Ab einem Alter von zweieinhalb oder vier Jahren besuchen die Kinder in Flandern oft eine Art Kindergarten mit Vorschule (nld. "Kleuteronderwijs"). Ab einem Alter von sechs Jahren gehen sie sechs Jahre zur Grundschule (nld. "Basisonderwijs"). Die Schulen sind öffentlich (Flämische Gemeinschaft), frei (subventioniert, meist katholisch) oder privat (nicht subventioniert). Viele katholische Schulen genießen ein höheres Ansehen als die staatlichen. Als erste Fremdsprache wird vom fünften Schuljahr an Französisch unterrichtet.
Ab dem siebten Schuljahr erfolgt der Unterricht auf einer Sekundarschule. Die Sekundarschulen (nld. "Secundair onderwijs") sind wie folgt unterteilt:
Auf KSO-Schulen, die es meist nur in den größeren Städten gibt, können die Schüler auch moderne Fächer wie z. B. Comiczeichnen, Computergrafik etc. wählen. Englisch, Französisch und Mathematik bilden Schwerpunkte des Lehrplans. Abgeschlossen wird mit dem "Diploma Secundair Onderwijs" (Abitur), der den Zugang zum Hochschulstudium ermöglicht.
Nur im BSO-Sektor können Jugendliche die Schule bereits vor dem 18. Lebensjahr (Ende der Schulpflicht) verlassen, wenn sie eine Lehre/Berufsausbildung anschließen.
Schulen der Französischen Gemeinschaft.
Die Kinder in der Französischen Gemeinschaft Belgiens können ab einem Alter von zweieinhalb Jahren in eine Art Kindergarten ("école gardienne") aufgenommen werden. Vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr besuchen sie die Primarstufe ("enseignement primaire"). Die Klassenstufen werden hier von der "première primaire" bis zur "sixième primaire" durchgezählt. Ab der "deuxième primaire" können die französischsprachigen Schüler Niederländisch lernen.
Die Sekundarstufe ("enseignement secondaire") umfasst wie die Primarstufe sechs Jahre; sie bietet zwei unterschiedliche Ausbildungsrichtungen:
Schulen der Deutschsprachigen Gemeinschaft.
Die Schulbildung hat die gleiche Alterseinteilung wie in den anderen Teilen Belgiens: Ab dem dritten Lebensjahr kann der Kindergarten besucht werden. Ab dem fünften oder sechsten Lebensjahr besucht man dann eine sechsjährige Primarschule. Weitere sechs Jahre werden auf einer Sekundarschule absolviert.
Einige Schulen umfassen alle drei Altersstufen, können also vom Kindergarten bis zum Abitur besucht werden. Andere Schulen können nur vom Kindergarten bis zum sechsten Schuljahr besucht werden, anschließend muss auf eine andere Schule gewechselt werden. Manche Schulen sind reine Sekundarschulen (siebtes bis zwölftes Schuljahr).
Bereits ab dem ersten Schuljahr wird Französisch unterrichtet. Ab dem achten Schuljahr kommt als dritte Sprache Englisch hinzu.
Ab dem neunten Schuljahr kann ein Schüler in einigen Schulen zwischen Sozial-, Naturwissenschaften, Sprachen, Kunst, Sekretariat, Wirtschaftswissenschaften oder Elektronik wählen.
Bei der Sprachenabteilung (neusprachlicher Zweig) erlernt ein Schüler neben Englisch und Französisch noch Italienisch, Spanisch und Niederländisch.
Unterrichtspflicht besteht bis zum 18. Lebensjahr, wobei ein Schüler dieser Pflicht auch mit einer Lehre entsprechen kann. Dort muss man lediglich zweimal die Woche zur Berufsschule.
Hochschulen.
Belgien hat elf Universitäten:
Im deutschen Sprachgebiet gibt es nur eine Hochschule, die Autonome Hochschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft.
Den Universitäten gleichgestellte Einzelfakultäten sind die Evangelisch-Theologische Fakultät Löwen "(Evangelische Theologische Faculteit)," die Fakultät für Protestantische Theologie Brüssel "(Faculteit voor Protestantse Godgeleerdheid)" und die Königliche Militärakademie ("Koninklijke Militaire School / École royale militaire").
In Brügge ist das renommierte Europakolleg angesiedelt.
Neben den Universitäten existieren in den drei Gemeinschaften zahlreiche weitere "Hautes Ecoles/Hogescholen" und mehrere Kunsthochschulen ("Ecoles Supérieures des Arts").
Kultur.
Gastronomie.
Eine typische gesamtbelgische Küche gibt es nicht, da zahlreiche Spezialitäten eher der flämischen Küche oder der Küche Walloniens zuzuordnen sind oder von den Kochkünsten der Nachbarländer, insbesondere Frankreichs (genauer: Lothringens), inspiriert sind. Es wurde aber eine weltbekannte Erfindung in Belgien gemacht, die häufig falsch eingeordnet wird: Pommes frites. Belgische Waffeln stellen ebenfalls eine Spezialität dar. Die bekanntesten Waffelvarianten sind die Brüsseler und die Lütticher Waffeln. Des Weiteren ist Belgien für seine Pralinen bekannt, welche zur Weltspitze gehören. Eine weitere Besonderheit ist die Sortenvielfalt der belgischen Biere, darunter zahlreiche Abteibiere (Abdijbier, Bière d’Abbaye) mit höherem Alkoholgehalt, auf besondere Weise vergorene Biere (z. B. Lambic, Geuze) oder mit Fruchtaromen versetzte Biere. Die am meisten verbreiteten Biersorten sind Jupiler und Stella Artois, die beide zum belgischen Brauereikonzern AB-InBev gehören.
Sport.
Ein beliebter Sport in Belgien ist Fußball. Die 1. belgische Liga ist eine der ältesten der Welt. In den 1970er- und 1980er-Jahren gehörte das belgische Nationalteam ("Rote Teufel" genannt) zur internationalen Spitze. Nach der Teilnahme an der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 hatte sich Belgien allerdings zwölf Jahre lang nicht mehr für ein internationales Turnier qualifizieren können. In den letzten Jahren zählte die belgische Nationalmannschaft jedoch wieder zur Weltspitze, wie sie mit dem Gewinn der Bronzemedaille bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 bewies. ("Siehe auch:" Fußball in Belgien)
Der Nationalsport in Belgien ist jedoch der Radsport. Deswegen hat Belgien auch einige Berühmtheiten im Radsport hervorgebracht. So gehörten und gehören Eddy Merckx, Roger De Vlaeminck, Johan Museeuw, Peter Van Petegem sowie Tom Boonen zu den besten Radsportlern der Welt. Wichtige Eintagesklassiker finden in Belgien statt, beispielsweise Lüttich–Bastogne–Lüttich und die Flandern-Rundfahrt.
Speziell zu erwähnen ist auch der Cyclocross, eine Spezialdisziplin des Radsports, welche im Winter ausgetragen wird. Die heimischen Rennen werden von zehntausenden Zuschauern besucht. In der Regel werden drei bis vier der ca. acht Weltcup-Wettbewerbe in Belgien ausgetragen, ebenso wie die meisten am höchsten eingestuften sonstigen Wettbewerbe. Belgien dominiert den Sport wie kein anderes Land und stellte mit Abstand die meisten Weltmeister und Weltcup-Gesamtsieger, wobei besonders Sven Nys hervorzuheben ist.
Auch der Tennissport ist im Aufwind. Die flämische Kim Clijsters und die wallonische Justine Henin gehörten lange Zeit zu den besten Spielerinnen der Welt.
In der Leichtathletik ist Kim Gevaert (100 und 200 m) Europameisterin und Tia Hellebaut (Hochsprung) Olympiasiegerin.
Rugby Union wird ebenfalls in Belgien gespielt. Der belgischen Nationalmannschaft gelang jedoch noch nicht die Qualifikation für eine Rugby-Union-Weltmeisterschaft. Belgien ist einer der Teilnehmer bei der Rugby-Union-Europameisterschaft und trifft dort auf andere aufstrebende Nationalmannschaften. Der ehemalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Jacques Rogge war für die belgische Nationalmannschaft aktiv.
Nicht vergessen werden sollte Karambolage und Billard Artistique, in denen die Sportler René Vingerhoedt und Raymond Ceulemans über Jahre die Szene dominierten. Auch für viele Amateur- und Kneipenspieler hat Billard einen hohen Stellenwert.
Der Rundkurs von Spa-Francorchamps wird zu den anspruchsvollsten Strecken im Motorsport gezählt. Hier gastieren in regelmäßigen Abständen internationale Rennserien, darunter seit 1950 die Formel 1. Zu den Höhepunkten gehört auch das jährlich stattfindende 24-Stunden-Rennen.
Mit dem Circuit Zolder verfügt Belgien über eine zweite Rennstrecke von überregionaler Bedeutung. Von 1973 bis 1984 trug hier ebenfalls die Formel 1 Rennen aus. Nivelles-Baulers, der dritte Kurs, auf dem Formel-1-Rennen stattfanden, existiert nicht mehr.
Auf der Speedwaybahn von Heusden-Zolder wurden bereits mehrmals internationale Prädikatsrennen ausgefahren. Auf der Grasbahn in Alken in der Provinz Limburg wurde bereits das Finale zur Grasbahn-Europameisterschaft ausgetragen.
Special Olympics Belgien wurde 1979 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des "Host Town Programs" von Köln betreut.
Comics.
Comics sind in Belgien generell sehr populär; ein großer bekennender Fan war zum Beispiel König Baudouin. Den "Bandes Dessinées" (kurz BD, französisch) oder "Strips" (niederländisch) begegnen Menschen häufig im Stadtbild. Qualitative Buchhandlungen in Belgien verfügen über spezielle BD-Abteilungen. Zudem werden in großen Supermärkten Comics angeboten.
Comics sind ein Hauptexportartikel belgischer Verlage, denn viele international bekannte und berühmte Comiczeichner und Autoren stammen aus Belgien, das damit im Vergleich zu seiner Größe die meisten in Europa hervorgebracht hat. Die berühmtesten sind Willy Vandersteen (Suske und Wiske), Jean Graton (Michel Vaillant), Morris (Lucky Luke), Hergé (Tim und Struppi), Peyo (Die Schlümpfe und weiteres), André Franquin (Spirou und Fantasio, Gaston und Marsupilami) und Philippe Geluck (Le Chat).
In Belgien ist es möglich, Comic als Studienrichtung an Kunsthochschulen wie der Königlichen Akademie für bildende Kunst und dem Institut Saint-Luc in Brüssel zu studieren. Daher werden die Bandes Dessinées in Belgien auch als „neunte Kunst“ tituliert. In Brüssel gibt es ein Comic-Museum (Centre Belge de la Bande Dessinée), in dem dieser Kunstrichtung auf drei Etagen gehuldigt wird.
Musik.
Im 15. und 16. Jahrhundert, der Zeit der Renaissance, waren zahlreiche Komponisten aus dem Gebiet des heutigen Belgien, vor allem aus dem Hennegau, führend und stilprägend in Europa (die sogenannten Niederländer). Bedeutende Namen sind Guillaume Dufay, Johannes Ockeghem, Josquin Desprez, Heinrich Isaac, Jacob Obrecht, Adrian Willaert, Orlando di Lasso.
Der französische Komponist César Franck wurde in Lüttich geboren, verbrachte seine ersten dreizehn Lebensjahre in Belgien und war dort bereits musikalisch aktiv, bevor die Familie 1835 nach Paris umsiedelte.
Im Jazz sind der Mundharmonikaspieler Toots Thielemans, der Tenorsaxophonist und Flötist Bobby Jaspar und der Gitarrist Philip Catherine international hervorgetreten.
Zu den bekanntesten Bands im 21. Jahrhundert zählen dEUS, Gotye, Hooverphonic und Triggerfinger.
Besonderheiten.
In Belgien ist die aktive Sterbehilfe erlaubt, auch bei Minderjährigen, und durch ein Gesetz geregelt, das dafür Ärzte mit besonderer Weiterbildung vorsieht.
Im Jahr 2017 haben insgesamt 2309 Menschen die aktive Sterbehilfe in Anspruch genommen, darunter drei Minderjährige. Im Jahr 2009 existierten 822 Fälle, davon knapp 80 Prozent in Flandern. |
593 | 22974 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=593 | Bosnien-Herzegovina | |
594 | 2983956 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=594 | Bosnien und Herzegowina | Bosnien und Herzegowina (//serbisch-lateinisch "Bosna i Hercegovina" [], , Abkürzungen: BiH/БиХ; auch Bosnien-Herzegowina oder verkürzt Bosnien genannt) ist ein südosteuropäischer Bundesstaat. Er besteht geografisch aus der Region Bosnien im Norden – die rund 80 Prozent des Staatsgebiets einnimmt – und der kleineren Region Herzegowina im Süden. Politische Teilgebiete des Bundesstaates sind die Föderation Bosnien und Herzegowina, die Republika Srpska sowie der Brčko-Distrikt als Sonderverwaltungsgebiet. Hauptstadt und zugleich größte Stadt des Staates ist Sarajevo; weitere Großstädte sind Banja Luka, Tuzla, Zenica, Bijeljina und Mostar.
Das Staatsgebiet liegt östlich des Adriatischen Meeres auf der Balkanhalbinsel und befindet sich nahezu komplett im Dinarischen Gebirge. Nachbarstaaten sind im Norden und Westen Kroatien, im Osten Serbien und Montenegro im Südosten. Des Weiteren hat der Staat bei Neum im Neum-Korridor einen rund 25 Kilometer langen Küstenstreifen an der Adria. Die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung betrug 2020 gut 3,3 Millionen (siehe Bosnier und Herzegowiner).
Der Staat ging in seiner heutigen Form aus dem Abkommen von Dayton (1995) hervor und ist laut diesem Rechtsnachfolger der Republik Bosnien und Herzegowina, die unmittelbar nach einem Referendum Anfang 1992 gegründet wurde und während des Bosnienkrieges das einzige international anerkannte von insgesamt vier Staatsgebilden auf dem Territorium Bosnien und Herzegowinas war. Der Vertrag von Dayton beendete den Krieg im Land und schuf einen einheitlichen, jedoch stark dezentralisierten (föderalistischen) Staat. Heute besteht Bosnien und Herzegowina aus den beiden Entitäten Föderation Bosnien und Herzegowina (mehrheitlich von Bosniaken und bosnischen Kroaten bevölkert) und Republika Srpska (mehrheitlich von bosnischen Serben bevölkert). Das Sonderverwaltungsgebiet Brčko wurde nachträglich aus zu beiden Entitäten zugehörigen Anteilen der Vorkriegs-Großgemeinde Brčko geschaffen und fungiert heute als Kondominium beider Entitäten, verwaltet sich jedoch selbständig.
Bosnien und Herzegowina ist Mitglied des Mitteleuropäischen Freihandelsabkommens, der Vereinten Nationen, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (Beobachterstatus), des Europarates, Teilnehmer der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und des Kooperationsrates für Südosteuropa. Des Weiteren ist der Staat seit 2010 offizieller NATO-Beitrittskandidat. Beim Gipfeltreffen der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel am 15. Dezember 2022 wurde Bosnien und Herzegowina offiziell der Status als Beitrittskandidat der Europäischen Union vergeben.
Geographie.
Bosnien und Herzegowina liegt im westlichen Teil der Balkanhalbinsel und ist in weiten Teilen durch eine bewaldete Mittelgebirgslandschaft geprägt, wobei die höchsten Berge Höhen von fast 2400 Metern über dem Meeresspiegel erreichen. Ein Teil des Berglandes, insbesondere in den westlichen Staatsteilen und der Herzegowina, ist verkarstet. Das hier anfallende Oberflächenwasser gelangt nicht in die großen Flusssysteme, sondern versickert größtenteils. Im Süden sowie in der nördlich gelegenen Save-Niederung gibt es auch flachere Regionen, die landwirtschaftlich genutzt werden. Ebenfalls im Süden befindet sich die 20 Kilometer lange Adria-Küste bei Neum.
Grenzen.
Bosnien und Herzegowina hat eine insgesamt 1538 Kilometer lange Außengrenze zu seinen drei Nachbarstaaten. Davon entfallen
Der einzige Zugang zum Meer ist der Neum-Korridor, ein Gebietsstreifen, der das kroatische Staatsgebiet auf einer Breite von etwa 7,5 Kilometern unterbricht. Der südliche Teil Kroatiens mit der Stadt Dubrovnik war ursprünglich über den Landweg nur über das Gebiet Bosnien und Herzegowinas bzw. von Osten aus Montenegro zu erreichen. Seit Mitte 2022 bildet die Pelješac-Brücke eine Straßenverbindung zwischen den beiden Teilen Kroatiens, die den Neum-Korridor umgeht.
Bosnien und Herzegowina ist aufgrund seiner zentralen Lage die einzige ehemalige jugoslawische Teilrepublik, die ausschließlich von anderen ehemaligen Teilrepubliken umgeben ist.
Geomorphologie.
Die höchstgelegenen Gebiete des Landes befinden sich im Südosten, an der historischen Grenze zwischen Bosnien und der Herzegowina. Der Gipfel des südlich von Foča an der montenegrinischen Grenze gelegenen Maglić-Massivs ist mit 2386 Metern der höchste Punkt. Der Rest des Landes ist vorwiegend von Mittelgebirgslandschaft geprägt.
Klima.
Bosnien und Herzegowina liegt im Übergangsgebiet zwischen mediterranem und kontinentalem Klima. Die Winter können sehr kalt werden und Temperaturen bis zu −20 Grad Celsius sind keine Seltenheit. Die Sommer sind aufgrund der Lage des Landes überwiegend sehr heiß und trocken.
Landschaftszonen.
Der Staat lässt sich nach den Klimazonen in drei Landschaftszonen einteilen.
An der Nordgrenze hat Bosnien und Herzegowina Anteil an der Pannonischen Tiefebene, die sich hier im Bereich der Save-Niederung erstreckt.
