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Szenarien zur Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials in Deutschland | Migration in Europa | bpb.de | I. Vorbemerkung
Prognosen zur voraussichtlichen Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials haben in Deutschland eine lange Tradition. Eine erste Szenarien-Welle lässt sich für die zweite Hälfte der siebziger Jahre ausmachen, als sich alle namhaften Wirtschaftsforschungsinstitute mit der Herausforderung der geburtenstarken Jahrgänge befassten, die in den Jahren zwischen 1977 und 1987 das Arbeitskräfteangebot spürbar erhöhten. Vorausgesagt wurde damals, dass schwaches Wirtschaftswachstum zu unerträglich hohen Arbeitslosenquoten führen müsste. Größenordnungen von zwei bis drei Millionen Arbeitslosen wurden für diesen Fall für die achtziger Jahre angekündigt. Die Medien sprachen von Horrorprognosen und die meisten mochten nicht daran glauben, dass so etwas wirklich passieren könnte . Längst wissen wir, dass es im Verlauf der achtziger Jahre wirklich so gekommen ist, und im früheren Bundesgebiet wurde die Grenze von drei Millionen Arbeitslosen tatsächlich überschritten, wenn auch erst 1997.
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Bezüglich der Vorhersagen zu Beginn des neuen Jahrtausends ist die Skepsis erneut groß. Diesmal möchten viele nicht daran glauben, dass es zu einem demographisch bedingten Rückgang der Arbeitslosigkeit kommen wird. Anders als damals liefern heute die geburtenschwachen Jahrgänge den zentralen Angelpunkt der Warnprognosen. Wieder gibt es unter dem Eindruck dieser Herausforderung eine Reihe von Vorausberechnungen , die jetzt Arbeitsmarktengpässe voraussagen. Erneut wenden sich viele ungläubig ab, negieren den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Arbeitskräfteentwicklung und sehen statt dessen die Probleme mehr in einer mangelnden Arbeitsmarktflexibilität: entweder im unflexiblen Beschäftigungssystem und damit auf der Nachfragseite des Arbeitsmarktes oder auf seiner Angebotsseite in mangelnder Mobilität sowie nicht passgenauer Qualifikation der Arbeitskräfte. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung etwa weist in seinem jüngsten Jahresgutachten ausdrücklich darauf hin und fügt für die langfristige Perspektive hinzu: "Darauf zu vertrauen, dass sich die Probleme am Arbeitsmarkt durch den im Vergleich zu den neunziger Jahren neuen Entlastungseffekt von der Arbeitsangebotsseite her und durch eine günstigere Konjunktur sozusagen von selbst lösen, wäre riskant und nicht verantwortungsgerecht. Die langfristige Reduzierung des Erwerbspersonenpotenzials durch die demographische Entwicklung allein wird es nicht richten, zumal eine höhere Erwerbsneigung diesen Effekt zumindest in Teilen konterkarieren kann."
Was das zurückliegende Jahrzehnt betrifft, wurden in dieser polaren Diskussion die demographischen Veränderungen meist nicht in ihrer vollen Bandbreite wahrgenommen, obwohl sie einen wichtigen Erklärungsbeitrag für die Arbeitsmarktentwicklung lieferten. So wurde die nach 1987 im Inland einsetzende Tendenz abnehmender Jahrgangsstärken durch Zuwanderung von außen völlig überlagert. Migration für sich betrachtet, erhöhte in Westdeutschland zwischen 1988 und 1996 die Zahl der Arbeitssuchenden um gut 2,8 Millionen Personen . Das waren Zuzüge aus dem Ausland, aber auch Binnenwanderungen aus den neuen in die alten Bundesländer als Reaktion auf den Zusammenbruch nicht mehr wettbewerbsfähiger Produktionsstrukturen in Ostdeutschland. Angesichts von bereits 2,2 Millionen registrierten Arbeitslosen im Jahr 1988 ist kaum eine wirtschaftliche Dynamik vorstellbar, die angesichts der migrationsbedingten Potenzialerhöhung eine rasche Rückkehr zur Vollbeschäftigung ermöglicht hätte. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen lag 1996 mit knapp 2,8 Millionen sogar noch höher als acht Jahre zu-vor. Ursächlich für die Arbeitsmarktproblematik waren also sicher nicht nur systemisch angelegte Immobilitäten und Inflexibilitäten, sondern auch der enorme Zuwachs der Arbeitsuchenden, den das Beschäftigungssystem so rasch nicht aufnehmen konnte.
Diese umfassende Sicht behält auch in die Zukunft gerichtet ihre Gültigkeit. Die anschließenden Ausführungen beschränken sich allerdings auf eine systematische Beantwortung der Frage, in welchem Ausmaß der demographische Wandel die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials prägt. Dabei werden die Möglichkeiten eines konsequenten Ausschöpfens inländischer Personal-Ressourcen ebenso aufgezeigt wie der Einfluss permanenter Zuwanderung von außen. Schließlich soll die Option eines allmählichen Geburtenanstiegs den Blickwinkel weiten. II. Demographische Perspektiven
Der demographische Erklärungsbeitrag zur Potenzialentwicklung wird nirgends deutlicher als an der Bevölkerungspyramide. An der altersstrukturellen Zusammensetzung des Jahres 2000 (Schaubild 1) gilt es zweierlei zu beachten:
Rückschau: Der stärkste Geburtsjahrgang der Nachkriegszeit trat im Alter von 20 Jahren Ende der achtziger Jahre ins aktive Erwerbsleben ein. Da die nachfolgenden Jahrgänge allesamt dünner besetzt sind und am oberen Rand vergleichsweise stark besetzte Jahrgänge ausgeschieden waren, schrumpft seit 1988 das inländische Arbeitskräfteangebot.
Vorausschau: Die Zahl der im Jahr 2000 Geborenen ist nur halb so groß wie die Zahl der im gleichen Jahr 30-Jährigen, und die Jahrgangsstärken dazwischen sind bekannt. Infolgedessen ist die im Inland angelegte Entwicklung der aktiven Bevölkerung über Jahre hinweg ziemlich überraschungsfrei vorhersehbar.
Unsicher bleibt die Vorausschau der Außenwanderungen, die in kurzfristiger Sicht zum bestimmenden Faktor werden. Dennoch bleibt Migration in der weiteren Betrachtung zunächst einmal außen vor, weil die im Inland angelegten Entwicklungslinien aufgezeigt werden sollen. Lässt man zusätzlich die Geburtenziffern unverändert, die Lebenserwartung aber dem Trend der letzten Jahre folgend weiter ansteigen, steht ein Szenario der natürlichen Bevölkerungsentwicklung fest . Die aus diesen Annahmen resultierende Bevölkerungspyramide des Jahres 2040 ist in Schaubild 2 dargestellt. Der Wert dieser Vorausschau liegt in der schonungslosen Offenlegung der im Inland angelegten alterstrukturellen Veränderungen. Es wächst nur noch die Bevölkerung im Alter über 65 Jahre. Der nachwachsende und der aktive Teil hingegen schrumpfen. Die Einwohnerzahl sinkt auf 56,4 Millionen im Jahr 2050 (Schaubild 3).
Fügt man in dieses Szenario in den kommenden 20 Jahren einen Anstieg der Geburtenziffern auf das heutige französische Niveau von 1,7 Kindern je Frau ein, was in Deutschland Anfang der siebziger Jahre noch galt, wird der Bevölkerungsrückgang etwa ab dem Jahr 2010 nennenswert abgebremst und im Jahr 2050 ein deutlich höheres Niveau von 62,5 Millionen realisiert. Voraussetzungen für den erwarteten Geburtenanstieg werden weiter unten erläutert.
Auf Zuwanderung reagieren die Bevölkerungszahlen dagegen von Anfang an. Ausgegangen wird ab 2000 von einer arbeitsmarktorientierten Migration , die mit zunehmendem Zeithorizont zu jährlichen Wanderungssalden führt, die über 150 000 Personen bis 2010 und 200 000 Personen bis 2020 auf 300 000 Personen in den Jahren danach ansteigen. Das dahinter stehende Migrationsgeschehen wird ebenso weiter unten erläutert. Zuwanderung verändert die Bevölkerungsentwicklung nachhaltig. Die Einwohnerzahlen sinken in diesem Fall auf lediglich 73 Millionen im Jahr 2050, und dieses höhere Niveau hat hinsichtlich der Altersstrukturen eine völlig andere Qualität. Zuwanderer sind nachweislich deutlich jünger als die ansässige Bevölkerung . Bleibt es auch in dieser Situation beim Geburtenanstieg, wird der Verjüngungseffekt verstärkt und die Bevölkerungszahlen stabilisieren sich bei rund 80 Millionen Personen. III. Erwerbsentwürfe: vom phasenweisen Ausstieg zur gleichberechtigten Teilhabe
Damit ist die Bandbreite der verwendeten Bevölkerungsszenarien aufgezeigt. Über das daraus resultierende Arbeitskräfteangebot entscheidet dann nur noch das künftige Erwerbsverhalten. Dabei geht es um die Frage, ob zusätzliche Arbeitskraftreserven im Vergleich zur Situation heute erschlossen werden können, wenn im Inland die Zahl der Aktiven demographisch betrachtet unwiederbringlich schrumpft.
Grundsätzlich wird sich die künftige Gesellschaft an drei zentralen Wegmarken entscheiden müssen. Es geht im Inland um die Ausgestaltung der Ausbildungszeiten, die weitere Entwicklung der Frauenerwerbsbeteiligung und um Veränderungen beim Übergang in Rente. Die Schnittstellen zwischen Bildungs-, Familien-, Frauen- und Rentenpolitik werden überdeutlich.
Was den weiteren Übergang in den Ruhestand betrifft, hat der Gesetzgeber bereits entschieden: Das Rentenzugangsalter wird Schritt für Schritt angehoben. Ab dem Jahr 2010 gibt es für Männer wie für Frauen nur noch eine einheitliche Ruhestandsgrenze von 65 Jahren. Vorheriger Rentenbezug ist dann nur noch mit entsprechenden Rentenabschlägen möglich. Am unteren Rand der Erwerbspyramide stehen Verkürzungen der Schul-, Studien- und Berufsausbildungszeiten erst zur Diskussion.
In der Mitte der Erwerbspyramide gibt es in den alten Bundesländern schon seit Jahren den ausgeprägt positiven Trend der Frauenerwerbsbeteiligung. Die Frauenerwerbsquoten in den neuen Bundesländern sind nach wie vor hoch. Was die Erwerbssituation von Eltern betrifft, läuft der Trend steigender Erwerbsbeteiligung anders als in anderen europäischen Ländern ziemlich eindeutig gegen den Familienbildungsprozess: Eine Entscheidung für Kinder mindert aufgrund mangelnder Betreuungsmöglichkeiten die Erwerbschancen junger Paare und sie erhöht zeitgleich den Bedarf für den Lebensunterhalt.
Mehrere Entwicklungspfade sind denkbar. Im Extremfall könnte die Politik das Ziel einer Maximalauslastung der aktiven Bevölkerung anstreben: drastische Verkürzung der Ausbildungszeiten, vollständige Beseitigung der Erwerbsunterschiede zwischen Männern und Frauen, konsequente Umsetzung der Rentengesetze auf den Ruhestandsbeginn im Alter 65 und darüber hinaus sogar eine weitere Anhebung der Ruhestandsgrenzen. Solche politischen Entscheidungen sind nicht isoliert zu sehen.
Man wird feststellen können, dass eine behutsame Verlängerung der Lebensarbeitszeit über eine Verkürzung der Ausbildungszeiten wie über ein Hinausschieben des Rentenbeginns nicht unbedingt in eine bildungs- und arbeitsmarktpolitische Konfliktsituation hineinführen muss. Spürbare Verbesserungen im familiären Umfeld schließlich kämen dem Wunsch vieler Eltern nach gleichberechtigter Teilnahme am Erwerbsleben entgegen. Insofern also die entsprechende Infrastruktur, letztendlich die Ganztagsschule zur Verfügung steht, könnten die Frauenerwerbsquoten in Deutschland auf europäische Höchstwerte ansteigen, ohne dass ein Entscheidungskonflikt zwischen Familiengründung und partnerschaftlicher Teilhabe am Erwerbsleben entstünde.
In dieser Situation gäbe es dann auch keine Konflikte mehr zwischen dem Wunsch nach Familiengründung und dem, erwerbstätig zu bleiben. Die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe am Erwerbsleben vorausgesetzt, könnten auch die Geburtenziffern wieder ansteigen . Länder wie Frankreich und Schweden belegen, dass sich hohe Frauenerwerbsquoten und vergleichsweise hohe Geburtenziffern nicht widersprechen . Diese Länder stellen jungen Paaren für ihre Entscheidungen hinsichtlich Familiengründung im Gegensatz zum deutschen Modell des phasenweisen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben die Möglichkeit der zeitgleichen Partizipation am Erwerbsleben zur Verfügung. Setzt man diesen Umstieg auch in Deutschland voraus, könnten die Geburtenziffern in den kommenden 20 Jahren durchaus wie angenommen auf das heutige französische Niveau von 1,7 Kindern je Frau ansteigen.
Viele biographische Muster sind vorstellbar. Aus Gründen der Vereinfachung sollen folgende Orientierungspunkte die künftige Erwerbslandschaft abstecken: Die Ausbildungszeiten werden leicht verkürzt, die Frauenerwerbsbeteiligung steigt dem Trend der letzten Jahre folgend auf schwedisches Niveau an, und bezüglich der Ruhestandsgrenzen wird davon ausgegangen, dass sich die betroffenen Jahrgänge je zur Hälfte für den vorzeitigen Rentenbezug und den Regelübergang mit 65 Jahren entscheiden. Dieser Erwerbsentwurf für die deutsche Bevölkerung gilt in abgeschwächter Form auch für die in Deutschland lebenden Ausländer . Schließlich soll die Option einer allgemeinen Anhebung der gesetzlichen Altersgrenze auf 66 Jahre im Jahr 2020 und auf 67 im Jahr 2030 dargestellt werden. IV. Größenordnungen künftiger Beschäftigungsreserven
Wie sich das Arbeitskräftepotenzial in diesen Entwürfen ohne Berücksichtigung von Zuwanderung entwickelt, ist in Schaubild 4 dargestellt. Dort lassen sich im zeitlichen Verlauf drei Phasen unterscheiden:
- Phase 1 reicht von 2000 bis 2010 mit einem rein demographisch bedingten Rückgang des Arbeitskräfteangebots um 1,8 Millionen Personen auf 36,4 Millionen. Dieser Rückgang kann durch steigende Erwerbsbeteiligung wett gemacht werden, die zwischenzeitlich sogar zu einem Angebotsanstieg führt. Ursächlich dafür ist vor allem der per Gesetz festgelegte spätere Rentenbeginn, der die Erwerbsquote der 60- bis 65-Jährigen bis 2010 von 24 auf 41 Prozent anhebt. Das Arbeitskräfteangebot insgesamt liegt mit rund 40,4 Millionen dann ebenso hoch wie im Jahr 2000.
- Phase 2 reicht von 2010 bis etwa 2030 und zeichnet sich durch einen beschleunigten demographischen Rückgang aus, der das Arbeitskräfteangebot in diesen 20 Jahren um gut 10 Millionen auf 28,5 Millionen Personen absenkt. In diesem Zeitraum sorgt nahezu ausnahmslos die zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen für eine Angebotsausdehnung. Zusammen mit dem späteren Rentenbeginn ergibt sich ein Plus von 2,5 Millionen. Das Arbeitskräfteniveau liegt unter Ausschöpfung dieser Reserven im Jahr 2030 bei 31 Millionen Personen.
- Phase 3 umfasst den nachfolgenden Zeitraum bis 2050 mit schwächer ausgeprägtem demographischem Rückgang in der Größenordnung von gut 7 Millionen auf 21,2 Millionen Personen. In diesen Jahren wirkt sich die steigende Erwerbsneigung der ausländischen Bevölkerung aus. Unter Berücksichtigung all dieser angebotserhöhenden Maßnahmen ergibt sich ein Arbeitskräfteniveau von 23,3 Millionen.
Fügt man in diese Szenarien die Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 66 im Jahr 2020 und auf 67 im Jahr 2030 ein, dürfte die Obergrenze der Auslastung des inländischen Arbeitskräftepotenzials erreicht sein. Das bedeutet im Jahr 2020 eine Angebotserhöhung um knapp 700 000 Personen und zehn Jahre später eine weitere um knapp 1,1 Millionen. Im Endjahr der Prognose läge das Erwerbspersonenpotenzial unter Einschluss auch dieser gesetzlich erwirkten Angebotserhöhung bei 24,4 Millionen statt bei 21,2 Millionen bei rein demographischer Orientierung. Das Ausgangsniveau des Jahres 2000 wäre um 40 bis annähernd 50 Prozent unterschritten. Mehr als Parallelverschiebungen sind letztendlich nicht möglich.
Die Alterstruktur hätte sich wesentlich verändert (Tabelle). Der Anteil der jüngeren Arbeitskräfte im Alter von unter 45 wäre um 14,8 Prozent gesunken - entsprechend derjenige der Älteren gestiegen. Angesichts dieser Alterungstendenz steht in Deutschland Erfahrungswissen reichlich zur Verfügung. Gefährdet hingegen ist der Zuwachs neuen Wissens, der sich über den Arbeitskräftenachwuchs im Humankapital regeneriert.
Ein Anstieg der Geburtenziffern würde den Trend schon eher verändern. Zunehmende Kinderzahlen würden die Potenzialentwicklung nachhaltig stärken. Zum einen wäre die Niveauanhebung auf 25,8 Millionen Erwerbspersonen im Jahr 2050 deutlich größer als jene, die der spätere Rentenbeginn auslöst (Schaubild 4). Hinzu käme eine deutliche Verjüngung (Tabelle): Im Gegensatz zur Rentenpolitik leistet Familienpolitik damit hochinnovative Beiträge für eine auch ökonomisch tragfähige Zukunftsperspektive. V. Migration: vom Gastarbeiter zum Neubürger
Diese intern abgeleiteten Entwicklungslinien treffen in der realen Welt auf die Wanderungsentscheidungen der Ausländer einerseits und andererseits auf den politischen Gestaltungswillen zur künftigen Zuwanderung nach Deutschland. Auf der Nachfragseite des Arbeitsmarktes wird entscheidend sein, welche wirtschaftliche Dynamik am Standort Deutschland tatsächlich Platz greift, wobei Wechselwirkungen zu beachten sind. Die Richtung der Zusammenhänge ist jedoch wenig zweifelhaft. Wenn die Vision der gleichberechtigten Teilhabe am Erwerbsleben tatsächlich wie vorgegeben umgesetzt würde und wenn die politischen Entscheidungsträger ein Umfeld bereiten, in dem Angst durch Mut und Gleichgültigkeit durch Verantwortung ersetzt wird, sind vom Arbeitskräftepotenzial aus gesehen auch und gerade unter dem Blickwinkel von Migration die Weichen für wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik gestellt. In diesem Sinn wird der Entwurf der Inländer-Erwerbslandschaft um die Außenwanderungen ergänzt.
Dazu bedarf es keines vollkommen neuen Entwurfs. Migration von Ausländern prägt seit Beginn der sechziger Jahre die Bevölkerungsentwicklung ebenso wie das Arbeitsmarktgeschehen. Man muss sich darüber im Klaren sein: Ohne Zuwanderung wären in der früheren Bundesrepublik die Einwohnerzahlen schon seit 1972 rückläufig. Mehr noch - hätte es in den zurückliegenden 30 Jahren keinerlei Zuwanderung gegeben, lebten in den alten Bundesländern derzeit nur noch 54,7 Millionen Personen - weniger als 1960 (Schaubild 5). Deutschland wäre nicht nur ökonomisch ärmer, sondern auch kulturell.
Dieses aktualisierte Ergebnis einer früher bereits durchgeführten Rückrechnung zeigt: Wie auch immer die Wanderungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eingeordnet wird, der bis 1999 auf 12,2 Millionen Personen gewachsene Abstand zwischen den beiden Bevölkerungslinien mit und ohne Migration offenbart die tiefe Kluft zwischen den realen Erfahrungen der Bevölkerung vor Ort und den Verlautbarungen der Politik, Deutschland sei kein wie auch immer geartetes Einwanderungsland.
Die Bundesrepublik ist also ohne Zweifel wanderungserfahren. Aber sie muss sich vom alten Gastarbeiterkonzept nach dem Prinzip des Kommens und Gehens abwenden und sich klar und entschieden dem Konzept des "Neubürgers" mit konkreten Bleibe-Angeboten zuwenden. Dies wird schon deshalb notwendig sein, weil die Wanderungsvolumen der Vergangenheit jedes institutionalisierte Integrationskonzept der Sprach-, Schul-, Bildungs- und Qualifikationsbegleitung schlichtweg überfordern würden. Wenn Deutschland Integration aktiv zum Programm erheben will - und dazu gibt es im Grunde keine Alternative -, muss das Drehkreuz an den Außengrenzen durch transparent kontrollierte Eingangstüren ersetzt werden.
Hier gilt es von den klassischen Einwanderungsländern zu lernen. Die Wanderungsbilanzen Deutschlands im Vergleich zu denen der USA und Kanadas belegen dies deutlich (Schaubild 6). In den siebziger und achtziger Jahren standen 100 Zuzügen nach Deutschland unmittelbar mehr als 80 Fortzüge gegenüber. Deutschland war mithin ein Durchgangsland. Dies hat sich in den neunziger Jahren geringfügig verbessert. Anders war die Situation in den USA. Dort entfielen auf die gleiche Anzahl Zuzüge lediglich 26 bzw. 22 Fortzüge, Relationen, die Kanada zuletzt ebenfalls erreichte.
Die Übertragung solcher Relationen auf die Wanderungsbilanz Deutschlands ist mit dem statistischen Maß der so genannten Wanderungseffizienz möglich, das den Wanderungssaldo zum Wanderungsvolumen in Beziehung setzt . Für die neunziger Jahre hätte dies für Deutschland bedeutet (Schaubild 7): Um den tatsächlichen Wanderungssaldo von insgesamt von knapp 1,9 Millionen Personen zu erreichen wären nicht 7,3 Millionen Zuzüge erforderlich gewesen, sondern lediglich 2,4 Millionen. Das entspricht der Situation von Einwanderungsländern mit konkreter Begleitung zur dauerhaften Bleibe. Das wäre auch zugleich das Zukunftsmodell für Deutschland.
Denn wenn man in Szenarien-Rechnungen für Deutschland langfristig einen jährlichen Wanderungssaldo von 300 000 Personen einsetzt, dann bedeutet dies entsprechend nordamerikanischer Wanderungseffizienzen einen Zuzug von 385 000 Migranten und nicht etwa entsprechend deutschen Erfahrungswerten einen Zuzug von 1,2 Millionen. Jedes Integrationskonzept würde zwangsläufig an den Kosten und damit auch an der gesellschaftlichen Akzeptanz scheitern.
Dass die Wanderungsbewegungen in diesem Sinne veränderbar sind, belegen die kanadischen Erfahrung nach Einführung des Einwanderungsgesetzes Ende der siebziger Jahre (Schaubild 6). Die Relation Fortzüge zu 100 Zuzügen verbesserte sich deutlich von 56 auf 22. VI. Potenzialeffekte von Zuwanderung und höherer Geburtenentwicklung
Wollen Zukunftsrechnungen mehr sein als reine Zahlenarithmetik, ist ein Umstieg in die Bleibegesellschaft erforderlich; diese gründet sich auf vier Einsichten :
- In einer Gesellschaft mit dauerhaft schrumpfender und damit zugleich alternder Bevölkerung verändern sich Beziehungsgefüge. Das betrifft die Solidarität zwischen Jung und Alt in den sozialen Sicherungssystemen.
- Die aufnehmende Gesellschaft akzentuiert die Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders und mutet sie auch nach außen erkennbar zu. Das schafft Klarheit für die Zuwanderer.
- Der aufnehmenden Gesellschaft ist bewusst, dass Zuwanderung Ängste auslösen kann.
- Anhaltende Zuwanderung stellt höhere Anforderungen an das Vermögen des Einzelnen, Andersartigkeit zuzulassen. Das erfordert Toleranz.
Diesen Einsichten folgend, setzt die Prognose auf institutionalisierte Integration vor allem im Schul- und Bildungssystem. Migranten werden letztendlich Neubürger werden. Arbeitsmarktorientiert fußt die Rechnung auf den Elementen der aktiven Steuerung. Zuwanderung ausschließlich unqualifizierter Arbeitskräfte bleibt für Deutschland eine risikoreiche Strategie . Was den konkreten Prognoseansatz betrifft, wird davon ausgegangen, dass der Einwanderungspolitik entsprechend mittelfristigen Arbeitsmarkterfordernissen und langfristigen Orientierungen folgende Globalsteuerung gelingt. Ausgehend von den höheren Wanderungseffizienzen leitet sich aus den zuvor genannten Salden ein jährlicher Zuzug von 192 000 Personen bis 2010, von 256 000 bis 2020 und danach aufgrund der erwarteten Arbeitskräfteknappheit von 385 000 Personen pro Jahr ab. Der Verlaufspfad der daraus resultierenden Potentialentwicklung ist im Vergleich zur Entwicklung ohne Zuwanderung in Schaubild 8 dargestellt. In Kombination mit steigender Erwerbsneigung leiten sich in den zuvor gewählten Phasen folgende Ergebnisse ab:
- In Phase 1 steigt das Arbeitskräfteangebot bis 2010 unter dem Eindruck von Migration und zunehmender Erwerbsneigung auf 41,6 Millionen Personen. Das ist eine Million mehr als im Jahr 2000. Ohne Migration hätte das Niveau dieser Erwerbsvariante im Jahr 2010 bei 40,4 Millionen gelegen. Damit steht fest: Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Arbeitsmarkt im kommenden Jahrzehnt von der Seite des Arbeitskräfteangebots entlastet wird. Eine Arbeitsmarktbesserung müsste unter diesen Bedingungen von der Nachfrageseite über anhaltend dynamische Beschäftigungsentwicklung kommen.
- Nach dem Jahr 2010 kann der Rückgang des Arbeitskräfteangebots auch durch Migration nicht mehr aufgefangen werden: Von daher wird in Phase 2 das Arbeitsmarktergebnis begünstigt. Migration dämpft in diesen 20 Jahren den im Inland angelegten Schrumpfungsprozess um 4,8 Millionen Personen. Das ermöglicht im Jahr 2030 ein Niveau von 35,8 Millionen Arbeitskräften - nur 5,3 Millionen weniger als im Jahr 2010.
- In Phase 3 sinkt das Arbeitskräfteangebot trotz Migration auf 32,5 Millionen Personen. Setzt sich dagegen der Geburtenanstieg durch, wäre in Phase 3 eine Stabilisierung auf einem Niveau von 35,4 Millionen Personen möglich.
Diese Perspektive brächte für den Standort Deutschland einen entscheidenden Vorteil. Der Weg in die Wissensgesellschaft würde im Vergleich zum Status quo mit einem deutlich jüngeren Arbeitskräftepotenzial beschritten, wie der Vergleich der aktuellen Altersstrukturen mit denen des Jahres 2050 nach den verschiedenen Szenarien belegt (Schaubild 9). Migration und Geburtenbelebung stärken den Nachwuchs und den Mittelbau der verfügbaren Personalressourcen beträchtlich. Steigende Erwerbsbeteiligung hingegen verstärkt eher den Alterungstrend. VII. Schlussfolgerung
Es ist die doppelte Dimension des demographischen Wandels mit spürbarer Schrumpfung und fortschreitender Alterung des Arbeitskräfteangebots, die die Angebotsbedingungen am Standort Deutschland gefährden. Migration wirkt beiden unabwendbaren Tendenzen unmittelbar entgegen. Die Potenzialeffekte eines Geburtenanstiegs wirken sich erst zeitverzögert aus. Dann allerdings entfalten sie in den demographisch problematischen Jahren Niveau- und Verjüngungseffekte, die über das hinausgehen, was Migration leisten kann. Die Vorstellung jedenfalls, Migranten kämen immer nach Deutschland, muss angesichts steigender Soziallasten töricht erscheinen. Langfristig muss Deutschland dafür konzeptionell etwas tun. Ansonsten könnte sich sehr bald eine neuerliche Enttäuschung einstellen - ähnlich jener, die der Bemerkung Adenauers aus der Zeit Ende der fünfziger Jahre folgte, als er die nach vorne denkenden Sozialpolitiker mit der Bemerkung beruhigen wollte: "Kinder haben die Leute immer."
Vgl. Dieter Mertens, Zukünftig keine Vollbeschäftigung mehr?, in: Der Spiegel, Nr. 49/1982, S. 34 ff.
Vgl. Johann Fuchs/Manfred Thon, Potentialprojektion bis 2040. Nach 2010 sinkt das Angebot an Arbeitskräften, in: IAB-Kurzbericht, Nr. 4 vom 20. 5. 1999 (IAB = Institut für Arbeitsmark- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit Nürnberg); Erika Schulz, Migration und Arbeitskräfteangebot in Deutschland bis 2050, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 48/2000; Bernd Hof, Auswirkungen und Konsequenzen der demographischen Entwicklung für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, Gutachten im Auftrag des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Köln 2001.
Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2000/01. Chancen auf einen höheren Wachstumspfad, Wiesbaden 2000, Ziffer 132 ff.
Ebd., Ziffer 411.
Vgl. Bernd Hof/Ralf May, Struktureffekte der Arbeitskräfte-Entwicklung in Ost- und Westdeutschland zwischen 1988 und 1996, in: iw-trends, (1997) 4.
Vgl. B. Hof (Anm. 2), S. 119.
Vgl. ebd., S. 110.
Vgl. Bernd Hof, Szenarien künftiger Zuwanderungen und ihre Auswirkungen auf Bevölkerungsstruktur, Arbeitsmarkt und soziale Sicherung, in: Statistisches Archiv, Band 80, Jahrgang 1996.
Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Wohnungs-, Bildungs- und Familienpolitik sollten im Sinne eines "sozialen Risikomanagements" verändert werden, in: Wochenbericht, Nr. 47/2000.
Vgl. Bernd Hof, Europa im Zeichen der Migration. Szenarien zur Bevölkerungs- und Arbeitsmarktentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft bis 2020, Köln 1993, S. 100 ff.
Vgl. ders. ( Anm. 2), S. 114.
Vgl. B. Hof (Anm. 10), S. 26.
Die Formel für die Wanderungseffizienz WEFF lautet: WEFF = (Zuzüge - Fortzüge)/(Zuzüge + Fortzüge), wobei der Zähler den Wanderungssaldo WS darstellt. Durch Umformung erhält man: Zuzüge = WS(1 + 1/WEFF) /2 und kann so unter Vorgabe eines Wanderungssaldos und einer Wanderungseffizienz die Zuzüge bestimmen.
Vgl. Bernd Hof, Demographische Alterung und ökonomische Aspekte der Migration, in: Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Band 29, Opladen 1999, S. 115.
Vgl. Thomas Bauer, Arbeitsmarkteffekte der Migration und Einwanderungspolitik: Eine Analyse für die Bundesrepublik Deutschland, Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge 158, Heidelberg 1998, S. 78.
| Article | Hof, Bernd | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26461/szenarien-zur-entwicklung-des-arbeitskraeftepotenzials-in-deutschland/ | Prognosen zur Entwicklung der Arbeitskräfteentwicklung haben sich in ihrer langen Tradition als treffsicher erwiesen. Ein Grund dafür ist der verlässliche demographische Hintergrund. | [
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Sozialpolitik | Europäische Union | bpb.de | Die Sozialpolitik gehört nicht zu den Kompetenzen der Europäischen Union. Ihre Aufgabe ist es lediglich, die Mitgliedstaaten auf einigen Feldern der Beschäftigungs- und Sozialpolitik zu unterstützen. Die meisten Maßnahmen der europäischen Sozialpolitik werden nach der offenen Methode der Koordinierung, die im Jahr 2000 eingeführt wurde, unterstützt. Nach diesem Verfahren vergleichen die Mitgliedstaaten die Ergebnisse ihrer Politik in einem Bereich und tauschen ihre Erfahrungen aus.
Entwicklung der Sozialpolitik
Dennoch ist die EU auch auf diesem Feld nicht völlig unbedeutend. In den Verträgen verpflichten sich die Mitgliedsstaaten, die in der Externer Link: Sozialcharta des Europarates seit 1961 verankerten Standards und Rechte einzuhalten. Hierbei handelt es sich unter anderem um das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen und Entlohnung, um das Recht, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen, sowie den Jugend- und Mutterschutz.
Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) wurde zudem in der EU ein Sozialprotokoll unterzeichnet, das die Unterstützung sozialer Maßnahmen in den Mitgliedstaaten zum Inhalt hatte. Großbritannien wurde in diesem Protokoll auf ausdrücklichen Wunsch ausgenommen. Nachdem das Land als Folge eines Regierungswechsels seinen Widerstand aufgegeben hatte, konnte das Protokoll in den Amsterdamer Vertrag (1999) eingefügt werden.
Im durch den Lissabonner Vertrag geschaffenen Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, vor Lissabon EG-Vertrag) findet sich das Sozialkapitel in den Artikeln 151 bis 161. Die Sozialpolitik ist mittlerweile eine gemeinsame Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten. Der Rat kann durch Richtlinien, die im Mitentscheidungsverfahren mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden, Maßnahmen unter anderem in den Bereichen Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer erlassen. Einstimmig kann der Rat, ebenfalls im Mitentscheidungsverfahren, auch Maßnahmen zum sozialen Schutz der Arbeitnehmer, zum Kündigungsschutz und weiteren Fragen beschließen. Die Festlegung der Sozialpolitik als "gemeinsame Zuständigkeit" ermöglicht der EU also regelnd einzugreifen, allerdings muss sie dabei die Kompetenzen der Mitgliedstaaten achten. Tatsächlich sind die Mitgliedstaaten sehr daran interessiert, auf diesem Feld die Gestaltungsmacht zu behalten, so dass der EU im Wesentlichen die Fixierung von Mindeststandards bleibt.
Sozialpolitische Regelungen
So hat die Europäische Union beispielsweise eine Externer Link: Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung erlassen, die solche Mindeststandards bei der Festlegung der Arbeitszeiten vorschreibt. Die Mitgliedstaaten sind der Richtlinie zufolge dazu verpflichtet zu regeln, dass die Höchstarbeitszeit nicht mehr als 48 Stunden pro Woche beträgt und dass zwischen Arbeitsende und erneuter Arbeitsaufnahme eine angemessene Ruhezeit eingehalten wird.
Auch das Verbot, Menschen wegen ihres Geschlechts oder anderer persönlicher Merkmale zu benachteiligen, gilt europaweit. Die Europäische Union hat hierzu mehrere Richtlinien erlassen, die bei uns durch das Externer Link: Allgemeine Gleichstellungsgesetz umgesetzt wurden. Dabei ist Deutschland über die Vorgaben der EU hinausgegangen. Dies zeigt das bei Richtlinien übliche Verfahren: Es werden Werte vorgegeben, die einzuhalten sind. Wenn ein Staat mehr tun will, kann er dies machen.
Zur Freizügigkeit innerhalb Europas gehört auch, dass die Menschen ihre sozialen Ansprüche mit über die Grenze nehmen können. Jemand, der beispielsweise zwanzig Jahre in Frankreich, zehn Jahre in den Niederlanden und zehn Jahre in Deutschland gearbeitet hat, wo er sich dann im Ruhestand niederlässt, muss auch für vierzig Jahre Rente erhalten. Dies ist auf europäischer Ebene garantiert. Heftig diskutiert wurde in der Europäischen Union allgemein und in Großbritannien und in Deutschland im Besonderen, ob Bürger anderer EU-Staaten Sozialleistungen beanspruchen können. Ein EU-Bürger, der in Deutschland mindestens sechs Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, hat Anspruch auf Arbeitslosengeld II ("Hartz IV"), wird er nach mehr als einem Jahr Berufstätigkeit arbeitslos, tritt fürs Erste die Arbeitslosenversicherung für ihn ein. Andererseits gilt grundsätzlich, dass ein Zuzug nach Deutschland mit dem Ziel, dort von Sozialhilfe zu leben, nicht rechtens ist. Strittig ist jedoch, inwieweit EU-Bürger Anspruch auf Sozialleistungen haben, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, wenn sie also nicht arbeiten, aber eine Arbeit suchen oder sich für eine solche qualifizieren könnten. Gemäß einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2009 dürfen EU-Bürger nicht von beitragsunabhängigen Leistungen ausgeschlossen werden, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern. Mehrere deutsche Gerichte haben daher in den letzten Jahren EU-Ausländern Sozialleistungen zugesprochen, auch wenn sie nicht berufstätig waren. Das Bundessozialgericht hat mittlerweile den Europäischen Gerichtshof um eine grundsätzliche Entscheidung gebeten.
Auch der Gesundheitsschutz ist sichergestellt, wenn sich ein EU-Bürger in einem anderen Land der Gemeinschaft vorübergehend aufhält und dort krank wird. Es gibt mittlerweile eine europäische Versicherungskarte, die gewährleistet, dass man ärztliche Betreuung erhält, ohne dafür in Vorkasse zu treten und das dann hinterher mit seiner Krankenkasse abrechnen zu müssen.
Zum Binnenmarkt gehört weiterhin, dass man auch außerhalb von Notfällen Gesundheitsleistungen im Ausland in Anspruch nehmen darf und die eigene Krankenkasse dies bis zu der Höhe tragen muss, die auch im eigenen Land angefallen wäre. Das ist für viele bei Leistungen interessant, die nach unserem System Zuzahlungen erfordern wie beispielsweise Zahnersatz. Wer will, kann sich seine Zähne in Polen oder Ungarn richten oder ersetzen lassen und so seinen Eigenbeitrag minimieren oder ganz einsparen. | Article | Eckart D. Stratenschulte | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-11-27T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europaeische-union/dossier-europaeische-union/42897/sozialpolitik/ | Über sozialpolitische Fragen entscheiden nach wie vor die nationalen Gremien der einzelnen Mitgliedstaaten. Allerdings hat die Europäische Union die Richtlinienkompetenz - unter anderem in den Bereichen Gesundheit und Sicherheit. | [
"europäische Union",
"Europa",
"Sozialpolitik",
"Gleichstellungsgesetz",
"Sozialcharta"
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Presse und Experten zur digitalen Bildungsoffensive des BMBF | Bildungsalltag | bpb.de | Am 12. Oktober 2016 stellte Bundesministerin Johanna Wanka die Externer Link: Bildungsoffensive des BMBF für die digitale Wissensgesellschaft vor. Das Strategiepapier enthält fünf Handlungsfelder, in denen der digitale Wandel in der deutschen Bildungslandschaft vorangetrieben werden soll – von der frühkindlichen Bildung bis zur Berufsschule.
Die Handlungsfelder umfassen
die Vermittlung digitaler Bildung, damit sich alle Menschen in Deutschland in der digitalen Welt sicher und verantwortungsbewusst bewegen können,
den Ausbau digitaler Infrastrukturen mit dem Ziel, alle Bildungseinrichtungen flächendeckend an ein leistungsfähiges Breitbandnetz anzubinden,
die Schaffung eines zeitgemäßen Rechtsrahmens, der den Anforderungen an Datenschutz und Urheberrecht für die Nutzung digital gestützter Bildungsangebote gerecht wird,
die Unterstützung strategischer Organisationsentwicklung in Richtung Digitalisierung in den Bildungseinrichtungen seitens des BMBF und
die Nutzung der Potenziale der Internationalisierung, indem sich Deutschland zum Ausbau digitaler Bildung mit anderen Ländern austauscht und von deren Erfahrungen lernt.
Für den Ausbau digitaler Infrastrukturen bietet das BMBF den Ländern den "DigitalPakt#D" an, der zwei Kernelemente beinhaltet: Der Bund (das BMBF) fördert bis 2021 die digitale Ausstattung an Schulen mit fünf Milliarden Euro, im Gegenzug verpflichten sich die Länder, digitale Bildung zu realisieren, unter anderem durch die Umsetzung entsprechender pädagogischer Konzepte. Denn Wanka betont: "Zentral für den Erfolg digitaler Bildung ist die Pädagogik – digitale Technik muss guter Bildung dienen, nicht umgekehrt."
Presse und Experten begrüßen die Initiative des BMBF, sehen bei der Umsetzung des Vorhabens jedoch kritische Punkte hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern, der mitunter ablehnenden Haltung der Lehrenden angesichts der Digitalisierung und deren adäquater Aus- und Weiterbildung sowie der finanziellen Ausstattung des Projekts.
In seinem Externer Link: Beitrag auf netzpolitik.org weist Externer Link: Daniel Seitz kritisch darauf hin, dass das Zustandekommen des Digitalpakts auch von der Kooperationsbereitschaft der Länder abhängig sei. Dies betreffe die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte im digitalen Bereich, denn Bildung sei immer noch Ländersache. Zudem stehe das 2006 beschlossene Kooperationsverbot im Bildungsbereich zwischen Bund und Ländern dem Vorhaben möglicherweise im Weg, auch wenn die Ministerin auf § 91c des Grundgesetzes verweist, wonach die Zusammenarbeit im Informationsbereich erlaubt sei. Entscheidend sei Seitz zufolge auch die innere Einstellung der Akteure: Die ablehnende Haltung vieler Lehrenden gegenüber der Digitalisierung sowie fehlende Medienkompetenz erschwere eine erfolgreiche Umsetzung.
Auch Dirk von Gehlen kommentiert in seinen Externer Link: Digitalen Notizen die mitunter reservierte Haltung der Lehrenden gegenüber Wankas Digitaloffensive. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, meinte entsprechend in einem Externer Link: Interview mit der Passauer Neuen Presse: "Die Digitalisierung der Klassen würde die bei den Schülern ohnehin vorhandene Neigung zum Häppchenwissen noch verstärken. Es leidet die Konzentration. Es leidet das Lesevermögen und die Diskursfähigkeit." Von Gehlen appelliert hingegen an die Vorbildfunktion der Lehrenden, die mit einem vorwärtsgewandten, verantwortungsvollen Umgang mit (digitalen) Neuerungen die Schülerinnen und Schüler für das lebenslange Lernen wappnen sollten.
Auf Externer Link: Deutschlandradio Kultur kommentiert die Online-Journalistin Margarete Hucht die Haltung Kraus’ als Aufruf zur "kollektiven Realitätsverweigerung". Ihm ginge es um "die Verdammung des bösen Internets". Das hartnäckige Gerücht, auf Papier gedruckte Buchstaben seien mehr wert als Buchstaben am Bildschirm, widerlegt Hucht mit einer Reihe von Beispielen für die gelungene Nutzung digitaler Tools im Bildungsbereich. Für die Autorin gliche es einer "Bildungskatastrophe", unsere Kinder innerhalb der Schule mit der digitalen Welt außerhalb der Schule allein zu lassen. "Pädagogen, die das Netz als Lebenswirklichkeit von Heranwachsenden verleugnen, handeln … aus meiner Sicht nicht nur realitätsverweigernd, sondern schlicht verantwortungslos."
Die Initiative Externer Link: Keine Bildung ohne Medien! begrüßt das Digitalpaket Wankas nachdrücklich und bewertet die digitale Ausstattung der Schulen als "dringend geboten". Es solle jedoch kein rein technisches Add-On sein, sondern es bedürfe auch einer ausreichenden Aus- und Weiterbildung der Lehrenden: "Nur wenn die pädagogischen Fachkräfte über das notwendige konzeptuelle und technische Rüstzeug verfügen, können die Investitionen in die Ausstattung auch in sinnvolle und adäquate pädagogisch-didaktische Handlungsformen umgesetzt werden."
Die Externer Link: Bertelsmann Stiftung bezweifelt, dass die vom BMBF anvisierten Mittel für die Digitaloffensive ausreichen werden und hat errechnet, dass "für die Basisinfrastruktur (Internetanbindung, WLAN, Support) und die IT-Ausstattung der Schulen (Endgeräte, Software-Lizenzen, Präsentationsmedien etc.) sowie für Lernmedien und pädagogische Unterstützung jährlich mit Kosten in Höhe von bis zu 2,62 Milliarden Euro gerechnet werden muss – allein für die Schulen der Sekundarstufe. Die avisierten fünf Milliarden werden also nicht reichen, um alle 40.000 Schulen dauerhaft und umfassend auszustatten."
Auch die Externer Link: Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt fest, dass Wankas Fünf-Milliarden-Euro-Programm aus Sicht vieler Bildungsakteure längst nicht ausreicht und versammelt hierzu verschiedene Stimmen. Darunter Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, der von Bund und Ländern eine viel höhere Investitionssumme, nämlich 2,5 Milliarden Euro pro Jahr, und die stärkere Verankerung der Digitalisierung in Unterrichtsinhalten fordert. Auch der Externer Link: Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisiert den Digitalpakt als unzureichend und bewertet ihn mit Blick auf den Sanierungsstau an maroden deutschen Schulgebäuden lediglich als Teil einer dringend notwendigen, umfassenden Bildungsstrategie: "Wo in Klassenzimmern der Schimmel die Wände hochkriecht und Schulklos verstopft sind, reicht es nicht, Tablets und WLAN bereitzustellen", so DGB-Vizechefin Elke Hannack. Wie auch Beiträge der Externer Link: Süddeutschen Zeitung und von Externer Link: Heise Online zeigt die FAZ außerdem die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern hinsichtlich der Ausstattung mit Computern und Internet auf, die berücksichtigt werden müssen.
Presse und Experten stellen immer wieder auch die Frage, wer konkret die von Wanka angekündigten Gelder überhaupt zur Verwendung erhält. Externer Link: Christian Füller lässt in seinem Blog Externer Link: Pisaversteher verschiedene Akteure sprechen, die sich fragen, ob die Mittel an IT-Firmen gehen, die weit weg von den Bedürfnissen der einzelnen Schulen sind, oder ob es den Personen an die Hand gegeben wird, die den digitalen Ausbau an den Schulen koordinieren. "Ist das ganze vielleicht eine Geldspritze für die Telekom? (Ihr gelänge es wohl mühelos, die fünf Milliarden für Breitband zu verbuddeln, ohne dass ein einziges Tablet für Schüler übrig bleibt.)"
Aktuell handelt es sich bei dem BMBF-Strategiepapier noch um ein Konzept. Ob seine Umsetzung noch vor der Bundestagswahl 2017 angegangen wird, ist Presse wie Expertinnen und Experten unklar. Einig sind sich die meisten von ihnen darin, dass das Papier ein längst fälliger Schritt in die richtige Richtung ist, damit Deutschland in der digitalen Schulbildung den großen Sprung nach vorn schafft. Jetzt muss es darum gehen, die zahlreichen kritischen Fragen zu klären und die verschiedenen Positionen an einen Tisch zu bringen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-04T00:00:00 | 2016-10-26T00:00:00 | 2022-01-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/236176/presse-und-experten-zur-digitalen-bildungsoffensive-des-bmbf/ | Mit der Bildungsoffensive des BMBF für die digitale Wissensgesellschaft soll Deutschland bei der digitalen Bildung einen großen Sprung nach vorn machen. Das am 12. Oktober 2016 von Ministerin Johanna Wanka vorgestellte Strategiepapier sieht vor allem | [
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Chinesische Vertragsarbeiter in Dessau – 388 : 100.000 | Deutschland Archiv | bpb.de | Die Autoren dieses Beitrags sind Schüler der achten Klasse eines Dessauer Gymnasiums. In ihrem Beitrag zum Geschichtswettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten "Anders sein. Außenseiter in der Geschichte" schildern sie eindrücklich das Leben von Vertragsarbeitern aus China im Dessau der 1980er Jahre. Das Deutschland Archiv veröffentlicht eine leicht angepasste Fassung des Wettbewerbsbeitrags. Die Idee
Im Rahmen des Geschichtsunterrichts hatte uns unsere Geschichtslehrerin auf den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten mit dem Thema: "Anders sein. Außenseiter in der Geschichte" aufmerksam gemacht. Mir kam sofort die Idee, Vertragsarbeiter in Dessau zur Zeit der DDR zu untersuchen. Da auch meine Mitschülerin Kim Interesse am Wettbewerb und am Thema zeigte, entschlossen wir uns, gemeinsam zu arbeiten.
Wir vermuteten, dass viele Akten zu Vertragsarbeitern vorliegen würden, da unsere Heimatstadt Dessau-Roßlau (ehemals nur Dessau) zu DDR-Zeiten eine Industriestadt war. Hier waren Betriebe der Metall-, Elektro- und Schwerindustrie angesiedelt. Bei einem ersten Arbeitstreffen zu dem Thema kamen wir auf fünf wichtige Länder, aus denen Arbeitskräfte zeitweise in Dessauer Betrieben gearbeitet haben. Diese Länder waren Angola, Kuba, Mosambik, Vietnam und China.
Allerdings war unser erster Besuch im Stadtarchiv wenig erfolgreich. Auch der Besuch der Ausstellung "Bruderland ist abgebrannt" im Alternativen Jugendzentrum Dessau-Roßlau brachte uns nur eine Grundeinführung in die Problematik. Sie konnte uns aber nicht wirklich weiterhelfen, da Beispiele aus unserer Stadt beziehungsweise Region fehlten. Wir wollten daher auf das "Bauhaus" als Thema umschwenken – hier waren Lehrkräfte und Studenten durchaus "anders". Herr Thöner, der Leiter der Sammlung der Bauhausstiftung, verwies uns dann auf das Landesarchiv Sachsen-Anhalt. Hier fanden wir viele umfangreiche Aktenbestände zu kubanischen, vietnamesischen, mosambikanischen und chinesischen Vertragsarbeitern. Nach einer Überblickssichtung entschieden wir uns, das Leben der chinesischen Vertragsarbeiter in unserer Heimatstadt zu untersuchen. Unser Arbeitsthema lautete: "Chinesen in Dessau – begrüßt und abgelehnt".
Nachfolgende Fragen möchten wir mit unserer Arbeit näher untersuchen: Warum kam es zum Aufenthalt der Chinesen in Dessau? Und welche gesetzlichen Grundlagen gab es dafür? In welchen Dessauer Betrieben arbeiteten sie und welche Berufe lernten sie? Und vor allem: Wie wurde ihr Aufenthalt organisiert? Daraus folgten Fragen wie: Worin waren die chinesischen Arbeiter anders als die DDR-Bürger? Und was uns auch interessierte: Wie ging man mit den chinesischen Arbeitern in der Stadt Dessau und im Volkseigenen Betrieb (VEB) Waggonbau Dessau um?
Unsere Hauptquellen waren mehrere dicke Ordner mit Betriebsakten des VEB Waggonbau und die Betriebszeitung Kupplung aus dem Jahr 1987. Zwei lange Interviews führten wir mit den damaligen Gruppenleitern Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel, die uns insbesondere darüber Auskunft gaben, ob die Chinesen Fremde in Dessau während ihres Aufenthaltes geblieben sind, oder Freunde fanden und sich hier integrierten.
Ankunft
Aus den Betriebsunterlagen des VEB Waggonbau geht hervor, dass es sich bei dem geplanten Einsatz von chinesischen Vertragsarbeitern Ende der 1980er Jahre in Dessau um ihren erstmaligen Einsatz in der DDR handelte. Die Ausbildung der chinesischen Arbeiter erfolgte im Rahmen des Technologietransfers zwischen der Volksrepublik (VR) China und der DDR. In Wuhan, der Stadt, aus der die Arbeiter in erster Linie kamen, gab es schon einige ausgebildete und auch deutsche Arbeiter aus dem VEB Waggonbau, sie waren ebenso zur Hilfe bei der Zusammenstellung der Komponenten (Bauteile) nach Wuhan abgeordnet. Die Betriebszeitung Kupplung beschreibt das so: "Alle 388 chinesischen Werktätigen sollen sich innerhalb von vier Jahren mit Technologien und Techniken […] vertraut machen, um danach ihrem Betrieb in Wuhan als spezialisierte Waggonbauer zur Verfügung zu stehen." Diese Kooperation von Unternehmen nannte sich "Joint Venture". Damit war China am Ende der 1980er Jahre in der Lage, Kühlwagen und -züge im eigenen Land herzustellen.
Rechtliche Grundlagen der beruflichen Tätigkeit
Die rechtlichen Grundlagen für den Aufenthalt der chinesischen Vertragsarbeiter bildeten die "Grundsatzvereinbarung zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Volksrepublik China über die Beschäftigung und Qualifizierung chinesischer Werktätiger in sozialistischen Industriebetrieben der Deutschen Demokratischen Republik" (im Folgenden Grundsatzvereinbarung) und die "Objektvereinbarung zwischen dem Ministerium für Schwermaschinen und Anlagenbau der Deutschen Demokratischen Republik und dem Ministerium für Eisenbahnwesen der Volksrepublik China über die Beschäftigung und Qualifizierung chinesischer Werktätiger in sozialistischen Industriebetrieben der Deutschen Demokratischen Republik". Daraus leitete dann der VEB Waggonbau Dessau seinen "Maßnahmeplan zur Beschäftigung und Qualifizierung chinesischer Werktätiger im VEB Waggonbau" ab (zweiter Entwurf vom 28. Juli 1986). Die letzte rechtliche Grundlage bildeten dann die Arbeitsverträge.
In der Grundsatzvereinbarung heißt es im Artikel 1, dass die Werktätigen "für die Dauer von zwei bis vier Jahren" beschäftigt werden, sie "zwischen 18 und 25 Jahre alt sein" sollten und über "gute Voraussetzungen zur Erfüllung der Arbeits- und Qualifizierungsaufgaben verfügen" sollten. Weitere Ausdifferenzierungen sollten dann in den objektbezogenen Vereinbarungen getroffen werden, so unter anderem über die Einsatzbetriebe, die Anzahl der aufzunehmenden Werktätigen, Bedingungen der Entlohnung, Bedingungen der Unterbringung, Unterstützung bei einer sinnvollen Freizeitgestaltung. Die gesamten Einreisekosten trug die VR China, die Ausreisekosten die DDR.
In dreimonatigen Lehrgängen sollten den Werktätigen neben sprachlichen Grundkenntnissen auch fachliche Grundkenntnisse vermittelt werden. Für diese Zeit sollten sie 400,- Mark brutto erhalten und insgesamt für die Fort- und Weiterbildung 15 bezahlte Freitage im Jahr. Für die Dauer der Tätigkeit war der Abschluss von Arbeitsverträgen festgelegt. Weiterhin gab es im Grundsatzvertrag Festlegungen zu Besuchen in China aufgrund von dringenden familiären Angelegenheiten und auch zwei zusätzliche von der DDR bezahlte Feiertage, den chinesischen Nationalfeiertag und den Tag zum Frühlingsfest. Im Artikel 7 heißt es:
"(1) Die Unterbringungen der chinesischen Werktätigen erfolgt, getrennt nach männlichen und weiblichen Personen, in Gemeinschaftsunterkünften, deren Ausstattung dem Niveau von Arbeiterwohnheimen für Werktätige der Deutschen Demokratischen Republik entspricht." [...]
"(3) Die Einsatzbetriebe sichern den chinesischen Werktätigen die Inanspruchnahme der kulturellen, sportlichen und sozialen Einrichtungen sowie der Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen der Betriebe."
Gruppenleiter und Sprachmittler waren von chinesischer Seite aus in den Betrieben einzusetzen. Im Rahmen der Zollbestimmungen war es möglich, Waren in die VR China zu senden.
Aus dieser Grundsatzvereinbarung ist abzulesen, dass die chinesischen Vertragsarbeiter nur eine befristete Zeit in der DDR verbringen sollten. Während ihres Aufenthaltes galten aber für sie dieselben rechtlichen Arbeitsschutzbestimmungen (AGB,) wie für die Werktätigen der DDR. Getrennt nach männlichen und weiblichen Personen sollten sie in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Eine Wohnintegration gemeinsam mit Dessauer Bürgern war nicht erwünscht. Die Vertragsarbeiter sollten separiert werden. Untergebracht in Wohnheimen war auch eine Kontrolle der Arbeiter besser möglich. In der Grundsatzvereinbarung fehlten auch Aussagen zu gemeinsamen Kontakten mit deutschen Werktätigen und zu gemeinsamen Veranstaltungen.
Ausbildung und Verantwortlichkeiten im VEB Waggonbau Dessau
Die Verantwortlichkeiten für die Umsetzung der grundlegenden Bestimmungen vor Ort im VEB Waggonbau Dessau (WBD) lagen in den Händen des Betriebsdirektors Herr Möbius, des Direktors für Kader und Bildung Herr Mädler, des Direktors für Produktion Herr Mauder, des Direktors für Technik Herr Metz, des Reisestellenleiters Herr Nicklisch und des Leiters der Betriebsakademie, Herr Simon.
In mehreren zeitlichen Durchgängen reisten schließlich am 17. Februar 1987 130 Personen, am 1. Mai 1987 weitere 130 Personen und am 1. Juli 1987 noch einmal 128 Personen ein. Insgesamt 388 chinesische Werktätige kamen ab Februar 1987 in Dessau an. Darunter befanden sich sechs Gruppenleiter, drei Sprachmittler und acht Köche. Sie kamen in eine damalige Großstadt mit 100.000 Einwohnern.
Die chinesischen Vertragsarbeiter wurden als Schlosser mit Schweißerpass, Werkzeugmacher, Lackierer, Facharbeiter für Holzbearbeitung mit Plastkenntnissen, Facharbeiter für Umschlag und Lagerung und Zerspaner (Dreher, Fräser, Hobler, Bohrer) ausgebildet. In diesen Berufsfeldern waren auch die Dessauer Werktätigen im Betrieb tätig. Diese Berufe waren insgesamt notwendig, um Kühlwaggons zu bauen. Dass ihnen, wie den vietnamesischen Vertragsarbeitern, die schmutzigsten und gefährlichsten Arbeiten zugewiesen wurden, wie in der Ausstellung "Bruderland ist abgebrannt" zu lesen war, kann hier nicht bestätigt werden. Parallel zu der beruflichen Fort- und Weiterbildung gab es eine Vermittlung grundlegender Kenntnisse der deutschen Sprache. In diesem Zusammenhang suchten die Betriebe noch circa 40 Lehrkräfte, beispielsweise Deutschlehrer, Unterstufenlehrer, Lehrer für Fremdsprachen und Sprachmittler, um Fachkräfte für diese Aufgaben zu haben. In einem Grundkurs von 20 Tagen sollten je vier Stunden praktische Grundkenntnisse und Sprachkenntnisse vermittelt werden. Insgesamt war der Deutschunterricht für je zehn bis 15 Personen in einem Gesamtumfang von 200 Stunden vorgesehen, auch vor und nach der Arbeit und an Sonnabenden.
Je nach Berufsbild wurden die chinesischen Vertragsarbeiter auch im Zwei- und Dreischichtsystem eingesetzt. Ihre Entlohnung erfolgte differenziert. Während der absoluten Grundausbildung erhielten sie, wie ihre deutschen Kollegen, 400,- Mark (brutto), als Facharbeiter 764,- Mark zuzüglich der Schichtzuschläge, Prämien und Jahresendprämien. Das betraf auch die acht Köche. Die Gruppenleiter und Sprachmittler waren privilegiert. Die Gruppenleiter erhielten 1600,- Mark, die stellvertretenden Gruppenleiter 1280,- Mark, der Chefsprachmittler 1100,- Mark und die Sprachmittler 1000,- Mark. Herr Spitzhüttel erklärte uns das hohe Gehalt des Hauptgruppenleiters beispielsweise auch damit, dass dieser in der VR China den Posten eines Betriebsdirektors innehatte.
Anders sein – Chinesische Werkstätige vor Ort
Die sozialistische DDR und die sozialistische Volksrepublik China waren "sozialistische Bruderländer". Die Werktätigen besaßen ähnliche Erfahrungen, was eine vorherrschende kommunistische Partei anbetraf: staatliche Kontrolle, Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen, wenig Individualität. In dieser Hinsicht waren sie im Vergleich zu den DDR-Bürgern nicht anders. Nach Aussage von Herrn Spitzhüttel waren sie vorrangig atheistisch geprägt – wie auch die Mehrheit der Dessauer.
Gleichwohl waren die Chinesen "anders". Sie waren für die Dessauer etwas "Neues". Vietnamesische Vertragsarbeiter waren ihnen schon bekannt, aber keine chinesischen. Ähnlich wie die vietnamesischen Vertragsarbeiter gab es bei den Deutschen ein Bild vom fleißigen, anpassungsfähigen Chinesen. Welches Selbstbildnis sie hatten, können wir nicht sagen, da uns kein chinesischer Augenzeuge zur Verfügung stand. Wir denken, dass man neugierig auf sie war. Darin bestärkt uns auch ein Schreiben eines Herrn Hans-Jürgen aus Görlitz an die Kaderabteilung des VEB WBD, der aus einem Artikel in der Frauenzeitschrift Für Dich von den chinesischen Vertragsarbeitern in Dessau erfahren hatte und nun Brieffreundschaften aufbauen wollte, da "persönliche Kontakte" seiner Meinung nach "wichtig zum Kennenlernen der anderen Seite" seien. Sehr gerne hätte er eine Briefpartnerin. Er könne auch in Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch schreiben.
Wir gehen davon aus, dass hier leider kein Kontakt zustande gekommen ist. Das war sicherlich nicht erwünscht, da die Kolleginnen und Kollegen nach zwei beziehungsweise vier Jahren ja das Land wieder verlassen sollten. Sein Wunsch nach einer Brieffreundin – er war zu dem Zeitpunkt Soldat der Nationalen Volksarmee (NVA) – lässt auch die Frage aufkommen, ob er nicht eine Freundin gesucht hat. Aber insbesondere solche engen Bindungen waren nicht erwünscht. Eine Integration – hier eine enge private Freundschaft, eventuell auch spätere Heirat – sollte nicht zustande kommen.
Sprache
Die DDR-Bürger hatten keinen Bezug zur chinesischen Sprache. In der Schule lernten sie ab der fünften Klasse verbindlich Russisch. Ab der siebten Klasse war es dann möglich, Englisch oder auch an machen Polytechnischen Oberschulen Französisch zu erlernen. Zwei Fremdsprachen zu erlernen, war nicht verbindlich in der DDR. Insofern war es dann auch schwierig, sich bei der Arbeit miteinander zu unterhalten, da eine vermittelnde Sprache, beispielsweise Englisch, häufig fehlte. Beide Seiten waren also auf Dolmetscher angewiesen.
Die im Folgenden genannten Beispiele für spätere persönliche Kontakte zeigen uns, dass hier Beziehungen nur entstehen konnten, weil die betreffenden chinesischen Werktätigen schnell die deutsche Sprache erlernt hatten.
Esskultur und Lebensgewohnheiten
Hauptnahrungsmittel in China ist der Reis. Teilweise wird gemeinsam in einem großen Topf die Speise gekocht, so dass man sich gemeinsam mit Stäbchen oder auch mit den Fingern das Essen daraus entnimmt. Auch benutzen die Chinesen für das Würzen ihrer Speisen andere Gewürze. Deshalb brachten die chinesischen Vertragsarbeiter auch acht eigene Köche mit, die dann nicht nur für die Chinesen, sondern frei käuflich auch für die anderen Werktägigen kochten. Dieses Angebot, so Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel, wurde gerne angenommen. Erstmalig kamen ja die Werktätigen mit diesem Essen in Kontakt. Es gab keine chinesischen Restaurants in Dessau. Von Herrn Spitzhüttel erfuhren wir, dass die Werksküche im Laufe der Zeit auch andere Küchengeräte anschaffte, um beispielsweise Fleischtaschen herstellen zu können.
Die Dessauer zeigten schon Interesse am Essen des Anderen. Das war durchaus auch ein Grund, warum drei chinesische Vertragsarbeiter zum 50. Geburtstag von Frau Zuchowski eingeladen waren und dort die Gäste bekochten. Auch bei Besuchen im Wohnheim wurde für die deutschen Gäste gekocht, was diesen gut gefiel.
Neugierig war man auf das Essen des Anderen, nicht unbedingt auf seine Essgewohnheiten. So berichtete uns Herr Spitzhüttel, dass anfangs chinesische Vertragsarbeiter beispielsweise beim Essen von Rippchen die Knochen auf den Tisch gespuckt hätten. Darüber regten sich deutsche Werktätige auf und es gab ein klärendes Gespräch mit den Chinesen, die andere Tischsitten annahmen. Hier sind also die Chinesen eigentlich auf die Deutschen mit ihren Vorstellungen zugegangen. Herr Spitzhüttel teilte uns mit, dass er weitere Vorfälle eigentlich nicht kennen würde. Irgendwelche Gerüchte tauchten dann wohl auch auf, es würden Hunde fehlen. Dabei handelt es sich um ein typisches Vorurteil. Nichts davon bestätigte sich.
Beide Gruppenleiter berichteten uns, dass die Einstiegsuntersuchung beim Arzt, bei der man den Oberkörper freimachte, für die Chinesen ungewöhnlich war. Sie werden durch die Sachen hindurch abgehört. Und so saßen im Vorbereitungszimmer ganz schamhaft nicht nur ein junger Mann, sondern mehrere, die auch zu dritt und zu viert in den Behandlungsraum gingen. Daran gewöhnten sie sich aber, da sie für eine spätere Krankschreibung bei der Arbeit auch die ärztliche Untersuchung brauchten. Anfangs hatten insbesondere die sehr jungen Chinesen auch Heimweh.
Schwer fiel insbesondere auch den jungen Chinesen das Durcharbeiten von acht Arbeitsstunden mit den entsprechenden Pausen. Hier traf beispielsweise Herr Zuchowski manchen Chinesen, der insbesondere in der Nachtschicht einfach eingeschlafen war. Aber das war ein beruflicher Gewöhnungsprozess. Natürlich waren die jungen Chinesen oftmals in Gruppen unterwegs, so wie das auch für deutsche Jugendliche zutrifft. Und manchmal waren sie auch lauter – aber auch das trifft auf deutsche Jugendliche zu. Und bei einer deutschen privaten Feier wird es auch manchmal lauter, deshalb soll man im Vorfeld die Nachbarn informieren. Mit solchen Vorbehalten wurde Herr Spitzhüttel konfrontiert, er sieht diese Vorbehalte nicht als typisch chinesische Verhaltensweisen an, sondern ordnet sie allgemein jungen Menschen zu, wie wir auch.
Sprache, Essen, Essgewohnheiten machten die Chinesen sicherlich zu Anderen. Aber so anders waren sie im Vergleich zu deutschen Jugendlichen, die auch gemeinsam unterwegs waren, eigentlich nicht. Sie suchten durchaus nach Freundinnen und wollten auch etwas erleben und eben auch feiern. Und sie sollten ja auch anders sein und bleiben – wir denken, das war auch das Faszinierende für die Dessauer Werktätigen, die näher Kontakt zu ihnen suchten. Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel haben die Chinesen mit großer Offenheit empfangen und mit viel Toleranz und Verständnis. Konflikte wurden benannt. So entstanden durchaus Freundschaften zwischen den Arbeitskollegen. Immer wenn Wang Yie in der Nähe ist, besucht er Herrn Spitzhüttel noch heute. Vor einem halben Jahr war es das letzte Mal.
Miteinander arbeiten – miteinander leben?
Die chinesischen Vertragsarbeiter waren Gäste auf Zeit. Entweder für zwei oder für vier Jahre. Ein Daueraufenthalt in der DDR war nicht geplant. Dass man sich hier in eine deutsche Frau verliebt und eine Familie gründet, war eben so wenig vorgesehen. Nach Ablauf der Aufenthaltszeit sollte man zurück nach Hause. Das waren die "staatlichen" Ansichten der VR China und der DDR. Dies waren sicherlich auch zuerst einmal die Vorstellungen der Chinesen. Aber natürlich können da auch Veränderungen eintreten. Das war nicht "geplant" und "erwünscht". Während ihrer Zeit in Dessau waren die chinesischen Vertragsarbeiter Mitglieder von Arbeitskollektiven und in diesem Rahmen nahmen sie an den Aktivitäten ihrer Brigaden teil. Oftmals wurden sie auch in die Familien ihrer Arbeitskollegen eingeladen, sie nahmen an Familienfesten teil und unternahmen auf dieser privaten Ebene Ausflüge in der DDR. Man arbeitete miteinander, man feierte auch miteinander, selten sah man sich auch einmal wieder, nachdem die DDR untergegangen war. Integriert waren die chinesischen Vertragsarbeiter sicherlich nicht. Aber, das werden unsere Beispiele zeigen, die Dessauer Werktätigen waren neugierig auf sie und oftmals gute Gastgeber.
Kulturelle und sportliche Teilhabe
Die Quellen zeigen, dass die chinesischen Vertragsarbeiter in die geplanten sportlichen Veranstaltungen ihrer Arbeitskollektive im Rahmen der Betriebssportgemeinschaft (BSG) durchaus eingebunden waren. Dabei trifft der Begriff „geplant“ zu. Individuelle Betätigung war wenig anzutreffen und sicherlich auch wenig erwünscht, da dann der sozialistische Staat DDR diesen Bereich nicht hätte kontrollieren können. So wurde den chinesischen Arbeitern über die Mitgliedschaft in der Betriebssportgemeinschaft die Teilnahme an den Bezirksmeisterschaften ermöglicht. Sie konnten selbstständig Wettbewerbe organisieren. Zur Verfügung stand dafür sonnabends die Sporthalle der Zweiten Polytechnischen Oberschule (POS). Ebenso konnte ein Sportvergleich zum Jahreswechsel zwischen Dessau und Bautzen durchgeführt werden.
Anhand verschiedener Dokumente wird deutlich, dass der Maßnahmenplan zur Beschäftigung und Qualifizierung chinesischer Werktätiger konkret umgesetzt wurde. Am 1. Januar 1988 wandte sich der VEB Waggonbau Dessau an das Leipziger Opernhaus mit der Bitte um Karten für den Besuch der Aufführungen der Operette „Die Fledermaus“ und des Balletts „Schwanensee“. Da hierfür zu spät angefragt wurde, war es nicht mehr möglich, Karten zu erhalten. Das Opernhaus bot aber als Ausgleich je zehn Karten für die Veranstaltungen am 13. März 1988, 18. März 1988, 20. März 1988 und für den 10. April 1988 20 Karten an.
In den monatlichen Kulturplänen der Kommission Kultur und Sport des Betriebes waren für die chinesischen Werktätigen die Vorführung von Filmen in chinesischer Sprache, der Besuch von Veranstaltungen des Landestheaters wie beispielsweise "My fair Lady" am 19. Januar 1988 und sportliche Vergleichskämpfe wie beispielsweise ein Volleyballkampf TVR-China eingeplant.
Aufgrund der Vereinbarung zwischen dem VEB Waggonbau Dessau und dem Landestheater Dessau vom 8. April 1987 wurde zugesichert, dass je 50 Werktätigen der Besuch von Theaterveranstaltungen und je 133 Werktätigen der Besuch von Ballettvorführungen ermöglicht wird. Auch dachte man über eine besondere Form des Anrechts für die chinesischen Vertragsarbeiter nach.
Die chinesischen Werktätigen wurden auch in die staatliche organisierte Urlaubversorgung eingebunden. Als Auszeichnung sollte es vom 16. bis 29. August zwei chinesischen Kollegen im Alter bis 25 Jahre in Anerkennung guter Arbeitsleistungen ermöglicht werden, zu der Zechiner Hütte zu fahren. 50 Ferienplätze standen vom 26. April bis 3. Mai 1988 im Ferienheim im Pöbeltal zur Erholung zur Verfügung und für Januar und Februar sollte je ein 1 Bett-Zimmer in Kipsdorf genutzt werden können.
Um die Einbindung der chinesischen Werktätigen in das kulturelle Leben der Stadt planen zu können, wurde eine Rahmenvereinbarung für die Jahre 1987 bis 1991 zwischen dem Betrieb und dem Rat der Stadt Dessau, Abteilung Kultur, abgeschlossen. Nachfolgende Tagesfahrten waren immer für je 42 chinesische Werktätige vom Mai bis Oktober 1988 geplant:
7. Mai 1988: Eisennach - Wartburg 21. Mai 1988: Dresden - Bastei 4. Juni 1988: Potsdam 18. Juni 1988: Meißen - Moritzburg-Manufaktur 2. Juli 1988: Erfurt - I GA 16. Juli 1988: Lübbenau 6. August 1988: Rostock 20. August 1988: Harz-Hexentanzplatz 3. September 1988: Potsdam 17. September 1988: Altenburg - Zeitz 15. Oktober 1988: Dresden- Stadtrundfahrt 22. Oktober 1988: Weimar- Schloss Thiefurt Zuerst einmal waren wir von den vielfältigen kulturellen Angeboten für die chinesischen Vertragsarbeiter während ihres zweijährigen Aufenthalts in der Stadt Dessau überrascht. Die Quellen zeigen sehr anschaulich, dass ihnen eine kulturelle Teilhabe ermöglicht werden sollte. Sie wurden in die betrieblichen und städtischen sportlichen und kulturellen Möglichkeiten eingebunden. Wir haben den Eindruck – insbesondere, wenn man an den Besuch des Leipziger Opernhauses und die Tagesfahrten denkt –, dass man die Werktätigen als Gäste betrachtete, denen man Schönes und Interessantes während der Zeit ihres Aufenthaltes zeigen wollte. Aber damit blieben sie auch immer unter sich. Für sie wurde geplant und organisiert, wenig mit ihnen.
Dieses Vorgehen ordnet sich aber auch in das System der DDR ein. Einen freien Markt von Urlaubsplätzen gab es in der DDR kaum. Die Gewerkschaftsorganisation Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) besaß ein Monopol auf die Urlaubsplätze und vergab sie betrieblich. Hierin wurden auch die chinesischen Arbeiter – wie die deutschen – eingebunden. Individueller Urlaub wie beispielsweise Zelten, individuelle Fahrten in das sozialistische Ausland oder das Nutzen offizieller Hotels waren in der DDR wenig möglich.
So blieben die chinesischen Arbeiter, nach Auswertung der offiziellen betrieblichen Dokumente, Gäste, um die man sich durchaus bemühte. Denen man auch den zwei- beziehungsweise vierjährigen Aufenthalt angenehm gestalten wollte. Sie sollten mit der Kultur ihres Gastlandes vertraut gemacht werden. Veranstaltungen im Wohngebiet, um sich besser kennen zu lernen, konnten wir nicht finden. Über andere Kontakte als zu deutschen Arbeitskollegen können wir leider nicht berichten. Eine deutsch-chinesische Familiengeschichte können wir leider auch nicht erzählen.
In diese Bewertung ordnet sich auch die Bemerkung in einem Dokument ein, das über ein geplantes Frühlingsfest berichtet. Es heißt hier: "Im Anschluss kann getanzt werden. Mädchen werden nicht eingeladen."
Separieren – das Wohnen im Wohnheim
Ausgehend von der Grundsatzvereinbarung, Artikel 7 erfolgte die Unterbringung der chinesischen Vertragsarbeiter in Dessau in einem neu errichteten und modernen Wohnblock in der Heidestraße, Ecke Törtener Straße. Die Bewohner wohnten in modernen Zwei- und Drei-Raum-Wohnungen mit Küche, Bad, Gemeinschaftszimmer und Schlafzimmern für zwei Personen. Aufgrund unseres Wissens lässt sich vermuten, dass diese Wohnkultur von den chinesischen Werktätigen als angenehm empfunden wurde.
Weniger angenehm empfanden sie sicher die Heimordnung. Diese galt für die Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft. Sie durchzusetzen, war Aufgabe des Heimleiters in Zusammenarbeit mit dem Heimkomitee und natürlich den Bewohnern.
Folgende Auszüge aus der Heimordnung sollen den Charakter dieser Einrichtung deutlich machen:
Artikel 1:
"Die für die chinesischen Werktätigen errichteten Wohnheime sollen ihnen angenehmes Wohnen und ungestörte Erholung ermöglichen." […] Artikel 2:"In jedem Wohnheim ist vom Betrieb ein Heimleiter einzusetzen. Der Heimleiter hat die Einhaltung der Heimordnung […] zu gewährleisten." […] Artikel 3:Es ist ein Heimkomitee von den Heimbewohnern zu bilden, das die "Initiativen der Heimbewohner zur Verschönerung des Wohnheimes und der Umgebung unterstützt". […] Artikel 4:Für das Verhalten im Wohnheim gelten folgende Regeln:
"Die Einweisung der chinesischen Werktätigen in die Zimmer erfolgt durch den Betrieb." […]
"Das Betreten des Wohnheimes in schmutziger Arbeitskleidung ist nicht erlaubt, ebenso das Hinauswerfen von Gegenständen und Unrat. In den Wohnheimen gibt es für das Abstellen von Altstoffen (Papier, Flaschen u. ä.) spezielle Räume."
"Das Halten von Haustieren ist nicht gestattet."
"Jedes Wohnheim hat ein Krankenzimmer."
"Der Aufenthalt im Wohnheim ist grundsätzlich nur den Heimbewohnern gestattet. Besucher haben sich beim Heimleiter zu melden. Minderjährige haben keinen Zutritt zum Wohnheim. Während der nächtlichen Ruhezeit von 22.00 - 5.00 Uhr sind Besuche nicht gestattet." […]
Wir haben diese Hausordnung mit der Hausordnung des "Deutschen Jugendherbergswerks", die bis 2008 galt, verglichen.
Bei der Untersuchung dieser Hausordnungen stellten wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest. Gemeinsam ist beiden Ordnungen, dass
das Rauchen nicht gestattet ist,
die Zimmer in der Regel nach Geschlecht getrennt sind,
mit der Einrichtung sorgsam umzugehen ist,
der Konsum von alkoholischen Getränken verboten ist,
Tiere nicht mitgebraucht bzw. gehalten werden dürfen,
eine Nachtruhe einzuhalten ist.
Als wesentlichen Unterschied sehen wir, dass es im Dessauer Wohnheim nicht gestattet war, Besuch mitzubringen. Eigentlich ist uns das unverständlich, da dieses Wohnheim die Wohnung für zwei beziehungsweise vier Jahre darstellte und in meine Wohnung lade ich natürlich auch Besuch ein. Da gibt es auch keine Nachtruhe, aber ich nehme natürlich Rücksicht auf meine Nachbarn.
Wir können diesen Punkt in der Hausordnung nur so verstehen, dass damit die chinesischen Vertragsarbeiter durchaus von der Dessauer Bevölkerung abgegrenzt werden sollten. Dennoch luden die Chinesen durchaus ihre Arbeitskollegen in dieses Wohnheim ein und hier wurde auch gefeiert.
Und doch Kontakte
Innerhalb der Arbeitskollektive gab es durchaus private Kontakte. Das bestätigten uns unsere Zeitzeugen, Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel. Beide waren Gruppenleiter und damit für circa 20 chinesische Vertragsarbeiter in ihrer Abteilung verantwortlich.
Als Gruppenleiter ordneten sie die Chinesen, entsprechend ihrer schon vorhandenen Ausbildung und ihrer Fähigkeiten, bestimmten Arbeitsbereichen zu. Täglich suchten sie die Kollegen auf. Teilweise leiteten sie sie auch fachlich an, sie waren Ansprechpartner, wenn es Probleme und Schwierigkeiten gab. In diesem Zusammenhang hatten sie einen besonders engen Kontakt zu den Dolmetscherinnen und Dolmetschern und den chinesischen Gruppenleitern, denen von ihren Kollegen Achtung entgegengebracht wurde. Sie waren auch älter, circa 30-35 Jahre und oftmals sicherlich auch Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas, vermutete Herr Spitzhüttel.
Beide deutschen Gruppenleiter hatten enge Kontakte zu den chinesischen Gruppenleitern. So waren drei Chinesen Gäste beim 50. Geburtstag von Frau Zuchowski. Hier bekochten sie in der Wohnung der Familie Zuchowski die Gäste. Gemeinsam besichtigte man auch Potsdam. Herr Zuchowski wurde dann von seinen chinesischen Kollegen auch zum chinesischen Frühlingsfest eingeladen.
Auch Herr Spitzhüttel informierte uns über gegenseitige Besuche von deutschen und chinesischen Arbeitskollegen. Die Dessauer waren durchaus neugierig auf ihre Kollegen. Ihnen selber war ja ein Urlaubsbesuch in der VR China nicht möglich und so erfuhren sie viel Neues über eine durchaus unbekannte kulturelle Welt. Voraussetzung für solche Begegnungen war aber immer die Tatsache, dass die chinesischen Vertragsarbeiter über gute Deutschkenntnisse verfügten, so dass eben Gespräche ohne Dolmetscher möglich waren. Und es gab durchaus Chinesen, die gute und schnelle Fortschritte beim Erlernen der deutschen Sprache machten.
So fuhr Herr Spitzhüttel mit durch den chinesischen Gruppenleiter ausgesuchten Kollegen nach Dresden und Potsdam.
Es gab aber auch andere Kontakte. Schnell hatten die Chinesen erkannt, welche Dinge auf den Trödelmärkten von den Deutschen begehrt und damit gut verkäuflich waren und so wurde auch auf dieser Ebene Kontakt mit der Bevölkerung aufgebaut, indem man begehrte Dinge, die man aus dem Urlaub mitbrachte oder mitbringen ließ, dort verkaufte.
Oftmals, so Herr Spitzhüttel, übernachteten die chinesischen Kollegen auch nicht im Wohnheim, sondern suchten ihre Kollegen in den anderen Betrieben des Kombinats Schienengebundene Fahrzeuge auf, so in Bautzen, Ammendorf oder Görlitz. Damit blieb man aber wieder unter sich.
Ressentiments
Unsere beiden Gesprächspartner Herr Zuchowski und Herr Spitzhüttel waren beide deutsche Gruppenleiter. Beide hatten die Aufgabe, die chinesischen Vertragsarbeiter in das berufliche Umfeld einzubinden. Aus unseren Gesprächen hatten wir den Eindruck, dass sie den Chinesen aufgeschlossen gegenüberstanden. Insbesondere die Biografie von Herrn Spitzhüttel, der für vier Jahre Entwicklungshelfer in Mozambique war, bevor er die Arbeitsaufgabe als Gruppenleiter übernahm, zeigt uns sein Interesse und seine Offenheit "Fremdem" gegenüber. Das muss aber nicht bei allen Dessauer Werktätigen des VEB WBD und Dessauer Bürgern so gewesen sein. Dies sollen nachfolgende Beispiele verdeutlichen.
Nur "unfreundliche" Busfahrer?
In einem Bericht vom 19. September 198927 beschreibt der chinesische Gruppenleiter Si Zuojun einen Vorfall, der sich vier Tage zuvor ereignet hatte. Er klagt an, "dass der Busfahrer seine Berufsmoral verletzt hat". Was war geschehen? Aus Sicht des Gruppenleiters war ein Busfahrer erneut zu spät gekommen. Zudem: "Obwohl noch 2 Kollegen vor der Mitteltür standen, gab der Busfahrer das Abfahrtszeichen und schloss gleichzeitig die Türen." Der Gruppenleiter Si Zuojun hat gerufen: "Es gibt noch Kollegen draußen!" Jedoch hatte sich ein Kollege, Heng Binghai, bereits einen Fuß in der Mitteltür eingeklemmt. "Inzwischen ist der Fahrer schon losgefahren." Er sah, dass die Tür noch nicht geschlossen war und hielt an. Der Kollege Heng Binghai ging nach vorne. Ihm folgte der Gruppenleiter Si Zuojun, welcher Angst hatte, dass es zu einer Auseinandersetzung zwischen den Parteien kommen könnte. Gemeinsam mit dem Dolmetscher ist dann mit dem Busfahrer gesprochen wurden. Der Busfahrer begründete sein Verhalten damit, dass er im Spiegel den Kollegen nicht richtig gesehen hatte und schnell fahren wollte, weil er schon Verspätung hatte. Er hat sich dann bei dem chinesischen Kollegen entschuldigt. Der Gruppenleiter nahm die Entschuldigung an, da er dachte, sie wäre ehrlich gemeint. Seiner Meinung nach war das im Nachhinein nicht der Fall, da der Busfahrer im Betrieb den Vorfall anders darstellte. Und zum Schluss seines Berichtes stellt Si Zuojun fest, dass Verspätungen der Busse bei zwei Busfahrern ständig auftraten und sie dann auch die Kollegen nicht mitnahmen.
Aufgrund dieses Berichtes fanden Kontrollen statt. Während dieser Kontrollen wurde festgestellt, dass einmal circa 30 Kollegen um 5.35 Uhr nicht mitgenommen wurden, weil der Bus schlicht zu klein war. Auch wurden teilweise Kollegen nicht mitgenommen, obwohl im Bus noch Stehplätze vorhanden waren. Wir denken, es spricht zuerst einmal für ein selbstbewusstes Auftreten der chinesischen Vertragsarbeiter, dass sie den Missstand notierten und dann entsprechend weiterleiteten. Aus dem Schreiben geht auch hervor, dass sie es insbesondere deshalb aufsetzten, weil der Busfahrer anschließend unehrlich über das Vorkommnis berichtet hatte. Das hatte die Chinesen enttäuscht. Möglicherweise vermuteten sie auch einen fremdenfeindlichen Hintergrund für das Verhalten der Busfahrer. Der Betrieb nahm jedenfalls den Vorfall ernst und leitete eine Kontrolle ein. Der Kontrollbericht bestätigte prinzipiell Probleme mit dem öffentlichen Personenverkehr. Ob wir diesen Vorfall aber als fremdenfeindliches Verhalten bewerten können, bleibt doch offen. Wir haben den Eindruck, dass die Busfahrer insgesamt unfreundlich mit allen Fahrgästen umgingen. Auch unser Zeitzeuge Herr Spitzhüttel bewertete den Vorgang so, dass es insgesamt mit den Busfahrern Probleme gab.
Erwünscht im Wohngebiet?
In den Akten im Landeshauptarchiv befindet sich auch ein Schreiben des Rates der Stadt Dessau an den VEB WBD. Darin wird der Betriebsleitung mitgeteilt, dass bei einem Einwohnerforum am 6. April 1988 "Probleme [aufkamen] im Zusammenwirken mit den chinesischen Werktätigen und … der Wunsch laut [wurde] zur gemeinsamen Aussprache WKA VI und dem VEB Waggonbau." Wir wissen nicht, welche konkreten Probleme auftraten. Junge Leute feiern sicherlich in einem Wohnheim lauter als gewünscht. Das könnte sich Herr Spitzhüttel vorstellen. Auch dürften ungewohnte Küchengerüche die Anwohner belästigt haben. Von Herrn Bunke wissen wir, dass die Chinesen in Schlafanzügen einkaufen gegangen sind. Wir vermuten also, dass ihre spezifischen Lebensgewohnheiten – oder einfach nur die Lebenslust der Jugend – auf Missbilligung der Anwohner gestoßen sind. Wir hoffen, dass hier das anberaumte Gespräch gegenseitiges Verständnis aufbauen konnte.
1990 zurück nach China – aber nicht alle
Mit der friedlichen Revolution 1989 veränderten sich die politischen Verhältnisse in der DDR entscheidend. Ein Jahr später existierte die DDR nicht mehr und damit hatte auch die Grundsatzvereinbarung zwischen der VR China und der DDR keine Grundlage mehr. Deshalb wurden auf der Grundlage der "Verordnung über die Veränderung von Arbeitsverhältnissen mit ausländischen Bürgern, die auf der Grundlage von Regierungsabkommen in der DDR beschäftig und qualifiziert werden" vom 13. Juni 1990 die Arbeitsverhältnisse vorfristig beendet. Wie uns Herr Spitzhüttel mitteilte, waren die Reaktionen darauf unterschiedlich. Einige chinesische Vertragsarbeiter waren aufgrund des Heimwehs froh, nach Hause reisen zu können, andere waren sehr unzufrieden, haben sie doch in einer Arbeit in der zukünftigen Bundesrepublik eine Alternative gesehen. Mancher Chinese blieb illegal in Dessau, arbeitete als Koch in den jetzt entstehenden China-Restaurants am Bahnhof und im Stadtteil Törten. Sah man sich in Dessau, beispielsweise im China-Restaurant Dessau, das von Hang-Zhou geleitet wird, begrüßte man freundlich seinen ehemaligen deutschen Gruppenleiter.
Herr Spitzhüttel hat Teile der chinesischen Vertragsarbeiter 1990 bis zum Abflug auf dem Flughafen Schönefeld begleitet. Hier haben beispielsweise Chinesen dann um politisches Asyl gebeten – das sie auch erhalten haben.
Zitierweise: Moritz Gärtner, Kim Kamenik, Chinesische Vertragsarbeiter in Dessau – 388 : 100.000, in: Deutschland Archiv, 23.9.2016, Link: www.bpb.de/234448
Für ihren Wettbewerbsbeitrag von 2014/15 wurden die beiden Autoren sowie ihre Tutorin Renate Schulze als Landessieger ausgezeichnet. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten wird seit 1973 durch die Körber-Stiftung ausgerichtet.
Wenige grundlegende Aussagen zu Joint Ventures fanden sich in Christian A. Schuchardt, Deutsch-chinesische Joint Ventures, Erfolg und Partnerbeziehung, R. Oldenburg Verlag GmbH, München 1994 und in Volker Trommsdorff, Christian A. Schuchardt und Tilman Lesche, Erfahrungen deutsch-chinesischer Joint Ventures, Fallstudien im Vergleich, Gabler Verlag, Wiesbaden, 1995; Prinzipiell zur Migration von Chinesen vgl. Hui-wen von Groeling-Che und Dagmar Yü-Demski, Migration und Integration der Auslandschinesen in Deutschland, Deutsche Morgenländische Gesellschaft, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2005.
Wuhan ist eine Unterprovinzstadt und die Hauptstadt der Provinz Hubei in der Volksrepublik China.
Kupplung, 28 (1987), 4, S. 1.
Waggonbau in Dessau, Externer Link: www.kuehlwaggon.de/lieferungen/volksrepublikchina/index.html, letzter Zugriff am 10.2.2015.
Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LHASA), 2014-12-22_130944–53 und 2014-12-22_14–30.
Musterarbeitsvertrag, LHASA, 2014-12-22_130931–34.
Grundsatzvereinbarung, LHASA, 2014-12-22_130944–53.
Vgl. ebd.
Vgl. LHASA, 2014_12-22_130950.
Ebd.
Siehe dazu auch Musterarbeitsvertrag, LHASA, 2014-12-22_130931–34.
LHASA, 2014_12-22_130956.
Ebd.
Ebd.
LHASA, 2014_12-22_130956.
Die Ausstellung "Bruderland ist abgebrannt" vom Reistrommel e. V. zu den verschiedenen Vertragsarbeitergruppen wurde von der Bundesstiftung Aufarbeitung unterstützt und kann dort bezogen werden, Externer Link: www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/bruderland-ist-abgebrannt-2408.html, letzter Zugriff am 20.6.2016.
Vgl. LHASA, 2014-12-22_27.
Vgl. LHASA, 2014-12-22_38.
Vgl. dazu Protokoll vom 19.2.2015.
Nachzulesen in LHASA, DE I 422, Nr. 2 592/1, 1986–1990.
Ebd.
Vgl. Grundsatzvereinbarung (Anm. 6).
Vgl. Protokoll vom 12.02.2015.
LHASA, 2014-12-22_130934.
Vgl. Hausordnung für Jugendherbergen, Externer Link: www.jugendherberge.de/imperia/md/djhmdb/83302/HAUSORDNUNG2008.pdf, letzter Zugriff am 12.2.2015.
Vgl. LHASA, 2014-12-22_131020.
Vgl. dazu Protokoll vom 19.2.2015.
WKA steht für Wahlkreisaktiv.
LHASA, 2014-12-222_131005.
Vgl. dazu § 2, LHASA, 2014-12-22_141807.
Vgl. dazu Protokoll vom 19.2.2015.
Ebd.
| Article | Moritz Gärtner, Kim Kamenik | 2022-02-14T00:00:00 | 2016-09-22T00:00:00 | 2022-02-14T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/234448/chinesische-vertragsarbeiter-in-dessau-388-100-000/ | Die Autoren dieses Beitrags sind Schüler der achten Klasse eines Dessauer Gymnasiums. In ihrem Beitrag zum Geschichtswettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten "Anders sein. Außenseiter in der Geschichte" schildern sie eindrücklich das Leben von V | [
"Arbeitsmigration",
"Dessau"
] | 603 |
M 02.19 Zusammenfassung I „Gefahren des Rechtsextremismus“ | Rechtsextremistische Einstellungen im Alltag | bpb.de | Rechtsradikale Einstellungen und VerhaltensweisenFolgen für das Zusammenleben in der Gesellschaft und im StaatWenn ich davon betroffen wäre, würde ich …Meine Bewertung 1FremdenfeindlichkeitWillkürlicher Ausschluss anderer Menschen; Störung des öffentlichen Friedens und der Ordnung; 2SozialdarwinismusMenschenverachtung; Abstempelung anderer zu "Untermenschen"; Verstoß gegen Gleichheitsgrundsatz und gegen die Menschenwürde 3Verharmlosung der NS-Zeit, Leugnung des HolocaustMissachtung der NS-Opfer; Verharmlosung der NS-Verbrechen; keine Lehre aus Irrtümern, Vergehen 4AntisemitismusWillkürlicher Ausschluss von Menschen wegen ihrer Religion 5Chauvinismus, aggressiver NationalismusÜberbewertung der eigenen Nation; Produktion von Feindbildern; Belastung der Beziehung zu den Nachbarn; Kriegstreiberei; 6Befürwortung einer autoritären DiktaturKeine Gleichwertigkeit der Stimmen und des pol. Einflusses; Zerstörung demokratischer Partizipation und demokratischer Institutionen; Aufbau einer Willkürherrschaft; Unrechtstaat; 7Tragen von NS-SymbolenBesetzung öffentlicher Räume mit verbotenen Zeichen und Symbolen; Einschüchterung der Menschen; 8Befürwortung von Gewalt und TerrorBedrohung der Menschen an Leib und Leben; Gewaltspirale; Angst durch Gewalteinsatz und Mord; Bewaffnung; Kampf aller gegen alle; Schüren von Hass; Ende der Zivilisation
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-02-09T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/rechtsextremismus/178690/m-02-19-zusammenfassung-i-gefahren-des-rechtsextremismus/ | Dieses Material fasst noch einmal die Gefahren des Rechtsextremismus tabellarisch zusammen. Die Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben sind in dieser Tabelle schon vorgegeben. Die Schülerinnen und Schüler sollen die Tabelle um die eigenen Bet | [
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Kommentar: Nur ein Menschenleben lang | Russland-Analysen | bpb.de | Die Sowjetunion bestand nur ein Menschenleben lang, fast 70 Jahre, von Dezember 1922 bis Dezember 1991. Sie konnte nur eine Generation begeistern, sich verpflichten und an sich binden, oder, je nach Lesart: nur eine Generation als Geisel nehmen und in Angst und Schrecken halten. Die drei nachfolgenden sowjetischen Generationen brachen alle auf ihre Art aus und entwickelten alternative Ideale und Lebenswelten.
Die Angehörigen der ersten sowjetischen Generation waren im Durchschnitt im Jahr 1906 geboren und erlebten noch als Kinder das Zarenreich. Sie stammten aus armen Verhältnissen, waren Arbeiter- oder Bauernkinder, kannten Hunger, Not und Ausbeutung. Vor diesem finsteren Hintergrund versprach ihnen die Revolution eine lichte Zukunft. Viele schlossen sich als Jugendliche im Bürgerkrieg den Roten an, leisteten in den 1920er Jahren Aufbauarbeit in Gewerkschafts- oder Parteiorganisationen und wurden als Lohn zum Studium abkommandiert. Auf zwei Jahre Arbeiterfakultät folgten ein Ingenieursstudium und eine Tätigkeit in der Produktion oder auf den (Groß-)Baustellen der 1930er Jahre. Der Große Terror 1937/38 sorgte dafür, dass die "Neuen Menschen" die Leitung von Industrie und Wirtschaft, Staat und Partei übernahmen.
So lautete nicht nur das Meisternarrativ der Parteipropaganda; in diesen Formeln erzählten die Erbauer*innen der Sowjetunion auch selbst ihren Lebensweg, und zwar ganz gleich, ob vor oder nach 1991, ob öffentlich oder privat. Ab 1940 besetzte diese Generation der Aufsteiger, wie sie auch genannt wurde, – nur sehr selten waren es Aufsteigerinnen – die Hälfte bis über 90 Prozent der Posten in den Ministerien, im Zentralkomitee und im Politbüro der KPdSU. Der Westen wurde von Juristen regiert, die Sowjetunion von Ingenieuren. Als Grund für diese hohe Affinität und Loyalität dieser 1906er-Generation werden je nach Erklärungsansatz sehr unterschiedliche Faktoren genannt: Angst und Alternativlosigkeit (Totalitarismus); soziale Mobilität (Sozialgeschichte); die Prägung durch sowjetische Normen und Werte bzw. Diskurse (Kulturgeschichte). Unabhängig davon ist festzuhalten, dass die Bindung an das Regime stark an die Erfahrung dieser einen Generation geknüpft war.
Michail Gorbatschow war das nach langer Zeit erste Politbüromitglied, das nicht dieser Generation angehörte, nicht Ingenieurwissenschaft studiert und nicht Militärangehöriger im Krieg gewesen war. Er gehörte zur zweiten sowjetischen Generation, den Schestidesjatniki – den "Sechzigern" –, wie sie genannt wurden. Sie waren die Nachkommen der Erbauer*innen, in den 1930er Jahren geboren, und hatten den Terror und den Krieg als Kinder erlebt. Geprägt aber hatte sie das Tauwetter unter Nikita Chruschtschow 1953 – 1964, die Öffnung der Gesellschaft, die Möglichkeit, abweichende Meinungen zu äußern und wieder laut zu lachen. Dies gab ihnen den Impuls, sich ab den 1960er Jahren für eine bessere Sowjetunion einzusetzen, sei es im System, wie Gorbatschow, oder jenseits davon: per Petitionen und Protestbriefen, mit selbstverlegten Schriften (Samisdat) und bald den ersten Menschenrechtskomitees. Während die "loyalen Dissidenten" bzw. "Reformer im System" überlebten und teils später zu Gorbatschows Mannschaft gehörten, zerschlug der KGB systematisch alle Gruppierungen, die abweichende Meinungen äußerten: Die Andersdenkenden wurden verhaftet, verbannt, außer Landes gezwungen oder zwangspsychiatriert.
Die dritte sowjetische Generation waren die Kinder der Schestidesjatniki, die "Baby Boomer", um 1950 geboren – und wenig an Politik interessiert. Weder teilten sie das Pathos ihrer Großeltern noch das Unbehagen ihrer Eltern; für sie zählte v. a. eine gute Ausbildung, eine erfolgreiche Karriere, die Partizipation an Kunst und Kultur, das Streben, zur sowjetischen Elite zu gehören. Maiparaden, Revolutionsfeiern, Parteitage und Generalsekretäre nahmen sie als gegeben und Teil des sowjetischen Alltags unhinterfragt zur Kenntnis. Im besten Foucault’schen Sinne manifestierte sich das Sowjetregime vollends erst mit und in ihnen, die weder ein Leben ohne Sowjetunion kannten, noch es sich vorstellen konnten, geschweige denn herbeisehnten.
Ganz anders verhielt es sich dagegen mit der vierten und letzten sowjetischen Generation, den "zynischen Konformist*innen", wie sie auch genannt werden: Die soziopolitischen Strukturen, die ihre Eltern als Basis für ihr Leben akzeptiert hatten, verhöhnten sie; statt Bildung interessierte sie Konsum, statt Autorität beeindruckte sie das Ausland; statt gesellschaftlicher Anpassung lebten sie Subversion in vielen kleinen Akten, vom Jeanstragen bis zum Hören verbotener Rockmusik.
Zu all den Erklärungsansätzen, warum die Sowjetunion zusammenbrach, gehört zentral der Aspekt der Generationen: Mit dem Tod der ersten sowjetischen Generation ging auch die Sowjetunion unter; die nachfolgenden waren nicht bereit, dieses politische System bis aufs letzte Hemd zu verteidigen, wie es die 1906er getan hatten: Es war ihr Land, dass sie in den 1930er Jahren aufgebaut, für das sie die Kollektivierung und den Großen Terror durchgestanden hatten, das sie im Großen Vaterländischen Krieg verteidigt und später von den "stalinistischen Auswüchsen" befreit hatten. Es war ihr Lebenswerk, nicht das ihrer Kinder oder Kindeskinder, schon gar nicht der Urenkel.
So sehr sich die Generationen in ihrer Haltung zum gesellschaftspolitischen System und teils auch in ihren Werten unterschieden haben mögen, so sehr einte sie ein gemeinsamer Habitus (abweisend zu Fremden, großzügig zu Freunden), eine gemeinsame Erwartungshaltung (der Wohlfahrtsstaat kümmert sich um alles), gemeinsame Alltagserfahrungen (Schlangestehen und die Organisation von Defizitprodukten) und ihr Aktionsradius (keine Auslandsreisen, aber das ganze Sowjetreich als Heimat). Den homo sovieticus gab es wirklich und alle vier Generationen gehörten dazu. Als Ausländerin fiel man in der UdSSR sofort auf, und das lag nicht nur an Kleidung und Brillengestellen, sondern auch an einer anderen Mimik und Gestik. All diese feinen, aber für jede*n wahrnehmbaren Unterschiede sind heute verschwunden: Kleidung, Gesten, Lachen haben sich internationalisiert; Auslandsreisen sind genauso normal wie, dass sich jede*r selbst um Arbeitsplatz und Wohnung kümmern muss. Wörter wie "bisnismen", "schopping" und "uik-end" gehören lange zum russischen Sprachgebrauch. Was der homo sovieticus war, ist für die heute dreißigjährigen Russ*innen nicht mehr vorstellbar.
Auf das Verschwinden eines kulturellen Phänomens haben erste Autorinnen reagiert: Ljudmila Aleksejewa (1928 – 2018), die Grande-dame der sowjetischen Menschenrechtsbewegung, hat ihr Buch über die Tauwetter-Generation, das sie 1990 auf Englisch schrieb, um der westlichen Welt die Lebensverhältnisse in der UdSSR zu erläutern, erst 2006 auf Russisch veröffentlicht, als sie den Eindruck gewann, dass die jungen Leute nichts mehr von der Sowjetzeit wussten. 2018 hat die große Krimi-Autorin Alexandra Marinina (*1957) einen dreibändigen Roman veröffentlicht, in dem ein exzentrischer Remigrant im heutigen Russland junge Leute mit Geld für eine Art "Big Brother" ködert, wo sie abgeschieden von der Öffentlichkeit und modernen Kommunikationsmitteln typische Situationen des sowjetischen Alltagslebens mit den damals verfügbaren Mitteln meistern müssen. Darin können sich die jungen Leute weder vorstellen, dass es damals kein Telefon in jedem Haushalt geschweige denn Internet gab, noch dass eine Mutter sonntags einen großen Topf Borschtsch kochte, der dann die ganze Woche reichen musste. So langatmig und teils übertrieben dieser Roman wirken mag, umso deutlicher bringt er auf den Punkt, dass die meisten sowjetischen Lebensrealitäten für die nachgeborenen Generationen unvorstellbar und absurd sind. Es ist dies das gefährliche am Regime Putins: Es geht nicht mit Mangelverwaltung, eingeschränkter Freizügigkeit und technologischer Rückständigkeit einher; das autoritäre Regime gibt sich heute fortschrittlich, flott und modern. Die Sowjetgenerationen wussten, dass sie in einer anderen Welt lebten; die jungen Russ*innen tun dies nicht. | Article | Susanne Schattenberg (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen) | 2022-01-26T00:00:00 | 2021-09-27T00:00:00 | 2022-01-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-406/340827/kommentar-nur-ein-menschenleben-lang/ | In fast 70 Jahren Sowjetunion lebten Menschen aus vier Generationen. Die Historikerin Susanne Schattenberg charakterisiert ihre Gemeinsamkeiten und erklärt, worin sie sich unterschieden. | [
"Russland",
"Geschichtsbewusstsein",
"Vergangenheitspolitik",
"politische Kultur",
"Russland"
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Analyse: Ernüchterung nach einem Jahr Lustrationsprozess | Ukraine-Analysen | bpb.de | Einleitung
Groß waren die Ankündigungen vor den Parlamentswahlen im Oktober 2014. Bis zu einer Million Staatsbedienstete aller Kategorien und Ränge sollten laut den Ankündigungen von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk am 17. September 2014 von dem Gesetz betroffen sein. In der Gesellschaft wurden Hoffnungen auf einen Befreiungsschlag geweckt, auf eine einfache Lösung eines schwierigen Problems. Wären erst die "Schergen Janukowytschs" aus den Ämtern entfernt, sei bereits ein großer Schritt in Richtung "Europäisierung" der Verwaltung und Beseitigung der Korruption "an ihren Wurzeln" getan. Etwas mehr als ein Jahr später ist Ernüchterung eingetreten. Das Thema Lustration, wie der Vorgang der "Durchleuchtung" und "Reinigung" des Staatsapparates genannt wird, spielt im politischen Diskurs nur noch selten eine Rolle. Vermutlich hat es seine Aufgabe der Wählerstimmenbeschaffung und als Dampfventil vorerst erfüllt. Auch die Welle der vor Kameras inszenierten sogenannten "Müll-Lustrationen", bei denen missliebige Staatsangestellte als Vorform des Lynchmords in Abfallcontainer entsorgt wurden, ebbte bis auf wenige Ausnahmen im Frühjahr schlagartig ab.
Schaffung einer Behörde
Für die Umsetzung des Gesetzes wurde im Justizministerium eine Abteilung für Lustrationsfragen eingerichtet, die von Tetjana Kosatschenko geleitet wird. Die Juristin hatte sich vorher bereits beim Gesellschaftlichen Lustrationsausschuss engagiert und zum Gesetzentwurf beigetragen. Ihr Dienstherr ist Justizminister Pawlo Petrenko, ein Jugendfreund Arseni Jazenjuks.
Der Website des Departments ist zu entnehmen, dass den Lustrationsprozess mehr als 111.000 im Amt befindliche Staatsangestellte und mehr als 51.000 Kandidaten für Staatsposten durchlaufen haben. Für bislang 841 Personen kam darüber hinaus das automatische zehnjährige Amtsverbot zur Anwendung, nach dem diese bis zum 15. Oktober 2024 keine leitenden Positionen im Staatsdienst mehr besetzen können. Die von diesem Verbot Betroffenen haben unter Präsident Wiktor Janukowytsch länger als ein Jahr die in Artikel 3 des Gesetzes benannten leitenden Positionen besetzt, zu Sowjetzeiten Verbindungen zum KGB unterhalten oder höhere Posten im Parteiapparat bekleidet. Mehr als tausend Staatsangestellte kündigten oder ließen sich auf rangniedrigere Posten versetzen, um dem Lustrationsprozess zu entgehen. Jazenjuk zufolge hatte sich ihre Zahl im April bereits auf 1.500 erhöht. Der Leiter des Antikorruptionsausschusse Jehor Sobolew von der Partei Samopomitsch (Selbsthilfe), eine der Haupttriebkräfte hinter dem Lustrationsgesetz, schätzte ihre Zahl im Oktober auf bis zu 1.200. Zu ihnen gehören der Chef des Statistikamtes Oleksandr Ossaulenko, der das Amt seit 1997 geleitet hat und für den bisher kein Ersatz gefunden wurde, sowie der Leiter der Staatlichen Agentur zur Verwaltung der Schutzzone um das ehemalige Kernkraftwerk von Tschernobyl, Wolodymyr Choloscha, der seit 1995 in verschiedenen Positionen für die Bewältigung der Folgen der Atomkatastrophe verantwortlich war. Sein im Mai ernannter Nachfolger Jurij Antypow wurde nach Korruptionsvorwürfen bereits im September wieder entlassen.
Die versprochene Transparenz des Lustrationsvorgangs, nach der alle persönlichen Erklärungen, dass Lustration auf eine Person nicht zutrifft, sowie Einkommensdeklarationen der untersuchten Staatsangestellten einsehbar sein sollen, konnte bisher nicht sichergestellt werden. Vor allem bei älteren Einträgen führen die zu persönlichen Erklärungen und Deklarationen gehörigen Links auf leere Dateien und es ist unwahrscheinlich, dass diese Fehler behoben werden. Verweise, bei anderen "Durchleuchteten" Informationen zu Staatsangestellten auf den Websites der entsprechenden Behörde einzuholen, führen meist ebenfalls ins Leere, da diese Behörden kaum die Kapazitäten zur Pflege der Daten haben.
Nicht immer läuft die Lustration ohne Widerstände ab. Im Februar 2015 machte der Gesellschaftliche Lustrationsausschuss publik, dass zwei Stellvertreter von Innenminister Arsen Awakow, Witalij Sakal und Wassyl Paskal, unter Janukowytsch insgesamt über ein Jahr in leitenden Positionen tätig waren. Dennoch veranlasste das Ministerkabinett nicht die Entlassung der beiden. Schlussendlich ging Kosatschenko vor Gericht. Am Tag, nachdem ihre Klage angenommen wurde, erfolgte unter dem Vorwand der Suche nach gefälschten Lustrationsnachweisen eine Durchsuchung der Räume des Lustrationsdepartments und der Wohnung Kosatschenkos durch Angehörige des Innenministeriums. Infolge der medialen Resonanz der Hausdurchsuchung reichte Sakal wenig später seinen Rücktritt ein. Paskal ist bis heute Stellvertreter Awakows.
Erwartete Bedenken der Venedig-Kommission
Trotz Inkrafttreten des Gesetzes ist die Legitimität einiger Positionen, beispielsweise der automatischen Entlassung einschließlich Einstellungsverbots ohne vorherigen Gerichtsentscheid, bis heute fragwürdig – nicht nur in Hinblick auf die Verfassung, sondern auch nach den Kriterien, die der Europarat 1996 für derartige "Durchleuchtungsprozesse" festgelegt hat. Bereits in ihrer Stellungnahme im Dezember 2014 warnte die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) davor, dass ein Lustrationsprozess im großen Stil in einer "gewaltigen bürokratischen Belastung" resultieren und zu einer Atmosphäre von "genereller Angst und Misstrauen" führen könnte. Ebenso wurde darauf hingewiesen, dass Lustrationsprozesse nach den Richtlinien des Europarates für die Durchführung von Lustrationsprozessen durch ein unabhängiges Organ und unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft erfolgen sollen und nicht wie in der Ukraine durch eine dem Justizministerium unterstellte Behörde. Entsprechende Änderungen wurden der Venedig-Kommission bereits vor ihrem Bericht in Aussicht gestellt. Allerdings gibt es bis heute nur einen Entwurf, der einen weiterhin hohen Einfluss des Ministerkabinetts auf die Ernennung des Chefs einer zukünftigen Lustrationskommission vorsieht.
Ein weiterer Kritikpunkt der Venedig-Kommission war der fehlende Datenschutz, der in einem Land, in dem es vorkommt, dass der Innenminister Namen und Geburtsdaten von Mordverdächtigen in der Öffentlichkeit verbreitet, nicht verwundert. Gleichzeitig überschneiden sich viele Funktionen des Lustrationsgesetzes und bereits existierender Gesetze. So ergibt sich etwa eine Doppelung, indem Kandidaten für höhere Staatsposten gemäß dem Gesetz für die Vorbeugung und Bekämpfung der Korruption bereits einem speziellen Screening unterliegen. Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass eine effektive Bekämpfung der Korruption eher durch eine spezielle Antikorruptionsgesetzgebung erfolgen sollte als durch das Lustrationsgesetz. Zweifelhaft sei zudem, dass Vertreter des Sowjetregimes noch 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion eine Gefahr für den Aufbau der Demokratie darstellen sollen. Diese Annahme ist zum einen auf den langen Prozess der Verabschiedung dieses Gesetzes zurückzuführen – die Forderung nach einer "Durchleuchtung" des Staatsapparates ist so alt wie die Unabhängigkeit der Ukraine. Zum anderen sehen weite Teile der Bevölkerung den schlechten Zustand des ukrainischen Staatswesens, die Misserfolge beim Krieg im Osten sowie alles Schlechte im Allgemeinen vor allem als Ergebnis der Sabotage von Staatsangestellten an, deren Loyalität dem Nachbarn Russland gilt. Denn dieser Überzeugung zufolge gibt es keine ehemaligen KGB-Agenten.
Ausnahmen zum Wohl des Vaterlandes
Die Führung des Landes handelt diesem Grundsatz zuwider. So hatte eine Änderung des Lustrationsgesetzes vom Januar 2015 das Ziel, hohe Offiziere in Armee, Nationalgarde und Grenztruppen auf Antrag und nach Genehmigung des Präsidenten wieder in den Dienst aufzunehmen oder sie gar nicht erst zu entlassen. Begründet werden muss dieser Schritt durch persönliche Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit des Landes. Mindestens sieben Generäle wurden den veröffentlichten Ukasen zufolge als derartig wichtig eingestuft.
Kritik am Gesetz selbst kommt natürlich aus den Reihen der Betroffenen beziehungsweise aus dem ehemaligen Regierungslager. Von dieser Seite wird eine kollektive Schuld für das blutige Ende der Regierungszeit Janukowytschs aus nachvollziehbaren Gründen nicht akzeptiert. Im Januar reichten 47 Parlamentsabgeordnete vor allem aus dem sogenannten Oppositionsblock vor dem Verfassungsgericht Klage gegen das Gesetz ein, das ihrer Meinung nach die Hälfte der Staatsbediensteten des Landes diskriminiert. "Wir sprechen davon, dass die Verfassung klar einen individuellen Charakter von Schuld und keine allgemeine Schuld festlegt, und die Verfassung verpflichtet dazu, die Menschenrechte zu befolgen, wenn vom Recht auf Ausübung des Berufs die Rede ist", meinte beispielsweise Jurij Miroschnytschenko, der ehemalige Vertreter von Präsident Wiktor Janukowytsch im Parlament, am 22. Oktober 2015 gegenüber dem Sender Ukrajina. Hintergrund solcher Bemühungen ist es, die eigenen Chancen auf Regierungsposten nach den ersehnten und auf das nächste Jahr vorgezogenen Parlamentswahlen nicht durch ein aus dem Lustrationsgesetz resultierendes Verbot zu schmälern. Das Verfassungsgericht selbst beeilt sich mit einem Urteil nicht. Seit Einreichung der Klage wurde ihre Prüfung mehrfach verschoben, auf der letzten Sitzung am 23. Oktober auf unbestimmte Zeit.
Richter bleiben außen vor?
Dabei sind die Verfassungsrichter selbst vom Lustrationsprozess betroffen, zumindest nach Ansicht von Aktivisten und des Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk. Allein acht der derzeit 15 Richter wären demnach sofort zu entlassen. Allerdings weigern sich die Richter bisher, dieser Forderung nachzukommen. Hauptlustrator Jehor Sobolew wurde dabei auf der letzten Sitzung vom 23. Oktober vom Vorsitzenden Richter Jurij Baulin zurechtgewiesen: "Wir setzen die Sitzung fort und können diese Frage nicht jedes Mal prozessual prüfen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, so ist das Leben. Bislang gibt es noch 13 Richter im Verfassungsgericht und wir sind berechtigt, diese Angelegenheit zu prüfen. Gibt es kein Gericht, wird es auch keine Prüfung der Sache geben."
Bis heute wurde kein Richter im Rahmen eines Lustrationsprozesses entlassen. Die 355 in diesem Jahr von der Rada entlassenen Richter sind alle aus anderen Gründen aus dem Amt geschieden. Darüber hinaus sind die derzeitigen Machthaber nicht in der Lage, die aufgrund von natürlicher Fluktuation vakanten 1.200 Richterposten zu besetzen. Offenbar fand Poroschenko, dem gemäß Artikel 128 der Verfassung die Ersternennung auf Vorschlag des Obersten Justizrates für fünf Jahre obliegt, in dem vorhandenen Bewerberpool von über 2.300 qualifizierten Juristen keinen gleichwertigen Ersatz.
Es wird nicht darüber diskutiert, wie vor diesem Hintergrund ein Ersatz für "lustrierte" Richter aussehen soll. Sobolew drohte derweil allen Richtern mit Lynchjustiz: "Das ist eine große Sabotage der Richter, sie drängen sich vor allem für Lynchgerichte auf. Wenn sie nicht auf zivilisierte Art lustriert werden, erwartet sie eine schreckliche Zukunft. Wir warnen sie bereits seit vielen Monaten und sie sprechen davon, dass wir ihnen drohen." Vorher hatte er den Präsidenten über das für diese Art von Botschaften beliebte Facebook gewarnt: "Wenn das Gesetz über die Säuberung des Staatsdienstes zurückgenommen wird, werde ich als Gesetzgeber meine Zeit nicht weiter auf Gesetze verschwenden."
Demgegenüber existiert beim Richterrat die Zahl von 4.998 von insgesamt etwa 7.500 Richtern, die das Lustrationsverfahren mit unterschiedlichem Ergebnis durchlaufen haben sollen; nur 60 hätten ihre Teilnahme verweigert, was zu ihrer sofortigen Entlassung geführt habe. Vor einer generellen Entlassung des Richterkorps hatte allerdings auch Christos Giakoumopoulos, der Sondervertreter des Europaratssekretärs in der Ukraine, gewarnt, da mit diesem Vorgehen keine Basis für ein unabhängiges Justizsystem geschaffen würde. "Es kann nur eine individuelle Bewertung der Effektivität der Richter geben, nach der gegen einzelne Richter Sanktionen angewendet werden können. Das Prinzip der Unabhängigkeit des Gerichtssystems wird dabei eingehalten", sagte er Anfang November 2015 gegenüber der Jewropejska Prawda.
Mit seinem Populismus steht Sobolew allerdings nicht allein da. Ministerpräsident Jazenjuk kündigte am 23. Oktober 2015 vor deutschen Investoren in Berlin eine Justizreform an. "Die Reform sieht unter anderem die Entlassung von 9.000 Richtern vor", erklärte er dabei. Ähnliches kündigte er im Wahlkampf 2012 sowie vor und während der Maidanproteste gegen Janukowytsch an. Inzwischen ist er bereits mehr als eineinhalb Jahre im Amt.
Reinwaschung durch fiktive Teilnahme an Antiterror-Operationen
Ein großes Schlupfloch zur Umgehung einer Entlassung gab es bereits von Anfang an. Erwartungsgemäß verschafften sich viele Staatsangestellte Bescheinigungen über eine Teilnahme an Kampfhandlungen im nach wie vor Antiterror-Operation genannten Krieg in der Ostukraine. Im April 2015 besaßen allein 419 Angehörige des Staatlichen Wachdienstes, der für den persönlichen Schutz von Politikern verantwortlich ist, einen solchen Nachweis, darunter auch ihr neuer alter Chef, Ex-Verteidigungsminister Walerij Heletej. Von ihm ist nicht anzunehmen, dass er mit der Waffe in der Hand gegen die Separatisten im Osten gekämpft hat.
Lediglich zwei Stellvertreter des Ministers für regionale Entwicklung, Bau und Wohnungswirtschaft bewahrte eine solche Bescheinigung nicht vor der Entlassung. Sie mussten nach der Aufdeckung eines Skandals durch einen Bericht des Senders Hromadske.tv abdanken. Andere sind bis heute im Dienst, beispielsweise Generalmajor Wolodymyr Pleschko von den Grenztruppen, der als Absolvent einer KGB-Hochschule hätte entlassen werden müssen. Der 54-Jährige weilte 2014 ganze 41 Stunden im gesicherten Teil der Zone der Antiterror-Operation (ATO) und erhielt danach eine Bescheinigung als ATO-Teilnehmer, wie der Lwiwer Kanal 24 nach seiner Ernennung zum Leiter des Westbereichs des Grenzschutzes im April berichtete. Bis 21. Oktober 2015 verblieb Pleschko auf diesem Posten, am 21. Oktober wurde er Lwiwer Lokalmedien zufolge beauftragt, die Verantwortung für den nichtkontrollierten Teil der ukrainischen Grenze im Osten zu übernehmen. Seinen Lebensstil – Schweizer Uhr, Maßanzug und Geländewagen –, der nicht seinem offiziellen Einkommen entspricht, dürfte er bis heute nicht verändert haben.
Auf die gleiche Art verschaffte sich der stellvertretende Leiter der Hauptverwaltung für den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen beim Geheimdienst, Wassyl Pisnyj, einen Freifahrschein. Drei Tage verbrachte der damalige Leiter der Abteilung des staatlichen Dienstes für die Bekämpfung von Wirtschaftsverbrechen beim Innenministerium im Kriegsgebiet im Osten. Für seine Ernennung im März waren weder seine recht fragwürdige Biografie noch die für einen ausschließlich im Staatsdienst Beschäftigten zu hohen Vermögenswerte inklusive mehrerer Häuser hinderlich. Zum Stolperstein könnte einzig die Aufmerksamkeit werden, die ihm zuteilwurde, als er während der Sitzung des Antikorruptionsausschusses am 19. November vom Parlamentsrüpel Wolodymyr Parassjuk gegen den Kopf getreten wurde.
Die recht freizügige und problemlose Vergabe von ATO-Bescheinigungen an hohe Staatsangestellte wirkt vor allem für einfache Soldaten und ihre Angehörigen wie ein Hohn. Sie müssen teilweise monatelang um ihre Papiere kämpfen, um am Ende zumindest ein paar Hrywnja Kompensation für die Zeit an der Front oder sogar für erlittene Verletzungen zu bekommen. Ganz zu schweigen von Hinterbliebenen.
Geheimdienst lässt sich nicht "durchleuchten"
Pisnyj kam wohl nicht ganz zufällig bei der KGB-Nachfolgeorganisation, dem Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU), unter. Die Anwendung des Gesetzes auf einen der Machtpfeiler des Präsidenten erfolgt im Fall einer KGB-Vergangenheit noch freizügiger als bei anderen Institutionen. Nach Inkrafttreten des Gesetzes hätte sich der Chef des SBU Walentyn Nalywajtschenko eigentlich als erstes selbst entlassen müssen. Am 19. November 2014 wurde seine Erklärung über das Nichtzutreffen der Lustrationskriterien auf seine Person registriert. Vorher, am 24. Oktober 2014, hatte er zu seiner Entlastung durch seinen Sprecher Markijan Lubkiwskyj Materialien aus seiner SBU-Personalakte veröffentlichen lassen, die belegen sollen, dass er die KGB-Hochschule für Auslandsaufklärung in Moskau zwar besucht, aber nicht abgeschlossen hat – was er 2008 in einem Interview allerdings behauptet hatte. Drei Jahre KGB-Institut und die vorangegangene Unterrichtung ausländischer Studenten in Kiew machen eine KGB-Tätigkeit jedoch mehr als wahrscheinlich, weshalb er infolge der Lustration hätte entlassen werden müssen. Nalywajtschenko konnte jedoch bis zum 18. Juni 2015 weiterarbeiten und wurde erst geschasst, als er Poroschenko unbequem zu werden begann.
Bei seinem Nachfolger Wassyl Hryzak wurde die Überprüfung im Dezember 2014 eingeleitet, als er noch Erster Stellvertreter des SBU-Chefs war. Bis heute gibt es kein öffentlich einsehbares Ergebnis des Checks, dennoch wurde Hryzak zum Geheimdienstchef ernannt. Dabei beginnt sein Werdegang allen inoffiziellen Biografien zufolge beim KGB der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Mehr noch: Stimmt die Behauptung des im Exil lebenden Juristen Janukowytschs Andrij Portnow, dann hat Hryzak während der Maidanproteste als Berater des damaligen SBU-Chefs Olexandr Jakymenko gearbeitet. Als hoher Offizier, der an rechtswidrigen Handlungen gegen die Demonstranten beteiligt war und damit der Lustration unterläge, hätte Poroschenko ihn nicht ernennen dürfen. Zudem lässt sich bereits an seiner Kleidung ein nicht seinem Einkommen entsprechender Lebensstil ablesen. Im Zweifel wird Poroschenko ihn aber als unabkömmlich für die Landesverteidigung erklären. Für seine aktuellen Stellvertreter Witalij Malikow und Wiktor Trepak gibt es ebenfalls keine Lustrationsergebnisse, dabei hätten auch sie nach Artikel 2 vor ihrer Ernennung den Lustrationsprozess durchlaufen müssen.
Andere mutmaßliche KGB-Agenten hatten weniger Glück. Dem als großem Reformer angekündigten Ex-Manager von Microsoft Olexander Borowik wurde das Lustrationsgesetz wohl zum Verhängnis. Er hat nach eigenen Angaben dreieinhalb Jahre an der Hochschule des KGB studiert. Damit konnte er zwar vom 20. Februar bis in den Mai drei Monate als Berater des Wirtschaftsministers Aivaras Abromavicius agieren, die Position des Ersten Stellvertreters, auf der er sich bereits sah, blieb ihm jedoch wegen angeblich nicht konstruktiven Verhaltens verwehrt. Nunmehr versucht er mit zweifelhaftem Erfolg sein Glück als Stellvertreter des in Odessa angedockten ehemaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili.
Ihre KGB-Wurzeln sind jedoch nicht das einzige Lustrationskriterium, unter das viele SBU-Mitarbeiter fallen. Bei einer Anwendung des Gesetzes würde das Auseinanderfallen ihres offiziellen Einkommens von höchstens ein paar Hundert Euro im Monat und des Fahrens großer repräsentativer Geländewagen für mehrere Zehntausend Euro einige leitende Mitarbeiter den Job kosten. Ähnliches stellten die Journalisten von Schemy auch für die Generalstaatsanwaltschaft fest. Doch anscheinend ist die Geheimdienstbehörde mit ihren knapp 30.000 Mitarbeitern weiterhin wichtig, um Listen ausländischer Journalisten zusammenzustellen, Telefongespräche für spätere Erpressungen aufzuzeichnen oder "Wehrkraftzersetzer" wie Ruslan Kozaba auf unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft zu stecken und so dafür zu sorgen, dass die Ukraine, wie in der Hochzeit des KGB, wieder in der Liste der Länder mit politischen Gefangenen auftaucht. Die wirklichen Gefahren für das Land, die zur Annexion der Krim führten, oder die von Russland gesteuerten Separatisten hat der Dienst nicht einmal ansatzweise bekämpft.
Hat jemand vor, die Korruption zu bekämpfen?
Eine Abteilung für Korruptionsbekämpfung haben allerdings nicht nur das Innenministerium und der Geheimdienst. Mit großen Erwartungen wurde das Nationale Antikorruptionsbüro gegründet. Doch bisher fiel ihr im April über ein aufwendiges Auswahlverfahren gewählter Chef, der 36-jährige Artem Sytnyk vor allem durch die Mitnahme seiner Frau zu einer Dienstreise nach London auf Staatskosten auf. Auch war es kein Hinderungsgrund, dass der neue Verfolger korrupter ukrainischer Staatsbediensteter im gesamten Jahr 2014 als Anwalt einer Kanzlei im Zentrum Kiews angeblich nur 23.500 Hrywnja, also weniger als 1.500 Euro, verdient hat. Arbeit haben die teils noch einzustellenden Detektive des Büros jedenfalls zuhauf und sie haben angekündigt, dabei auch auf journalistische Recherchen zurückgreifen zu wollen.
Ein Ernsthaftigkeitstest für die Bemühungen des neuen Büros könnte dabei die Zentrale Wahlkommission sein. Die Lustration ihrer 15 Mitglieder und ihres Apparats begann am 1. Dezember 2014 und sollte bis 31. Mai 2015 abgeschlossen sein. Sichtbare Ergebnisse blieben für alle Mitglieder jedoch aus. Dennoch erhielt der 42-jährige Wahlkommissionschef Mychailo Ochendowskyj, Mitglied der Wahlkommission seit 2004 und ihr Chef seit 2013, am 28. Juni 2015 von Präsident Petro Poroschenko den Jaroslaw-Mudry-Orden, unter anderem für die hohe Professionalität seiner Arbeit. Die hatte er unter anderem bei den manipulierten Kommunalwahlen im Oktober 2010 gezeigt. Sein dem Einkommen eines Staatsbediensteten nicht entsprechendes Anwesen konnten die Ukrainer vor einem Jahr als Luftaufnahme bestaunen.
Warten auf Reformergebnisse
Der erhoffte schnelle Befreiungsschlag blieb also aus und die sogenannte Lustration droht, zu einem langwierigen und zähen Ringen zwischen Staatsapparat und Anhängern der Lustration zu werden. Dabei wird die ukrainische Gesellschaft immer ungeduldiger. Bereits im Juli 2015 waren dem Rasumkow-Zentrum zufolge knapp 60 Prozent der Ukrainer nicht mehr bereit, auf Reformen zu warten (s. Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 156), entweder weil ihre wirtschaftliche Lage das nicht zulässt oder weil sie nicht mehr an den Erfolg von Reformen glauben. Mehr als zwei Drittel der Ukrainer waren im Juni zudem davon überzeugt, dass die Regierung die Lustration nur imitiert, und weitere 16 Prozent bezweifelten, dass überhaupt eine Form von "Reinigung" des Staatsapparates stattfinde.
Mehr als nur eine Warnung für die derzeitigen Machthaber waren die Zusammenstöße vor dem Parlament am 31. August 2015, bei denen es zu einem Handgranatwurf kam und bei denen vier Nationalgardisten getötet und Dutzende verletzt wurden. Auch wenn der eigentliche Auslöser der Zusammenstöße die geplanten Verfassungsänderungen im Rahmen des Minsk-Prozesses waren, die mit über 30 Prozent von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung abgelehnt werden, so ertönte auch der Ruf nach einer "Volkslustration", unter der nur Lynchmord oder Massenerschießungen verstanden werden können. Die Ereignisse geben dabei einen Vorgeschmack darauf, was sich aus einer fortdauernden Unvereinbarkeit von geweckten Erwartungen und realen Möglichkeiten ergeben könnte. Die Erfolge der Partei Swoboda (Freiheit) bei den Kommunalwahlen deuten zumindest darauf hin, dass die von führenden Parteimitgliedern vor der Rada eingesetzten Methoden im nationalistischen Wählerumfeld keinen Makel darstellen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn politische Figuren vom Format Oleh Ljaschkos, Wolodymyr Parassjuks oder auch Jehor Sobolews sich immer schneller verbrauchen, besteht ständig die Gefahr einer Instrumentalisierung des herrschenden Unmuts – vor allem angesichts der beständig schlechten wirtschaftlichen Lage ohne Aussicht auf spürbare Verbesserungen in absehbarer Zeit. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2015-12-01T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/216547/analyse-ernuechterung-nach-einem-jahr-lustrationsprozess/ | Im Oktober 2014 trat das sogenannte Lustrationsgesetz in Kraft. Politisch belastete Mitarbeiter sollten so aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden. Die ukrainische Gesellschaft hatte hohe Erwartungen an den Prozess. Die aktuelle Analyse zieht na | [
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Gesundheit, Krankheit und Geschlecht | Krankheit und Gesellschaft | bpb.de | Frauen und Männer werden unterschiedlich krank. An Rheuma, Depression, Schilddrüsenerkrankungen und Osteoporose leiden vor allem Frauen. Am Herzinfarkt vor 60 Jahren sterben überwiegend Männer, und auch der plötzliche Herztod bei Sportlern trifft fast immer die Männer. Weniger bekannt ist, dass stressinduzierte Herzerkrankungen ebenso tödlich wie ein Herzinfarkt sein können und zu 90 Prozent die Frauen treffen. Mit diesen Unterschieden beschäftigen sich Gendermediziner: Wir wollen herausfinden, welche biologischen und psychosozialen Mechanismen Frauen und Männer schützen oder ihnen schaden. Wir untersuchen, wieso Frauen und Männer auf Medikamente und Umweltfaktoren unterschiedlich reagieren und krank werden, worin die Unterschiede bestehen und was das für ihre Erkrankungen und die Behandlung bedeutet. Nur dann kann man für beide Geschlechter die bestmögliche Diagnose und Therapie finden und dazu beitragen, dass beide gesund älter werden können. Welche Aspekte Gendermediziner und -medizinerinnen dabei untersuchen, wird in diesem Artikel am Beispiel koronarer Herzerkrankungen (KHE) und insbesondere des Projekts "Gender-Specific Mechanisms in Coronary Artery Disease in Europe" (GenCAD) vorgestellt.
Geschlechterunterschiede bei Herzerkrankungen
Herzinfarkt ist nicht gleich Herzinfarkt – es gibt deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Ich erinnere mich an eine junge Frau, knapp 40 Jahre alt, der es bei ihrer Arbeit am Freitagnachmittag plötzlich nicht mehr gut ging; sie hatte Übelkeit, Schwäche, auch Bauch- und Brustschmerzen. Sie rief nicht um Hilfe, sondern zog sich auf die Toilette zurück. Sie versuchte, weiter zu arbeiten, es ging nicht, sie erntete Ärger mit Chef und Kolleginnen und ging schließlich nach Hause. In der folgenden Woche ging sie zum Hausarzt. Der äußerte den Verdacht auf eine Magenverstimmung und verschrieb ihr Medikamente. Sie versuchte, in der Woche darauf wieder zu arbeiten, aber es wurde nicht besser. Sie ging in die Notaufnahme eines Krankenhauses, wurde von dort aber als gesund nach Hause geschickt. Sie versuchte trotz starker Müdigkeit, Übelkeit und Schwäche, in den nachfolgenden Wochen wieder zu arbeiten. Als es ihr nach einigen Wochen akut wieder sehr schlecht ging, suchte sie Hilfe in der nächsten Apotheke. Dort wurde ein extrem erhöhter Blutdruck gemessen und sie wurde in ein anderes Krankenhaus geschickt. Nach einigen Tagen wurde ein abgelaufener Herzinfarkt diagnostiziert.
Was ist hier anders als bei einem Mann? Zum einen waren die Beschwerden etwas anders, als sie in den männerbasierten Lehrbüchern stehen. Im Vordergrund standen für die Frau Schwäche und Übelkeit, erst danach kamen Bauch- und die bekannten Brustschmerzen. Zum anderen reagierte ihr Umfeld und auch sie selbst anders: Bei einem Mann im Alter von 60 Jahren wäre sofort der Verdacht auf einen Herzinfarkt entstanden. Auch sie selbst dachte daran nicht, auch nicht der Hausarzt oder die Notfallmediziner*innen im ersten Krankenhaus.
Im Rahmen des von der Europäischen Kommission geförderten GenCAD-Projektes hatten wir kürzlich die Gelegenheit, das Wissen über Geschlechterunterschiede bei Herzerkrankungen systematisch zu untersuchen. Dabei sollten Herzerkrankungen und insbesondere KHE als ein Beispiel für zahlreiche Erkrankungen dienen, bei denen es Geschlechterunterschiede gibt.
Wir haben zu diesem Zweck mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung eine Datenbank angelegt, die vom Institut für Gender in der Medizin an der Charité Berlin weiterbetrieben wird. Sie enthält mittlerweile dank automatischer Aktualisierungen fast 300000 Literaturstellen zu Geschlechterunterschieden bei wichtigen Erkrankungen und ist damit die erste existierende komplette Sammlung. Sie beschleunigt die Suche nach Literatur zu Geschlechterunterschieden sehr, da alle in ihr enthaltenen Referenzen bereits in Bezug auf das Forschungsziel Geschlechterunterschiede validiert wurden.
Wissen
Insgesamt wurden zu KHE über 1.000 Artikel ausgewertet, die sich in den Bereichen Epidemiologie, Risikofaktoren, Prävention, Krankheitsmechanismen, klinische Symptome, Diagnose, Management und Verlauf mit Geschlechterunterschieden beschäftigen. Wir fanden enorme Geschlechterunterschiede in der Krankheitsmanifestation – zehn Jahre früher bei Männern als bei Frauen – und bei den Risikofaktoren. So zeigte sich, dass Diabetes ein schwerwiegenderer Risikofaktor bei Frauen als bei Männern ist. Ebenfalls tauchten neue Risikofaktoren auf, etwa rheumatische und Autoimmunerkrankungen. Ein unterschätzter und wenig bekannter Risikofaktor bei Männern ist erektile Dysfunktion, Schwangerschaftskomplikationen sind es bei Frauen. Herzerkrankungen beginnen schon im Uterus, verursacht unter anderem durch Fehlernährung in der Schwangerschaft, durch Stress, Fehlverhalten und schädliche Umwelteinflüsse und beeinflussen männliche und weibliche Feten unterschiedlich. Periphere Gefäßerkrankungen werden bei Frauen und Männern unterschätzt und spielen vor allem bei Frauen eine große Rolle in der Beeinträchtigung der Lebensqualität. Ziele in der Sekundärprävention werden bei Frauen seltener erreicht als bei Männern. Sozioökonomische Faktoren spielen eine zunehmend größere Rolle. Auch Krankheitsmechanismen unterscheiden sich bei Männern und Frauen: Die klassische KHE mit der Arteriosklerose der großen Gefäße ist ein typisches Bild bei Männern, das bei ihnen zehn Jahre früher als bei Frauen auftritt. Herzinfarkte ohne schwerwiegende Veränderungen der großen Herzkranzgefäße treten häufiger bei Frauen als bei Männern auf. Vor allem bei jungen Frauen finden sich häufig ungewöhnliche Befunde wie Verkrampfungen der Gefäße, Längseinrisse oder stressinduzierte Herzerkrankungen. Diesen unterschiedlichen Mechanismen entsprechen wohl auch unterschiedliche Symptome. Die Interpretation diagnostischer Befunde müsste bei Frauen und Männern unterschiedlich sein, obwohl sich diesbezüglich in den ärztlichen Leitlinien keine klaren Richtlinien finden. Es ist bekannt, dass Frauen bei Herzinfarkt später in die Klinik kommen und häufig über andere Symptome klagen als Männer. Das typische Bild beider Geschlechter muss den Aufnahmeärzt*innen bekannt sein, damit sie optimal handeln können. Insgesamt müssen die typisch weiblichen Mechanismen der Herzerkrankungen jedoch noch besser beschrieben und erforscht werden, damit Frauen und Männer gleich gut behandelt werden können.
Schließlich ist effektive Rehabilitation ein Thema. Frauen sind in der Regel älter beim Infarkt und bekommen weniger häufig eine effektive Rehabilitation. Dies führt zu einer chronischen Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität, gepaart mit hoher Belastung für ihr Umfeld, und nicht zuletzt zu hohen Behandlungskosten.
Repräsentanz in Datenbanken
Wir führten im Rahmen von GenCAD eine Suche in europäischen soziodemografischen und medizinischen Datenbanken durch, um zu testen, ob sie geeignet sind für die Analyse von Geschlechterunterschieden bei Herzerkrankungen. GenCAD analysierte daher diese Datenbanken im Hinblick auf Morbidität und Mortalität an Herzerkrankungen, verknüpfte die Daten mit Risikofaktoren wie Rauchen, Diabetes, Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerte, Alkoholkonsum und sozioökonomischen Parametern und testete die Daten auf Geschlechterunterschiede. Leider waren die meisten Datenbanken für die Analyse nicht ausreichend ausgestattet. Entweder hatten sie einen relativ niedrigen Grenzwert für das Einschlussalter (65–70 Jahre), oder die Variablen waren nicht geschlechtsspezifisch dargestellt. Geschlechtsassoziierte Kovariablen wie Schwangerschaftskomplikationen, Hormonstatus, hormonell bedingte Erkrankungen, Zahl der Kinder oder Sexualfunktion waren zumeist nicht eingeschlossen. Die Forscher waren sich offensichtlich nur zum Teil bewusst, wie groß die Bedeutung von geschlechtsspezifischen Faktoren ist und hatten in der Regel nicht die Ressourcen, alle erforderlichen Daten für eine solche Analyse zu erheben. Daher müsste das Bewusstsein der Forscher, aber auch die Ressourcenbereitstellung für den Einschluss von geschlechtsspezifischen Aspekten in Studien und Datenbanken verbessert werden.
Politische Vorgaben
Weiter analysierte GenCAD die politischen Vorgaben für eine geschlechtsspezifische Forschung, und zwar auf drei Ebenen: Auf Dokumentenebene suchten wir nach Dokumenten, die spezifisch Bezug zwischen kardiovaskulären Erkrankungen und geschlechtsspezifischen Aspekten herstellen. Dies zeigte, dass es ein wachsendes Bewusstsein für die Bedeutung von biologischem und soziokulturellem Geschlecht (Sex und Gender) für Herzerkrankungen in einigen Ländern gibt, insbesondere in Deutschland, Österreich, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, den Niederlanden und Spanien, dass aber andere Länder diese Aspekte vernachlässigen.