Die Dinarische Gebirgsregion, auch „Bosnische Dinariden“ genannt, erstreckt sich vom Südosten des Landes quer über die Mittelregion bis hin zum Nordwesten. Geprägt wird diese Landschaft von zahlreichen Bergen, die weniger verkarstet, sondern mit Waldoberflächen bedeckt sind. In dieser Landschaftszone befinden sich unter anderem Städte wie Sarajevo, Zenica und Bihać.
Diese Gebiete sind im Sommer meist sehr warm mit bis zu 35 °C und im Winter kalt, wobei die Temperatur auch auf −15 °C sinken und viel Schnee fallen kann.
Die Herzegowina ist zumeist Teil der adriatischen Küstenregion. Die von mediterranen Einflüssen geprägte Herzegowina besteht hauptsächlich aus Karst bzw. verkarsteten Gebirgszügen. Der Fluss Neretva, der aus der nordöstlichen Herzegowina durch Mostar in Richtung Adriaküste fließt, ist der größte und bekannteste dieser Region.
Gewässer.
Die wichtigsten Flüsse des Landes sind Save und Drina, die Bosnien und Herzegowina im Norden und Osten begrenzen, sowie die Bosna, welche im Landesinneren entspringt und in die Save mündet. Fast das gesamte Gebiet Bosniens gehört zum Einzugsgebiet der Save bzw. des Schwarzen Meeres, während die Flüsse der Herzegowina – zum Teil unterirdisch – in die Adria entwässern.
Die Täler der größeren Flüsse Bosniens erstrecken sich fast ausschließlich in Nord-Süd-Richtung, was für die Siedlungs- und Verkehrsgeschichte des Landes von Bedeutung ist. Zu den größeren Flüssen zählen die Una und Sana, der Vrbas und die Neretva. Abgesehen von der Save an der Grenze zu Kroatien ist kein Fluss in Bosnien und Herzegowina schiffbar.
Bosnien und Herzegowina liegt im Blauen Herz Europas.
Bosnien und Herzegowina hat wenige bedeutende Seen. Die meisten großen Stillgewässer wurden künstlich angestaut. Große Stauseen gibt es an Drina (z. B. Zvorniksee), Neretva (Jablaničko jezero), Vrbas und Trebišnjica (Bilećko jezero). Auch der Modračko jezero bei Lukavac im Kanton Tuzla ist ein Stausee.
Landnutzung.
Nur ein knappes Fünftel der Staatsfläche ist für den Ackerbau geeignet. Diese Flächen befinden sich vor allem entlang der Save, am Unterlauf der Neretva und in den Poljen der Herzegowina.
Flora und Fauna.
Die Tier- und Pflanzenwelt des Landes ist artenreich und vielfältig. Die Flora und Fauna des Landes profitiert von der geringen Bevölkerungsdichte und den unbewohnten Landstrichen. Um die 60 Prozent der Fläche von Bosnien und Herzegowina sind bewaldet, besonders das Gebirge ist sehr waldreich. Durch die schwere Zugänglichkeit ist die Natur auch wenig bedroht. So konnte der Lebensraum vieler seltener Tiere und Pflanzen erhalten werden.
Flora.
Viele bedrohte Pflanzenarten haben in den Hochgebirgen des Landes einen Lebensraum. Im Nationalpark Sutjeska am gleichnamigen Fluss befindet sich der Perućica-Urwald – einer der größten, die noch in Europa erhalten sind. Im Bereich des Dinarischen Gebirges gilt eine Höhe von 500 bis 1000 Metern als Niedrigzone. In diesem Bereich sind Eichen- und Buchenbewaldung typisch. In der Höhe von 1500 Metern kommt eine Buchen-, Fichten-, Tannen- und Kieferbewaldung vor. Ein Baum, der in fast allen Gebirgen des Landes vorkommt, ist die Waldkiefer. Eine Mischung aller dieser Baumarten findet man vor, wenn bewaldete Bereiche schon in niedriger Höhe beginnen und sich nach oben fortsetzen. In diesem Falle spricht man von einer Illyrischen Florenprovinz.
Man kann in allen Bereichen der Hochzone Gebirgsgewächse wie beispielsweise Windröschen, Thymian und Katzenkraut antreffen. Sie sind wie die klassische Alpenflora auf den Bergen zu finden. Eine Besonderheit sind die durch Höhleneinbrüche entstandenen Dolinen. Auf den großen Flächen der Dolinen findet man typische Pflanzen einer kälteren Gebirgslandschaft, während auf den Rändern mittelmeertypische Pflanzen wachsen. Ein gutes Beispiel für die Flora des Landes ist das Gebirge Bjelašnica. Man trifft am Fuße des Berges verschiedene Laubbaumarten wie Eichen, Trauben- bzw. Wintereichen, Weißdorn und Schwarzbuchen an. In den höheren Regionen herrscht ein Mischwald mit Buchen und Tannen.
Der Walnussbaum ist in Südosteuropa heimisch und in der Niedrigzone weit verbreitet. Die Hochgebirge weisen überwiegend Wacholder auf, welcher außerordentlich widerstandsfähig gegen Kälte ist. Im Frühling kann man eine große Zahl an Blumen finden. Typische Vertreter sind Veilchen, Enziane, Narzissen, Kamille, Bärlauch, duftende Schlüsselblumen, Natternköpfe und Stiefmütterchen. Viele bereits weiträumig ausgestorbene Blumen haben sich in Bosnien und Herzegowina eingebürgert, wie beispielsweise die Orchideengewächse am Prokoškosee. Manche kalkhaltige Böden bieten ideale Bedingungen für Orchideengewächse wie z. B. für das Rote Waldvöglein oder die Berghyazinthe. Wegen des warmen Klimas gedeihen in dieser Region auch Liliengewächse. Zum Beispiel wachsen in Bosnien und Herzegowina einige seltene Vertreter der Gattung "Tulipa", wie z. B. die "Tulipa biflora", die von Kroatien bis Albanien verbreitet ist oder die "Tulipa orphanidea", welche eine Seltenheit ist und von der unberührten Natur profitiert.
Zudem weist das Land eine beachtliche Anzahl an Endemiten auf. Das "Lilium carniolicum var. bosniacum" ist im zentralen Bosnien auf kalkhaltigen Böden endemisch. Lange war seine Klassifikation unklar, was dazu führte, dass man es als Unterart bzw. Varietät zu den Pyrenäen-Lilien oder als Synonym zu den "Lilia chalcedonica" zählte. Erst nach molekulargenetischen Untersuchungen wurde es schließlich der Krainer Lilie zugeordnet. Eine Pflanze, die auch lange ohne eindeutige Zuordnung war und in Bosnien gedeiht, ist "Lilium jankae". Das Vorkommen reicht bis hin zu den Rhodopen.
Fauna.
Aale kann man z. B. in Hutovo Blato antreffen. Hutovo Blato ist ein Naturpark, zu dem viele kleine Seen und Sümpfe gehören. Auch eine große Anzahl anderer Wassertierarten, besonders zahlreiche Krebsarten, kommen vor.
Von vielen verschiedenen Schlangenarten, die man in Bosnien und Herzegowina antreffen kann, sind zwei giftig. Zu den giftigen gehören die Europäische Hornotter und die Kreuzotter. Die Vierstreifennatter ist eine der ungiftigen Arten. Neben Schlangen lebt auch eine große Anzahl anderer Reptilien wie z. B. Echsen in Bosnien und Herzegowina.
Die faszinierende Vogelwelt hat sich in den bosnischen Gebirgen gut erhalten. Der Grünspecht ist in den Laubwäldern und der Schwarzspecht in den Nadelwäldern des Landes heimisch. Gänsegeier sind in einigen Bergen wie z. B. der Bjelašnica beheimatet. Zu den wichtigsten Greifvögeln des Landes gehören die Steinadler sowie die Falkenarten. Der Steinadler ist in Küstennähe und in den vielen vorkommenden Gebirgen beheimatet. Der Turmfalke ist in ganz Bosnien und Herzegowina anzutreffen. Der Lannerfalke kommt in einigen wenigen Brutpaaren in der Herzegowina vor. Auch sind unzählige Insekten- und Käfergattungen im Land vertreten.
Das größte Tier des Landes ist der vom Aussterben bedrohte Braunbär, von dem rund 2800 Exemplare in Bosnien und Herzegowina leben.
Bevölkerung.
Demografie.
Bosnien und Herzegowina hatte 2020 3,3 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug −0,6 %. Die Bevölkerung sinkt seit den 1990er-Jahren infolge des Krieges, aufgrund von Auswanderung und wegen der niedrigen Geburtenrate. 2020 stand einer Geburtenziffer von 7,8 pro 1000 Einwohner eine Sterbeziffer von 11,1 pro 1000 Einwohner gegenüber. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,2. Die Lebenserwartung der Einwohner Bosnien und Herzegowinas ab der Geburt lag 2020 bei 77,5 Jahren (Frauen: 80, Männer: 75). Der Median des Alters der Bevölkerung lag 2020 bei 43,1 Jahren und damit leicht über dem europäischen Wert von 42,5.
Name der Staatsbürger und Volksgruppen.
Die Staatsbürger Bosnien und Herzegowinas werden als "Bosnier" bezeichnet. Damit sind Bosniaken und Kroaten wie auch Serben gemeint, die in Bosnien und Herzegowina beheimatet sind. Dagegen werden mit dem Begriff "Bosniaken" ausschließlich die bosnischstämmigen Muslime bezeichnet. Alle zählen zu den „drei konstituierenden Völkern“ des Staates und sind offiziell gleichberechtigt.
Die Volkszählung 2013 ergab einen Anteil von 50,1 Prozent Bosniaken (größtenteils Muslime), 30,8 Prozent Serben (größtenteils Orthodoxe) sowie 15,4 Prozent Kroaten (größtenteils Katholiken). Der Rest der Bevölkerung gehört entweder einer der 17 offiziell anerkannten Minderheiten wie Roma und Juden an oder gab keine ethnische Zuordnung an. Die ethnische Selbstzuordnung der Bosnier basiert hauptsächlich auf ihrer Religionszugehörigkeit und der teils damit verbundenen kulturellen Unterschiede. Eine sprachliche Trennung gibt es innerhalb Bosniens nicht, da alle Volksgruppen ijekavisch-neuštokavische Dialekte des Serbokroatischen sprechen. Seit den Jugoslawienkriegen bezeichnen sie ihre Sprache jedoch in der Regel analog zur ethnischen Zugehörigkeit als Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch und verwenden den entsprechenden schriftsprachlichen Standard.
2017 waren 1,1 % der ansässigen Bevölkerung im Ausland geboren.
Sprachen.
Die Einwohner Bosniens und der Herzegowina sprechen meist ijekavische Varietäten der štokavischen Dialektgruppe, die sich untereinander kaum unterscheiden. In der geschriebenen Form werden gemäß der offiziellen Aufteilung der Bevölkerung in drei "konstituierende Völker" – Bosniaken, Kroaten und Serben – die eng miteinander verwandten Standardsprachen Bosnisch, Serbisch und Kroatisch verwendet. Je nach Sichtweise werden diese Sprachen auch zusammenfassend als "Serbokroatisch" bezeichnet.
Die drei Standardsprachen lassen sich insbesondere hinsichtlich ihrer Schrift unterscheiden. So wird Serbisch in Bosnien und Herzegowina vorwiegend in kyrillischer und in geringerem Maße auch in lateinischer Schrift geschrieben, Kroatisch dagegen ausschließlich mit dem lateinischen Alphabet. Bosnisch kann in beiden Schriftsystemen geschrieben werden, das lateinische wird jedoch im Allgemeinen bevorzugt. Im zeitlichen Umfeld des Bosnienkrieges kam die kyrillische Schrift bei bosnischen Serben vermehrt zur Anwendung, was vor allem in der gewünschten Abgrenzung von den anderen beiden Bevölkerungsgruppen begründet liegt. So war die kyrillische Schrift in der Republika Srpska zwischenzeitlich konsequenter in Gebrauch als in Serbien selbst.
Sprachlich sind die Unterschiede zwischen den drei Varianten sehr gering; sie beschränken sich auf einen kleinen Teil des Wortschatzes und betreffen gewisse Lautungen. So enthält die bosnische Standardsprache (ebenso wie die serbische Sprache) mehr Wörter osmanischer beziehungsweise türkischer Herkunft wie etwa majmun (Affe).
Neben den štokavischen Dialekten sind bei den kleineren Volksgruppen, z. B. den Roma, eigene Sprachen in Gebrauch.
Religionen.
Christentum, Islam.
In Bosnien und Herzegowina gibt es seit Jahrhunderten ein Nebeneinander verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen. Die meisten Einwohner werden formell einer der zwei großen monotheistischen Religionsgemeinschaften (Christentum und Islam) zugerechnet: Muslime (nach dem Zensus 2013 ca. 50,7 %, meist ethnische Bosniaken), mehrheitlich serbische orthodoxe Christen (2013 ca. 30,7 %) sowie mehrheitlich kroatische römisch-katholische Christen (ca. 15,2 %). Für viele Einwohner ist diese Zuordnung aber seit der jugoslawischen Zeit eher Ausdruck einer kulturellen, historischen oder familiären Verbundenheit als einer tatsächlichen Religiosität. Nach der Volkszählung von 2013 sind 0,3 % Agnostiker und 0,8 % Atheisten. 2,3 % der Gesamtbevölkerung des Staates gehören anderen Gruppen wie dem Protestantismus an, gaben nichts an, oder gaben keine Antwort.
1991 waren noch 42,8 Prozent Muslime, 30,1 Prozent Serbisch-Orthodoxe und 17,6 Prozent Katholiken. 5,7 Prozent bezeichneten sich als Atheisten; die restlichen 3,8 Prozent zählten zu anderen Glaubensrichtungen oder waren konfessionslos.
Judentum.
2008 lebten rund 1000 Juden in Bosnien und Herzegowina, etwa 900 Sepharden und 100 Aschkenasi. Die größte Gemeinde ist die von Sarajevo mit etwa 700 Mitgliedern.
1400 der 2000 im Bosnienkrieg aus Sarajevo vor allem nach Israel geflüchteten Juden haben immer noch die bosnische Staatsbürgerschaft. 600 von ihnen möchten laut einer von 2012 bis 2014 dauernden Forschungsarbeit wieder nach Sarajevo zurückkehren. Laut der Befragung sehen die Juden Bosnien und Herzegowina nach Israel als für sie zweitsichersten Staat der Welt an und bewerten die Sicherheitslage mit einer Schulnote von 1,3.
Schulwesen und Bildung.
Es besteht Schulpflicht bis zur neunten Schulklasse. Die Absolventen können sich im Anschluss daran für eine dreijährige Berufsausbildung oder für eine drei- bis vierjährige Sekundarschulausbildung an Gymnasien, kirchlichen Schulen, Kunstschulen, technischen Schulen oder Lehrerbildungsinstituten entscheiden. Der Zugang zu den Universitäten steht nach Bestehen einer Aufnahmeprüfung den Absolventen einer Sekundarschule sowie – eingeschränkt – Absolventen von Berufsschulen offen.
Die Zuständigkeit der Kantone (innerhalb der Föderation) und der Republika Srpska für die Kultur- und Bildungspolitik führt zu einem zersplitterten Bildungssystem mit teilweise ethnozentrisch bestimmten Lehrplänen. In Gebieten mit ethnisch gemischter Bevölkerungsstruktur werden Schüler häufig nach Volksgruppen getrennt unterrichtet.
Universitäten gibt es in Sarajevo, Ost-Sarajevo (Pale), Banja Luka, Mostar (die kroatisch dominierte Sveučilište Mostar und die bosniakisch dominierte Universität „Džemal Bijedić“), Tuzla, Zenica und Bihać.
2015 konnten 98,5 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben.
Geschichte.
Bosnien und Herzegowina besteht aus zwei historischen Regionen, die aber keine Beziehung zu der heutigen Einteilung in Entitäten haben: Bosnien und die Herzegowina. Der Landesname Bosnien leitet sich vom Fluss Bosna ab, der nahe der Hauptstadt Sarajevo entspringt. Der Name "Herzegowina" geht auf den von Stjepan Vukčić Kosača verwendeten Herrschertitel Herceg = Herzog ("Hercegovina"="Herzogsland") zurück.
Vorgeschichte.
Die Region wurde sehr früh von Menschen besiedelt. Archäologische Funde zeugen von den ersten Hochkulturen in Bosnien. Die Butmir-Kultur ist eine archäologische Kultur des Neolithikums in der Region von Ilidža. Sie besaß eine einzigartige Keramik und gehört zu den am besten erforschten Kulturen Europas aus der Zeit von ca. 5500 bis 4500 v. Chr. Die besterforschte Siedlung der Butmir-Kultur liegt am Rand des Ortsteiles Okolište der Gemeinde Visoko. Dort konnte durch zahlreiche Ausgrabungen zwischen 1966 und 2008 eine Siedlung der Butmir-Kultur in ihrer Entwicklung über 500 Jahre (5200 bis 4700 v. Chr.) vollständig erfasst und dokumentiert werden. Die geborgenen Gegenstände befinden sich heute im Nationalmuseum von Bosnien und Herzegowina.
Später waren die Illyrer prägende Bewohner im Gebiet des heutigen Bosnien und Herzegowina und die ersten, über die historische Informationen vorliegen. In der Antike war Bosnien lange Teil des Römischen Reiches in der Provinz Illyrien. Die Illyrer besiedelten die westliche Hälfte der Balkanhalbinsel und damit auch Bosnien in der Bronzezeit (um 1200–1100 v. Chr.). Archäologische Forschungen haben gezeigt, dass die Stämme vor allem Viehzucht und weniger Ackerbau betrieben. Auch Bergbau (Silber) wurde in Bosnien schon durch die Illyrer betrieben.
Mittelalter.
Im 7. Jahrhundert wurde die Region von slawischen Völkern besiedelt. Bereits im 9. Jahrhundert wurde Bosnien erstmals urkundlich als eine Region (Banat) erwähnt. Aus dem Banat Bosnien entstand ein Königreich, das erst ab dem 12. Jahrhundert als gefestigtes Territorium zu fassen ist. Spätestens in der Zeit kurz vor 1250 setzte sich das Fürstenhaus Kotromanić durch.
Osmanisches Reich.