Auf der politischen Ebene versuchten wir anhand von Stellungnahmen und Veröffentlichungen zu bestimmen, in welchem Ausmaß die europäischen Mitgliedsstaaten bereit waren, eine Berücksichtigung von Geschlecht beim Umgang mit kardiovaskulären Erkrankungen zu ermöglichen. Dies geschah durch eine erweiterte Analyse von Positionspapieren zur Gleichstellung in Bezug auf diese Erkrankungen innerhalb der Länder.
Schließlich erweiterten wir unsere Untersuchungen auf die Analyse des globalen politischen Umfeldes in den Ländern und schlossen alle politischen Aussagen und Dokumente ein, die spezifisch Bezug zu Geschlecht und Gesundheit hatten. Dies zeigte, dass es doch deutliche Anstrengungen innerhalb der Mitgliedsstaaten gab, Geschlecht als bedeutenden Faktor im Gesundheitssystem anzuerkennen.
Insgesamt zeigte die Analyse, dass es in den Mitgliedsstaaten eine Bereitschaft gibt, Gleichstellung voranzutreiben und Diskriminierung zu unterbinden, was häufig von führenden Gesundheitsorganisationen oder Nichtregierungsorganisationen unterstützt wird. Allerdings fehlt oft noch die direkte Umsetzung dieser politischen Leitlinien in gesundheitspolitische Aktivitäten und Dokumente.
Fehlendes Bewusstsein
Wichtig ist auch die Frage, wie stark Geschlechterunterschiede bei Herzerkrankungen im Bewusstsein von Patient*innen und Ärzt*innen verankert sind. Daher führte GenCAD zwei Befragungen durch: Zum einen wurden zufällig ausgewählte medizinische Laien in sechs Ländern, die insgesamt aufgrund ihrer Bevölkerungszusammensetzung, ihrer regionalen Lage und der Einkommensverhältnisse repräsentativ für die Europäische Union sind (Schweden, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Deutschland, Spanien), telefonisch befragt. Die Umfrage zeigte, dass die Patient*innen von ihren Ärzt*innen nicht sehr gut über Risikofaktoren und Geschlechterunterschiede bei Herzerkrankungen informiert worden sind. Es gab sehr große Unterschiede zwischen den Ländern, insgesamt jedoch ein sehr großes Nichtwissen. Zum Beispiel identifizierten nur 7–29 Prozent der Befragten in den unterschiedlichen Ländern KHE richtig als die häufigste Todesursache bei Frauen. Insbesondere Frauen unterschätzten ihr Risiko, an Herzerkrankungen zu sterben, massiv. Als häufigster Risikofaktor wurde Stress erwähnt. Bewusstsein und Wissen über andere Risikofaktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel und Diabetes müssen dringend verbessert werden. Weniger als die Hälfte der Befragten war gut über kardiovaskuläre Erkrankungen und ihre Risikofaktoren informiert. Massenmedien und das Internet waren die wichtigsten Informationsquellen, nicht die Informationen durch die Ärzte. Zum anderen zeigte auch eine Befragung der Ärzt*innen ungenügendes Wissen über Geschlechterunterschiede bei Herzerkrankungen. Frauenspezifische Risikofaktoren oder spezielle diagnostische Strategien bei Frauen bei KHE waren weitgehend nicht bekannt. Die Mediziner*innen wussten sehr wohl, dass Aufklärungskampagnen wie zum Beispiel Nichtraucher-Kampagnen Frauen und Männer nicht gleich gut erreichen. Und sie waren sich auch im Klaren darüber, dass die Prävention von Herzerkrankungen bei beiden Geschlechtern große Unterschiede aufweist. Aufgrund der großen Bedeutung der Herzerkrankungen als Todes- und Invaliditätsursache Nummer eins bei Frauen und bei Männern sollte dieses Bewusstsein aber dringend weiter verbreitet werden, damit eine effektive Behandlung und Gesundheitsvorsorge in der gesamten Bevölkerung möglich wird.
Medikamente
Wie ging es mit eingangs erwähnten Infarktpatientin weiter? Unter anderem wird man ihr Medikamente verschrieben haben. Wenn sie ein etabliertes Medikament gegen Herzschwäche bekommt, nämlich Digoxin, könnte sie in Gefahr sein. Der Wirkstoff, der aus dem Woll-Fingerhut gewonnen wird, wurde als eines der ältesten Medikamente gegen Herzschwäche jahrzehntelang bei Frauen und Männern gleichermaßen eingesetzt; bei vielen gegen das sogenannte Altersherz benutzt. Eine große Studie zu seiner Wirksamkeit in den 1990er Jahren wurde als Empfehlung für seinen Einsatz bei beiden Geschlechtern interpretiert, allerdings ohne, dass eine geschlechtsspezifische Analyse stattgefunden hätte. Diese erfolgte erst 2002: Man sah zur großen Überraschung, dass Digoxin bei Männern gut wirkte, während es bei Frauen die Sterblichkeit sehr deutlich erhöhte. Dies ist sicher ein extremes Beispiel für unterschiedliche Medikamentenwirkung bei beiden Geschlechtern; es gibt jedoch mehr solcher Fälle. Manche Mittel wirken bei Frauen nicht gegen Herzrhythmusstörungen, sondern lösen sie eher aus. Medikamente gegen Bluthochdruck haben bei Frauen oft mehr Nebenwirkungen. Aspirin wirkt zur Verhinderung eines ersten Herzinfarktes vor allem bei Männern unter 65, nicht bei Frauen dieses Alters. Gängige Schlafmittel wirken bei Frauen länger und stärker und führen deswegen oft zu Unfällen am nächsten Morgen.
Die Gründe für unterschiedliche Medikamentenwirkungen sind vielfältig. Zum Beispiel werden Arzneimittel bei Frauen und Männern vom Körper anders aufgenommen, umgebaut, haben Wechselwirkungen mit Geschlechtshormonen und werden anders ausgeschieden. Die Nierenfunktion ist beispielsweise bei kleinen alten Frauen sehr viel schlechter als bei gleichaltrigen Männern. Weiter unterscheiden sich die Organe von Frauen und Männern in ihrer Feinbauweise und Funktion ihrer Zellen.
Obwohl viele dieser Unterschiede bekannt sind, werden Arzneimittel oft nur an jungen männlichen Tieren entwickelt – meist acht Wochen alten Mäusen. Die Frage, ob die an männlichen Tieren gefundenen Substanzen auch bei weiblichen Tieren oder Frauen wirksam sind, interessiert wenig bis gar nicht. Wir haben in einer eigenen Studie ein gentechnisches Medikament an 400 Mäusen geprüft – es verbesserte das Überleben bei den männlichen Tieren hervorragend, bei den weiblichen gar nicht. Probleme, die nur bei weiblichen Tieren entstehen, wie etwa eine Interaktion mit dem Zyklus, werden in den Studien an ausschließlich männlichen Tieren gar nicht entdeckt. Und: Mit diesem Vorgehen kann man Substanzen, die vor allem bei weiblichen Tieren oder Frauen wirksam wären, gar nicht finden. Auch klinische Studien – also Studien an Patient*innen – wurden lange vorzugsweise an Männern durchgeführt und waren häufig nicht darauf ausgelegt, Wirkungen bei Frauen zu erfassen. Erst seit kurzem sollen neue Arzneimittel gleichermaßen an Männern und Frauen getestet werden. Aber die vorhandenen fast 100.000 alten Substanzen in unseren Apotheken sind nicht an Männern und Frauen getestet.
Hinzu kommt, dass Frauen und Männer Arzneimittel anders einnehmen. Ihre Compliance ist unterschiedlich, sie nehmen unterschiedlich viele, möglicherweise interagierende, freiverkäufliche Substanzen zu den verschriebenen Arzneimitteln ein. Weiter ist bekannt, dass Ärzt*innen Frauen und Männer unterschiedlich intensiv behandeln.
Noch ist die Arzneimitteltherapie also nicht für beide Geschlechter optimiert. Aber es besteht ein immer größeres Bewusstsein dafür, welche Unterschiede zwischen Frauen und Männern beachtet werden müssen, um für beide Geschlechter optimale Arzneimittel in optimalen Dosen bereitzustellen. Biologische und soziokulturelle Unterschiede
Geschlechterunterschiede entstehen bei der Zeugung. Aus der Verschmelzung der Eizelle, die zwei X-Chromosome, die weiblichen Geschlechtschromosomen, enthält, mit einem Spermium, das ein X- und ein männliches Y-Chromosom enthält, und den nachfolgenden Zellteilungen können weibliche Zellen mit zwei X-Chromosomen oder männliche Zellen mit je einem X- und einem Y-Chromosom entstehen. Aus einer Keimzelle mit zwei X-Chromosomen entwickelt sich ein weiblicher Organismus. Enthält die Keimzelle ein X- und ein Y-Chromosom, so entsteht ein männlicher Organismus. Diese Geschlechtschromosomen werden bei allen Zellteilungen weitergegeben, mit dem Effekt, dass jede weibliche Körperzelle am Ende zwei X-Chromosomen hat und jede männliche ein X- und Y-Chromosom.
Die beiden Geschlechtschromosomen unterscheiden sich sehr. Während das X-Chromosom über 1.500 Gene trägt, die Herz, Hirn und Immunsystem beeinflussen, hat das menschliche Y-Chromosom im Lauf der Evolution Gene verloren und trägt nur noch weniger als 100 Gene, mit dem Schwerpunkt Geschlechtsentwicklung und Sexualfunktion. Eigentlich sollte bei weiblichen Zellen eines der beiden X-Chromosomen in allen Zellen inaktiviert werden – möglicherweise eine Strategie der Natur, um Frauen und Männer anzugleichen. Dies geschieht jedoch nur unvollständig, sodass etwa 15 Prozent der Gene des zweiten X-Chromosoms in allen weiblichen Zellen erhalten werden. Dies bedeutet einen biologischen Vorteil für die Frauen – sie haben Reservegene, zum Teil mit Schutzfunktion. Das schützt sie zum Beispiel bei X-chromosomal vererbten Erkrankungen.
Die Gene auf den Geschlechtschromosomen steuern die Produktion der Sexualhormone – Testosteron treibt bereits beim männlichen Embryo die Hodenentwicklung an und stimuliert vor allem Wachstum, zum Beispiel der Muskeln. Sexualhormone bestimmen bereits beim Ungeborenen im Mutterleib die Verpackung zahlreicher Gene. Östrogene haben eher regenerative Wirkungen und schützen bei der Frau. Auch Verhaltensmuster, wie etwa Aggressivität, werden durch Sexualhormone mit beeinflusst.
Schließlich spielt für die Entwicklung zur Frau oder zum Mann auch "Gender" eine Rolle. Gender beschreibt die soziokulturelle Dimension des Frau- oder Mann-Seins oder -Werdens in einer Gesellschaft. Gender wird von Gender-Normen, Gender-Identität, Gender-Konstrukten in Beziehungen und in Institutionen bestimmt. Es bestimmt Grundhaltungen und Handlungen im sozialen Umfeld und wirkt sich im Gesundheitsbereich auf Lebensstil, Ernährung, Bewegung, Prävention, etc. aus. Daher ist Gender eng damit verknüpft, wie stark man welchen Umweltfaktoren (Rauch, Feinstaub, Pestizide) ausgesetzt ist, sowie mit Stress und der Freisetzung von Stresshormonen und körperlichen Belastungen und Reaktionen. Ernährung, Stress, Rauchen, Staub und sogar Waschmittel beeinflussen die Verpackung unserer Gene, sodass sie mehr oder weniger aktiv sind. Dies geschieht unter dem Einfluss der Sexualhormone bei Männern und Frauen unterschiedlich. Das mag der Grund dafür sein, dass stressinduzierte Erkrankungen, im Herzen, Magen, in der Leber und anderswo, sich bei Männern und Frauen deutlich unterscheiden. Insgesamt ist die Trennung von Sex und Gender bei der Erforschung menschlicher Erkrankungen schwierig. Bei vielen von ihnen spielen beide eine Rolle. Daher befasst sich die Gendermedizin mit beiden. Forschungspraxis der Gendermedizin
Wir untersuchen in unserem Labor männliche und weibliche Herz-, Gefäß- oder Immunzellen und prüfen, wie sie mit Stress, Hitze, Kälte, Sauerstoffmangel fertigwerden. In der Regel überleben die weiblichen Zellen besser. Wir untersuchen, welche Mechanismen die weiblichen Zellen schützen. Stickstoffmonoxid zum Beispiel gehört dazu – ein wichtiger Schutzfaktor, der bei Frauen mehr genutzt wird als bei Männern, und der durch Rauchen zerstört wird. Daher ist Rauchen für Frauen noch ungünstiger als für Männer.
Dann analysieren wir, wie weibliche und männliche Tiere auf Herzschwäche oder Bluthochdruck oder Herzrhythmusstörungen reagieren. Auch hier untersuchen wir, ob die Weibchen eingebaute Schutzmechanismen haben und welche Medikamente sie besser schützen. Bestimmte Formen von Arrhythmien und plötzlichem Herztod kommen vor allem bei männlichen Tieren und Männern vor. Weibliche Tiere bilden unter Östrogeneinfluss eine schützende Substanz – und die bietet jetzt die Grundlage für die Entwicklung eines Antiarrhythmikums für alle.
Schließlich führen wir Studien an Menschen durch. Wir verfolgen unter anderem, wie Frauen und Männer Bypassoperationen oder Herzklappenoperationen überstehen, welche Parameter bei ihnen das Überleben bestimmen und ob man bei weiblichen und männlichen Patienten auf unterschiedliche Dinge achten muss. Dies schließt biologische Variablen – Herz- und Gefäßgröße, Nieren- und Lungenfunktion – ebenso ein wie psychosoziale Variablen wie Stress und Depression. So konnten wir zeigen, dass psychosoziale Variablen einen großen Einfluss auf den Verlauf haben, und dies bei Männern und Frauen unterschiedlich ist.
Und wir untersuchen die Bevölkerung. So befragten wir zum Beispiel 1.000 gesunde Frauen, wie sie ihr Risiko, an Herz-Kreislauf-Problemen zu erkranken, selbst einschätzen, und berechnen, wie dies mit dem objektiv messbaren Risiko korreliert. Wir fanden heraus, dass vor allem alte Frauen, Frauen mit einem hohen biologischen Risiko, und Frauen aus bildungsfernen Schichten ihr Herzinfarktrisiko stark unterschätzen. Gerade diejenigen, die Vorsorge am nötigsten brauchen, nehmen sie am seltensten wahr.
Fazit
Geschlechtsspezifische Ansätze in der Medizin werden gebraucht, um die speziellen Risikofaktoren von Frauen und Männern zu identifizieren und eine optimale Prävention und Behandlung zu ermöglichen. Die Rolle soziokultureller Faktoren wird für beide Geschlechter noch unterschätzt. Obwohl die Literatur zu Geschlechterunterschieden relativ umfangreich ist, ist sie häufig nicht ausreichend bekannt und zugänglich. Darüber hinaus ist die Qualität der Studien oft nicht sehr gut; es handelt sich häufig um retrospektive, nicht randomisierte, nicht verblindete Studien mit kleinen Teilnehmerzahlen. Im Herzkreislaufbereich reicht die Zahl der eingeschlossenen Frauen häufig nicht aus, um für sie eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Arzneimittel wirken bei Männern und Frauen unterschiedlich und werden häufig nur an Tieren eines Geschlechts entwickelt. Daher muss das Bewusstsein für die Bedeutung geschlechtssensitiver Studien und ihre finanzielle Förderung dringend unterstützt werden, zugleich aber auch das Wissen um ihre Bedeutung.
Universitäten sollten dafür sorgen, dass geschlechtsspezifische Aspekte in die medizinischen Curricula aufgenommen werden. Ein Curriculum für Gendermedizin wurde an der Charité entwickelt und in den vergangenen Jahren erfolgreich getestet. Es könnte leicht auch an anderen Fakultäten umgesetzt werden. Wichtig ist es auch, Gendermedizin so zu organisieren, dass sie Hypothesen, Methoden und Nachwuchs für andere Fächer entwickeln kann, das heißt, als eigenständige Disziplin.
Ärzteverbände sollten ihre Mitglieder systematisch anhalten, sich über Geschlechterunterschiede zu informieren und entsprechende Fort- und Weiterbildungen anbieten. Und schließlich sollten die deutschen Gesundheits- und forschungsorientierten Ministerien, ihre Planungseinheiten sowie die Forschungsförderer darauf achten, dass Sex und Gender in Forschungsaufrufe und Planungen von Gesundheitsdatenbanken eingeschlossen werden.
Die Forschungsarbeit wurde mit Unterstüzung des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung, Standort Berlin, durchgeführt.
Für weitere Informationen siehe Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V., Externer Link: http://www.dgesgm.de.
Vgl. Europäische Kommission, Pilot Projects Funded by the European Parliament, Externer Link: https://ec.europa.eu/health/social_determinants/projects/ep_funded_projects_en#fragment3.
Siehe Externer Link: http://gendermeddb.charite.de/.
Vgl. Europäische Kommission (Anm. 2). Die Ergebnisse sind dort in Factsheets dargestellt.
Vgl. The EUGenMed Cardiovascular Clinical Study Group, Gender in Cardiovascular Diseases: Impact on Clinical Manifestations, Management, and Outcomes, in: European Heart Journal 1/2016, S. 24–34.
Vgl. Sabine Oertelt-Prigione et al., GenderMedDB: an Interactive Database of Sex and Gender-Specific Medical Literature, in: Biology of Sex Differences 1/2014, S. 5ff.
Vgl. Vera Regitz-Zagrosek, Sex and Gender Differences in Pharmacology, Handbook of Experimental Pharmacology 214, Berlin–Heidelberg 2012, S. 214–600; dies., Geschlechterunterschiede in der Pharmakotherapie, in: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 9/2014, S. 1067–1073.
Vgl. Vera Regitz-Zagrosek/Georgios Kararigas, Mechanistic Pathways of Sex Differences in Cardiovascular Disease, in: Physiological Reviews 1/2017, S. 1–37.
Vgl. Regitz-Zagrosek 2012 (Anm. 7).
Vgl. dies., Sex and Gender Differences in Health. Science & Society Series on Sex and Science, in: EMBO Reports 7/2012, S. 596–603.
Vgl. ebd.
Vgl. Renée Ventura-Clapier et al., Sex in Basic Research: Concepts in the Cardiovascular Field, in: Cardiovascular Research 7/2017, S. 711–724.
Vgl. Vera Regitz-Zagrosek et al., Gender as a Risk Factor in Young, Not in Old, Women Undergoing Coronary Artery Bypass Grafting, in: Journal of the American College of Cardiology 12/2004, S. 2413f.
Vgl. dies. et al., Sex and Sex Hormone-Dependent Cardiovascular Stress Responses, in: Hypertension 2/2013, S. 270–277.
Vgl. Sabine Oertelt-Prigione et al., Cardiovascular Risk Factor Distribution and Subjective Risk Estimation in Urban Women – The BEFRI Study: a Randomized Cross-Sectional Study, in: BMC Medicine 1/2015, S. 1–9.
| Article | , Vera Regitz-Zagrosek | 2022-02-17T00:00:00 | 2018-06-06T00:00:00 | 2022-02-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/270310/gesundheit-krankheit-und-geschlecht/ | Frauen und Männer werden unterschiedlich krank; auch Medikamente wirken unterschiedlich. Dafür verantwortlich sind biologische und soziokulturelle Faktoren. Beides wird von der Gendermedizin untersucht. | [
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Das Wahljahr 2021 | Bundestagswahl 2021 | bpb.de |
Das Wahljahr 2021 ist geprägt von der Coronavirus-Pandemie: Promenade in St. Peter Ording (© ddp / Georg Wendt)
Am 26. September wird der Deutsche Bundestag zum 20. Mal gewählt. Die Bundestagswahl findet gleich in mehrfacher Hinsicht unter außergewöhnlichen Voraussetzungen statt und dürfte eine der spannendsten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden.
Die erste Besonderheit betrifft die personelle Ausgangslage. Noch nie zuvor hat ein amtierender Bundeskanzler – in diesem Fall eine Bundeskanzlerin – darauf verzichtet, erneut zur Wiederwahl anzutreten. Dieser Umstand bringt die Unionsparteien im Wahlkampf in eine herausforderungsvolle Situation. Sie treten mit einem neuen Kandidaten – dem CDU-Vorsitzenden Armin Laschet – zu einer Wahl an, bei der gleichzeitig die Regierungsbilanz der abtretenden Amtsinhaberin Angela Merkel durch die Stimmabgabe bewertet wird.
Zweitens wird der Wahlkampf von einer der größten Krisen überschattet, die das Land in den 76 Jahren seit Kriegsende zu bewältigen hatte: der Coronavirus-Pandemie. Mit dieser Krise verändern sich nicht nur die Themen des Wahlkampfs, sondern zugleich seine technischen und organisatorischen Voraussetzungen. Auch die Parteitage und Kandidatennominierungen liefen und laufen unter Pandemiebedingungen anders ab als gewohnt.
Drittens haben sich in der 19. Legislaturperiode einschneidende Veränderungen der Parteienlandschaft ergeben. Während die Sozialdemokratie weiterhin nur niedrige Umfragewerte verbuchen konnte, geriet nun auch die Union als einzig noch verbliebene Volkspartei in einen Abwärtssog.
Gleichzeitig gelang es den Grünen, sich als zweitstärkste Kraft dauerhaft vor die SPD zu setzen. Machten Union und SPD das Rennen um die Kanzlerschaft bisher stets unter sich aus, tritt mit Annalena Baerbock jetzt zum ersten Mal die Vertreterin einer dritten Partei als ernstzunehmende Kanzlerkandidatin an.
Schließlich und viertens wird sich die Themenagenda der Wahlauseinandersetzung von früheren Wahlen unterscheiden. Dass hier der Klimaschutz zum ersten Mal (ganz) weit oben steht, stellt eine der Ursachen wie auch eine Folge des Aufschwungs der Grünen dar. Daneben dürften die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie eine wichtige Rolle spielen und – je nach Verlauf und Erfolg der Impfkampagne – zugleich der Rückblick auf das Pandemiemanagement der Regierung.
Alle Wahltermine in Deutschland 2021 (© Bundeswahlleiter, bundeswahlleiter.de)
Entschieden wird die Wahl durch das Zusammenspiel von drei Faktoren: Das sind die Kandidierenden, die Themen und die möglichen Koalitionen (siehe Kapitel Interner Link: Die Wahl 2021 – Was ist zu erwarten?). Was die Koalitionsbildungen betrifft, besteht im Parteiensystem inzwischen eine große Flexibilität, da sich SPD und Grüne für ein Bündnis sowohl mit der Linken als auch mit der FDP geöffnet haben. Galt Anfang des Jahres eine Regierung der Union mit den Grünen noch als wahrscheinlichster Wahlausgang, wiesen die Umfragewerte für die einzelnen Parteien im Mai auch eine Ampelkoalition (rot-gelb-grün) oder ein Linksbündnis (rot-rot-grün) als mehrheitsfähig aus (siehe Tabelle).
Vor der Bundestagswahl fanden im März und Juni drei Landtagswahlen (in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt) sowie Kommunalwahlen in Hessen statt. Die Landtagswahlen endeten alle mit dem Sieg der jeweiligen Amtsinhaber. Am 26. September werden parallel zur Bundestagswahl auch das Abgeordnetenhaus in Berlin und die Landtage in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen gewählt. Zwei Wochen vorher finden Kommunalwahlen in Niedersachsen statt.
Das Wahljahr 2021 ist geprägt von der Coronavirus-Pandemie: Promenade in St. Peter Ording (© ddp / Georg Wendt)
Alle Wahltermine in Deutschland 2021 (© Bundeswahlleiter, bundeswahlleiter.de)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-21T00:00:00 | 2021-07-12T00:00:00 | 2022-01-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/336528/das-wahljahr-2021/ | Am 26. September wird der Deutsche Bundestag zum 20. Mal gewählt. Die Bundestagswahl findet gleich in mehrfacher Hinsicht unter außergewöhnlichen Voraussetzungen statt und dürfte eine der spannendsten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland | [
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Spanien: Mit Grundsicherung soziale Not lindern | Coronavirus | bpb.de | Nach China und Italien wurde Spanien schnell zu einem Hotspot der Corona-Krise. Zwischen dem 1. März und dem 24. Mai starben im Land fast 43.749 Menschen mehr als sonst innerhalb dieser drei Monate. Das entspricht einer Steigerung von 46 Prozent. Darunter befanden sich 27.934 offizielle Corona-Todesopfer und 15.815 Fälle, bei denen ein Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infektion vermutet wird.
Besonders schockierend waren die Bilder von überlasteten Krankenhäusern, die nicht mehr in der Lage waren, alle medizinischen Notfälle aufzunehmen. Die Gesundheitsbehörde der Region Madrid sah sich gezwungen, zeitweise ein Alterslimit für die Aufnahme in Spitälern anzuordnen. Kranke Menschen, die älter als 75 Jahre alt waren, wurden nicht mehr aus Seniorenheimen ins Krankenhaus verlegt.
Während am internationalen Frauentag am 8. März noch rund 120.000 Menschen in der Hauptstadt demonstrierten, wandelte sich das Bild innerhalb einer Woche radikal. Am 13. März schlossen sämtliche Schulen. Regulären Unterricht wird es erst wieder im September geben. Am 14. März rief der sozialistische Premier Pedro Sánchez den Alarmzustand aus und verhängte eine strenge Ausgangssperre. Auch Sport im Freien oder Spaziergänge blieben zwei Monate lang verboten. Kinder unter 14 Jahren durften die Wohnung gar nicht verlassen.
Lockdown und Grenzschließungen treffen Spaniens stark vom Tourismus abhängige Wirtschaft besonders hart. Nach Schätzungen der OECD wird das spanische Bruttoinlandsprodukt durch die Corona-Krise um 11,1 Prozent sinken, im Falle einer zweiten Ansteckungswelle sogar um 14,4 Prozent. Um die bevorstehende soziale Not vieler Bürger zumindest zu lindern, beschloss die Regierungskoalition aus Sozialisten (PSOE) und Linkspartei Unidas Podemos (UP) im Mai die schnelle Einführung der ohnehin geplanten Grundsicherung.
Nach einem kurzen Burgfrieden sind inzwischen sowohl die konservative Opposition aus Volkspartei (PP), Liberalen (Ciudadanos) und Rechtsextremen (Vox) als auch die teilweise separatistischen Regionalparteien in Katalonien und im Baskenland wieder dazu übergegangen, die Minderheitsregierung unter Druck zu setzen, was die künftige Verwaltung der Krise für sie nicht einfacher machen wird.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2020-06-15T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/gesundheit/coronavirus/311444/spanien-mit-grundsicherung-soziale-not-lindern/ | Mit harten Lockdown-Maßnahmen reagierte Spanien auf den drastischen Anstieg von Corona-Fällen im März. Die Menschen durften ihre Wohnungen nur noch zum Einkaufen verlassen, Kinder unter 14 Jahren wochenlang gar nicht ins Freie. Tom Gebhardt, euro|top | [
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Dokumentation: Wahlbeobachtung: "Golos"-Bericht zu den Präsidentschaftswahlen am 18. März 2018 in Russland | Russland-Analysen | bpb.de | Der folgende Bericht der Bewegung zur Verteidigung der Wählerrechte "Golos" vom 19. März 2018 ist eine gekürzte deutschsprachige Fassung von Berichten, die auf golosinfo.org und epde.org kurz nach den Wahlen in russischer und englischer Sprache veröffentlicht wurden. Sie spiegeln die Stellungnahme der Wahlbeobachtungsorganisation und ihre Erfahrungen bei den russischen Präsidentschaftswahlen wider. Wir danken "Golos" für die exklusive Zusammenstellung dieses Berichts.
Die Redaktion der Russland-Analysen
Vorläufige Erklärung zu den Ergebnissen der Wahlbeobachtung bei den Präsidentschaftswahlen in Russland am 18. März 2018
Die Bewegung "Golos" hat bei den Präsidentschaftswahlen in der Russischen Föderation während aller Phasen des Wahlprozesses eine Langzeit- und eine Kurzzeitbeobachtung vorgenommen.
Am Wahltag sind über die Hotline des zentralen Callcenters über 6.000 Anrufe eingegangen. Auf der "Karte der Verstöße" sind während des gesamten Wahlprozesses 3.000 Meldungen eingegangen, davon 2.000 am Wahltag selbst.
In einer vorläufigen Bewertung der Präsidentschaftswahlen erklärt "Golos", dass wir uns ungeachtet der unstrittigen formalen Führung des siegreichen Kandidaten leider dazu genötigt sehen, die Wahlen als nicht tatsächlich fair anzuerkennen, nämlich nicht im vollen Umfang fair in jenem Sinne, den die Verfassung und die Gesetze der Russischen Föderation sowie die internationalen Standards für Wahlen vorgeben, weil das Wahlergebnis im Zuge eines nicht freien und ungleichen Wahlprozesses ohne Wettbewerb zustande gekommen ist. Wir können somit nicht feststellen, dass der tatsächliche Wählerwille in freier Wahl zum Ausdruck gekommen ist.
Die Fälle von Fälschung und die Verstöße gegen Verfahrensregeln, die festgestellt wurden, unter anderem bei der Stimmauszählung, erfordern eine weitere Untersuchung sowie eine detaillierte Analyse der Videoaufzeichnungen aus den Wahllokalen. Die Bewegung "Golos" hat damit am 19. März 2018 begonnen.
Konkrete Beispiele, die die Schlussfolgerungen von "Golos" illustrieren, sind [in russischer Sprache – Anm. d. Red.] in den Externer Link: Berichten und Stellungnahmen der Bewegung auf deren Website zu finden sowie in der "Externer Link: Chronik des Wahltages" und den Meldungen auf der "Externer Link: Karte der Verstöße".
Allgemeine Charakterisierung des Wahlgeschehens im Vorfeld des Wahltages
Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 in der Russischen Föderation war der Wettbewerb eingeschränkt. In vielerlei Hinsicht ist das auf die Beschränkungen des passiven Wahlrechts zurückzuführen und auf die Art und Weise, wie in den Medien über die Wahlen berichtet wurde.Angesichts des fehlenden Wettbewerbs und als Reaktion auf die Boykottkampagne erfolgte eine künstliche Mobilisierung der vom öffentlichen Dienst abhängigen Teile der Wählerschaft, bei der verschiedene Instrumente zum Einsatz kamen. Eine weitere Besonderheit der Wahlen war die breite Beteiligung Minderjähriger, sowohl bei der Mobilisierung von Wählern, als auch unmittelbar im politischen Wahlkampf.Gleichzeitig ist die positive Rolle der Wahlkommissionen zu erwähnen, die die Bürger besser darüber informiert hat, welche möglichen Formen der Beteiligung an der Wahl bestehen.Die Arbeit der Medien, von denen sich ein beträchtlicher Teil in unterschiedlichem Maße unter der Kontrolle des Staates befindet, war durch eine manipulative und tendenziöse Berichterstattung über die Kandidaten gekennzeichnet, wodurch die Bürger daraus keine objektiven und wahrheitsgemäßen Informationen über die Kandidaten beziehen konnten. Einen erheblichen Einfluss auf den Wählerwillen hatte die Tätigkeit des amtierenden Präsidenten während der Wahlkampagne, die sich aus seiner Amtsstellung ergab und von der in den Medien breit berichtet wurde.Es lässt sich feststellen, dass das System der Wahlkommissionen im Vergleich zu den vorherigen Präsidentschaftswahlen sehr viel offener war. Insgesamt haben sich die Beziehungen zur Gemeinschaft der Wahlbeobachter verbessert, auch am Wahltag selbst.Die Zentrale Wahlkommission Russlands hat Personen, die an ihrem Aufenthaltsort und nicht am Wohnsitz wählen wollten, bequemere Bedingungen zur Stimmabgabe geschaffen. Dieses System ist allerdings immer noch unvollkommen und die Möglichkeiten eines Missbrauchs durch die Verwaltung sind noch nicht beseitigt worden.Im Vorfeld des Wahltages hat sich der Druck des Staates auf zivilgesellschaftliche Aktivisten und unabhängige Wahlbeobachter verstärkt. Dies äußerte sich durch Versuche, die Arbeit unabhängiger Wahlbeobachter bei der Organisation eines Callcenters zu verhindern, sie politisch zu verfolgen und mithilfe "schwarzer PR" Diskreditierungsmaßnahmen gegen sie einzusetzen. Durch das Eingreifen der Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission am Vorabend des Wahltages konnte der Druck auf die Bewegung "Golos" allerdings auf ein Minimum reduziert werden.Es wurden viele Fälle festgestellt, in denen auf Wahlberechtigte Druck ausgeübt wurde, die dazu aufgerufen hatten, von ihrem Recht auf Nichtteilnahme an den Wahlen Gebrauch zu machen.
Vorläufige Ergebnisse der Beobachtung am Wahltag
Das neue Verfahren der Stimmabgabe am Aufenthaltsort wurde ebenso dazu ausgenutzt, Wahlberechtigte zur Stimmabgabe zu nötigen. Die Bildung von Warteschlangen, der organisierte Transport von Wählern zur Stimmabgabe und Kontrollmaßnahmen zur Wahlteilnahmen konnten beobachtet werden. Insbesondere in bestimmten Wahllokalen, die in der Nähe oder auf dem Gelände von Studentenwohnheimen, Hochschulen und großen Unternehmen lagen, war die innerregionale "Migration" von Wählern erheblich stärker als die interregionale (Externer Link: siehe die Express-Analyse). Insgesamt haben rund 5,7 Millionen Wähler einen Antrag auf Stimmabgabe am Aufenthaltsort gestellt. Das Ausmaß der interregionalen "Migration" betrug vermutlich kaum mehr als eine Million Wähler, die innerregionale Migration kann also auf über 4,5 Millionen geschätzt werden. Insgesamt wurden rund 30 Prozent der sogenannten Wahlmigranten (1.664.475 Wähler) in rund 5 Prozent (4.821 von rund 96.000) der Wahllokale registriert, denen 200 oder mehr Wähler zugeordnet werden konnten. Bei den Vorbereitungsmaßnahmen für den Wahltag wurden durch die Wahlkommissionen rund zwei Millionen Personen aus den Wählerverzeichnissen gestrichen, unter anderem auch "doppelte Wähler" und "tote Seelen". In einigen Regionen sind durch diese Bereinigung auch reale Wähler aus den Verzeichnissen entfernt worden. In den meisten Regionen ist die Zahl der Wahlberechtigten zwischen Beginn und Ende der Stimmabgabe beträchtlich gestiegen: von um 2,1 Prozent (Nordossetien – Alanien) bis um 3,1 Prozent im Moskauer Gebiet und in St. Petersburg. Dadurch ist die Anzahl der Personen im Wählerverzeichnis im Laufe des Wahltages um fast anderthalb Millionen gestiegen.
Es sind Fälle festgestellt worden, in denen 1) Verzeichnisse der Wähler, die eine Stimmabgabe am Aufenthaltsort beantragt hatten, nicht broschiert wurden; 2) die gesetzlich vorgeschriebenen Vermerke in Wählerverzeichnissen fehlten; 3) Wahlkommissionen der Wahllokale am 18. März ohne rechtliche Grundlage Personen die Stimmabgabe erlaubten, die nur vorübergehend dort gemeldet waren, sowie Personen, die nicht in den zusätzlichen Wählerverzeichnissen geführt waren.
Positiv ist zu bewerten, dass der Anteil der Stimmabgaben außerhalb des Wahllokals (die sogenannte Stimmabgabe zuhause) im Vergleich zu den vorherigen Präsidentschaftswahlen von 8,2 auf 6,6 Prozent zurückgegangen ist. Dennoch sind durch Wahlbeobachter Fälle festgestellt worden, in denen Wahlkommissionen Wahlberechtigte besuchten, die keine Stimmabgabe zuhause beantragt hatten oder zwar einen Antrag gestellt, jedoch keinen Besuch der Wahlkommission aus dem Wahllokal erhalten hatten.
Am Vorabend des Wahltages fanden Wahlbeobachter heraus, dass in einigen Regionen in den gedruckten Versionen der Arbeitshefte der Wahlkommissionen in den Wahllokalen ein Verbot formuliert war, dem zufolge Kommissionsmitgliedern mit beratender Stimme Foto- und Videoaufnahmen untersagt sind. Positiv ist zu vermerken, dass die Zentrale Wahlkommission zügig auf dieses Problem reagiert hat und entsprechende Erläuterungen gab. Aus Moskau, den Regionen Krasnodar und Chabarowsk, aus Baschkortostan, Dagestan, Karatschajewo-Tscherkessien, dem Moskauer Gebiet und den Gebieten Kemerowo und Nischnij Nowgorod sind Meldungen eingegangen, dass Wahlbeobachtern und Kommissionsmitgliedern mit beratender Stimme, die von Parteien oder Kandidaten entsandt worden waren, der Zutritt verweigert wurde.
Videobeobachter berichteten von Problemen bei der Einrichtung einer Videoübertragung aus dem Wahllokal. Die Nummern der Wahllokale, in denen Videokameras installiert werden sollten, sind nicht im Voraus bekannt gegeben worden. Wahlbeobachter berichteten von zahlreichen Fällen, in denen Kameras so ungünstig platziert waren, dass man die Geschehnisse im Wahllokal nicht tatsächlich mitverfolgen konnte (die Wahlurnen waren schlecht zu sehen). In einigen Wahllokalen versuchten Mitglieder der Wahlkommission, die Möglichkeiten der Videokontrolle bewusst zu verschlechtern, indem die Sicht der Kamera mit anderen Gegenständen versperrt wurde, unter anderem auch bei der Stimmauszählung.
Aus verschiedenen Regionen ist ein stapelweiser Einwurf von Stimmzetteln gemeldet worden (was zum Teil auf Video festgehalten wurde) und Fälle, in denen eine Stimmabgabe durch andere Personen erfolgte.
Positiv ist zu bewerten, dass sich im Vergleich zu den vorherigen Präsidentschaftswahlen einige Daten der Wahlbeteiligung, die bei Wahlbeobachtern ernste Zweifel auslösen, verringert haben. Dabei haben vorläufige Ergebnisse der videogestützten Feststellung der Wahlbeteiligung in einer Reihe Regionen (u. a. in Dagestan, Tatarstan, im Gebiet Tjumen und in Tschetschenien) ernste Abweichungen von den offiziellen Zahlen zu Tage gefördert.
Die verschiedenen Verfahrensverstöße werden durchschnittlich in weniger als 5 Prozent der Fragebögen genannt, die Wahlbeobachter aus ganz Russland eingesandt haben. Allerdings ist der gesamtrussische Wert bei drei Verfahrensschritten und Gesetzesvorschriften recht hoch ausgefallen. Bei folgenden Verstößen liegt der Anteil bei über 5 Prozent:
Einschränkungen für Wahlbeobachter, sich im Wahllokal bewegen zu können (5,7 Prozent);Nichteinhaltung der Abfolge der Verfahrensschritte bei der Stimmauszählung (12,0 Prozent);Bei der Stimmauszählung erfolgten unterschiedliche Schritte gleichzeitig (12,2 Prozent).
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2018-03-27T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-351/266909/dokumentation-wahlbeobachtung-golos-bericht-zu-den-praesidentschaftswahlen-am-18-maerz-2018-in-russland/ | Die Wahlbeobachtungsorganisation "Golos" stellt in ihrem Bericht vom 19. März 2018 fest, dass bei der Präsidentschaftswahl der tatsächliche Wählerwille nicht in freier Wahl zum Ausdruck gekommen ist. Darauf deutete schon das Geschehen im Vorfeld der | [
"Präsidentschaftswahl 2018; Russland; Wahlbeobachtung"
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Wehrpflicht und Zivildienst - Bestandteile der politischen Kultur? | Wehrpflicht und Zivildienst | bpb.de | Einleitung
Der Vorstoß des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, angesichts der Haushaltslage auch die Wehrpflicht auf den Prüfstand zu stellen, entfachte nicht nur erneut die ohnehin schwelende Debatte, sondern führte letztlich auch zur Aussetzung der Wehrpflicht. Dabei ist über die Frage ihrer Beibehaltung oder Aussetzung in Deutschland - im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern - überaus lange und mit außergewöhnlicher Emotionalität debattiert worden. Während die einen mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem veränderten Aufgabenspektrum die Wehrpflicht als obsolet betrachteten, betonten ihre Befürworter vor allem die Aufwuchsfähigkeit und damit verbundene sicherheitspolitische Flexibilität, das breitere Rekrutierungspotenzial gleichfalls als Basis für Längerdienende sowie die bessere Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft.
In Europa zeigen sich gegenwärtig zwei Phänomene: Zum einen sind ein Ende der Massenarmeen und ein klarer Trend zu Freiwilligenarmeen festzustellen. Aus dem Kreis der NATO- und EU-Mitgliedsstaaten verfügt die Mehrheit mittlerweile über Freiwilligenstreitkräfte. Andererseits gibt es aber auch Länder, die weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, wie die Schweiz, Österreich oder ein Großteil der skandinavischen Staaten. Und auch in Deutschland galt die Wehrpflicht bis vor Kurzem - insbesondere bei vielen seiner politischen Akteure - als unantastbar, obwohl die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Einsätzen eine Professionalisierung der deutschen Streitkräfte schon seit Langem rational erscheinen ließ. Wie erklären sich diese unterschiedlichen Einstellungs- und Verhaltensmuster in Europa? Was lässt die europäischen Staaten - durch weitgehend gleiche strukturelle Rahmenbedingungen gekennzeichnet - so verschieden agieren?
Als Untersuchungsansatz dient die politische und speziell die politisch-militärische Kultur. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier nicht materielle oder strukturelle, sondern ideelle Faktoren. Wie wurden historische Erfahrungen von politischen Akteuren aufgearbeitet? Welche politisch-militärischen Traditionen, Normen und Orientierungen prägen die Bundesrepublik? Und inwieweit kann - so die Leitfrage - die Wehrpflicht als Bestandteil der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden? Zum Begriff der politischen Kultur
Allgemein formuliert bedeutet politische Kultur die subjektive Dimension der gesellschaftlichen Grundlagen politischer Systeme. Ein einheitliches, verbindliches Konzept existiert jedoch nicht. In treffender Weise beschreibt es Max Kaase in seiner viel zitierten Metapher, wonach die Definition politischer Kultur den Versuch darstelle, "einen Pudding an die Wand zu nageln". Den Terminus "politische Kultur" prägte im Jahr 1956 der US-amerikanische Politologe Gabriel A. Almond als "a particular pattern of orientations to political action". In dieser ersten Phase der politischen Kulturforschung standen Meinungen, Einstellungen und Werte gegenüber dem politischen System, seinen Institutionen und Aktionen im Mittelpunkt: Was wissen die Bürgerinnen und Bürger von ihrem Staat und seinen Institutionen, wie denken sie, was empfinden sie? - ein empirisches Phänomen, das die Politikwissenschaft bis dahin noch nicht systematisch untersucht hatte. Der empirische Ansatz hat die politische Kulturforschung in erheblichem Maße geprägt und dominiert diese noch heute.
In einer zweiten Phase der politischen Kulturforschung wurde der Definitionsbereich erweitert. Das Verständnis von politischer Kultur wurde auf historische Erfahrungen, politisch gewachsene Traditionen und die Identität einer Nation ausgedehnt. Traditionsbestände und historische Eigenheiten von Nationen spiegeln sich dabei in Phänomenen der Gegenwart wider, sie gehen über empirische Umfrageergebnisse hinaus und prägen politisches Denken und Handeln.
Zunehmend gewinnt - als ein weiterer Wesensgehalt politischer Kultur - der normative Aspekt an Bedeutung. In diesem Kontext stehen Verfassungsnormen und institutionelle Strukturen im Mittelpunkt der Betrachtung. So ist politische Kultur einmal sichtbar in den Einstellungen der Bürger gegenüber dem politischen System und seinen Institutionen, andererseits zeigt sich politische Kultur aber auch im politischen System und in seiner konstitutionellen Ordnung selbst. In ihnen spiegeln sich Werthaltungen und charakteristische Verhaltensmuster wider.
Der Begriff der politischen Kultur hat sich auf diese Weise sehr schnell von seinem ursprünglichen Ansatz gelöst, sich stark erweitert und ist inzwischen durch eine große Vielfalt geprägt. Heute enthält der Begriff empirische, historische und normative Aspekte. Dem wird die Definition von Karl Rohe gerecht, wonach politische Kultur verstanden werden kann als "in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit eingelassene Ideen, die Politikhorizonte abstecken, Sinnbezüge stiften und von ihren jeweiligen gesellschaftlichen Trägern als Maßstäbe zur Auswahl, Organisation, Interpretation, Sinngebung und Beurteilung politischer Phänomene benutzt werden".
Entsprechend diesen Definitionen ist politische Kultur nicht mit politischem Verhalten gleichzusetzen, sie erklärt aber politisches Verhalten. Zwischen ihnen bestehen enge kausale Beziehungen: Zum einen hilft politische Kultur, grundlegende Politikziele und politische Interessen zu definieren. In diesem Sinne werden Interessen nicht als exogen vorgegeben, sondern als endogen ausgebildete Phänomene betrachtet. Zum anderen prägt politische Kultur die Wahrnehmung der äußeren Umgebung und determiniert, wie bestimmte Situationen und Gegebenheiten die Akteure beeinflussen, von diesen beachtet und interpretiert werden. Darüber hinaus begrenzt politische Kultur die Perzeption von Handlungsoptionen. Durch kulturelle Normen werden bestimmte Verhaltensweisen von vornherein ausgeschlossen. Auch wird die Auswahl der Handlungsoptionen davon mitbestimmt, welche Instrumente und Verfahren als akzeptabel, angemessen und legitim erachtet werden.
Inzwischen haben sich politische Kulturansätze auch auf internationaler Ebene etabliert. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der "konstruktivistischen Wende" fanden Schlüsselbegriffe wie Identitäten, Normen und (politische) Kultur verstärkt Eingang in die Internationalen Beziehungen. In diesem Feld stehen verschiedene Modelle zur Verfügung. Diese unterschiedlichen Ansätze und Begriffe reichen von "strategischer Kultur" über "Organisationskultur", "politisch-militärischer Kultur", "außenpolitischer Kultur" bis hin zu "nationaler Sicherheitskultur" und "sicherheitspolitischer Kultur". Allen Modellen gemeinsam ist ihr sozialkonstruktivistischer Ansatz, der die Bedeutung von Kultur, Identität, Werten und Normen für politisches Handeln hervorhebt. In diesem Sinne verstehen sich alle genannten Ansätze als eine Teilmenge der politischen Kultur, inhaltlich bezogen auf den Kontext von Krieg und Militär beziehungsweise weiter gefasst auf die Gesamtheit der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In diesem Beitrag wird der Begriff der politisch-militärischen Kultur verwendet. Im Fokus des Interesses stehen - bezogen auf die Wehrpflicht - politisch-militärische Traditionsbestände, Normen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie entsprechende Orientierungsmuster in der Bevölkerung. Politisch-militärische Traditionsbestände
Jede politische Kultur fußt auf Traditionsbeständen. Für die Bundesrepublik Deutschland treten hier allerdings Schwierigkeiten auf, denn alle vorangegangenen Epochen - Preußen und die Kaiserzeit, die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus - dienen heute nicht der nationalen Identifikation. Politische Tradition in Deutschland ist nicht durch eine relative Stabilität und Kontinuität gekennzeichnet, sondern durch Umbrüche, Verwerfungen und historische Einschnitte geprägt worden.
Zu einer wesentlichen Traditionslinie der deutschen politischen Kultur vor 1945 gehörte die militaristische Orientierung: "Die Deutschen hatten ein Faible für alles Militärische." Diese Tradition begründete sich aus der Geschichte Preußens. Die erreichte Größe und Macht verdankte Preußen seiner Armee. So verband sich die nationale Identität mit dem Stolz auf das Militär. Dieses wurde in Preußen zur Schule der Nation und der Offizier zum gesellschaftlichen Leitbild.
Die Zeit der Weimarer Republik steht dagegen für die negative Entwicklung der Armee zum Staat im Staate, das heißt für die Abkopplung des Militärs von der Republik und seiner Verfassung, verbunden mit der Mitverantwortung der Reichswehr an der Machtübernahme Hitlers. Dieser militärische Traditionsbruch war in erster Linie in einem Loyalitätsproblem begründet. Während das Offizierskorps in Preußen emotional und vernunftmäßig hinter dem Reich und dem Kaiser und damit der gesamten Staatsordnung stand, war das Offizierskorps in der Reichswehr noch stark monarchistisch geprägt und der Republik und seiner Verfassung gegenüber eher gleichgültig eingestellt.
Der tiefe historische Einschnitt, der die politische und speziell auch die politisch-militärische Kultur in der Bundesrepublik nachhaltig prägte, war der Nationalsozialismus. Die Bundesrepublik konnte sich als politisches Gemeinwesen nur etablieren, wenn sie von ihren politischen Traditionen, die zu diesem Desaster geführt hatten, abrückte. In der Folge wurden nationalistische, militaristische und antidemokratische Traditionen bewusst unterdrückt. Normen der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Vor dem Hintergrund dieser politisch-militärischen Traditionslinien, insbesondere der historischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, entwickelte sich nach 1945 in der Bundesrepublik eine Politik der Zurückhaltung. Diese stützte sich auf drei handlungsleitende Normen der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Antimilitarismus, Multilateralismus sowie Integration und Westbindung. Mit der Norm des Antimilitarismus verbunden war der friedensethisch motivierte Appell "Nie wieder Krieg!" Das bedeutete eine Skepsis gegenüber militärischer Macht und der Anwendung militärischer Mittel in der Politik. Militär als ein Instrument der Außenpolitik wurde zumindest bis 1990 kategorisch abgelehnt. Damit verbunden war der ausschließliche Defensivcharakter der deutschen Streitkräfte. Mit dem Multilateralismus und der damit eng verbundenen europäischen Integration und Westorientierung wurden außenpolitisch verschiedene Ziele verfolgt: Einmal wurden auf diese Weise deutsche Sonderwege und Alleingänge verhindert. Die Bundesrepublik wurde in die westeuropäische und transatlantische Gemeinschaft aufgenommen. Zum anderen führte die europäische Integration nicht nur zur Überwindung des Nationalismus und antidemokratischer Strukturen, sondern gab der Bundesrepublik nach ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus auch die Chance einer neuen nationalen beziehungsweise europäischen Identität.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahren gerieten diese Normen unter Anpassungsdruck. In der Folge lässt sich ein "gestiegene(s), aber durchaus verantwortungsorientierte(s) und moderate(s) Selbstbewusstsein" erkennen. Deutschland übernimmt inzwischen eine größere regionale und globale Verantwortung. Damit hat sich die außen- und sicherheitspolitische Kultur um eine neue Komponente erweitert. Die oben identifizierten Grundlagen und Normen bestehen aber in wesentlichen Aspekten weiter fort. Die Bedeutung des Multilateralismus und der europäischen Integration ist unverändert geblieben. Letztlich zeugt davon auch die "jeden Sonderweg vermeidende deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 mit dem ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr". Dabei wird die Bündnissolidarität mit dem Argument der gestiegenen Verantwortung Deutschlands verknüpft. In dieser Konstellation tritt dann allerdings die Norm des Multilateralismus in Konkurrenz zu der des Antimilitarismus. Dieses Spannungsverhältnis wird gelöst durch eine zunehmende Verschiebung der Handlungsaufforderung von "Nie wieder Krieg!" zu "Nie wieder Auschwitz!", verbunden mit dem Anspruch, Aggressoren deutlich entgegenzutreten. Dennoch ist die grundsätzliche Skepsis gegenüber militärischen Mitteln in der Politik im Kern geblieben. Dies zeigte sich nicht nur an der deutschen Position zum Irakkrieg. Insbesondere die ambivalente Haltung zum Libyeneinsatz symbolisiert in idealtypischer Weise das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Normen. So lassen sich zwar deutliche Akzentverschiebungen, nicht aber substanzielle Veränderungen bezüglich der Normen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik feststellen. Wehrpflicht und politisch-militärische Kultur
Wie prägen nun diese politisch-militärischen Traditionen und Normen der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Bundeswehr, und in welcher Beziehung stehen sie zur Wehrpflicht? Die historischen Erfahrungen insbesondere mit dem Nationalsozialismus und die darauf basierende Norm des Antimilitarismus prägten in erheblichem Maße die Diskussionen um die deutsche Wiederbewaffnung. Gegen die ablehnende Haltung der Bevölkerung wurde die Aufstellung der Bundeswehr beschlossen. Sie war das Ergebnis der sicherheitspolitischen Lage Deutschlands als "Frontstaat" im Ost-West-Konflikt und auf die Einbindung in die NATO zugeschnitten, womit ein deutscher Alleingang verhindert werden sollte. Im Hinblick auf die Ausgestaltung und die innere Struktur der Bundeswehr orientierte man sich stark an den historischen Erfahrungen und den daraus resultierenden Normen. Im Mittelpunkt standen zwei Konzepte, die insbesondere auf das zivil-militärische Verhältnis zielten: die Innere Führung und die allgemeine Wehrpflicht.
Die Innere Führung sollte zu einer Demokratisierung der Streitkräfte beitragen. Sie orientiert sich an den verfassungsrechtlich verankerten Normen einer demokratischen Gesellschaft. Das enthält Aspekte wie die verfassungsrechtliche Einbindung der Streitkräfte, das Primat der Politik, Menschenführung sowie Rechte und Pflichten der Soldaten. Im Fokus steht die demokratische und zivile Kontrolle des Militärs. So können die einzelnen Elemente im Konzept der Inneren Führung als eine klare Distanzierung zu früheren zivil-militärischen Verhältnissen in Deutschland betrachtet werden.
Mit der allgemeinen Wehrpflicht sollte der personelle Bedarf gedeckt und die Loyalität der gesamten Bevölkerung zu den Streitkräften sichergestellt werden. In diesem Zusammenhang wird häufig der frühere Bundespräsident Theodor Heuss zitiert, der in der Wehrpflicht das "legitime Kind der Demokratie" sah. Historisch verweist man auf die Reformer der preußischen Militär-Reorganisationskommission - namentlich vor allem auf Gerhard von Scharnhorst, Hermann von Boyen und August Neidhardt von Gneisenau - die aus einem sozietären, liberalen Staats- und Gesellschaftsverständnis heraus ein bürgerlich verfasstes Militär, die Integration der Bürger in diese Institution und eine bürgerliche Machtteilhabe forderten. In diesem Kontext steht auch das von Lazare Nicolas Marguérite Carnot stammende und in deutscher Fassung in Verbindung mit Scharnhorst gebrauchte Zitat "Jeder Bewohner des Landes ist der geborene Verteidiger desselben." "Bürger in Uniform" beziehungsweise "Bürger in Waffen" waren dabei die Synonyme der preußischen Reformzeit. Dieser Leitgedanke der preußischen Heeresreform stellt auch heute noch eine wesentliche Traditionslinie der Bundeswehr dar. So heißt es beispielsweise im sogenannten Traditionserlass der Bundeswehr: "Für die Traditionsbildung in den Streitkräften ist von Bedeutung, dass die Bundeswehr die erste Wehrpflichtarmee in einem demokratischen deutschen Staatswesen ist."
Als eine weitere Argumentationslinie für die Wehrpflicht stehen die Erfahrungen der Weimarer Republik. So könne eine Berufsarmee zu einem Staat im Staate führen und zu Putschversuchen missbraucht werden. Aus dieser Negativtradition heraus gilt die Wehrpflicht als das geeignete Mittel, ein Eigenleben der Armee zu verhindern und die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft zu gewährleisten. Schon seit Beginn des Bestehens der Bundeswehr ist die Wehrpflicht mit diesem Argument gesellschaftlich begründet worden.
Gegenwärtig dominieren in Europa Einsätze von Streitkräften im Rahmen der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Da nur Freiwillige zu diesen internationalen Einsätzen herangezogen werden (können), steht die Wehrpflicht auch für den Defensivcharakter der Streitkräfte. Das entspricht zwar der deutschen Norm des Antimilitarismus und der Politik der Zurückhaltung, begrenzt auf der anderen Seite aber auch die Kapazitäten im Rahmen der gemeinsamen europäischen und transatlantischen Außen- und Sicherheitspolitik - ein wesentlicher Grund, warum andere europäische Staaten die Wehrpflicht längst abgeschafft beziehungsweise ausgesetzt haben, und auch ein Grund, warum Deutschland zum 1. Juli 2011 die Wehrpflicht aussetzte. So trafen mit der gestiegenen regionalen und globalen Verantwortung Deutschlands zwei Normen deutscher Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufeinander, die im Widerspruch zueinander standen und nicht mehr miteinander zu vereinbaren waren. Dass das identitätsstiftende Moment der Wehrpflicht noch immer in gewisser Weise aufrechterhalten wird, zeigt sich beispielsweise in den jüngsten verteidigungspolitischen Richtlinien. Obwohl diese - am 27. Mai 2011 erlassen - schon vor dem Hintergrund der Aussetzung der Wehrpflicht stehen, heißt es dort zum Selbstverständnis der Bundeswehr: "Die Bundeswehr wird mit der Aussetzung der Verpflichtung zum Grundwehrdienst ganz zu einer Armee von Freiwilligen. Die Prinzipien der Inneren Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform bestehen unverändert fort." Orientierungsmuster in der Bevölkerung
Die der Wehrpflicht zugrunde liegenden politisch-militärischen Traditionen und Normen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik finden sich auch im Denken und Empfinden der Bürger wieder. Neben einer grundsätzlich hohen Akzeptanz der Bundeswehr in der Bevölkerung - je Betrachtungsjahr zwischen 80 und 88 Prozent - ist auch hier eine gewisse Skepsis gegenüber militärischen Mitteln in der Politik - auch wenn diese kein Tabu mehr darstellen - erkennbar. So spricht sich noch immer weniger als die Hälfte der Deutschen - je nach Betrachtungsjahr zwischen 32 und 45 Prozent - für eine aktive Außen- und Sicherheitspolitik aus. Diese favorisieren dann auch eher gewaltfreie Formen der Unterstützung: medizinische Hilfe durch zivile Organisationen (97 Prozent), Lieferung von Nahrungsmitteln und sonstigen Hilfsgütern (97 Prozent) sowie technische Hilfe durch zivile Organisationen (97 Prozent) oder die Bundeswehr (95 Prozent). Friedenssichernde Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von Missionen der Vereinten Nationen finden in diesem Kontext einen deutlich höheren Zuspruch (91 Prozent) als friedenserzwingende Einsätze zum Beispiel durch Entsendung von Kampftruppen (44 Prozent).
Auch in den Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung zur allgemeinen Wehrpflicht lassen sich übereinstimmende Positionen aufzeigen. Die allgemeine Wehrpflicht stieß konstant - von 1997 bis 2010 - bei einer großen Mehrheit - je Betrachtungsjahr zwischen 68 und 80 Prozent - auf Zustimmung. Im Hinblick auf die beiden Alternativen Beibehaltung oder Abschaffung der Wehrpflicht sprachen sich in den vergangenen Jahren (bis 2009) zwei von drei Bundesbürgern für die Wehrpflicht aus. Zivildienst und politisch-militärische Kultur
Eine komplementäre Konsequenz einer demokratischen Legitimation von Streitkräften bildet insbesondere das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Gegründet auf historische Erfahrungen im Nationalsozialismus und der sich daraus ableitenden Norm des Antimilitarismus ist dieses Recht auch verfassungsrechtlich - schon vor und unabhängig von der Einführung der Wehrpflicht - verankert worden. So heißt es bereits an vorderer Stelle im Grundgesetz, in Artikel 4, Absatz 3: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Es gehört damit zu den Grundrechten der Bundesrepublik Deutschland.
Der Zivildienst (beziehungsweise zivile Ersatzdienst), der, gekoppelt an den Wehrdienst, sich aus diesem Recht auf Kriegsdienstverweigerung ableitet, genoss in der Bundesrepublik ein hohes Ansehen. Er galt schon lange nicht mehr nur als Ausnahme von der Regel, sondern etablierte sich zu einem anerkannten und wichtigen Gesellschaftsdienst. Er wurde zu einer wesentlichen Stütze im sozialen Bereich. 1998 haben erstmalig mehr Wehrpflichtige (über 170000) den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst geleistet als zur Bundeswehr eingezogen wurden. Diese Zahlen der Kriegsdienstverweigerung lassen sich nicht allein auf den Antimilitarismus und Pazifismus zurückführen. Der Zivildienst hat sich letztlich von seinen Ursprüngen gelöst und zu einer eigenständigen Institution entwickelt. So bestand auch eine zentrale Argumentationslinie für die Beibehaltung der Wehrpflicht darin, den Zivildienst nicht aufgeben zu wollen.
Dies spiegelt sich auch im Meinungsbild der Bevölkerung wider. Danach wird nicht nur der Wehrdienst, sondern auch der Zivildienst in der Bundesrepublik als wichtig angesehen. Zwei Drittel der Bevölkerung bewerten Wehrdienst und Zivildienst als gleichermaßen wichtig. Das verbleibende Drittel favorisiert jeweils zu gleichen Anteilen den Wehr- beziehungsweise Zivildienst.
Im Hinblick auf das Rekrutierungssystem erhielt - bei Vorliegen verschiedener Optionen - die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, bei der zwischen Wehrdienst und anderen Diensten für die Gesellschaft gewählt werden kann, die höchste Zustimmung (mit 48 Prozent im Jahr 2003 beziehungsweise 57 Prozent im Jahr 2005). Bei der von der Bevölkerung favorisierten Option einer allgemeinen Dienstpflicht wären beide Teilbereiche - die Wehrpflichtkomponente wie auch in angepasster Form der Zivildienst - erhalten geblieben. Dieser Variante standen jedoch starke Ressentiments seitens der politischen Akteure gegenüber. Hier existierten sowohl Bedenken vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte als auch im Hinblick auf deutsche Sonderwege, denn eine derartige Regelung wäre einmalig in Europa gewesen. Fazit und Ausblick
Zusammenfassend betrachtet lassen sich mit dem Ende des Kalten Krieges in der Bundesrepublik kontrastierende Traditionslinien innerhalb der politisch-militärischen Kultur ausmachen, die zu einem Abwägen ihrer identitätsstiftenden Elemente führten - Antimilitarismus und Wehrpflicht auf der einen, Multilateralismus sowie europäische und transatlantische Bindung auf der anderen Seite. Dies erklärt auch in einem hohen Maße die Dauer, Intensität und Emotionalität der deutschen Debatten um die Wehrpflicht, bei der letztlich die Wehrpflichttradition zugunsten einer multilateralen, militärisch aktiven Außen- und Sicherheitspolitik aufgegeben wurde.
Gleichfalls steht die gegenwärtige Phase der Umstellung der europäischen Rekrutierungssysteme auf Freiwilligenstreitkräfte im Kontext gesamtgesellschaftlicher Veränderungen. Stand historisch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in einem engen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Nationenbildung, tritt nun ein neues, die Souveränität des Nationalstaates schwächendes Gesellschaftsmodell in Erscheinung. Europa wird zunehmend durch Tendenzen der Globalisierung geprägt. Das zeigt sich auch in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mittlerweile dominieren ein weit gefasster Verteidigungsbegriff sowie eine globale sicherheitspolitische Ausrichtung, womit auch nationale Elemente wie die Wehrpflicht zurückgedrängt werden. Hinzu kommt der Wertewandel in der Gesellschaft, geprägt durch die Betonung individualistischer Werte, der neue Formen der aktiven Partizipation erfordert. Pflichtdienste wie die Wehrpflicht laufen dieser Entwicklung zuwider.
Ziel muss es sein, individuelle Rechte mit der Verantwortlichkeit des Individuums für die Gemeinschaft ins Gleichgewicht zu bringen. Dies kann durch ein verstärktes freiwilliges bürgerschaftliches Engagement erreicht werden. Ein solcher Freiwilligendienst kann einerseits der Persönlichkeitsentwicklung und Qualifizierung Jugendlicher sowie als Übergang und Orientierung in der Lebensphase zwischen Schule und Arbeitsmarkt dienen. Andererseits kann er dem Gemeinwohl zugute kommen und Jugendliche zu aktiven Bürgern erziehen. Vor diesem Hintergrund könnte die Zivildiensttradition - in angepasster Form - weiter aufrechterhalten werden. So waren auch die jüngsten Beschlüsse zur Aussetzung der Wehrpflicht in Europa häufig mit konkreten Bemühungen der jeweiligen Regierungen beziehungsweise Verteidigungsministerien verbunden, ein gesellschaftliches Pendant zu schaffen (zum Beispiel in Frankreich, den Niederlanden oder Belgien). Diese offerieren dann auch die Möglichkeit eines Engagements im militärischen Bereich. Vieles spricht dafür, dass diese ersten Ansätze eines freiwilligen Gesellschaftsdienstes in Europa künftig ausgebaut und eine zunehmende Bedeutung erfahren werden. Der in Deutschland eingeführte Bundesfreiwilligendienst steuert in diese Richtung.
Dieser Beitrag beruht auf früheren Arbeiten der Autorin. Vgl. Ines-Jacqueline Werkner, Die Wehrpflicht - Teil der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland?, in: dies. (Hrsg.), Die Wehrpflicht und ihre Hintergründe. Sozialwissenschaftliche Beiträge zur aktuellen Debatte, Wiesbaden 2004; dies., Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee? Wehrstrukturentscheidungen im europäischen Vergleich, Frankfurt/M. 2006.
Vgl. Dirk Berg-Schlosser, Politische Kultur, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Pipers Wörterbuch zur Politik. Bd. 1: Politikwissenschaft. Theorien - Methoden - Begriffe, München 1989³.
Max Kaase, Sinn oder Unsinn des Konzepts "Politische Kultur" für die Vergleichende Politikwissenschaft, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: ders./Hans-Dieter Klingemann, Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1980, Opladen 1983, S. 144.
Gabriel A. Almond, Comparative Political Systems, in: The Journal of Politics, 18 (1956), S. 396. Als Pilotstudie zur politischen Kultur gilt Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963.
Vgl. Kurt Sontheimer, Deutschlands Politische Kultur, München-Zürich 1990, S. 10; Wolfgang Bergem, Tradition und Transformation. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Kultur in Deutschland, Opladen 1993, S. 27f.
Vgl. K. Sontheimer (Anm. 5), S. 22.
Karl Rohe, Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Niedermayer/Klaus von Beyme (Hrsg.), Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 3.
Vgl. John S. Duffield, World Power Forsaken. Political Culture, International Institutions, and German Security Policy after Unification, Stanford 1998, S. 26f.
Vgl. Jeffrey T. Checkel, The Constructivist Turn in International Relations Theory, in: World Politics, 50 (1998) 2, S. 324-348.
W. Bergem (Anm. 5), S. 95.
Vgl. Roland Roth, Auf dem Wege zur Bürgergesellschaft? Argumente und Thesen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, in: Gerd Koch (Hrsg.), Experiment: Politische Kultur. Berichte aus einem neuen gesellschaftlichen Alltag, Frankfurt/M. 1985, S. 15f.; W. Bergem (Anm. 5), S. 95ff.; Martin Greiffenhagen, Politische Tradition, in: ders./Sylvia Greiffenhagen (Hrsg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2002², S. 95ff.
Vgl. W. Bergem (Anm. 5), S. 334.
Vgl. Carl Hans Hermann, Deutsche Militärgeschichte. Eine Einführung, München 1979³, S. 373.
Vgl. K. Sontheimer (Anm. 5), S. 35.
Vgl. u.a. J.S. Duffield (Anm. 8), S. 60ff.; Hanns W. Maull, Außenpolitische Kultur, in: Karl-Rudolf Korte/Werner Weidenfeld, Deutschland-TrendBuch. Fakten und Orientierungen, Opladen 2001, S. 651ff.; Martin Florack, Kriegsbegründungen. Sicherheitspolitische Kultur in Deutschland nach dem Kalten Krieg, Magdeburg 2005, S. 45f.
H.W. Maull (Anm. 15), S. 655.
Wolfgang Bergem, Identität, in: M. Greiffenhagen/S. Greiffenhagen (Anm. 11), S. 196.
Vgl. M. Florack (Anm. 15), S. 50ff., S. 130ff.
Nur 38 Prozent der Befragten fanden den Aufbau einer deutschen Armee gut. Vgl. Bodo Harenberg (Hrsg.), Chronik des 20. Jahrhunderts, Dortmund 199313, S. 824.
Vgl. Thomas U. Berger, Norms, Identity, and National Security in Germany and Japan, in: Peter J. Katzenstein (ed.), The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, New York 1996, S. 334.
Zit. nach Eckardt Opitz, Allgemeine Wehrpflicht - ein Problemaufriß aus historischer Sicht, in: ders./Frank S. Rödiger (Hrsg.), Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte - Probleme - Perspektiven, Bremen 1994, S. 13.
Vgl. Detlef Bald, Wehrpflicht - Der Mythos vom legitimen Kind der Demokratie, in: E. Opitz/F. S. Rödiger (Anm. 21), S. 33.
Traditionserlass der Bundeswehr von 1982, Punkt 9, in: Der Bundesminister der Verteidigung, ZDv 10/1 Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr, Bonn 2008, Anlage 3.
Vgl. J.S. Duffield (Anm. 8), S. 168.
Der Bundesminister der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien, Berlin 2011, S. 19 (Hervorhebung I.-J. W.).
Vgl. die jährlichen Bevölkerungsumfragen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, insbesondere der Jahre 2003 bis 2010, online: www.sowi.bundeswehr.de (7.9.2011).
Vgl. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Bevölkerungsumfrage 2005. Repräsentative Befragung zum sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbild in Deutschland. Ergebnisbericht, Strausberg 2005, S. 15f. In jüngeren Umfragen ist der Fragenkatalog nach Instrumenten deutscher Außenpolitik nicht mehr enthalten.
Vgl. Ralf Zoll, Militär, in: M. Greiffenhagen/S. Greiffenhagen (Anm. 11), S. 267.
Vgl. ebd.
Vgl. ebd.