1463 wurde Bosnien von den Osmanen erobert. Durch die Einwanderung der Osmanen nach Bosnien entstanden viele Moscheen und es kam vermehrt zu Konversionen der christlichen Bevölkerung zum Islam, was dazu führte, dass Bosnien aufgrund des höheren Anteils an muslimischer Bevölkerung einen Sonderstatus im Osmanischen Reich genoss. 1527 wurde das "Eyalet Bosnien" gegründet, welches das Gebiet des heutigen Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina, Teile Kroatiens, Montenegros, sowie den Sandschak von Novi Pazar umfasste, woraus um 1580 letztendlich das "Paschalik Bosnien" resultierte. Gebrochen und wieder abgeschüttelt wurde die osmanische Macht durch den Massenaufstand der bosnischen Bevölkerung 1876/78.
Habsburgermonarchie und Erster Weltkrieg.
1878 stellte der Berliner Kongress nach dem Sieg der Russen über die Osmanen die osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina unter österreichisch-ungarische Verwaltung; zusätzlich erhielt Österreich-Ungarn Garnisonsrecht im Sandschak von Novi Pazar. Die formale Annexion durch die Habsburger Doppelmonarchie 1908 löste die Bosnische Annexionskrise aus. Selbständigkeitsbestrebungen hatten es auch wegen der ethnischen und religiösen Mischung schwer. Das darauf beruhende Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo durch den bosnisch-serbischen Studenten Gavrilo Princip löste die Julikrise aus, die schließlich zum Ersten Weltkrieg führte. Daher wird es als ein wesentlicher Auslöser des Ersten Weltkrieges angesehen. Nach Kriegsende wurde das Land Bestandteil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929: Königreich Jugoslawien).
Königreich Jugoslawien (1918–1941).
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurde Bosnien und Herzegowina Teil des Königreichs Jugoslawien. Im neu gegründeten südslawischen Vielvölkerstaat herrschte der aus Serbien stammende König Petar I. (Petar Karađorđević). Im Gesamtstaat selbst war die politische Stimmung ab Mitte der 1920er-Jahre angespannt, weil vor allem Slowenen und Kroaten nach einer eigenen politischen Unabhängigkeit strebten, während Belgrad den neu gegründeten Staat serbisch dominieren wollte. In Bosnien und Herzegowina war die Situation dementsprechend, hier allerdings zwischen den bosnischen Muslimen, Kroaten und Serben.
Der Staat zeichnete sich durch Zentralismus aus; der Autonomiegedanke hinsichtlich nichtserbischer Ethnien und nichtchristlicher Religionen blieb weitgehend unterdrückt; die ethnischen und die konfessionellen bzw. religiösen Spannungen blieben bestehen und verschärften sich zum Teil noch. Der einflussreichste bosnische Politiker in dieser Zeit war der Präsident der Jugoslawischen Muslimischen Organisation, Mehmed Spaho (1883–1939).
1939 kam es zu einem Abkommen "(sporazum)" zwischen serbischen und kroatischen Vertretern, welches die Einrichtung einer weitgehenden kroatischen Autonomie unter Einbeziehung von Teilen Bosniens und der Herzegowina vorsah. Im Frühjahr 1941, während des Zweiten Weltkrieges, wurde das Land von Truppen des Deutschen Reiches und Italiens besetzt. Bosnien und Herzegowina wurde ein Teil des faschistischen Vasallenstaates namens Unabhängiger Staat Kroatien.
Der erfolgreiche Widerstand der von Josip Broz Tito geführten jugoslawischen Partisanen gegen die Besatzer und ihre Verbündeten gipfelte in den AVNOJ-Beschlüssen vom 29. November 1943 in Jajce, in denen der Grundstein für eine neue Föderation südslawischer Völker unter der Führung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens KPJ gelegt wurde.
Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (1945–1992).
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand mit der Gründung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien ein Bundesstaat mit den sechs Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Serbien mit den Autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina. Die Sozialistische Republik Bosnien und Herzegowina war flächenmäßig die drittgrößte Teilrepublik. Ökonomisch betrachtet lag Bosnien und Herzegowina in Jugoslawien hinter den Teilrepubliken Slowenien, Kroatien sowie Serbien, da es hauptsächlich auf den industriellen Sektor und teils auf landwirtschaftlichen Betrieb ausgelegt war, im Kontrast zu Slowenien und Kroatien, die vor allem auf den Tourismus ausgelegt waren.
Unabhängigkeit und Bosnienkrieg.
Nach dem 14. Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens 1990 wurde die Kommunistische Partei Jugoslawiens aufgelöst. Damit endete nach 45 Jahren "de facto" die Herrschaft der Kommunistischen Partei in Jugoslawien. Slowenische und kroatische Politiker schlugen eine Umgestaltung des Staates vor. Sie wollten den Sozialismus beseitigen und eine westlich orientierte demokratische Regierung ins Leben rufen. Da alle Vorschläge von serbischer Seite abgelehnt wurden und ein System nach dem Prinzip „ein Mann – eine Stimme“ propagiert wurde, kam es während des Kongresses zu heftigen Streitigkeiten. Deshalb erklärten Slowenien und Kroatien 1991 ihre Unabhängigkeit, so dass Jugoslawien nunmehr nur noch aus den Teilrepubliken Serbien, Montenegro, Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina bestand. Am 29. Februar/1. März 1992 stimmten in Bosnien und Herzegowina bei einem von der serbischen Bevölkerung weitgehend boykottierten Referendum 99,4 % der Abstimmenden für eine staatliche Souveränität, bei einer Wahlbeteiligung von 63 %. So erklärte der Staat am 3. März 1992 seinen Austritt aus dem jugoslawischen Staatsverband und seine Unabhängigkeit unter dem offiziellen Namen Republik Bosnien und Herzegowina ("Republika Bosna i Hercegovina") in den Grenzen der vorherigen Teilrepublik. Die internationale Anerkennung erfolgte am 17. April 1992, jedoch erkannten die serbischen Vertreter die Unabhängigkeit nicht an und gründeten in den von ihnen kontrollierten Gebieten die „Serbische Republik Bosnien und Herzegowina“ "(Srpska republika Bosna i Hercegovina)", die der Vorgänger der heutigen Republika Srpska ist. Der nunmehr ausbrechende und über drei Jahre andauernde Bosnienkrieg zwischen der Armee der Republik Bosnien und Herzegowina (ARBiH), der Armee der serbischen Republik (VRS), dem Kroatischen Verteidigungsrat (HVO) und weiteren Akteuren forderte insgesamt etwa 100.000 Todesopfer.
Nachkriegszeit.
Am Ende des Bosnienkrieges stand der 1995 in Dayton (USA) paraphierte und in Paris am 14. Dezember unterzeichnete Dayton-Vertrag, der den nunmehr föderal organisierten Staat Bosnien und Herzegowina schuf, bestehend aus den beiden Entitäten Föderation Bosnien und Herzegowina und Republika Srpska. Die innenpolitische Situation war jedoch weiter von den Folgen des Krieges und den anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen den drei Volksgruppen bestimmt (siehe Internationale Konflikte der Nachfolgestaaten Jugoslawiens). Zwar bestehen in der Regel keine Konflikte zwischen den bosnischen Normalbürgern, allerdings steckt der Staat weiterhin in einer politischen Krise, da verschiedene Vorstellungen über die Zukunft des Staates bestehen. Vor allem bosniakische Politiker möchten den Gesamtstaat wieder zentralisieren und mittelfristig in die Europäische Union integrieren; kroatische Vertreter setzen sich für ein neues Wahlrecht und teilweise für die Schaffung einer dritten (kroatischen) Entität ein und die Vertreter der Republika Srpska fordern eine weitere Dezentralisierung des Staates oder sogar die Abspaltung der Republika Srpska. Keines der drei Modelle fand bisher eine politische Mehrheit im Gesamtstaat.
Im Februar 2014 kam es zunächst in Tuzla und später in zahlreichen weiteren Städten des Staates zu teils gewalttätigen Protesten, die sich gegen die schlechte wirtschaftliche Situation und die Korruption in Politik und Verwaltung richteten.
Serbische Politiker in Banja Luka und Belgrad fördern Spaltungstendenzen, die die fragile Konföderation zerbrechen könnten. Vier Autoren schrieben im März 2022, dies lasse sogar einen neuen Krieg zwischen den Volksgruppen möglich erscheinen.
Am 12. Oktober 2022 empfahl die EU-Kommission, Bosnien und Herzegowina den Beitrittskandidatenstatus zu verleihen.
Politik.
Politisches System.
Das politische System wird von Wissenschaftlern und Journalisten häufig als „kompliziertestes Regierungssystem der Welt“ bezeichnet. Der Gesamtstaat, die Entitäten und die 10 Kantone haben jeweils eigene legislative und exekutive Strukturen. Dazu unterliegt der Staat noch einem internationalen Mandat, siehe Abschnitt Gliederung des Staates.
Faktisch übt einen Teil der Staatsgewalt der Hohe Repräsentant – seit August 2021 der Deutsche Christian Schmidt – als Vertreter der internationalen Gemeinschaft aus, was damit begründet wird, dass infolge des im Krieg entstandenen gegenseitigen Misstrauens unter den Verantwortlichen der Volksgruppen nach wie vor eine Blockadehaltung vorherrsche. Außerdem sind nach wie vor rund 1000 ausländische Soldaten im Rahmen der EUFOR-Operation „Althea“ in Bosnien und Herzegowina stationiert.
Die volle rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Geschlechter und damit das aktive und passive Frauenwahlrecht wurden erstmals in der Verfassung von 1946 (nach einer abweichenden Quelle für das aktive und passive Frauenwahlrecht: 31. Januar 1949) garantiert.
Parteien.
Die Parteienlandschaft von Bosnien und Herzegowina ist durch die innere Spaltung zersplittert. Während die Regierungsparteien relativ überschaubar sind, befinden sich viele unterschiedliche Parteien in der Opposition.
Unter den bosniakischen Parteien ist die SDA die stärkste. Auf serbischer Seite dominiert die SNSD um Milorad Dodik, bei den Kroaten die HDZ BiH. Die stärksten multiethnischen Parteien sind die SDP und die DF.
Wahlen 2006 und Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union.
Die Wahlen am 1. Oktober 2006 galten als zukunftsweisend, weil die internationale Gemeinschaft 2007 den Hohen Repräsentanten abziehen und Bosnien und Herzegowina in die volle Souveränität überführen wollte. Im Nachhinein wurde dieses Vorhaben zunächst um ein weiteres Jahr verschoben. In das Staatspräsidium wurden der Bosniake Haris Silajdžić von der Partei für Bosnien und Herzegowina (SBiH), der Serbe Nebojša Radmanović vom Bund der Unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD) und der Kroate Željko Komšić von den multi-ethnischen Sozialdemokraten gewählt. Komšić schlug in einem Kopf-an-Kopf-Rennen seinen Kontrahenten von der nationalistischen Kroatischen Demokratischen Union in Bosnien und Herzegowina (HDZ BiH). Nationalistische kroatische Gruppen hatten daraufhin protestiert, Komšić könne nicht kroatische Interessen vertreten, da in erster Linie Mitglieder anderer Volksgruppen für ihn gestimmt hätten. Die bosnisch-serbische Partei SNSD hatte vor den Wahlen erneut ein Referendum für die Unabhängigkeit der Republika Srpska gefordert, falls die Forderungen nach einer stärkeren Zentralisierung nicht aufhörten. Silajdžić setzte sich für eine Verfassungsänderung ein, die ein Zusammenwachsen Bosniens in einen „funktionsfähigen“ Staat ermöglichen solle. Dies wird teilweise so interpretiert, dass er die Existenz der Entitäten infrage stellte. Im Januar 2008 bekräftigte der Vorsitzende des SNSD, Milorad Dodik, die Zugehörigkeit der Republika Srpska zum Gesamtstaat und seinen Willen, diesen aufrechtzuerhalten. 2010 hatte Dodik jedoch mehrfach von einer möglichen Abspaltung der serbischen Staatshälfte gesprochen beziehungsweise davon, dass er dem Fortbestand Bosniens keine Chancen einräume.
Ende Februar 2008 beschlossen EU-Vertreter gemeinsam mit Gesandten der USA und Russlands, den Hohen Repräsentanten auf unbestimmte Zeit im Land zu lassen. Am 16. Juni 2008 wurde das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union abgeschlossen, das als wichtige Vorstufe für den angestrebten Beitritt zur EU gilt. Die Unterzeichnung wurde von einer Polizeireform abhängig gemacht. Die Polizei beider Staatsteile wurde aufgerufen intensiver miteinander zu kooperieren, insbesondere um weitere Kriegsverbrecher zu überführen. Seit 2003 agiert die European Union Police Mission (EUPM) in Bosnien und Herzegowina. Primär ist sie für die Bekämpfung des organisiertem Verbrechens und für die Beratung hinsichtlich der Polizeireform zuständig.
Wahlen 2010 und verzögerte Regierungsbildung.
Bei den allgemeinen Wahlen am 3. Oktober 2010 wurden zu Mitgliedern des Staatspräsidiums gewählt: Željko Komšić (bosnisch-kroatisches Mitglied), Bakir Izetbegović (bosnisch-bosniakisches Mitglied) und Nebojša Radmanović (bosnisch-serbisches Mitglied). Bei dieser Wahl bestanden jedoch Zweifel, ob der Sieg in zwei Fällen nicht durch Wahlbetrug zustande kam. Die Wahlkommission hatte eine Neuauszählung der ungewöhnlich vielen als ungültig gewerteten Stimmen bei der Wahl des serbischen und des bosniakischen Mitglieds des Staatspräsidiums angeordnet. Nach Neuauszählung wurden alle drei gewählten Mitglieder des Staatspräsidiums bestätigt und in der konstituierenden Sitzung am 10. November 2010 wurde Nebojša Radmanović zum ersten Vorsitzenden des Staatspräsidiums gewählt.
Neben dem Staatspräsidium wurden das aus zwei Kammern bestehende gesamtstaatliche Parlament, die Parlamente der Bosniakisch-Kroatischen Föderation und der Republika Srpska, der Präsident des serbischen Teilstaates, seine beiden Vizepräsidenten sowie in der Föderation die Parlamente der zehn Kantone gewählt.
Nach den Wahlen im Oktober 2010 verhinderten Konflikte unter den führenden bosniakischen, serbischen und kroatischen Parteien die Bildung einer Regierung. Erst nach fast 15 Monaten, in denen u. a. der Internationale Währungsfonds und die Europäische Union ihre Kreditzahlungen ausgesetzt hatten, einigten sich die sechs großen Parteien der drei Volksgruppen Ende Dezember 2011 auf eine neue Regierung. Wäre die Einigung nicht vor dem 1. Januar 2012 zustande gekommen, hätten sämtliche Zahlungen aus dem Staatshaushalt eingestellt werden müssen. Medienberichten zufolge sollen sich die politischen Vertreter auch auf den Haushalt 2012 und einige EU-konforme Gesetze geeinigt haben. Anfang Januar 2012 wurde Vjekoslav Bevanda von der Kroatischen Demokratischen Union in Bosnien und Herzegowina ("HDZ BiH") vom Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt.
Wahlen 2014 und Regierungsbildung 2015.
Bei den Wahlen am 12. Oktober 2014 traten 51 politische Parteien, 14 andere Bündnisse und 15 unabhängige Kandidaten an. Die Wahlbeteiligung lag bei 54,14 Prozent, etwa 2 Prozentpunkte weniger als 2010.
Ins Staatspräsidium wurden gewählt: Bakir Izetbegović als bosniakisches Mitglied mit 32,87 %, Dragan Čović als kroatisches Mitglied mit 52,2 % sowie Mladen Ivanić als serbisches Mitglied mit 48,71 %.
In den Wahlen für das gesamtstaatliche Parlament gewannen die Sitze aus der Föderation folgende Parteien: SDA (27,87 %, 9 Sitze), DF (15,33 %, 5), SBB (14,44 %, 4), HDZ BiH Koalition (12,15 %, 4), SDP (9,45 %, 3), HDZ 1990 (4,08 %, 1), BPS (3,65 %, 1) und A-SDA (2,25 %, 1). Die Sitze der Republika Srpska gehen an SNSD (38,46 %, 6 Sitze), SDS (33,64 %, 5), PDP-NDP (7,76 %, 1), DNS (5,72 %, 1) und SDA (4,88 %, 1).
Bildung der gesamtstaatlichen Regierung 2015.
Erst knapp sechs Monate nach der Wahl wurde die neue gesamtstaatliche Regierung gebildet und von einer Fünfparteienkoalition des Abgeordnetenhauses bestätigt. Vorsitzender des Ministerrats und damit Regierungschef wurde Denis Zvizdić von der SDA. Die HDZ bekam drei der neun Ministerposten, obwohl sie bei den Wahlen nur 7,5 Prozent der Stimmen erhielt. Die multiethnische Demokratska Fronta (DF) stellte trotz 9,2 Prozent nur einen Minister. Außenminister wurde der Serbe Igor Crnadak. Die serbischen Parteien, die in der Regierung saßen, gelten als reformorientiert und nicht separatistisch. Die in der Republika Srpska führende SNSD wurde auf Gesamtstaatsebene ausgegrenzt.
Wahlen 2018 und Regierungsbildung 2019.
Bei den Wahlen am 7. Oktober 2018 erlangten 14 Parteien bzw. Bündnisse Sitze im Abgeordnetenhaus. Die Wahlbeteiligung lag bei 54,02 Prozent. In das dreiköpfige Staatspräsidium wurden als bosniakischer Kandidat Šefik Džaferović, als kroatischer Kandidat Željko Komšić, und als serbischer Kandidat Milorad Dodik gewählt.
Erst 14 Monate später, im Dezember 2019 wurde eine neue Regierung mit den Koalitionspartnern SDA, SNSD, SBB, HDZ und DF im Parlament bestätigt. Die Regierungsbildung hatte sich vor allem deshalb in die Länge gezogen, weil sich politische Kräfte in der Republika Srpska gegen die Unterzeichnung eines Arbeitsprogramms mit der NATO stemmten. Regierungschef (Vorsitzender des Ministerrats) wurde Zoran Tegeltija (SNSD, Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten).
Wahlen 2022 und Regierungsbildung 2023.
Bei den Wahlen am 2. Oktober 2022 erlangten, wie bereits vier Jahre zuvor, 14 Parteien bzw. Bündnisse Sitze im Abgeordnetenhaus. Die Wahlbeteiligung lag bei 50,41 Prozent. In das dreiköpfige Staatspräsidium wurden als bosniakischer Kandidat Denis Bećirović (SDP), als kroatischer Kandidat Željko Komšić (DF) und als serbische Kandidatin Željka Cvijanović (SNSD) gewählt. Im Januar 2023 wurde eine neue Regierung gebildet und zwar mit den Koalitionspartnern HDZ, SNSD und einer multiethnischen Allianz unter der Führung der SDP ("Osmorka"). Damit wurde die unter den Bosniaken führende Partei SDA auf der Gesamtstaatsebene von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen. Als Vorsitzende des Ministerrates und damit als Regierungschefin wurde Borjana Krišto (HDZ) ernannt. Krišto ist die erste Frau in der Funktion als Vorsitzende des Ministerrates von Bosnien und Herzegowina.
Menschenrechtssituation.
Bosnien und Herzegowina hat die UN-Frauenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll zur Frauenrechtskonvention ratifiziert. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Die Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte stellte in ihrem Bericht 2008 fest, dass Diskriminierung in einigen Lebensbereichen wie bei der Beschäftigung stattfindet. Auch sei die Situation der Verteidiger der Menschenrechte alarmierend. Attacken gegen Journalisten seien eskaliert. Bei dem ersten "Queer Festival" zum Thema Menschenrechte und Sexualität im September 2007 sei einer Organisatorin mit dem Tod gedroht und acht Teilnehmer seien geschlagen worden. Vor dem Festival hätten Politiker, Geistliche und einige Medien eine Kampagne gegen die Veranstaltung gestartet.
Unter Berufung auf "BH Journalists" sprach der Report 2008 von 54 Fällen, in denen die Rechte von Journalisten oder die Pressefreiheit verletzt worden waren. Es seien 25 Fälle registriert worden, in denen Journalisten angegriffen oder bedroht wurden, auch mit dem Tod.
Militär.
Bis Ende 2005 lag die Verteidigungspolitik bei den beiden Entitäten. Seit 2006 unterstehen die Streitkräfte der Staatspräsidentschaft und dem 2004 geschaffenen Verteidigungsministerium der Staatsebene. Die gemeinsame Armee besteht aus bis zu 10.000 aktiven Berufssoldaten und einer etwa halb so starken „aktiven Reserve“. Neben den formal integrierten operativen Strukturen bestehen jeweils ein bosniakisches, serbisches und kroatisches Regiment, die die Traditionen der drei Teilstreitkräfte ARBiH, HVO und VRS fortführen sollen. Die allgemeine Wehrpflicht wurde am 1. Januar 2006 aufgehoben. Angestrebt wird die Integration der Streitkräfte in europäische und euroatlantische Strukturen und die Beteiligung an UN-Einsätzen. 2006 trat Bosnien und Herzegowina der NATO-„Partnerschaft für den Frieden“ bei. Im Oktober 2010 wurde ein aus 45 Mitgliedern bestehendes militärisches Kontingent zur Unterstützung der International Security Assistance Force (ISAF) nach Afghanistan entsandt. Die Truppenstärke hat sich bis 2012 auf 53 Soldaten erhöht.
Gliederung des Staates.
Die politische Gliederung des Staates ist komplex. Seit dem Dayton-Vertrag (auch bekannt als "Dayton-Friedensabkommen") besteht Bosnien und Herzegowina aus zwei Entitäten: der Föderation Bosnien und Herzegowina ("Federacija Bosne i Hercegovine") mit 2.371.603 Einwohnern (62,55 %) und der Republika Srpska mit 1.326.991 Einwohnern (35 %). Beide Entitäten verfügen jeweils über eine eigene Exekutive und Legislative. Der Distrikt Brčko um die gleichnamige nordbosnische Stadt mit 93.028 Einwohnern (2,45 %) untersteht als Kondominium beider Entitäten direkt dem Gesamtstaat.
Die Föderation Bosnien und Herzegowina setzt sich aus zehn Kantonen zusammen, die über eigene Zuständigkeiten verfügen. Zu statistischen Zwecken ist auch die Republika Srpska in Regionen eingeteilt, die jedoch keine verwaltungstechnische Bedeutung haben. Die unterste Verwaltungsebene nehmen die 142 Gemeinden ("općine" bzw. "opštine") ein.
Kantone der Föderation Bosnien und Herzegowina.
Der gesamtstaatlichen Ebene waren zunächst nur die Außenpolitik, die Geldpolitik sowie die Außenwirtschaftsbeziehungen zugeordnet. In den vergangenen Jahren wurden die Kompetenzen des Zentralstaats um weitere Aufgaben ergänzt (Verteidigung, Zoll und indirekte Steuern, Verfolgung und Aburteilung von Kriegsverbrechern und Bekämpfung der Schwerkriminalität).
Neben den Regierungen und Parlamenten der beiden Entitäten gibt es eine gemeinsame Regierung und ein gemeinsames Parlament (Abgeordnetenhaus mit 42 Sitzen und "Kammer der Völker" mit 15 Sitzen) für den Gesamtstaat. Die drei Volksgruppen haben je einen Vertreter in einem dreiköpfigen Staatspräsidium. Die Bosniaken und Kroaten wählen ihre beiden Vertreter in der Föderation, die bosnischen Serben ihren in der Republika Srpska. Der Vorsitz des Staatspräsidiums wechselt alle acht Monate. Die Einschränkung, dass nur Angehörige der drei konstituierenden Völker für das Staatspräsidium kandidieren dürfen, wurde vom EGMR als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot und das Recht auf freie Wahlen gewertet.
Städte.
Große Landesteile sind nur dünn besiedelt. Vereinfacht dargestellt konzentriert sich der Großteil der Bevölkerung im Raum Sarajevo sowie in den Tälern der größeren Flüsse, v. a. der Bosna.
Die größten Städte in Bosnien und Herzegowina sind (Einwohnerzahlen für die Großgemeinden):
Wirtschaft.
Allgemeine Entwicklung.
Im früheren Jugoslawien gehörte Bosnien und Herzegowina zu den wirtschaftlich schwächeren Regionen. Nach dem Ende des Bosnienkriegs kam es zunächst zu einem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum. Die strikte Geldpolitik, die einen festen Wechselkurs der Konvertiblen Mark zum Euro beinhaltet, trug zur Stabilität der Währung bei. Das Bankwesen wurde reformiert, wobei ausländische Banken 85 Prozent der Banken kontrollieren.
Die offiziell angegebene Arbeitslosenquote liegt bei 28,2 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit sogar 67,6 % wobei diese Quote durch einen großen grauen Wirtschaftssektor reduziert wird. Die Einführung einer Mehrwertsteuer 2006 hat die Staatseinnahmen erhöht.
Die Exporte sind noch wenig diversifiziert; Mineralien und Holz machen 50 Prozent aller Exporte aus. Das hohe Leistungsbilanzdefizit konnte bisher durch Transferleistungen von Bosniern, die im Ausland leben, ausgeglichen werden. Haupthandelspartner von Bosnien und Herzegowina ist die Europäische Union mit einem Anteil von etwa 50 Prozent. Österreich ist wertmäßig der größte ausländische Investor vor Slowenien. Als problematisch für die wirtschaftliche Entwicklung werden der große und ineffiziente öffentliche Sektor, bürokratische Hindernisse für Unternehmer und der fragmentierte Arbeitsmarkt, der die ethnische Teilung des Staates widerspiegelt, angesehen. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Staates misst, belegt Bosnien und Herzegowina Platz 103 von 137 Staaten (Stand: 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt der Staat 2017 Platz 92 von 180 Staaten.
Die globale Finanzkrise wirkt sich in einer starken Rezession aus. Sie betraf zunächst den Rückgang bei den Exporten und nachfolgend einen drastischen Einbruch auch bei der Inlandsnachfrage. Einige große Industriebetriebe mussten ihre Produktion vorläufig einstellen. Im ersten Quartal 2009 wurden aus der Föderation Rückgänge der Industrieproduktion um 10 Prozent gemeldet, während in der Republika Srpska noch ein Anstieg um 13 Prozent registriert wurde (begünstigt hauptsächlich durch die Inbetriebnahme eines großen erdölverarbeitenden Betriebes). Viele bedeutende industrielle Bereiche in beiden Entitäten berichteten über Rückgänge in der Größenordnung von 20 Prozent.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Staates betrug 2015 ca. 14,21 Milliarden Euro, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 3.749 Euro. Bosnien und Herzegowina hat sich mittlerweile weitgehend von der Finanzkrise erholt. 2014 wuchs die Wirtschaft um 1,05 %. 2015 wurde eine Wachstumsrate von 2,1 % verzeichnet. In den nächsten Jahren wird ein jährliches Wirtschaftswachstum von über 3 % erwartet.
Kennzahlen.
Alle BIP-Werte sind in US-Dollar angegeben.
Währung.
Die Konvertible Mark (Abkürzung KM, im internationalen Zahlungsverkehr Abkürzung BAM (nach ISO 4217)) ist seit 22. Juni 1998 in ganz Bosnien und Herzegowina gültiges Zahlungsmittel. Die KM ist im festen Verhältnis 1,95583:1 zum Euro gebunden und entspricht somit dem Wert der früheren D-Mark.
Laut Gesetz müssen alle Rechnungen im Inland mit der Konvertiblen Mark ausgewiesen werden. Dennoch wird verbreitet auch der Euro, sowie regional auch der serbische Dinar angenommen, obwohl dies offiziell nicht erwünscht ist.
Staatshaushalt.
Laut Schätzungen der CIA umfasste der Staatshaushalt 2016 Ausgaben von umgerechnet 7,975 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 7,681 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 1,7 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 nach Schätzungen des IMF 44,3 % des BIP.
Die Staatsausgaben (in % des BIP):
Tourismus, Sehenswürdigkeiten.
Der Tourismus konnte sich auch kriegsbedingt nur langsam entwickeln. Seit einigen Jahren kommen immer mehr Touristen nach Bosnien und Herzegowina – insbesondere nach Mostar und Sarajevo.
Wichtige Reiseziele.
Weitere sind die Burg und Festungsmauern von Počitelj, das mittelalterliche Schloss von Travnik, die Befestigungsanlage und das Amphitheater von Banja Luka, die Seen Blidinjsko jezero, Prokoško jezero und Šatorsko jezero, zahlreiche mittelalterliche Grabsteine (Stećci) vor allem in der Herzegowina, die Raftingangebote auf den Flüssen Neretva, Una, Vrbas und Drina, der Adria-Küstenort Neum mit der höchsten durchschnittlichen Jahrestemperatur des Landes sowie die von US-Präsident Bill Clinton eingeweihte Gedenkstätte in Potočari für die Opfer des Massakers von Srebrenica.
Sarajevo.
In Sarajevo und Umgebung befinden sich zahlreiche Sehenswürdigkeiten. Die "Lateinerbrücke" beispielsweise war Ausgangspunkt des Ersten Weltkrieges, da hier das Attentat auf Franz Ferdinand von Österreich und dessen Frau verübt wurde. Das Bosmal City Center (118 m) und der Avaz Twist Tower (142 m) wurden 2001 bzw. 2009 fertiggestellt und sind aktuell die höchsten Gebäude auf der Balkanhalbinsel. Des Weiteren sehenswert sind die komplette Altstadt "Baščaršija" mit dem türkischen Wasserbrunnen Sebilj und die Vijećnica, das alte Rathaus der Stadt. Weiterhin gibt es in der Stadt viele prächtige historische Moscheen (z. B. Gazi-Husrev-Beg-Moschee, größte historische Moschee des Landes) und Kirchengebäude.
In der näheren Umgebung liegen zudem die Wintersportgebiete Bjelašnica und Jahorina, wo auch schon die Olympischen Winterspiele 1984 ausgetragen wurden.
An die Belagerung der Stadt während des Bosnienkrieges erinnern der Sarajevski ratni tunel (Sarajevo-Tunnel), das Historijski muzej Bosne i Hercegovine (Historisches Museum von Bosnien und Herzegowina), die „Rosen von Sarajevo“ und die noch zahlreich vorhandenen Zerstörungen und Einschusslöcher an Gebäuden, vornehmlich am Stadtrand.
Die Stadt bietet darüber hinaus noch weitere Museen, die sich der geschichtlichen Aufarbeitung der Stadt und des ganzen Staates widmen. Dazu zählen etwa das Nationalmuseum und das Museum von Sarajevo.
Infrastruktur.
Energiesektor.
Beide Entitäten besitzen in der Energiepolitik wie in vielen anderen Bereichen eine weitgehende Autonomie. So gibt es zwei Energieministerien, die jeweils unterschiedliche Gesetze und Verordnungen erlassen. Die staatsweite Stromregulierungsbehörde DERK hat auf Entitätsebene jeweils eine Regulierungskommission. Der Markt wird unter drei Stromkonzernen aufgeteilt. Die EP RS beliefert die Republika Srpska, die EP BiH und die EP HZHB versorgen die Föderation. Dabei gibt es keine Trennung zwischen der Stromerzeugung und -verteilung. In der Föderation Bosnien und Herzegowina sind die Unternehmen EP BiH und EP HZHB für beides zuständig, und in der Republika Srpska arbeiten Gesellschaften, die zum Konzern EP RS gehören, an der Stromverteilung. Zur Stromübertragung gibt es den gesamtstaatlichen unabhängigen Netzbetreiber NOS BiH und das für den Elektrizitätstransfer zuständige Unternehmen "Elektroprenos-Elektroprijenos Bosne i Hercegovine a.d.", das ebenfalls landesweit tätig ist.
Elektroenergie wird in Bosnien und Herzegowina primär durch Kohle- und Wasserkraftwerke erzeugt. Die Kohlereserven belaufen sich auf ca. 4 Mrd. Tonnen, das Wasserkraftpotenzial wird auf 6800 MW geschätzt, wovon bisher nur 35 % ausgeschöpft werden. Die geplanten Investitionen im Energiesektor bis 2020 belaufen sich auf 3,9 Mrd. Euro (Stand 2009). Die Primärenergieerzeugung in Bosnien und Herzegowina wurde 2007 zu 9,4 % durch erneuerbare Energien gedeckt. Etwa 50 % der gesamten Landesfläche ist mit Wald bedeckt, was auf ein großes Biomassepotenzial hinweist. Expertenschätzungen zufolge könnten 9.200 GWh aus Biomasse erzeugt werden. 2009 beschränkte sich die Nutzung der Biomasse auf etwa 4,2 % und ausschließlich auf die Beheizung von Haushalten. In Gebieten ohne Fernwärmenetz betrug der Verbrauch von Biomasse in Form von Holz und Holzkohle bis zu 60 % des gesamten Energieverbrauchs.
Verkehr.
Straße.
Das gesamte Straßennetz umfasste 2010 etwa 22.926 km, wovon 19.426 km asphaltiert sind.
Seit 2001 ist mit der Autobahn 1 von der Adria bis nach Budapest die erste von derzeit fünf geplanten Autobahnen in Bosnien und Herzegowina im Bau. Diese soll von Ploče in Kroatien über Mostar, Sarajevo, Zenica und Doboj wiederum auf kroatisches Gebiet führen und einen Teil des europäischen Verkehrskorridors 5C bilden. Insgesamt wird diese Autobahn auf ca. 360 km durch Bosnien und Herzegowina führen. Das Jahr der vollständigen Fertigstellung ist jedoch unbekannt. Weitere vier Autobahnverbindungen befinden sich in der Planungsphase und wurden bisher nicht nummeriert. Politische Differenzen zwischen den beiden Entitäten von Bosnien und Herzegowina, u. a. über die Nummernvergabe, verhindern eine Einigung.
Eisenbahn.
Es gibt in Bosnien und Herzegowina zwei Bahngesellschaften: einerseits die Eisenbahngesellschaft der Föderation Bosnien und Herzegowina und andererseits die Eisenbahngesellschaft der Republika Srpska.
Der Eisenbahnverkehr findet im Wesentlichen auf zwei Hauptachsen statt:
Diese Hauptachsen werden ergänzt durch die von Novi Grad über Bihać und Martin Brod nach Knin verlaufende Una-Bahn sowie eine von Doboj nach Tuzla führende Strecke, an die eine Strecke über Brčko nach Kroatien sowie eine Strecke über Zvornik nach Serbien anschließen.
Daneben gibt es eine Reihe von Werks- und Minenbahnen, die zum Teil noch mit Dampf betrieben werden.
Das Eisenbahnnetz von Bosnien und Herzegowina wurde im Bosnienkrieg stark beschädigt. Seit einigen Jahren gibt es wieder eine Bahnverbindung von Zagreb nach Sarajevo, im Februar 2010 wurde wieder eine tägliche Verbindung zwischen Belgrad und Sarajevo aufgenommen.
Alle der noch von der k.u.k.-Monarchie errichteten Schmalspurstrecken („Bosnische Schmalspur“) wurden schon um 1970 aufgelassen und größtenteils abgebaut. Eine Ausnahme bildet die Werksbahn der Kohlenmine Banovići – hier standen noch 2011 Dampflokomotiven im gelegentlichen Einsatz.
2005 wurde ein Erneuerungsprogramm beschlossen. Unter anderem sollen spanische Talgo-Schnellzüge sowie eine größere Anzahl von Güterwaggons beschafft werden.
Luftfahrt.
Zurzeit gibt es vier internationale Flughäfen:
Schifffahrt.
Der Hafen Neum ist der einzige Zugang Bosnien und Herzegowinas zum Mittelmeer.
Gefährdung durch Landminen.