Vgl. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr (Anm. 27), S. 39. In jüngeren Umfragen ist diese Frage nicht mehr enthalten. In der Bevölkerungsumfrage von 2007 wurde diese Option auf "Männer und Frauen" erweitert und ist damit aus methodischen Gründen nicht verwertbar, zumal alle Bevölkerungsumfragen durchgängig einen Wehrdienst für Frauen mit großer Mehrheit ablehnen.
| Article | , Ines-Jacqueline Werkner | 2021-12-07T00:00:00 | 2012-01-25T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/59663/wehrpflicht-und-zivildienst-bestandteile-der-politischen-kultur/ | Über die Frage der Aussetzung der Wehrpflicht ist in Deutschland überaus lange und mit außergewöhnlicher Emotionalität debattiert worden. Zur Erklärung dieses Phänomens rekurriert der Beitrag auf den Faktor der politischen Kultur. | [
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Immigration and Integration Policy | Turkey | bpb.de | The Turkish Passport Law that outlines the conditions under which foreigners can obtain entry visas states that those who want to live in Turkey must enter the country legally. Additionally, some foreign citizens must possess an entry visa. However, until recently, citizens of more than 40 countries did not need to obtain a visa to enter the country, and nationals of more than 30 countries could obtain one at the border. Moreover, regardless of their continuing participation in irregular migration, citizens of Iran, Morocco, and Tunisia still enjoy three-month visa exemptions.
The major legal instrument that decides the residence and working status of foreigners in Turkey is the Turkish Law on Foreigners (Law No. 5683, dated 15 July 1950). It states that foreigners must apply for a residence permit that is issued by the local police department after a detailed investigation. There is also the Law on the Residence and Travel Activities of Foreigners (Law No. 7564), which regulates the conditions for the residency and settlement of foreigners. Frequently, a work permit or proof of sufficient financial resources is a prerequisite for a residence permit. In addition, the applicant must demonstrate hat he/she has no intention of disturbing public order in the country. Only after the fulfillment of these conditions may a residence permit be issued. It is valid for one year, then renewable for a period of three years and then again for a period of five years.
The new Law on Work Permits for Foreigners (Law No. 4817, dated 15 March 2003) is the most important legislative change regarding the economic activities of foreigners. The new Law nullified the discriminatory Law on Activities and Professions in Turkey Reserved for Turkish Citizens (Law No. 2007, dated 16 June 1932) that barred foreign citizens from practicing certain professions. The new Law reflects the attitude that work permits for foreigners be allocated on the basis of labor market demands, not nationality. It gives foreigners easier access to work in Turkey by allowing work permits to be issued to individuals rather than companies, and institutionalizes the process by making the Ministry of Labor and Social Security the only authority in charge.
Local authorities in some municipalities where migrant communities are clustered, such as Zeytinburnu in Istanbul, have begun to develop integration policies and practices towards migrants, but their impact has been rather negligible without backing from Ankara, the capital. At the national level, integration policy is not yet on the political agenda.
For more information on Turkey's visa requirements, see the official website of the Ministry of Foreign Affairs: Externer Link: http://www.mfa.gov.tr
See İçduygu (2007b).
| Article | Ahmet İçduygu, Deniz Sert | 2022-01-21T00:00:00 | 2012-01-25T00:00:00 | 2022-01-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/58651/immigration-and-integration-policy/ | Although Turkey has rather conservative policies on the permanent settlement of foreigners, migrants, asylum-seekers, and refugees, the visa system of the country has been somewhat liberal. | [
"Türkei",
"Turkey",
"Integration Policy",
"immigration policy",
"Integrationspolitik"
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India's pollution challenges | Indien | bpb.de | In May 2014, the World Health Organisation (WHO) ranked the Indian capital Delhi in a report as the most polluted city in the world in terms of air pollution, even above China's capital Beijing. A couple of months ago, another report from Yale University (an annual Environmental Performance Index which compares 132 countries drawn up by the Yale Centre of Environmental Law and Policy) had come to the same conclusion. According to the Central Pollution Control Board, the country's nodal regulator, Indian cities routinely exceed the norm for PM10 (particulate matter less than 10 microns), which is one of the key measures for air quality. The more dangerous PM 2.5 (less than 2.5 microns) is not as yet being measured in most cities.
However, it is not hard to see the air pollution with the naked eye. As one flies into Delhi, the smog is unmistakable, especially during the winter months when the air is heavy. On the ground itself, the roads are chock a block full of cars and two wheelers, often locked in slow moving traffic, which enhances toxic emissions. There are about 7.45 million vehicles in Delhi alone, a city of 17 million people. If one were to consider the larger urban area around the National Capital Region, the population would exceed 25 million.
High costs of environmental degradation
India is urbanizing and becoming polluted – fast. The whole country is undergoing a transition. Job opportunities and industrialization have resulted in 30 percent of its 1.2 billion population migrating from rural areas to cities according the government statistics, and the figure will exceed to 40 percent by the year 2030. Cities, the hubs of economic growth, contributed 58 percent of the total gross domestic product (GDP) in 2011, which will touch 70 percent by 2030. Labelled as "engines of economic growth" the question arises: Are the cities healthy places to live in?
Air pollution is not the only problem. Indian cities are overflowing with urban waste, both toxic as well as household, their rivers are polluted with sewage and industrial effluents, and there are several reports which show the contamination of fresh vegetables by heavy metals from dirty irrigation water. A 2013 World Bank report (Diagnostic Assessment of Select Environmental Challenges in India), puts the annual cost of environmental degradation in India at about 5.7 percent of India's 2009 GDP, with air pollution accounting for 1.7 percent of this and indoor air pollution 1.3 percent.
"Environmental pollution, degradation of natural resources, inadequate environmental services, such as poor quality water supply, lack of sanitation, impose severe costs to society in the form of ill health, lost income, and increased poverty and vulnerability," the report added. A significant portion of such diseases affects children younger than five years of age, attributing 22 percent of child mortality in the country to environmental degradation. These are significant impacts, and bring into question the effectiveness of the host of environmental policy and regulatory instruments, which have been in place in India since 1972.
Threats from climate change
Simultaneously, India faces serious threats from climate change. Even though its emissions of greenhouse gases (1.7 metric tonnes per capita annually) are a fraction of the United States (17 metric tonnes per capita annually), yet owing to its size, India is fourth on the list of emitters after China, the USA and the European Union. A governmental briefing paper accedes that "Climate change is impacting the natural ecosystems and is expected to have substantial adverse effects in India mainly on agriculture." 60 percent of the population still depends on rain fed agriculture for livelihood, which contributed over 19 percent of the total GDP in the year 2004/05 (April to March). Water storage in the Himalayan glaciers is the source of major rivers and groundwater recharge and uncertainty in water flows owing to climate change will have deep impacts.
Besides, India is already one of the most disaster-prone nations in the world. Many of its 1.2 billion people, especially the poorer communities, live in areas vulnerable to hazards such as floods, cyclones and droughts. It is estimated that a rise of just one meter in the sea level would put 7.1 million people at a risk of displacement. Climate change will impact India's food security, water security, cause health impacts, and make coastal population vulnerable.
The causes of climate change are mostly owing to the large amounts of fossil and coal based energy production, which also release toxics emissions like mercury, sulphur dioxide and other deadly chemicals. The use of local firewood and fodder for cooking by 80 percent of rural India and the practice of burning harvested crops on the fields to avoid clearing them before planting new crops, also releases high amounts of carbon. In cities, petroleum based vehicular fuels, add to the load of greenhouse gases. Much of the energy produced is essential, to provide for industry and domestic lighting. India still suffers severe energy shortages, with over 400 million people having no access to electricity and coal continues to be touted as the most cost effective solution to the problem. It is immediately evident that managing the environment is a challenge cutting across many sectors of the Indian economy.
Environmental crisis escalated with economic liberalization
India's environmental protection thrust started as early as 1972, when the then Prime Minister Indira Gandhi addressed the first United Nations Conference on Human Environment, held in Stockholm. This commitment soon translated into the Water (Prevention and Control of Pollution) Act 1974, under which an empowered regulatory infrastructure was set up. The Air (Prevention and Control of Pollution) Act followed in 1981. However, it was the worst ever industrial accident in Bhopal in 1984, which triggered the passing of the overarching Environmental Protection Act (1986). The industrial accident had resulted in the reported loss of over 20,000 lives through the release of lethal gas from a pesticide factory run by American company Union Carbide (today Dow Chemical). Simultaneously India has participated in all multilateral United Nations agreements like the Basel, the Persistence Organic Pollutant (POPs), and Minamata (dealing with mercury) Conventions, provisions of which are reflected (or being) in national policy.
The crisis of the environment really escalated after 1990, when India liberalized its economy, moving from a socialist to a market based one. The subsequent increase in industrial activity was beyond the capacity of the environmental regulatory infrastructure to manage and this led to the many citizens filing cases in the Courts against the pollution and its impacts on health. Many new industrial projects were stalled as a result. The system had come under a severe strain, which continues to this day. Also political interference and the lack of independence of the regulator made it virtually ineffective.
As a way forward, for the first time in 2006, a comprehensive National Environmental Policy was formulated, largely to try and balance development and environmental protection needs. In 2010/11 there was an attempt by the then Minister of the Environment Jairam Ramesh to initiate an institutionally independent regulator. However this did not go far with the economic ministries who saw environmental controls as being a bottleneck to new investments and did not want to relinquish control.
Pollution as a violation of the Right to Life
On a more hopeful note, India is a rare country where the judiciary has played a stellar role in protecting the environment, going to the extent of reading environmental pollution as amounting to a violation of Article 21 (Right to Life) of the Constitution of India. A National Green Tribunal with five specially empowered environmental courts have been set up in different parts of the country to settle the massive number of cases which have been brought up in regular courts, including in the Supreme Court of India.
There are two key issues involved in keeping the environment healthy. Firstly, is India's ability to manage emissions and wastes from industry, vehicles, specific sectors like hospitals, and households. Pollution from here contaminates water systems, rivers, and ground sites like landfills, industrial areas, and the air. This is the main task of the State level regulatory bodies. The ineffectiveness of these regulators, the mismanagement of funds earmarked for these purposes, both from underuse and incorrect reporting and the diversion of funds has added to the dismal situation.
Inadequate capacity to regulate the thousands of sources of pollution present as well as a lack of human and technological infrastructure for monitoring and control are additional factors for the failures. For example even though air quality in twelve cities like Delhi, Mumbai, Bangalore and Chennai is being monitored in real time and data on twenty four others is being collected by the Central Pollution Control Board, (externer Link zu Werten: http://www.cpcb.gov.in/CAAQM/mapPage/frmindiamap.aspx) …yet deadly pollutants like PM 2.5 (particulate matter of 2.5 micron, which is highly respirable and the cause of ill health), is being measured only in a few monitoring stations, while lead or benzene (a carcinogenic pollutant) levels are not regularly checked.
Only a fraction of the urban waste is collected, but that too is dumped into non-engineered landfills, which leach toxins into the groundwater. Unauthorized recycling in backyard operations accounts for more than 90 percent of recycling in cities. Waste products like old electronics, plastics, car batteries, release pollutants like mercury, lead, dioxins in the air and on the ground through these operations. The urban poor, who live and work in these areas, bear the brunt of the exposure.
Improving renewable energy production is a key issue
Similarly even though India has adopted the best international norms for vehicular emissions, and compressed natural gas as a clean fuel for its public transport fleet, goods transport still depends on diesel. Since diesel is priced lower than petrol to keep the cost of goods transportation low, it has unfortunately encouraged people to buy diesel passenger cars which emit fine particulate and chemical pollutants. Finally industrial and household effluents are not monitored strictly enough, and often find their way into rivers, local water bodies, or are sometimes illegally injected into deep water wells. Cities lack the sewerage infrastructure needed to channelize the effluents into segregated treatment facilities, resulting in industrial and household effluents being mixed.
A second set of factors relate to efforts to adopt clean processes and technologies upfront. These too have received inadequate attention. For example, cleaning up urban air needs not just emission controls, but also transport management and limiting vehicles from roads. Investments in public transport and shifting traffic from private to public are some measures this points towards. With a shift of manufacturing activities like chemicals, information technology, and clothing production, requiring them to adopt clean methods is important, especially as India gears up to becoming a supplier to new western markets.
Improving renewable energy production is another key issue. The real cost of coal is not factored into energy pricing in India, and toxic impact like mercury emissions, the impact of coal fly ash on agriculture production, or disposal of mining wastes are unaccounted for, making the pricing case for solar energy (for example) weaker. These issues go beyond the brief of the classical environmental sector, but cut across into urban planning, transport planning, energy, industry, and consumer rights. In effect it is an issue of development policy rather than only environmental policy.
Challenges have been recognized at the highest policy level
This is not to say that the challenges have not been recognized at the highest policy level. In fact the National Plan on Climate Change is headed by none other than the Prime Minister. Recognizing the inter sector implications of this, eight National Missions have been set up, ranging from energy to habitat and agriculture. A special Ministry of New and Renewable Energy (MNRE) has been in existence for over two decades.
Currently, renewable energy accounts for about 12 per cent of the total electricity generation capacity. In 2012/13, the electricity produced by renewables was equivalent to meeting the per capita annual electricity requirement of about 60 million people. However over the past two years, investment in renewables went down from 13 billion US dollars (9,5 billion Euros) in 2011 to 6.5 billion US dollars (4,8 billion Euros) in 2012. This was largely because of policy uncertainty – some say paralysis – within the MNRE.
Likewise, the Urban Affairs Ministry is granting projects for urban infrastructure development through the Jawaharlal Nehru Urban Renewable Mission, a fund of a staggering 20 billion US dollars (14,7 billion Euros) for public private partnership in urban infrastructure including water, sanitation, transport, metro rails and waste.
In the area of waste the Ministry of Environment and Forests has also laid out new rules for batteries, plastics and electronic waste recycling based on the principles of Extended Producer Responsibility (EPR), which mandates the producers to invest in infrastructure to collect and recycle their end of life products, but their implementation has been poor.
A special National Rivers Conservation Directorate has been established since 1984, to clean up the major rivers like the Ganges, through the setting up sewage and effluent treatment plants, but again its success is wanting. Several Court orders have penalized the industry for polluting by activating the Polluter Pays principle. Water and sanitation have received special attention, especially since they were globally recognized as a trust area in the Rio Earth Summit of 2002, and have been set as a Millennium Development Goal. However the issue of using water based western sanitation systems is still controversial since it leads to high water and sewage disposal costs.
Lack of political will to enforce environmental regulations
The question is, is this all enough? In an economy aspiring to grow at over 8 percent annually, and with over 50 cities with more than one million population, clearly the miniscule 0.012 percent of its 1.8 trillion US dollars (1,3 trillion Euros) GDP spent on environmental needs is insufficient. Despite all the well meaning and far reaching policies, there is little political will to implement these measures, which are more long term, but may appear costly in the short term.
Environmental issues are considered "soft", not central. Environmental regulations lack teeth, and need an overhaul to deal with the scale of the problem. The eradication of poverty, job creation, and industrial growth has followed the classic model of development. Leapfrogging into a sustainable path, will need not only new approaches, investments, but also recognizing that poor disproportionately suffer from environmental degradation and exposures. | Article | Ravi Agarwal | 2022-02-08T00:00:00 | 2014-08-19T00:00:00 | 2022-02-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/asien/indien/190209/india-s-pollution-challenges/ | Is the country's economic growth environmentally sustainable? | [
"Indien"
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Notizen aus Moskau: Von 2011 zu 2021. Zehn Jahre danach. | Russland-Analysen | bpb.de | Zwei, wenn auch eindrucksvolle Protesttage machen noch keine Protestbewegung. Ob der gegenwärtige Unmut über die Vergiftung und Verhaftung von Aleksej Nawalnyj länger anhalten wird, muss sich erst noch zeigen. Die harte, ja selbst in Putins Russland beispiellos brutale Reaktion des Staates auf die Proteste am 23. und 31. Januar (und am 2. Februar nach der Urteilsverkündung) mit über 10.000 Festnahmen, 54 Strafverfahren und allein in Moskau knapp 5.000 sogenannter Administrativverfahren (die meist mit Geldstrafe oder Administrativhaft enden (Zahlen von OVD-Info und RBK) zeigt aber zumindest, dass der Kreml sie (sehr) ernst nimmt. Die bisher letzte vergleichbare Herausforderung war der Protestwinter 2011/2012. Lässt sich das vergleichen? Was ist gleich? Was ist neu? Was ist anders? 2011 waren kurz zuvor rund 10 Jahre einer beispiellos guten wirtschaftlichen Konjunktur zu Ende gegangen. Aus ihr, der Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des russischen Staates auf vielen Ebenen (die aber auch ohne den Aufschwung viel schwieriger bis unmöglich gewesen wäre) und den ständigen Vergleich mit den krisenhaften 1990er Jahren zog Wladimir Putin einen großen Teil seiner Popularität und stützte somit die Legitimität seiner Herrschaft. Gleichzeitig begann er systematisch demokratische Beteiligungs- und Freiheitrechte abzubauen. Die Bevölkerung akzeptierte diese Konstellation weitestgehend, die von vielen Beobachter*innen als ungeschriebener Gesellschaftsvertrag bezeichnet wurde: Putin sorgte für Wohlstand und dass möglichst viele zumindest ein wenig davon abbekommen, während sich die Menschen im Gegenzug aus der Politik heraushielten. Dieser Kompromiss hatte ab 2008/2009 Risse bekommen. Das rasante, vor allem von steigenden Ölpreisen getriebene Wachstum stoppte abrupt in der großen Weltfinanzkrise. Die von Platzhalterpräsident Dmitrij Medwedew daraufhin initiierte Modernisierungsdebatte (Putin nahm das Wort nie in den Mund), die vielen Hoffnung auf Reformen und eine politische Öffnung gemacht hatte, verlief im Sand. Als dann Medwedew auf einem Einiges-Russland-Parteitag im September 2011 die Rückkehr von Putin ins Präsidentenamt ankündigte, verschwand bei einem großen Teil der wohlgebildeten, mobilen, (groß-)städtischen Bevölkerung die Hoffnung auf baldige Besserung. Unmittelbarer Auslöser der Proteste waren damals die massiv gefälschten Dumawahlen am 4. Dezember 2011. Die Präsidentschaftswahl im März 2012, die vom Kreml im Gegensatz zu den Dumawahlen verhältnismäßig wenig grob gefälscht wurde, verschaffte Putin neue Legitimität. Eine anfänglich durchscheinende Kompromissbereitschaft verschwand schnell. Nachdem es Anfang Mai auf einer großen Demonstration gegen Putins Amtseinführung auf dem Bolotnaja-Platz direkt südlich des Kremls zu Auseinandersetzungen zwischen einem Teil der Demonstrant*innen und der Polizei gekommen war (von der Polizei provoziert), schlug der Staat zurück. Es gab zahlreiche Verhaftungen und im sogenannten Bolotnaja-Strafprozess hohe Haftstrafen für Demonstrant*innen. Die Duma begann, sich mit der Annahme einer Welle repressiver Gesetze redlich ihren Ruf als verrückter Drucker zu verdienen. Das bekannteste ist wohl bis heute das Gesetz über sogenannte "ausländische Agenten" unter den Nichtregierungsorganisationen, das inzwischen auf Medien, Journalist*innen und, seit Ende 2020, auf Privatpersonen und sogar in Russland lebende Ausländer*innen ausgeweitet wurde. Dazu kommen immer stärkere Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit, der Freiheit im Internet, der Mediengesetzgebung und vieles mehr. Die repressiven Maßnahmen waren der wohl wichtigste Baustein der Kremlreaktion, aber neben den Peitschenhieben wurde auch ein klein wenig Zuckerbrot verteilt. Vor allem in Moskau, aber auch in anderen Großstädten wurden ab 2013 die Zentren modernisiert. Es gab Verschönerungen, der Nahverkehr und Fahrradspuren wurden ausgebaut, Kulturzentren und Erlebnisparks sorgten für Freizeitvergnügen. Damit sollte den zuvor noch Protestierenden, aber wohl mehr noch denjenigen, die möglicherweise mit ihnen sympathisierten und damit bald ebenfalls auf die Straße gehen könnten, signalisiert werden, dass sie das Lebensgefühl einer europäischen Stadt auch ohne Demokratie und riskante Proteste erfahren können. Auch das hat fraglos zur Beruhigung beigetragen. Die endgültige Neuerfindung Putins fand aber erst 2014 mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine statt. Putin war nun nicht mehr derjenige, unter dem es allen Menschen in Russland immer bessergeht, sondern derjenige, der Russland von den Knien gehoben und seinen Status als Großmacht wiederhergestellt hat. Dieser sogenannte Krimkonsens, mit Zustimmungsraten zu Putin in Umfragen von zwischenzeitlich bis zu 86 Prozent, ersetzte den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag der 2010er Jahre. Er hatte aber eine weit kürzere Lebensdauer und hielt bis etwa 2018. Seither nimmt die Zustimmung zu Wladimir Putin wieder ab und hat inzwischen wieder Vor-Krim-Niveau erreicht. Immer weniger Russ*innen glauben daran, dass Präsident und Staat es in absehbarer Zukunft wieder besser machen könnten. Einer der Hauptgründe dafür dürfte die seit nun schon gut zehn Jahren andauernde Wirtschaftskrise sein. Allein seit 2013 sind die Realeinkommen um mehr als zehn Prozent gesunken. Zwei massive Rubelabwertungen (einmal Ende 2014 und dann wieder vor einem Jahr) haben die Durchschnittseinkommen (in Euro gerechnet) von rund 800 Euro auf etwas mehr als 500 Euro fallen lassen. Das bekommen, wegen des Imports vieler Konsumgüter, alle über Preissteigerungen zu spüren. Besonders trifft es aber erneut die mobile, eher junge und städtische Mittelschicht, die sich zudem an regelmäßige Auslandsurlaube gewöhnt hat. Die überbordende Korruption und die Unfähigkeit, Unwilligkeit oder Gleichgültigkeit – je nach Blickwinkel der Betrachter*in – des Staates bei der Daseinsvorsorge (vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich, also Bereichen, die alle betreffen) hat auch zu diesem Zustimmungs- und Vertrauensverlust beigetragen. Das war die Lage, als vor einem Jahr die Pandemie ausbrach. Der russische Staat hat sich in der Pandemie, soweit ich das beurteilen kann, nicht schlechter geschlagen als viele andere Staaten auch, darunter viele EU-Mitgliedsstaaten. Allerdings kann er offenbar von einer schlechten Angewohnheit nicht lassen: selbst da zu lügen, wo es nicht nötig wäre. Die geschönten Infektionszahlen, vor allem aber die um ein Vier- bis Fünffaches zu niedrigen offiziellen Sterbefälle (gemessen an der sogenannten Übersterblichkeit), sollen Russland wohl vor allem im internationalen Vergleich gut aussehen lassen. Kaum jemand glaubt der Regierung diese Zahlen. Sie stimmen nicht mit dem überein, was die Menschen selbst erleben und von anderen (von Verwandten, Freunden, Kollegen, aber auch im Internet und dort besonders in den sozialen Netzwerken) erzählt bekommen. Jeder kennt zahlreiche Geschichten von Erkrankungen ohne Tests und von Totenscheinen, in denen Corona trotz Infektion mit typischen Symptomen nicht als Todesursache angegeben ist. Ich kenne niemanden, der oder die nicht ein oder mehrere Corona-Tote persönlich gekannt hat. Ähnliches gilt für den Umgang mit dem Impfstoff. Soweit bisher zu sehen ist, scheint Sputnik V ein guter Impfstoff zu sein, nicht wesentlich schlechter jedenfalls als viele andere, im Westen entwickelte und zugelassene Impfstoffe auch. Bei allen gibt es angesichts der kurzen Zeit viele offene Fragen. Die triumphale Zulassung von Sputnik V schon im August vorigen Jahres (als angeblich weltweit ersten) und noch vor Beginn der (entscheidenden) dritten Testphase hat nicht nur international, sondern auch national viel Vertrauen verspielt. Die Zahl der Impfwilligen in Russland bleibt im internationalen Vergleich ausgesprochen gering. Keine dieser großen und zahlreichen kleinen Krisen wäre dazu in der Lage, viele Menschen dauerhaft auf die Straße zu bringen. Zusammen aber bilden sie den Nährboden, der jetzt mit der Vergiftung und der Inhaftierung von Nawalnyj gedüngt wurde. Allerdings wären die neuen Proteste in dieser geographischen Ausdehnung und Größenordnung ohne die jahrelange Aufbauarbeit von Nawalnyj und seinem Team kaum denkbar. Sie haben es geschafft, ein, wie es scheint, stabiles landesweites Netzwerk aufzubauen, das gegenwärtig das einzige vom Kreml unabhängige politische Netzwerk ist, das, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das ganze Land abdeckt. Genauer gesagt ist es sogar das erste, das entstand, seit Wladimir Putin 2000 Präsident wurde. Seine Mobilisierungsfähigkeit wurde erstmals im Frühjahr 2017 nach dem bis vor kurzem meistgesehenen Nawalnyj-Video über den Reichtum des damaligen Ministerpräsidenten Medwedew in Ansätzen sichtbar. Damals, und ein Jahr später noch einmal, zeichnete sich ab, dass Nawalnyj inzwischen auch eine neue Generation anspricht, junge Menschen, die 2011/2012 noch Kinder waren. Eine andere Änderung in der Zusammensetzung der Proteste könnte sich in Zukunft als ähnlich wichtig erweisen. Gegen Nawalnyjs Verhaftung gingen, so legen Umfragen während der Demonstrationen nah, viele Leute zum ersten Mal auf die Straße. Nicht unbedingt, um Nawalnyj persönlich oder seine Politik zu unterstützen, sondern vielmehr, um gegen Wladimir Putin zu protestieren. Zu ihrer Motivation gefragt, gaben diese Menschen immer wieder an, dass es nun reiche und dass die Vergiftung und Inhaftierung Nawalnyjs zu viel gewesen seien. Eine Rolle scheint auch sein Verhalten nach der Vergiftung zu spielen. Seine nüchterne, aber entschlossene Reaktion hat ihm viel Respekt auch bei Leuten verschafft, die ihn oder seine Politik ansonsten nicht unterstützen. Dieser Respekt wurde durch die Rückkehr nach Russland noch einmal gesteigert. Wer an die Vergiftung glaubt, ist auch überzeugt, dass in Zukunft wieder Oppositionelle vergiftet werden könnten. Und dass in Russland nicht nur Nawalnyjs Freiheit, sondern sein Leben in akuter Gefahr ist. Damit ist Nawalnyj auf dem besten Weg zum ersten Oppositionspolitiker in Putins Russland werden, der es schafft, von Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern unterstützt zu werden. Die staatlichen Reaktionen auf die neuen Proteste unterscheiden sich, soweit darüber ein Urteil schon möglich ist, erheblich von denen 2011/2012. Smart ist von gestern. Von Beginn an ging der Staat maximal hart gegen die Protestierenden vor. Ich sehe vor allem zwei mögliche Gründe für die Wahl dieser Strategie. Zum einen hat das Regime in den vergangenen Jahren viel an politischer Beweglichkeit eingebüßt. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass es die eigene Legitimität nicht mehr sehr hoch einschätzt. Es ist zudem zur Geisel der (selbsterzeugten, vordergründigen) Popularität der zunehmenden Konfrontation mit dem Westen geworden. Die verschiedenen Sicherheitsdienste wurden massiv ausgebaut und haben wohl auch bei der internen Politikformulierung immer mehr Einfluss gewonnen. Die 2016 gegründete und inzwischen 350.000 Mann starke Nationalgarde ist eine klassische Aufstandsbekämpfungstruppe und praktisch eine persönliche Prätorianergarde von Wladimir Putin. Ressourcen, die in ihren Aufbau und den Ausbau der anderen Sicherheitsdienste gesteckt wurden (genaue Zahlen sind schwer zu bekommen), fehlen in finanziell eher klammen Zeiten naturgemäß für andere, zivilere, ich würde sagen politischere Herangehensweisen. Einfacher gesagt: Wer lauter Hammer und Nägel kauft, hält es für wahrscheinlich, dass er irgendwann zu nageln beginnen muss. Der zweite Grund ist die Vergiftung. Mit ihr wurde die Entscheidung, wie mit künftigen Protesten umgegangen werden soll, vorentschieden. Dies mag keine bewusste Entscheidung gewesen sein, denn der Plan war ja wohl, diese zu vertuschen. De facto war es aber so, nachdem die Vergiftung bekannt wurde. Wie könnte es weitergehen? Über zehn Jahre lang hat der Kreml alles dafür getan, um aus Nawalnyj keinen Helden zu machen. Er machte sich sogar lächerlich dabei. So wurde 2014 binnen einen Tages nach überraschend großen Protesten in Moskau gegen eine über fünfjährige Haftstrafe für Nawalnyj das Urteil im Fall "Yves Rocher" erst kassiert und dann in die dreieinhalbjährige Bewährungsstrafe umgewandelt, die jetzt zur Inhaftierung geführt hat. Das war ein sehr peinlicher Schritt, auf den sich der Kreml aber offenbar einließ, um Nawalnyj nicht zum Helden werden zu lassen. Nun, nachdem Nawalnyj durch die Vergiftung für viele auch in Russland einen Opferstatus erlangt und sich durch seine Rückkehr enormen zusätzlichen Respekt verschafft hat, tut der Staat (fast) alles, um sein Heldentum zu unterstützen. Die Wahrscheinlichkeit weiterer, auch hoher Haftstrafen für Aleksej Nawalnyj ist hoch. Doch die Haft bringt dem Kreml maximal einen Zeitgewinn ein, löst aber nicht das Problem. Dennoch ist festzuhalten, dass ein Zeitgewinn in derartigen Situationen einiges wert ist. Nun zu den direkten Vergleichen. 2011/2012 waren die Proteste spontan, unerwartet und entsprechend unorganisiert, zumindest am Anfang. Aber auch der recht schnell gebildete Koordinationsrat (mit Nawalnyj als Mitglied) war, vor allem aufgrund großer innerer politischer Konkurrenz nur bedingt handlungsfähig. Heute gibt es das Netzwerk von Nawalnyj. Er selbst ist eine unbestrittene Führungs- oder, weil im Gefängnis, sogar eine Symbolfigur. Das macht es wahrscheinlicher, dass der Protest auch Durststrecken überstehen kann. Nawalnyjs Stabschef Leonid Wolkow, ins Ausland geflüchtet, hat schon angekündigt, vorerst auf weitere Proteste zu verzichten, um das Protestpotenzial nicht zu verheizen. 2011/2012 gab es kein politisches Ziel des Protests, das über Neuwahlen hinausging. Nawalnyj spielt heute ein langfristigeres Spiel. Zum einen setzt er auf den Generationsunterscheid, er ist ganze 22 Jahre jünger als Putin. Gerade die ungeklärte Nachfolgefrage ist eine der Achillesfersen des Regimes. Dies erklärt zumindest teilweise die harte Reaktion auf die Proteste und die Wahrnehmung im Kreml von Nawalnyj als Bedrohung. Neben dieser langfristigen Perspektive gibt es mittelfristige, mobilisierungsfähige Ziele. Das nächste ist die Dumawahl im September: Nawalnyj ruft dazu auf, klug abzustimmen , also für den oder die jeweils aussichtsreichste Kandidat*in zu stimmen, der oder die nicht von der Kremlpartei Einiges Russland kommt. Im Gegensatz zu vor zehn Jahren gibt es also nicht nur eine Dagegen-Agenda, sondern, wenn auch nicht unumstritten, konkrete politische Handlungsoptionen. 2011/2012 wurden die Proteste wesentlich von den Kindern der Perestroika getragen, also Leuten zwischen 40 und 50, die noch in der Sowjetunion (politisch) sozialisiert worden waren. Ihnen schlossen sich damals ihre Kinder an, die einen Politisierungsschub erfuhren, nachdem Politik in der 2000er Jahren bei den meisten jungen Menschen als nicht sonderlich attraktiv, ja als uncool galt. Kultur, Selbstverwirklichung, Ausbildung und Beruf waren wichtiger. Seit einiger Zeit beginnen die Kinder Putins sich zu engagieren. Das sind Menschen, in deren bewussten Leben es keinen anderen Präsidenten als Putin und keine andere Lebensweise als eine europäisch-städtische gegeben hat. Eine aktuelle Lewada-Umfrage zeigt, dass von allen Befragten 19 Prozent Nawalnyj unterstützen, während 56 Prozent ihn ablehnen. Unter den 18- bis 24-Jährigen hingegen liegt die Unterstützung bei 36 Prozent, die Ablehnung bei 43. 2011/2012 war Putins Image als echter Mann und Macher (freier Oberkörper, mit Kalaschnikow posieren, nach Amphoren tauchen und mit Kranichen fliegen) für kurze Zeit ins Wanken geraten. Er war, vor allem jüngeren Menschen, schlicht peinlich geworden. Er hatte sich damals, mit Härte und Krim, als Vater der Nation, als derjenige, der alles zusammenhält und ohne den alles auseinanderfliegt, wiedererfunden. Für die jungen Menschen von heute ist er nun aber der Opa im Bunker. Nawalnyj wiederholt das mit sicherem Instinkt immer wieder. Es wird schwer werden, dieses Image wieder loszuwerden oder zumindest durch ein anderes, positiveres in den Hintergrund zu schieben. Sollte das nicht gelingen, bleiben nur immer mehr Repressionen. Alles kann also noch viel ekeliger werden. Eine langfristige Strategie, vor allem aber eine Strategie über Putin hinaus, ist das jedoch nicht.
Dieser Beitrag von Jens Siegert erschien in seinem Blog (Externer Link: russland.boellblog.org/) am 6.2.2021. | Article | Von Jens Siegert (Moskau) | 2021-06-23T00:00:00 | 2021-02-18T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-397/327212/notizen-aus-moskau-von-2011-zu-2021-zehn-jahre-danach/ | Obwohl nach der Rückkehr von Aleksej Nawalny viele Russinnen und Russen auf die Straße gegangen sind ist die Zukunft des Protests ungewiss. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zu 2011? | [
"Notizen aus Moskau",
"Russland"
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Lettland: ”Oft entscheiden geteilte Werte und Traditionen über die Spendenbereitschaft.” | Fördermittel und Fundraising für die politische Bildung | bpb.de | Aufgaben des Verbandes reichen von der politischen Einflussnahme im Feld zivilgesellschaftlichen Engagements bis zur Unterstützung ihrer Mitgliedsorganisationen bei der Einführung von Fundraising und Capacity Building. Über die Fundraising-Kultur in Lettland sprach Akquisos mit Rasma Pipike, Geschäftsführerin von CAL Weitere Informationen:Externer Link: www.nvo.lv/index.php?lang=en, Kontakt: rasma(at)nvo.lv, Tel. +371 6 784 64 65 Akquisos: Fundraising als Akquise von Spendeneinnahmen, Mitgliedsbeiträgen, ehrenamtlichem Engagement usw.: Welchen Stellenwert haben diese Aktivitäten im Finanzierungsmix gemeinnütziger Organisationen in Ihrem Land? Rasma Pipike: Nach den Jahresberichten gemeinnütziger Organisationen Lettlands besteht die Einnahmebasis ungefähr zu gleichen Teilen aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Fördermitteln und Einnahmen aus Dienstleistungen. 2009 hat die ABLV Charitable Foundation [eine bankennahe Stiftung in Lettland, www.ablvfoundation.org, d.R.] eine Studie zu den verschiedenen Einnahmearten durchgeführt, die das Ergebnis bestätigte. Verglichen mit 2008 sind die Spenden 2009 jedoch um ca. 10% gesunken. Expert/innen erwarten hier für 2010 eine weitere Reduzierung. Trotz der Tatsache, dass viele gemeinnützige Organisationen eine breite Einnahmebasis haben, gibt es weiterhin zahlreiche NGOs, die auf Projektförderung angewiesen sind. Dabei gibt es verschiedene Quellen: Staatliche Förderung, EU-Förderung und auch Stiftungen. Lettische NGOs erhielten leichter EU-Förderung als es noch das staatliche Ko-Finanzierungsprogramm gab [Die EU fördert Projekte nicht vollständig, Träger müssen stets einen Teil der Kosten selbst aufbringen – hierfür gab es wiederum nationale Zuschüsse vom lettischen Staat. d.R.]. Das wurde jedoch wegen der Finanzkrise beendet. Dank dieses Programmes konnten NGOs – mit geringer staatlicher Hilfe – über eine Million Lati (700.000 Euro) Fördermittel nach Lettland holen. So bald wie möglich werden die NGOs sich für eine Neuauflage dieses Ko-Finanzierungsprogrammes einsetzen. Insbesondere Lobby-Organisationen haben regelmäßig Schwierigkeiten, eine langfristige Finanzierung sicherzustellen. Oft haben sie nur eine kleine Mitgliederschaft – und auch häufig strittige Inhalte, mit denen sie sich auseinandersetzen. Da ihre Arbeit oft langfristig angelegt ist, um Änderungen in gesetzgeberischen Zusammenhängen zu erreichen, steht gerade diese Gruppe häufig vor Finanzierungsschwierigkeiten. Akquisos: Wie ist die Spendenbereitschaft in Lettland ausgeprägt? Und wie zeigt sich diese Unterstützung konkret? R.P.: Zwar ist die Zahl der Spender/innen gestiegen, deren Spendenbetrag ist auf Grund der Finanzkrise jedoch zurückgegangen. Besonders zugenommen haben Spenden in der humanitären (Not-)hilfe und in den Feldern Kultur und Geschichte. Das „Latvian Occupation Museum” z.B. hat eine beträchtliche Einzelspende eines australischen Gebers erhalten. Zugenommen haben auch die Spenden von Familien – gerade in 2010 sind mehrere Familienstiftungen neu gegründet worden, die in den Feldern Bildung und Kultur fördern. Abgenommen hat dagegen – auch aufgrund der Finanzkrise – die Spendenbereitschaft bei Unternehmen. Viele versuchen, in die Gewinnzone zurückzukehren und geben daher weniger. Auch wurden nur wenige kommunale Fonds durch Geberorganisationen neu eingerichtet. Darunter jedoch z.B. der Fond “Glābjot Latgali” für die wirtschaftlich am wenigsten entwickelte Region Lettlands. Gleichzeitig gibt es eine interessante Entwicklungen im ländlichen Raum, wo Menschen, partnerschaftlich organisiert, vermehrt Sachspenden bereitstellen oder auch bereit sind, Spenden für einen guten Zweck ohne NGO-Kontext zu geben. In kleinen NGOs spielt freiwilliges Engagement eine große Rolle, da diese kaum Mitarbeiter/innen bezahlen können. Angesichts geringer Rücklagen war die Finanzierung gemeinnütziger Organisationen und ihrer Tätigkeit 2010 insgesamt durchaus schwierig. Teilweise mussten sich Organisationen auch mit Hilfe von Entlassungen konsolidieren. Akquisos: Wer sind die wichtigsten Akteure bei der Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements in Lettland? Und wie zeigt sich deren Rolle in der Professionalisierung von Fundraising? R.P.: Die schon erwähnte ABLV Charitable Foundation hat in jüngerer Vergangenheit Projekte finanziert, mit deren Hilfe Fundraising in NGOs implementiert und eine Anschubfinanzierung für Fundraising-Aktivitäten gewährt wurde. 2009 war hierbei das Verhältnis 1:9 – also mit einem investierten Lats konnten 9 Lati akquiriert werden. Dieses Verhältnis lag 2010 bei 1:4. Auch die Unterstützung von Unternehmen, besonders der privaten Medien, ist immernoch maßgeblich für große Kampagnen – wobei es schwerfällt zu unterscheiden, wo eine explizite Förderung durch die Medien gegeben ist und wo es sich einfach um eine gute PR-Kampagne anderer Unterstützer handelt. Akquisos: Was ist aus Ihrer Sicht die erfolgreichste Fundraising-Kampagne der letzten drei Jahre und warum? R.P.: Die Bindung über langfristige Kommunikation und lokal geteilte Werte und Traditionen ist beim Fundraising von wesentlicher Bedeutung. So wurde in der Stadt Talsi dreimal so viel für öffentliche Projekte gespendet wie in Ventspils, obwohl Ventspils aufgrund der geografischen Lage als Ölumschlagplatz ökonomisch eine der reicheren Städte Lettlands ist. Auf der Suche nach Geld haben einige Organisationen ihre Expertise in ungewöhnlicher Weise genutzt, um Einnahmen zu generieren: Beispielsweise ist der Lettische Fonds für ländliche Entwicklung recht erfahren im Event-Management und hat für Air-Baltic [größte regionale Fluglinie, d.R.] eine Konferenz organisiert. Einige Organisationen haben sich auf Dienstleistungen spezialisiert, die unabhängig von ihrem Kerngeschäft sind, wie z.B. Fortbildungen, und damit eine Finanzierungsbasis aufgebaut. Akquisos: Welche politischen, rechtlichen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterstützen das Fundraising besonders – welche behindern es? R.P.: Die meisten Organisation arbeiten in Übereinkunft mit den formalen Rahmenbedingungen und übermitteln einen finanziellen und inhaltlichen Jahresbericht an das Finanzamt [„State Revenue Service“]; die wenigsten Organisationen veröffentlichen ihre Berichte jedoch. Alle Spenden an NGOs sind für diese steuerfrei. Private Geber können 25% der Spenden gegen Beleg bei der jährlichen Einkommenssteuer geltend machen. Unternehmen können ebenfalls Spenden an gemeinnützige Organisationen steuerlich absetzen. Von dieser Möglichkeit wird allerdings – möglicherweise auch weil der Prozess vielen Unternehmen zu kompliziert ist – wenig Gebrauch gemacht. So wurden 2009 NGOs zwar 57 Millionen Euro gespendet, jedoch nur ca. 16 Million Euro davon steuerrechtlich angegeben. Die Möglichkeit der Steuerersparnis ist also offenbar kein primäres Motiv für Unternehmensspenden in Lettland, sondern der Wille einen bestimmten Zweck zu unterstützen. In Lettland können gemeinnützige Organisationen auch gewerbliche Dienstleistungen anbieten [siehe auch das Beispiel in der vorherigen Antwort, d.R.]. 2010 wurde vom Finanzministerium eine Gesetzesinitiative angeregt, die die Rollen und Aufgaben gemeinnütziger NGOs genauer beschreiben und so ihr Marktengagement einschränken sollte. CAL hat die NGOs darüber informiert und 40 NGOs kamen zu einer Konsultation mit dem betreffenden Ministerium. Schließlich sind diese Gesetzesänderungen nicht eingeführt worden. Eine kurze Frage zum Schluss: Wie wichtig sind Soziale Netzwerke und Online-Fundraising-Tools in Lettland? R.P.: Soziale Netzwerke spielen eine wichtige Rolle in Lettland. Gerade gibt es z.B. eine neue und interessante Plattform, www.labdaribasfaktors.lv, [„Charity Faktor“, Informationen tweilweise auch in Englisch d.R.] über die mit Hilfe von Foto-Geschichten direkt Projekte unterstützt werden können und gespendet werden kann. Für diese Seite werden noch Partner gesucht. Akquisos: Herzlichen Dank für das Interview! | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-05-08T00:00:00 | 2012-11-30T00:00:00 | 2023-05-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/foerderung/akquisos/150746/lettland-oft-entscheiden-geteilte-werte-und-traditionen-ueber-die-spendenbereitschaft/ | Mit 127 Mitgliedern ist die Civic Alliance Latvia einer der größten Dachverbände gemeinnütziger Organisationen in Lettland. | [
"Lettland"
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Irregular Migration | Netherlands | bpb.de | The Netherlands have Interner Link: attracted migrants for centuries. Not all of them reside in the country legally. It was estimated that in 2009 there were between 60,667 and 133,624 irregular migrants in the Netherlands. This is a considerable drop from the estimates of 150,000 to 200,000 irregular migrants for the period 1997–2003. Irregular migrants come from countries with long-standing migration to the Netherlands such as Turkey and Morocco, refugee sending countries and countries that have more recently started sending labor migrants to the Netherlands such as Ukraine and the Interner Link: Philippines.
The drop in the number of apprehended irregular migrants since 2003 is partly due to EU enlargement; migrants from Central and Eastern European countries who were previously irregular now enjoy the right to free movement. Until 2004, Europeans made up about a third of apprehended irregular migrants.
In the late 1990s there were many protests by so-called "white illegals" (witte illegalen), people who were living in the Netherlands without a residence permit but were employed and paid taxes. Several hundred of these "white illegals" were later granted residence permits. The 1998 Linking Act (koppelingswet) restricted the ability of irregular migrants to pursue regular employment. The act linked the databases of several government institutions (tax authorities, immigration services, municipalities), so that irregular immigrants could be easily excluded from public services and prevented from being issued a social security number (a prerequisite for regular employment, social security benefits and subsidized housing). The law does allow access to education for children under 18 and people with "imperative" medical needs access to treatment. Further control measures focus on employers. The police perform regular inspections in sectors that are known to employ irregular migrants, such as agriculture and food services. Employers who are caught employing irregular migrants can be fined.
While staying in the Netherlands without authorization is not a crime, irregular migrants who end up in police custody can be detained in deportation centers if the authorities believe that they can be deported in the near future.
This text is part of the Interner Link: country profile Netherlands.
Heijden/Cruijff/Gils (2011).
Heijden/Cruijff/Gils (2011).
De Boom/Leerkes/Engbersen (2011).
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-21T00:00:00 | 2014-12-08T00:00:00 | 2022-01-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/197502/irregular-migration/ | The Netherlands have attracted migrants for centuries. Not all of them reside in the country legally. | [
"Niederlande",
"Netherlands",
"irregular migration",
"irreguläre Migration",
"Irreguläre Zuwanderung"
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Refuge and Asylum | Italy | bpb.de | The "Bossi-Fini" law (Law 189/2002) considerably modified previous legislation on refugees and asylum. As a result, the "Commissione centrale per il riconoscimento dello 'status di rifugiato'"(Central Commission for the Recognition of Refugee Status) was replaced by the "Commissione nazionale per il diritto di asilo" (National Commission for the Right of Asylum) which has a decentralized structure made up of local commissions all over Italy (located in Gorizia, Milan, Rome, Foggia, Siracusa, Crotone, Trapani, Bari, Caserta, Turin, Bologna) which handle the requests of refugees residing within the boundaries of their territories. These local commissions are obliged by law to hear the applicant within 30 days from submission of the request and to come to a decision within the following three days.
Controlling the inflow of asylum seekers
Over the last 10 years, there has been a discontinuous trend concerning asylum applications. This development has to be regarded against the background of arrivals by sea on Italian shores, because the majority of the immigrants coming to Italy this way are in fact refugees and asylum seekers (cf. Figure 3).
In 2008, for example, 13% of all immigrants coming to Italy arrived by sea. Of these 75% applied for asylum; 50% of them were finally granted some form of protection. The fall in numbers of asylum applications in 2009 and 2010 was due to the ratification of the "Trattato di amicizia, partenariato e cooperazione" (Treaty of Friendship, Partnership and Cooperation) with Libya, approved by Parliament in February 2009, whereby Libya agreed to fight illegal migration by preventing immigrants to depart from its shores. The treaty has, in short, resulted in increasing border controls. The ratification of this treaty has raised much concern among human rights associations, especially at the UN High Commissioner for Refugees (UNHCR). The controversies mainly concern the fact that the management and control of the flows of asylum seekers fleeing war-torn countries, primarily in sub-Saharan Africa, was assigned to Libya, a country that has not signed the Geneva Refugee Convention.
Current developments
At the end of the first decade of the 21st century, the number of European asylum seekers is shrinking whereas the number of people who originate from African countries and apply for asylum is increasing (cf. Table 5).
Requests for protection and main countries of origin of asylum seekers, 1990-2011
Requests for protection Top three countries of origin of requests 1990 4,5731) Albania, 2) Romania, 3) Ethiopia 1991 28,4001) Albania, 2) Romania, 3) Somalia 1992 2,9701) Romania, 2) Somalia, 3) Eritrea 1993 1,7361) Romania, 2) Ethiopia, 3) former Yugoslavia 1994 2,2591) Romania, 2) Ethiopia, 3) Sudan 1995 2,0391) Romania, 2) Iraq, 3) Sudan 1996 8441) Iraq, 2) Ethiopia, 3) Zaire 1997 2,5951) Albania, 2) Iraq, 3) Turkey 1998 18,4961) former Yugoslavia, 2) Iraq, 3) Turkey 1999 37,3181) former Yugoslavia, 2) Iraq, 3) Turkey 2000 24,2961) Iraq, 2) Turkey, 3) former Yugoslavia 2001 21,5751) Iraq, 2) Turkey, 3) former Yugoslavia 2002 18,7541) Iraq, 2) former Yugoslavia, 3) Liberia 2003 15,2741) Somalia, 2) Liberia, 3) Eritrea 2004 10,8691) former Yugoslavia, 2) Romania, 3) Nigeria 2005 10,7041) former Yugoslavia, 2) Eritrea, 3) Romania 2006 10,0261) Eritrea, 2) former Yugoslavia, 3) Nigeria 2007 13,3101) Eritrea, 2) Ivory Coast, 3) Nigeria 2008 13,3101) Nigeria, 2) Somalia, 3) Eritrea 2009 19,0901) Nigeria, 2) Somalia, 3) Pakistan 2010 12,1211) former Yugoslavia, 2) Nigeria, 3) Pakistan 2011 37,3501) Nigeria, 2) Tunisia, 3) Ghana
Source: elaboration by the author based on data provided by the Ministry of the Interior
In 2011, Italian authorities received 37,350 applications for asylum, three out of four asylum seekers came from an African country, especially Nigeria (7,030 requests), Tunisia (4,805), Ghana (3,402) and Mali (2,607). The same year, the National Commission for the Right of Asylum gave a positive answer to 40% of the requests examined, while protection was denied in 44% of all examined cases (of the remaining 16% of asylum applications 9% could not be traced and 7% had another outcome).
Types of protection: international protection (temporary visa renewable during the procedure), refugee status (5-year visa, renewable), subsidiary protection (3-year visa, renewable), humanitarian protection (1-year visa, renewable). For further information, see SPRAR (2011).
SPRAR (2011). Because of the Libyan revolution the treaty is currently temporarily suspended, although Libya has repeatedly affirmed its intention to reactivate it.
"World Report 2012: European Union", online at http://www.hrw.org/.
Withdrawals and transfers due to Dublin requests.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-20T00:00:00 | 2012-10-09T00:00:00 | 2022-01-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/145717/refuge-and-asylum/ | The "Bossi-Fini" law (Law 189/2002) considerably modified previous legislation on refugees and asylum. As a result, the "Commissione centrale per il riconoscimento dello 'status di rifugiato'" was replaced by the "Commissione nazionale per il diritto | [
"Flucht und Asyl",
"Refuge",
"asylum",
"Flüchtlinge",
"Italy",
"Italien"
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Binnenhandel der EU | Europa | bpb.de | Der EU-Binnenmarkt hat eine sehr hohe wirtschaftliche Bedeutung für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union: Bezogen auf die Ex- und Importe wickelt die EU rund zwei Drittel ihres Warenhandels innerhalb der eigenen Grenzen ab. Der Intra-EU-Export – also der Export innerhalb der EU – hatte 2017 einen Anteil von 64,0 Prozent am Gesamtexport der 28 Mitgliedstaaten. Der Intra-EU-Import lag bei 63,8 Prozent. Für einzelne Mitgliedstaaten ist die Bedeutung des Binnenmarktes sogar noch größer: Bei acht EU-Staaten lag der Anteil der innerhalb der EU exportierten Waren am jeweiligen Gesamtexport im Jahr 2017 bei mehr als 75 Prozent. Bei den Importen waren es 2017 sogar zehn Staaten, die mehr als drei Viertel ihrer Importe aus anderen EU-Staaten bezogen. In Deutschland lag der Anteil der Intra-EU-Ausfuhren am Gesamtexport bei 58,5 Prozent. Der Intra-EU-Import entsprach 66,0 Prozent des Gesamtimports.
Fakten
Im Jahr 2017 exportierten die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) Waren im Wert von 5.224 Milliarden Euro. Dabei entfielen 64,0 Prozent bzw. 3.345 Milliarden Euro auf den Export in andere EU-Mitgliedstaaten (Intra-EU-Export) und 36,0 Prozent bzw. 1.879 Milliarden Euro auf den Export in Staaten außerhalb der EU (Extra-EU-Export).
Auch bei den Einfuhren ist die Bedeutung des intraregionalen Handels – also des Handels innerhalb der Region – hoch: Vom Gesamtimport der 28 EU-Mitgliedstaaten in Höhe von 5.139 Milliarden Euro entfielen 3.280 Milliarden Euro (63,8 Prozent) auf den Handel innerhalb der EU. Waren im Wert von 1.859 Milliarden Euro (36,2 Prozent) stammten aus Staaten außerhalb der EU.
Bezogen auf die Ex- und Importe wickelte die EU im Jahr 2017, wie auch in den Vorjahren, knapp zwei Drittel ihres Warenhandels innerhalb der eigenen Grenzen ab. Für einzelne Mitgliedstaaten ist die Bedeutung des Binnenmarktes sogar noch größer: Bei acht EU-Staaten lag der Anteil der innerhalb der EU exportierten Waren am jeweiligen Gesamtexport im Jahr 2017 bei mehr als 75 Prozent. Die Slowakei stand mit einem Anteil von 85,7 Prozent an der Spitze. Darauf folgten Luxemburg, Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien, Slowenien und die Niederlande. Bei den Importen waren es 2017 sogar zehn Staaten, die mehr als drei Viertel ihrer Importe aus anderen EU-Staaten bezogen: Auf Luxemburg (82,9 Prozent) folgten Estland, die Slowakei, Lettland, Tschechien, Kroatien, Österreich, Portugal, Ungarn sowie Rumänien.
Werden die Außenhandelsumsätze – also Einfuhren und Ausfuhren – zusammen betrachtet, ist festzustellen, dass bei allen EU-Mitgliedern mehr als die Hälfte des Außenhandelsumsatzes auf den Handel mit den anderen 27 EU-Staaten entfällt. Am niedrigsten ist der Anteil beim Vereinigten Königreich (50,2 Prozent), das lediglich 47,7 Prozent des eigenen Gesamtexports in andere EU-Staaten exportiert bzw. 51,9 Prozent der Warenimporte von anderen EU-Staaten bezieht. In Deutschland lag der Anteil der Intra-EU-Ausfuhren am Gesamtexport bei 58,5 Prozent. Der Intra-EU-Import entsprach 66,0 Prozent des Gesamtimports.
Wird nur der EU-Binnenmarkt betrachtet, waren – bezogen auf den Warenwert – Deutschland (750 Mrd. €), die Niederlande (434 Mrd. €), Frankreich (279 Mrd. €), Belgien (274 Mrd. €) und Italien (249 Mrd. €) die größten Exporteure innerhalb der EU – 59,4 Prozent der gesamten Intra-EU-Ausfuhren (3.345 Mrd. €) entfielen allein auf diese fünf Staaten. Die größten Importeure waren Deutschland (682 Mrd. €), Frankreich (386 Mrd. €), das Vereinigte Königreich (296 Mrd. €), Italien (241 Mrd. €) und die Niederlande (236 Mrd. €) – der Anteil dieser fünf Staaten an den gesamten Intra-EU-Einfuhren (3.280 Mrd. €) lag im Jahr 2017 bei 56,1 Prozent.
Bezogen auf den Intra-EU-Handel hatten im Jahr 2017 die Niederlande (plus 198 Mrd. €), Deutschland (plus 68 Mrd. €), Belgien (plus 43 Mrd. €), Tschechien (plus 21 Mrd. €) und Polen (plus 17 Mrd. €) die höchsten Handelsbilanzüberschüsse. Die höchsten Handelsbilanzdefizite entfielen auf das Vereinigte Königreich (minus 110 Mrd. €), Frankreich (minus 107 Mrd. €), Schweden (minus 17 Mrd. €), Österreich (minus 14 Mrd. €) sowie Portugal (minus 12 Mrd. €). Der auffallend hohe Handelsbilanzüberschuss der Niederlande beruht zum Teil darauf, dass die Niederlande als Handelsumschlagsplatz zahlreiche Güter importieren, um sie verarbeitet oder unverarbeitet in andere EU-Mitgliedstaaten zu exportieren – entsprechend hatten die Niederlande beim Extra-EU-Handel das größte Handelsbilanzdefizit aller EU-Staaten (minus 130 Mrd. €).
Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen
Die Handelsbilanz ist auf einen Zeitraum bezogen und gibt den Saldo der Warenausfuhren und -einfuhren eines Staates oder einer Staatengruppe an. Bei einem Handelsbilanzüberschuss bzw. -defizit erhöht sich die Gläubiger- bzw. Schuldnerposition gegenüber dem Ausland. Da die Handelsbilanz eine Teilbilanz der Leistungsbilanz ist, kann ein Ungleichgewicht der Handelsbilanz durch die Salden anderer Teilbilanzen ausgeglichen werden.
Informationen zum Außenhandel der EU erhalten Sie Interner Link: hier...
Informationen zu den Handelsbeziehungen der EU erhalten Sie Interner Link: hier...
Informationen zu den Leistungsbilanzen der EU-Staaten erhalten Sie Interner Link: hier...
Binnenhandel der EU
Anteil des Warenhandels innerhalb der Europäischen Union an den weltweiten Warenexporten und -importen der 28 EU-Mitgliedstaaten in Prozent, Gesamtexporte und -importe sowie Handelsbilanz in absoluten Zahlen, 2017
Handels-bilanz Exporte Importe insgesamt innerhalbder EU insgesamt innerhalbder EU in Mrd. Euro in Mrd. Euro in Prozent in Mrd. Euro in Prozent 28 EU-Mitgliedstaaten 84,8 5.223,8 64,0 5.139,0 63,8 Deutschland 248,8 1.281,9 58,5 1.033,1 66,0 Niederlande 67,9 576,6 75,2 508,7 46,3 Italien 47,4 448,1 55,6 400,7 60,1 Irland 43,1 121,5 51,1 78,4 65,3 Belgien 20,8 381,0 72,0 360,2 64,3 Tschechien 16,1 159,5 83,7 143,4 78,2 Dänemark 8,5 90,8 61,8 82,4 70,0 Ungarn 5,6 100,8 81,2 95,2 76,1 Slowenien 2,1 34,0 75,7 31,9 69,4 Slowakei 1,1 74,8 85,7 73,7 79,8 Polen 0,4 204,4 79,7 204,0 71,3 Schweden -0,8 135,5 59,2 136,3 71,0 Estland -1,9 12,9 71,7 14,7 81,0 Litauen -2,1 26,4 58,3 28,5 70,6 Finnland -2,2 60,2 59,5 62,5 71,7 Lettland -2,5 12,4 66,1 14,9 78,6 Malta -2,9 2,2 53,8 5,1 62,2 Bulgarien -3,6 26,6 66,4 30,2 64,0 Zypern -5,2 2,9 38,2 8,1 59,9 Luxemburg -6,1 14,0 84,2 20,1 82,9 Österreich -6,8 148,8 71,2 155,6 77,3 Kroatien -7,8 14,2 64,0 22,0 77,7 Rumänien -12,9 62,6 75,8 75,6 75,8 Portugal -13,9 55,1 74,1 69,0 76,2 Griechenland -21,4 28,9 53,7 50,3 52,0 Spanien -28,3 283,6 66,3 311,9 59,7 Frankreich -79,2 473,6 58,8 552,8 69,8 VereinigtesKönigreich -179,5 390,6 47,7 570,1 51,9
Quelle: Eurostat: Online-Datenbank: Intra and Extra-EU trade by Member State (09/2018)
Quellen / Literatur
Eurostat: Online-Datenbank: Intra and Extra-EU trade by Member State and by product group (09/2018)
Eurostat: Online-Datenbank: Intra and Extra-EU trade by Member State and by product group (09/2018)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-12T00:00:00 | 2012-02-29T00:00:00 | 2022-01-12T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/70552/binnenhandel-der-eu/ | Bezogen auf die Ex- und Importe wickeln die EU- Mitgliedstaaten rund zwei Drittel ihres Warenhandels innerhalb der Grenzen der Europäischen Union ab. | [
"Binnenhandel",
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"EU-27"
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Tiernutzung - Eine Einleitung | Bioethik | bpb.de | Einleitung
"Natur schützen", "Leben schützen", "Tiere schützen" – kann man da eigentlich unterschiedlicher Meinung sein? Zugegeben, jeder von uns kennt wahrscheinlich Menschen, die einen Hang dazu haben, andere Lebewesen gelegentlich zu ärgern. Aber der Großteil der Menschen erscheint uns sehr vernünftig und geht auch angemessen, meist sogar liebevoll mit den Tieren um. Wir halten es schließlich also für "normal", Tierquälerei usw. nicht gut zu finden.
In diesen kurzen Eingangsüberlegungen schlummern schon einige ethische Probleme, die im folgenden Überblick ein wenig deutlicher gemacht werden sollen:
Woran messen wir denn überhaupt, ob wir gut mit "den" Tieren umgehen, und wie das für die Tiere ist? Welche Maßstäbe gibt es zur Bewertung von ethischen Verhaltensweisen im Umgang mit Lebewesen? Welche Maßnahmen können wir treffen, um unsere Sichtweisen zu verwirklichen? Wie konsequent sind wir denn in der Umsetzung unserer Überzeugungen und welche Folgen hat unser Bemessen für die Tiernutzung?
Die Schwierigkeit in der Beantwortung dieser Fragen nach Maßstab, Maßnahmen und unserem Bemessen liegt – das ist relativ offensichtlich – zunächst einmal in der persönlichen Auffassung der einzelnen Menschen. Und dabei ist nicht direkt gesagt, dass die ethischen Positionen, die sich hinter diesen Auffassungen verbergen, auch tatsächlich zu einem besseren oder schlechteren Verhältnis der Menschen zu den Tieren führen. Ein Beispiel: Es könnte eine radikale Egoistin – eine Person, die nur an die eigenen Vorteile denkt – geben, die Tiere liebt, kein Fleisch isst, ihre Haustiere sehr gut unterbringt und versorgt, die außerdem klimaneutral lebt und ein echt netter Typ ist usw. – aber auf die Frage hin, ob Tiere einen eigenen moralischen Wert haben (wir gehen davon aus, dass die Egoistin die Frage versteht), antwortet sie: "Auf keinen Fall! Eigentlich bin nur ich selbst mit meinen Entscheidungen moralisch relevant." Die Egoistin ist für eine moralische Gesamtbilanz also vielleicht die beste Playerin, obwohl sie von der ethischen Position her ziemlich "radikal" erscheint.
Wie wir sehen, haben wir mit der Klärung solcher Ungereimtheiten eine Menge zu tun: Wir müssen die ethischen Positionen erläutern, wir müssen die Begriffe definieren, damit alle auf einer ähnlichen Basis argumentieren (oder dies ablehnen können). Kurz: Wir müssen die Hinsichten untersuchen, in denen wertende Urteile und Normen geäußert werden!
Die drei Fragen vom Anfang des Textes sind schon sehr stark inhaltlich ausgerichtet, während die erforderlichen Klärungen (Definitionen usw.) vorab eher auf formaler, begrifflicher Ebene zu verstehen sind. Am besten fangen wir folgendermaßen an: "Moral" – dieser Kernbegriff der praktischen Philosophie wird nicht so einheitlich verwendet, wie die Moralphilosophen dies gerne hätten. Manche definieren "Moral" als Verbindlichkeit, andere sehen darin aber auch einfach einen Sammelbegriff für geltende Normen und Werte. Irrtümlicherweise gehen zusätzlich auch einige Menschen davon aus, dass wir uns um die Moral kümmern, sobald wir Moralisieren, also andere mit erhobenem Zeigefinger zurechtweisen. Es lässt sich moralwissenschaftlich jedoch auch ganz ohne solche Mahnungen an die Moral herantreten, etwa in der Moralpsychologie oder der Moralsoziologie, wo doch relativ "neutral" mit moralischen Phänomenen gearbeitet wird.
Auf was schauen diese Wissenschaften? Sie analysieren Verhalten, Werte und Normen, Absichten, Selbsteinschätzungen, Tugenden, Haltungen usw. – natürlich mit verschiedenen Messinstrumenten und Methoden; also auch nicht ganz einheitlich, aber trotzdem auf einen Katalog von Standards und Kriterien ausgerichtet, die ihrerseits wieder aus der Geschichte der Moralphilosophie stammen. In dieser Geschichte werden die Begriffe "Ethik" und "Moral" hin und wieder gegeneinander ausgetauscht. Wir sind also für die Frage der Definition wieder am Anfang und versuchen einmal den Weg über die Bestimmung der Moral als "Verbindlichkeit".
Über welche Werte und Normen kann ich denn überhaupt sinnvoll mit anderen argumentieren? Muss ich bei solchen Argumentationen nicht immer schon voraussetzen, dass meine Überlegungen von andern Menschen auch grundsätzlich nachvollzogen werden könnten (auch wenn die anderen manchmal gewaltig auf dem Schlauch stehen)? Auf welchem Weg kann ich diese Verständnismöglichkeit nachweisen? Man versucht ja nicht, einen Stein von etwas zu überzeugen. Man versucht auch nicht, eine Pflanze, Pilze oder Insekten von etwas zu überzeugen, sondern man konfrontiert sie handelnd mit bestimmten Auffassungen: Die Ameisenstraße durch die Küche ist nicht so angenehm, also leiten wir sie um. Meine Frau hatte sich vor einigen Tagen noch gekrümmt vor Lachen, als ich versuchte, unserem Pony Dalou zu erklären, er möge bitte mit dem Fressen warten, bis ich das Heunetz befestigt hätte – Pferdefreunde lachen jetzt wahrscheinlich alle mit.
Trotzdem, auch wenn sie nicht direkt auf unsere Argumente eingehen, räumen wir Lebewesen einen anderen Status ein als Steinen; unter den Lebewesen würde ich intuitiv ebenfalls einen Unterschied machen, aber da bin ich mir wirklich nicht sicher. Wir sollten allerdings an dieser Stelle festhalten:
Definieren wir Moral als Verbindlichkeit, dann gibt es Gesprächspartnerinnen, bei denen wir eben davon ausgehen, dass sie unsere Ausführungen verstehen, akzeptieren/ablehnen und entsprechend auch handeln bzw. nicht handeln können. Und obwohl viele Lebewesen nicht verstehen, akzeptieren/ablehnen oder nach Vorgaben handeln können, heißt das nicht, dass sie für uns wertlos wären. Manche Philosophen unterscheiden daher zwischen moralischen Subjekten und moralischen Objekten, moralischen Akteuren und Lebewesen, die (nur) moralischen Schutz erhalten, sie sprechen außerdem von moralischen Rechten und moralischen Pflichten etc. Nun, jetzt haben wir es hier schon regelrecht mit Theorien der Moral zu tun, deren Beschreibung, Aufarbeitung und/oder Begründung in das Aufgabenfeld der Ethik fällt. Der Begriff "Ethik" kann also als Theorie der Moral verstanden werden. Manche Autoren beziehen sich aber auch auf die antike Bedeutung des Wortstammes "ethos", der – wie Aristoteles in der "Nikomachischen Ethik" schreibt – auf eine bestimmte Form der "Tüchtigkeit" hinweist: "Die Tüchtigkeit ist also zweifach: es gibt Vorzüge des Verstandes (dianoëtische) und Vorzüge des Charakters (ethische). Die ersteren nun gewinnen Ursprung und Wachstum vorwiegend durch Lehre, weshalb sie Erfahrung und Zeit brauchen, die letzteren sind das Ergebnis von Gewöhnung. Daher auch der Name (ethisch von ēthos), der sich mit einer leichten Variante von dem Begriff der Gewöhnung (ĕthos) herleitet. Somit ist auch klar, daß keiner der Charaktervorzüge uns von Natur eingeboren ist." (Aristoteles 1990, S. 34 (1103a14)) Stehen diese unterschiedlichen Bedeutungen von Ethik in einem Widerspruch zueinander oder können beide, Theorie und Persönlichkeit, auch zugleich von unserem Thema betroffen sein?
Viele dieser Theorien der Moral haben ihre Strahlkraft ganz in sich selbst versammelt, und sie sind berühmt und geachtet, selbst wenn niemand nach ihnen handelt. Ich selbst habe mehr als die Hälfte meines Lebens mit der Lektüre solcher Texte aus Philosophiegeschichte und Literatur verbracht; wonach richte ich mich aber tatsächlich in Entscheidungssituationen? Auch wenn ich viele Prinzipien nennen und ausgewählte Fallbeispiele illustrieren kann (eine sog. Kasuistik), so ist doch nicht zu 100 % vorauszusehen, wie ich meine nächsten moralischen Entscheidungen treffen werde; sie wären sonst eben auch keine moralischen Fragen, sondern bereits im Vorfeld entschieden. Die Offenheit macht das Problem, die Freiheit die Moral! Ethik als Theorie und "ethos" als persönliche Haltung fallen demnach in bestimmten Momenten durchaus zusammen.
Konkrete moralische Probleme bilden dabei das Feld der Interner Link: Angewandten Ethik, die in ganz konkrete Situationen hineingeht, um Menschen mit Interner Link: ethischen Vorlagen/Vorbildern in ihren Entscheidungen zu unterstützen. Diese Bereiche der "Ethiken" können vor allem in der Medizinethik, in der Naturethik oder in der Wirtschaftsethik usw. eingebracht und angewandt werden. Mit dem Deutschen Ethikrat ist auch ein beratendes Gremium ständig in entsprechende politische Debatten integriert, wie man jüngst in der Impfdebatte, aber auch bei völlig anderen Themenbereichen sehen kann.
Damit kommen wir endlich zu unserem Thema "Tiernutzung". Die Betrachtung zur Tiernutzung ist ein Teilbereich der Tierethik und zählt damit zur Interner Link: Naturethik. Auch hier, in diesem relativ gut absteckbaren Anwendungsfeld, greifen die Begründungsansätze der abstrakten Ethik/Moraltheorie, aber die jeweilige Anwendung ist selbstverständlich situativ, einzigartig und ganz konkret – manchmal in ihrer Unausweichlichkeit schon fast zu konkret nach unserem Empfinden. Denken wir etwa an Situationen, in denen wir überlegen mussten, ob wir unser Haustier noch einmal zur Behandlung geben oder ob wir es einschläfern lassen. Genau so ist es mir ergangen, als die Katze, die ich in meinem Interner Link: Artikel zu Peter Singers Präferenzutilitarismus erwähne, langsam alt und tattrig wurde.