Beim Verlassen befestigter Wege besteht in vielen Landesteilen Gefahr durch Landminen. Bosnien und Herzegowina ist neben dem Kosovo und Kroatien das am stärksten verminte Gebiet in Europa. Selbst 2009 galten noch rund 1573 Quadratkilometer der Staatsfläche – vor allem in den Wäldern und Gebirgsgegenden – als minengefährdet, während die Siedlungen und landwirtschaftliche Flächen in der Regel bereits geräumt wurden. Von Kriegsende 1996 bis 2017 wurden 605 Menschen bei Minenunfällen getötet (darunter 74 Minenräumer) und 1131 verletzt. Für die Beseitigung bekannter Minenfelder sind die bosnische Armee sowie zivile Räumfirmen verantwortlich.
Kultur.
Musik.
Ein traditioneller Musikstil ist die Sevdalinka – bosnische Volksmusik, deren Charakter stark von osmanischen Einflüssen geprägt wurde. Die Volksmusik enthält darüber hinaus Merkmale der Musik der Sinti und Roma und anderer Volksgruppen. Ein bekannter Vertreter der Sevdalinka war bis zu seinem Tod Safet Isović. Die Sevdalinka kommt generell allerdings nur bei der älteren bosnischen Bevölkerung und teilweise der in Montenegro und Serbien wohnenden älteren Bosniaken gut an. Besser kommt dagegen die sogenannte Narodna muzika an, die eine Mischung aus der ehemaligen jugoslawischen Volksmusik, Pop und teilweise Techno-Musik bildet. Diese ist generell in den serbokroatischsprachigen Staaten seit ihrer Entstehung (ca. 1980) die beliebteste.
Bekannte Musiker im internationalen Raum aus Bosnien und Herzegowina sind neben Goran Bregović und seiner ehemaligen Band Bijelo dugme die Sänger Zdravko Čolić, Lepa Brena und Dino Merlin sowie die Rapper Edo Maajka und Frenkie. Die Rock/Pop-Gruppen Zabranjeno Pušenje, Plavi orkestar, Indexi, Crvena jabuka und Hari Mata Hari sowie die Heavy-Metal-Band Divlje Jagode gehörten neben Bijelo dugme zu den bekanntesten und beliebtesten Jugoslawiens. Das musikalische Zentrum dieser modernen bosnischen Musik war Sarajevo.
Film.
Seit Kriegsende haben einige bosnische Filme auch internationale Preise bekommen. Darunter waren "Ničija Zemlja" (deutsch "Niemandsland", englisch "No Man’s Land") von Danis Tanović aus dem Jahr 2001, der einen Golden Globe und einen Oscar erhielt, sowie der Film "Grbavica", der auf der Berlinale 2006 einen Goldenen Bären bekam. Des Weiteren erntete der Film "Welcome to Sarajevo" mit Woody Harrelson großes Kritikerlob. Der Film befasst sich mit der Belagerung Sarajevos Anfang der 1990er-Jahre. Der Regisseur Emir Kusturica ("Schwarze Katze, weißer Kater"; "Das Leben ist ein Wunder") stammt aus Sarajevo. Bei der Berlinale 2016 erhielt der Film "Smrt u Sarajevu" von Danis Tanović den Silbernen Bären.
Das "Sarajevo Film Festival" ist jedes Jahr im August filmischer und kultureller Höhepunkt und zieht immer mehr Touristen aus dem Ausland an.
Medien.
Die drei wichtigsten Tageszeitungen in Bosnien und Herzegowina sind "Dnevni avaz" (deutsch "Tagesstimme") und "Oslobođenje" (deutsch: "Befreiung"), die beide in bosnischer Sprache in Sarajevo erscheinen, und "Nezavisne novine" (dt. "Die unabhängige Zeitung"), die in Banja Luka in serbischer Sprache und lateinischer Schrift erscheint.
Zudem gibt es eine Reihe von politischen Wochenzeitungen wie "Slobodna Bosna" (dt. "Freies Bosnien") oder "Dani" (dt. "Tage"). Beliebt sind auch Zeitschriften, die über aktuelle Affären oder Stars der Volksmusik berichten, wie "Express" oder "Svet" (dt. "Die Welt"; eine gleichnamige und gleichformatige Zeitung erscheint auch in Serbien).
Bosnien und Herzegowina hat ein dreigliedriges öffentliches Rundfunk- und Fernsehsystem, mit einem nationalen Fernseh- und Radiosender der Anstalt BHRT (BHTV 1 und BH Radio 1) und je einem Entitäts Fernseh- und Radiosender, der RTVFBiH (FTV und Radio F.) in der Föderation und der RTRS (RTRS TV und RTRS RRS) (kyrillisch: PTPC) in der Republika Srpska. Einige private Sender wie BN TV, OBN oder NTV Hayat sind im ganzen Land zu empfangen. Sehr beliebt ist Kabelfernsehen, das Sender aus den Nachbarstaaten und dem deutschsprachigen Raum einspeist.
Seit dem 11. November 2011 sendet der neue Fernsehsender Al Jazeera Balkans aus Sarajevo, zunächst sechs Stunden täglich in der Landessprache.
2020 nutzten 73,2 Prozent der Einwohner Bosnien und Herzegowinas das Internet.
Sport.
In Sarajevo und Umgebung wurden 1984 die Olympischen Winterspiele ausgetragen. In Bosnien und Herzegowina sind Fußball und Basketball die beliebtesten Sportarten.
Im Fußball entwickelte sich das Land stetig weiter und verbesserte sich. Für die Fußball-Europameisterschaft 2004 hätte sich Bosnien und Herzegowina beinahe qualifiziert, im letzten Spiel gegen Dänemark fehlte nur ein Sieg gegen den direkten Konkurrenten, das Spiel endete aber letztendlich 1:1, womit sich Dänemark für die Europameisterschaft 2004 qualifizierte. Bei der WM-Qualifikation 2014 setzte sich die Nationalmannschaft dann durch und nahm an der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien teil. Die Mannschaft unter dem damaligen Trainer Safet Sušić verlor allerdings zwei der drei Gruppenspiele und beendete die WM auf dem 3. Gruppenplatz. Berühmte Spieler der Nationalmannschaft sind unter anderem Edin Džeko, Miralem Pjanić und Vedad Ibišević.
Die Basketball-Nationalmannschaft hat sich für bislang sechs Europameisterschaften qualifizieren können, zuletzt 2011. Der wohl bekannteste Basketballer der Nation ist Mirza Teletović, der für die Milwaukee Bucks in der NBA aktiv ist.
Bei den Paralympischen Spielen 2004 in Athen gewann die bosnisch-herzegowinische Volleyballmannschaft die Goldmedaille.
Special Olympics Bosnien und Herzegowina wurde 1999 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des "Host Town Programs" von der Region Aachen betreut.
Einen Erfolg auf internationaler Ebene für Bosnien und Herzegowina erreichte die Schach-Nationalmannschaft mit dem zweiten Platz bei der Schacholympiade 1994 in Moskau.
Essen und Trinken.
Die Landesküche hat viele Spezialitäten zu bieten, z. B. Bosanski Lonac, Ćevapi, Lokum („Türkischer Honig“), Pita (Pide) in allen Variationen von Gemüsearten. Daneben gibt es Sogan Dolma, Somun, Japrak, Baklava, Halva, Burek, Sarma und vieles mehr. Sie ist stark von der Türkischen Küche beeinflusst. Türkischer Kaffee – der in einem speziellen Kaffeekännchen aufgekocht wird – und selbstgebrannter Pflaumenschnaps (Šlivovic) sind verbreitete Getränke.
Feiertage und Feste.
Neben religiösen Feiertagen wie Weihnachten und Ostern (bei den Kroaten und Serben), und den islamischen Festen "Ramazanski Bajram" (am Ende des Ramadan) und "Kurban Bajram" (zur Zeit der Pilgerfahrt nach Mekka), gelten folgende Feiertage in Bosnien und Herzegowina:
In der Föderation werden außerdem folgende Feiertage begangen:
In der Republika Srpska werden der 1. März und der 25. November nicht gefeiert, dafür aber der 9. Januar als Tag der Republik "(Dan Republike)" und der 21. November (Tag des Dayton-Abkommens).
Daneben gibt es in den verschiedenen, hauptsächlich von Kroaten bewohnten Gemeinden und Dörfern lokale Feiertage, die sich am christlichen Kalender orientieren (z. B. Namenstage Heiliger, „kleine Ostern“ etc.). Ein besonderer Feiertag ist der Namenstag des Schutzpatrons eines jeden Ortes. Neben einer sehr gut besuchten Messe und evtl. einer Prozession gibt es in den meisten Häusern und auf Plätzen Feierlichkeiten, zu denen auch die Einwohner der Nachbarorte kommen.
Literatur.
Literarische Würdigungen finden sich im Gesamtwerk des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić, besonders in seinem Hauptwerk "Die Brücke über die Drina." Zsolnay, 2011, ISBN 978-3-552-05523-0. |
596 | 56473 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=596 | Bruttonationaleinkommen |
Das Bruttonationaleinkommen (BNE), bis 1999 auch Bruttosozialprodukt (BSP) (), ist ein zentraler Begriff aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) und eine volkswirtschaftliche Kennzahl, die den Wert aller Waren und Dienstleistungen misst, die in einer Rechnungsperiode mit Hilfe von Produktionsfaktoren hergestellt werden, die sich im Besitz von Inländern befinden (alle von Inländern erwirtschafteten Einkommen, gleichgültig, ob im Inland oder im Ausland erzielt).
Allgemeines.
Dies ist gleichbedeutend mit den an Inländer geflossenen Einkommen aus Erwerbstätigkeit und Vermögensbesitz (Zinsen und andere Kapitalerträge, nicht allerdings Einkommen aus Veräußerungsgeschäften), weshalb das Bruttonationaleinkommen als zentraler Einkommensindikator einer Volkswirtschaft gilt.
Begriffliche Einordnung.
Das Bruttonationaleinkommen ist als Unterform des Nationaleinkommens der Wert der Endprodukte und Dienstleistungen, die in einer bestimmten Periode durch Produktionsfaktoren, die sich im Eigentum von Inländern befinden, produziert werden.
Es schließt ein (jeweils zu dem Anteil, zu dem die Güter in der betrachteten Periode durch im Besitz von Inländern befindliche Produktionsfaktoren hergestellt worden sind):
Folglich kann man sich das Bruttonationaleinkommen (BNE) als den gesamten Wert der laufenden Produktion vorstellen, die Inländer erbracht haben. Damit stellt es eine wichtige Kennzahl der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) dar.
Berechnung.
Das Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen ist die Summe der Werte der von allen Bewohnern eines Staates innerhalb einer bestimmten Periode (ein Jahr) bezogenen Einkommen aus Arbeit (Arbeitnehmerentgelt) und Kapital (Unternehmens- und Vermögenseinkommen) zuzüglich der Produktions- und Importabgaben, abzüglich der Subventionen (Gütersteuern minus Gütersubventionen) und zuzüglich der Abschreibungen. Im Zusammenhang mit anderen volkswirtschaftlichen Kennzahlen stellt sich dies wie folgt dar:
1999 wurde die Bezeichnung „Bruttosozialprodukt“ (BSP) im Zuge der Einführung des ESVG 1995 durch den Ausdruck „Bruttonationaleinkommen“ in der EU ersetzt. Das BNE unterscheidet sich in der Berechnung vom BSP lediglich dadurch, dass es die saldierten Produktions- und Importabgaben (z. B. Zölle) und Subventionen aus der EU berücksichtigt. Wird das BNE aus dem BIP zu Marktpreisen abgeleitet, ergibt sich folgende Berechnung:
Für andere Wirtschaftsräume sind BNE und BSP identisch.
Der Zusammenhang des Bruttonationaleinkommens mit den anderen Kenngrößen der VGR.
Abgrenzung vom Bruttoinlandsprodukt.
Das Bruttonationaleinkommen ähnelt dem Bruttoinlandsprodukt, unterscheidet sich jedoch dadurch, dass für das Bruttoinlandsprodukt das "Inlandskonzept" greift, während für das Bruttonationaleinkommen das "Inländerkonzept" gilt.
Das Inlandskonzept erfasst die wirtschaftliche Leistung in einem Wirtschaftsbereich unter Einbezug der Einpendler und Nichtbeachtung der Auspendler. Im Gegensatz zum "Inlands"konzept des Bruttoinlandsprodukts wird beim "Inländer"konzept des Bruttonationaleinkommens nicht das Gebiet betrachtet, in dem die Leistung erbracht wurde, sondern die in diesem Gebiet wohnenden Personen, an welche die Einkommen aus den wirtschaftlichen Leistungen zufließen. Das bedeutet, dass beim Inländerkonzept Personen, die nach ihrem Arbeitsort einem anderen Wirtschaftsbereich zugerechnet werden (im Ausland arbeitende Inländer) in die Leistungsberechnung miteinfließen, während im Wirtschaftsbereich arbeitende Personen, die nach ihrem Wohnort einem anderen Wirtschaftsbereich zugeordnet werden (im Inland arbeitende Ausländer), unberücksichtigt bleiben. Das Inländerkonzept stellt auf die Wohnbevölkerung ab, nicht auf die Staatsbürgerschaft. So werden auch Personen ohne beispielsweise österreichische Staatsbürgerschaft, die in Österreich leben, dem österreichischen Bruttonationaleinkommen zugerechnet, während österreichische Staatsbürger, die im Ausland leben, dort nicht eingerechnet werden.
Kurz:
Für große Volkswirtschaften sind Bruttoinlandsprodukt und Bruttonationaleinkommen fast identisch, während es für kleine Volkswirtschaften erheblich auseinanderfallen kann. So beträgt das Verhältnis des Bruttonationaleinkommens zum Bruttoinlandsprodukt für Deutschland im Jahr 2009 1,014, für die Vereinigten Staaten 0,998. San Marino dagegen kommt auf ein Verhältnis von 0,85, Luxemburg gar nur auf 0,526.
Abgrenzung zum Nettonationaleinkommen.
Die Unterscheidung zwischen Brutto- und Nettonationaleinkommen stellt darauf ab, ob der Verschleiß an den Produktionsanlagen, die Wertminderung des Kapitalstocks durch technischen Fortschritt etc. anhand der Abschreibungen berücksichtigt werden oder nicht. Folglich erfasst das Netto-Nationaleinkommen die Einkommen der Inländer vermindert um die Abschreibungen.
Abgrenzung zum Volkseinkommen.
Davon ausgehend kann nun das Volkseinkommen sowie das verfügbare Einkommen berechnet werden. Das Volkseinkommen hängt eng mit dem Bruttonationaleinkommen zusammen, im Gegensatz dazu enthält es jedoch keine Abschreibungen und indirekte Steuern.
Rezeption.
Das BNE, welches in den 1940er Jahren von Simon Kuznets entwickelt worden war (auf Deutsch damals BSP genannt), um zu überprüfen, ob die US-amerikanische Wirtschaft zu einer Teilnahme am Zweiten Weltkrieg im Stande wäre, wurde seither häufig als Wohlstandsfaktor gebraucht. Auch Simon Kuznets selbst bezeichnete „seinen“ Indikator als „“ (deutsch „wissenschaftlich unsolide“).
Robert F. Kennedy kritisierte das „“ am 18. März 1968 so:
Alternativen.
Um treffendere Indikatoren für tatsächlichen Wohlstand zu entwickeln, wurden unter anderem folgende Indikatoren entwickelt:
Alle diese Indikatoren aggregieren eine Vielzahl von Daten, die nicht in das Bruttonationaleinkommen eingehen (siehe Aggregation (Wirtschaft)).
Amartya Sen bildete die Wohlfahrtsfunktion als Alternative beispielsweise zum Median aus dem Produkt des Bruttonationaleinkommens und der relativen Gleichverteilung dieses Einkommens.
In Deutschland suchte vom Januar 2011 bis zum Juni 2013 die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Bundestages nach einer möglichen neuen Messzahl für Wohlstand und Fortschritt jenseits der Wachstumsfixierung des bisher beherrschenden Maßstabs Bruttosozialprodukt.
Andrew Oswald, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Warwick, hält das BNE als Maßstab für „Wohlstand“ für veraltet. Er schlägt vor, einen Maßstab zur Messung des „Glücks und seelischen Wohlbefindens der Bürger“ zu entwickeln. |
597 | 3426701 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=597 | Ballon | Ein Ballon (aus mfrz. ' von it. ', Vergrößerungsform von ' ‚Kugel, Ball‘, aus dem Germ., verw. m. ') ist im heutigen Sprachgebrauch eine (zumindest im gefüllten Zustand) selbsttragende, gasdichte Hülle mit einer bauchigen, runden Form, die mit Gas oder Flüssigkeit gefüllt ist oder werden kann.
Die Aussprache im Hochdeutschen ist [] bzw. [] und variiert im südlichen deutschen Sprachraum: süddt., österr. und schweiz.: [].
Manche ballonförmige Gegenstände besitzen den Wortteil in ihrer Bezeichnung, wie
Arten und Verwendungen.
Freiballons sind im Gegensatz zu Fesselballons nicht mit einer Verankerung, etwa am Erdboden, verbunden. Sie werden vom Wind durch die Luft getrieben.
Große Ballons (Volumen 2200 bis 12000 Kubikmeter).
Eine weitere Anwendung ist der Ballonsatellit; er wird wie jeder Satellit mit einer Rakete in den Erdorbit geschossen und ist mit winzigen Mengen Gas gefüllt, um sich im Weltall zu einem großen Volumen aufzublähen.
Heißluft- und Gasballon.
Als Füllgas wird im Allgemeinen Luft (Heißluftballon, Luftballon) oder ein Traggas wie Helium oder Wasserstoff (Gasballon), eventuell auch Wasserdampf (Heißdampfballon) verwendet. Der Ballon kann in gefülltem Zustand verschlossen sein, wodurch das eingeschlossene Gas auch unter Druck stehen kann. Die gängigen Bauformen bemannter Ballons haben eine Öffnung nach unten. Dadurch kann das leichte Traggas nicht entweichen, aber Druckänderungen oder Verformungen der Hülle durch Erwärmung des Gases oder beim Ändern der Flughöhe werden vermieden.
Bis in das 20. Jahrhundert wurden Ballons und Luftschiffe auch als Aerostaten bezeichnet. Im Sprachgebrauch werden bemannte Ballons nicht "geflogen", sondern "gefahren", siehe Ballonfahren#Fahren oder fliegen. Die Besatzungsmitglieder von Ballons sind die Ballonfahrer und wurden zu Anfang auch „Luftschiffer“ genannt.