Meistens arbeiten Ethikerinnen in einem solchen Zwischenbereich zwischen den ganz abstrakten Normen und den ganz konkreten Anwendungen wie wir anderen Menschen auch, nämlich mit Faustregeln. Solche Faustregeln dürfen selbstverständlich nicht beliebig erfunden werden, sondern sollten auf Nachfrage hin begründbar sein; oft werden sie aber auch erst im Nachhinein gerechtfertigt durch eine vernünftig klingende und anschlussfähige Geschichte oder Erläuterung. So oder so, die Verbindlichkeit der Gründe und die Nachvollziehbarkeit der Rechtfertigung machen aus einfachen Beschreibungen gleichzeitig auch Richtlinien, die man selbst akzeptieren würde, wenn dann im Einzelfall auch die Betrachtung der konkreten Bedingungen in der jeweiligen Situation dazukommt. Hier benötigen die Ethiker dann zur genaueren Beratung immer die Fachleute, die sich durch ihre Erfahrungen mit unterschiedlichsten Szenarien auskennen und am besten prognostizieren können, welche Tendenzen der Handlungen und ihrer Folgen sich auf die eine oder andere Entscheidung hin sehr wahrscheinlich ergeben werden. Meist versetzen wir uns in solchen Situationen dann in die Lebewesen hinein, die von unserer Entscheidung betroffen sind, obwohl wir bei Tieren nicht immer wissen, was sie wirklich empfinden werden.
Noch einmal zur Zusammenfassung: Die moralisch aufgeladenen Situationen selbst sind also einzigartig, eingebettet in eine hoch komplexe Umgebung, eine natürliche Umwelt und soziale Mitwelt. Damit wir nicht immer neu überlegen müssen, versuchen wir uns Normen und Richtlinien für ähnliche Fälle zu formulieren. Wir sind bis hierhin soweit gekommen, dass wir die Begriffe "Moral" und "Ethik" ein wenig näher beschrieben haben und dass wir den Zusammenhang dieser Ethik mit Einzelentscheidungen beleuchtet haben. Dabei sind wir vom allgemeinen Ethik-Verständnis bis in die konkreten und oft unumkehrbaren Entscheidungen der Tiernutzung hineingegangen. Hier erwarten uns in den aktuellen tierethischen Überlegungen zum Beispiel Themen wie:
Tierversuche Tierzucht und Tierhaltung zu unterschiedlichen Zwecken (Fleischverzehr, Kleidungsressourcen etc.) Zoo und Zirkus Jagd und Angeln/Fischen Haustierhaltung
Wo stehen wir, wenn wir heute auf diese Themen blicken? Im Dossier Bioethik befinden sich einige Artikel, die sich mit solch spezifischen Fragestellungen auseinandersetzen. Auch in weiteren Interner Link: Magazinenund Interner Link: Büchern gibt die bpb einen Überblick über die aktuellen Diskurse der Tierethik. Aber obwohl wir so viele Gedanken in diesen Texten und Grafiken finden, können wir nur staunen, wenn wir auf die Umgangsweisen mit Tieren in der Fleischproduktion schauen. Uns ist oft nicht klar, in welchem Verhältnis wir selbst zu diesen mechanisierten Prozessen stehen. Wir sehen zwar – etwa, wenn wir uns Dokumentationen anschauen – dann in den Augen der einzelnen Tiere Angst und Entsetzen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass jedes Lebewesen irgendwann einmal sterben muss und dass Leben sich eben von Leben ernährt. Ist vielleicht die Moralphilosophie einfach noch nicht so weit, um diese komplexen Fragen adäquat anzugehen?
"In dem vergleichsweise frühen Stadium menschlichen Fortschritts, in dem wir uns gegenwärtig befinden, vermag in der Tat kaum jemand jenes umfassende Gefühl der Einheit mit allen anderen zu empfinden, das jeden ernsthaften Konflikt in den Grundzügen der Lebensführung ausschließen würde. Aber bereits derjenige, in dem das Gemeinschaftsgefühl zumindest ansatzweise entwickelt ist, kann sich nicht dazu verstehen, seine Mitmenschen als Rivalen zu betrachten, die mit ihm um die zum Glück erforderlichen Mittel im Kampf liegen und denen er wünschen muss, dass sie in der Verfolgung ihrer Ziele scheitern, damit er seine Ziele erreicht. Das tiefwurzelnde Selbstverständnis, dem gemäß sich jedes Individuum schon jetzt als gesellschaftliches Wesen sieht, wird es ihm als eines seiner natürlichen Bedürfnisse erscheinen lassen, die eigenen Gesinnungen und Ziele mit denen der Mitmenschen in Einklang zu wissen." (Mill 2006 [1871], S. 101) Vielleicht sind wir also auch bis zum heutigen Tag noch nicht allzu weit gekommen in der Entwicklung einer Moralkonzeption, die auch wirklich tragfähig für unsere moralischen Entscheidungen im Großen und Ganzen ist. Vielleicht wissen wir auch einfach zu wenig über die Zusammenhänge der Natur. Wenn wir uns die Spielereien ansehen, die mit konstruierten Dilemmata als ethische Aufgaben ausgeschrieben werden, finden wir eigentlich meist Nickligkeiten von ethischen Einzelpositionen untereinander, bspw. im "Trolley-Problem". Für gewöhnlich sind uns aber schon sehr viele moralische Probleme "bewusst", wenn wir an Tierethik, Klimaethik, Generationenethik, Verteilungsgerechtigkeit, Kosmopolitismus und Globalisierungsethiken denken; jedoch: Es scheint noch nicht die ,richtige moralische Einsicht‘ gewonnen zu sein, denn auf unser Bewusstsein der Probleme erfolgen noch relativ wenige Handlungen zur Behebung dieser Probleme – sind wir vielleicht doch mit den ganz großen Fragen der Ethik einfach überfordert? Oder sind das im Grunde genommen alles politische und nicht ethische Aufgabenstellungen? Was kann denn der Einzelne schon bewirken? – Es entstehen immer weitere Fragen statt konkrete Antworten…
Um trotz dieser Unklarheiten positiv gestimmt zu bleiben, ergänze ich an dieser Stelle Folgendes: Aus den ethischen Überlegungen der vergangenen 40 Jahre lässt sich deutlich die Tendenz erkennen, die Einzelne und den Einzelnen in einer angemessenen Art und Weise in die Lösung der ethischen Aufgaben unserer Zeit einzubinden. Dabei lässt sich im Kleinen beginnen, was bewusste oder unbewusste Auswirkungen auf das große Ganze haben könnte. Denken wir hierbei etwa an den sog. Effektiven Altruismus, dann haben wir eine gute Grundlage für die Gestaltung eines guten und gelingenden Lebens nach ethischen und vor allem Interner Link: rationalen Richtlinien. Aber ich würde unsere Aufmerksamkeit gerne auch noch auf einen anderen, stärker auf die Theorie ausgerichteten Ansatz lenken. Jeder "große" Entwurf der Moralphilosophie/Ethik muss als solcher doch immer auch sämtliche Facetten der moralischen Fragestellungen beinhalten, die wir hier ansprechen.
Leider gibt es so viele von diesen philosophischen Gedanken, sodass wir sie selbst noch einmal katalogisieren und unter einem Etikett leichter greifbar machen müssen. Und aus diesen Verknappungen ergeben sich dann ziemlich schnell Vorurteile: Kant sei Gesinnungsethiker oder lege Wert auf die Absichten, Utilitaristen schauten nur auf die Konsequenzen einer Handlung usw. Solche vorschnellen Einordnungen führen zu einer Vielfalt an Missverständnissen! Ich kann daher nur empfehlen, selbst in die Klassiker hineinzulesen und sich eine eigene Meinung zu bilden sowie die Fülle an Material und Komponenten zu sichten, die in diesen Texten auftritt (als Hilfestellung kann man ja immer auch die Einführungsliteratur hinzuziehen). Es zeigt sich relativ schnell, dass die moralphilosophischen Ansätze ganz gut miteinander vereinbar sind, wenn man die vielen Vor-Urteile erst einmal ruhen lässt. Wir befragen dann nämlich die Texte danach, in welcher Hinsicht sie eigentlich auf die Problemlösungen in der Ethik ihrer Zeit einwirken möchten. So wird bei Immanuel Kant zu Beginn seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" direkt zu Beginn darauf hingewiesen, dass der Autor das Problem der Moralbegründung (!) lösen möchte – dazu untersucht er die menschlichen Fähigkeiten, mit Prinzipien zu arbeiten, die für alle anderen Menschen ebenso verbindlich sind, wie für denjenigen, der die konkrete Entscheidung zu treffen hat. Lesen wir dann bei Jeremy Bentham in seiner "Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung", dass sein "Prinzip der Nützlichkeit" als vernünftige Grundlage für moralische Entscheidungen dienen solle, so haben wir doch direkt eine passende Anknüpfung an Kants Projekt gefunden: Kant sucht nach Begründungsmöglichkeiten für Prinzipien und Bentham liefert ein ausformuliertes Prinzip; wir müssen nur noch prüfen, ob dieses Prinzip den Kriterien von Kant entspricht. Da die beiden Philosophen sich leider nicht selbst miteinander ausgetauscht haben, müssen wir ihre Texte auf solche Verbindungsmöglichkeiten hin lesen. Auf diese Weise sind wir zwar weit von der eigentlichen ,Praxis‘ entfernt, aber wir lernen doch einiges über uns selbst und lernen, unsere Überzeugungen zu begründen.
Um die Sache kurz zu fassen: Wenn wir bei sämtlichen moralphilosophischen Texten auf die Hinsicht schauen, die sie verfolgen, so lässt sich eine große Landkarte für die Moralphilosophie erstellen, die auf alle Richtungen von moralischen Fragestellungen auch die passenden Wegweiser zur Verfügung stellt. Am Ende münden alle theoretischen Vorschläge in meine ("je meine") eigene Überzeugung, wer (je) ich sein möchte, mit welchem Menschen ich ins Gespräch treten möchte, wenn ich mit mir selbst in eine moralische Überlegung eintrete. So schreibt Hannah Arendt in ihren Vorlesungen "Über das Böse":
"In der Moral geht es um das Individuum in seiner Einzigartigkeit. Das Kriterium von Recht und Unrecht, die Antwort auf die Frage: Was soll ich tun?, hängt in letzter Instanz weder von Gewohnheiten und Sitten ab, die ich mit Anderen um mich Lebenden teile, noch von einem Befehl göttlichen oder menschlichen Ursprungs, sondern davon, was ich im Hinblick auf mich selbst entscheide. Mit anderen Worten: Bestimmte Dinge kann ich nicht tun, weil ich danach nicht mehr in der Lage sein würde, mit mir selbst zusammenzuleben. Dieses Mit-mir-selbst-Zusammenleben ist mehr als Bewußtheit, mehr als die Selbst-Wahrnehmung, die mich bei allem, was ich tue, und in jedem Zustand, in dem ich mich befinde, begleitet. Mit mir selbst zu sein und selbst zu urteilen wird in den Prozessen des Denkens artikuliert und aktualisiert, und jeder Denkprozeß ist eine Tätigkeit, bei der ich mit mir selbst über das spreche, was immer mich gerade angeht." (Arendt 2014, S. 81) Welchen Idealen verschreibe ich mich (Loyalität) und welchen Charakter, welche Haltungen und Einstellungen kultiviere ich an mir selbst? Wie schätze ich mich selbst ein? Und wie handle ich? Liegen zwischen diesen beiden Auffassungen Unterschiede und ist mir das egal oder möchte ich ein wenig "authentischer" werden? Bei der Beantwortung dieser Fragen sollte jede und jeder aber nicht zu hart mit sich selbst ins Gericht gehen. Wie gesagt, die Menschheit ist vielleicht insgesamt erst am Anfang einer Moralentwicklung; wir müssen also nicht direkt perfekt sein. Wir könnten – wenn wir das eben möchten – vielleicht doch einmal für uns durchdenken, wer wir eigentlich sein wollen. Die Freiheit, die wir uns selbst zuschreiben, und eben diese Selbstbestimmung bleiben nämlich die Grundlage einer jeder moralischen Überzeugung und daran wird sich auch sehr wahrscheinlich nichts ändern, solange es überhaupt Moral (als Verbindlichkeit) und damit auch Ethik (als Theorie der Moral) gibt.
Literatur
Arendt, H. (2014). Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper Verlag.
Aristoteles (1990). Nikomachische Ethik. Stuttgart: Reclam
Mill, J. St. (2006). Der Utilitarismus. Stuttgart: Reclam Verlag.
Thomson, J. J. (2020). Das Trolley-Problem. Stuttgart: Reclam.
Das sog. Trolley Problem – ursprünglich von Philippa Foot eingeführt – beschreibt in unterschiedlichen Variationen eine Situation, in der ein Straßenbahnwagen mit Bremsversagen auf eine Weiche zufährt und der Fahrer sich für das Weiterfahren auf Gleis 1 mit fünf dort arbeitenden Gleisarbeitern oder das Umlenken auf Gleis 2 mit einem dort arbeitenden Gleisarbeiter entscheiden muss (vgl. Thomson 2020, S. 7).
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-20T00:00:00 | 2021-05-05T00:00:00 | 2022-01-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/umwelt/bioethik/332557/tiernutzung-eine-einleitung/ | Woran messen wir, ob wir gut mit Tieren umgehen? Welche Maßstäbe gibt es zur Bewertung von ethischen Verhaltensweisen im Umgang mit Lebewesen? Diese und andere Fragen sind grundsätzlich für tierethische Debatten. Der Kernbegriff "Moral" wird dabei ni | [
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Islam und säkularer Rechtsstaat: Grundlagen und gesellschaftlicher Diskurs | Islam in Deutschland | bpb.de | Einleitung
Religion und Säkularität - das mag für manche wie die Vereinigung von Feuer und Wasser klingen. Sind Religionen nicht natürliche Gegner einer weltlich orientierten und auf religionsneutralen Institutionen aufgebauten Ordnung? Tatsächlich haben vor allem die monotheistischen Religionen mit ihren weitreichenden Geltungsansprüchen lange gebraucht, bis sie bereit waren, ihren Frieden mit säkularen Ordnungen zu schließen. Im christlichen Spektrum hat die katholische Kirche diesen Schritt nachhaltig erst im Jahr 1965 mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vollzogen. Immer noch finden sich - stark modifizierte - Staatskirchensysteme in mehreren europäischen Staaten. Auch im Judentum scheint die Lage noch nicht gänzlich geklärt zu sein. Das Modell des Staates Israel als "jüdische Demokratie" nährt eine noch nicht abgeschlossene Debatte in Israel über das Verhältnis beider Sphären.
Vor allem der Islam und sein Normensystem (Scharia) werden von vielen Nichtmuslimen, aber auch manchen Muslimen als der gegenwärtige Bedrohungsfaktor für säkulare demokratische Rechtsstaaten angesehen. Scharia bezeichnet im weiten Sinne alle religiösen und rechtlichen Normen sowie die Instrumente ihrer Auslegung wie die Vorschriften über die rituellen Gebete, das Fasten oder auch das Ehe-, Familien- oder Strafrecht. Manche Strömungen beziehen sich auf einen engen Scharia-Begriff und meinen damit im Wesentlichen das Ehe-, Erb- und Strafrecht.
In den vergangenen Jahren ist ein aggressiver islamischer Extremismus ("Islamismus" ) ideologisch und teils auch massiv gewalttätig gegen säkulare demokratische Rechtsstaaten und ihre Bürger in Erscheinung getreten. Nicht von ungefähr ist dieses Thema daher auch Gegenstand der zweiten Deutschen Islamkonferenz (DIK). Stehen solche Phänomene aber tatsächlich für "den Islam" oder "die Muslime", oder sind sie nicht bedrohliche und mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfende Randerscheinungen? Die angemessene Behandlung derartiger Fragen setzt vor allem eines voraus: eine nüchterne, realistische Sachlichkeit und somit Fairness gegenüber den Menschen. Weder der faktenarme Alarmismus kleinstbürgerlicher Angstphantasien noch blauäugige Parolen, wonach "der Islam" nichts sei als Frieden, helfen bei der Bewältigung realer Probleme und bei der Nutzung positiver Potenziale der Religionen zum gemeinsamen Wohl. Spätes Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft
Angesichts der regelmäßig wiederkehrenden, oftmals wenig differenzierten Islamdebatten ist es nicht immer leicht, die Sachanalyse in den Vordergrund zu stellen. Symptomatisch sind einige kritische Reaktionen auf die Feststellung des Bundespräsidenten Christian Wulff im Oktober 2010, wonach auch der Islam mittlerweile zu Deutschland gehört. Dies gilt umso mehr, als die dauerhafte Präsenz einer erheblichen Anzahl von Musliminnen und Muslimen in Deutschland ein vergleichsweise neues Phänomen ist, das mit Migrationsvorgängen und den damit verbundenen Begleiterscheinungen aufs Engste verbunden ist.
Anders als in klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, den USA oder Australien wird hierzulande Migration von vielen immer noch weit mehr als Bedrohung denn als Chance wahrgenommen. Tatsächlich hat die Zuwanderungspolitik der vergangenen Jahrzehnte vorwiegend eher wenig ausgebildete Arbeitskräfte für die Verrichtung einfacher und körperlich anstrengender Tätigkeiten ins Land gebracht. Deren Arbeitsplätze sind aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels der vergangenen Jahrzehnte weitgehend weggefallen. Anders als zunächst allseits erwartet, ist ein erheblicher Teil dieser Menschen auf Dauer im Land geblieben, ohne dass die notwendigen institutionellen Reaktionen beispielsweise im Bildungsbereich erfolgt wären. Erst in den vergangenen Jahren hat sich dies geändert. Hinzu kommt, dass sich vor allem seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die öffentliche Wahrnehmung von Migranten verändert hat: Zum einen gab es eine diskursive Verschiebung, die sich nunmehr weniger auf "Ausländer" und mehr auf "Muslime" konzentriert, zum anderen dominiert die defizitorientierte Sicht auf die Migranten.
Vielfältige Erfahrungen aus öffentlichen Veranstaltungen zeigen, dass oft umstandslos Probleme mangelnder Sprachbeherrschung und die damit verbundenen Schwierigkeiten im Hinblick auf Bildung und Arbeit, Diskriminierung oder kulturell bedingte Verhaltensweisen (wie das Ehrverständnis oder die Kommunikationskultur) mit der Religion des Islams vermischt werden. Schon deshalb ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung die Themenfelder "Integration" und "Islam" inhaltlich und institutionell getrennt hat, indem nicht nur eine - religionsorientierte - Islamkonferenz etabliert wurde, sondern auch Integrationsgipfel stattfanden und andere integrationsbezogene Aktivitäten entfaltet werden.
Der säkulare Rechtsstaat hat sich bei allen Unvollkommenheiten als das historische Erfolgsmodell erwiesen. Frieden und Wohlstand scheinen auf seiner Grundlage am besten zu gedeihen. Gerade Deutschland hat in der Folge des nationalsozialistischen Terrorstaats und des DDR-Unrechtsregimes allen Anlass, sich eine an der Menschenwürde orientierte, freiheitliche, aber auch wehrhafte Ordnung zu geben. Die aus guten Gründen teils mit Unterstützung, teils gegen erbitterten Widerstand von Religionsvertretern entstandene säkulare Trennung von Religion und staatlicher Machtausübung zählt zu den unverzichtbaren Grundlagen einer solchen staatlichen Ordnung.
Wird sie durch den Islam gefährdet? Wenn Moscheen errichtet werden, wenn Empfehlungen zum Umgang mit muslimischer Religion in Schulen gegeben werden, wenn "Halal-Fleisch" (nach islamischen Regeln geschächtetes Fleisch) und Scharia-konforme Investmentfonds angeboten werden oder wenn einer Iranerin von einem deutschen Gericht die ehevertraglich vereinbarte Zahlung von Goldmünzen im Scheidungsfall zugesprochen wird, befürchten manche eine schleichende, vielleicht sogar offene "Islamisierung" Deutschlands und ein Untergraben des säkularen Staats. Deutsche Rechtsordnung als unumstößliche Grundlage
Notwendiger Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass allein die deutsche Rechtsordnung in allen rechtlich relevanten Bereichen darüber entscheidet, welche Normen in welchem Umfang und innerhalb welcher Grenzen durchgesetzt werden können. Auf dieser Stufe der Letztentscheidung ist das Recht einheitlich und keineswegs "multikulturell". Vielfalt - auch religiöse Vielfalt - allerdings ist unterhalb dieser Schwelle in erheblichem Umfang möglich, teils erwünscht und sogar geboten. Die Zeiten des "cuius regio, eius religio" ("Wessen Gebiet, dessen Religion") sind vergangen.
Andererseits hat sich Deutschland gegen eine streng laizistische und für eine religionsoffene und neutrale Säkularität entschieden, wie es beispielsweise aus Artikel 4 und Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes sowie dem Religionsverfassungsrecht insgesamt zu entnehmen ist. Religion ist keineswegs aus dem öffentlichen Raum verbannt. Sie darf sichtbar werden, sich in die Debatten einmischen und ist ein wichtiger Bestandteil universitärer Forschung und Lehre. Sie findet auch im bekenntnisorientierten Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen vieler deutscher Länder oder im Rahmen vielfältiger anderer Kooperationen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften Raum.
Anders als in streng laizistisch orientierten Systemen wie in Frankreich oder der Türkei wird Religion in Deutschland nicht als Bedrohung des staatlichen Machtanspruchs wahrgenommen, sondern als mögliche positive Ressource für das Zusammenleben und die gemeinnützige Sinnstiftung. Nicht nur deshalb sind die Religionen aufgefordert, extremistische Potenziale in den eigenen Reihen ernst zu nehmen und ihnen mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten entgegenzutreten. Religiöse Normen versus Rechtsnormen
Generell muss zwischen religiösen Normen (wie Beten und Fasten) und Rechtsnormen (wie Vertragsrecht, Familienrecht und Strafrecht) unterschieden werden. Dies ist aus der Sicht des deutschen Rechts erforderlich, aber auch aus islamischer Perspektive möglich und bereits in der frühen Normenordnung des Islams angelegt, wenngleich es durchaus Überschneidungsbereiche zwischen Recht und Religion gibt.
Religiöse Normen, auch solche der Scharia, genießen den Schutz der in Deutschland weitreichenden Religionsfreiheit. Abgesehen von historisch begründeten und immer noch rechtsverbindlichen Sonderregelungen gelten für alle Religionen und Weltanschauungen (es geht hier um Individuen und ihre individuelle Religionsfreiheit oder Organisationen und ihre kollektive Religionsfreiheit, nicht um "die Religion" schlechthin) dieselben Rechte und Pflichten. Unser Verfassungssystem kennt keinen "christlichen Religionsvorbehalt", auch wenn das Christentum sicherlich in besonderer Weise kulturprägend war und es nach wie vor ist. Sie kann aber nur in dieser Funktion auch besondere Rechtsrelevanz gewinnen, beispielweise im Hinblick auf die Inhalte von Lehrplänen. Mit anderen Worten: Was der Mehrheit zusteht, steht auch den Angehörigen kleinerer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu. So gesehen ist es eine schlichte Normalität, dass eine auf Dauer im Lande lebende Bevölkerungsgruppe, zusehends auch als deutsche Staatsangehörige, eine religiöse Infrastruktur aufbaut.
Im Bereich rechtlicher Normen herrscht weitgehend das Territorialprinzip: Jeder Staat wendet die ihm eigenen Sachnormen an. Das gilt annähernd uneingeschränkt für das Strafrecht und das gesamte öffentliche Recht, die das Handeln in staatlicher Souveränität und die Aufrechterhaltung unerlässlicher gemeinsamer Verhaltensstandards zum Gegenstand haben.
Im Bereich des Privatrechts jedoch gelten Besonderheiten dort, wo das Wohl einzelner Privatpersonen bei der Ordnung ihrer Verhältnisse im Vordergrund steht. Deshalb stellt die deutsche Rechtsordnung Regeln für "internationale" Sachverhalte im Hinblick darauf auf, welches Recht im konkreten Fall als das sachnächste anzusehen ist. Man ist also im Grundsatz dazu bereit, auch fremdes Recht anzuwenden, wenn es sachnäher ist als das eigene. So kann es dazu kommen, dass, wie oben erwähnt, ein deutsches Gericht ehevertragliche Ansprüche nach iranischem Recht durchsetzt. Weshalb sollte auch eine Ehefrau nicht Vermögenswerte zur Absicherung nach der Scheidung erhalten können? Was ist anstößig an der Zahlung von Goldmünzen anstelle der Zahlung in einer hoch inflationären Währung? Damit sind jedoch zugleich die Grenzen (sogenannter ordre public) angedeutet: Wo die Anwendung fremden Rechts zu Ergebnissen führen würde, die unseren rechtlichen Grundentscheidungen widersprechen, endet die Bereitschaft zu solcher Rechtsanwendung. Deshalb kann es im Inland ebenso wenig eine - noch dazu nur dem Ehemann vorbehaltene - einseitige Privatscheidung geben noch eine unflexible, patriarchalisch orientierte Zuordnung des Sorgerechts für Kinder nach Alter und Geschlecht oder ein Eheverbot zwischen Musliminnen und Nichtmuslimen, wie es dem traditionellen islamischen Recht entspricht.
Nach alledem gibt es dennoch Grund zur Entwarnung: Maßgeblich für die Rechtssprechung in Deutschland bleibt im Grundsatz und nach den auch international üblichen Maßstäben das deutsche Recht. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch in vielen - nicht allen - islamisch geprägten Staaten wie Marokko, Jordanien oder Ägypten Reformen erkämpft werden, welche die Ungleichbehandlung der Geschlechter und Religionen aufheben oder jedenfalls eindämmen sollen, während andernorts wie in Nigeria oder in Pakistan politisierte Rückschritte ins juristische Patriarchat auf den Weg gebracht wurden. Auch daran zeigt sich die Vielgestalt der Interpretation nur scheinbar einheitlicher Regelungen im Islam. Gefährdung durch den Islam?
Ist der demokratische Rechtsstaat, der Einheit und individuelle Gestaltungsfreiheit in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen versucht, durch den Islam gefährdet? Eine bündige Antwort auf die so gestellte Frage ist unmöglich: Die Positionen des Islams und der Muslime sind dafür zu vielgestaltig, da auch der Islam alles andere als ein monolithischer Block ist. Deshalb müssen wir die Situation in Deutschland und Europa gesondert von der in anderen Teilen der Welt betrachten. Die Unterscheidung ist wichtig, weil Muslime gerade in freiheitlichen Rechtsstaaten offen und ohne machtpolitischen Druck über Fragen ihrer Religion debattieren und publizieren können.
Andererseits ist es ebenso wahr wie beklagenswert, dass insbesondere in weiten Teilen der arabischen Welt offene Debatten über die hier behandelten Fragen nicht geführt werden können, weil dort Menschenrechte unterdrückt werden, worunter auch die Meinungsfreiheit leidet und die Entwicklung von offenen Diskursräumen verhindert wird. Neben vielen politischen Ursachen ist dieser Zustand auch dadurch bedingt, dass eine breite, intolerante Schicht von Religionsgelehrten und religiösen Autodidakten durch solche Debatten ihre Macht bedroht sieht oder generell extrem intoleranten Spielarten des Islams folgt, wie beispielsweise dem in Saudi-Arabien dominierenden Wahhabismus.
Zunächst ist festzuhalten, dass neben den vielen schon im Inland geborenen oder hier sozialisierten deutschen Muslimen auch diejenigen vom Balkan oder aus der Türkei in einer rechtskulturellen Umgebung aufgewachsen sind, die sich seit vielen Jahrzehnten an europäischen Staats- und Rechtssystemen orientieren und sich explizit von islamrechtlich ausgeprägten Systemen abgewandt haben. Aber auch unter Muslimen aus anderen Teilen der vom Islam geprägten Welt finden sich Anhänger des demokratischen Rechtsstaats in großer Zahl. Nicht wenige von ihnen sind den dortigen, säkular oder religiös legitimierten Diktaturen entflohen.
Breit angelegte Untersuchungen in Deutschland aus jüngerer Zeit belegen, dass die Zustimmung zu den Grundlagen des deutschen Staats- und Rechtssystems unter Muslimen ungefähr so groß ist wie unter der Gesamtbevölkerung. Teilweise ist ihr Vertrauen in die deutschen Institutionen sogar stärker ausgeprägt. Mit aller Vorsicht kann gesagt werden, dass die wohl bei weitem größte Gruppe von Muslimen diejenige der "Alltagspragmatiker" ist, welche sich wie wohl der größte Teil der Bevölkerung überhaupt ohne tiefere Reflexion in das bestehende System einfindet und es in seinen Grundentscheidungen - einschließlich der Menschenrechte - bejaht. Innerislamische Meinungsvielfalt
Muss man sich dafür vom Islam schlechthin abwenden, wie es eine kleine, aber lautstarke Zahl ideologisierter Islamkritiker behauptet? Eine solche Haltung spiegelt eine profunde Unkenntnis der Materie wider. Das Normensystem des Islams, die Scharia, ist auch und gerade in ihren diesseitsbezogenen rechtlichen Anteilen alles andere als ein unveränderliches Gesetzbuch. Auch der Islam trennt schon seit seiner Frühzeit Diesseits und Jenseits, religiöse und rechtliche Sachverhalte, auch wenn es mancherlei Verbindungen und Verflechtungen gibt. Auch im Islam wurde seit jeher die Frage erörtert, welche Normen in welchem Kontext und in welcher Weise zu interpretieren sind.
In der kulturellen Blütezeit des islamischen Mittelalters, aber auch wieder in der Gegenwart wird dem eigenständigen Nachdenken und Interpretieren (Idschtihad) der religiösen Quellen breiter Raum gegeben. Bereits bei der Frage, welche Normen in welchem Verhältnis zueinander stehen, und ob die eine die andere außer Kraft setzen kann, wurden und werden die unterschiedlichsten Meinungen vertreten. Auch der Koran als oberste normative Quelle enthält keinerlei eindeutige Aussagen zu Staatsaufbau und Rechtssystem sowie zu den Menschenrechten. Immer sind es Menschen, die geprägt von Ausbildung, Vorverständnis sowie dem historischen und sozialen Kontext die Normen nach Geltung und Inhalt zu interpretieren haben, und die demgemäß zu sehr diversen Ergebnissen kommen.
Unter denjenigen, die religionsbezogene Positionen beziehen, finden sich Traditionalisten ebenso wie solche, die sich auch mental-intellektuell in Deutschland und Europa "einheimisch" fühlen. Anders als die Traditionalisten sehen sie muslimisches Leben hierzulande nicht als strukturellen Ausnahmezustand an, in dem man sich mit Kompromisslösungen zurechtfinden muss, sondern begreifen ihre Lebenssituation als die neue Normalität eines Islams in religionspluralen Gesellschaften und religionsneutralen Staaten. Diese Richtung ist insbesondere im schulischen und akademischen Bereich sowie in Nichtregierungsorganisationen besonders häufig anzutreffen. Dies spricht dafür, dass der zu etablierende islamische Religionsunterricht an Schulen, die entsprechende universitäre Ausbildung der Lehrkräfte und die Etablierung einer islamischen Theologie an Universitäten den wünschenswerten Prozess muslimischer Selbstreflexion und -bestimmung im Rahmen des säkularen Rechtsstaats deutlich voranbringen werden.
Explizite Gegner des säkularen demokratischen Rechtsstaats bilden eine vergleichsweise kleine, aber gefährliche Richtung in Gestalt des "Islamismus". Dies ist eine auch im Spektrum des Islams durchaus neue politische Richtung, wenngleich sie sich fälschlich als Vertreter einer Rückbesinnung auf den "wahren Islam" ausgibt. Das traditionelle islamische Staatsrecht ist seit seiner Frühzeit ausgesprochen vage und lässt die unterschiedlichsten Herrschaftsmodelle zu. Folgerichtig finden sich in der Neuzeit auch viele Gelehrte, welche die Demokratie als das System des Islams im 20. und 21. Jahrhundert ansehen. Dagegen richten sich Islamisten mit der Parole, alleine Gott könne Gesetzgeber sein, weltliche Mehrheitsentscheidungen ohne Letztorientierung auf den Islam hin seien inakzeptabel und zu bekämpfen. Nichtmuslimen wird nur eine zwar im Grundsatz geschützte, aber von Gleichberechtigung weit entfernte Position zugewiesen.
Es geht diesen Ideologen also primär um die Durchsetzung des eigenen Machtanspruchs im religiösen Gewand, wobei nur ein geringer Teil von ihnen unmittelbar zur Gewaltanwendung greift (sogenannter Dschihadismus), während die meisten eine legalistische Strategie über Bildungs- und Sozialeinrichtungen verfolgen. Der Iran der Gegenwart ist ein Realität gewordenes Modell solcher Haltungen. Einschlägige extremistische Aktivitäten entfaltet in Europa beispielsweise die Gruppierung Hizb al-Tahrir. Zu nennen sind aber auch diejenigen, die hier lebende Muslime zu scharfer Abgrenzung gegen Christen und Nichtmuslimen generell anhalten und sie zur Bildung von Parallelstrukturen aufrufen ("Unterwerft euch nicht den Entscheidungen der Ungläubigen!"), wie es weit verbreiteten Fatwa-Bänden der prominenten saudi-arabischen Gelehrten Ibn Baz und al-Uthaymeen zu entnehmen ist.
Solche Positionen stoßen allerdings auch in der islamisch geprägten Welt auf Ablehnung. Nicht zuletzt sind insbesondere unter Jüngeren populäre, charismatische Personen zu nennen, die nicht über Herrschaftsmodelle diskutieren, sondern im Wege gesellschaftlicher Fundamentalkritik letztlich einen auch politischen Ausschließlichkeitsanspruch propagieren. Auch sie erscheinen trotz ihres besonderen Infiltrationspotenzials indes nicht mehrheitsfähig zu sein.
Nach alledem ist es grundlegend verfehlt, "den Islam" auf eine nur fiktive Essenz festzulegen und daraus einen Gegensatz zum säkularen Rechtsstaat zu konstruieren. Wer so vorgeht, unterstützt im Grunde das Geschäft des Islamismus. Ein Mangel an analytischen Fähigkeiten und wissenschaftlicher Redlichkeit zeigt zudem eine gelegentlich anzutreffende Vergleichsperspektive, welche das Deutschland der Gegenwart mit der islamischen Welt der Vergangenheit in Beziehung und Gegensatz zueinander setzt, damit aber auf die gegenwärtig hier lebenden Muslime abzielt. Der neue Volkssport, in Leserbriefen und Internetblogs Koransuren aus ihrem textlichen und interpretativen Kontext zu reißen und daraus ein Bedrohungsszenario zu konstruieren, ist ein Dokument dieser Ignoranz. Perspektiven
Der Islam steht nicht im strukturellen Gegensatz zum säkularen demokratischen Rechtsstaat. Positionen muslimischer Extremisten lassen sich nicht verallgemeinern und sind unter Muslimen auch nicht mehrheitsfähig. In der Folge darf sich die notwendige Bekämpfung des islamischen Extremismus nicht gegen Muslime insgesamt richten. Sie bilden keineswegs eine "Gegengruppe" zur sonstigen Bevölkerung, sondern sind Teil der deutschen Gesamtgesellschaft. Als in ihrer übergroßen Mehrheit rechtstreue Bürger haben sie Anspruch auf die gleichen Rechte und unterliegen den gleichen Pflichten wie alle anderen.
Die Grundlagen unserer Rechtsordnung müssen immer wieder neu vermittelt werden, durch alle Bevölkerungsgruppen und über die Generationen hinweg. Entsprechende Akzeptanz ist kein Selbstläufer, sondern bedarf gesamtgesellschaftlicher Überzeugungsarbeit in Abwehr und zur Verhinderung jeglicher Formen von Extremismus. Den demokratischen Rechtsstaat lehnen nicht nur Islamisten ab, sondern auch Rechts- und Linksextreme. Gleichzeitig ist es ein unerlässlicher Bildungsauftrag in Richtung der Gesamtbevölkerung, dass die vom Rechtsstaat garantierten Grundrechte nicht nur der Mehrheit zustehen, sondern dass entgegen verbreiteten Ressentiments auch Minderheiten wie Muslime den gleichen religionsverfassungsrechtlichen Schutz genießen. In Zeiten sich häufender Brandanschläge gegen Moscheen muss daran erinnert werden.
Im islamischen Spektrum ist es erforderlich, über alltagspraktische Handhabung hinaus religionsorientierte und religiös vermittelbare Positionen weiterzuentwickeln, die Muslimen auch aus religiöser Sicht einen Weg in die Mitte der Gesellschaft aufzeigen. Ansätze hierfür sind vorhanden und müssen weiter ausgebaut werden. Insbesondere finden sich wesentliche Bereiche inhaltlicher Übereinstimmung in islamischen und säkularen Grundlagennormen (overlapping consensus), die man nutzbar machen kann. So kann auch der Islam positive Beiträge zu gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen leisten, Muslime können sich über religiöse Organisationen hinaus - wie es schon zusehends der Fall ist - in nicht religiös ausgerichteten Kontexten einbringen. Das setzt die Bereitschaft zur Öffnung auf allen Seiten voraus. Diese Erkenntnis ist auch psychologisch bedeutsam: Wer mag schon fortwährend als "Problem" wahrgenommen und benannt werden? Nur bei offener und empathischer - nicht blauäugiger - Bereitschaft zur Verständigung kann aus dem schon weitgehend funktionierenden Nebeneinander immer mehr Miteinander wachsen.
Missverständnisse im Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland sind nicht selten. Verständnisprobleme wurzeln häufig in unterschiedlichen Dialogkulturen, soweit Muslime stark von Kommunikationsformen aus ihren Herkunftsländern geprägt sind. Sachliche Anfragen und Kritik werden häufig als persönlicher Angriff verstanden. Manchmal mag das beabsichtigt sein, oft aber nicht. Umgekehrt wirken die in den meisten Herkunftsländern der Muslime geläufigen "gesichtswahrenden" Formen indirekter Problembenennung und Kritik im mitteleuropäischen Kommunikationskontext als Ausweichen und Verschleierung. Manchmal mag auch das beabsichtigt sein, oft aber nicht.
Schließlich fügt sich die Debatte um den Islam in Deutschland in größere, zukunftsbestimmende Zusammenhänge: Welche Rolle sollen Religionen und Weltanschauungen künftig im öffentlichen Raum spielen? Wie soll die Kooperation zwischen ihren Organisationen und dem Staat gestaltet werden? Hier gilt es, immer wieder eine angemessene, breit vermittelbare Haltung fernab der Extreme von Religionsdiktatur und säkularistischer Ersatzreligion zu definieren.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Behauptung eines clash of civilizations ein intellektuelles Krisenphänomen ist. Sie unterstellt fälschlich eine innere Homogenität unterschiedlicher - und als strukturell gegensätzlich angesehener - Kulturen. Eher ist ein kulturenübergreifender clash of minds erkennbar: Wer die Grundlagen des säkularen demokratischen Rechtsstaats als gemeinsame Hausordnung akzeptiert, verdient auch seinen vollen Schutz. Extremismus dagegen muss bekämpft werden, und dieser Kampf sollte möglichst alle mobilisieren können, die von ihm bedroht sind, über alle Religionen und Weltanschauungen hinweg.
Vgl. beispielsweise die Diskussionen in Israel anlässlich der Einführung eines Treueschwurs auf N-TV online vom 10.10.2010, www.n-tv.de/politik/Israel-verlangt-Treueschwur-article1682986.html (9.2.2011).
Vgl. Mathias Rohe, Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, München 20092.
Vgl. zur (noch unscharfen) Begrifflichkeit des "Islamismus" und seinen maßgeblichen Inhalten ders., Islamismus und Schari'a, in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (Hrsg.), Integration und Islam, Nürnberg 2005, S. 120-156.
Vgl. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, Berlin 2010.
Vgl. Matthias Drobinski, Die neue deutsche Frage, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.10.2010.
Vgl. Naika Foroutan, Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland?, in: APuZ, (2010) 46-47, S. 9-15; Dietrich Thränhardt, Integrationsrealität und Integrationsdiskurs, in: ebd., S. 16-21.
Der vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur von Rheinland-Pfalz Anfang des Jahres 2011 herausgegebene Leitfaden "Muslimische Kinder und Jugendliche in der Schule" ist inhaltlich am geltenden Recht orientiert. Dennoch löst er Irritationen aus, Kritiker bezeichnen einige Empfehlungen als "antiaufklärerisch". Das Faltblatt ist online: http://eltern.bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/eltern.bildung-rp.de/Faltblatt_Muslimische_Kinder_und_Jugendliche_in_der_Schule.pdf (9.2.2011). Vgl. zur Diskussion darüber Abdul-Ahmad Rashid, Handreichungen für Lehrer in der Kritik, online: www.forumamfreitag.zdf.de/ZDFde/inhalt/24/0,1872,8202616,00.html (9.2.2011).
Vgl. Mathias Rohe, Islamisierung des deutschen Rechts?, in: JuristenZeitung, 62 (2007) 17, S. 801-806.
Vgl. Axel Freiherr von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, München 20064.
Vgl. M. Rohe (Anm. 2), S. 9ff. Dies verkennt Tilman Nagel, Lohn und Strafe im Diesseits und im Jenseits, Rezension zu M. Rohe (Anm. 2), online: www.nzz.ch/nachrichten/kultur/buchrezensionen/lohn_und_strafe_im_diesseits_und_im_jenseits_1.3981865.html (9.2.2011).
Vgl. Katrin Brettfeld/Peter Wetzels, Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen, herausgegeben vom Bundesministerium des Inneren, Berlin 2007, S. 24ff., S. 492ff.; BAMF (Hrsg.), Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009.
Weitere typische Grundhaltungen unter Muslimen in Europa sind Islamgegner, die vor allem vor dem Hintergrund negativer persönlicher Erfahrungen eine islamkritische Grundhaltung pflegen, Islamisten, die sich durch eine eher aggressive Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft auszeichnen, Traditionalisten, die zwar eine traditionalistische Haltung pflegen, aber auf eine Verständigung mit der Mehrheitsgesellschaft hin ausgerichtet sind, sowie einheimische Muslime, die dafür plädieren, das Leben von Muslimen in Europa als Regel anzusehen. Vgl. M. Rohe (Anm. 2), S. 383ff.
Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Kiefer in dieser Ausgabe.
Bestehende Probleme resultieren weitgehend aus bildungsbezogenen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im Zusammenhang mit Migrationsvorgängen. Hier nicht behandelt wird die gewiss dringend zu beachtende Frage, ob und wieweit religiöse oder - so zu vermuten - vor allem kulturelle und soziale Prägungen beispielsweise eine vergleichsweise höhere Gewaltbereitschaft bedingen, wie sie in manchen Untersuchungen konstatiert wird. Vgl. Katja Irle, Zweifelhafte Rolle der Imame, in: Frankfurter Rundschau vom 7.6.2010, online: www.fr-online.de/politik/zweifelhafte-rolle-der-imame/-/1472596/4471348/-/index.html (9.2.2011).
| Article | , Mathias Rohe | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-06T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33391/islam-und-saekularer-rechtsstaat-grundlagen-und-gesellschaftlicher-diskurs/ | Der Islam wird von vielen als Bedrohungsfaktor für säkulare Rechtsstaaten angesehen. Doch gegen einen strukturellen Gegensatz spricht die hohe Zustimmung zu den Grundlagen des deutschen Staats- und Rechtssystems unter Muslimen. | [
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NSU-Prozess: Urteil nach fünf Jahren | Hintergrund aktuell | bpb.de | Nach mehr als Interner Link: fünf Jahren und 430 Verhandlungstagen hat der Vorsitzende Richter Manfred Götzl im Prozess um die Morde und Anschläge des "Interner Link: Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) am 11. Juli 2018 das Urteil verkündet: Das Oberlandesgericht München (OLG) verurteilte die Hauptangeklagte Beate Zschäpe zu einer lebenslangen Haftstrafe. Auch die vier Mitangeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt.
Der Nationalsozialistische Untergrund
Die rechtsterroristische Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) soll in den Jahren 2000 bis 2007 zehn Menschen umgebracht haben – davon neun aus rassistischen Motiven. Unter den Opfern waren acht türkisch- und ein griechischstämmiger Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Außerdem hat die Gruppe mindestens zwei Sprengstoffattentate durchgeführt, bei denen zahlreiche Menschen teilweise schwer verletzt wurden, sowie zahlreiche Banküberfälle verübt.
Das rechtsterroristische Netzwerk blieb über ein Jahrzehnt lang von der Polizei unentdeckt. Zschäpe hatte mit ihren Freunden Mundlos und Böhnhardt im Untergrund gelebt. Bereits im September 2000 hatten Böhnhardt und Mundlos den türkischen Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg erschossen. Doch erst am 4. November 2011 kamen die Ermittler den Tätern auf die Spur. Böhnhardt und Mundlos hatten eine Sparkasse überfallen – ein Zeuge notierte sich das Kennzeichen ihres Fluchtfahrzeugs. Als sich die Polizei dem Fluchtwagen näherte, soll Mundlos zunächst Böhnhardt erschossen und anschließend das Fahrzeug in Brand gesetzt haben. Danach soll er die Waffe gegen sich selbst gerichtet haben. Der genaue Tathergang ist bis heute umstritten. In Zwickau steckte kurz darauf Zschäpe die Wohnung der drei in Brand, wohl um Beweise zu vernichten und verschickte ein Video, indem sich die Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund zu Morden und Sprengstoffanschlägen bekennt. Wenige Tage später stellte sie sich der Polizei.
Der Münchner NSU-Prozess hatte am 6. Mai 2013 begonnen. Das Verfahren verzögerte sich jedoch mehrmals – etwa wegen diverser Befangenheitsanträge oder Erkrankungen.
Der Vorsitzende Richter sprach Zschäpe des Interner Link: zehnfachen Mordes für schuldig. Sie hatte die Beteiligung an den Taten zuletzt noch einmal bestritten. Ihre Verteidigung hatte insbesondere darauf hingewiesen, dass es keine Beweise dafür gebe, dass die 43-Jährige sich tatsächlich an einem der Tatorte aufgehalten hat. Für Götzl war dies jedoch nicht entscheidend. Der Vorsitzende Richter sah die Frau, die sich im November 2011 der Polizei in Jena gestellt hatte, nach Abwägung aller Beweise und Indizien als gleichberechtigtes Mitglied eines eingeschworenen Trios an.
Zschäpe sei mit den anderen beiden Mitgliedern des NSU, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, übereingekommen, als zusammengeschlossener Verband Menschen aus antisemitischen oder anderen Gründen zu töten, sagte der Vorsitzende Richter. Er führte aus, die Taten seien nur unter Mitwirkung Zschäpes durchführbar gewesen. Sie sei vor allem für die Zuflucht der Täter im Untergrund zuständig gewesen.
Verteidigung akzeptiert das Urteil nicht
Die Richter gingen bei dem Interner Link: einzigen überlebenden Mitglied des NSU von einer besonderen Schwere der Schuld aus. Eine Haftentlassung ist damit nach 15 Jahren rechtlich theoretisch möglich, jedoch praktisch so gut wie ausgeschlossen. Wird eine besondere Schwere der Schuld festgestellt, legt die Strafvollstreckungskammer nach 15 Jahren fest, ob aufgrund der Schuld noch weitere Zeit im Gefängnis verbüßt werden muss. Eine Sicherungsverwahrung, die zu einem lebenslangen Entzug der Freiheit nach Verbüßung der Haftstrafe führen kann, wurde nicht verhängt.
Zschäpe hatte in ihrem Schlusswort gesagt: „Bitte verurteilen Sie mich nicht stellvertretend für etwas, was ich weder gewollt noch getan habe.“ Bis Ende 2015 hatte sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, dann die direkte Beteiligung an den Morden bestritten und angegeben, erst im Nachhinein von den Taten erfahren zu haben. Sie hatte jedoch gestanden, von den Banküberfällen gewusst zu haben. Ihre Verteidiger wollen nun vor dem Bundesgerichtshof in Revision gehen, also das Urteil auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen lassen. Sie sehen Zschäpes Mittäterschaft als nicht bewiesen an.
Die rechtsterroristische Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) soll in den Jahren 2000 bis 2007 zehn Menschen umgebracht haben – davon neun aus rassistischen Motiven. Unter den Opfern waren acht türkisch- und ein griechischstämmiger Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Außerdem hat die Gruppe mindestens zwei Sprengstoffattentate durchgeführt, bei denen zahlreiche Menschen teilweise schwer verletzt wurden, sowie zahlreiche Banküberfälle verübt.
Das rechtsterroristische Netzwerk blieb über ein Jahrzehnt lang von der Polizei unentdeckt. Zschäpe hatte mit ihren Freunden Mundlos und Böhnhardt im Untergrund gelebt. Bereits im September 2000 hatten Böhnhardt und Mundlos den türkischen Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg erschossen. Doch erst am 4. November 2011 kamen die Ermittler den Tätern auf die Spur. Böhnhardt und Mundlos hatten eine Sparkasse überfallen – ein Zeuge notierte sich das Kennzeichen ihres Fluchtfahrzeugs. Als sich die Polizei dem Fluchtwagen näherte, soll Mundlos zunächst Böhnhardt erschossen und anschließend das Fahrzeug in Brand gesetzt haben. Danach soll er die Waffe gegen sich selbst gerichtet haben. Der genaue Tathergang ist bis heute umstritten. In Zwickau steckte kurz darauf Zschäpe die Wohnung der drei in Brand, wohl um Beweise zu vernichten und verschickte ein Video, indem sich die Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund zu Morden und Sprengstoffanschlägen bekennt. Wenige Tage später stellte sie sich der Polizei.
Der Münchner NSU-Prozess hatte am 6. Mai 2013 begonnen. Das Verfahren verzögerte sich jedoch mehrmals – etwa wegen diverser Befangenheitsanträge oder Erkrankungen.
Weitere Haftstrafen für Mitangeklagte
Auch Zschäpes Mitangeklagte verurteilte das Gericht zu Haftstrafen. Der einstige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben erhielt wegen Beihilfe zum Mord eine zehnjährige Gefängnisstrafe. Die Bundesanwaltschaft hatte zwölf Jahre gefordert. Er soll die Pistole, eine Ceska 83, beschafft haben, mit der der Interner Link: NSU später neun Migranten ermordete. Auch Wohllebens Anwälte kündigten an, die nächste Instanz anzurufen. Sie hatten zuvor auf Freispruch plädiert.
Carsten S., der gestanden hatte, im Jahr 2000 Überbringer der Tatwaffe gewesen zu sein, wurde zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Sein umfassendes Geständnis rechnete das Gericht zu seinen Gunsten an. Carsten S. lebt inzwischen in einem Zeugenschutzprogramm. Auch Holger G. wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte nach eigener Aussage einmal eine Waffe überbracht sowie Personalpapiere für Uwe Böhnhardt beschafft.
André E. wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt – wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Die Staatsanwaltschaft hatte zwölf Jahre Haft gefordert. Sie hatte beantragt, den 38-Jährigen wegen Beihilfe zu der Mordserie zu verurteilen. Der Haftbefehl gegen E., der bereits seit September in Untersuchungshaft saß, wurde außer Kraft gesetzt.
Kritiker des NSU-Verfahrens, darunter Angehörige der Opfer des NSU, beurteilen nicht nur einige der Haftstrafen als zu milde, sondern sehen weiterhin massiven Aufklärungsbedarf über die Hintergründe der Morde. Vor allem die Rolle des Verfassungsschutzes müsse in Augenschein genommen werden. Auch gelte es zu prüfen, ob am Ende nicht doch mehr als drei Täter die Morde gemeinschaftlich begingen. "Wenn das Gericht ehrlich ist, wird es auch noch sagen, dass Lücken geblieben sind. Solange diese Lücken bleiben, können meine Familie und ich nicht abschließen", sagte Gamze Kubasik, die Tochter des in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik. Der Generalbundesanwalt Peter Frank kündigte an, die Ermittlungen fortzusetzen, um weitere offene Fragen zu beantworten, etwa zu weiteren Unterstützern neben den bisher Verurteilten.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-10-27T00:00:00 | 2018-07-12T00:00:00 | 2021-10-27T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/272592/nsu-prozess-urteil-nach-fuenf-jahren/ | Im Mai 2013 begann der Prozess gegen mutmaßliche Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Jetzt wurde die Hauptangeklagte Beate Zschäpe zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Abgeschlossen ist der Fall damit aber noch nicht. | [
"NSU",
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"Beate Zschäpe",
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] | 621 |
"Wie emotional der Antisemitismus argumentierte" | Volksgemeinschaft - Ausgrenzungsgemeinschaft | bpb.de |
Uffa Jensen hielt am ersten Konferenztag den Vortrag "Emotionen und Gemeinschaft". Den Textbeitrag dazu finden Sie Interner Link: hier.
Im Interview: Uffa Jensen
Uffa Jensen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsbereichs Geschichte der Gefühle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Berlin). Er studierte Geschichte und Philosophie in Kiel, Jerusalem, Berlin und New York und promovierte 2003 an der TU Berlin. Danach arbeitete er an der Universität Göttingen sowie an der University of Sussex (GB). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Moderne deutsche Geschichte, Geschichte des Antisemitismus, moderne deutsch-jüdische Geschichte, Geschichte der Psychoanalyse sowie Emotionsgeschichte. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012 (hrsg. mit Maik Tändler).
Uffa Jensen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsbereichs Geschichte der Gefühle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Berlin). Er studierte Geschichte und Philosophie in Kiel, Jerusalem, Berlin und New York und promovierte 2003 an der TU Berlin. Danach arbeitete er an der Universität Göttingen sowie an der University of Sussex (GB). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Moderne deutsche Geschichte, Geschichte des Antisemitismus, moderne deutsch-jüdische Geschichte, Geschichte der Psychoanalyse sowie Emotionsgeschichte. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012 (hrsg. mit Maik Tändler).
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-05T00:00:00 | 2013-01-28T00:00:00 | 2022-01-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/konferenz-holocaustforschung/154031/wie-emotional-der-antisemitismus-argumentierte/ | Uffa Jensen, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, thematisiert im Interview mit Miriam Menzel die emotionale Seite des Antisemitismus und Nationalsozialismus und geht dabei auf die Vorgeschichte der emotionalen und sozialen Beziehungen ein, die | [
"Kollektivschuld",
"Antisemitismus",
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] | 622 |
Allgemeine Geschäftsbedingungen (mit gesetzlichen Informationen) | bpb.de |
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Der Vertragstext wird auf unserem internen System gespeichert. Die AGB können Sie jederzeit unter Interner Link: www.bpb.de/shop einsehen. Die Bestelldaten und die AGB werden Ihnen bei Bestellungen im Online-Shop per E-Mail übermittelt. Bei schriftlichen Bestellungen erhalten Sie die oben genannten Informationen bei Lieferung der Medien in Papierform. 5. Nutzungsbeschränkungen der bpb-Medien
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(1) Die Lieferzeiten und die Höhe der anfallenden Versandkostenpauschale (VKP) sind abhängig vom Versandgewicht und der Länderzone (Deutschland, Länderzone 1-4).
(2) Gesamtgewicht der Lieferung < 1 kg
Medien + Verpackungsmaterial
LandVersandart SendungsformatLieferzeitVKP DeutschlandStandardGroßbrief/ Maxibriefca. 4 Werktage0,00 € Länderzone 1Warenpost Internationalca. 8-17 Werktage5,00 € Länderzone 2ca. 8-14 Werktage5,00 € Länderzone 3ca. 13-23 Werktage5,00 € Länderzone 4ca. 23-63 Werktage5,00 €
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LandVersandart SendungsformatLieferzeitVKP pro Paket (max. 20 kg pro Paket) DeutschlandStandardDHL-Paketca. 4 Werktage5,00 € Länderzone 1DHL-Weltpaketca. 5-18 Werktage14,00 € Länderzone 2 ca. 7-11 Werktage20,00 € Länderzone 3 ca. 7-22 Werktage30,00 € Länderzone 4ca. 11-40 Werktage40,00 €
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(5) Bei Lieferungen ins außereuropäische Ausland können dem Empfänger seitens des Empfängerlandes weitere Kosten in Form von Einfuhrzöllen oder Steuern entstehen.
(6) Bestellungen mit einem Versandgewicht > 100 kg können nur schriftlich (Fax, Post, E-Mail) abgegeben werden. Der Versand erfolgt per Spedition. Außerhalb Deutschlands sind keine Speditionslieferungen möglich.
Versandgewicht > 100 kg
VersandgewichtLieferzeitVKP 100 – 200 kgca. 6 Werktage100,91 € 200 – 250 kg 122,57 € 250 – 300 kg 134,17 € 300 – 400 kg 156,54 € 400 – 500 kg 173,68 € 500 – 600 kg 198,14 € 600 – 700 kg 212,18 € 700 – 800 kg 220,75 € 800 – 900 kg 237,17 € 900 – 1000 kg 251,21 €
(7) Der Besteller/ die Bestellerin trägt Sorge dafür, dass die Annahme der Lieferung auch während der Abwesenheit gewährleistet ist.
(8) Liegt eine Bestellung mit Vorkassenzahlung nach Interner Link: Ziffer 3.4 vor, wird diese erst nach Gutschrift des Rechnungsbetrages auf unser Konto ausgeführt.
(9) Schuladressen beliefert die bpb generell auch in Ferienzeiten. Auf ausdrücklichen Wunsch können jedoch bei Lieferungen innerhalb Deutschlands die Ferienzeiten berücksichtigt werden. Eine Reservierung der bestellten Medien erfolgt jedoch nicht. Sind die Medien am Ende der Ferien vergriffen, so besteht kein Anspruch auf Lieferung.
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(11) Die bpb behält sich vor, Einzelsendungen an einen Empfänger zusammenzufassen.
(12) Werden neben sofort lieferbaren Medien auch Medien bestellt, die gemäß der Produktbeschreibung erst zu einem späteren Zeitpunkt verfügbar sind, so erfolgt der Versand der Medien zu unterschiedlichen Zeitpunkten (Teillieferungen).
8. Zahlungsbedingungen
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(2) Die bpb behält sich vor, Bestellungen mit Rechnungs- oder Lieferadresse außerhalb des SEPA-Zahlungsraums und einem Gesamtbestellwert von mindestens 50 € nur gegen Vorkasse auszuführen. Die Vorkassenrechnung (Annahmeerklärung) wird im PDF-Format an die angegebene E-Mail-Adresse übermittelt und ist binnen 30 Tagen zu begleichen. Ist nach Ablauf der Frist kein Zahlungseingang zu verzeichnen, wird die Bestellung storniert.
(3) Barzahlung bzw. Zahlung per Kreditkarte oder Scheck ist nicht möglich.
(4) Nimmt die bpb aufgrund unterschiedlicher Lieferzeiten mehrere Teillieferungen vor, so wird für jede Teillieferung eine separate Rechnung ausgestellt.
(5) Sind Liefer- und Rechnungsadresse identisch, so wird die Rechnung der Sendung beigelegt. Besteht eine Sendung aus mehreren Paketen, so enthält eines der Pakete die Gesamtrechnung. Weicht die Lieferadresse von der Rechnungsadresse ab, so wird die Rechnung im PDF-Format an die angegebene E-Mail-Adresse übermittelt. Auf Wunsch ist der Versand einer Papierrechnung möglich.
(6) Bei Auslandsüberweisungen können seitens der Banken hohe Gebühren entstehen. Diese Bankentgelte sind vom Besteller/der Bestellerin zu übernehmen (sogenannte OUR-Überweisung). Innerhalb des "einheitlichen Euro-Zahlungsraumes (SEPA)" wird eine kostengünstige SEPA-Überweisung in der Währung EURO empfohlen.
(7) Erfolgt 30 Tage nach der 2. Mahnung kein Zahlungseingang, kann die bpb weitere Bestellungen nicht berücksichtigen.
9. Eigentumsvorbehalt
Die Medien bleiben bis zur vollständigen Zahlung des Rechnungsbetrages Eigentum der Bundesrepublik Deutschland.
10. Gewährleistung
Für alle Informationsmedien der bpb bestehen die gesetzlichen Gewährleistungsrechte.
11. Widerrufsrecht
Verbraucher haben ein vierzehntägiges Widerrufsrecht. Machen Sie von Ihrem Widerrufsrecht Gebrauch, so tragen Sie die unmittelbaren Kosten der Rücksendung der Medien. Sollten Sie für die Rücksendung der Medien die Dienstleistung einer Spedition in Anspruch nehmen, so orientieren sich die entstehenden Kosten an den unter Punkt 7.6 genannten Beträgen (VKP). Widerrufsbelehrung
Interner Link: Klicken Sie hier für die Widerrufsbelehrung in leichter Sprache Interner Link: Klicken Sie hier für die Allgemeinen Geschäftsbedingungen in Gebärdensprache
Widerrufsrecht
Sie haben das Recht, binnen vierzehn Tagen ohne Angaben von Gründen diesen Vertrag zu widerrufen. Die Widerrufsfrist beträgt vierzehn Tage ab dem Tag, an dem Sie oder ein von Ihnen benannter Dritter, der nicht der Beförderer ist, die Waren in Besitz genommen haben bzw. hat. Um Ihr Widerrufsrecht auszuüben, müssen Sie uns
IBRo Versandservice GmbH bpb-Widerruf Kastanienweg 1 18184 Roggentin E-Mail: E-Mail Link: bestellungen@shop.bpb.de Tel: +49 (0) 1806 000158 (Preis pro Anruf: 20 ct) Fax: +49 (0) 38204 66-273
mittels einer eindeutigen Erklärung (z.B. ein mit der Post versandter Brief, Telefax, oder E-Mail) über Ihren Entschluss, diesen Vertrag zu widerrufen, informieren. Sie können dafür das beigefügte Muster-Widerrufsformular verwenden, das jedoch nicht vorgeschrieben ist.
Zur Wahrung der Widerrufsfrist reicht es aus, dass Sie die Mitteilung über die Ausübung des Widerrufsrechts vor Ablauf der Widerrufsfrist absenden.
Folgen des Widerrufs
Wenn Sie diesen Vertrag widerrufen, haben wir Ihnen alle Zahlungen, die wir von Ihnen erhalten haben, einschließlich der Lieferkosten (mit Ausnahme der zusätzlichen Kosten, die sich daraus ergeben, dass Sie eine andere Art der Lieferung als die von uns angebotene, günstige Standardlieferung gewählt haben), unverzüglich und spätestens binnen vierzehn Tagen ab dem Tag zurückzuzahlen, an dem die Mitteilung über Ihren Widerruf dieses Vertrages bei uns eingegangen ist. Für diese Rückzahlung verwenden wir dasselbe Zahlungsmittel, dass Sie bei der ursprünglichen Transaktion eingesetzt haben, es sei denn, mit Ihnen wurde ausdrücklich etwas anderes vereinbart; in keinem Fall werden Ihnen wegen dieser Rückzahlung Entgelte berechnet. Wir können die Rückzahlung verweigern, bis wir die Waren wieder zurückerhalten haben oder bis Sie den Nachweis erbracht haben, dass Sie die Waren zurückgesandt haben, je nachdem, welches der frühere Zeitpunkt ist.
Sie haben die Waren unverzüglich und in jedem Fall spätestens binnen vierzehn Tagen ab dem Tag, an dem Sie uns über den Widerruf dieses Vertrages unterrichten, an unseren Versanddienstleister
IBRo Versandservice GmbH bpb Widerruf Verbindungsstr. 1 18184 Roggentin
zurückzusenden oder zu übergeben. Die Frist ist gewahrt, wenn Sie die Ware vor Ablauf der Frist von vierzehn Tagen absenden.
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Weitere Informationen zum Bestellvorgang im Online-Shop
Auswahl der Medien
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Anschrift / Bestellung im Auftrag einer Institution
Bitte geben Sie auf dieser Seite zunächst die Rechnungsadresse der Institution, eine E-Mail-Adresse sowie Ihren persönlichen Namen an (Pflichtinformationen). Unmittelbar nach Abgabe Ihrer Bestellung übermitteln wir automatisch eine Bestellbestätigung mit sämtlichen Vertragsdaten an die angegebene E-Mail-Adresse. Handelt es sich bei der angegebenen Institution um eine Schule und soll die Lieferung der Medien direkt an die angegebene Schuladresse erfolgen, so haben Sie dafür Sorge zu tragen, dass die Lieferung auch während der Ferienzeiten entgegen genommen werden kann. Auf ausdrücklichen Wunsch können jedoch bei Lieferungen innerhalb Deutschlands die Ferienzeiten berücksichtigt werden. Eine Reservierung der bestellten Medien erfolgt jedoch nicht. Sind die Medien am Ende der Ferien vergriffen, so besteht kein Anspruch auf Lieferung. Wollen Sie, dass die Medien erst nach den Schulferien an die Schule geliefert werden, so aktivieren Sie bitte die „Checkbox“ und wählen Sie im "Dropdown-Menü" das Bundesland der Schule aus.
Sollen bei der Lieferung keine Ferienzeiten berücksichtigt werden, so darf an dieser Stelle kein Bundesland angegeben werden. Wollen Sie, dass auf der Rechnung eine Projektnummer, ein Geschäftszeichen oder ein sonstiges Zeichen der Institution abgedruckt wird, so geben Sie dies bitte im Feld „Rechnungszusatz“ an. Auf der Rechnung erscheinen die hier eingetragenen Daten unterhalb der Rechnungsadresse.
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Bestätigung
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Berlin
Projektleitung für angewandte Forschung und wissenschaftliche Begleitung in der Extremismusprävention
Berlin
modus|zad sucht ab sofort eine Projektleitung für angewandte Forschung und wissenschaftliche Begleitung in der Extremismusprävention. Als Zentrum für Deradikalisierungsforschung arbeitet modus|zad insbesondere an praxisorientierter Forschung zur Verbreitung extremistischer Inhalte in den sozialen Medien, wie zum Beispiel auf YouTube oder TikTok.
Die Stelle ist zunächst bis 31. Dezember 2024 befristet und umfasst folgende Aufgaben:
Projektleitung, Teammanagement und Berichtswesen für mehrere (öffentlich geförderte) Projekte mit Fokus auf (angewandte) Forschung und partizipative wissenschaftliche Begleitung in der Extremismusprävention Weiter- und Neuentwicklung von Projektideen und Projektanträgen im Kontext der angewandten Forschung im Themenfeld Extremismus Projektübergreifende Redaktion und Abnahme der modusIzad
Voraussetzung für die Anstellung ist ein abgeschlossenes Masterstudium in einem einschlägigen sozialwissenschaftlichen Fachgebiet (z. B. Soziologie, Politikwissenschaft, Sozialwissenschaft, Soziale Arbeit, Kommunikations- oder Medienwissenschaft). Außerdem gefordert wird mehrjährige Berufserfahrung im Bereich angewandte Forschung und Erfahrung in der Projektleitung und Personalführung. Exzellente Kenntnisse in den Themenfeldern Extremismusprävention und Radikalisierung werden vorausgesetzt.
Arbeitgeber: Modus – Zentrum für angewandte Deradikalisierungsforschung Ort: Berlin Bewerbung: bis 18. August E-Mail Link: per Mail möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von modusIzad
Bildungsreferent:in für die "Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Berlin"
Berlin
ufuq.de sucht zum 1. September 2023 eine:n Bildungsrefert:in für die "Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Berlin".
Die Fachstelle Berlin unterstützt Fachkräfte und Einrichtungen in der schulischen und außerschulischen Bildungs- und Jugendarbeit. Sie reagiert auf Herausforderungen der Migrationsgesellschaft, die sich auch in der Bildungs- und Jugendarbeit stellen. Mit Beratungen und Fortbildungen für Fachkräfte sowie Workshops für Jugendliche fördert die Fachstelle Handlungskompetenzen im Umgang mit gesellschaftlicher und religiöser Diversität und unterstützt bei der Konzeption und Umsetzung von Angeboten der politischen Bildung und Präventionsarbeit.
Die Stelle umfasst 24 Wochenstunden und ist bis 31. Dezember 2024 befristet. Sie umfasst folgende Aufgaben:
Fachliche und methodische Qualifikation und Begleitung der Teamer:innen Inhaltlich-fachliche und methodische Weiterentwicklung von (medienpädagogischen) Workshop-Formaten und Peer-Education-Ansätzen für die Arbeit mit Jugendlichen Konzeption von (digitalen) Arbeitshilfen und Lernmaterialien Repräsentation des Projekts auf Veranstaltungen
Gesucht wird eine Person mit thematisch passendem Studium, fachlicher Expertise im Themenbereich und Erfahrungen in der pädagogischen Arbeit und der politischen Bildung mit Jugendlichen.
Arbeitgeber: ufuq.de Ort: Berlin Bewerbungsfrist: 16. Juli 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de
Sozialarbeiter:in im psychotherapeutisch-psychiatrischen Projekt NEXUS
Berlin
Ab dem 1. Juli 2023 sucht das psychotherapeutisch-psychiatrische Projekt NEXUS eine:n Sozialarbeiter:in in Teilzeit. Das Projekt ist im Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention im Phänomenbereich Islamismus tätig. Es bietet mit einem multiprofessionellen Team Fallhilfen sowie Initiativen der Vernetzung mit dem Gesundheitswesen an. Die Stelle ist zunächst bis zum 31. Dezember 2023 befristet, mit Aussicht auf Verlängerung.
Die Stelle umfasst folgende Aufgaben:
Bedürfnisangepasste, koordinierende und begleitende Unterstützung von Klient:innen mit psychischen Erkrankungen Unterstützung bei der Mobilisierung von Hilfen der Gesundheitsversorgung für Klient:innen (zum Beispiel Kontaktaufnahme zu Ambulanzen, Praxen, Kliniken), Teilhabeleistungen und weiteren sozialen Hilfen Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen (insbesondere Fachberatungsstellen der Distanzierungs- und Ausstiegshilfe
Voraussetzung für die Anstellung ist eine Qualifizierung als Sozialpädagog:in oder Sozialarbeiter:in mit staatlicher Anerkennung. Zudem sind Kenntnisse und Fähigkeiten in der Unterstützung von Menschen mit psychischer Erkrankung notwendig.
Arbeitgeber: Beratungsnetzwerk NEXUS (Charité Universitätsmedizin Berlin) Ort: Berlin Bewerbungsfrist: bis 31. Juli 2023 per E-Mail Link: E-Mail
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Charité
Leitende:r Streetworker:in für Präventions- und Deradikalisierungsarbeit
Berlin
Der Verein Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. sucht eine:n leitende:r Streetworker:in ab sofort in Vollzeit für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in Online-Communities sowie auf öffentlichen Plätzen und Straßen in Berlin. Ziel des Projekts "streetwork@online" ist es, einer islamistisch begründeten Radikalisierung von jungen Menschen im Alter zwischen 14 und 27 Jahren entgegenzuwirken.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Online-Streetwork: Aufbau und Pflege von Social-Media-Kanälen, Interaktion mit der Zielgruppe, Screening des islamistischen Umfeldes, Weiterentwicklung von Präventionsstrategien Offline-Streetwork: Aufbau eines lokalen Netzwerks vor Ort zur Zielgruppenerreichung, Aufsuchende Arbeit im öffentlichen Raum, Kontakt- und Beziehungsarbeit im Lebensraum Fallbezogene Präventions- und Deradikalisierungsarbeit: individuelle Beratung, Begleitung, Vermittlung, Angehörigen- und Netzwerkarbeit Leitung des Projektbüros am Standort Berlin Budget- und Personaleinsatzplanung und Steuerung Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit
Voraussetzung für die Anstellung ist ein Hochschulabschluss im Bereich Soziale Arbeit, Sozialpädagogik oder vergleichbare Qualifikationen. Erwartet werden gute Erfahrungen in der Extremismusprävention und der projektbezogenen Jugendarbeit sowie hohe interkulturelle und mediale Kompetenzen.
Arbeitgeber: Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. (AVP) Ort: Berlin Bewerbungsfrist: 31. Juli 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online
Streetworker:in für Präventions- und Deradikalisierungsarbeit
Berlin
Der Verein Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. sucht für das Projekt "streetwork@online" ab sofort eine:n Streetworker:in für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in Online-Communities sowie auf öffentlichen Plätzen und Straßen in Berlin. Ziel des Projekts ist es, einer islamistisch begründeten Radikalisierung von jungen Menschen im Alter zwischen 14 und 27 Jahren entgegenzuwirken. Es handelt sich um eine 80-Prozent-Stelle.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Kontaktaufnahme mit der Zielgruppe durch aufsuchende Arbeit (online und offline) Begleitung von ideologisch beeinflussten jungen Menschen im Rahmen einer Verweisberatung Beziehungsaufbau mit Radikalisierungsgefährdeten und Umsetzung von ersten Maßnahmen der Deradikalisierung Mitgestaltung von Inhalten und Betreuung eigener Profile in Social Media Regelmäßiges Screening von Inhalten der Online-Communities Weiterentwicklung zielgruppengerechter Präventionsstrategien
Voraussetzung für die Anstellung ist ein Hochschulabschluss im Bereich Soziale Arbeit, Sozialpädagogik, Medienpädagogik, eine passende Ausbildung (Erzieher:in o. ä.) oder vergleichbare Qualifikationen. Erwartet werden Erfahrungen und Fachkenntnisse in Methoden und Ansätzen der Deradikalisierungs- und Distanzierungsberatung.
Arbeitgeber: Akzeptanz, Vertrauen, Perspektive e. V. (AVP) Ort: Berlin Bewerbungsfrist: 31. Juli 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online
Nordrhein-Westfalen
Projektkoordination für das Projekt „Demokratie Leben!“
Düsseldorf
Die Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. sucht ab sofort Unterstützung für die Koordination des Projekts „Demokratie Leben!“ in Teilzeit (25–30 Stunden).
Die Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. (AGB) ist ein freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe aus Düsseldorf und in verschiedenen Feldern der sozialen Arbeit tätig, wie etwa Schulsozialarbeit, Radikalisierungsprävention, Gemeinwesenarbeit und Ganztagsbetreuung.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Planung und Durchführung von Konferenzen und weiteren Veranstaltungen Teilnahme an Netzwerktreffen sowie an Maßnahmen des Bundesprogramms Beratung in Demokratieförderungsmaßnahmen für diverse Einrichtungen sowie Beratung und Unterstützung von Projektantragssteller:innen Verantwortung für den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit Organisation von Fortbildungen und Fachtagen
Gesucht wird eine Person mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium sowie Berufserfahrung im sozialen Bereich, der Beratung und Organisation. Kenntnisse im Bereich Demokratiestärkung sind wünschenswert.
Arbeitgeber: Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. Ort: Düsseldorf Bewerbungsfrist: 14. Juli 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AGB
Fachkraft für Präventionsprogramm "Wegweiser – gemeinsam gegen Islamismus"
Gelsenkirchen
Der Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit (IFAK e. V.) sucht ab sofort eine Fachkraft in Vollzeit für die Beratungsstelle "Wegweiser – gemeinsam gegen Islamismus" in Gelsenkirchen. Das Präventionsprogramm Wegweiser bietet Beratung, Unterstützung sowie Informationen an zum Themenfeld Islamismus und Radikalisierungsprävention.
Die neue Fachkraft soll das Team in der Beratung im Feld gewaltbereiter Salafismus unterstützen. Zudem zählt die Präventionsarbeit mit Jugendlichen – darunter auch Online-Beratung – zu den Aufgaben.
Voraussetzung ist unter anderem ein abgeschlossenes Studium der Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaft, der Pädagogik oder vergleichbaren Studiengängen. Zudem ist eine mindestens einjährige Berufserfahrung in der Jugendhilfe, Beratung oder Netzwerkarbeit notwendig sowie Erfahrung im Social Media-Bereich.
Arbeitgeber: Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit (IFAK e. V.) Ort: Gelsenkirchen Bewerbung: E-Mail Link: per Mail möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von IFAK e. V.
Projektmitarbeiter:in für das Projekt CleaRNetworking
Düsseldorf
Die Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. sucht für das Projekt "CleaRNetworking – Netzwerk zum Umgang mit Hinwendungsprozessen zu politischen und religiösen Phänomenen im schulischen Kontext" ab sofort eine:n Projektmitarbeiter:in in Teilzeit (19,5h pro Woche). Die Stelle ist zunächst befristet bis zum 31.12.2025.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Mitarbeit beim Aufbau und Betreuung einer moderierten Netzwerkstruktur für bereits zertifizierte Clearingbeauftragte und Schulen Durchführung von Clearingverfahren zur Radikalisierungsprävention im schulischen Kontext Durchführung von Intervisionsgruppen und kollegialer Fachberatung Planung, Durchführung und Weiterentwicklung von Weiterbildungsformaten im Kontext der Radikalisierungsprävention sowie Weiterentwicklung von Interventionsformaten Mitarbeit an projektbezogenen Publikationen und Dokumentationen
Voraussetzung für die Anstellung ist ein abgeschlossenes Studium der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik, der Islamwissenschaften oder eines angrenzenden Fachs in Kombination mit einer pädagogischen Qualifikation oder entsprechenden Vorerfahrung. Erwartet werden Erfahrung und Kenntnisse im Projektmanagement sowie umfassende Kenntnisse über Radikalisierung sowie Radikalisierungsprävention und ihre Methoden.
Arbeitgeber: Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. Ort: Düsseldorf Bewerbungsfrist: 30. Juni 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von AGB Ehrenamtliche Mitarbeit bei 180 Grad Wende
Nordrhein-Westfalen
Die Initiative 180 Grad Wende sucht Menschen, die ehrenamtlich als sogenannte Keeper ein eigenes Projekt in ihrer Stadt in Nordrhein-Westfalen starten möchten. Seit 2012 ist 180 Grad Wende mit Projekten an Schulen, Jugendzentren und Haftanstalten sowie mit einer Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene in den Bereichen Prävention und Konfliktbeilegung tätig.
Arbeitgeber: 180 Grad Wende, Jugendbildungs- und Sozialwerk Goethe e. V. Ort: Nordrhein-Westfalen
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der 180 Grad Wende
Rheinland-Pfalz
Pädagogische:r Mitarbeiter:in für Projekt „Wertraum“
Mainz
Der gemeinnützige Verein Wertzeug e. V. sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine:n pädagogische:n Mitarbeiter:in für das Projekt Wertraum – Demokratiebildung und Extremismusprävention in Justizovllzugseinrichtungen. Das Projekt wird aus Mitteln des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ finanziert.
Die Stelle ist zunächst bis zum 31. Dezember 2024 befristet mit Aussicht auf Verlängerung.
Die Stelle umfasst unter anderem folgende Aufgaben:
Konzeption und Durchführung von Gruppenangeboten zur Extremismusprävention sowie Demokratiebildung für Inhaftierte Konzeption und Durchführung von Fortbildungen für Mitarbeiter:innen von Justizvollzugseinrichtungen und der Bewährungshilfe Beratung von Fachkräften Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit Erledigung allgemeiner Büro- und Verwaltungsaufgaben
Gesucht wird eine Person mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium in Sozialer Arbeit, Psychologie, Politikwissenschaft, Islamwissenschaft, Soziologie oder verwandten Fächern. Vorausgesetzt werden Kompetenzen in der rassismuskritischen und intersektionalen Bildungsarbeit. Auch Berufserfahrung im Kontext von Haft oder Demokratiebildung sind von Vorteil.
Arbeitgeber: Wertzeug e. V. Ort: Mainz Bewerbungsfrist: bis zum 31. August 2023 E-Mail Link: per Mail möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von Wertzeug e. V.
Schleswig-Holstein
Projektmitarbeiter:in für das Projekt PROvention
Kiel
Die Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. sucht ab sofort eine:n Projektmitarbeiter:in für PROvention, die Fach- und Informationsstelle gegen religiös begründeten Extremismus in Schleswig-Holstein.
Zu den Tätigkeiten gehört unter anderem:
Planung und Durchführung von Fachtagungen, zum Beispiel zu religiös begründetem Extremismus und Antimuslimischem Rassismus Moderation und Konzeptionierung von Fortbildungen und Workshops für Multiplikator:innen und Jugendliche Mitarbeit an Publikationen und Informationsmaterial Unterstützung in der Netzwerkarbeit mit Behörden, Ämtern und anderen zivilgesellschaftlichen Trägern Weiterentwicklung des Gesamtprojekts
Die Stelle ist zunächst bis zum 31. Dezember 2024 befristet. Das Projekt läuft bereits seit 2015 und eine Weiterführung nach 2024 wird angestrebt.
Arbeitgeber: Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Ort: Kiel
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Türkischen Gemeinde
Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-08-03T00:00:00 | 2020-01-24T00:00:00 | 2023-08-03T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/304029/stellenangebote/ | Stellenangebote aus dem Themenfeld Radikalisierung, Islamismus & Prävention | [
"Infodienst Radikalisierungsprävention",
"Stellenangebote",
"Deradikalisierung",
"Radikalisierungsprävention",
"Salafismus",
"Infodienst Salafismus"
] | 624 |
Handlungsorientierung und Kontroversität | Politische Kultur - politische Bildung | bpb.de | I. Einleitung
Das übergeordnete Ziel des Sozialkundeunterrichts besteht darin, zur politischen Mündigkeit und demokratischen Handlungsfähigkeit der Heranwachsenden beizutragen. Er soll Chancen eröffnen, dass die Heranwachsenden "die Unverzichtbarkeit eigener Urteilsbildung, reflektierter Entscheidungen und eigenen Handelns erkennen" sowie zum politischen Engagement befähigt und ermuntert werden.
Interner Link: PDF-Version: 60 KB
Die Aufmerksamkeit meines Beitrages, der ebenso wie die Analysen von Sibylle Reinhardt und Frank Tillmann, Heinz-Hermann Krüger und Nicolle Pfaff sowie Ralf Schmidt auf der Studie "Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt" basiert, richtet sich auf die Wirksamkeit der politischen Bildung im Sozialkundeunterricht. Ich greife damit von Egon Becker, Sebastian Herkommer und Joachim Bergmann herausgearbeitete empirische Befunde auf, wonach zwar einerseits der politische Unterricht - gemessen an den Intentionen der Lehrpläne - nur einen geringen Erfolg aufweist, andererseits jedoch ein fundierter Sozialkundeunterricht nicht unerhebliche Einflussmöglichkeiten auf die politische Mündigkeit und demokratische Handlungsfähigkeit von Schülern hat. Mein besonderes Interesse ist auf die Frage gerichtet, welche Rolle dabei der methodischen Gestaltung des Sozialkundeunterrichts zukommt.
Bei der Untersuchung dieses Gegenstandes lehne ich mich erstens an den Diskurs zum Konzept der Handlungsorientierung an, einem ganzheitlichen und offenen, schüleraktiven "Ansatz zur Förderung von demokratischer Handlungskompetenz" , bei dem das Reflektieren über das Handeln, d. h. das politische Denken (Analyse, Urteilsbildung, Handlungsorientierung) im Mittelpunkt steht. Zentrale Merkmale handlungsorientierten Unterrichts sind Realitätserfahrung, Selbsttätigkeit und Sozialbezug sowie Ganzheitlichkeit, Wirklichkeitsnähe und praktizierte Demokratie.
Angemerkt werden muss, dass die Vor- und Nachteile des Konzepts der Handlungsorientierung in der fachdidaktischen Diskussion umstritten sind. Skeptische Stimmen verweisen auf einen sich dahinter verbergenden blinden Aktionismus sowie auf die Gefahr der Entpolitisierung des Unterrichts und einer zu starken Transformation der Komplexität, Abstraktheit und Interdependenz politischer Sachverhalte. Befürwortende Stimmen sehen in dem Konzept hingegen eine geeignete Methode für die Umsetzung der Ziele des politischen Unterrichts, da durch sie das demokratische System aus der Handlungs- und Teilnehmerperspektive vermittelt wird und Handlungsdispositionen sowie politische Interventionsfähigkeit vorbereitet werden können.
Einen zweiten theoretischen Anknüpfungspunkt bietet das von Hans-Georg Wehling 1977 vorgeschlagene und als Teil des Beutelsbacher Konsenses bekannt gewordene Kontroversprinzip. In die Rahmenrichtlinie für Sozialkunde an den Schulen in Sachsen-Anhalt ist dieses Kontroversprinzip als Prämisse für die Wirksamkeit des Faches folgendermaßen eingeflochten: "Die Anerkennung der gesellschaftlichen Tatsache des Konflikts (Pluralismus von Interessen, Werten, Erfahrungen) und die Achtung vor der selbständigen Urteilsbildung der Lernenden verbieten Indoktrination und falsche Harmonisierung. Das Kontroversprinzip in der Politischen Bildung besagt, dass im Unterricht kontrovers erscheinen muss, was in Gesellschaft und Wissenschaft kontrovers ist . . ."
Folgende Fragestellungen geben die Gliederung dieses Beitrages vor: Welchen Stellenwert haben Darbietung, Handlungsorientierung und Kontroversität im Sozialkundeunterricht (II)? Wie werden diese Methoden im Unterricht der Einzelklassen kombiniert (III)? Welchen Einfluss hat die methodische Gestaltung des Sozialkundeunterrichts auf die Wirksamkeit der politischen Bildung (IV)? II. Zum Stellenwert von Darbietung, Handlungsorientierung und Kontroversität im Sozialkunde- unterricht
Dass der Sozialkundeunterricht in der Regel stofforientiert, eng geführt und wenig handlungsorientiert ist, die Schüler also "in der Rolle des passiven, rezeptiven Lernens" bleiben, darauf lassen die erkennbaren Verfahren des Lehrervortrages und des Abfragens von Wissen schließen, so das Ergebnis der Schülerbefragung. Inhalt und Kommunikation in einem derartigen Unterricht werden fast ausschließlich vom Lehrer bestimmt. Er dominiert in der Darstellung des Stoffes sowie in dessen inhaltlicher Akzentuierung, ist also die zentrale Vermittlungsinstanz aller auf das Unterrichtsgeschehen bezogenen Schüleräußerungen. Geht man mit Gotthard Breit davon aus, politisches Lernen im Sozialkundeunterricht sei mehr "als die intellektuelle Aneignung von Sach- und Fachwissen" , werden die Grenzen dieses Unterrichts vor allem im Hinblick auf eine effektive politische Bildung offensichtlich: Hier fließen situative Möglichkeiten für die Schüler, "sich jeweils an . . . in ihrem Erfahrungsbereich liegenden oder in ihn einzuführenden Beispielen das Verständnis mehr oder minder verallgemeinerbarer Prinzipien, Einsichten und Gesetzmäßigkeiten, Zusammenhänge erarbeiten" zu können, nur ausgesprochen unzureichend ein.
Doch wie ist ein Mehr an diesen Möglichkeiten methodisch umzusetzen? Welche Unterrichtsformen können dazu beitragen, dass Schüler "selbst aktiv werden und durch Handeln und während des Handelns lernen" ? Sibylle Reinhardt und Gotthard Breit verweisen hier - zum Teil auch kritisch - auf die von Heinz Klippert vorgeschlagenen drei Formen von Handeln, die im Sozial-kundeunterricht initiiert und für politisches Lernen fruchtbar gemacht werden können: reales Handeln, simulatives Handeln und produktives Gestalten.
Die Effektivität realen Handelns - eine aktive Form des politischen Lernens, in der "das schulische Lernen aufgelöst und durch aktive Politik ersetzt" wird - ist dabei am umstrittensten. Die Kritik richtet sich auf die Zeit und Energie, die es in Anspruch nimmt, aber auch auf die Begrenzung auf politische Vorgänge im unmittelbaren Nahraum der Schüler sowie das Nichterreichen der realen Ebene politischen Geschehens. Was jedoch positiv bilanziert wird, ist die Selbstständigkeit und der Eifer, mit dem die Schüler in solchen Situationen agieren.
Unterrichtsformen, die reales Handeln ermöglichen - ich denke dabei an einen partizipativen und vor allem die außerschulische Lebenswelt der Schüler aufgreifenden Sozialkundeunterricht, - kommen jedoch viel zu selten zustande. Lediglich knapp ein Drittel der in unserer Studie befragten Schüler fühlt sich und eigene Vorstellungen bei Entscheidungen über die Gestaltung des Unterrichts manchmal bis oft berücksichtigt - reales Handeln in Form von Schülerpartizipation wird also nur unzureichend ermöglicht und praktiziert. Ähnlich problematisch fallen die Befragungsergebnisse zu lebensweltbezogenen Formen des Sozialkundeunterrichts aus. Politikbezogene Projekte finden in der Regel höchstens einmal im Schuljahr statt. Und noch etwas kritischer fallen die Schülerantworten zur Häufigkeit der Durchführung von Exkursionen, Besuchen von Lernorten außerhalb der Schule, Expertenvorträgen und Zukunftswerkstätten bzw. der Szenario-Technik aus.
Eine zweite Möglichkeit zur Förderung des politischen Lernens der Schüler ist im simulativen Handeln zu sehen. Kritisch angemerkt wird, dass es bei der Simulation von Politik im Sozialkundeunterricht fast immer notwendig ist, politische Komplexität zu reduzieren, was mitunter zur Verfälschung der Realität führen kann. Positiv reflektiert wird jedoch eine immens hohe Arbeits- und Leistungsbereitschaft der Schüler. Hervorheben möchte ich zusätzlich das dieser Methode immanente Potenzial, Schülern das Prinzip der Kontroversität nahe bringen und es im Unterricht praktizieren zu können. Ansätze dafür bieten sich sowohl im diskussionsorientierten, im Meinungsäußerungen fördernden als auch im Kooperation betonenden Sozialkundeunterricht.
Die Ergebnisse unserer Befragung zeigen, dass simulatives Handeln in Form kontroverser Diskussionen häufiger ermöglicht wird als reales Handeln. In der Rangliste der manchmal bis oft praktizierten Diskussionsarrangements liegen die Untersuchung von Fällen, Konflikten und Problemen sowie die Beurteilung verschiedener Sichtweisen (72 Prozent Zustimmung) und die gemeinsame Diskussion von Lehrern und Schülern (76 Prozent Zustimmung) ganz oben. Andererseits bestätigt nur ungefähr die Hälfte der Schüler, dass im Sozialkundeunterricht manchmal bis oft Streitgespräche durchgeführt werden, und knapp 46 Prozent berichten von ebenso häufig stattfindenden, von Schülern moderierten Diskussionen. Damit bei diesen Diskussionen ein Lernklima entstehen kann, in welchem sich unterschiedliche Auffassungen entfalten können, muss gewährleistet sein, "dass unterschiedliche Auffassungen keinen Einfluss auf persönliches Verhältnis und Benotung haben". Diese Gewährleistung schätzen die befragten Schüler sehr positiv ein (über 80 Prozent Zustimmung).
Weniger zufriedenstellend fallen die Befragungsergebnisse zur Durchführung von Untersuchungen, Gruppenarbeit und Rollenspielen aus. Lediglich die Hälfte der Schüler gibt an, oft oder manchmal während des Sozialkundeunterrichts in Gruppen zu arbeiten. Knapp ein Fünftel meint, sie würden hier oft bzw. manchmal die Gelegenheit für eigene Untersuchungen bekommen, und nur 15 Prozent der Schüler berichten von ebenso häufig durchgeführten Rollenspielen.
Beim produktiven Gestalten, einer weiteren Möglichkeit der Förderung des politischen Lernens, stellen die Schüler mit Schaubildern, Flugblättern, Plakaten, Reportagen, Hörspielen, Videos u. ä. "etwas her, das in einem Zusammenhang mit Politik steht" und "beweisen . . . ihr Politikverständnis." Auch hier verweisen Unterichtsbeobachter auf die Steigerung der Motivation und Konzentration der Schüler. Gleichzeitig geben sie jedoch zu bedenken, dass solche Produkte nicht die Komplexität von Politik wiedergeben können. In unserer Studie wurden die Schüler nach der Verwendung aktueller Zeitungsberichte und fachbezogener Videos unter dem Blickwinkel ihrer Brauchbarkeit als Anschauungsmittel und Diskussionsgegenstand gefragt. Wichtig erscheint mir auch die Möglichkeit, dass beide Medien zu praktischem Gestalten - wie zum Beispiel Videos erstellen oder Artikel zu politischen Themen verfassen - anregen können; darüber hinaus stellen sie eine Herausforderung für Kontroversen im Unterricht dar. Zeitungsberichte werden, so die Schüler, häufig im Sozialkundeunterricht verwendet. Fachbezogene Videos kommen jedoch sehr selten oder nie zum Einsatz, das bestätigen fast zwei Drittel der Befragten. III. Methodenspektrum in den Einzelklassen: Klassen mit modernem und mit traditionellem Sozialkundeunterricht
Wie werden die verschiedenen Methoden im Unterricht kombiniert? Insgesamt bestätigt unsere Befragung die Vermutung von Siegfried Schiele, es bestehe gegenwärtig noch eine zu große "Eintönigkeit des politischen Unterrichts", er werde aber zunehmend seltener rein traditionell, d. h. darbietend, gestaltet.
Sehr starke Zusammenhänge zwischen Partizipation, Diskussion und Meinungsäußerung weisen auf eine Struktur des Sozialkundeunterrichts in den Einzelklassen hin, die sich mit dem Stichwort "Praktizieren von Demokratie" beschreiben lässt. Damit zusätzlich verbunden werden kooperative Lernformen. Die Bedeutung dieser Methodenkohäsion hat Siegfried Schiele auf den Punkt gebracht: "Würde im politischen Unterricht vorwiegend individuell gelernt, könnten Probleme nicht gelöst werden und soziales Lernen bliebe auf der Strecke." Synergien bestehen darüber hinaus zwischen den Formen realen und simulativen Handelns und dem Einsatz von Medien. Insbesondere der Einsatz aktueller Zeitungsberichte und fachbezogener Videos ermöglicht eine Situation, die kontroverses Diskutieren geradezu provoziert. Dass ein darbietender Sozialkundeunterricht durchaus auch Schülerpartizipation fördern kann, wenn gemeinsam mit den Schülern nach interessanten Unterrichtsinhalten gesucht - und auch die Äußerung kontroverser Schülermeinungen unterstützt - wird, ist ein weiteres interessantes Ergebnis der Untersuchung.
Diese Befunde zeigen, dass der Sozialkundeunterricht der einzelnen Klassen nicht durch eine Methode dominiert wird. Und so gibt es in unserer Studie Klassen, in denen der Sozialkundeunterricht methodisch vielfältig (moderne Klassen) oder aber weniger ganzheitlich offen und schüleraktiv, d. h. dominant darbietend, lehrerzentriert (traditionelle Klassen) gestaltet wird. IV. Die methodische Orientierung des Sozialkundeunterrichts und seine Wirksamkeit
Das Ziel des Sozialkundeunterrichts besteht darin, zur politischen Mündigkeit und demokratischen Handlungsfähigkeit der Heranwachsenden beizutragen. Indikatoren dafür sind Informiertheit, politisches Interesse, soziales Vertrauen, Partizipationsbereitschaft, Aufgeschlossenheit gegenüber dem Sozialkundeunterricht und demokratische Einstellungen. Die Frage, ob die methodische Orientierung des Sozialkundeunterrichts diesen Indikatoren gerecht wird, ist für die Einschätzung der Effektivität von praktizierter Darbietung, Handlungsorientierung und Kontroversität von entscheidender Bedeutung. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die Ausprägungen der Indikatoren in Klassen mit modernem und traditionellem Sozialkundeunterricht kontrastiert.
1. Politisches Interesse und Verständnis in modernen und traditionellen Klassen
Das politische Interesse, Grundlage für die politische Informiertheit, drückt sich zum einen in dem geäußerten Interesse an Politik aus. Zum anderen kommt es auch in der Kommunikation über politische Sachverhalte und Vorgänge zum Ausdruck. Aus den Daten leitet sich zunächst das Ergebnis ab, dass ein methodisch vielfältig gestalteter Sozialkundeunterricht zur Steigerung des politischen Interesses beitragen kann.
So geben in modernen Klassen rund zwei Drittel der Schüler gegenüber 43 Prozent in traditionellen Klassen an, politisch interessiert zu sein. Dem Sozialkundeunterricht scheint darüber hinaus sogar das Potenzial immanent zu sein, Schüler zur Kommunikation über Politik bis hinein in den Freizeitbereich zu animieren. Denn in modernen Klassen ist der Anteil an Schülern, die angeben, in ihrer Freizeit über Politik zu kommunizieren, mit 36 Prozent größer als in der Vergleichsgruppe (27 Prozent). Mehrfaktorielle Varianzanalysen zeigen jedoch, dass es sich bei den Ergebnissen um Schulformunterschiede und nicht um Wirkungen des Unterrichts handelt.
Dieses Ergebnis ist plausibel, denn in der Gruppe von Klassen mit modernem Sozialkundeunterricht sind Gymnasialklassen überrepräsentiert. Und wie aus der einschlägigen Literatur bekannt ist, interessieren sich Heranwachsende mit höherer Schulbildung stärker für Politik. Ein schulformunabhängiger Unterschied zwischen beiden Gruppen von Klassen besteht jedoch in dem Interesse an Politiksendungen in den Medien. Dieser Indikator des politischen Interesses ist in modernen Klassen deutlich stärker ausgeprägt. Ein Interesse an Politiksendungen bestätigen hier rund 40 Prozent gegenüber einem Viertel der Schüler in traditionellen Klassen.
Das Verständnis haben wir ausschnitthaft anhand dreier Fragen erfasst. Zusätzlich wurde die Einschätzung der Schüler erhoben, inwieweit der Unterricht die Wurzel ihrer politischen Kenntnisse sei. Tatsächlich liegt die Häufigkeit richtiger Beantwortung der Verständnisfragen in Klassen mit ganzheitlich offenem und schüleraktivem Sozialkundeunterricht (moderne Klassen) über der in traditionellen Klassen (mindestens eine Frage richtig: 77 versus 56 Prozent), in denen zusätzlich ein geringerer Schüleranteil aussagt (64 versus 84 Prozent in modernen Klassen), der Sozialkundeunterricht sei die Wurzel ihrer politischen Kenntnisse. Entsprechende Tests belegen, dass es sich bei diesen Unterschieden tatsächlich um Effekte der Methode und nicht der Jahrgangsstufe oder der besuchten Schulformen der Schüler handelt.
2. Soziales Vertrauen in modernen und traditionellen Klassen
Das soziale Vertrauen wurde mit Merkmalen wie Offenheit für fremde Menschen, Offenheit für fremde Ideen sowie individuelle Bedeutsamkeit von Kompromissbereitschaft, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit operationalisiert. Verschiedene Tests zeigen, dass die methodische Gestaltung des Sozialkundeunterrichts keinen erzieherischen Einfluss auf den schülerseitigen Grad an Offenheit und Toleranz hat; moderne und traditionelle Klassen unterscheiden sich hier nicht signifikant voneinander. Hier stößt der handlungsorientierte und kontroverse Unterricht offensichtlich an seine Grenzen. Er vermag es nicht, als Einzelfaktor direkt bis hinein in das soziale Vertrauen der Schüler zu wirken.
3. Partizipationsbereitschaft in modernen und traditionellen Klassen
Ob es im politischen Unterricht gelingt, den Schülern zu verdeutlichen, dass ihre eigene politische Beteiligung sinnvoll und Erfolg versprechend ist, ist eine weitere Prämisse der Wirksamkeit politischer Bildung. Mit zunehmendem Glauben an den eigenen Einfluss geht eine steigende Partizipationsbereitschaft einher. Diese Partizipationsbereitschaft wurde in unserer Studie ohne Anspruch auf Vollständigkeit in folgenden Bereichen erfasst: Teilnahme an unkonventionellen Aktionen, sich an die Öffentlichkeit richten, Mitwirkung in politischen Gruppierungen oder Parteien, Teilnahme an öffentlichen, legalen Aktionen und Teilnahme an Wahlen.
Es zeigen sich hier sowohl Förderungschancen als auch offensichtliche Grenzen der Auswirkungen der methodischen Gestaltung des Sozialkundeunterrichts - der Art und Weise also, Darbietung, Handlungsorientierung und Kontroversität je nach fachlichen Inhalten zu kombinieren - auf die Partizipationsbereitschaft. Sowohl die Wahlbereitschaft als auch die in Betracht gezogene Möglichkeit, an unkonventionellen, zum Teil auch illegalen politischen Aktionen teilzunehmen, sind in den beiden Gruppen von Klassen nicht signifikant unterschiedlich ausgeprägt. Jeweils etwas mehr als die Hälfte der Schüler bekundet die Bereitschaft, sich an Wahlen beteiligen zu wollen, und für rund ein Viertel der Schüler beider Gruppen von Klassen kommt eine Beteiligung an unkonventionellen politischen Aktionen in Frage. Sichtbare Unterschiede bestehen jedoch in anderen Bereichen politischer Partizipation. So ist in den Klassen mit ganzheitlichem und offenem, schüleraktiven Sozialkundeunterricht die Bereitschaft, sich politisch motiviert an die Öffentlichkeit zu wenden und insbesondere sich politisch zu organisieren bzw. an öffentlichen, legalen Aktionen teilzunehmen, deutlich stärker ausgeprägt als in der Kontrastgruppe. Von den Schülern in modernen Klassen schließen es z. B. 43 Prozent nicht aus, sich mit Briefen zu politischen Themen an die Medien zu wenden (vers. 30 Prozent in traditionellen Klassen). Rund 28 Prozent von ihnen können es sich vorstellen, ein politisches Amt zu übernehmen (vers. 18 Prozent). Und fast zwei Drittel würden sich an einer genehmigten Demonstration beteiligen (vers. 46 Prozent).
In diesen Bereichen vermag also ein Sozialkundeunterricht, der das Ziel verfolgt, Handlungsdispositionen und politische Interventionsfähigkeit vorzubereiten, die Schüler tatsächlich in gewissem Maße zum politischen Engagement zu ermuntern.
4. Aufgeschlossenheit gegenüber dem Sozialkundeunterricht in modernen und traditionellen Klassen
Eine essenzielle Bedingung für das Wirksamwerden des Sozialkundeunterrichts ist die Aufgeschlossenheit der Schüler gegenüber dem Fach. Von dieser Einstellung kann "nicht unmittelbar auf den Erfolg geschlossen werden, . . . aber es sind Hinweise zu erwarten, in welchem Maß und unter welchen Bedingungen er die Schüler überhaupt anzusprechen vermag" . Im Folgenden soll es jedoch nicht um die Deskription dieser Aufgeschlossenheit, sondern vielmehr um die Frage gehen, ob sich die Einstellungen der Schüler gegenüber dem Sozialkundeunterricht in den zwei Gruppen von Klassen mit methodisch unterschiedlicher Orientierung verschieden ausformen. Diese Einstellungen wurden zum einen über die Zufriedenheit mit dem Fach erfasst und zum anderen über die Einschätzung, ob Sozialkunde zu den persönlichen Lieblingsfächern gehört.
Die Ergebnisse zeigen, dass die methodische Ausrichtung des Unterrichts tatsächlich einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Aufgeschlossenheit der Schüler gegenüber dem Fach Sozialkunde hat. Ein moderner Sozialkundeunterricht spiegelt sich insbesondere in einer entsprechend starken Zufriedenheit mit dem Fach wider (67 Prozent zufriedene Schüler vers. 38 Prozent in Klassen mit traditionellem Sozialkundeunterricht) und bietet somit gute Chancen für das Wirksamwerden der politischen Bildung. Zusätzlich fördert er die Beliebtheit dieses Faches. So liegt in modernen Klassen der Anteil der Schüler, die Sozialkunde zu ihren Lieblingsfächern zählen, über dem in traditionellen Klassen (31 Prozent).
5. Demokratische Einstellungen in modernen und traditionellen Klassen
Der wichtigste Test für die Relevanz der definierten "modernen Klassen" für die politische Bildung ist in den Wirkungen auf die demokratischen Einstellungen der Schüler zu sehen, denn die Förderung dieser Einsichten wird als die zentrale Absicht des Sozialkundeunterrichts definiert. Abschließend wurde deshalb untersucht, ob in modernen und traditionellen Klassen das Verständnis der demokratischen Ordnung in unterschiedlichem Maß angelegt und vorbereitet wird. In diese Analyse gingen ohne Anspruch auf vollständige Erfassung aller Schülereinstellungen zur Demokratie folgende Dimensionen der Bewertungen grundlegender Normen politischen Handelns ein: Befürwortung staatlicher Repressionsmaßnahmen (Einführung der Todesstrafe, hartes Durchgreifen der Polizei), Befürwortung grundlegender Bürgerrechte (Demonstrationsrecht, Meinungsfreiheit, Recht auf organisierte Opposition), Befürwortung der Legitimität von Interessenkonflikten und Befürwortung der gewaltfreien Regelung sozialer Konflikte.
Die Analyse führt zu dem Hinweis, positive Einstellungen zu grundlegenden Bürgerrechten könnten durch einen modern gestalteten Sozialkundeunterricht gefördert werden. Ein entsprechender Test mit der Kontrollvariablen Schulform zeigt jedoch, dass es sich bei dieser stärkeren Befürwortung in den modernen Klassen nicht um Wirkungen der Unterrichtsmethode, sondern vielmehr des an der besuchten Schulform gemessenen formalen Bildungsniveaus der Schüler handelt. Dieser Befund gliedert sich in die weiteren Ergebnisse der Analyse ein, wonach auch die untersuchten Schülereinstellungen zu staatlichen Repressionsmaßnahmen, zur Befürwortung der gewaltfreien Regelung sozialer Konflikte und der Legitimität von Interessenkonflikten nicht direkt mit der methodischen Gestaltung des Unterrichts zusammenhängen. V. Fazit
Die Ergebnisse unserer Untersuchung untermauern die Beobachtungen von Peter Massing, wonach im Schulalltag "noch immer rezeptive Wissensvermittlung, Stoffhuberei, verbalabstrakte Belehrung, Lehrerzentrierung und Lehrerlenkung" dominieren. Sicher bietet diese Unterrichtsform die Möglichkeit, durch eine spezielle Art der Präsentation des Unterrichtsstoffes u. a. die Forderung nach Kontroversität einzulösen. Selbstständiges politisches Sehen und Beurteilen durch die Schüler wird jedoch nicht selten auf ein Minimum eingeschränkt, die Förderung von Analysefähigkeit, Urteilsbildung und politischer Handlungsorientierung verläuft nicht optimal. Die pessimistische Vermutung zu formulieren, Kontroversität und Handlungsorientierung zeichneten den Sozialkundeunterricht in nur geringem Maße aus, erweist sich jedoch als voreilig. Zwar sollten die Schüler noch stärker an Entscheidungsprozessen über die Unterrichtsgestaltung beteiligt werden, und es könnten zum Beispiel mehr Projekte den Stellenwert realen politischen Handelns stärken. Die in der Regel häufig durchgeführten Diskussionen ermöglichen den Schülern jedoch im Rahmen simulierter politischer Realsituationen das Üben kontroversen Debattierens und Argumentierens. Und diese Diskussionen fordern die Schüler auch dringlich ein, so der Grundtenor der an zwei Schulen unserer Stichprobe durchgeführten Schülergruppendiskussionen. Ungünstig erweist sich dabei auf der Seite der Rahmenbedingungen, dass im Stundenplan pro Woche nur eine Unterrichtseinheit für Sozialkunde reserviert ist - ein Umstand, der wahrscheinlich den einen oder anderen Lehrer den Aufwand scheuen lässt, stärker handlungs- und kontroversorientiert zu unterrichten.
Dass die Art und Weise, wie die Unterrichtsinhalte vermittelt werden, Einfluss auf die Wirksamkeit des Sozialkundeunterrichts hat, ist ein weiteres zentrales Untersuchungsergebnis. Zwar sind die Grenzen der Wirksamkeit der Methodenwahl offensichtlich. So stehen das geäußerte politische Interesse, die Förderung des sozialen Vertrauens und die Förderung der Befürwortung grundlegender Bürgerrechte, der gewaltfreien Regelung von Konflikten, der Legitimität von Interessenkonflikten sowie der Ablehnung staatlicher Repressionsmaßnahmen in keiner nachweisbaren Relation zur methodischen Ausrichtung des Unterrichts. Jedoch bietet ein methodisch vielfältig und durchdacht gestalteter Sozialkundeunterricht auch eine Reihe von Chancen: Er fördert die Aufgeschlossenheit der Schüler für den Unterricht und trägt zu einem stärkeren politischen Verständnis (gemessen über drei Verständnisfragen) der Schüler bei. Zusätzlich fördert er die Entwicklung einer politischen Handlungsorientierung.
Aus diesen Ergebnissen leitet sich ab, dass generelle Dispositionen der Schüler nicht direkt und unmittelbar über unterrichtlich-methodische Maßnahmen erreicht werden, eher domänenspezifische Verständnisse und Bereitschaften jedoch gefördert werden können. Die ausgewogene Kombination von Darbietung, Handlungsorientierung und Kontroversität je nach Ziel und Inhalt des Sozialkundeunterrichts stellt somit einen der strategisch wichtigen Schritte für die Wirksamkeit der politischen Bildung dar.
Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt, Rahmenrichtlinien Gymnasium/Fachgymnasium Sozialkunde, Magdeburg 1999, S. 7.
Vgl. Siegfried Schiele, Handlungsorientierung: Lichtblick oder Nebelschleier?, in: Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.), Handlungsorientierung im Politikunterricht, Bonn 1998, S. 1-12, hier S. 3.
Vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/2001.
Im Rahmen dieser Studie befragten wir im Sommer 2000 ca. 1 400 Schüler der Klassen 8, 9 und 11 (bzw. 1. Lehrjahr) an 16 allgemein- und berufsbildenden Schulen sowie einer Sonderschule in Sachsen-Anhalt mit standardisiertem Fragebogen.
Vgl. Egon Becker/Sebastin Herkommer/Joachim Bergmann, Erziehung zur Anpassung? Eine soziologische Untersuchung der politischen Bildung in den Schulen, Frankfurt/M. 1967.
Heinz Klippert, Handlungsorientierte Politische Bildung. Ein Ansatz zur Förderung demokratischer Handlungskompetenz, in: Dorothea Weidinger (Hrsg.), Politische Bildung in der Bundesrepublik, Opladen 1996, S. 277-286, hier S. 277.
Vgl. S. Schiele (Anm. 2), S. VIII, und Gotthard Breit, Handlungsorientierung im Politikunterricht, in: ders./S. Schiele (Anm. 2), S. 101-127, hier S. 119.
Vgl. Heinz Klippert, Methodentraining. Übungsbausteine für den Unterricht, Weinheim-Basel 1984, S. 28.
Vgl. Sibylle Reinhardt, Handlungsorientierung, in: Wolfgang Sander (Hrsg.), Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts. 1997, S. 105-114, hier S. 107.
Vgl. dazu u. a. Hans-Georg Wehling, Zehn Jahre Beutelsbacher Konsens. Eine Nachlese, in: Gotthard Breit/Peter Massing (Hrsg.), Grundfragen und Praxisprobleme der politischen Bildung, Bonn 1992, S. 129-134; Will Cremer/Siegfried Schiele, Zum Konsens und zur Kontroversität in der politischen Bildung, in: Gotthard Breit/Peter Massing (Hrsg.), Grundfragen und Praxisprobleme der politischen Bildung, Bonn 1992, S. 135-139; Sibylle Reinhardt, Kontroverses Denken, Überwältigungsverbot und Lehrerolle, in: ebd., S. 140-148.
Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Anm. 1), S. 9.
Peter Weinbrenner, Handlungsorientierung im Politikunterricht als methodisches Prinzip, in: G. Breit/S. Schiele (Anm. 2), S. 203-213, hier S. 203.
Jeweils ca. 80 Prozent der Befragten kreuzten "manchmal" oder "oft" an bei folgenden Aussagen: "Die Schüler sitzen und hören zu, der Lehrer redet", "Der Lehrer redet und stellt Fragen, einzelne Schüler antworten."
G. Breit (Anm. 7), S. 105.
Wolfgang Klafki, Orientierungspunkte demokratischer Schulreform. Vierzehn Thesen zu den Schwerpunkten äußerer und innerer Schulreform in den neunziger Jahren, in: GEW Sachsen-Anhalt (Hrsg.), Selbstbewusste Kinder und humane Schule. Anregungen für eine bildungspolitische Grundsatzdiskussion, Magdeburg 1995, S. 18-51, hier S. 34.
G. Breit (Anm. 7), S. 105.
Vgl. S. Reinhardt (Anm. 9), S. 105.
Vgl. G. Breit (Anm. 7), S. 106.
Vgl. Heinz Klippert, Handlungsorientierter Politikunterricht, in: Will Cremer (Hrsg.), Methoden in der politischen Bildung - Handlungsorientierung, Bonn 1991, S. 9-30, hier S. 13.
G. Breit (Anm. 7), S. 106.
Vgl. ebd., S. 106 f.
Die Formulierung lautete: "Im Sozialkundeunterricht dürfen wir mitentscheiden, wie der Unterricht abläuft" (nie/selten/manchmal/oft).
Die Formulierungen lauteten: "Es kommt vor, dass . . . wir Projektunterricht machen", "wir eine Exkursion durchführen (z. B. Gericht, Parlament . . .)", "wir auch während einer Unterrichtsstunde außerhalb der Schule Orte zum Lernen aufsuchen", "Experten am Unterricht teilnehmen, die über Betriebe, Umweltorganisationen oder anderes berichten und informieren", "wir eine Zukunftswerkstatt oder die Szenario-Technik machen" (nie/einmal im Schuljahr/einmal im Halbjahr/öfters im Halbjahr).
Bei der Zukunftswerkstatt bzw. der Szenario-Technik handelt es sich um eine Unterrichtsform, durch die Realsituationen simuliert werden können (Bereich: simulatives Handeln). Die von uns befragten Schüler ordnen sie jedoch inhaltlich dem lebensweltaufgreifenden Sozialkundeunterricht zu (Bereich: reales Handeln).
Vgl. G. Breit (Anm. 7), S. 107.
Die Formulierungen dazu lauteten: "Wir untersuchen Fälle, Konflikte, Probleme und beurteilen unterschiedliche Sichtweisen." "Der Lehrer und die Schüler diskutieren gemeinsam." "Wir führen Streitgespräche (Pro-Contra-Diskussionen, Debatten) durch." "Wir führen Diskussionen durch, die von einem Schüler geleitet werden" (nie/selten/manchmal/oft).
W. Cremer/S. Schiele (Anm. 10), S. 138.
Die entsprechenden Formulierungen lauteten: "Die Schüler führen eigene Untersuchungen durch." "Die Schüler arbeiten in Gruppen." "Wir machen Rollenspiele" (nie/selten/manchmal/oft).
G. Breit (Anm. 7), S. 108.
Die Formulierungen lauteten: "Im Sozialkundeunterricht verwenden wir auch aktuelle Zeitungsberichte." "Im Sozialkundeunterricht schauen wir uns fachbezogene Videos an." (nie/selten/manchmal/oft).
Beispielhaft dafür ist das Projekt "Zeitung in der Schule", das im letzten Jahr in Schulen verschiedener Regionen Sachsen-Anhalts jeweils vier Monate lang durchgeführt wurde. Die Schüler lasen täglich in ihrer Schule die Mitteldeutsche Zeitung, recherchierten parallel dazu selbst in Unternehmen der Region und schrieben Artikel für den Regionalteil der Zeitung. Ähnliche Projekte werden auch in anderen Regionen bzw. überregional durchgeführt.
S. Schiele (Anm. 2), S. 5.
Ebd., S. 11.
Diese Klassen wurden mittels Extremgruppenbildung identifiziert. Als Ausgangspunkt dienten die Dimensionen der methodischen Gestaltung des Unterichts: (1) Darbietung, (2) Partizipation, (3) Lebensweltorientierung, (4) Meinungsäußerung, (5) Diskussion, (6) Kooperation und (7) Medieneinsatz. Für jede dieser Dimensionen wurden die Einzelklassen in eine Rangfolge zunehmender Ausprägung gebracht. Diese Extremgruppenbildung führte zur Identifizierung von 15 Klassen mit nahezu ausschließlich modernem und 15 Klassen mit nahezu ausschließlich traditionellem Unterricht, das sind jeweils 20 Prozent der untersuchten Klassen insgesamt.
Vgl. Paul Ackermann, Die Bürgerrolle in der Demokratie als Bezugsrahmen für die politische Bildung, in: G. Breit/S. Schiele (Anm. 2), S. 13-34, hier S. 21; E. Becker/S. Herkommer/J. Bergmann (Anm. 5), S. 30.
Die genauen statistischen Daten sowie die verwandten empirischen Methoden sind der "Sachsen-Anhalt-Studie ,Jugend und Demokratie"" zu entnehmen, hrsg. vom Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt.
Vgl. P. Ackermann (Anm. 35), S. 21.
Vgl. schon E. Becker/S. Herkommer/J. Bergmann (Anm. 5), S. 55.
Was ist in einer Demokratie die wichtigste Funktion von Wahlen? (Das Interesse der Bürger/innen an der Regierung zu steigern/Einen gewaltfreien Wechsel der Regierung zu ermöglichen/Im Land bestehende Gesetze beizubehalten/Den Armen mehr Macht zu geben.) Wer sollte in einer Demokratie das Land regieren? (Moralische oder religiöse Führer/Eine kleine Gruppe gebildeter Personen/Von allen gewählte Abgeordnete/Experten für Regierungsaufgaben und politische Angelegenheiten.) Wenn alle Parteien zusammen die Regierung bilden würden, was wäre dann der schlimmere Nachteil für die Demokratie? (Dass im Parlament nicht mehr so viel Kritik an der Arbeit der Regierung geübt würde/Dass es innerhalb der Regierung ständig zu Streitereien und Zank zwischen den Angehörigen der einzelnen Parteien käme.)
Vgl. P. Ackermann (Anm. 35), S. 21.
E. Becker/S. Herkommer/J. Bergmann (Anm. 5), S. 30.
Peter Massing, Lassen sich durch handlungsorientierten Politikunterricht Einsichten in das Politische gewinnen?, in: G. Breit/S. Schiele (Anm. 2), S. 144-160, hier S. 145.
| Article | Kötters-König, Catrin | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25847/handlungsorientierung-und-kontroversitaet/ | Die Wirksamkeit der politischen Bildung muss an der Erreichung ihrer Zielsetzung gemessen werden. Hierbei handelt es sich um die politische Mündigkeit und demokratische Handlungsfähigkeit der Heranwachsenden. | [
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Kommentar: In der Falle. Sechs weitere Jahre rechtspolitischer Stillstand | Russland-Analysen | bpb.de | Reformpropaganda
Im ersten Teil seiner Ansprache an die Föderalversammlung vom 1.3.2018 betonte Präsident Putin die Bedeutung von Freiheit, Zivilgesellschaft und Justiz für die Entfaltung von neuen Ideen und Wettbewerb als Voraussetzung für eine notwendige Modernisierung der russischen Wirtschaft. Doch jenseits der Wahlkampfpropaganda ist nicht damit zu rechnen, dass die dringend erforderlichen Reformen tatsächlich umgesetzt würden. Dafür bleibt die Rede zu sehr bei oberflächlichen Problembeschreibungen, es fehlt ein konkretes Programm. Darüber hinaus gehören derartige Reformankündigen seit Jahren zur politischen Rhetorik Putins, ohne dass es tatsächlich zu Wirtschafts- oder Rechtsreformen gekommen wäre. Gerade in der dritten Amtszeit ist die Gesetzgebung stattdessen kontinuierlich repressiver geworden. Durch unbestimmte Eingriffsbefugnisse und die willkürliche Anwendung der Gesetze wurde das Klima für zivilgesellschaftliches Engagement nachhaltig beschädigt. Justizreformen wurden nicht nur verschleppt, die Entwicklung unabhängiger Gerichte wurde aktiv behindert, u. a. wurde das von den Wirtschaftsakteuren besonders geschätzte Oberste Wirtschaftsgericht abgeschafft. Damit verschloss sich das autoritäre russische Regime nicht nur dem westlichen Rechtsstaatsmodell, sondern auch einer Entwicklung ähnlich der in China, wo auch ohne Gewaltenteilung und innerhalb eines Einparteiensystems nach einer Justizreform gestärkte Gerichte zu einem attraktiveren Wirtschaftsklima beitragen.
Letztlich sind notwendige Justizreformen im gegenwärtigen System auch gar nicht möglich. Das Regime sitzt insofern in der Falle. Denn die Herrschaft der Politik über das Recht und die Gerichte (rule by law anstelle von rule of law) ist ein entscheidendes Attribut der Macht. Eine Stärkung der Zivilgesellschaft und der Gerichte würde sie ihrer Herrschaftsinstrumente berauben. Die politische Führung eint außerdem die Erfahrung der 1990er Jahre, nach der jede Öffnung des Systems oder ein Umbau (Perestroika) zu einem nicht kalkulierbaren Stabilitäts- und Machtverlust führen. Die Herrschaft durch Recht ist gekennzeichnet durch eine hohe Bedeutung von Recht und Gerichtsurteilen als staatlicher Legitimationsquelle, nicht aber als Machtbeschränkung. Darüber hinaus dient das Recht der Repression und Einschüchterung durch Justiz- und Behördenwillkür. Dieses "Macht durch Recht" umfasst auch die Kompetenz zum kalkulierten Rechtsbruch. Es ist letztlich eine Herrschaft über das Recht. Dies zeigt sich in der Haltung zum Völkerrecht. Mit der Annexion der Krim setzt sich Russland bewusst über das Völkerrechtsverständnis der großen Mehrheit der Staaten hinweg. Innenpolitisch führte diese Machtdemonstration zu einem gesellschaftlichen Mobilisierungseffekt und erzeugte hohe Zustimmung. Statt wirtschaftlicher und sozialpolitischer Performanz sind die Konfrontation mit dem Westen, dessen liberalen Werten und der behauptete Großmachtstatus entscheidend für die Legitimation der Regierung Putins.
Insofern ist statt Reformen damit zu rechnen, dass die Repression gegen Opposition und Zivilgesellschaft anhält oder sich sogar verstärkt.
Verfassungspolitik
Das Ende der Amtszeit Putins im Jahr 2024 bedeutet für die Nutznießer der Korruption, aber z. B. auch die Drahtzieher des verdeckten Krieges in der Ukraine, ein noch größeres Risiko. Einen Nachfolger zu finden, der die Kontrolle über die Rechtsschutzbehörden, das Militär, die Wirtschaft und die Opposition weiter gewährleistet und den vielen Personen in der Machtvertikale Garantien gegen strafrechtliche Verfolgung und Lustration bietet, scheint kaum denkbar. Auch wenn Putin beteuert, er könne nicht ewig regieren, bleibt eine lebenslange Herrschaft für die Sicherung der Interessen der Eliten wohl alternativlos. Gestützt auf das offizielle Wahlergebnis 2018 wäre eine Änderung der Verfassung zur erneuten Wiederwahl Putins unter Berufung auf den Volkswillen durchsetzbar. In zahlreichen Reden hat Putin immer wieder betont, dass er seine Macht auf den Willen des Volkes stützt, der einzigen Quelle der Macht, die in der Verfassung (lediglich) ihren Ausdruck findet.
Eine programmatische Entscheidung für die Verfassungsentwicklung in der vierten Amtsperiode Wladimir Putins wurde bereits am 31.1.2018 gefällt. An diesem Tag wählte der Föderationsrat den 75-jährigen Walerij Sorkin erneut zum Verfassungsgerichtspräsidenten. Die Wiederwahl Sorkins, der bereits seit 2003 im Amt ist, war durch verschiedene Gesetzesänderungen möglich gemacht worden.
Auch seine Wahl steht klar für Kontinuität. Sorkins wichtigste Eigenschaft ist Loyalität gegenüber der Politik. Mit Urteilen und Reden orchestriert er die staatliche Propaganda: Die Prinzipien der Verfassung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sind für ihn ein Leitbild. Vorranging wären jedoch die Interessen des Staates, denn erst ein starker Staat könne die Freiheit auch sichern . Der Autoritarismus ist für ihn "Wegbegleiter", der vor Chaos und Rechtlosigkeit schützt. Die von der Opposition geführten Proteste dienten in Sorkins Augen den egoistischen Interessen der Liberalen und dem Westen, schadeten aber der Stabilität des Staates und damit dem Volk. Zuletzt hat das Verfassungsgericht den Ausschluss des nach russischem Recht vorbestraften Oppositionspolitikers Nawalnyj von der Präsidentschaftswahl legitimiert. Es rechtfertigte diesen Ausschluss mit dem notwendigen Vertrauen der Bürger in die staatlichen Institutionen: Die Möglichkeit, eine Person zu wählen, die zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, berge hohe Risiken für die rechtsstaatliche Demokratie, so das Verfassungsgericht (Entscheidung vom 18.1.2018, Nr. 13-0). Die verfassungsmäßigen Rechte Nawalnyjs und die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgestellten rechtsstaatlichen Probleme seiner Verurteilung werden dabei ignoriert.
Europarat
Sorkins neue Amtszeit spricht gleichwohl gegen einen freiwilligen Austritt Russlands aus dem Europarat. Sorkin betrachtet Russland als Teil Europas. Er genießt den Austausch und Vergleich mit anderen westlichen Gerichten und die Auseinandersetzung mit dem EGMR auf Augenhöhe. Eine entsprechende Isolation wäre für ihn eine Degradierung. In der Konfrontation beweist er seine Loyalität zur Macht. Er zeigt sich als Verteidiger der traditionellen russischen Werte gegenüber einer zu liberalen Außenwelt. Die "moralischen Grundlagen der Gesellschaft" sowie ihrer religiösen Identität bilden für ihn eine legitime Grundlage zur Begrenzung der Menschenrechte.
Ausblick
Letztlich dürfen die Chancen auf eine Rechtsstaatsreform aber weder unter- noch überschätzt werden. Kleine Inseln der Freiheit finden sich u. a. an den Universitäten, in einem engen Rahmen wird die Anschlussfähigkeit an das Ausland gefördert. In der Folge wird die staatliche Sicht auf das Recht in Lehre und Forschung durchaus in Frage gestellt. Zahlreichen russischen Anwälten gelingt es, die rechtsstaatlichen Probleme der russischen Justiz vorzuführen und vor dem EGMR beachtenswerte Urteile zu erzielen. Auch von ihnen wird es abhängen, ob sich in Russland in Zukunft alternative Vorstellungen von der Bedeutung und der Funktionsweise des Rechts politisch durchsetzen können. In der nächsten Amtszeit Waldimir Putins wird das nicht geschehen. Und auch darüber hinaus ist fraglich, ob die Vorstellung von der Unterordnung der Politik unter das Recht und der Einschränkung der staatlichen Souveränität durch die Rechtsprechung internationaler Gerichte in Russland politisch erfolgreich sein kann. Die schwierigen Justizreformen in der Ukraine zeigen aktuell, dass der Aufbau einer unabhängigen Justiz angesichts von Korruption, einer eingeübten Herrschaft durch Recht, dem fehlenden Vertrauen in die Justiz und der fehlenden Bereitschaft der Richter, ihre Unabhängigkeit auch einzufordern, im post-sowjetischen Kontext eine Mammutaufgabe ist. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2018-03-27T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-351/266896/kommentar-in-der-falle-sechs-weitere-jahre-rechtspolitischer-stillstand/ | Russland braucht dringend Reformen, doch Putins Politik zeichnet sich durch Reformstau und eine zunehmend repressive Politik aus. Die notwendigen Justizreformen sind durch das aktuelle Machtmonopol kaum möglich. Ist das politische Regime Russlands be | [
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"Wahlkampfpropaganda",
"Russland"
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Arzneimittelversorgung | Gesundheitspolitik | bpb.de | Anfänge der Kostendämpfungspolitik
Die Arzneimittelversorgung ist in Deutschland traditionell nur schwach reguliert. Insbesondere gilt dies für die Preisbildung bei Arzneimitteln. Angesichts steigender Ausgaben erfasste der Übergang zur Kostendämpfung auch den Arzneimittelsektor. Das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) von 1977 sah die Vereinbarung eines Arzneimittelhöchstbetrags zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den KVs vor. Dieser sollte die Entwicklung der Arzneimittelpreise, die Zahl der behandelten Personen und die Entwicklung der Grundlohnsumme berücksichtigen. Die allgemeinen Charakteristika der ersten Phase der Kostendämpfungspolitik finden sich auch hier wieder: Es handelte sich um eine eher weiche Regelung, die von einer Budgetierung der Ausgaben noch weit entfernt war. Außerdem sollte der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen eine Preisvergleichsliste für Arzneimittel herausgeben. Schließlich wurden auch die Versicherten belastet: Sie hatten anstelle der bisherigen Rezeptblattgebühr in Höhe von maximal 2,50 D-Mark eine Gebühr von 1,00 D-Mark je Verordnung zu zahlen. Diese Gebühr wurde mit dem Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz im Jahr 1982 auf 1,50 D-Mark und mit dem Haushaltsbegleitgesetz im Jahr 1983 auf 2,00 D-Mark erhöht.
Darüber hinaus ist für die Arzneimittelversorgung noch das 1976 verabschiedete und 1978 in Kraft getretene Arzneimittelgesetz (AMG) von großer Bedeutung. Es regelte die generelle Marktzulassung von Arzneimitteln und ist nicht als ein Kostendämpfungsgesetz zu klassifizieren. Seitdem ist die Zulassung von Arzneimitteln an die Kriterien der Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und therapeutischen Qualität gebunden .
Die Einführung von Festbeträgen
Den bisher bedeutendsten Einschnitt in die Preisgestaltung von Arzneimitteln stellten die mit dem Gesundheits-Reformgesetz 1988 vorgesehenen Festbetragsregelungen dar. Traditionell konnten die Arzneimittelhersteller die Arzneimittelpreise frei festsetzen. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass die Preise auf dem deutschen Arzneimittelmarkt im internationalen Vergleich sehr hoch waren. Die Festbetragsregelungen sollten dem entgegenwirken.
Ein Festbetrag ist jener Geldbetrag, bis zu dem die Krankenkassen die Kosten eines Arzneimittels übernehmen. Übersteigt der Preis den Festbetrag, so muss die Patientin beziehungsweise der Patient die Differenz privat tragen – zusätzlich zu dem ohnehin zu entrichtenden Zuzahlungsbetrag. Da Patientinnen und Patienten ein solches teureres Medikament zumindest dann kaum nachfragen würden, wenn ein vergleichbares oder identisches Präparat angeboten wird, das den Grenzbetrag nicht überschreitet, wirken die Festbeträge für die Arzneimittelhersteller gleichsam als Höchstpreise.
Festbeträge werden in einem zweistufigen Verfahren festgelegt. Zunächst bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) (früher: Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen), für welche Gruppen von Arzneimitteln Festbeträge gebildet werden. Anschließend setzt der GKV-Spitzenverband einheitlich die jeweiligen Festbeträge fest.
Die Festbetragsregelung bezog sich in der 1989 in Kraft getretenen Regelung überwiegend auf Nachahmerpräparate (Generika). Für patentgeschützte Arzneimittel, die einen therapeutischen Fortschritt darstellten, galt weiterhin der Grundsatz der freien Preisbildung (zur Wirkung der Festbeträge siehe das Modul "Interner Link: Arzneimittelversorgung"). Das Siebte SGB V-Änderungsgesetz (7. SGB V-ÄndG) befreite ab 1996 alle Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen und einer Zulassung nach dem 31. Dezember 1995 von der Festbetragsregelung. Somit unterlagen auch solche patentgeschützten Arzneimittel, die keinen therapeutischen Fortschritt darstellten, nicht mehr der Festbetragsregelung.
Dies erwies sich als Anreiz für die Arzneimittelhersteller, sogenannte Analogpräparate auf den Markt zu bringen. Dabei handelt es sich um Arzneimittel, die nur in geringem Maße von solchen Medikamenten abweichen, die bereits auf dem Markt sind. Diese neuen Medikamente genießen dann ihrerseits Patentschutz und fallen damit nicht unter die Festbetragsregelung, obwohl sie therapeutisch keine Verbesserung darstellen. Die Arzneimittelhersteller können für diese Medikamente deutlich höhere Preise erzielen. Erst das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) begrenzte mit Wirkung ab 2004 diese Möglichkeiten. Nunmehr fallen auch solche Analogpräparate ohne therapeutischen Fortschritt wieder unter die Festbetragsregelung.
Arzneimittelbudgets und Richtgrößen
Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) sah ab 1993 eine Budgetierung der Arzneimittelausgaben (einschließlich der Ausgaben für Heil- und Hilfsmittel) vor, die – mit einer kurzen Unterbrechung – bis 2001 wirksam war. Diese Budgetierung war grundsätzlich genau so angelegt wie in den anderen Versorgungssektoren: Die Ausgaben durften nicht stärker steigen als die Grundlohnsumme. Überstiegen die Ausgaben für Arzneimittel in einer kassenärztlichen Vereinigung das vorgesehene Budget, sollte die vertragsärztliche Gesamtvergütung um den Fehlbetrag vermindert werden. Das Budget galt nicht nur für den Arzneimittelsektor insgesamt, sondern auch für die einzelne Ärztin und den einzelnen Arzt. Wenn ihre/seine Arzneimittelausgaben das Budget in gewissem Umfang überstiegen und sie/er diese Mehrausgaben nicht medizinisch rechtfertigen konnte, musste sie/er mit Konsequenzen rechnen.
Die Arzneimittelbudgets stießen auf den heftigen Widerstand der Vertragsärztinnen und -ärzte und wurden unter ihrem Druck mit Wirkung vom 1. Januar 2002 durch das Arzneimittelbudget-Ablösegesetz (ABAG) wieder abgeschafft. An ihre Stelle ist ein System von sogenannten Richtgrößen getreten. Diese Richtgrößen sind arztgruppenspezifische Vereinbarungen für das Volumen ärztlicher Arzneimittelverordnungen, die die Landesverbände der Kassen und die KVs auf Grundlage einer Bundesrahmenvereinbarung treffen. Werden die Richtgrößen überschritten, können die entsprechenden Ärztinnen und Ärzte einer Wirtschaftlichkeitsprüfung unterzogen werden. Derartige Prüfungen können zu Regressforderungen führen. Darüber hinaus sind die Kassen und KVs gehalten, nach geeigneter Abhilfe zu suchen sowie die Ärztinnen und Ärzte darüber zu belehren, wenn Richtgrößen überschritten werden. Richtgrößen sind also ein weicheres Steuerungsinstrument als Budgets.
Fortsetzung der Kostenprivatisierung
Auch in den 1990er-Jahren und zu Beginn dieses Jahrhunderts setzte sich der Trend zur Erhöhungen von Zuzahlungen bei Arzneimitteln weiter fort. Wichtige Schritte auf diesem Weg waren das Beitragsentlastungsgesetz 1996 das 2. GKV-Neuordnungsgesetz 1997 und das GKV-Modernisierungsgesetz 2003. Gegenwärtig müssen die GKV-Patientinnen und -Patienten zehn Prozent des Arzneimittelpreises selbst tragen. Der Mindestbetrag je Verordnung beträgt fünf Euro, der Höchstbetrag zehn Euro. Allerdings sind die Zuzahlungen zu Arzneimitteln seit einigen Jahren rückläufig (siehe Kapitel Interner Link: "Finanzierung")
Qualitätssteuerung – Arzneimittelpreisverordnung – Apothekerwesen
Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts wurde in schneller Folge eine Vielzahl von Reformgesetzen verabschiedet, die sich auf weitere wichtige Aspekte der Arzneimittelversorgung beziehen.
So ist mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 (GMG) ein Institut für die Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) geschaffen worden, zu dessen wichtigsten Aufgaben die Bewertung des Nutzens und (seit 2007) der Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln gehört. Zuvor waren mit der Einführung von Richtgrößen (siehe oben) auch die Aufgaben der gemeinsamen Selbstverwaltung für die Qualität der Arzneimittelversorgung erweitert worden.
Das Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG) von 2006 sah für die Ärztinnen und Ärzte unter anderem die Einführung einer Bonus-Malus-Regelung bei der Arzneimittelversorgung vor. Dies sind Zielvereinbarungen zwischen Krankenkassen und Ärzteschaft, deren Erreichen (Nichterreichen) finanziell belohnt (bestraft) wird. Außerdem beinhaltete es eine Vielzahl von Sparmaßnahmen.
Vom Ende der 1980er-Jahre bis zum Beginn dieses Jahrhunderts war die sogenannte Positivliste erstattungsfähiger Arzneimittel ein umstrittener Dauerbrenner in der Arzneimittelpolitik. Sie sollte diejenigen Medikamente umfassen, die als therapeutisch wirksam gelten können, und nur diese sollten zulasten der GKV verordnet werden können. Die Positivliste wurde sowohl als Instrument zur Kostendämpfung als auch als Instrument zur Qualitätsverbesserung verstanden. Insbesondere SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten sich für eine Positivliste eingesetzt. Im Gesundheitsstrukturgesetz (1992) war sie vorgesehen, wurde aber nie realisiert und im Jahr 1996 von der konservativ-liberalen Koalition wieder gestrichen. Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde sie mit der GKV-Gesundheitsreform 1999 wieder in das Sozialgesetzbuch aufgenommen. Erneut kam sie nicht zustande und wurde mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2003 wieder – diesmal wohl endgültig – aus dem Sozialgesetzbuch entfernt.
Schließlich ist mit dieser Reform auch das Mehrbesitzverbot für Apotheken gelockert worden. Bisher durfte eine Apothekerin oder ein Apotheker nur eine Apotheke führen. Seit 2004 dürfen Apothekerinnen und Apotheker unter bestimmten Umständen bis zu drei Filialapotheken betreiben. Auch der Internethandel mit Arzneimitteln wurde erleichtert. Darüber hinaus sah das GKV-GRG auch eine Reform der Arzneimittelpreisverordnung vor. Die Apothekerzuschläge orientieren sich seitdem nicht mehr so stark wie in der Vergangenheit an einem prozentualen Preisaufschlag, sondern überwiegend an einer Pauschalvergütung je abgegebenem Arzneimittel. Damit soll für Apothekerinnen und Apotheker der Anreiz vermindert werden, eher teure Medikamente abzugeben. Schließlich wurde den Apothekerinnen und Apothekern auferlegt, ein Medikament aus dem untersten Preisdrittel abzugeben, wenn die Ärztin oder der Arzt die Wahl des Präparats offenlässt (Aut-idem-Regelung).
Rabattverträge
Von großer Reichweite sind die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz den Krankenkassen erstmals eröffneten Möglichkeiten, Rabattverträge mit den Arzneimittelherstellern einzugehen. Auf diese Weise soll im Bereich der Generika ein Preiswettbewerb zwischen den Arzneimittelherstellern etabliert werden, denn bisher hatten diese kein Interesse daran, den von den Krankenkassen festgesetzten Festbetrag zu unterschreiten. Jedoch blieb die Wirkung dieser Bestimmung bisher hinter den Erwartungen zurück. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) sah eine Reihe weiterer Bestimmungen vor, die einen Preiswettbewerb bei Generika ermöglichen sollten. Von Bedeutung ist dabei insbesondere, dass die Apothekerin oder der Apotheker seitdem ein Präparat abgeben muss, für das die Krankenkasse der/des Versicherten einen Rabattvertrag abgeschlossen hat, wenn die Ärztin oder der Arzt einen Wirkstoff verschreibt oder der Apothekerin beziehungsweise dem Apotheker die Auswahl eines Arzneimittels überlässt.
Die Erfahrungen mit Rabattverträgen zeigen, dass Arzneimittelhersteller ein Interesse an einem solchen Rabattvertrag mit einer Krankenkasse haben, weil sie sich erhoffen, den Preisrückgang für das einzelne Präparat durch eine Erhöhung der Absatzmenge überkompensieren zu können.
Preisverhandlungen für patentgeschützte Arzneimittel
Darüber hinaus verabschiedete die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit einige grundlegende Bestimmungen zur Reform der Preisbildung bei patentgeschützten Medikamenten, die zu besonders starken Preistreibern im Arzneimittelmarkt gehören. Diese Maßnahmen wurden mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) zum 1. Januar 2011 in Kraft gesetzt (BGBl. I: 2262). Hierbei handelte es sich um folgende Bestimmungen:
Die Arzneimittelhersteller müssen für die Bewertung eines neuen Medikaments durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) künftig Nachweise über deren Zusatznutzen vorlegen. Der G-BA nimmt daraufhin innerhalb von drei Monaten eine eigene Beurteilung vor ("Frühbewertung").Danach entscheidet der G-BA, wie mit dem Arzneimittel weiter zu verfahren ist. Wenn kein Zusatznutzen vorliegt, wird der Preis für das Medikament nach dem Festbetragsverfahren durch die Krankenkassen festgelegt. Wenn ein Zusatznutzen festgestellt wird, treten Arzneimittelhersteller und Krankenkassen in Preisverhandlungen ein. Sie müssen ein Jahr nach der Markteinführung des Medikaments abgeschlossen sein. Ist dies nicht geschehen, setzt eine unabhängige Schiedsstelle den Preis für dieses Medikament fest.