Ballontaufe.
Der Luftfahrzeugführer vollzieht meist für Ballonerstfahrer ein besonderes Ritual. Die Teilnehmer stoßen auf die Fahrt an und schwören, nie mehr „Ballonfliegen“ zu sagen und außerdem jedem Ballonfahrer, den sie treffen, zu helfen und auf Nachfrage seinen vollständigen Luftfahrernamen zu sagen. Kann dieser nicht aufgesagt werden, kostet dies eine Runde für alle Ballonfahrer. Anschließend wird eine Locke des Erstfahrers vom Piloten (für das Feuer das einen in die Luft brachte) angesengt und durch Champagner (für das Wasser (als Bestandteil der Luft) die einen getragen hat) gelöscht sowie Erde auf dem Kopf gestreut (auf der man gelandet ist) „getauft“. Als weitere Tradition gilt die Vergabe von Adelstiteln wie: „Lieblich schwebendes Burgfräulein Christine über Neuschwanstein“. Diese Tradition ist auf die Zeit zurückzuführen, als es nur Adligen gestattet war, Ballon zu fahren. Heutzutage ist das Ritual auch unter dem englischen Namen „Propane and Champagne“ bekannt.
Funktionsweise.
Der Ballon steigt auf, da das sich im inneren Teil befindliche Gas (sei es warme Luft oder ein gefangenes Gas) eine geringere Dichte als kalte Luft hat. Genauer gesagt: Die Masse des gesamten Ballons inklusive Füllgas ist im Schwebezustand gleich wie die Masse der verdrängten Luft (siehe Archimedisches Prinzip). Ist seine Masse geringer, so steigt er; ist sie größer, so sinkt er.
Ballongas.
Manntragende Gasballons (wie auch Luftschiffe) werden im Ballonsport jedoch meist mit Wasserstoff gefüllt. Hauptgrund ist, dass Helium um ein Vielfaches teurer wäre und das Traggas am Zielort in der Regel einfach ausgelassen werden muss, da ein Ballon mit typisch > 6 m Durchmesser über Straßen nicht transportabel ist; das Rekomprimieren von Gas in Stahlflaschen ist ein sehr aufwendiger Vorgang. Weiters ist Helium mit Molekül- gleich Atommasse 4 doppelt so schwer (dicht) wie Wasserstoff mit H2-Molekülmasse 2, was durch die geringere Dichtedifferenz zu (feuchter) Luft zumindest 8 % weniger Auftrieb ergibt und zuletzt strömt Helium wegen seines kleineren Atoms viel leichter durch Membrane und Undichtheiten als das hantelförmige Wasserstoffmolekül.
Da Wasserstoff brennbar und sehr leicht entzündlich ist, und in Mischung mit Luft sogar detonieren kann, muss vor allem während des Füllvorgangs extrem vorsichtig vorgegangen werden. Dabei gilt nicht nur selbstverständlich ein absolutes Rauchverbot, sondern es muss auch weniger offensichtlichen Gefahrenmomenten wie der elektrostatischen Aufladung durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen (durch leitfähige Ballonhüllen) Rechnung getragen werden. Reibungselektrizität kann zwischen Hülle und Boden, Mensch und Boden, durchströmtem Füllstutzen und Hülle entstehen. Dazu kommen stille Entladungen atmosphärischer Elektrizität.
Ein Fesselballon, der mittels Winde am Boden verankert ist, kann einen Tannenzapfensammler immer wieder bis in Baumwipfelhöhe heben, und kann mit einer Füllung mehrere Tage verwendet werden, wenn das Wetter über Nacht ein Verzurren in Bodennähe erlaubt und in der Nähe weitergearbeitet werden kann.
Das Füllen mit Wasserstoff, Schließen und Starten von Wetterballons aus Latex erfolgt teilweise automatisiert, der Mensch überwacht den Vorgang aus sicherer Entfernung.
Die Ultra-Long-Duration Balloons (ULDB) der NASA starten seit 1991 für polnahe Flüge überwiegend von der Antarktis mit bis zu 54 Tage Dauer in große Höhen (30–40 km) mit überwiegend drucklosen, transparenten Folienballons, Sie blähen sich entsprechend der Druckabnahme erst in der größten Höhe ganz auf und werden mit Helium für Traglasten bis zu 2000 kg, also zumindest 2000 m³ Helium gefüllt, entsprechend rund 220 Stahlflaschen mit 50 Liter und 200 bar Fülldruck.
Luftballon.
Als Ballongas für Kinderballons, die Auftrieb besitzen sollen, ist aus Sicherheitsgründen – In Österreich seit etwa 2000 durch das Chemikaliengesetz – nur das unbrennbare Edelgas Helium zugelassen.
Geschichte.
Geschichte der Heißluftballons.
Nach der geschichtlichen Überlieferung wurden Heißluftballons oder ein Vorläufer davon zum ersten Mal in China von Zhuge Liang (* 181; † 234) eingesetzt. Auf seinen Feldzügen erfand er neben anderen Dingen einen kleinen Heißluftballon, der von einer Kerze getrieben wurde und als Signal diente. Diese Erfindung wird in China Kong-Ming-Laterne genannt und als eine Art Feuerwerk genutzt. Sie diente zwar vermutlich nie zum Transport von Menschen oder Gütern, ist aber aufgrund ihres Funktionsprinzips der Vorläufer des modernen Heißluftballons und unterscheidet sich von ihm im Wesentlichen nur durch ihre geringere Größe und Verwendung eines Rahmens wie beim Luftschiff.
In Europa beginnt die Geschichte mit den Papierfabrikanten Joseph Michel Montgolfier und seinem Bruder Jacques Étienne Montgolfier. Sie versuchten zunächst, die von ihnen entwickelten Prototypen mit Wasserdampf zu betreiben; stiegen jedoch auf Heißluft um, als sich herausstellte, dass diese Methode effektiver war. Gemäß einer Anekdote sollen sie eines Tages eine Frau beobachtet haben, die unter der Wäscheleine ein Feuer angezündet hatte, damit die Wäsche schneller trocknet. Dabei soll ihnen aufgefallen sein, dass sich die großen Betttücher nach oben wölbten, obwohl kein Wind ging. Nach vielen Experimenten fanden sie heraus, dass das Feuer die Luft erwärmt hatte, die dann nach oben gestiegen war und somit die Betttücher aufgebläht hatte.
Am 7., 9. oder 14. Juni 1783 (die Quellenangaben unterscheiden sich hier) ließen sie in Annonay den ersten größeren Ballon vor Publikum steigen. Der Ballon war aus Leinwand und mit Papier abgedichtet. Der Flug soll Berichten nach rund 10 Minuten gedauert haben, wobei der Ballon auf eine Höhe von 1,5 km aufgestiegen sein soll. Da sie keine Naturwissenschaftler waren, gingen sie davon aus, dass es der Rauch sei, der den Ballon zum Steigen bringt. Daher bevorzugten sie stark qualmende Feuer mit Stroh und Schafswolle um die Luft zu erhitzen.
Als König Ludwig XVI. davon erfuhr, forderte er die Brüder auf, ihm diesen Ballon zu demonstrieren. Gleichzeitig erging von ihm der Befehl an die Akademie der Wissenschaften, selber Versuche mit der Luftkugel in Paris durchzuführen.
Geschichte des Gasballons.
Ganz anders als die Gebrüder Montgolfier arbeitete Jacques Alexandre César Charles. Da er als Physiker an der Physik des Ballonaufsteigens interessiert war, ging er auf eine ganz andere Weise an das Projekt, welches ihm vom König übertragen worden war. Durch sein Wissen über Gase konnte er deren Eigenschaften nutzen und konstruierte so zusammen mit den Brüdern Anne-Jean Robert und Marie-Noël Robert einen dichten Seidenballon. Diesen füllte er mit Wasserstoffgas.
Der erste erfolgreiche Flug war am 27. August 1783. Der Ballon hatte einen Durchmesser von rund vier Metern und konnte bis zu neun Kilogramm mit sich führen. Der Flug dauerte 45 Minuten und führte vom Pariser Marsfeld bis ins benachbarte Dorf Gonesse. Die Bewohner des Dorfes hielten den Ballon jedoch für ein Ungetüm aus der Hölle und rückten ihm mit Mistgabeln und Sensen auf den Leib. Davon abgesehen konnte Charles den Flug als Erfolg verbuchen, denn er hatte auch bewiesen, dass es nicht der Rauch ist, der den Ballon zum Steigen bringt. Zudem wurde der Wasserstoffgasballon nach ihm "Charlière" benannt.
Den ersten bemannten Gasballonflug führten Charles und Marie-Noël Robert am 1. Dezember 1783 durch, wobei die Produktion des nötigen Wasserstoffgases aus Eisenspänen und Schwefelsäure fast drei Tage dauerte. Er blieb für zwei Stunden in der Luft und machte dann eine Zwischenlandung im 36 Kilometer entfernten Dorf Nesles-la-Vallée. Danach stieg Charles noch einmal selbst alleine auf. Damit war er der erste Mensch, der alleine in einem Ballon aufstieg. Trotz dieses Erfolges hatte er den Wettstreit mit den Brüdern Montgolfier verloren – um nur 10 Tage. Doch ganz geschlagen war Charles nicht, denn die Wasserstoffgasballons lösten sehr bald die Montgolfieren ab, da man mit ihnen mehrere Stunden in der Luft bleiben konnte. Den Heißluftballons gingen hingegen schon nach kurzer Zeit die Brennstoffvorräte aus.
Der erste (unbemannte) Ballonflug in Deutschland fand am 22. Januar 1784 in Ottobeuren statt (siehe Ulrich Schiegg), der nächste am 28. Januar 1784 in Braunschweig mit dem Ballon Ad Astra.
Geschichte der Heißluft-Gas-Hybrid-Ballons.
Es gab zu dieser Zeit auch schon Personen, die sich mit der Kombination der beiden Auftriebsmedien Traggas und Heißluft beschäftigten. So der französische Physiker und erste Ballonfahrer der Welt Jean-François Pilâtre de Rozier. Er entwickelte einen Ballon, der aus einer Kugel mit Wasserstoffgasfüllung bestand, an dessen unterer Seite ein mit Luft gefüllter beheizbarer Zylinder angefügt war. Diese Konstruktionsart mit separaten Bereichen für Heißluft und Gas wird – unabhängig von der Wahl des verwendeten Traggases – nach ihm benannt (Rozière).
Am 15. Juni 1785 startete er mit solch einem Gefährt von Boulogne-sur-Mer aus mit dem Ziel, den Ärmelkanal zu überqueren. Die Heißluft erwärmte den Wasserstoff aber bald so stark, dass die Gashülle zu zerplatzen drohte. Mittels eines außen auf der Hülle nach oben reichenden Hanfseils konnte Rozier zwar ein Ablassventil betätigen, jedoch entstand Reibungselektrizität auf der Hülle, deren elektrostatische Entladung dann das ausströmende Wasserstoffgas in 900 Metern Höhe entzündete. Während das Gas abbrannte, fiel das Luftfahrzeug noch vor der Küste aufs Festland. Rozier und sein Mitfahrer Pierre Romain verstarben kurz darauf, noch an der Absturzstelle. Damit waren sie die ersten Todesopfer der Luftfahrt. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch alle anderen Hybridballons mit konstruktiven Unzulänglichkeiten zu kämpfen und brachten keine nennenswerten Erfolge hervor.
Die Rozièren, die seit den 1970er Jahren Verwendung finden, werden mit unbrennbaren Traggasen befüllt. Während gewöhnliche Heißluftballons einige Stunden und bemannte Gasballons einige Tage fahren können, eignen sich Rozièren insbesondere für mehrwöchige Reisen. Außer Richard Bransons Überquerungen von Atlantik und Pazifik mit riesigen Heißluftballons, wurden diese Strecken und die beiden erfolgreichen Weltumrundungen nur mit heliumbefüllten Rozièren bewältigt.
Weiterer Verlauf der Geschichte.
Französische Offiziere nutzten sowohl während der Belagerung von Maubeuge im Juni 1794 wie auch vor der Schlacht von Fleurus am 26. Juni 1794 einen Ballon zur militärischen Luft-Fernaufklärung.
Die erste deutsche Ballonfahrt unternahm Friedrich Wilhelm Jungius 1805 über Berlin zu wissenschaftlichen Zwecken.
James Glaisher, Vorstand des meteorologischen Institutes von Greenwich und der Ballonpilot Henry Tracey Coxwell erreichten 1862 eine Höhe von 9.000 Meter im offenen Ballonkorb. Sie hatten ein wissenschaftliches Programm vorbereitet, um die Entstehung bestimmter Wettererscheinungen und die Grenze der Lebensfähigkeit des Menschen zu erforschen. Sie hatten weder Sauerstoff noch Druckanzüge an Bord. Beide Forscher fielen zeitweise in Ohnmacht und nur der Umstand, dass der Ballon von selbst zu sinken begann, rettete ihnen das Leben.
Am 4. Dezember 1894 erreicht der Berliner Meteorologe Arthur Berson bei einer Alleinfahrt im Ballon "Phönix" eine Höhe von 9.155 Metern. Diesen Rekord konnte er am 31. Juli 1901 noch einmal übertreffen. Gemeinsam mit Reinhard Süring stieg er im Ballon "Preussen" auf 10.800 Meter Höhe. Beide Ballonfahrer fielen trotz Sauerstoffatmung in Ohnmacht, aber die Messgeräte registrierten den Luftdruck und damit die Höhe weiter. Die Fahrt trug zur Entdeckung der Stratosphäre im Jahre 1902 bei.
Der mehrfache Gordon-Bennett-Cup-Teilnehmer Hugo Kaulen stellte im Dezember 1913 Weltrekorde auf (2.800 Kilometer in 87 Stunden, von Bitterfeld nach Perm/ Uralgebirge). Hans Rudolf Berliner, Alexander Haase und Nikolai legten vom 8. bis 10. Februar 1914 3.053 km zurück. Beide Rekorde hielten bis 1976.
Die größte Höhe im offenen Korb in der Geschichte der Ballonfahrt erreichten nach eigenen Angaben – die offizielle Anerkennung blieb aus – der Ballonführer Alexander Dahl, der Meteorologe Dr. Galbas und Walter Popp am 31. August 1933 im Spezial-Höhenballon "Bartsch von Sigsfeld" mit 11.300 Metern. Die letzte Höhenfahrt mit dem Ballon „Bartsch von Sigsfeld“ brachte dem Luftfahrtingenieur Martin Schrenk und dem Meteorologen Victor Masuch am 13. Mai 1934 den Tod.
Erstmals mit luftdicht verschlossener Kabine stieg der Physiker Auguste Piccard 1932 bis auf 16.201 Meter (Luftdruckmessung) und 16.940 Meter (geometrische Messung) Höhe.
Diverse Rekorde brachte das Projekt Manhigh der amerikanischen Air Force 1957/1958, so auch erster Mensch an der Grenze zum Weltraum (29.900 m) und höchster Fallschirmsprung (im Zusammenhang mit den ersten Schleudersitzen für Flugzeuge). Das Projekt wurde später durch die NASA weitergeführt und ab Apollo 7 kam das Prinzip der Fallschirme bei den Bremsfallschirmen zum Einsatz.
Im Oktober 1976 stellt Paul Edward Yost neue Rekorde bei seinem Solo-Atlantikflug auf (3.938 km in 107:37 h).
Den bemannten Höhen-Rekord hielten von 1961 bis 2012 Malcolm D. Ross und Victor E. Prather, die über dem Golf von Mexiko auf 34.668 Meter Höhe stiegen. Der Österreicher Felix Baumgartner brach diesen Rekord am 14. Oktober 2012, als er mit einem Heliumballon in einer Kapsel über New Mexico auf 39.045 Meter stieg. Übertroffen wurde er mit 41.422 Metern von Alan Eustace ohne Kapsel im Druckanzug im Oktober 2014, von Roswell, New Mexico. Beide sprangen jeweils mit einem Fallschirm ab und stellten damit neue Höhenrekorde im Fallschirmsprung auf. |
602 | 204466 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=602 | Bismarck (Familienname) | Bismarck ist ein deutscher Familienname des Adelsgeschlechts von Bismarck. |
603 | 973773 | https://de.wikipedia.org/wiki?curid=603 | Bismarck (Schiff, 1939) | Die Bismarck war ein Schlachtschiff der deutschen Kriegsmarine und bildete mit ihrem Schwesterschiff "Tirpitz" die "Bismarck"-Klasse. Zum Zeitpunkt ihrer Indienststellung im August 1940 unter dem Kommando von Kapitän zur See Ernst Lindemann galt sie als das kampfstärkste Schlachtschiff der Welt.
Im Mai 1941 wurde die "Bismarck" zusammen mit dem Schweren Kreuzer "Prinz Eugen" in den Nordatlantik geschickt, um dort Handelskrieg zu führen. Bald nach dem Beginn dieser Mission gelang ihr während der Schlacht in der Dänemarkstraße die Versenkung des britischen Schlachtkreuzers "Hood". Drei Tage darauf sank sie selbst nach einem schweren Gefecht gegen Einheiten der Royal Navy mit dem Großteil ihrer Besatzung im Nordatlantik.
Die "Bismarck" zählt heute zu den bekanntesten Schiffen der Kriegsmarine und ist daher Objekt literarischer Werke, fachwissenschaftlicher und technischer Untersuchungen sowie Modelldarstellungen.
Hintergrund.
Der Versailler Vertrag gestattete dem Deutschen Reich nur Kriegsschiffneubauten von maximal 10.000 Tonnen. Erst mit der Aufkündigung des Vertrages durch die Nationalsozialisten am 16. März 1935 und der nachträglichen Legitimation durch das deutsch-britische Flottenabkommen vom 18. Juni 1935 war es dem Dritten Reich nun erlaubt, Schlachtschiffe mit einer Standardverdrängung von über 10.000 tn.l. (long ton zu 1.016 kg) zu bauen.