Die Reform der Arzneimittelpreisbildung wurde höchst kontrovers beurteilt. Die Regierungsparteien hielten sich zugute, erstmals einen Eingriff in die freie Preisbildung bei patentgeschützten Arzneimitteln durchgesetzt zu haben. Allerdings wiesen Kritikerinnen und Kritiker darauf hin, dass die Reform nicht weit genug ginge, denn sie gestatte den Arzneimittelherstellern, den Preis für ein neues Medikament im ersten Jahr nach wie vor selbst festzulegen. Angesichts der bevorstehenden Preisverhandlungen würden sie diesen Preis besonders hoch ansetzen. Dieser überhöhte Preis würde dann zum Bezugspunkt der Rabattverhandlungen werden. Auf diese Weise würden die Pharmaunternehmen in die Lage versetzt, eine Reduzierung des zuvor kalkulierten Gewinns zu vermeiden.
Mehr zum Thema: siehe Kapitel Interner Link: "Jüngere Reformen".
Interner Link: Übersicht: Wichtige Reformen auf dem Gebiet der Arzneimittelversorgung (PDF)
Quellen / Literatur
Westphal, Eckhardt (1982): Arzneimittelmarkt und Verbraucherinteresse. Zur Strategie des Verbraucherschutzes im Gesundheitsbereich. Köln
Westphal, Eckhardt (1982): Arzneimittelmarkt und Verbraucherinteresse. Zur Strategie des Verbraucherschutzes im Gesundheitsbereich. Köln
Westphal 1982.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-05T00:00:00 | 2017-08-03T00:00:00 | 2022-01-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/253801/arzneimittelversorgung/ | Wie erfolgte die Umsetzung der Kostendämpfungspolitik mithilfe von verschiedenen Modellen zur Zuzahlung bei Arzneimitteln? | [
"Arzneimittelversorgung",
"Medikament",
"Gesundheit",
"Gesundheitswesen",
"Versorgung"
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Islamistische Radikalisierung bei Jugendlichen erkennen | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de |
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Infodienst Radikalisierungsprävention: Welche islamistischen Gruppierungen sind aus Ihrer Sicht aktuell für Jugendliche relevant?
Philip Al-khazan: Die in Deutschland verbotene Gruppierung "Hizb ut-Tahrir" (auch "HuT" genannt) ist sehr aktiv (Hintergrund-Informationen zur Hizb ut-Tahrir finden Sie im Infodienst-Beitrag Interner Link: "Die Hizb ut-Tahrir in Deutschland"). In Hamburg sehen wir das an den Aktivitäten des Netzwerks "Muslim Interaktiv", das der Hizb ut-Tahrir sehr nahesteht und bei Beratungsfällen immer wieder Thema ist. Das Netzwerk ist auf TikTok, YouTube und Instagram aktiv und greift dort in seinen Beiträgen die Lebensrealität der Jugendlichen auf.
Muslim Interaktiv bietet Jugendlichen – auch abseits von Social Media – eine Plattform, um sich politisch zu engagieren, etwa durch Proteste und Demonstrationen. Im Februar konnte Muslim Interaktiv zum Beispiel in Hamburg mehrere Tausend Menschen zu einer Demonstration gegen die Koranverbrennung in Schweden mobilisieren. Besonders junge Muslim:innen sehen in solchen Ereignissen die Chance, parallel zu "Fridays for Future", die eigenen Themen an die Öffentlichkeit zu tragen. So wird dort zum Beispiel thematisiert, dass die Wünsche und Bedürfnisse junger Muslim:innen in der Gesellschaft nicht genügend berücksichtigt werden. Auch die gesellschaftliche Ungleichbehandlung von muslimischen und nicht-muslimischen Personen wird auf den Events aufgegriffen. Dabei handelt es sich oftmals um Botschaften, denen viele junge Muslim:innen zustimmen würden. Das Schwierige hierbei ist, dass die Verwicklung von Muslim Interaktiv mit Hizb ut-Tahrir nicht immer für alle Menschen ersichtlich ist.
Aktuell tritt Hizb ut-Tahrir vor allem in Hamburg in Erscheinung. Die Gruppierung Muslim Interaktiv soll aber dabei sein, ihr Netzwerk auch außerhalb Hamburgs auszubauen und weitere Zellen zu errichten. Das geschieht unter anderem durch Freizeitangebote für junge Menschen in Verbindung mit Predigten. Sie haben in der Vergangenheit etwa Schwimmbäder für Jugendliche gemietet. Ich habe allerdings keine Kenntnis darüber, woher das Geld für diese Angebote kommt.
Wie können Lehrkräfte und Sozialarbeiter:innen eine islamistische Radikalisierung bei Jugendlichen erkennen?
Ich scheue mich immer davor, äußere Merkmale als Anzeichen von Radikalisierung zu benennen. Als der sogenannte "Islamische Staat" (kurz: "IS") in Deutschland noch mehr Anhänger:innen hatte, galten lange Bärte bei Muslimen und eine verstärkte Verschleierung bei Musliminnen als mögliche Hinweise. Doch äußere Merkmale können sich im Laufe der Zeit ändern. Man sollte wirklich vorsichtig sein, eine Radikalisierung an bestimmten Äußerlichkeiten festzumachen. Das kann zu Stigmatisierungen von unbeteiligten Personen führen.
Stattdessen sollte der Fokus eher auf den inhaltlichen Äußerungen der Personen liegen. So lässt sich zum Beispiel feststellen, dass Diskussionen um Religion von islamistischen Akteuren oftmals sehr politisch aufgeladen werden. Hier geht es häufig um politische statt um theologische Anliegen, wie etwa die Ungleichbehandlung von Muslim:innen innerhalb der Gesellschaft. "Wieso wird die Ukraine mit Waffen und Geldern unterstützt, während die Menschen in Palästina mit Steinen gegen die Übermacht kämpfen müssen?" – solche Fragen werden von HuT und Muslim Interaktiv immer wieder behandelt. Damit stoßen sie auf Gehör bei den Jugendlichen (wie islamistische Initiativen den russischen Angriffskrieg instrumentalisieren, lesen Sie im Infodienst-Beitrag Interner Link: Islamistische Stimmungsmache in den Sozialen Medien).
Immer wieder berichten Lehrkräfte auch davon, dass Schüler:innen Diskussionen zu gesellschaftlichen Themen im Unterricht als Ausgangsbasis für Verschwörungsmythen nutzen. Oft wird der Islam dann als vermeintliche Lösung für alles dargestellt. In diesen Fällen rate ich Lehrkräften dazu, sich Beratung zu holen. Gleiches gilt, wenn sie eine rapide Veränderung bei ihren Schüler:innen bemerken.
Welche rapiden Veränderungen könnten das konkret sein?
Zum Beispiel, wenn eine Person den Kontakt zur Peer-Group abbricht oder andere Beziehungsbrüche erkennbar werden. Eine Veränderung kann auch sein, dass eine Person sehr gläubig ist oder zum Islam konvertiert ist – obwohl sie vorher gar nicht religiös war oder nicht aus einer religiösen Familie kommt. In den meisten Fällen passiert das nach den Ferien. Die Personen beten auf einmal regelmäßig und Mädchen verschleiern sich. Und Jungs, die vorher den Unterricht gestört haben, werden plötzlich ruhig und ordentlich. Natürlich kann der Zugang zu Frömmigkeit auch eine Ressource für Jugendliche sein. Hier sollte man genau den Einzelfall betrachten. Häufig geht es bei den Personen, die sich radikalisieren, aber nicht um theologische oder spirituelle Aspekte, sondern um politische Themen. Wenn dabei Positionen vertreten werden, die menschenverachtend und intolerant sind, wird es problematisch.
In vielen Fällen berichten Lehrkräfte zum Beispiel davon, dass plötzlich Unterrichtsthemen gesprengt und in Richtung Religion und Politik gelenkt werden. Da lohnt es sich, genauer hinzusehen – am besten nach dem Mehraugenprinzip. Lehrkräfte können etwa Kolleginnen und Kollegen konsultieren und sich über Beobachtungen austauschen. Hier sollte man auf sein Bauchgefühl hören, aber dabei auch die eigene Wahrnehmung, Vorbehalte und Ängste reflektieren. Im Zweifel sollten Lehrkräfte sich stets an eine Beratungsstelle wenden.
Wie können sich Lehrkräfte sicher sein, dass es sich bei dem Verhalten eines Jugendlichen um islamistische Radikalisierung handelt und nicht um das Ausleben der eigenen Religiosität?
Die Herausforderung besteht darin, muslimische Schüler:innen nicht zu stigmatisieren. Darum ist es wichtig, stets den Einzelfall zu betrachten. Es ist zum Beispiel relevant, welchen Zugang die Schüler:innen zur Religion haben. Handelt es sich um einen eher spirituellen Zugang, fühlen sich die Personen tatsächlich mit Gott verbunden oder sind auf der Suche nach ihm? Menschen mit einem eher theologischen Zugang hingegen interessieren sich vor allem für den Koran oder den Islam an sich. Bei diesen Zugängen handelt es sich in der Regel um das Ausleben der eigenen Religiosität, man sollte jedoch jede Situation individuell betrachten.
Die meisten Personen, die sich radikalisieren, haben einen anderen Zugang zur Religion: Sie wurden missioniert und sind demnach über Dritte zur Religion gekommen. Sie haben sich nicht selbst mit der Religion auseinandergesetzt oder Bücher gelesen. Oftmals stehen diese Personen in Verbindung mit jemandem, der bereits zur Gemeinschaft gehört. Ihr Zugang zur Religion besteht über ein Gemeinschaftsgefühl, Rituale oder Predigten. Hier spielen vor allem Prediger auf TikTok eine große Rolle.
Daher ist es wichtig zu fragen: Wie ist die Person zur Religion gekommen? Die meisten Menschen, die Frömmigkeit ausleben, machen das für sich. Sie diskutieren nicht häufig mit anderen oder geraten in Konflikte darüber. Sie stehen in gutem Kontakt mit Mitschüler:innen und Lehrer:innen.
Hier stellt sich für mich auch die Frage: Was bedeutet Radikalisierung? Aus unserer Sicht als Beratungsstelle ist Radikalisierung erst mal weder gut noch schlecht. Wir haben eine neutrale Haltung. Ich persönlich sage sogar: Wir brauchen Radikalisierung in unserer Gesellschaft. Ansonsten bemerken wir nicht, welche Strukturen vorherrschen, die möglicherweise andere Menschen benachteiligen. Radikalisierung ist für mich, überspitzt gesagt, eine Reaktion und keine Aktion. Und die Frage ist hier: Worauf reagiert die Person?
Ab welchem Punkt wird eine Radikalisierung für Sie problematisch? Wann muss ich eingreifen?
Problematisch wird es ab dem Zeitpunkt, an dem eine Entmenschlichung von anderen stattfindet. Das heißt: Wenn durch Kultur-Rassismus andere Menschen ausgegrenzt und dämonisiert werden, oder legitimiert wird, dass ihnen gegenüber Gewalt angetan wird. Dem sollten sich Lehrkräfte entgegenstellen und spätestens jetzt Kontakt zu Beratungsstellen aufnehmen. Zu diesem Zeitpunkt haben die Personen alle alten Brücken abgebaut und nur noch Zugang zu einer bestimmten Perspektive auf die Welt.
Gibt es bestimmte Symbole, Zeichen oder Geheimcodes islamistischer Gruppierungen, die Lehrkräfte kennen sollten?
Es gibt immer noch Berichte von Schulen, dass die "IS"-Flagge im WhatsApp-Status von Schüler:innen zu sehen ist. Das ist natürlich eindeutig.
Bei Muslim Interaktiv taucht auch das Tauhid-Zeichen (erhobener Zeigefinger der rechten Hand als Zeichen des strikten Monotheismus) immer noch auf. Im Islam gibt es das Zeichen allerdings schon sehr lange. Ich kenne es schon seit meiner Kindheit und aus verschiedenen Kontexten. Bei der Bewertung solcher Zeichen sollte man daher sehr vorsichtig sein.
Was uns im WhatsApp-Status häufig begegnet, ist eine Verknüpfung vom Thema Islam mit Kriegsbildern. Zu sehen sind zum Beispiel vermummte Personen mit Kalaschnikow bewaffnet – dargestellt als eine Mischung aus Soldaten und gläubigen Muslimen. Aber auch hier gilt: Am besten man wendet sich erst mal an eine Beratungsstelle. Gemeinsam kann geprüft werden, was dahintersteckt.
Die Social Media-Kanäle von "Muslim Interaktiv", "Realität Islam" und "Generation Islam" haben in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen. Wie können Lehrkräfte damit umgehen, wenn Jugendliche ihre Beiträge gut finden oder sie teilen? Ist das ein Anzeichen von Radikalisierung?
Nicht unbedingt. Die Inhalte greifen manchmal tatsächlich wichtige gesellschaftliche Themen auf. Betrachtet man beispielsweise die Beiträge von Generation Islam oder Realität Islam, ist es durchaus nachvollziehbar, dass manche Jugendliche sie gut finden. Denn die Accounts fassen teilweise in Worte, was die Jugendlichen gerade selbst bewegt. Zum Beispiel wenn es um die ungerechte Behandlung von Muslim:innen innerhalb der Gesellschaft geht. Daran können viele Jugendliche anknüpfen.
Hier könnte man als Schule die gesellschaftlichen Diskurse aktiv aufgreifen und sie nicht den extremistischen Gruppen überlassen. Das haben wir an unserer Schule gemacht. Wir haben Fächer wie Deutsch, Religion, Englisch oder Sozialkunde dazu genutzt, solche Ungerechtigkeiten zu thematisieren und sie nicht unter den Tisch fallen lassen. Dadurch haben sich die Schüler:innen gesehen und respektiert gefühlt.
Denn Gruppierungen wie Muslim Interaktiv arbeiten mit klassischen Feindbildern, etwa: "Deutschland oder der Westen interessieren sich nicht für deine Anliegen." Und tatsächlich tauchen viele Themen in der Presse nur am Rande auf, wie zum Beispiel die Verfolgung und Tötung muslimischer Minderheiten in Myanmar oder China. Die "IS"-Propagandisten haben das damals sofort aufgegriffen.
Passiert hingegen etwas in den USA oder Europa, taucht das bei uns überall in den Medien auf. Ein Beispiel: Elf Tage vor der Ermordung des Lehrers Samuel Paty im Oktober 2020 in Paris wurden in Afghanistan neun Menschen durch ein islamistisches Attentat ermordet, 38 Menschen wurden verletzt. Und zwei Wochen danach wurden 20 Menschen in Mosambik im Namen des "IS" ermordet. In den europäischen Medien stand allerdings nur das islamistische Attentat in Paris im Vordergrund. Das suggeriert manchen Menschen, dass ein bestimmtes Leben mehr wert sei als ein anderes. Junge Menschen mit Bezügen zu diesen Ländern könnten sich zu Recht fragen, wo hier die Solidarität bleibe.
Demnach haben wir als Schule versucht, dem islamistischen Feindbild des ignoranten Westens entgegenzuwirken und zu zeigen: Wir respektieren dich, deine Religion und deine Kultur. Hier ging es vor allem darum, das Thema Religion nicht auszuklammern. Idealerweise gibt es hierfür eine Arbeitsgruppe aus vier oder fünf Expert:innen, die auf dem aktuellsten Stand sind und Kolleg:innen Unterrichtsmaterialien zuliefern. Das war während meiner Arbeit als Schulbegleiter in Hamburg meine Aufgabe.
Lehrkräfte, die sich solchen Themen im Unterricht widmen möchten, haben häufig die Sorge, dass sie den Jugendlichen in Diskussionen zu Religion argumentativ unterlegen sein könnten. Wie können Lehrkräfte mit solchen Unsicherheiten umgehen?
Es ist in Ordnung, nicht alles zu wissen und das auch offen zuzugeben. Ein Beispiel: In einer Klasse äußerte eine Lehrerin Sorge darüber, dass das Referat einer Schülerin über Palästina eskalieren könnte. Hier habe ich geraten, offen zuzugeben, wenn man etwas nicht genau weiß und Aussagen nicht direkt zu verneinen. Man kann auch nach den Quellen der Schüler:innen fragen und vorschlagen, diese nochmal im Nachgang zu prüfen.
Einen Weg, den ich Pädagog:innen und Fachkräften in meinen Fortbildungen nahelege, ist, keine Grundsatzdebatten über Religion zu führen, sondern zu versuchen, die Funktion der Ideologie zu ergründen. Gemeinsam kann man herausfinden: Was ist eigentlich gerade los bei der Person? Warum ist ein Thema so wichtig für jemanden? Welche Bedürfnisse befriedigt die Ideologie? Um diese Fragen drehen sich meine Fortbildungen. Wenn Pädagog:innen die Bedürfnisfrage ergründet haben, haben sie eigentlich alle Kompetenzen und das nötige Wissen für das weitere Handeln. Man muss kein:e Expert:in für den Islam oder für Politik sein. Wenn man anfängt, mit einer Person über ihre Bedürfnisse zu sprechen, ist man handlungsfähig.
Welche Bedürfnisse liegen denn einer möglichen Radikalisierung zugrunde? Worin liegt die Anziehungskraft für junge Menschen?
Indem sie sich islamistischen Gruppierungen anschließen, erhoffen sich die Jugendlichen, ihre Ängste, Minderwertigkeitskomplexe oder Gefühle von Ohnmacht zu überwinden. Ideologien können dann verschiedene Funktionen für die jungen Menschen erfüllen, wie etwa den Wunsch nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Gerechtigkeit oder Sinn.
In jedem Fall ist Beziehungsarbeit wichtig, damit die Person nicht das Gefühl hat, sich rechtfertigen zu müssen. Ich sollte vermitteln können, dass ich nichts gegen die Religion der Person habe, sondern sie nur besser verstehen will. Wenn eine gute Beziehungsbasis da ist, kann ich weitere Fragen stellen.
Wir haben zum Beispiel mal einen Klienten gefragt: "In welcher Situation hast du zum ersten Mal erlebt, dass dir deine Religion hilft?" Er berichtete uns: "Ich hatte die Gartenstühle von meinem Vater ausgeliehen und wollte sie zurückbringen. Er war telefonisch nicht erreichbar. Ich wusste, wenn ich die Stühle vor der Haustür abstelle, dann würde er sagen: ‚Wieso hast du sie nicht in den Keller geräumt?‘ Wenn ich sie in den Keller räumen würde, würde er sagen: ‚Wieso hast du sie nicht vor die Haustür gestellt?‘ Also sagte ich mir: So, ich habe sie dahingestellt, wo ich dachte, dass es am besten für ihn ist. Und dann habe ich gesagt: ‚Allah, du bist mein Richter. Du bist mein Zeuge und du weißt, dass ich das so gut wie möglich machen wollte.‘" Nachdem unser Klient von seiner Erfahrung berichtet hatte, haben wir nicht mehr über Religion gesprochen. Von nun an ging es um die Beziehung zwischen ihm und seinem Vater.
Das ist dann der Punkt, an dem sich Pädagog:innen wieder handlungsfähig fühlen. Weil man nachvollziehen kann, wie es ist, einen Vater zu haben, dem man es nie recht machen kann. Und plötzlich entsteht so eine Art Verbindung und Verständnis. Außerdem stoppt man diese konfliktbehaftete Dynamik, in der eine Partei ihr Gegenüber überzeugen will.
Was sollten Lehrkräfte tun und was sollten sie nicht tun? Wo können sie sich Hilfe holen?
Ich empfehle Lehrer:innen, erst mal für sich zu reflektieren: Wie stehe ich grundsätzlich zu Religion? Und welche politische Haltung habe ich? Es ist egal, wie professionell wir alle sein wollen in unserem Beruf als Berater:in, Pädagog:in und Lehrer:in. Es gibt bestimme Gedanken und Gefühle, die in der Interaktion mit Schüler:innen auftauchen können, weil mögliche Trigger-Punkte von uns selbst berührt werden. Hier sollten wir in der Lage sein, uns selbst zu reflektieren.
Außerdem sollte man politische oder theologische Debatten vermeiden, weil das meistens nichts bringt. Der Fokus sollte auf der Beziehungsarbeit liegen, die ja ohnehin Bestandteil der pädagogischen Arbeit ist. Wenn ich selbst nicht die Person bin, die diese Arbeit leisten kann – oder mir der Zugang zu einer Schülerin oder einem Schüler nicht gelingt ¬– sollte das Kollegium oder die Schulsozialarbeit mit einbezogen werden. Meist findet sich dort eine Person, die dafür infrage kommt.
Man sollte verhindern, dass Schulen zu schnell repressiv wirken oder überstürzt und unangemessen intervenieren. Denn das kann dazu führen, dass sich die Personen stigmatisiert fühlen und die angesprochenen Feindbilder bedient werden. Es gab zum Beispiel einen Fall, in dem ein Schüler aus Protest die Schweigeminute für die Opfer in der Ukraine boykottiert hat. Der Schüler begründete seine Haltung damit, dass es ja auch keine Schweigeminute für muslimische Opfer von Kriegen und Konflikten im Jemen oder in Palästina gebe. Er beschwerte sich auch über eine ungleiche Behandlung von ukrainischen gegenüber muslimischen Geflüchteten. Daraufhin wurde der Schüler der Schule verwiesen. So serviert man ihn einer Bewegung wie Muslim Interaktiv natürlich auf dem Silbertablett. Denn sie greifen genau diese Widersprüchlichkeiten auf, denen im schulischen Kontext oft kein Platz gegeben wird.
In solchen Fällen sollten sich Lehrkräfte externe Hilfe holen. Es gibt bundesweit Beratungsstellen, an die Schulen sich wenden können. Eine Übersicht findet man zum Beispiel beim Interner Link: Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb. Dort kann man nach Beratungsstellen in der Nähe suchen.
Das Interview führte Maren Kirsch.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-05-25T00:00:00 | 2015-09-16T00:00:00 | 2023-05-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/212160/islamistische-radikalisierung-bei-jugendlichen-erkennen/ | Wie äußert sich eine islamistische Radikalisierung bei Jugendlichen? An welchem Punkt sollten sich Schulen Hilfe holen? Ein Interview mit Philip Mohamed Al-khazan von der Beratungsstelle "Legato". | [
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Zur innenpolitischen Rolle des Auslandsnachrichtendienstes in der Ära Adenauer | Überwachen | bpb.de | Reinhard Gehlen beharrte zeitlebens darauf, sein Auslandsnachrichtendienst habe nie innenpolitische Aufklärung betrieben, also niemals Informationen beschafft, die keinerlei Zusammenhang mit seiner Aufgabenstellung hatten. Solche Beteuerungen des Chefs der "Organisation Gehlen" (1946–1968) und des daraus hervorgegangenen Bundesnachrichtendienstes (BND) verdichteten sich nachgerade zu einer Art Master-Narrativ der bis heute in Pullach ansässigen Behörde. Während der gesamten Ära Adenauer lag über dem Gehlen-Dienst dennoch der Verdacht, seine Fähigkeiten zur innenpolitischen Ausspähung zu missbrauchen. Erst heute lässt sich die innenpolitische Präsenz des Auslandsnachrichtendienstes als zweifelsfreie historische Tatsache belegen. Der BND selbst hat durch die Öffnung seiner Unterlagen für die Forschung dazu beigetragen.
Grenzüberschreitungen geheimer Nachrichtendienste sind – überflüssig zu betonen – nicht bloß historische, sondern eminente Gegenwartsfragen. Angesichts ihrer jüngst allgemein bekannt gewordenen Fähigkeiten stehen wir wohl vor einem Jahrhundertproblem, das manche mit der Einhegung der industriellen Revolution vergleichen. Die Bereitschaft der Öffentlichkeit, geheimdienstliche Grenzüberschreitungen hinzunehmen, schwindet. Nach den Snowden-Enthüllungen über das Wirken der NSA bündelt sich dieses Unbehagen in der Frage, wie die geschlossene Gesellschaft der Nachrichtendienste so überwacht werden kann, dass sie nicht selbst zu einer Beeinträchtigung oder gar Gefährdung der offenen Gesellschaft wird, oder, weniger grundsätzlich, in der Frage, wie sich ihre Effizienz und Kontrolle verbessern lassen.
Im Folgenden wird nach einer Kennzeichnung des Rahmens der Forschung zur frühen BND-Geschichte die innenpolitische Präsenz des Gehlen-Dienstes in der Ära Adenauer grob umrissen, woran Bemerkungen zum möglichen Nutzen historischer Erkenntnisse für die aktuelle Debatte geknüpft sind.
BND erforschen
Als sich BND-Präsident Ernst Uhrlau (2005–2011) dazu entschloss, die Geschichte des BND unter der Ägide Gehlens erforschen zu lassen, war auf Bedingungen zu pochen, die für die Öffentlichkeit, den Dienst und die 2011 berufene Historikerkommission (Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller) gleichermaßen zustimmungsfähig waren. Das gelang, weil der BND und das Bundeskanzleramt neben der selbstverständlichen wissenschaftlichen Unabhängigkeit und dem Zugang zu ausnahmslos allen erforderlichen Unterlagen die Eigenständigkeit der Unabhängigen Historikerkommission (UHK) bei der Definition ihres künftigen Forschungsfeldes garantierten. Angestrebt wird eine integrale Darstellung des BND und seines Vorläufers mit den Schwerpunkten Organisation/Personal (einschließlich der NS-Kontinuitäten), Tätigkeit, Stellung in der deutschen Politik; hinzu kommt eine Biografie Gehlens. Auf fünf Jahre verteilt, stehen dafür ungefähr zwei Millionen Euro zur Verfügung, eine interne Arbeitsgruppe leistet Hilfestellung, mehrere wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter widmen sich Einzelthemen.
Von der 2012 voll angelaufenen UHK-Tätigkeit profitieren mittlerweile auch Journalisten und Kollegen, denn die Gewährung von Akteneinsicht hat sich seither wesentlich verbessert; zudem werden die verarbeiteten Unterlagen nach Abschluss des Projekts für die allgemeine Benutzung freigegeben. Forschen und Publizieren sind freilich zweierlei: Der BND hat zwar keinerlei wissenschaftliches Mitspracherecht, prüft aber die Manuskripte vor ihrer Publikation nach rechtlichen und "sicherheitlichen" Gesichtspunkten. Ein gangbares Verfahren beginnt sich einzuspielen, für Konfliktfälle ist eine neutrale Schiedskommission vorgesehen. Nach den bisherigen Erfahrungen wird man wohl sagen dürfen, dass die anfangs kaum überwindlich scheinende Spannung zwischen wissenschaftlichem Transparenzgebot und behördlicher Arkansicherung so gut wie verflogen ist.
Der BND hat nicht nur verstanden, dass man mit historischer Aufarbeitung punkten kann, er erhofft sich davon auch einen Akzeptanzgewinn: Wird die geheimdienstkritische Öffentlichkeit einer Behörde, die redlich mit ihrer Vergangenheit umgeht, nicht eher vertrauen als einer, die dazu nicht bereit ist? Der seit 2011 amtierende BND-Präsident Gerhard Schindler hat dies jüngst vertreten und erklärt, er werde die historische Aufarbeitung dauerhaft verankern.
Gehlens Obsession, Cleverness und Schwäche
Die Organisation Gehlen schlug ihren Weg zu einer massiven innenpolitischen Präsenz schon vor Gründung der Bundesrepublik ein. Bereits kurz nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands hatte die neue Supermacht USA die Gruppe um Gehlen aus dem Heer der Hungernden und Demoralisierten herausgeholt und sie in ihren Militärapparat einbezogen. Wollte man diesen märchenhaft privilegierten Status behaupten, musste man sich unentbehrlich machen. Also wurde die US-Army mit Informationen über die sowjetischen Truppen versorgt, einflussreiche Einheimische bekamen gezielt allerlei nützliche Hinweise. Solche Profilierung war clever, da man – noch in Wehrmachtsklamotten – den unwahrscheinlichen Traum träumte, eines Tages der eine, universelle deutsche Nachrichtendienst zu werden.
Zur selben Zeit baute der Gehlen-Dienst seine Spionageabwehr auf, wo sich ebenso wie in anderen Diensteinheiten erfahrene Männer aus dem Terrorapparat der Nationalsozialisten tummelten. Ihr neuer Feind war der alte: der weltrevolutionäre Kommunismus mit seinen fünften Kolonnen (der nun auch noch den siegreichen Stalin im Rücken hatte). Das war eine noch in der NS-Zeit wurzelnde Obsession, die Reinhard Gehlen bis zu seinem Tode nicht verließ. Schon 1946 bezeichnete er es als entscheidend, den Kampf gegen den Kommunismus fortzuführen. Seit Frühjahr 1947 konnte er sich in Übereinstimmung mit der Regierung der Vereinigten Staaten fühlen. Die Truman-Doktrin sah in der Unterwanderung durch entschlossene Minderheiten bekanntlich die Hauptbedrohung der freien Welt.
Selbstverständlich stellten kommunistische Subversion und Spionage im geteilten Deutschland eine Bedrohung dar, die Schwäche von Gehlens erratischem Antikommunismus bestand allerdings in der Beeinträchtigung der eigenen Urteilsfähigkeit: Alles und jedes vor dieser einen Folie zu beurteilen, verstellte nicht nur den Blick auf Wandlungen innerhalb des östlichen Lagers, es verleitete auch dazu, Gegner in diesem Lager zu vermuten, die sich gar nicht dort befanden. Sogar der wohlwollende Aufpasser vom US-amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA attestierte Gehlen die zwanghafte Vorstellung von der Gefahr eines kommunistischen Sieges.
Demokratiefern, etatistisch, von militärischem Denken geprägt und in einem wunderlich unanalytischen Antikommunismus befangen, neigten Gehlen und viele seiner Mitarbeiter in nahezu ungebrochener Tradition dazu, die innenpolitische Scheidelinie nicht zwischen demokratisch und nicht-demokratisch zu ziehen, sondern zwischen rechts und links. Und "links" reichte für sie bis tief in den demokratischen und christlichen Sozialismus hinein; Verachtung für Widerstandskämpfer und Emigranten gehörte ohnedies zum Komment.
In einem geteilten Land auf der Nahtstelle des Konflikts zwischen "Freiheit" und "Sozialismus" lagen Spionageabwehr und innenpolitische Aufklärung nahe beieinander. Alles, was links vom nationalkonservativen Mainstream lag, wurde in Pullach in einer Art dual use der Spionageabwehr als gegnerisch eingestuft.
Bei Gründung der Bundesrepublik übergab Gehlen der US-Army beispielsweise ein Memorandum, in dem er die Gefahr beschwor, die Sozialdemokratie könnte beherrschenden Einfluss in Westdeutschland gewinnen. Später offenbarte er einem führenden CIA-Mann, wenn es einmal zu einer Großen Koalition mit Leuten wie dem ersten Kanzleramtschef Otto Lenz von der CDU, dem ersten CSU-Vorsitzenden Josef Müller und dem SPD-Abgeordneten Herbert Wehner käme, dann werde er sich moralisch verpflichtet fühlen, einen illegalen Apparat aufzuziehen.
Es versteht sich, dass der Bundeskanzler reges Interesse an dem amerikanisch finanzierten Geheimdienst hatte. Die verdeckte innenpolitische Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Gehlen-Dienst setzte denn auch bald nach der Regierungsbildung ein. Zu ihrem Dreh- und Angelpunkt wurde die sehr enge Zusammenarbeit zwischen Reinhard Gehlen und dem Chef des Bundeskanzleramtes Hans Globke, der für den Nachrichtendienst zuständig war. Felder innenpolitischer Aktivität
Der frühe BND war mit verschiedenen Methoden auf unterschiedlichen Feldern innenpolitisch aktiv: Er legte verdeckte Verbindungen in die Gesellschaft hinein; er platzierte Gewährsleute in staatlichen Behörden; er hatte eine starke Präsenz im Milieu der ehemaligen Wehrmachtssoldaten; er fungierte als vergangenheitspolitisches Frühwarnsystem und vor allem als Dienstleister für die Beschaffung innenpolitischer Informationen.
Was die Platzierung von Gewährsleuten anbelangt, so machte sich Gehlen sogleich daran, "zuverlässige Leute" in staatlichen Behörden unterzubringen, wobei er vor allem auf Polizei, Staatsanwaltschaften, Innenbehörden und Verfassungsschutzämter zielte. Dabei konnte es geschehen, dass der Amtschef eines Innenministeriums sich gegenüber einem leitenden Mitarbeiter des Dienstes (seinem Schwager) erbot, mit einem Bevollmächtigten Gehlens Stellenbesetzungen durchzusprechen, Wünsche entgegenzunehmen und sie nach Möglichkeit durchzusetzen. Von solchen Gewährsleuten auf allen Stufen der Ämterhierarchie flossen dem Dienst wertvolle innenpolitische Informationen zu.
Die Pullacher Offiziere hielten engsten Kontakt zu den ehemaligen Wehrmachtskameraden, von denen einige durchaus zu antidemokratischer Obstruktion neigten. In dem Gewimmel der Soldatenverbände wirkte der Dienst darauf hin, Radikalisierungen und namentlich Widerstand gegen Adenauers Politik der Wiederbewaffnung einzudämmen.
Als vergangenheitspolitisches Frühwarnsystem schlug der BND Alarm, wenn die SED eine ihrer Kampagnen startete, um die Bundesrepublik als ein von alten Nazis beherrschtes System zu brandmarken. Bekanntlich trafen die Vorwürfe aus der DDR häufig zu, sie wurden aber lange als reine Verleumdung abgetan. Hinter den Kulissen herrschte allerdings rege Betriebsamkeit. Der Dienst suchte Zeugen, beschaffte Dokumente, sorgte für publizistische Gegenkampagnen. Für den belasteten Globke etwa wurde Gehlen zu einer Art persönlichem Schutzschild.
Bei der geheimen Beschaffung und Verwertung innenpolitischer Informationen überschritt der Dienst, der praktisch unkontrolliert agieren konnte und es verstand, einen völlig ungerechtfertigten Nimbus purer Effizienz zu erzeugen, über zwei Jahrzehnte hinweg alle Grenzen. Diese Form der Aufklärung (die in internen Anordnungen nur pro forma verboten wurde) betrieb er mit den gängigen Methoden: mit dem Abschöpfen von Gesprächskontakten sowie mit dem Einsatz von V-Leuten und "Sonderverbindungen". Das waren Personen, die Informationen beschafften, die auf den klassischen nachrichtendienstlichen Wegen nicht zu bekommen waren. Solche Verbindungen knüpfte der Geheimdienst seit den 1940er Jahren in Behörden, Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Kirchen, Firmen, in der Wissenschaft und den Medien. Das war vielleicht kein straffes Untergrundnetz emsiger Einflussagenten, einige halfen Gehlen lediglich bei der "Landschaftspflege", einige waren gewöhnliche Zuträger; mancher Journalist hatte den Auftrag, kritische Berichte "abzubiegen" oder an einem BND-Idealbild zu malen. Der Gesamtbestand an Sonderverbindungen dürfte zu Spitzenzeiten bei etwa 300 Personen gelegen haben. Mit dem Dienstantritt von Präsident Gerhard Wessel 1968 lief diese Praxis aus.
Wie konnte es zu dem anhaltenden Missbrauch des Auslandsnachrichtendienstes jenseits jeglicher Kontrolle kommen? Wie hat man sich das praktisch vorzustellen? Reinhard Gehlen jagte dem Ziel nach, seine Organisation zum einzigen bundesdeutschen Nachrichtendienst zu machen. Da heiligte der Zweck die Mittel, und der Erfolg gab ihm Recht. Doch anstatt einen Rückbau der innenpolitischen Ausspähung einzuleiten, schritt der BND nach seiner offiziellen Gründung am 1. April 1956 umso beherzter auf den erprobten Pfaden voran. Mit seinen illegitimen Machenschaften konnte der Dienst zugleich seine Stellung in Politik und Gesellschaft stärken, für guten Mittelzufluss sorgen und sich gegen Kritik immunisieren – jedenfalls bis Anfang der 1960er Jahre, als er nach den Affären um die Einschüchterung des "Spiegels" und den KGB-Agenten Heinz Felfe aus Adenauers Gnade fiel.
In Gehlens Selbstverständnis war der Dienst keine beliebige Behörde, sondern ein Machtmittel des Bundeskanzlers, das dieser auch im Innern einsetzen können musste. Diese von keinem Gesetz, geschweige denn der Öffentlichkeit – hätte sie davon erfahren – gestützte Dienstauffassung passte gut zur "Kanzlerdemokratie" der 1950er Jahre. Kanzler und Präsident mussten sich überdies auch nicht erst von der bolschewistischen Gefahr und dem allgemeinen Ernst der Lage überzeugen – sowie davon, dass eine SPD-geführte Bundesregierung (nach dem berühmten Diktum Adenauers) der "Untergang Deutschlands" sein würde.
Gehlen und Globke
Das Besondere an der innenpolitischen Aufklärung war, dass alle wichtigen Informationen bei Gehlen und seinen engsten Mitarbeitern zusammenliefen, eine interne oder politische Kontrolle deshalb unmöglich war. Diese Monopolisierung innenpolitischer Erkenntnisse machte den BND-Präsidenten zu einem gesuchten Gesprächspartner des Bundeskanzlers und seines Staatssekretärs. Der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz bemerkte früh, dass Adenauer seine starke Stellung den "Augen und Ohren" des unersetzbaren Globke verdankt habe, obgleich der Adenauer-Biograf vor Öffnung der BND-Akten noch nicht ahnen konnte, wie stark sich der Staatssekretär auf den Dienst stützte.
Bereits Anfang 1951 hatte Globke den Dienst um die besondere Berücksichtigung der innenpolitischen Lage gebeten. Das konnte vielerlei Themen betreffen: die Tatsache etwa, dass einige Bonner Persönlichkeiten homosexuell waren; die Person Herbert Wehners; einen deutschen Star-Reporter, den der Staatssekretär in schlechter Erinnerung hatte; oder die Intervention der Regierung gegen den Intendanten einer großen Rundfunkanstalt – ein leitender Redakteur, der dem BND als Sonderverbindung diente, hatte sich konspirativ über seinen Intendanten beschwert. In den Akten finden sich aber genauso Analysen über die Situation der SPD oder eine Untersuchung über die Rolle des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung bei den Studentenunruhen.
Die bisher gesichteten Unterlagen zeigen, wie Adenauer den BND-Präsidenten immer wieder ermunterte, sich auch die innenpolitische Aufklärung angelegen sein zu lassen. Es ist auch erkennbar, dass Adenauer und Globke (bis sie im Herbst 1963 gemeinsam das Kanzleramt verließen) insbesondere an Interna aus den Spitzengremien politischer Parteien interessiert waren. Mit Sonderverbindungen und V-Leuten ließ Gehlen namentlich die FDP und die SPD ausforschen, gelegentlich gerieten auch allzu eigenständige CDU-Granden ins Visier.
Auf die systematische innenpolitische Ausspähung durch den Auslandsnachrichtendienst deuten bislang einige Hundert einschlägige Informationen hin, die allerdings sehr verstreut liegen und erst noch zu einem kohärenten Bild gefügt werden müssen. Diese Erkenntnisse des BND beziehen sich größtenteils auf sensible politische, personelle und persönliche Informationen aus dem innersten Kreis der FDP- und der SPD-Führung. Wären diese Machenschaften seinerzeit bekannt geworden, hätten sie unfehlbar einen politischen Skandal mit unabsehbaren Konsequenzen auslösen müssen.
Wohlgemerkt: Der Gehlen-Dienst lief in den 1950er und 1960er Jahren nicht aus dem Ruder, er überschritt auch nicht eigenmächtig seine Befugnisse. Die Ausforschung von Politik und Gesellschaft der frühen Bundesrepublik geschah mit Wissen und zu Willen des Bundeskanzlers. Kein Wunder, dass Gehlen, so "Der Spiegel", lange "des Kanzlers lieber General" gewesen ist. In solchen Dingen war Adenauer nicht pingelig, wie er selbst von sich sagte. Hans Globke, der ihn an sich hätte kontrollieren sollen, war der verschwiegene Helfer beim innenpolitischen Missbrauch des Auslandsnachrichtendienstes. Er lebte mit Gehlen in einer machtpolitischen Symbiose zu beiderseitigem Nutzen und zur Machtsicherung des Gründungskanzlers der Bundesrepublik Deutschland.
Im Zuge des Forschungsprojekts der UHK gilt es, die hier nur grob umrissenen Tatsachen so hell auszuleuchten, wie das nach über 60 Jahren noch möglich ist. Das heißt auch, eine Antwort auf die Frage nach der historischen Bedeutung der massiven innenpolitischen Präsenz des BND in den beiden Gründungsdekaden der Bundesrepublik zu suchen. Man wird die Geschichte der Ära Adenauer dann nicht umschreiben müssen – aber manches vielleicht etwas besser verstehen. Kontrolle der geheimen Dienste von außen und innen
Kann die Kenntnis der historischen Tatsachen die aktuelle Debatte über die massenhafte Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte und die schleichende Gefährdung der Zivilgesellschaft bereichern? Immerhin zeigen sie, dass Geheimdienste sogar mit ihren von heute aus steinzeitlich anmutenden Fähigkeiten in der Lage waren, verbotenerweise Ausspähung zu betreiben, die einer Beeinträchtigung der demokratischen Selbstverständigung und einer Verzerrung des politischen Wettbewerbs Vorschub leistete. Der historische Befund bestätigt, dass diese Gefahr auch in einer Demokratie dann am größten ist, wenn ein Geheimdienst von der politischen Führung gezielt missbraucht wird. Das wird man in der Bundesrepublik bis auf Weiteres wohl nicht zu gewärtigen haben.
Bestätigt hat der Blick auf den frühen BND die alte Erkenntnis, dass eine geheim agierende geschlossene Institution mit ausgeprägten Klientelstrukturen von außen schlechterdings nicht wirksam kontrollierbar ist – weder im Hinblick auf ihre Effizienz noch auf die Legitimität ihres Handelns; ein Whistleblower ("Verräter" wäre Gehlens Diktum gewesen) hätte die seinerzeitigen Machenschaften auffliegen lassen können. Ein waches rechtsstaatliches Bewusstsein und eine kräftige Portion Zivilcourage bei den Mitarbeitern geheimer Dienste wären, gewürdigt und gefördert, jedenfalls eine gute Bürgerversicherung.
Zu allererst ist es jedoch die rechtsstaatliche Institutionenordnung, welche die Geheimdienste im Zaum zu halten hat. Transparenz widerspricht der Funktionslogik geheimer Nachrichtendienste, doch ist es gerade diese funktionsnotwendige Intransparenz, die demokratiewidrige Intransigenz fördern kann und in der Geschichte oft genug auch befördert hat.
Der Deutsche Bundestag unternimmt derzeit Anstrengungen, um das Parlamentarische Kontrollgremium für die Geheimdienste zu stärken. Der ehemalige BND-Präsident (1996–1998) und Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz Hansjörg Geiger schlägt darüber hinaus vor, das Amt eines dem Parlament verantwortlichen Beauftragten für die Nachrichtendienste zu schaffen. Doch um eine wirkliche Stärkung von Effizienz und Kontrolle der Dienste zu erreichen, müsste ihre Überwachung wohl von außen und innen zugleich erfolgen.
Denkt man hier weiter, steht man vor der Frage, ob zivilgesellschaftliche Rechtsstaaten bei ihren Geheimdiensten nicht das Vieraugenprinzip institutionalisieren sollten – nämlich durch die Schaffung einer Doppelspitze aus einem Leiter, der wie üblich der Regierung verantwortlich ist, und einem Leiter, der dem Parlament verantwortlich ist. Dieser wäre innerdienstlich mit ähnlichen Befugnissen ausgestattet wie sein Pendant (wobei einzelne Bereiche ausgenommen bleiben könnten, solange das Parlament in begründeten Fällen nicht auch hier Ermächtigungen erteilt). Das ist nur ein Gedankenspiel und ein ziemlich unkonventionelles Modell, doch dürften konventionelle Kontrollmechanismen mit der Entwicklung geheimdienstlicher Fähigkeiten in Zukunft noch weniger Schritt halten als in der Vergangenheit.
Der historische Teil des Aufsatzes gibt in gestraffter Form meine Ausführungen auf dem öffentlichen Kolloquium der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) am 2. Dezember 2013 in Berlin wieder. Vgl. Klaus-Dietmar Henke, Der Auslandsnachrichtendienst in der Innenpolitik: Umrisse, in: Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichten-dienstes 1945–1968 (Hrsg.), Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968: Umrisse und Einblicke, Marburg 2014, S. 90–98. | Article | , Klaus-Dietmar Henke | 2021-12-07T00:00:00 | 2014-04-17T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/183094/zur-innenpolitischen-rolle-des-auslandsnachrichtendienstes-in-der-aera-adenauer/ | Mit Wissen des Bundeskanzlers führte der BND unter Reinhard Gehlen innenpolitische Ausspähungen durch. Wie die gegenwärtigen Debatten werfen historische Befunde wie diese die Frage nach einer effektiven Kontrolle der Geheimdienste auf. | [
"Auslandsnachrichtendienst",
"Nachrichtendienst",
"Geheimdienst",
"Konrad Adenauer",
"BND",
"Reinhard Gehlen",
"Deutschland"
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Lord of the Flies | bpb.de | Nach einem Flugzeugabsturz kann sich eine Gruppe von Jungen auf eine unbewohnte Insel retten. Trinkwasser und Früchte sind ausreichend vorhanden. Den Sechs- bis Zwölfjährigen gelingt es sogar, ein Signalfeuer zu entfachen. Der besonnene und umsichtige Ralph wird zum Anführer gewählt. Doch Jack bringt Unruhe in die Gruppe. Er setzt auf das Recht des Stärkeren und schart immer mehr „Jäger“ um sich. Als sich ein rettendes Schiff nähert, aber nicht auf die Gestrandeten aufmerksam wird, zerbricht die Gruppe endgültig.
Spielfilm, GB 1963, 92 Min, OmU Regie: Peter Brook Drehbuch: Peter Brook
FSK 12. Empfohlen ab 12
Der Film wurde von den Interner Link: Young European Cinephiles im Rahmen des internationalen Filmfestival LUCAS kuratiert. Die Reihe ermöglicht jungen, filmaffinen Europaer:innen das Kuratieren ihres eigenen Filmprogramms. Die weiteren Filme der Reihe sind:
Interner Link: Mommy Interner Link: Negative Numbers | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-09-18T00:00:00 | 2022-09-15T00:00:00 | 2022-09-18T00:00:00 | https://www.bpb.de/pift2022/rahmenprogramm/513100/lord-of-the-flies/ | Nach einem Flugzeugabsturz kann sich eine Gruppe von Jungen auf eine unbewohnte Insel retten. Der besonnene und umsichtige Ralph wird zum Anführer gewählt. Doch Jack bringt Unruhe in die Gruppe. Er setzt auf das Recht des Stärkeren, doch der Zusamme | [
"Macht der Gemeinschaft",
"macht erlebbar"
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Medien für den Unterricht | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de |
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1. Unterrichtslektüre
Es gibt eine Reihe aktueller (Jugend-)Bücher zum Thema Radikalisierung und Dschihad, die sich als Unterrichtslektüre (z. B. im Fach Deutsch) eignen. Zum Teil sind begleitende Unterrichtsmaterialien erschienen. Hier werden einige Beispiele vorgestellt. Einige Autorinnen und Autoren stehen für Lesungen in Schulen zur Verfügung, die Kontaktaufnahme erfolgt meist über den Verlag.
Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken.
Interner Link: Djihad ParadiseAnna Kuschnarowa, 2016 Interner Link: Dschihad CallingChristian Linker, 2016 Interner Link: Dschihad OnlineMorton Rhue, 2017 Interner Link: Papa, was ist ein Terrorist?Tahar Ben Jelloun, 2016 Interner Link: Zwei BrüderMahir Guven, 2019 Interner Link: Zwei Schwestern. Im Bann des DschihadÅsne Seierstad, 2018
Djihad Paradise
Anna Kuschnarowa, Gulliver / Beltz & Gelberg 2016, 416 S., 8,95 Euro
Julian Engelmann alias Abdel Jabbar Shahid ist kurz davor, sich selbst mit einem Sprengstoffgürtel in einem Berliner Einkaufszentrum in die Luft zu jagen. Da ruft eine bekannte Stimme seinen Namen. Er hält inne und erinnert sich – an seine große Liebe Romea, die Zeit vor dem Terrorcamp und warum sich Romea irgendwann von ihm abwandte … Im Roman geht es um eine Liebe und ein Leben, die am radikalen religiösen Wahn zerbrechen.
Dazu erhältlich: Katja Bergmann: "Djihad Paradise" im Unterricht: Lehrerhandreichung (Klassenstufe 9 – 11), Beltz Verlag 2016, 7,95 Euro.
Dschihad Calling
Christian Linker, dtv 2016, 320 S., 8,95 Euro
Der 18-jährige Jakob verliebt sich in die Augen eines unbekannten verschleierten Mädchens – Samira. Sie ist Mitglied eines Salafisten-Vereins, dennoch versucht er Kontakt zu ihr aufzunehmen. Jakob lernt so ihren Bruder Adil kennen, der mit den Kriegern des "Islamischen Staats" sympathisiert. Obwohl für ihn zunächst undenkbar, fühlt auch Jakob sich angezogen von dem Gedankengut und der Lebensgemeinschaft der Salafisten. Jakob radikalisiert sich, bricht alle alten Kontakte ab und konvertiert. Aber will er wirklich mit Adil nach Syrien ziehen?
Interner Link: Zur Rezension des Buches auf bpb.de
Dschihad Online
Morton Rhue, Ravensburger Verlag 2017, 256 S., 7,99 Euro
Wie geraten Jugendliche unter den Einfluss radikaler Islamisten? Der 16-jährige Khalil kann nichts mit den hasserfüllten Onlinevideos anfangen, die sein Bruder Amir ständig im Internet anschaut. Doch Amir will Khalil von "der Sache" überzeugen. Ein Buch des Autors von "Die Welle". Dazu sind Materialien zur Unterrichtspraxis erhältlich, hrsg. von Birgitta Reddig-Korn.
Papa, was ist ein Terrorist?
Tahar Ben Jelloun, Piper Verlag 2016, 128 S., 9,99 Euro
Der Pariser Autor Tahar Ben Jelloun beantwortet in verständlichen, einprägsamen Worten Fragen über islamistischen Terrorismus. Er erklärt die Rolle der Religion, analysiert die Bedeutung der Propaganda im Internet und beschreibt die Motive der Täter. Angst ist unvermeidlich, stellt er fest, aber der Angriff auf unsere Lebensweise dürfe unsere Kultur der Vernunft und gegenseitigen Akzeptanz nicht erschüttern. Die französische Originalausgabe "Le Terrorisme expliqué à nos enfants" eignet sich für den Französischunterricht der Oberstufe.
Zwei Brüder
Mahir Guven, Aufbau Verlag 2019, 282 S., 20,00 Euro
Der große Bruder fährt mit seinem Taxi durch die Straßen von Paris, der kleine Bruder arbeitet als Assistenzarzt in einer Klinik. Während der Große in die Fußstapfen des Vaters tritt, taucht der Kleine eines Tages in Syrien ab und schließt sich Dschihadisten an. Bis er plötzlich, nach Jahren des Schweigens, wieder vor der Tür steht. Wo fängt Radikalisierung an, wo hört Bruderliebe auf? Der Roman geht der Frage nach, warum sich junge Menschen einer Ideologie unterwerfen.
Externer Link: Zu einem Beitrag über das Buch auf deutschlandfunkkultur.de
Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad
Åsne Seierstad, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2018, 526 S., 4,50 Euro
Warum beschließen junge, im Westen sozialisierte Menschen, in den Dschihad zu ziehen? Die Autorin Åsne Seierstad erzählt die Geschichte zweier Schwestern aus Norwegen, die – zur Überraschung ihres Umfeldes – eines Tages von zu Hause ausreißen, um nach Syrien zu gehen und dort für den IS zu kämpfen.
Interner Link: Zum Buch auf bpb.de
Interner Link: Zum Podcast zum Buch auf bpb.de Interner Link: Zum Interview mit der Autorin auf bpb.de
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2. Erklärvideos
Hier werden einige Erklärvideos vorgestellt, die sich gut für den Einsatz im Unterricht eignen.
Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken.
Interner Link: Begriffswelten IslamBundeszentrale für politische Bildung, 2016 Interner Link: Radikalisierung von MuslimenBundeszentrale für politische Bildung, 2017 Interner Link: Was ist Salafismus?Arte/Bundeszentrale für politische Bildung, 2013
Begriffswelten Islam
Je 6 – 8 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2016
Die Youtuber LeFloid, Hatice Schmidt und MrWissen2Go setzen sich in der bpb-Produktion in animierten Kurzfilmen mit Begriffen des Islams wie "Umma", "Dschahiliyya" oder "Bidʿa" auseinander und besuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Externer Link: Zu den Videos auf youtube.com
Radikalisierung von Muslimen
19 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017
Viele der islamistischen Attentäter von Paris und Brüssel sind in Frankreich und Belgien aufgewachsen und haben sich dort radikalisiert. Auch in Deutschland radikalisieren sich junge Menschen. Für die Gesellschaft ist das eine enorme Herausforderung. Wer radikalisiert sich, und warum? Ist das vergleichbar mit anderen Extremismen? Und welche Rolle spielt dabei der Islam?
Interner Link: Zum Video auf bpb.de
Was ist Salafismus?
12 Minuten, Arte/Bundeszentrale für politische Bildung, 2013
In dieser Folge der Arte-Sendung "Mit offenen Karten" wird erklärt, was es mit dem fundamentalistischen Ansatz des Salafismus auf sich hat. Darüber hinaus wird die Entwicklung des Salafismus nach den Protesten in Nordafrika ("Arabischer Frühling") untersucht.
Interner Link: Zum Video auf bpb.de
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3. Videos aus der/für die Präventionspraxis
Die folgenden Videos wurden speziell für die Präventionsarbeit mit Jugendlichen erstellt oder sie sind in Präventionsprojekten entstanden.
Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken.
Interner Link: Der Nahostkonflikt im Unterrichtufuq.de, 2022 Interner Link: Filmreihe zur Prävention von Muslimfeindlichkeit und für ein solidarisches Miteinander an GrundschulenZEOK e. V., 2022 Interner Link: Jamal al-Khatib X NISATurn und bpb, 2017 und 2019 Interner Link: Radikalisierung hat kein GeschlechtBayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 2022 Interner Link: Reflect Your Pastendemol und bpb, 2019 Interner Link: RISE: Jugendkulturelle Antworten auf islamistischen ExtremismusRISE, 2020 Interner Link: Say My NameKooperative Berlin und bpb, 2019 und 2020 Interner Link: Tipps für ExtremismuspräventionRedaktion werkstatt.bpb.de, 2022
Der Nahostkonflikt im Unterricht
13 Minuten, ufuq.de, 2022
Wie kann man den Nahostkonflikt erfolgreich im Unterricht thematisieren? Darüber spricht Mehmet Can im "ufuq Couch Talk". Er ist Lehrer an einer Berliner Schule und hat gemeinsam mit Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern eine Reise nach Israel und Palästina unternommen. Außerdem hat er eine "Jerusalem AG" ins Leben gerufen und einen Comic zum Thema herausgebracht. Im Gespräch mit Sakina Abushi von ufuq.de erzählt er von seinen Erfahrungen und gibt Tipps für die Praxis.
Externer Link: Zum Video auf ufuq.de
Filmreihe zur Prävention von Muslimfeindlichkeit und für ein solidarisches Miteinander an Grundschulen
3 x 2–3 Minuten, ZEOK e. V., 2022
Die Filmreihe für die Grundschule bietet einen kindgerechten Einstieg in das Thema Muslimfeindlichkeit. Der Verein ZEOK hat drei kurze Animationsfilme erstellt, die Impulse geben, um mit Kindern über Identität, Vielfalt, Vorurteile und Diskriminierung zu sprechen. Die begleitende Handreichung enthält Tipps und Materialhinweise für die Auseinandersetzung mit diesen Themen in Schule oder Hort.
Externer Link: Zur Videoreihe auf zeok.de
Jamal al-Khatib X NISA
Turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention und bpb, 2017 und 2019
Das Internet spielt eine zentrale Rolle dabei, dass Jugendliche mit religiös begründeten extremistischen Inhalten in Berührung kommen. Vor diesem Hintergrund versucht das Projekt, alternative Narrative zu dschihadistischer Propaganda zu vermitteln. Hier erfahren Sie mehr über die Hintergründe, können die Projektvideos anschauen und Unterrichtsmaterialien herunterladen.
Interner Link: Zum Video auf bpb.de
Radikalisierung hat kein Geschlecht
16 x 11–18 Minuten, Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 2022
Wie hängen Geschlecht und Radikalisierung zusammen? Wie beeinflussen Geschlechterklischees die Wahrnehmung von Radikalisierung? Und wie geht geschlechtersensible Präventionsarbeit? Die Videoreihe erklärt Begriffe, thematisiert Vorurteile und beleuchtet praktische Präventionsansätze in Bezug auf Gender und Extremismus. Die Inhalte stehen auch als Audiodateien oder Transkripte zur Verfügung.
Externer Link: Zur Videoreihe auf stmas.bayern.de
Reflect Your Past
3 x 23 – 27 Minuten, endemol und bpb, 2019 Die Webvideoreihe "Reflect Your Past" veranschaulicht Radikalisierungsprozesse anhand von Lebensgeschichten. Prominente Youtuberinnen treffen Aussteigerinnen und Aussteiger aus verschiedenen extremistischen Strömungen. Dazu gehört auch Dominic Schmitz, der von seinem Weg in den Salafismus und seinem Ausstieg berichtet. Die drei Roadtrip-Videos werden durch weitere Videos (Diskussionsrunde, Reaktion auf Kommentare und MrWissen2go-Video) ergänzt.
Zur Videoreihe gibt es Begleitmaterialien: Hintergrundtexte zu den behandelten Themen können dabei unterstützen, die Videos einzuordnen und sie für pädagogische Settings einzusetzen.
Interner Link: Zur Videoreihe auf bpb.de
RISE: Jugendkulturelle Antworten auf islamistischen Extremismus
6 x 8 – 14 Minuten, RISE, 2020
Wie können Jugendliche gegen extremistische Ansprachen gestärkt werden? Im Projekt RISE des JFF – Institut für Medienpädagogik antworten Jugendliche auf diese Frage mit eigenen Medienprodukten. Die Filme werden durch pädagogische Materialien gerahmt und Fachkräften für ihre Arbeit zur Verfügung gestellt. Aktuell sind in der Mediathek des JFF sechs Filme online.
Externer Link: Zu den Videos auf rise-jugendkultur.de
Say My Name
15 x 5 – 25 Minuten, Kooperative Berlin und bpb, 2019 und 2020
Das Webvideoprojekt "Say My Name" richtet sich an junge Frauen und behandelt die Themenkomplexe Zusammenleben, Integration und Identifikation. "Say My Name" arbeitet mit jungen kreativen Frauen (z. B. Youtuberinnen) zusammen, die sich gegen alle Formen von Extremismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Hassrede einsetzen.
Interner Link: Zum Webvideoprojekt auf bpb.de
Tipps für Extremismusprävention
4 Minuten, Redaktion werkstatt.bpb.de, 2022
Was können Lehrkräfte tun, damit Schülerinnen und Schüler nicht auf ideologische Mobilmachung im Internet hereinfallen? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Folge des Formats "Bildungshacks". Moderatorin Filli Montag spricht mit Islamwissenschaftler Götz Nordbruch über Chancen und Möglichkeiten der Präventionsarbeit im Netz.
Interner Link: Zum Video auf bpb.de
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4. Sonstige Videos und Filme
Die meisten der folgenden Filme wurden für Fernsehen oder Kino erstellt, eignen sich jedoch auch gut für den Einsatz im Unterricht. Teilweise sind begleitende Unterrichtsmaterialien verfügbar.
Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken.
Interner Link: Der Himmel wird wartenWillow Films, 2016 Interner Link: GrenzgängerMedienprojekt Wuppertal, 2019 Interner Link: Leonora: Einmal IS-Terror und zurückARD: Video/Audio, 2022 Interner Link: Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlorNDR, 2019 Interner Link: Mein Enkel, der mutmaßliche IS-Terrorist: Eine Oma auf Spurensuche in SyrienProSieben: Das Thema, 2022 Interner Link: Tracing AddaiFilmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2018 Interner Link: Verlorene Söhne – IS-Terror in deutschen FamilienZDF, 2016 Interner Link: Von der Terrorgruppe zurück in ein normales Leben Bayerischer Rundfunk, 2020
Der Himmel wird warten
105 Minuten, UGC, Willow Films, 2016
Der prämierte französische Spielfilm thematisiert Gründe und Wege der Radikalisierung. Die Geschichten der jugendlichen Protagonistinnen Mélanie und Sonia beschreiben eine Entwicklung in entgegengesetzte Richtungen: den Weg von der Normalität in die Radikalisierung und umgekehrt. Ihre Eltern scheinen hilflos zu sein, weil ihre Kinder sich radikalisiert haben und in Syrien für den IS kämpfen wollen. Der Film ist kostenfrei auf bpb.de verfügbar.
Interner Link: Zum Spielfilm auf bpb.de
Begleitend zu dem Film gibt es in einem Online-Spezial Unterrichtsmaterialien, eine Filmbesprechung, themenbezogene Hintergrundtexte sowie ein Interview mit einem Präventionsexperten.
Interner Link: Zu den Arbeitsmaterialien auf bpb.de
Grenzgänger
5 Kurzfilme, insgesamt 76 Minuten, Medienprojekt Wuppertal, 2019
Das Medienprojekt Wuppertal hat eine Reihe von Kurzfilmen zum Thema Religiös begründeter Extremismus bei Jugendlichen veröffentlicht. Die Filme sind gegen Gebühr zu kaufen, auszuleihen oder zu streamen und können dann z. B. im Unterricht eingesetzt werden.
Die Filme beinhalten Geschichten über Radikalisierungsprozesse, Interviews mit einer Expertin und einem Experten und Gespräche mit Jugendlichen über ihre Bezüge zu Religion und zu Extremismus.
Externer Link: Zu den Kurzfilmen auf medienprojekt-wuppertal.de
Leonora: Einmal IS-Terror und zurück
30–40 Minuten, ARD: Video/Audio, 2022
Mit 15 Jahren schloss sich Leonora M. der Terrororganisation "Islamischer Staat" in Syrien an und lebte dort sieben Jahre lang mit einem Dschihadisten zusammen. Die Reportage erzählt von den Erlebnissen der jungen Frau beim "IS" und dem jahrelangen Kampf ihres Vaters, seine Tochter zurückzuholen. Wie ist Leonora die Rückkehr gelungen, wie funktioniert ein Neuanfang in Deutschland? Die Dokumentation ist als Videoreihe und Podcast verfügbar.
Externer Link: Zum Video auf daserste.de
Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor
59 Minuten, NDR, 2019
Ein Vater kämpft um seine Tochter, die sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" in Syrien angeschlossen hat. Vier Jahre lang begleiten Reporter den Vater dabei, wie er Schleuser trifft, mit Terroristen verhandelt und versucht, seinen Alltag als Bäcker in Sachsen-Anhalt zu meistern. Über Sprachnachrichten halten Vater und Tochter Kontakt.
Externer Link: Zum Video auf ndr.de
Mein Enkel, der mutmaßliche IS-Terrorist: Eine Oma auf Spurensuche in Syrien
5 Teile à 10–20 Minuten, ProSieben: Das Thema, 2022
Der Journalist Thilo Mischke begleitet die Großmutter eines deutschen "IS"-Kämpfers nach Syrien. Sie will dort ihren Enkel wiederfinden. Mischke geht in der Video-Reihe den Fragen nach, wie ein 19-jähriger Deutscher dazu kommt, sich der Terrororganisation "Islamischer Staat" anzuschließen, und warum Deutschland sich so schwertut, ehemalige Angehörige des "IS" zurückzuholen.
Externer Link: Zum Teil 1 auf youtube.com Externer Link: Zum Teil 2 auf youtube.com Externer Link: Zum Teil 3 auf youtube.com Externer Link: Zum Teil 4 auf youtube.com Externer Link: Zum Teil 5 auf youtube.com
Tracing Addai
30 Minuten, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2018
Der animierte Dokumentarfilm zeichnet die letzten Spuren des 21-jährigen Deutschen Addai nach, der sich einer extremistischen Vereinigung anschließt und im Syrienkrieg unter mysteriösen Umständen mutmaßlich ums Leben kommt. Mit seiner dokumentarischen Erzählung und animierten szenischen Bildern rekonstruiert der Film fragmentarisch die letzten Monate des jungen Mannes und lässt Familie und Freunde zu Wort kommen. Pädagogische Begleitmaterialien unterstützen den Einsatz des Films in Lernkontexten.
Interner Link: Zum Film und Materialien auf bpb.de
Verlorene Söhne – IS-Terror in deutschen Familien
29 Minuten, ZDF, 2016
Warum schließen sich junge Deutsche islamistischen und terroristischen Gruppierungen an? Die Reportage 37 Grad begleitet Joachim G., dessen Söhne Fabian und Manuel im Oktober 2014 an der syrischen "IS"-Front verschwanden, und stellt einen ehemaligen Salafisten vor, der aus der extremistischen Szene ausgestiegen ist.
Externer Link: Zum Video auf zdf.de
Von der Terrorgruppe zurück in ein normales Leben
8 Minuten, Bayerischer Rundfunk, 2020
Der Fernsehbeitrag stellt den Fall des Münchners Bilal Fani vor, der im Frühjahr 2014 freiwillig aus Syrien zurückkehrte, wo er mehrere Monate bei einer al-Qaida-nahen Terrorgruppe verbracht hatte. In Deutschland wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung will er nun zurück in ein normales Leben. In einem Interview berichtet er von seiner Radikalisierung, seiner Zeit in Syrien, von seiner Haft und seinem Wunsch, wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Thomas Mücke vom Violence Prevention Network berichtet über seine Einschätzung der Situation von Rückkehrenden.
Externer Link: Zum Video auf br.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite
5. Audiobeiträge und Podcasts
Radiobeiträge und Podcasts bieten einen weiteren lebendigen Zugang zu Fakten und Radikalisierungsbiografien.
Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken.
Interner Link: Bilals Weg in den TerrorNDR Kultur, 2017 Interner Link: Islamische Redewendungen im Alltag: Mehr als Allahu akbarDeutschlandfunk Kultur, 2021 Interner Link: Konversion zum Islam mit Dennis Sadik Kirschbaumufuq.de: Wovon träumst du eigentlich nachts?, 2021 Interner Link: Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlorNDR, 2019 Interner Link: Mädchen und junge Frauen und ihre Rolle im DschihadismusRadiofabrik – Frauenzimmer, 2016 Interner Link: "Muslim" oder "Moslem"? Respekt drückt sich auch in der Benennung ausDeutschlandfunk Kultur, 2021 Interner Link: Neu-Musliminnen auf Instagram: Das Kopftuch lässt sich auch auf fränkische Art binden Deutschlandfunk Kultur, 2021 Interner Link: Töten im Namen Allahs – Radikalisierung muslimischer Jugendlicherhr inforadio, 2019 Interner Link: Was tun gegen antimuslimischen Rassismus im Klassenzimmer?ufuq.de, 2022
Bilals Weg in den Terror
5 x 30 Minuten, NDR Kultur, 2017
Mit 14 Jahren konvertierte Florent aus Hamburg zum Islam und nannte sich fortan Bilal. Mit 17 Jahren zog er für den sogenannten "Islamischen Staat" nach Syrien in den Krieg, und starb dort nach nur zwei Monaten. In der fünfteiligen Radio- und Podcast-Serie kommen Menschen aus Bilals Umfeld zu Wort. Die Geschichte zeigt exemplarisch, wie es dazu kommt, dass deutsche Jugendliche in die salafistische Szene geraten und sogar in den Dschihad ziehen.
Interner Link: Zum Podcast auf bpb.de
Islamische Redewendungen im Alltag: Mehr als Allahu akbar
8 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2021
Alhamdullilah, Maschallah, Inschallah – arabische Redewendungen sind in migrantisch geprägten deutschen Großstädten inzwischen häufig zu hören. Ihr Ursprung ist islamisch, doch der Beitrag geht der Frage nach, ob im Alltag aus ihnen tatsächlich noch ein religiöses Bekenntnis spricht.
Externer Link: Zum Audiobeitrag auf deutschlandfunkkultur.de
Konversion zum Islam mit Dennis Sadik Kirschbaum
24 Minuten, ufuq.de: Wovon träumst du eigentlich nachts?, 2021
Dennis Sadik Kirschbaum ist in der DDR geboren und studiert Politik und Philosophie auf Lehramt. Der 31-jährige konvertierte vor einigen Jahren zum Islam. In einer Podcast-Folge berichtet er über seinen ungewöhnlichen Weg als weiße Person zum Islam, der als Rebellion gegen die Familie begann, dann aber zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Religion und schließlich zu einer bewussten Entscheidung wurde.
Externer Link: Zur Podcastfolge auf ufuq.de
Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor
5 x 30-47 Minuten, NDR, 2019
Ein Vater kämpft um seine Tochter, die sich der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Syrien angeschlossen hat. Vier Jahre lang begleiten Reporter den Vater dabei, wie er Schleuser trifft, mit Terroristen verhandelt und versucht, seinen Alltag als Bäcker in Sachsen-Anhalt zu meistern. Über Sprachnachrichten halten Vater und Tochter Kontakt. Anders als in der dazugehörigen Externer Link: Doku steht im Podcast vor allem die Recherchearbeit im Fokus.