Zu diesem Zeitpunkt galt Frankreich als der wahrscheinlichste Gegner in einem Seekrieg. Der Entwurf orientierte sich daher am damals modernsten französischen Schlachtschiff "Dunkerque". Insbesondere Geschwindigkeit und Panzerschutz waren von großer Bedeutung.
Der "Bismarck", wie das Schiff im Bordjargon genannt wurde, (auf Anordnung von Kapitän Ernst Lindemann war an Bord "des" "Bismarck" bevorzugt der männliche Artikel zu verwenden; diese Schreibweise ist heute vollkommen unüblich, und so wird in diesem Artikel die weibliche Form verwendet) war für den Einsatz im Nordatlantik, dessen wechselnde Sichtweiten oft nur mittlere Gefechtsentfernungen erlaubten, vergleichsweise gut geeignet. Wegen des relativ breiten Schiffskörpers (der eine ruhigere Lage im Wasser erbrachte) und präziser Entfernungsmesser erreichte die schwere Artillerie auch bei schlechtem Wetter schnell eine hohe Zielgenauigkeit, und die Geschützmannschaften strebten an, wenn möglich bereits mit der ersten Salve zu treffen. Der Panzerschutz konzentrierte sich auf die Hauptgeschütztürme, den Kommandoturm und die Seiten des Schiffs im Bereich der Wasserlinie. Der Horizontalschutz gegen Steilfeuer und Fliegerbomben war dagegen – verglichen mit zeitgenössischen Entwürfen anderer Marinen – unterdurchschnittlich.
Technik.
Die "Bismarck" war das Typschiff der "Bismarck"-Klasse. Das Schiff war 250,5 Meter lang und 36 Meter breit, der Tiefgang lag bei maximal 9,9 Metern. Die Schiffsmaße wurden so gewählt, dass die Nutzbarkeit des Kaiser-Wilhelm-Kanals und des Marinestützpunktes Wilhelmshaven gewährleistet war.
Bei der Erprobung des Schiffs im Sommer 1940 wurde bei einer Meilenfahrt die Geschwindigkeit von 30,1 kn bei einer Gesamtleistung der Maschinenanlage von 150.000 WPS erreicht. Dem Schlachtschiff wurde seitens der Marineführung eine Höchstgeschwindigkeit von 30,6 kn zugemessen. Die Marschgeschwindigkeit (Reisegeschwindigkeit) wurde jedoch, um den Treibstoffverbrauch in Grenzen zu halten, mit 19 Knoten gewählt.
Ein großer Nachteil, der sich bei den Erprobungen in der Ostsee zeigte, war, dass das Schiff ohne seine Ruderanlage über die divergierenden, eng nebeneinander liegenden Antriebswellen mittels unterschiedlicher Propellerdrehzahlen Backbord/Steuerbord kaum steuerbar war.
Die Hauptbewaffnung bestand aus acht 38-cm-SK C/34 Geschützen in vier Doppeltürmen, die mittlere Artillerie (MA) der "Bismarck" umfasste zwölf 15-cm-SK C/28.
Die schwere Flak bestand aus 16 Geschützen vom Typ 10,5-cm-SK C/33 in acht Doppellafetten. Die vier vorderen Flakgeschütze waren vom Modell C/33na in Doppellafette C/31, die achteren in Doppellafette C/37. Das war eine provisorische Installation, die nach der Rückkehr vom Unternehmen Rheinübung gegen den Typ C/37 ausgetauscht werden sollte. Die mittlere Flak bestand aus 16 3,7-cm-SK C/30 in acht Doppellafetten, die leichte Flak bestand aus 18 2-cm-Flak C/38 zwei Vierlings- und zehn Einzellafetten. Für diese Geschütze waren 36.000 Schuss an Bord.
Gegen die unterhalb des Feuerbereichs der schweren Flak anfliegenden britischen Torpedobomber vom Typ Fairey Swordfish erwies sich die leichtere Flak der "Bismarck" als wenig wirksam. Dies lag an der viel zu geringen Schussfrequenz der 3,7-cm-Flak, vor allem aber an der mangelnden Ausbildung der Besatzung. Wie sich aus dem Bericht des "Artillerieversuchskommandos Schiffe" ergibt, wurde das Schießen auf bewegliche Ziele so gut wie überhaupt nicht trainiert. Zudem konnten die meisten der 52 Flak-Geschütze zur Abwehr nicht tief genug geschwenkt werden. Obwohl einige Flugzeuge getroffen werden konnten, wurde kein einziges Flugzeug abgeschossen, auch wenn ein Großteil der Flak-Munition verbraucht wurde.
Die "Bismarck" war mit vier Wasserflugzeugen vom Typ Arado Ar 196 zur Feindaufklärung und luftgestützten Seeüberwachung ausgestattet, die ihr einen theoretischen Aufklärungsradius von etwa 830 km verliehen. Zudem war eine umfangreiche Ausstattung an Beibooten an Bord. Diese umfasste drei Admirals- oder Kommandantenboote („Chefboote“), eine Motorbarkasse, zwei Motorpinassen, vier Verkehrsboote (kurz: V-Boote), zwei Rettungs-Kutter für Mann-über-Bord-Manöver, zwei Jollen und zwei Dingis.
Geschichte.
Bau und Erprobung.
Am 1. Juli 1936 wurde die "Bismarck" auf der heute nicht mehr existierenden Helling 9 bei Blohm & Voss in Hamburg auf Kiel gelegt. In den folgenden 31 Monaten wuchs der vollständige Rohbau des Rumpfes heran, sodass am 14. Februar 1939 termingerecht der Stapellauf erfolgen konnte.
Bei den Stapellaufsfeierlichkeiten mit 60.000 Zuschauern war Adolf Hitler Ehrengast. Das haushaltsrechtlich als „Schlachtschiff F“ bezeichnete Schiff wurde von Dorothea von Loewenfeld, der Frau des Vizeadmirals Wilfried von Loewenfeld und Enkelin des früheren preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck, auf den Namen "Bismarck" getauft.
Nach dem Ende der Feierlichkeiten wurde die "Bismarck" zu einem Ausrüstungspier der Werft verholt. In den folgenden Monaten wurde das Schiff weiter fertiggestellt. Wie schon bei den vorangegangenen Schlachtschiffen "Gneisenau" und "Scharnhorst", wurde der gerade Vordersteven durch einen Atlantikbug ersetzt und die Innenausstattung des Schiffes eingebaut. Die auf 18 Monate festgesetzte Ausrüstungsphase konnte trotz des deutschen Überfalls auf Polen und des damit begonnenen Zweiten Weltkriegs eingehalten werden. Im April 1940 trafen die ersten Besatzungsmitglieder bei der "Bismarck" ein und im Juni wurde das Schiff in ein Schwimmdock gebracht, um die Schiffsschrauben zu montieren. Zudem wurde das Schiff mit einem magnetischen Eigenschutz versehen.
Während der Indienststellungszeremonie am 24. August 1940 kollidierte das gerade vom Stapel laufende Passagierschiff Vaterland mit der "Bismarck", allerdings ohne relevante Schäden zu verursachen. Am 15. September legte die "Bismarck" in Hamburg ab. In Brunsbüttel beteiligte sie sich erfolglos an der Abwehr eines britischen Luftangriffes und verlegte anschließend durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal nach Kiel, wo sie am 17. September festmachte. Zehn Tage später legte sie Richtung Gotenhafen zu ihrer Seeerprobung in der Ostsee ab.
Am 9. Dezember machte die "Bismarck" wieder in Hamburg fest, wo Werftarbeiter von Blohm & Voss einige Restarbeiten durchführten. Am 24. Januar 1941 wurde die "Bismarck" für einsatzbereit erklärt. Damit hatte die Kriegsmarine ihr erstes wirklich vollwertiges Schlachtschiff erhalten. Da der Kaiser-Wilhelm-Kanal aber durch einen versenkten Erzfrachter vorübergehend blockiert war, war die "Bismarck" zunächst nicht in der Lage, auszulaufen.
Parallel entstanden auf dem Gelände von Blohm & Voss noch weitere Schiffe, darunter U 556. Der Kommandant dieses U-Bootes, Herbert Wohlfarth, bat Ernst Lindemann darum, dass die Bordkapelle der "Bismarck" für die Indienststellung seines U-Bootes spielen solle. Als Gegenleistung vereinbarte Wohlfarth mit Lindemann eine Patenschaft zwischen ihren Schiffen und erklärte vor „Neptun“, der "Bismarck" in jeder Lage beizustehen. Ironie des Schicksals war es, dass die Besatzung dieses U-Boots am Vorabend des letzten Gefechtes der "Bismarck" den Flugzeugträger HMS Ark Royal erspähte, von dem kurz zuvor jene Torpedobomber gestartet waren, die das Ruder der "Bismarck" beschädigen sollten. Doch wegen Torpedomangels war das U-Boot nicht in der Lage, anzugreifen.
Später war es dieses U-Boot, das den Befehl erhielt, das Kriegstagebuch der "Bismarck" abzuholen; jedoch kam dieser Befehl erst nach dem Untergang des Schlachtschiffes an.
Am 6. März legte das Schlachtschiff zum letzten Mal in Hamburg ab und verlegte erneut nach Gotenhafen, um weiter Übungen durchzuführen.
Unternehmen Rheinübung.
Nachdem die "Bismarck" einsatzbereit war, entschied Großadmiral Erich Raeder, sie in den Atlantik zu entsenden. Sie sollte dort im Verband mit dem Schweren Kreuzer "Prinz Eugen" auch stark gesicherte Geleitzüge angreifen können.
Als die "Prinz Eugen" in Gotenhafen eintraf, konnte Operation Rheinübung beginnen. Nach der Reparatur eines Bordkranes der "Bismarck" legten die "Bismarck" und die Prinz Eugen am 18. Mai 1941 um 11:30 Uhr in Gotenhafen Richtung Bergen ab. Am Kap Arkona trafen sich beide Schiffe mit den Zerstörern Z 16 und Z 23. Im Fehmarnbelt kam noch die Z 10 hinzu.
Während der Fahrt zum Skagerrak wurde der Verband von mehreren Schiffen gesichtet, darunter die "Gotland", die die Anwesenheit in das schwedische Hauptquartier weiterleiteten, wodurch letztlich auch die britische Admiralität davon erfuhr.
Während die "Prinz Eugen" und die "Bismarck" im Grimstadfjord ankerten, wo sich die Zerstörer wieder von ihnen trennten und Admiral Lütjens entschied, den Durchbruch in den Atlantik durch die Dänemarkstraße zu wagen, wurden sie von einer britischen Spitfire fotografiert – eine Aufnahme, die später weltbekannt wurde. Der britische Vizeadmiral Tovey ließ daraufhin den britischen Schlachtkreuzer Hood und das Schlachtschiff Prince of Wales auslaufen.
Schlacht in der Dänemarkstraße.
Am Abend des 23. Mai 1941 wurden die beiden deutschen Kriegsschiffe von den Schweren Kreuzern HMS Suffolk und der HMS Norfolk gesichtet, letztere wurde dabei von der "Bismarck" unter Feuer genommen. Die britischen Schiffe ließen sich nicht auf einen ungleichen Kampf ein, drehten ab und versteckten sich in einer Nebelbank. Auf der "Bismarck" hatte die Druckwelle der schweren Artillerie das vordere Radar beschädigt, weshalb anschließend die Prinz Eugen die Verbandsführung übernahm. Am nächsten Morgen wurden gegen 5:29 Uhr die "Hood" und die "Prince of Wales" auf der "Bismarck" gesichtet, acht Minuten später sichteten die britischen Schiffe den deutschen Verband. Um 5:52 Uhr eröffnete die Hood das Feuer auf die den Verband anführende Prinz Eugen, von der man annahm, sie sei die "Bismarck". Die Prince of Wales nahm das zweite Schiff, also in Wirklichkeit die "Bismarck", unter Feuer. Ab 5:55 Uhr schossen die deutschen Schiffe zurück. Eine 38-cm-Granate aus der fünften Salve der "Bismarck" verursachte eine verheerende Explosion in einer Munitionskammer der Hood, drei Minuten später war das Schiff – einst der Stolz der britischen Flotte – gesunken. Nur drei Mann der insgesamt 1419 Besatzungsmitglieder überlebten. Die "Prince of Wales" erhielt ebenfalls mehrere schwere Treffer und drehte daraufhin ab.
Die "Prinz Eugen" hatte keinen, "Bismarck" drei, "Hood" vier und die "Prince of Wales" sieben Treffer erhalten.
Die Verfolgung.
Auf der "Bismarck" unterbrach ein nicht detonierter Durchschuss durch das schwach gepanzerte Vorschiff die Zuleitungen für etwa 1000 Tonnen Heizöl von den vorderen Ölbunkern zu den Kesseln. Zudem drangen in das Vorschiff 3000 bis 4000 Tonnen Meerwasser ein und es entstand eine Schlagseite von 9°. Die daraus resultierende Treibstoffknappheit und die entstehende Ölspur zwangen das Schlachtschiff, den geplanten Handelskrieg abzubrechen und möglichst direkt einen Hafen anzulaufen. Die "Prinz Eugen" wurde in den Atlantik entlassen und die "Bismarck" steuerte den Hafen Saint-Nazaire an der französischen Atlantikküste an, eine Fahrt, die etwa 70 Stunden dauern sollte. Die Kreuzer "Suffolk" und "Norfolk" sowie die "POW" verfolgten dabei die "Bismarck" in einem Abstand von etwa 15 Seemeilen mithilfe ihrer Radargeräte.
Um 23:33 Uhr desselben Tages wurde die "Bismarck" von Fairey-Swordfish-Torpedobombern des Flugzeugträgers HMS Victorious angegriffen. Der Angriff war erfolglos, forderte an Bord der Bismarck aber ein Todesopfer und sechs Verwundete. Wenige Stunden später, gegen 3:00 Uhr des nächsten Tages, gelang es Admiral Lütjens durch ein geschicktes Manöver die Verfolger vollständig abzuschütteln. Erst durch einen langen Funkspruch, den Lütjens am 25. Mai gegen 9:30 Uhr absetzte, gelang es den Briten, wieder die ungefähre Position der "Bismarck" zu lokalisieren; sie setzten im Laufe der nächsten Tage praktisch alle verfügbaren Einheiten im Atlantik auf die "Bismarck" an.
Am 26. Mai wurde die "Bismarck" gegen 10:52 Uhr von einem Catalina-Flugboot gesichtet. Der Flugzeugträger "Ark Royal" der in Gibraltar stationierten Force H ließ mehrere Fairey-Swordfish-Torpedobomber aufsteigen, welche die "Bismarck" gegen 20:47 Uhr angriffen. Es gelang dabei, einen Torpedotreffer am Heck der "Bismarck" zu erzielen, der die Ruderanlage schwer beschädigte.
Der Torpedo riss ein Loch in die untere Außenhaut im Bereich der Ruder und blockierte die Ruderanlage in 15°-Stellung. Die "Bismarck" war manövrierunfähig und nur noch imstande im Kreis bzw. langsam gegen den Wind zu fahren.
Das Nachtgefecht.
In der folgenden Nacht kam es zu einem Gefecht zwischen dem beschädigten Schlachtschiff und der 4. britischen Zerstörerflottille unter Captain Philip Vian. Die fünf Zerstörer "Cossack", "Maori", "Sikh", "Zulu" und die polnische "Piorun" attackierten die "Bismarck" mit Torpedos, konnten aber wegen der Dunkelheit, widriger Wetterbedingungen und des heftigen Abwehrfeuers keine Treffer erzielen.
Die beschädigte Ruderanlage konnte nicht repariert werden. Vielfältige Versuche, das Schiff gegen den Winddruck durch unterschiedliche Propellerdrehzahlen zu steuern, die Ruder selbst zu entfernen oder aus dem Tor des Bereitschaftshangars ein Ersatzruder anzufertigen, wurden durch den hohen Seegang vereitelt. Der Besatzung der "Bismarck" wurde klar, dass das Schiff nicht zu retten war. Am Morgen des 27. Mai 1941 hatte man vor, mit einem der auf dem Schiff befindlichen Flugzeuge das Kriegstagebuch in Sicherheit zu bringen. Der Versuch schlug jedoch fehl, da beide Flugzeugkatapulte beschädigt waren. Wegen der vom aufgetankten Flugzeug ausgehenden Brandgefahr wurde dieses stattdessen über Bord gekippt.
Das letzte Gefecht.
Am Morgen des 27. Mai 1941 wurde die "Bismarck" um 7:53 Uhr von der "HMS Norfolk" wiederentdeckt. Der Kampfverband von Vizeadmiral Tovey an Bord der "HMS King George V" (abgekürzt „KGV“) sichtete die "Bismarck" gegen 8:45 Uhr. Um 8:47 Uhr eröffnete die "HMS Rodney" das Feuer auf die "Bismarck". Eine Minute später begann die "Bismarck" zurückzuschießen. Die "KGV" eröffnete das Feuer um 8:48 Uhr, die "Norfolk" erst gegen 8:54 Uhr. Einer der ersten Treffer der "Rodney" setzte den Hauptartillerieleitstand außer Gefecht. Um 9:02 Uhr fiel der Gefechtsturm „Bruno“ durch eine Granate der "Rodney" aus. Die "Bismarck" schoss derweil mit den Türmen „Cäsar“ und „Dora“ auf die britischen Schiffe und es gelang ihr, die "Rodney" leicht zu beschädigen. Um 9:15 Uhr setzte ein Treffer der "KGV" den letzten noch funktionierenden Leitstand außer Gefecht, das Feuer der "Bismarck" konnte dadurch nicht mehr zentral koordiniert werden. Um 9:21 Uhr kam es in Turm „Dora“ zu einem Rohrkrepierer, der den Geschützturm dauerhaft lahmlegte. Etwa zu diesem Zeitpunkt war endgültig klar, dass die "Bismarck" kampfunfähig und verloren war. Daraufhin gab der Erste Offizier der "Bismarck", Fregattenkapitän Oels, den Befehl, die "Bismarck" selbstzuversenken. Er begab sich dazu persönlich in die einzelnen Maschinenräume, um den Befehl zu überbringen. Die Besatzung machte daraufhin unter der Führung des Zweiten Leitenden Ingenieurs, Kapitänleutnant (Ing.) Gerhard Junack, welcher den Untergang überlebte, mehrere Sprengsätze (Maßnahme V) klar, die mit neunminütiger Verzögerung die Seewasserkühlungsauslässe der "Bismarck" im Boden des Rumpfes zerstörten. Zusätzlich wurden alle wasserdichten Abteilungen entlang der Wellentunnel geöffnet, um dem eindringenden Wasser die Möglichkeit zu geben, das Schiff schnell zu fluten. Dies erklärt auch, warum die "Bismarck" über das Heck gesunken ist.
Turm „Anton“ fiel um 9:30 Uhr aus.
Um 9:40 Uhr eröffnete die "HMS Dorsetshire" das Feuer auf das Schiff. Die "Bismarck" stand zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen in Flammen, der Rumpf war aber noch nahezu unbeschädigt.
Um 10:15 Uhr befahl Admiral Tovey seinen Schiffen den Abbruch der Kämpfe, da die Schlachtschiffe aufgrund von Treibstoffmangel dringend in britische Gewässer zurückkehren mussten. Stattdessen sollte die Dorsetshire der "Bismarck" den Todesstoß versetzen. Es wurden noch drei Torpedos auf die "Bismarck" abgeschossen, die zu diesem Zeitpunkt schon mit dem Heck tief im Wasser lag.
Um 10:40 Uhr versank die "Bismarck" etwa 550 Seemeilen (etwa 1000 Kilometer) westlich von Brest bei den Koordinaten in den Fluten. Sie hinterließ ein Trümmerfeld sowie mehrere hundert Überlebende. Die "Dorsetshire" und der Zerstörer "HMS Maori" begannen umgehend mit den Rettungsmaßnahmen und zogen zusammen 110 Männer aus dem Wasser. Die Rettungsarbeiten wurden abgebrochen, nachdem der Ausguck der "Dorsetshire" ein U-Boot gemeldet hatte; eine Meldung, die sich später als falsch erweisen sollte. Die "Dorsetshire" hatte 85 Männer gerettet, von denen einer später seinen Verletzungen erlag, und die "Maori" 25. Das deutsche U-Boot "U 74" rettete drei weitere Männer (die Matrosengefreiten Georg Herzog, Otto Höntzsch und Herbert Mantey) und das deutsche Wetterbeobachtungsschiff "Sachsenwald" nahm noch zwei Männer (Maschinengefreite Walter Lorenzen und Otto Maus) auf. Die Angaben zur Gesamtanzahl der Überlebenden schwankt je nach Beleg. So gibt Konstam an, dass die beiden britischen Schiffe 116 Überlebende retteten und zusätzlich 5 von deutscher Seite geborgen werden konnten. Hildebrand schreibt zusätzlich zu den fünf von den Deutschen geretteten, von 120 Seeleuten, welche durch die Briten gerettet wurden. Letztendlich wurden aber mehr als 100 Mann gerettet.
Insgesamt befanden sich beim Untergang etwa 2200 Personen an Bord und während des Gefechtes hatten die Briten insgesamt 2876 Granaten auf das Schiff abgefeuert. Die Anzahl der Besatzungsmitglieder, welche zum Zeitpunkt des Untergangs an Bord waren, schwankt je nach Quelle zwischen über 2000 und über 2200 Mann.
Entdeckung des Wracks.
Am 8. Juni 1989 wurde das Wrack der "Bismarck" vom US-amerikanischen Tiefseeforscher Robert Ballard in 4800 Metern Tiefe entdeckt. Die exakte Position des Wracks, das sich heute im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland befindet, wird geheim gehalten, um das Seekriegsgrab vor Grabräubern zu schützen.
Das Wrack der "Bismarck" liegt aufrecht auf einer Flanke eines erloschenen Unterwasservulkans in den Resten einer Schlammlawine, die vom Untergang selbst ausgelöst worden war. Der Rumpf befindet sich in einem außerordentlich guten Zustand und ist weitgehend intakt. Lediglich das Heck ist durch einen Strukturschaden während des Sinkvorganges abgebrochen. Die vier nur durch die Schwerkraft an ihrem Platz gehaltenen Geschütztürme sind noch an der Oberfläche während des Kenterns aus den Barbetten gerutscht und sanken nahezu senkrecht zu Boden. Im Trümmerfeld wurde nur ein einziger Turm entdeckt, der Rest wurde möglicherweise von der Schlammlawine verschüttet. Im Umfeld des Wracks fanden sich zudem der Kommandoturm (der kopfüber auf dem Artillerieleitstand liegend zur Ruhe kam) und unter anderen Trümmern ein Areal mit hunderten Seestiefeln, vermutlich etwa unterhalb der Stelle, an der die Überlebenden im Meer trieben.
Die Untersuchungen von Robert Ballard ergaben, dass das Wrack vermutlich mit dem Heck zuerst auf dem Grund aufgeschlagen war. Der gute Zustand des Schiffes ist ein Hinweis darauf, dass das Innere des Rumpfes bereits geflutet war, bevor das Schiff die Zerstörungstiefe (die Tiefe, in welcher der Rumpf dem Wasserdruck nicht mehr standhält und implodiert) erreichte.
Eine Expedition im Juni 2001 entdeckte bei einer Untersuchung des Rumpfes mehrere horizontale Risse oder Schlitze, die als Schäden interpretiert wurden, die beim Hinabrutschen des Hanges des Unterwasservulkans entstanden. Granattreffer im Unterwasserbereich des Schiffes wurden nicht gefunden und auch die Anzahl der Treffer im Überwasserbereich des Rumpfes war unverhältnismäßig gering im Vergleich zu den Schäden, welche die Aufbauten durch den Beschuss davongetragen hatten. Infolge der gesammelten Daten wurde geschlussfolgert, dass die "Bismarck" durch die Selbstversenkung unterging.
Eine britische Expedition vom Juli 2001 unter Leitung von David Mearns kam hingegen zu dem Ergebnis, dass die "Bismarck" durch Torpedos versenkt worden war. Means hielt die bereits zuvor entdeckten Schlitze für Torpedoschäden, die durch die Bewegung im Meeresboden vergrößert worden waren. Bei der Expedition wurde bereits mit Unterwasserrobotern gearbeitet, die jedoch nicht in das Schiffsinnere eindrangen, um dort eventuelle kritische Beschädigungen durch Torpedos zu dokumentieren und so diese These zu bestätigen.
Eine Expedition des Regisseurs James Cameron im Jahre 2002, die für Aufnahmen eines Dokumentarfilms (Expedition "Bismarck") durchgeführt wurde, lieferte dieses Material. Die Tiefseetauch-U-Boote Mir I und II erkundeten die Risse und bei der Untersuchung der Torpedoschotts mit Kamerarobotern konnte keine relevante Beschädigung des Schiffes nachgewiesen werden. Es wurde zwar ein Torpedotreffer entdeckt, der aber außer einem Loch in der Außenhaut und der dadurch gefluteten wasserdichten Abteilung keine kritischen Beschädigungen des Rumpfes hervorgerufen hatte. Dies stützt die These, die "Bismarck" sei durch Selbstversenkungsmaßnahmen der Besatzung gesunken.
Die Expedition zählte außerdem nur vier Durchschüsse von Artilleriegranaten durch den Gürtelpanzer und fand eines der Ruder abgeknickt und mit dem Mittelpropeller verkeilt vor. Möglicherweise war dies der Schaden, der zur Manövrierunfähigkeit der "Bismarck" vor ihrem letzten Gefecht geführt hatte. Der Schaden könnte allerdings auch durch das Auftreffen des Rumpfes auf den Ozeanboden und das anschließende Herunterrutschen verursacht worden sein.
Aus taktischer Sicht ist die Frage, ob das Schiff durch britische Torpedos oder durch Selbstversenkung unterging, nebensächlich, da es zum fraglichen Zeitpunkt bereits zum Wrack geschossen und als kampffähige Einheit ausgeschaltet worden war.
Folgen des Gefechts.
In der ersten Hälfte des Krieges verfügte die Royal Navy über nur wenige vergleichbar kampfstarke Kriegsschiffe. Mit Ausnahme der unter Beachtung der engen Begrenzungen des Washingtoner Flottenvertrages gebauten "King-George-V"-Klasse und der "Nelson"-Klasse stammten alle britischen Schlachtschiffe noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Bewaffnung, Feuerleitausrüstung und vor allem Panzerung waren derjenigen der "Bismarck" weit unterlegen. Dies erklärt den schnellen Untergang der "Hood", die als Schlachtkreuzer mit generell schwächerer Panzerung konzeptionell nicht für den Kampf gegen Schlachtschiffe ausgelegt und technisch unterlegen war. Trotzdem war der Verlust der "Hood" für die Briten ein harter moralischer Schlag, da der Schlachtkreuzer als der Stolz der britischen Marine galt. Dies wird als einer der Gründe genannt, warum die britische Marine so schnell reagierte und die "Bismarck" direkt verfolgen ließ.
Obwohl in der Endphase die britischen Schiffe auf kürzeste Distanz die bereits kampfunfähige "Bismarck" beschossen, konnten ihre großkalibrigen Granaten den Hauptpanzer noch immer nicht durchschlagen. Dies lag daran, dass die Granaten durch die flache Flugbahn horizontal gegen die starke seitliche Panzerung trafen. Mit einer größeren Kampfentfernung wären die britischen Granaten steiler von oben eingekommen und hätten mit höherer Wahrscheinlichkeit den schwächeren Deckspanzer oder dessen Böschung durchschlagen können.
Das Ende der "Bismarck" kündigte darüber hinaus das Ende der Schlachtschiff-Ära an. Immer größere und schlagkräftigere Schlachtschiffe zu bauen, erwies sich spätestens mit dem Ende der japanischen "Yamato" 1945 als Sackgasse. Auch Pearl Harbor hatte schon 1941 gezeigt, dass Schlachtschiffe gegen eine große Zahl angreifender Flugzeuge nur geringe Überlebenschancen hatten. Das Schlachtschiff ist damit dem Flugzeugträger grundsätzlich unterlegen. Letzterer hat eine größere Reichweite und zielgenauere Waffen. So zeigte sich im „Unternehmen Rheinübung“ in Zeitrafferform der prinzipielle Wandel der Seestreitkräfte: Am 24. Mai zeigte die "Bismarck" durch die Versenkung der "Hood", dass die Zeit für die schwach gepanzerten Schlachtkreuzer lange abgelaufen war. Am 26. und 27. Mai deutete sich an, dass der Flugzeugträger der Nachfolger des Schlachtschiffs werden würde.
Der Untergang in der NS-Propaganda.
Sofort nach dem Untergang der "Bismarck" betrieb die NS-Propaganda eine Umdeutung des katastrophalen Unternehmens. Das letzte Gefecht wurde und wird heutzutage noch zum heroischen Opfergang stilisiert und die Selbstversenkung mit dem Pathos des im Kampf unüberwundenen Schiffes aufgeladen. Die "Bismarck" wurde gleichsam zum Symbol des sich der Übermacht trotzig entgegenstellenden, aber letztlich nur durch eigene Hand fallenden mythischen Helden aufgebaut. Der schnelle Erfolg gegen die damals bereits veraltete "Hood" diente dabei als Beleg der technischen Überlegenheit Deutschlands.
Offiziere und Besatzung.
Die Besatzungsstärke der Bismarck betrug 2065 Mann, darunter 103 Offiziere, das Durchschnittsalter der Besatzung betrug 21 Jahre. Kommandant des Schiffes war Kapitän zur See (Kpt.z.S.) Ernst Lindemann, Erster Offizier (I.O): Fregattenkapitän (FKpt.) Hans Oels.
Weitere wichtige Besatzungsmitglieder:
Während der Unternehmung "Rheinübung" kamen noch Flottenchef Admiral Günther Lütjens mit seinem 75 Mann umfassenden Stab (u. a. mit dem nach dem Untergang postum zum Admiralarzt beförderten Arzt Hans-Releff Riege) sowie ein Prisenkommando mit einem Offizier und 80 Mann hinzu; außerdem Beobachter, Journalisten und Kameramänner des NS-Propagandaministeriums. Von letzteren überlebte niemand.
Während des Unternehmens Rheinübung hatte Lütjens die operative Leitung des Schiffes, Kapitän Lindemann als Kommandant der "Bismarck" hatte die taktische Befehlsgewalt. Die alltäglichen Aufgaben an Bord wurden von I.O Oels übernommen.
Die Schiffsbesatzung bestand aus zwölf Kompanien, von denen jede 150 bis 200 Mann umfasste. Jede Kompanie hatte einen speziellen Fachbereich und war in mindestens zwei Unterkompanien unterteilt, die wiederum aus Korporalschaften von zehn bis zwölf Mann bestanden.
Die Quartiere für die Besatzung befanden sich unterhalb des Hauptdecks, die Mannschaftsquartiere im vorderen Bereich, während die Offiziere im Achterschiff untergebracht waren. Die Unteroffizierskabinen waren entsprechend den Tätigkeitsbereichen über Bug und Heck verteilt. Die Offiziersmesse befand sich unterhalb des Großmastes. In der Kommandantenkabine hing ein Originalbild des Künstlers Franz von Lenbach, das Otto von Bismarck zeigte und das mit dem Schiff unterging. Die Räumlichkeiten für Admiral Lütjens befanden sich im vorderen und hinteren Teil der Aufbauten. Unterhalb dieser befanden sich Waschküchen, eine Krankenstation, eine Apotheke, eine Bäckerei, eine Schusterei und weitere Räume für Tätigkeiten des alltäglichen Lebens. Die "Bismarck" besaß sogar einen Raum, der der Vorbereitung von Kartoffeln zugedacht war. Ganz vorne an der Spitze des Buges befand sich ein Lagerraum für Sportgeräte.
Die "Bismarck" hatte mehrere Küchen, davon zwei Hauptbordküchen, die für den Großteil der Besatzung die Mahlzeiten zubereiteten. Hochrangige Offiziere hatten in ihren Messen Tischbedienung, während in den Unteroffiziers- und Mannschaftsmessen mehrere Messmänner von einem Koch einen großen Topf des jeweiligen Gerichtes empfingen und an ihre Kameraden weiterverteilten. Die Messmänner waren auch für den Abwasch zuständig. Die Lebensmittellager hatten genug Platz, um Nahrungsmittel für 250.000 Manntage an Bord zu nehmen. Damit konnten die knapp 2200 Mann Besatzung ungefähr vier Monate versorgt werden. Die Kühlaggregate der Kühlräume wurden mit Kohlendioxid betrieben.
Auf dem Batteriedeck der "Bismarck" gab es zwei Kantinen mit sechs bis acht Personen Personal. Darin wurden Konsumgüter wie Zigaretten, Bier, Süßigkeiten und Schreibwaren verkauft. Die "Bismarck" konnte 500 bis 1000 50-Liter-Fässer Bier mit sich führen.
Auf See waren die Besatzungsmitglieder in mehrere Wachen eingeteilt, die sich im Schichtbetrieb abwechselten. Unabhängig von der Wache musste jedes Besatzungsmitglied von 8:00 Uhr bis 16:00 Uhr Dienst verrichten. Im Gefecht war jedes Besatzungsmitglied auf der ihm zugeteilten Gefechtsstation. Bei diesen Gefechtsstationen handelte es sich nicht nur um die Waffensysteme des Schiffes, sondern auch um Lecksicherungs- und Verwundetenversorgungstrupps. Im Hafen wurde die Besatzung bereits um 6:00 Uhr geweckt, dort konnten sich Besatzungsmitglieder, die keinen Wachdienst hatten, frei nehmen und an Land gehen.
Vor dem Untergang waren etwa 2200 Menschen an Bord des Schiffes; 95 % von ihnen starben beim Untergang. Die 110 Mann, die von den Briten gerettet worden waren, wurden nach übereinstimmender Aussage an Bord der Schiffe gut behandelt. So erhielt Burkard Freiherr von Müllenheim-Rechberg, ranghöchster Überlebender, erst einen Whisky, bevor er gegenüber dem Kapitän der "Dorsetshire" gegen den Abbruch der Rettungsarbeiten protestierte. Sie wurden nach England gebracht, verhört und dann in ein Kriegsgefangenenlager in Knightsbridge gebracht. Im Frühjahr 1942 wurden alle Überlebenden in ein Kriegsgefangenenlager nach Kanada verschifft; 1946 wurden alle repatriiert. Das letzte überlebende Besatzungsmitglied, Bernhard Heuer, starb am 7. März 2018. Im Marineehrenmal in Laboe befindet sich eine von der Marinekameradschaft "Schlachtschiff Bismarck" gestiftete Gedenktafel.
Rezeption.
Die "Bismarck" ist heute das bekannteste Schiff der Kriegsmarine. Vom Schiff existieren künstlerische Darstellungen, unter anderem durch die Marinemaler Claus Bergen, dessen bekanntes Bild "Schlachtschiff „Bismarck“ im Endkampf am 27. Mai 1941" in der Marineschule Mürwik aufbewahrt wird. Auch Günther Todt, Walter Zeeden und Viktor Gernhard haben Bilder der "Bismarck" gemalt.
Filmisch wurde die Geschichte des Schiffs 1960 unter dem Titel "Die letzte Fahrt der Bismarck" (Originaltitel: "Sink the Bismarck!") verarbeitet. Die britische Produktion, die auf Cecil Scott Foresters Sachbuch „Die letzte Fahrt der "Bismarck"“ (Originaltitel: "The Last Nine Days of the Bismarck" oder "Hunting the Bismarck") basiert, zeichnet sich durch die Verwendung historischer Archivbilder aus. Die Geschichte wurde auch in Dokumentationen thematisiert, darunter Sekunden vor dem Unglück, Expedition "Bismarck" und ZDF-History.
Musikalisch wurde die Geschichte um die "Bismarck" unter anderem in Johnny Hortons Country-Lied "Sink The Bismarck" aufgegriffen.
Von der "Bismarck" gibt es als Schiffsmodell neben Einzelanfertigungen durch Museen und Privatpersonen auch diverse Bausätze, so z. B. von Revell oder dem Sammelheft-Verlag DeAgostini. |
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