Externer Link: Zum Podcast auf ndr.de
Mädchen und junge Frauen und ihre Rolle im Dschihadismus
29 Minuten, Radiofabrik – Frauenzimmer, 2016
Die Verheißungen des "IS" erreichten Mädchen und junge Frauen aus allen Gesellschaftsschichten mit unterschiedlicher Herkunft. Die Expertin Claudia Dantschke berichtet in diesem Beitrag unter anderem darüber, was den "IS" für junge Frauen attraktiv machte, mit welchen Vorstellungen sie nach Syrien oder in den Irak gingen und wie die Rekrutierung erfolgte. Dantschke zeigt Ansätze und Handlungsstrategien auf, um der Radikalisierung junger Frauen entgegenzuwirken.
Externer Link: Zum Audiobeitrag auf cba-fro.at
"Muslim" oder "Moslem"? Respekt drückt sich auch in der Benennung aus
6 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2021
Es sind nur zwei Vokale, aber sie machen einen feinen Unterschied: Im Beitrag geht es um Sprachwandel, korrekte Benennung und weshalb diese so eine wichtige Rolle in der Eigen- und Fremdbezeichnung spielt. Zu hören sind Toya Zurkuhlen, Videoproduzentin bei den Datteltätern, einem jungen muslimischen Kollektiv, Mira Sievers, Junior-Professorin für Islamische Theologie und Rauf Ceylan, Religionssoziologe.
Externer Link: Zum Audiobeitrag auf deutschlandfunkkultur.de
Neu-Musliminnen auf Instagram: Das Kopftuch lässt sich auch auf fränkische Art binden
8 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2021
Unter Namen wie "Hijabi on Tinder" präsentieren sich junge Frauen auf Instagram, die zum Islam konvertiert sind. Sie sind selbstbewusst und wehren sich gegen Ablehnung und Vorurteile. Warum setzen sich die Frauen dem aus? Und wieso suchen sie so bewusst die Öffentlichkeit? Der Radiobeitrag erzählt die Geschichten dreier junger Aktivistinnen und berichtet von ihrem Wunsch, gehört zu werden.
Externer Link: Zum Audiobeitrag auf deutschlandfunkkultur.de
Töten im Namen Allahs – Radikalisierung muslimischer Jugendlicher
25 Minuten, hr inforadio, 2019
Wie groß ist die Zahl der Jugendlichen, die sich für eine radikale Auslegung des Islams begeistern? Was weiß man über ihre Motive? Und was kann eine Gesellschaft dem entgegensetzen? Diese Fragen beantwortet der Podcast von hr info. Zu Wort kommen unter anderem Religionslehrerin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, Psychologe Ahmad Mansour, Wissenschaftler Andreas Zick sowie Janusz Biene vom Projekt "PRO Prävention".
Externer Link: Zum Audiobeitrag auf hr-inforadio.de
Was tun gegen antimuslimischen Rassismus im Klassenzimmer?
28 Minuten, ufuq.de, 2022
Wie zeigt sich antimuslimischer Rassismus in der Schule? Welche Handlungsoptionen gibt es für Lehrkräfte auf individueller sowie Schulen auf struktureller Ebene? Diese Fragen beantwortet Politikwissenschaftlerin Fatima El Sayed im ufuq.de-Webtalk. Sie stellt Bezüge zu ihrem aktuellen Forschungsprojekt her und verdeutlicht, dass es aus ihrer Sicht ein stärkeres Einbeziehen zivilgesellschaftlicher Akteure in den Lernraum Schule braucht.
Externer Link: Zum Webtalk-Mitschnitt auf ufuq.de
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6. Onlinespiele und andere Onlineressourcen
Einige Anbieter haben Onlinespiele zum Thema Radikalisierung entwickelt, in denen man in verschiedenen Rollen unterschiedliche Perspektiven auf das Thema kennenlernen kann.
Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken.
Interner Link: Extremismus.info/DECOUNT – Onlinespiel, Film und pädagogisches Material zu Radikalisierungsprozessen Interner Link: "Hidden Codes" – Mobile Game über Radikalisierung im digitalen Zeitalter Interner Link: PRECOBIAS – Online-Kurs über kognitive Verzerrungen bei Radikalisierung Interner Link: Rollenspiel: Radikalisiert – was tun? Interner Link: Website: Die Tränen der Dawa Interner Link: Wer? Wie? Was? – Das Quiz zu extremistischen Narrativen und wie du auf sie reagieren kannst!
Extremismus.info/DECOUNT – Onlinespiel, Film und pädagogisches Material zu Radikalisierungsprozessen
Extremismus.info bietet Informationen und Materialien zum Thema Radikalisierung und Extremismusprävention. Die Website präsentiert ein Spiel, in dem man Radikalisierungsverläufe nachspielen kann, und sie enthält eine Anleitung für den Einsatz des Spiels in Jugendzentren oder in der Schule. Ein Kurzfilm zum Thema Vorurteile wurde ebenfalls für pädagogische Zwecke aufbereitet. Eine Materialiensammlung bietet Links zu Videos und PDFs zum Thema Extremismus. Entstanden ist die Website im Rahmen des zweijährigen österreichischen EU-Projekts DECOUNT unter Mitarbeit zahlreicher staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure.
Externer Link: Zur Webseite auf www.extremismus.info
"Hidden Codes" – Mobile Game über Radikalisierung im digitalen Zeitalter
Bildungsstätte Anne Frank, 2021
"Hidden Codes" ist ein Mobile Game, das junge Menschen für Anzeichen von rechtsextremer und islamistischer Radikalisierung sensibilisieren soll. In einer simulierten Social Media-Umgebung chatten und interagieren die Spielerinnen und Spieler mit Jugendlichen aus dem Game. Die Spielenden sollen dazu befähigt werden, problematische Inhalte zu erkennen und kompetent darauf zu reagieren. Die Strategien radikaler Gruppen, aber auch politische Codes und Verschwörungsmythen werden thematisiert.
Externer Link: Zum kostenfreien Spiel auf hidden-codes.de
Externer Link: Zum Gespräch mit Projektleiterin Deborah Schnabel auf deutschlandfunknova.de
PRECOBIAS – Online-Kurs über kognitive Verzerrungen bei Radikalisierung
Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), 2022
Das Projekt PRECOBIAS will die digitale Resilienz und die Fähigkeiten zum kritischen Denken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärken – und sie so vor Radikalisierung schützen. Ziel ist es, Jugendliche für die Gefahren extremistischer Inhalte und dahinterliegender Mechanismen zu sensibilisieren. In einem 12-stündigen Online-Kurs befassen die Teilnehmenden sich mit Radikalisierungsprozessen sowie mit kognitiven Verzerrungen, die durch extremistische Online-Inhalte ausgelöst werden können. Das Projekt stellt zudem Toolkits für Fachkräfte aus Schule und Sozialarbeit zur Verfügung.
Externer Link: Zur Projektwebseite und zum kostenfreien Online-Kurs auf precobias.eu/de
Externer Link: Zur Informationsseite der LMU München auf ifkw.uni-muenchen.de
Rollenspiel: Radikalisiert – was tun?
Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales
Eine Lehrerin merkt, dass sich ein Schüler radikalisiert. Eine Mutter/ein Vater stellt fest, dass die Tochter Salafistin geworden ist. Wie kann man die Jugendlichen schützen? In Comic-Videos und Podcasts kann man in verschiedene Rollen schlüpfen und selbst entscheiden, wie die Storys sich entwickeln. Das Spiel wurde entwickelt von "Antworten auf Salafismus. Bayerns Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung".
Externer Link: Zum Rollenspiel auf antworten-auf-salafismus.de
Website: Die Tränen der Dawa
Violence Prevention Network e. V.
Auf der Website wird die Geschichte der beiden Freunde Daniel und Toufik erzählt – mit Text, Fotos und Videos ansprechend und niedrigschwellig gestaltet. Beide Jugendliche sind gläubige Muslime. Daniel nimmt zunehmend radikalere Ansichten an und wird von einer radikalen Gruppe immer stärker beeinflusst – bis er sogar nach Syrien zieht, um sich dem vermeintlichen Befreiungskrieg des sogenannten Islamischen Staates anzuschließen. Beide Freunde entfernen sich immer mehr voneinander. Daniel kehrt schließlich desillusioniert und psychisch schwer angeschlagen zurück und wird verhaftet.
Externer Link: Zur Webseite auf www.traenen-der-dawa.de
Wer? Wie? Was? – Das Quiz zu extremistischen Narrativen und wie du auf sie reagieren kannst!
JFF – Institut für Medienpädagogik, 2022
Im Online-Quiz können Jugendliche sich mit extremistischen und populistischen Narrativen auseinandersetzen. Sie müssen erraten, welche Aussagen von welchen Gruppen oder Personen stammen. Zur Auswahl stehen Aussagen von rechtsextremen, rechtspopulistischen und islamistischen Gruppierungen und Personen. Beim Spielen wird deutlich, welche Aussagen in den Narrativen stecken, wie ähnlich die verschiedenen Gruppierungen und Personen manchmal denken und was man den Narrativen entgegensetzen kann.
Externer Link: Zum Online-Quiz auf rise-jugendkultur.de
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7. Spiele und Kartensets
Spiele mit Karten aus Karton lassen sich gut im Unterricht und bei Fortbildungen einsetzen.
Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken.
Interner Link: Antidiskriminierung, Rassismuskritik und Diversität. Reflexionskarten für die PraxisBeltz Juventa, 2019 Interner Link: Der Islam – Das interaktive WissensspielBeltz Verlag, 2017 Interner Link: STOP-OK! Ein ModerationsspielInitiative Gesicht zeigen
Antidiskriminierung, Rassismuskritik und Diversität. Reflexionskarten für die Praxis
Beltz Juventa 2019, 29,95 Euro
Wie viele Angriffe gab es 2017 auf Musliminnen / Muslime und muslimische Einrichtungen? Was verbirgt sich hinter dem Begriff Antiziganismus? Auf 105 Karten werden Rassismus, Diskriminierung und Diversität thematisiert. Die Karten sind dafür geeignet, mit Menschen ab 14 Jahren über diese Themen ins Gespräch zu kommen. Sie helfen, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen angemessen zu thematisieren und tragen zur (Selbst-)Reflexion bei.
Externer Link: Zum Spiel auf beltz.de
Der Islam – Das interaktive Wissensspiel
Beltz Verlag 2017, 39,95 Euro
Dieses Spiel fördert Wissen und Austausch zum Thema Islam und Muslime in Deutschland. Die Teilnehmenden stellen zentrale Begriffe pantomimisch, zeichnerisch oder mündlich dar – die anderen müssen den Begriff erraten. Dabei geht es um Begriffe wie "Kopftuch" oder "Halal" und Fragen wie "Warum feiern Muslime das Opferfest?". Für die Spielleitung gibt es zu jedem Begriff das notwendige Faktenwissen. Stichwortkarten helfen, das neue Wissen zu sichern und das Booklet unterstützt bei der Moderation. Das Spiel ermöglicht einen informativen und spielerischen Einstieg in das Thema (ab Klasse 7).
Externer Link: Zum Spiel auf beltz.de
STOP-OK! Ein Moderationsspiel
Initiative Gesicht zeigen, 10 Euro
In dem Moderationsspiel STOP-OK! geht es darum, gemeinsam mit einer Gruppe biografische Wendepunkte in Radikalisierungsverläufen zu erkennen und alternative Handlungsoptionen zu entwickeln. Im Zentrum des Spiels steht der (inter-)aktive Austausch von Einschätzungen, Haltungen und Lösungsideen. Das Spiel enthält sieben fiktive Fallbeispiele von Radikalisierungsverläufen junger Menschen aus den Bereichen Islamismus und Rechtsextremismus. Bunte Spielelemente helfen, Prozesse und Ergebnisse anschaulich zu präsentieren. Das Spiel eignet sich für Fortbildungen von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, insbesondere Lehrkräften, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern und Stadtteilmüttern.
Externer Link: Zum Spiel auf gesichtzeigen.de
Bei der Initiative "Gesicht zeigen – für ein weltoffenes Deutschland" sind weitere Spiele zu den Themenfeldern Demokratie und Toleranz zu finden.
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Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-08-03T00:00:00 | 2021-06-02T00:00:00 | 2023-08-03T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/334263/medien-fuer-den-unterricht/ | Romane und Sachbücher, Erklärvideos, Dokumentationen und Spielfilme sowie Podcasts und Online-Spiele. Viele Medien sind didaktisch aufbereitet mit begleitenden Unterrichtsmaterialien. | [
"Medien für den Unterricht",
"Islamismus",
"Salafismus",
"religiös begründeter Extremismus",
"Unterrichtsmaterial",
"Pädagogische Praxis",
"Radikalisierungsprävention"
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Politische Geschichte Chinas 1900-1949 | China | bpb.de | Chinas politische Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Phase des Übergangs nach dem Ende der Monarchie, in der mit verschiedenen politischen Systemen experimentiert wurde. Eine Kombination aus strukturellen Faktoren und Zufällen führte schließlich zur Durchsetzung des chinesischen Kommunismus.
Reform oder Revolution
Der Beginn dieser Entwicklung lässt sich um 1895 ansetzen, als das alte monarchische System erstmals prinzipiell in Frage gestellt wurde und Alternativen formuliert und in die Praxis umgesetzt wurden. Dies erfolgte aus zwei Richtungen: Innerhalb der konfuzianischen Literaten entwickelte sich infolge der demütigenden Niederlage gegen Japan, die 1895 zur Abtretung Taiwans geführt hatte, eine Bewegung zur Reform von Staat und Gesellschaft. Unter ihrem Einfluss setzte der junge Guangxu-Kaiser 1898 die "Reform der Hundert Tage" ins Werk. Angestrebt wurden ein modernes Erziehungswesen, die Verschlankung der Bürokratie und das Recht aller Untertanen, sich direkt an den Kaiser zu wenden. Ein Staatsstreich konservativer Hofkreise um die Kaiserinwitwe Cixi (1835-1900) machte jedoch diese Reformen mit einem Schlag zunichte.
Yuan Shikai in Uniform als Präsident der Republik China. (© Public Domain)
Die politische Konstellation änderte sich jedoch radikal, als sich Cixi und die Konservativen am Hof im Frühsommer 1900 zur Unterstützung der volksreligiösen Boxerbewegung gegen den ausländischen Einfluss in China durchrangen. Die Attacken der Boxer lösten eine Militärintervention von acht Staaten in Nordchina aus, dier im September 1901 durch einen für China demütigenden Friedensschluss ("Boxerprotokoll") beendet wurde. Zwar hielten sich die Schäden des Krieges in Grenzen; vor allem kam es nicht zur von vielen Zeitgenossen befürchteten Aufteilung Chinas, da die USA mit ihrer "Open-Door-Note" von 1899 ein für allemal einen gleichberechtigten Zugang aller Mächte zum chinesischen Markt durchgesetzt hatten. Dennoch sah sich die Qing-Dynastie gezwungen, sich eine grundlegend neue Legitimationsbasis zu schaffen.
Parallel zum Versuch, die Kaiserherrschaft zu reformieren, entwickelte sich eine revolutionäre Bewegung, welche die Monarchie stürzen und China in eine Republik verwandeln wollte. Sie war zunächst unter den Überseechinesen in Südostasien und Nordamerika erfolgreich. Ihr wichtigster Führer war der christliche und westlich ausgebildete Arzt Sun Yatsen (1866-1925). Seit 1895 unternahm Sun eine ganze Reihe separatistischer Aufstände, die letztlich allesamt scheiterten. Langfristig wirksamer war die Gründung der "Chinesischen Revolutionären Allianz" ("Tongmenghui") 1905 in Tokio, die in den Folgejahren ein revolutionäres Netzwerk in China aufbaute.
So war zunächst der 1901 vom Kaiserhof initiierten Reformpolitik der größere Erfolg beschieden. Ihr politisches Kernstück war die Ausarbeitung einer Verfassung, die China in eine konstitutionelle Monarchie verwandeln sollte. Dabei geriet der Hof zunehmend unter den Druck der gesellschaftlichen Elite, die auf umfassendere und raschere Partizipationsmöglichkeiten drängte. Zugleich breiteten sich auch die revolutionären Netzwerke aus, insbesondere in Teilen der Armee.
Der Aufstand einer revolutionären Armeeeinheit in Wuchang am 10. Oktober 1911 führte trotz der großen Erfolge der Reformpolitik rasch den Zusammenbruch der Monarchie herbei; der letzte Kaiser dankte Anfang 1912 im Alter von nur sechs Jahren ab. Angesichts des politisch-militärischen Patts zwischen den Republikanern um Sun Yatsen im Süden und den Konservativen um den hohen Verwaltungsbeamten und Offizier Yuan Shikai (1859-1916) im Norden trat Sun im Frühjahr 1912 das Amt des Präsidenten an Yuan ab. Die gleichzeitig in Kraft getretene Provisorische Verfassung erklärte China zu einer Republik nach US-amerikanischem Muster.
Die fragile Republik
Dieser jungen Republik war keine politische Stabilität beschieden. Der autoritäre Yuan Shikai verbot die stärkste politische Kraft, die von politischen Weggefährten Sun Yatsens gegründete Nationalpartei (Guomindang, GMD). Er ließ sich eine auf seinen Herrschaftsanspruch zugeschnittene Verfassung zurechtschneidern, stützte sich in der Praxis aber vor allem auf das Militär. Binnen weniger Jahre hatte Yuan seinen politischen Kredit verspielt: Bei der städtischen Bevölkerung machte er sich unbeliebt, als er im Frühjahr 1915 die 21 Forderungen der japanischen Regierung annahm, die Tokio weitgehende territoriale, wirtschaftliche und politische Rechte in China verleihen sollten. Im republikanisch gesinnten Militär verlor er seinen Rückhalt, nachdem er sich Ende des Jahres zum Kaiser proklamiert hatte. Nach dem Tod Yuans im Frühjahr 1916 zerfiel China vollends in regionale Herrschaftsbereiche von als Warlords ("junfa") bezeichneten Militärführern, die sich untereinander permanent befehdeten.
Auswege aus dieser Krise suchten vor allem eine neue soziale Gruppe, die Intellektuellen. Aus ihren Reihen rekrutierten sich die Anhänger der "Bewegung für neue Kultur", die seit 1915 eine umfassende kulturelle Erneuerung Chinas forderte. Als angebliche Ursache der Misere Chinas sollte die konfuzianische Weltanschauung durch neue Leitbilder abgelöst werden: moderne Wissenschaft, individuelle Freiheit und Demokratie. Einen politischen Charakter nahm die Bewegung seit dem Mai 1919 an, als die Versailler Friedenskonferenz die deutschen Sonderrechte in der Provinz Shandong nicht an China zurückgab, sondern sie Japan übertrug, obgleich China 1917 in den Krieg gegen das Deutsche Reich eingetreten war. Die sogenannte "4.-Mai-Bewegung" (nach dem Datum der ersten großen Demonstration) entwickelte einen antiimperialistischen Nationalismus und setzte sich auch erstmals systematisch mit den Lehren des Marxismus auseinander. Indem sie die gesprochene Umgangssprache als Schrift- und Literatursprache durchsetzte, leistete sie zudem einen Beitrag zur Massenwirksamkeit politischer Ideen. Sie bildete daher eine Brücke zur Entstehung moderner Massenparteien in den 1920er-Jahren.
Sun Yat-sen (ca. 1866-1925), erster provisorischer Präsident der Republik China. (© Public Domain)
Massenparteien, "nationale Revolution" und Bürgerkrieg
Beinahe zeitgleich entstanden die beiden großen politischen Kräfte, die China in den folgenden drei Jahrzehnten prägen sollten: 1921 gründete Sun Yatsen die Guomindang neu; im gleichen Jahr wurde auch die Kommunistische Partei (KP) Chinas ins Leben gerufen. Mit sowjetrussischer Unterstützung gingen beide Parteien 1923 ein Zweckbündnis ein, in dem die nach leninistischem Vorbild als Kaderpartei reorganisierte GMD der stärkere Partner war. Das ideologische Gerüst der Partei bildeten die Drei Volksprinzipien (Volkstum, Volksrechte und Volkswohlfahrt), die Sun Yatsen 1924 erarbeitete, aber aufgrund seines Todes im folgenden Jahr unvollendet hinterließ. Als Suns Erbe setzte sich sein militärischer Berater Chiang Kaishek (Jiang Jieshi) gegen ältere und verdientere Parteifunktionäre durch. Für Chiang sprachen sein Rückhalt im Militär, seine Verbindung zur chinesischen Hochfinanz und seine Fähigkeit, Gegner gegeneinander auszuspielen.
Im Bündnis mit den Kommunisten unternahm Chiang zwischen 1926 und 1928 den sogenannten Nordfeldzug, auf dem er einen Teil der Warlords militärisch besiegte und andere zu Allianzen mit der GMD bewegen konnte. Neben den Militärmachthabern gerieten die ausländischen Imperialisten ins Visier der von der GMD ausgerufenen "nationalen Revolution"; eine von Nationalisten und Kommunisten unterstützte Massenbewegung forderte vehement die Abschaffung ihrer Sonderrechte. Zwar gelang die Liquidierung des Imperialismus endgültig erst 1943, doch nominell konnte die Guomindang das Staatsgebiet Chinas wieder vereinigen. Allerdings kontrollierte sie selbst zu ihren besten Zeiten nur etwa ein Drittel des Territoriums unmittelbar. Bis Mitte der 1930er-Jahre kam es immer wieder zu Rebellionen von Militärführern, die sich mit politischern Gegnern Chiang Kaisheks innerhalb der GMD verbündeten. Zudem hatten sich bereits auf dem Nordfeldzug die Spannungen zwischen Nationalisten und Kommunisten verschärft. Im Frühjahr 1927 begann Chiang Kaishek eine Unterdrückungskampagne gegen die Kommunisten, die viele Opfer forderte und das Startsignal für einen zehnjährigen Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten bildete. Die ständigen militärischen Auseinandersetzungen belasteten auch die Modernisierungsmaßnahmen, die der autoritäre Einparteienstaat der GMD einleitete: Beim industriellen Aufbau, der Schaffung einer modernen Infrastruktur, der Entwicklung des Erziehungswesens und der Effizienzsteigerung der Landwirtschaft hatte das Regime durchaus Erfolge zu verzeichnen, die jedoch durch den Krieg gegen Japan ab 1937 zunichte gemacht wurden.
Die Kommunistische Partei bemühte sich in den 1920er-Jahren um die Arbeiter, bildete jedoch auch das Rückgrat einer Bauernbewegung, die sich insbesondere für Kleinpächter und Landlose einsetzte. Nach Chiang Kaisheks Schlag gegen die Kommunisten verlagerte sich deren Machtzentrum aus den Städten in die ländlichen Basisgebiete Südchinas. Hier begann die Partei mit einer radikalen Landumverteilung. Vier Einkreisungsfeldzüge der GMD konnten die Kommunisten abwehren, beim fünften konnte sie der Vernichtung nur durch den berühmten "Langen Marsch" entgehen, der zwischen 1934 und 1936 über unwegsames Gelände nach Yan'an in Nordchina führte. Von rund 100.000 Menschen erreichte nur ein Zehntel das Ziel. Auf dem Marsch begann der Aufstieg von Mao Zedong (1893-1976), dem Hauptbefürworter und Theoretiker einer agrarrevolutionären Strategie, zum unumschränkten Führer der KP Chinas.
Der Aufstieg der KP Chinas
Für die Kommunisten erwies sich die japanische Aggression in China schließlich als Glücksfall. 1931 eroberte die japanische Armee die Mandschurei und setzte sich in den Folgejahren in weiteren Teilen Nordchinas fest. Gegen lautstarke öffentliche Proteste gab Chiang Kaishek der Bekämpfung der Kommunisten den Vorrang vor dem Kampf gegen Japan, er wurde jedoch im Dezember 1936 von zwei seiner Generäle in Xi´an festgesetzt und zu einer Einheitsfront mit der KP Chinas gezwungen. Obwohl dieses lockere Bündnis nur bis 1941 hielt, nutzten die Kommunisten den ab 1937 offen ausgebrochenen Krieg gegen Japan mit großem Erfolg, um ihre gesellschaftliche Basis zu verbreitern. Bei Kriegsende hatte die KP Chinas 1,2 Millionen Mitglieder.
Der asiatisch-pazifische Krieg, der nur durch das Eingreifen der USA entschieden wurde, ließ China wirtschaftlich ausgeblutet zurück. 1946 entbrannte zudem erneut der Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten. Die GMD erhielt dabei umfangreiche Hilfe aus den USA, während die KP Chinas von der Sowjetunion eher halbherzig unterstützt wurde. Doch konnte die kommunistische Volksbefreiungsarmee die GMD-Truppen seit Anfang 1947 in der Mandschurei und seit Ende 1948 in Zentralchina in die Defensive drängen. Ende 1949 floh die Regierung Chiang Kaisheks nach Taiwan. Schon zuvor, am 1. Oktober 1949, hatte Mao Zedong in Peking die Volksrepublik proklamiert.
Yuan Shikai in Uniform als Präsident der Republik China. (© Public Domain)
Sun Yat-sen (ca. 1866-1925), erster provisorischer Präsident der Republik China. (© Public Domain)
| Article | Thoralf Klein | 2022-01-21T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2022-01-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/asien/china/44251/politische-geschichte-chinas-1900-1949/ | Chinas politische Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Phase des Übergangs nach dem Ende der Monarchie, in der mit verschiedenen politischen Systemen experimentiert wurde. Dass sich schließlich der chinesische Kommunismus dur | [
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Ich war neunzehn | Der Filmkanon | bpb.de | Im März 1934, vierzehn Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland, kam Konrad Wolf in die Sowjetunion. Er war neun Jahre alt und zweiter Sohn des Schriftstellers und Arztes Friedrich Wolf. Der Vater, ein engagierter, aus einer jüdischen Familie stammender Kommunist, hatte das Heimatland schon ein Jahr zuvor verlassen; nun waren ihm auch Frau und Kinder ins Exil nachgereist. 1936 erhielt Konrad Wolf die sowjetische Staatsbürgerschaft. 1943 trat er in die Rote Armee ein. In den beiden letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges, der in der Sowjetunion "Großer Vaterländischer Krieg" genannt wurde, gehörte er zur Politabteilung der 47. Armee, die sich den Weg vom Kaukasus nach Berlin freikämpfte.
Als er mit den russischen Truppen Deutschland erreichte, betrachtete Konrad Wolf, der inzwischen zum Leutnant befördert worden war, dieses Land längst nicht mehr als seine Heimat. Es stellte sich ihm als kaltes, monströses Gebilde dar, von dem Schreckliches ausging und zu dem er emotional nur negative Beziehungen aufbauen konnte. Doch Vorgesetzte und Kameraden erinnerten ihn immer wieder daran, dass er eben doch ein gebürtiger Deutscher war. Dass er keine Fremden, sondern seine eigenen Landsleute zu besiegen half. Und dass er auf ganz eigene Weise zwischen den Fronten stand. Diese Nähe und Ferne, dieses Verwurzeltsein in beiden Völkern, trieb Konrad Wolf von nun an ein Leben lang um. Auch in seinen Filmen, die er ab 1955 bei der Babelsberger DEFA inszenierte, kehrte er immer wieder auf das Verhältnis von Deutschen und Russen zurück. "Ich war neunzehn", gedreht 1968, wurde neben "Sonnensucher" (1957/58) und "Mama, ich lebe" (1976) zu seinem wichtigsten künstlerischen Diskussionsbeitrag zu diesem Thema.
"Ich war neunzehn", dessen Arbeitstitel Heimkehr 45 lautete, beginnt Mitte April 1945 an der Oder und endet am 3. Mai bei einem Bauerngehöft auf einer Straße westlich Berlins. Es sind die Tage der letzten russischen Offensive, mit der die deutsche Hauptstadt endgültig eingenommen werden sollte. Hauptfigur des Films ist der 19-jährige Gregor Hecker, Leutnant einer Aufklärungseinheit der Sowjetarmee, ein Ebenbild des Regisseurs als junger Mann. Wie Wolf selbst es einst praktiziert hatte, redet auch sein filmisches Alter Ego von einem klapprigen Lautsprecherwagen zu den deutschen Soldaten, fordert sie zur Desertion und zum Niederlegen der Waffen auf. Zu Beginn von "Ich war neunzehn" ist Gregors Blick auf die Deutschen in vielerlei Hinsicht undifferenziert. Er bezweifelt, dass dieses Volk nach zwölf Jahren brauner Diktatur tatsächlich zu einer neuen, demokratischen Ordnung finden kann. Er reagiert abweisend, distanziert. Erst im Laufe der Zeit, während der Begegnung mit Deutschen unterschiedlichen Charakters und verschiedener weltanschaulicher Couleur, schärft sich sein Blick, lässt er sich auch gefühlsmäßig auf diejenigen ein, die zwölf Jahre lang unter Hitler gelebt, ihn gestützt hatten und ihm in den Untergang gefolgt waren.
Konrad Wolf, der bei "Ich war neunzehn" zum ersten Mal mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase zusammenarbeitete, baute seinen Film episodisch und fragmentarisch auf. Diese offene Fabelstruktur, im deutschen Kino seinerzeit noch fast ohne Tradition, erlaubte sowohl eine Korrespondenz von tragischen, lyrischen oder auch komischen Elementen als auch eine Vielzahl von Figuren, in denen sich ebenso viele Geisteshaltungen manifestieren konnten. So läuft der Film nicht auf einen einzigen Höhepunkt zu, sondern besteht aus kleinen, in sich geschlossenen dramaturgischen Einheiten, die zusammengenommen ein um Wahrhaftigkeit bemühtes Bild der Zeit geben. Dabei wurde das Klischee vom strahlenden Sieger ebenso wenig bedient wie das vom glücklichen Befreiten. Mit der Figur eines deutschen Flüchtlingsmädchens, das bei Gregor um Hilfe bittet, sahen sich die Zuschauer sogar erstmals im DEFA-Film mit einem Tabuthema konfrontiert: Der Satz der jungen Frau, "Lieber mit einem als mit jedem", deutete auf das verdrängte Problem der Vergewaltigungen durch russische Soldaten hin. In einem früheren Filmentwurf hatte der Regisseur diese Vorfälle noch ausführlicher angerissen, indem er skizzierte, wie 150 bis 200 Frauen in der Bernauer Kommandantur Zuflucht suchen. Ein solches Geschehen hatte Konrad Wolf, 1945 für wenige Tage sowjetischer Stadtkommandant in Bernau, selbst erlebt: Die Frauen kamen, weil sie gehört hatten, dass er, der junge Befehlshaber, ein "Russe, der Deutscher ist", sei. Diese quantitative Dimension der Furcht war 1968 in der DDR freilich nicht darstellbar. Die Verdichtung des damals politisch und menschlich in beiden deutschen Staaten unaufgearbeiteten Vergewaltigungs-Komplexes einer einzigen Filmfigur bedeutete jedoch keine Flucht in die Nivellierung historischen Geschehens. Stattdessen wurde das Thema zu einem an klassische Tragödien erinnernden Vorgang stilisiert, der 1968 durchaus als Wagnis, ja sogar als Grund für ein Filmverbot angesehen werden musste.
Neben dem verzweifelten und lethargischen Mädchen, dessen Pessimismus der junge Leutnant nicht aufzubrechen vermag, erfanden Wolf und Kohlhaase eine Reihe anderer einprägsamer Figuren. Zu ihnen gehört ein Landschaftsgestalter, der in der Nähe eines Konzentrationslagers lebt, sein Wissen darüber jedoch verdrängt und, umgeben von klassischer Literatur, in die innere Emigration flüchtet. Befreite deutsche Häftlinge aus dem Gefängnis Brandenburg (in dem auch Erich Honecker und Robert Havemann inhaftiert gewesen waren) werden zu einer Feier des Ersten Mai eingeladen, bei der die russischen Soldaten Wodka und Pelmeni konsumieren und eine Feuerwehrkapelle aufspielt. Gregor Hecker begegnet Offizieren der Festung Spandau und einem blind geschossenen Soldaten, dem von den Drehbuchautoren der doppelbödige Satz in den Mund gelegt wird: "Wir haben viel gesehen." Der junge Leutnant trifft auf Unsicherheit, Standesdünkel, Borniertheit, Kälte, aber auch auf vage Zuversicht.
Im Prozess des täglich neuen Zuhörens und Erfahrens beginnt eine innere Wandlung Gregors. Nicht Ilja Ehrenburgs zornige Sentenz "Tötet die Deutschen, wo ihr sie trefft" wird zukünftig die Maxime seines Handelns sein, sondern die Erkenntnis, dass das äußerlich zerstörte und moralisch verschlissene Land nur mit seinen Bewohnern wieder aufgebaut werden kann. Gregor spürt sogar zunehmende emotionale Bindungen: wie er sich plötzlich für die Deutschen schämt oder sich mit ihnen freut. Die Entfernung von der anderen, der russischen Heimat beginnt.
Die letzte Sequenz des Films hinterlässt allerdings kein bruchlos optimistisches Bild: Ein versprengter SS-Trupp, der aus Berlin ausgebrochen war, erschießt Gregors besten Freund, den jungen, blonden Russen Sascha. Gregor ruft den flüchtenden Schützen nach, er werde sie nie vergessen: "Ich werde hinter euch her sein, bis ihr verreckt seid. Bis ihr begriffen habt, dass es damit vorbei ist, ein für allemal vorbei." Er legt aus weiter, zu weiter Entfernung auf die Männer an, während ein gefangener deutscher Offizier, der alles beobachtet hat, abfällig kommentiert: "Deutsche schießen auf Deutsche." Mit dieser Szene verwies Wolf noch einmal auf die Eröffnungssequenz des Films, in der er ein auf der Oder treibendes Floß mit einem von den eigenen Leuten erhenkten deutschen Deserteur gezeigt hatte.
Stilistisch erinnern diese Bilder an Arbeiten des italienischen Neorealismus, vor allem an Rossellinis dokumentarisch beeinflusste Frühwerke "Rom, offene Stadt" (Roma, città aperta, 1945) und "Paisà" (1946). Dichte Schwarzweißaufnahmen schaffen eine Stimmung, in der sich Trauer und Hoffnung begegnen. "Wir wollten", schrieb Wolf, "die Kamera nicht gepflegt und gekünstelt ästhetisch führen, sondern sie sehr frei handhaben. Wir haben uns mit der Kamera so bewegt, wie sich ein Kriegsberichterstatter unter den Bedingungen des Krieges bewegen konnte, und wir hoffen, dass wir damit einen Stil gefunden haben, der diesem spezifischen Stoff gerecht wird." Das Maß an Authentizität, das "Ich war neunzehn" anstrebte, gipfelt in einer Szene, die einem DEFA-Dokumentarfilm von 1946, "Todeslager Sachsenhausen" (R: Richard Brandt), entnommen worden war. Hier erzählt ein KZ-Henker detailliert, wie die Prozedur der Hinrichtungen ablief. Vermutlich hätte keine fiktionalisierte Szene so nachdrücklich belegen können, dass das Töten von den Nationalsozialisten zu einer Art Fabrikaktion, zum funktional-mechanischen Vorgang wie an einer beliebigen Werkbank gemacht worden war. Eine grausige Lehrstunde in Sachen deutscher Gründlichkeit.
"Ich war neunzehn" wurde in 55 Drehtagen inszeniert. In der Hauptrolle besetzte Wolf den damaligen Schauspielstudenten Jaecki Schwarz, den er während des Drehs in für ihn unbekannte Situationen versetzte, um so auch eine größtmögliche Authentizität des Spiels zu gewinnen. Schwarz garantierte dank seiner spontanen, freundlich-linkischen Art jenseits allen Heldischen, dass sich junge Zuschauer mit Gregor Hecker identifizieren, an dessen Lernprozess teilnehmen konnten. In der DDR geschah das natürlich auch in einer Weise, die spätestens seit den Thälmann-Filmen von höchsten staatlichen Stellen verordnet worden war: In FDJ-Jugendstunden und als Ergänzung des Staatsbürgerkunde-Unterrichts wurde "Ich war neunzehn" zur Pflichtansicht bestimmt.
Im Falle von Konrad Wolfs Film mochten die jungen Zuschauer kaum alle Zusammenhänge verstanden haben: Wolf und Kohlhaase waren eben keineswegs auf einfache didaktische Handreichungen aus. Im Gegenteil: Was es zu sehen gab, provozierte mehr Fragen als Antworten, ließ offen, was in vorherigen Filmen gern zugekleistert worden war. Wolf gab sich nicht mit forcierter Emotionalität zufrieden, er ließ zwischen den oft eher aphoristischen Bildern genügend Raum für eigene Assoziationen. So lobte der Dichter Stephan Hermlin nicht von ungefähr, "Ich war neunzehn" sei »unter allen Kriegsfilmen der am meisten beredte und der verschwiegenste«.
Interner Link: Filmkanon kompakt: Ich war neunzehn | Article | Ralf Schenk | 2021-12-20T00:00:00 | 2011-11-29T00:00:00 | 2021-12-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/filmkanon/43593/ich-war-neunzehn/ | Im Stil fragmentierter Tagebucheinträge verfilmte Konrad Wolf 1968 seine Erfahrungen in der Roten Armee am Ende des II. Weltkriegs: Ein jugendlicher Blick auf ein historisches Ereignis. | [
"Filmbildung",
"(Deutsche) Geschichte",
"Krieg/Kriegsfolgen",
"Erwachsenwerden",
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"Militär",
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"Filmgeschichte",
"DDR",
"Konrad Wolf"
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Zwischen Verhärtung und Entspannung | 1953 | bpb.de | Der Kalte Krieg war ein Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus – zwei europäischen Visionen der Moderne, die beide absolute Gültigkeit und universelle Anwendbarkeit für sich beanspruchten. Er bestimmte als entscheidender außenpolitischer Bezugsrahmen der führenden Weltmächte von 1947 bis 1989 das internationale politische System. Bis 1953 hatte sich die zunächst auf Europa konzentrierte bipolare Ordnung zusehends verfestigt. In Westeuropa hatten die Vereinigten Staaten, die als global führende Wirtschaftsmacht aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren, den demokratischen Kapitalismus gerettet. Die Schwerpunktlegung auf Wiederaufbau, Sicherheit und die feste Einbindung Westeuropas (und Japans) als Teil einer Strategie zur Eindämmung der Sowjetunion hatte allerdings einen Preis: die Spaltung Deutschlands und Europas.
Durch wirtschaftliche, politische, militärische und kulturelle Beziehungen mit Westeuropa hatten die Amerikaner dafür gesorgt, dass die Idee "des Westens" Gestalt annahm. Der Wiederaufbau, die Rehabilitation und die Integration Westdeutschlands waren ein zentrales Element dieser Strategie. Im Frühjahr 1953 standen diese Bemühungen kurz vor dem krönenden Abschluss: Durch eine Reihe von Verträgen sollte die Bundesrepublik ein großes Maß an Souveränität erlangen und zugleich fest in westeuropäische Strukturen verankert werden.
Der Großteil Mittelosteuropas war in der Folge der sowjetischen Befreiung und Besetzung am Ende des Zweiten Weltkriegs durch die marxistisch-leninistischen Ideen, stalinistische Vorgehensweisen und die sowjetische Militärmacht zu einer Pufferzone aus kommunistisch dominierten und Moskau untergeordneten Satellitenstaaten verschmolzen worden. Bei Kriegsende war die Anziehungskraft des Kommunismus auf dem gesamten Kontinent noch groß gewesen, doch mittlerweile hatte die Sowjetisierung Mittelosteuropas zu Ernüchterung geführt, und das Schreckgespenst eines wachsenden sowjetischen Einflusses trieb seinerseits die Integration des Westens voran. Da er das besiegte Deutschland nicht vollständig unter seine Kontrolle hatte bringen können, genehmigte der sowjetische Staats- und Parteichef Josef Stalin die Schaffung eines sozialistischen Staates im sowjetisch besetzten Ostteil des Landes, der in den folgenden Jahren zunehmend nach sowjetischem Vorbild umgestaltet wurde. Anfang der 1950er Jahre hatten die Bestrebungen zur Verstaatlichung und zum Ausbau der Schwerindustrie, zur Enteignung der Landbesitzer und zur Kollektivierung der Landwirtschaft sowie zur Unterdrückung der politischen Opposition die Macht Moskaus als Epizentrum des kommunistischen Lagers gefestigt – und zugleich die Situation für die Bevölkerung in Osteuropa dramatisch verschlechtert.
Ausbreitung einer fatalen Logik
Der Wettbewerb zwischen den beiden grundlegend unterschiedlichen Weltsichten wurde verschärft durch das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR, das praktisch mit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 begonnen hatte. Die Bemühungen von Robert Oppenheimer, dem leitenden Kopf des Manhattan-Projekts, die Atomenergie unter internationale Kontrolle zu bringen, blieben erfolglos. Weder US-Präsident Harry S. Truman noch Stalin sahen in der Bombe eine allgemeine Bedrohung, der man durch gemeinsames Handeln begegnen müsse. Dem ehemaligen sowjetischen Außenminister Andrei Gromyko zufolge "wäre Stalin niemals von der Entwicklung seiner eigenen Atombombe abgerückt. Ihm war klar, dass Truman nicht auf Atomwaffen verzichten würde."
Der erste sowjetische Atombombentest fand im August 1949 statt. Die USA reagierten mit der Entwicklung der Wasserstoffbombe; im August 1953 zog die Sowjetunion nach. Atomwaffen wurden zentral für das strategische Denken beider Seiten im Kalten Krieg. Ihre schiere Zerstörungskraft löste Angst und Entsetzen aus, was die Entscheidungsträger im Westen wie im Osten vor einem Einsatz zurückschrecken ließ. Jeder Konflikt zwischen Supermächten trug das Risiko in sich, einen nuklearen Flächenbrand zu entfachen. Bereits lange vor dem Test der US-Bombe "Bravo" auf dem Bikini-Atoll im Pazifischen Ozean am 1. März 1954, der tiefen Eindruck bei den Staats- und Regierungschefs und der Weltöffentlichkeit hinterließ – ihre Sprengkraft überstieg mit 15 Megatonnen TNT-Äquivalent das Tausendfache der Hiroshima-Bombe –, schränkte das nukleare Wettrüsten die Mittel ein, mit denen der Kalte Krieg – vor allem in Europa – ausgetragen wurde. Die daraus erwachsenden Risiken machten ihn immer gefährlicher.
Die Geschichte des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR wird meist nur im europäischen Kontext betrachtet, doch für ein tieferes Verständnis ist eine Erweiterung des Blickwinkels notwendig. Beide ideologischen Visionen beanspruchten universelle Anwendbarkeit, und obwohl sich das internationale System des Kalten Krieges zunächst in Mittelosteuropa und Deutschland herauskristallisiert hatte, prägte es 1953 schon die ganze Welt. Für die politischen Entscheidungsträger in Washington und Moskau standen die Ereignisse in Berlin im Juni 1953 in einem weiteren Kontext. Und nicht nur das: Das Geschehen in anderen Teilen der Welt war aus ihrer Sicht untrennbar mit den Ereignissen in Europa verbunden.
Am stärksten wurde das internationale System wohl durch den Zusammenbruch der europäischen Kolonialreiche als Folge des Zweiten Weltkrieges beeinflusst. Für viele der antikolonialen Bewegungen in Asien erschien die sozialistische Planwirtschaft zunächst als attraktives Modell zur Bewältigung der durch den Kolonialismus verursachten Ungerechtigkeiten und Verheerungen. Der Sieg der Kommunisten im Chinesischen Bürgerkrieg 1949 verstärkte das Gefühl, dass die Menschen in Asien in der Lage wären, gegen Fremdherrschaft "aufzustehen", und dass der asiatische Kommunismus einen erfolgreichen revolutionären Weg einschlagen könnte. Nicht minder entscheidend war, dass die britischen, französischen und niederländischen Regierungen die Unterstützung der USA suchten, um ihre zerfallenden Kolonialreiche nicht aus der Hand geben zu müssen. Gemeinsam gelang es ihnen, die Amerikaner für die Wiederherstellung ihrer Kolonialregime zu gewinnen, indem sie die antikolonialen Kämpfe als Konflikte des Kalten Krieges darstellten.
In ihrem Kampf gegen die kommunistischen Viet Minh, angeführt vom charismatischen Revolutionär Ho Chi Minh, spielten französische Politiker etwa mit der amerikanischen Angst vor innerer Instabilität in Frankreich, um die USA zur Hilfe in Indochina zu bewegen. Zugleich nutzten sie aus, dass die Amerikaner ein starkes Interesse an der Sicherung der französischen Unterstützung für die westdeutsche Wiederbewaffnung hatten. 1953 unterstützten die USA die Franzosen in Vietnam bereits in ähnlichem wirtschaftlichen Umfang wie zuvor im Rahmen des Marshall-Plans. Schon bald wurde der Kalte Krieg zur vorherrschenden Brille, durch die die Vereinigten Staaten die revolutionären Kämpfe im Globalen Süden betrachteten, von Asien bis zum Nahen Osten und Lateinamerika.
Aber es war in erster Linie der Koreakrieg ab Juni 1950, mit dem sich die Logik des Kalten Krieges auch auf Asien ausdehnte. Der von der UdSSR gebilligte nordkoreanische Angriff auf den Süden verschärfte die Spannungen des Kalten Krieges, schürte Kriegsängste, militarisierte das strategische Denken, fachte das Wettrüsten an und beschleunigte die Entwicklung immer leistungsstärkerer Atomwaffen. Der Krieg hatte auch tiefe Auswirkungen auf die gespaltene europäische Politik. Die Wiederbewaffnung Westdeutschlands bekam für die USA neue Dringlichkeit, und für Stalin ging es im Gegenzug darum, diese zu verhindern. Bis 1953 hatte sich im Koreakrieg eine ungute Pattsituation entwickelt. Da beide Seiten nicht in der Lage oder willens waren, sich auf einen Waffenstillstand zu einigen, wurde der Konflikt zur Chiffre für die verhärteten Fronten des Kalten Krieges.
Bewegungen im Osten
Trotz alledem war 1953 ein Jahr, in dem es auch Brüche im Verhärtungsprozess des Kalten Krieges gab – und zwar in einem solchem Ausmaß, dass führende Politiker und Menschen in Ost und West es zeitweise wagten, vielleicht nicht ein Ende, aber doch eine Entspannung der Systemauseinandersetzung für möglich zu halten. Ein Ende des Kalten Krieges war – rückblickend betrachtet – 1953 höchst unwahrscheinlich. Seine Logik, angetrieben von einem Nullsummendenken, war zu mächtig und der ideologische und geopolitische Einsatz zu hoch, um sie zu überwinden. Dennoch ließ sich bisweilen ein Blick auf eine Welt jenseits des seit 1945 entstandenen Konflikts erhaschen. Der Volksaufstand in Ostdeutschland im Juni 1953 und die internationalen Reaktionen darauf spiegelten sowohl das Gefühl wider, eine Veränderung des Kalten Krieges herbeiführen zu können – als auch einen neuen Grad der Verhärtung infolge der gewaltsamen Niederschlagung.
Der wichtigste Einschnitt des Jahres war der Tod Stalins. Der Schock traf viele Sowjetbürger tief: Die meisten hatten zu Lebzeiten keinen anderen sowjetischen Führer gekannt, und obwohl Stalin weithin gefürchtet war, hielt man ihm das Überleben und den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ebenso wie den Wiederaufbau nach dem Krieg und den Aufstieg zur Supermacht zugute. Stalin starb am 5. März 1953 und hinterließ keinen offensichtlichen Nachfolger. Offiziell trat eine kollektive Führung an seine Stelle, bestehend vor allem aus dem Vorsitzenden des Ministerrats Georgi Malenkow, Innenminister und Sicherheitschef Lawrenti Beria, Außenminister Wjatscheslaw Molotow und dem Ersten Sekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow. Doch hinter dem Euphemismus "kollektive Führung" verbarg sich ein erbitterter Machtkampf, der mehrere Jahre andauern sollte. Mitte 1953 wurde Beria, der mächtige Chef des Geheimdienstes, verhaftet und Ende des Jahres hingerichtet; es dauerte aber noch bis 1956/57, bis Chruschtschow sich endgültig als neuer Kremlchef durchsetzte. So gerissen und mächtig Beria auch gewesen sein mag – weder er noch einer seiner Rivalen besaß das Charisma oder die Macht, um in gleicher Weise wie der frühere Diktator das Sowjetimperium zusammenzuhalten.
Stalins Nachfolger fürchteten den Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft im eigenen Land und in den Satellitenstaaten nicht weniger als sich gegenseitig und waren sich deshalb immerhin darüber einig, dass die Spannungen innerhalb des sowjetischen Machtbereiches und dem Westen gegenüber abgebaut werden mussten. Unmittelbar nach Stalins Tod wurde eine neue Runde von Säuberungen abgebrochen, die der Diktator noch eingeleitet hatte. Mit einer partiellen Amnestie begannen die neuen Kreml-Machthaber, nach und nach einen Teil der Gulag-Häftlinge freizulassen. Um dem sinkenden Lebensstandard in der UdSSR entgegenzuwirken, reduzierten sie die Produktionsziele der Schwerindustrie sowie der Rüstungsindustrie und verstärkten stattdessen die Produktion von Lebensmitteln und Konsumgütern. In ähnlicher Weise sollte der sogenannte Neue Kurs die mittelosteuropäischen Satellitenländer vor dem Abgrund einer allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Krise bewahren.
Die neue Führung bemühte sich außerdem um eine Deeskalation im Verhältnis zum Westen: In einer Rede am 15. März 1953 kündigte Malenkow eine "Friedensoffensive" an und beschwor die Erinnerung an die Allianz im Zweiten Weltkrieg. Moskaus Initiative zur Entspannung umfasste auch neue Flexibilität bei der Aushandlung eines Waffenstillstands in Korea, der Ende Juli 1953 schließlich unterzeichnet wurde. Unter anderem aufgrund von Berias Berichten über die sich verschlechternde Lage in Ostdeutschland und die hohe Zahl an Flüchtlingen, die über die offene Grenze in Berlin die DDR verließen, erörterte das Führungskollektiv die Möglichkeit, seine Deutschlandpolitik zu ändern. Bis heute ist es Historikern jedoch nicht gelungen, mit Sicherheit festzustellen, was die Beweggründe für die sowjetische Friedenskampagne waren und inwieweit die Führung damals tatsächlich bereit war, ihr außenpolitisches Konzept, insbesondere in der Deutschlandfrage, zu überdenken. Handelte es sich um eine grundsätzliche Abkehr vom militanten Kurs unter Stalin, die auch eine innere Stabilisierung ermöglicht hätte – einen ersten systematischen Versuch der Entstalinisierung –, oder ging es lediglich um neue Wege und Mittel für die alten Bemühungen, die drohende Wiederbewaffnung Deutschlands zu verhindern und die Einmütigkeit zwischen den westlichen Alliierten zu untergraben? Wie dem auch sei: Diskussionen über eine deutschlandpolitische Neuausrichtung Moskaus fanden im Juni mit dem Aufstand in der DDR und der Verhaftung Berias ein jähes Ende.
Der Führungswechsel in Moskau und die plötzlichen politischen Veränderungen verschärften auch die Schwierigkeiten in den Satellitenstaaten. Im Frühjahr 1953 kam es zu immer deutlicherer Kritik und gelegentlichen Ausschreitungen gegen die sich dramatisch verschlechternden Lebens- und Arbeitsbedingungen in Mittelosteuropa. Immer mehr Menschen begannen, sich den Behörden zu widersetzen, und zwar insbesondere die Arbeiter – also genau die Gruppe, die die Kommunisten zu vertreten vorgaben. Anfangs gelang es den osteuropäischen Führern, die Chruschtschow spöttisch "kleine Stalins" nannte, die Unzufriedenheit der Arbeiter und ihre aufgestauten Forderungen im Zaum zu halten. Doch gefangen zwischen dem Reformdruck der neuen Moskauer Führung einerseits und ihren eigenen stalinistischen Vorlieben für eine stete Steigerung der Industrieproduktion und ein hartes Durchgreifen andererseits, erschienen die von den kommunistischen Behörden in der gesamten Region ziemlich abrupt verordneten Veränderungen widersprüchlich und planlos.
Inmitten zunehmender Anzeichen von Unruhen in verschiedenen Regionen gingen die Arbeiter in der tschechoslowakischen Stadt Pilsen am 1. Juni 1953 auf die Straße, um gegen eine Währungsreform zu protestieren, die ihre wenigen Ersparnisse gefährdete. Die Proteste in Pilsen bereiteten den Boden für den noch folgenreicheren Aufstand in Ostdeutschland am 17. Juni. Die Demonstrationen und Streiks der Arbeiter in Berlin und Umgebung gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen eskalierten zu landesweiten Protesten, wobei sich zu den Forderungen nach wirtschaftlichen Verbesserungen rasch auch die Rufe nach Freiheit und deutscher Einheit gesellten. Die Unruhen erfassten mehr als 700 Städte, Ortschaften und alle Bereiche der Gesellschaft. Erst ein massives Einschreiten der sowjetischen Militärmacht, in dessen Folge mindestens 55 Menschen starben und Tausende durch DDR-Sicherheitsorgane verhaftet wurden, brachte die Situation wieder unter Kontrolle des Regimes. Die Forderungen und Aktionen der Demonstranten zeigten aber, dass die Vision von einer alternativen Zukunft in Freiheit und nationaler Einheit zu dieser Zeit noch keineswegs verschüttet war. Solche Träume stellten das internationale System des Kalten Krieges ansatzweise infrage.
Überlegungen im Westen
So wie Stalins Tod und die Entspannungsinitiative seiner Nachfolger eine Bruchstelle im sich verhärtenden internationalen System bedeuteten, gilt dasselbe in anderer Weise auch für den Amtsantritt von Dwight D. Eisenhower als US-Präsident. Der erste Republikaner, der nach zwei Jahrzehnten demokratischer Herrschaft ins Weiße Haus gewählt wurde, war ein Held des Zweiten Weltkrieges, der nun als Kalter Krieger die Überzeugung vertrat, dass die Vereinigten Staaten die Sowjetunion und den Kommunismus weltweit bekämpfen müssten. Die Einstellung und Rhetorik, mit der er sich um die Präsidentschaft bewarb, spiegelten die allgegenwärtige, zuweilen hysterische antikommunistische Stimmung in den USA wider. Seine Wahl zeugte in erster Linie von einem Votum für innenpolitische Stabilität, nationale Einheit, Haushaltsdisziplin und eine starke Verteidigung.
Als außenpolitische Internationalisten hatten Eisenhower und sein wichtigster außenpolitischer Berater John Foster Dulles der antikommunistischen Stimmung im Wahlkampf Rechnung getragen, indem sie unter anderem mit der recht aktivistischen Idee einer "Zurückdrängung" (rollback) des Kommunismus in Mittelosteuropa und der "Befreiung" (liberation) der gefangenen Menschen hinter dem Eisernen Vorhang für sich warben. Doch ungeachtet ihrer Kritik am angeblich defensiven und unbeweglichen Charakter von Trumans außenpolitischem Ansatz setzte Eisenhower nach seinem Amtsantritt Trumans allgemeine Eindämmungsstrategie durchaus fort. Zweifellos waren Eisenhower und Dulles, der nun Außenminister war, von der Notwendigkeit überzeugt, den Kommunismus notfalls auch mit Gewalt zu bekämpfen, aber in Moskaus "Vorgarten" sollte die Befreiung mit friedlichen Mitteln erreicht werden. Der Präsident war sich des Potenzials und der Risiken des Nuklearzeitalters vollkommen bewusst und versuchte, die atomaren Kapazitäten der USA zu erhöhen, in Bereitschaft zu halten und so zu einer Politik der "massiven (nuklearen) Vergeltung" (massive retaliation) überzugehen, um eine kommunistische Aggression abzuschrecken. Zu seinem im Vergleich zu früher energischeren Ansatz in internationalen Angelegenheiten gehörte auch der Ausbau der verdeckten Tätigkeiten der CIA zur Unterwanderung und zum Sturz von Regimen, die den Interessen der USA zuwiderliefen. Mit C.D. Jackson holte er zudem einen Veteran der psychologischen Kriegsführung des Zweiten Weltkriegs in die Regierung, um die Strategie des Kalten Krieges besser zu koordinieren.
Stalins Tod überrumpelte auch die neue US-Regierung. Eisenhower misstraute den Nachfolgern des sowjetischen Diktators. Von Dulles und dessen Bruder, dem CIA-Direktor Allen Dulles, in der Annahme bestärkt, dass die sowjetische Einladung zur Normalisierung der Beziehungen lediglich eine Charmeoffensive sei, die die Einheit, Verbundenheit und Verteidigung des Westens schwächen sollte, hielt sich Eisenhower mit einem förmlichen Dialog auf Regierungsebene zurück. Stattdessen setzte er auf verstärkte psychologische Kriegsführung, in der Hoffnung, den Führungswechsel in Moskau zu erschweren.
In den politischen Zentren des Westens herrschte über diese Frage jedoch Uneinigkeit. Im Gegensatz zur eher zurückhaltenden Reaktion der USA war der britische Premierminister Winston Churchill der Ansicht, dass Stalins Ableben der Welt die Chance für eine Wende in den Ost-West-Beziehungen bot. Unbeeindruckt von der ablehnenden Haltung Washingtons drängte Churchill am 11. Mai 1953 in einer Rede vor dem Unterhaus auf einen trinationalen Ost-West-Gipfel zur Beilegung der drängendsten Probleme – es wäre der erste seit der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 gewesen. Dabei erwähnte er die Deutsche Frage nur am Rande, aber es war klar, dass er sich eine Wiedervereinigung des Landes unter der Bedingung deutscher Neutralität vorstellen konnte – eine Idee, die sowohl in Washington als auch bei Bundeskanzler Konrad Adenauer tiefste Besorgnis erregte.
Auch die französische Regierung hatte mit der Idee eines Gipfeltreffens zur Erkundung der sowjetischen Absichten geliebäugelt, schlug aber, ausmanövriert durch Churchills Initiative, am 20. Mai ein westliches Gipfeltreffen auf den Bermudas vor, das die Teilnahme Frankreichs an solchen Ost-West-Treffen sicherstellen würde und möglicherweise Gelegenheit bot, auf die Bedingungen für eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands zum Vorteil Frankreichs Einfluss zu nehmen. Churchills Vision ging jedoch weit über solche taktischen Manöver hinaus. Der Mann, der in seiner Rede zum "Eisernen Vorhang" im März 1946 eines der stärksten Bilder des Kalten Krieges geschaffen hatte, hatte sich nichts Geringeres als die Beendigung des Kalten Krieges zum Ziel gesetzt. Seine Beweggründe waren vermutlich komplex: Zweifellos wollte er sich wieder als internationaler Staatsmann in Szene setzen, nachdem seine Teilnahme an der Potsdamer Konferenz durch die überraschende Wahlniederlage im Juli 1945 ein jähes Ende gefunden hatte. Da er im Krieg mit Stalin Verhandlungen geführt hatte, setzte er bei seinen Plänen wohl auch auf seine persönlichen diplomatischen Fähigkeiten. Mit der Chance, das System des Kalten Krieges zu überwinden, verband sich aber auch die Hoffnung, Großbritannien wieder zu Macht und Ansehen zu verhelfen, das im Konflikt der zwei Supermächte nur die zweite Geige spielen konnte. Die sowjetischen Absichten mussten also auf die Probe gestellt werden. In dem Bestreben, Churchill zuvorzukommen, stimmte Eisenhower dem Bermuda-Treffen widerwillig zu.
17. Juni: Aufbruch und Stillstand
Der Aufstand in der DDR durchkreuzte Churchills Gipfelpläne. Angesichts der gewaltsamen Niederschlagung durch die sowjetischen Streitkräfte schloss Eisenhower bei einem Treffen mit seinem Nationalen Sicherheitsrat am 18. Juni jede Möglichkeit einer Konferenz mit der sowjetischen Führung aus. Der Knackpunkt war die Frage, inwiefern Washington bereit war, die deutschen Unruhen auszunutzen, "wenn die Sache wirklich Fahrt aufnimmt" ("if this thing really gets cracking"), wie es C.D. Jackson in der Sitzung des Sicherheitsrates ausdrückte. Für ihn waren die Ereignisse in Ost-Berlin der Moment, um für den lang ersehnten rollback der sowjetischen Macht zu plädieren: "Es wird vielleicht gerade der Zerfall des Sowjetimperiums eingeläutet. Sehen wir tatenlos zu, oder kommen wir dem Zerfall zu Hilfe?" Jackson betrachtete die ostdeutschen Unruhen sowohl aus einer regionalen als auch aus einer internationalen Perspektive. So sprach er sich für ein Eingreifen der USA aus, um ein Blutbad durch die sowjetischen Streitkräfte zu verhindern, und glaubte, dass einige der Satellitenstaaten bereit wären, dem jugoslawischen Beispiel von 1948 zu folgen und mit Moskau zu brechen. Er argumentierte zudem, dass die Ereignisse in Ostdeutschland mit einer überraschenden Wende in Korea in Zusammenhang standen, wo der südkoreanische Präsident Rhee Syng-man gerade rund 25.000 Kriegsgefangene, die sich weigerten, nach Nordkorea zurückzukehren, freigelassen hatte, um die Waffenstillstandsverhandlungen mit Pjöngjang zu torpedieren. Seiner Ansicht nach stellten Rhees Aktionen die kommunistische Entschlossenheit ebenso auf die Probe wie die Proteste in Ostdeutschland.
Für Eisenhower hing jede Entscheidung über ein militärisches Eingreifen in Deutschland davon ab, wie weit sich die Aufstände ausbreiteten – ob sie tatsächlich den Beginn des Zerfalls der kommunistischen Welt bedeuteten. "Greifen die Unruhen auf China oder sogar auf die UdSSR selbst über?", fragte der Präsident. "Sollte dies geschehen, hätten wir wahrscheinlich nie eine bessere Gelegenheit einzugreifen und wären gut beraten, beispielsweise Waffen zu liefern." Die Ausbreitung der Unruhen auf China waren für ihn der entscheidende Punkt, "denn für die UdSSR wäre es keine große Schwierigkeit, Aufstände in Europa niederzuschlagen, es wäre aber schwer für sie, mit Unruhen in Europa und im Fernen Osten gleichzeitig fertig zu werden". In den Überlegungen des Präsidenten zeigte sich der Druck, den das System des Kalten Krieges erzeugte. Die Gefahr, dass westliche Waffenlieferungen angesichts der überwältigenden sowjetischen Streitkräfte zu einem weiteren Blutbad führen könnten, gepaart mit der Befürchtung, dass ein direkter Konflikt zwischen den beiden Supermächten den Dritten Weltkrieg lostreten könnte, legte für Eisenhower die Messlatte für die Bedingungen, unter denen die USA innerhalb des sowjetischen Machtbereichs intervenieren würden, enorm hoch. Für ein Eingreifen der USA hätten die Unruhen erst noch China und die Sowjetunion erfassen müssen. Da es keine nachrichtendienstlichen Erkenntnisse gab, die darauf hindeuteten, hielt sich Eisenhower diesbezüglich zurück. Es sei "noch nicht an der Zeit", so schloss er, "sie endgültig rauszuwerfen" ("to roll them up for keeps").
Nach dem Aufstand in der DDR verstärkte die Eisenhower-Regierung ihre Bemühungen, die kommunistischen Behörden durch Propaganda und andere Maßnahmen der psychologischen Kriegsführung unter Druck zu setzen, und zwar nicht nur in Ostdeutschland, sondern in der gesamten Region. Durch ein Lebensmittelhilfsprogramm für die DDR, das humanitäre mit propagandistischen Zwecken verband, demonstrierte der Westen seine Fähigkeit, die DDR-Behörden nach dem 17. Juni weiter in Atem zu halten. Westliche Propaganda und subversive Bemühungen ermutigten zum Widerstand und zielten darauf, die mittelosteuropäischen Regierungen zu destabilisieren. Sehr zur Enttäuschung vieler Ostdeutscher und Osteuropäer konnten die amerikanischen Rollback-Bemühungen jedoch nicht verhindern, dass die kommunistischen Führer in den Satellitenstaaten die Kontrolle wiedererlangten und das Befreiungsversprechen solange hinauszögerten, bis ab Mitte der 1980er Jahre die Umwälzungen in der UdSSR und in Mittelosteuropa das internationale System des Kalten Krieges von innen heraus auflösten.
Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff, Dinslaken.
Vgl. Odd Arne Westad, Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte, Stuttgart 2019, S. 1.
Vgl. Anatoli Gromyko, Andrei Gromyko: polet ego strely, Moskau 2009, S. 115f.
Vgl. Mark Atwood Lawrence, Assuming the Burden. Europe and the American Commitment to Vietnam, Berkeley 2005, S. 19.
Zum Tod und zur Nachfolge Stalins siehe auch den Beitrag von Martin Wagner in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
Vgl. Vladislav M. Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2003, S. 86f., S. 91ff.
Zur Rollback-Politik der USA vgl. Bernd Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991, Köln u.a. 2002.
Vgl. Klaus Larres, Politik der Illusionen. Churchill, Eisenhower und die deutsche Frage 1945–1955, Göttingen 1995.
Minutes of Discussion at the 150th Meeting of the National Security Council on 18 June 1953, 19. Juni 1953, Dwight D. Eisenhower Library, zit. in: Christian F. Ostermann, Between Containment and Rollback. The United States and the Cold War in Germany, Stanford 2021, S. 251f.
Ebd., S. 252.
| Article | Ostermann, Christian F. | 2023-07-07T00:00:00 | 2023-05-09T00:00:00 | 2023-07-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/1953-2023/520822/zwischen-verhaertung-und-entspannung/ | Der 17. Juni 1953 wird meist nur im europäischen Kontext betrachtet, doch es braucht eine Erweiterung des Blickwinkels. Der Kalte Krieg war zwar verhärtet, aber es gab auch Hoffnung auf Entspannung. | [
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Der europäische Green Deal | bpb.de | Mit dem Green Deal will die Europäische Kommission die wirtschaftliche Entwicklung der EU-27 auf das Ziel ausrichten, als erster Kontinent klimaneutral zu werden. Dies soll mit einer Fülle von Maßnahmen in allen Politikfeldern ermöglicht werden. Der Green Deal soll die EU zukunftsfest machen, indem wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Ziele miteinander verwoben werden. Seine Ausgangsthese ist, dass ohne den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ein wirtschaftliches Vorankommen der EU nicht möglich sein wird, und dass es ohne wirtschaftlichen Erfolg nicht möglich sein wird, die Lebensgrundlagen der europäischen Bürgerinnen und Bürger dauerhaft zu sichern. Was genau umfasst der Green Deal und an welche grundlegenden Überlegungen zur Interaktion von Wirtschaft und Umwelt knüpft er an? Wie steht es um seine globale Dimension und seine Wirkung auf andere Staaten? Projekt der Kommission von der Leyen
Jede EU-Kommission hat eine eigene Agenda, die das Profil des jeweiligen Präsidenten schärfen soll und als Vision für die Amtsperiode dient. Die Grundlagen für den Green Deal legte die Kommission während der Präsidentschaft Jean-Claude Junckers (2014–2019). Sie setzte neue Akzente in der Klimapolitik und schuf die "Energieunion", die die Energiemärkte der Mitgliedsstaaten stärker integrieren sollte. Ursula von der Leyen bewarb sich 2019 mit der Vision des Green Deal als Kommissionspräsidentin und sicherte sich damit die Unterstützung des Europäischen Parlaments. Mit dem Green Deal sollen viele Generaldirektionen der Kommission unter einer Überschrift vereint werden, statt die jeweiligen Vorhaben – Klimaschutz, Energieversorgung, Digitalisierung, Binnenmarkt, Industriepolitik und weitere – getrennt zu bearbeiten.
Nach von der Leyens Amtsantritt veröffentlichte die Kommission die Mitteilung "Der europäische Grüne Deal" mit einer umfassenden Liste von Prioritäten und Gesetzesvorhaben (Abbildung). Aus ihr geht hervor, dass die Projekte des Green Deal von den Bedrohungen der natürlichen Umwelt, des Klimas und der Artenvielfalt abgeleitet, aber auch mit einer wirtschaftlichen Wachstumsagenda verknüpft werden, die die EU für die Zukunft ressourceneffizient, wohlhabend, fair und wettbewerbsfähig aufstellen soll. Die Umsetzung der "Agenda 2030" der Vereinten Nationen mit ihren 17 Sustainable Development Goals wird integriert.
Zu den klimapolitischen Zielen des Green Deal gehören eine nachhaltige Finanzpolitik (Taxonomie), eine Kreislaufwirtschaft (Ressourcen), die nachhaltige Landwirtschaft (farm to fork), eine saubere Industrie sowie der Naturschutz (Biodiversität). Mit entsprechend nachhaltig ausgerichteten Investitionen soll Wachstum angeregt und Beschäftigung für die Zukunft gesichert werden.
In ihrer Mitteilung zum Green Deal stellt die Kommission auch einen detaillierten Fahrplan auf. Neben Gesetzesvorhaben zum Klimaschutz soll eine neue EU-Industriestrategie, ein Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft und eine Strategie für nachhaltige Produkte mit Fokus auf die Textil-, Bau-, Elektronik- und Kunststoffsektoren vorgelegt werden. Diese Vorhaben zielen auf die Dekarbonisierung und Modernisierung der energieintensiven Sektoren genauso wie auf den Zugang zu (strategischen) Ressourcen und Wertschöpfungsketten, eine effektive Kreislaufwirtschaft, energie- und ressourceneffizientes Bauen und Renovieren und eine Wende bei Verkehr und Mobilität hin zu mehr Umwelt- und Gesundheitsschutz. Die Reform der Landwirtschaftspolitik mit der Farm-to-fork-Strategie (vom Hof auf den Tisch) soll ein faires, gesundes, umweltfreundliches und emissionsarmes Lebensmittelsystem schaffen. Beim Naturschutz sollen die Ökosysteme besser in den Blick genommen, eine neue Biodiversitätsstrategie erstellt sowie der Schutz von Wäldern, Meeren und Gewässern gestärkt werden. Mithilfe von Finanzierungsinstrumenten, also günstigen Krediten, Zuschüssen sowie der Zertifizierung von Geldanlageprodukten als "grün" sollen Investitionen in diese Projekte angeregt werden. Die Mitgliedsstaaten sollen ihre Haushaltspolitik und Steuersysteme umstellen, und auch die Bildungsprogramme sollen sich auf den Green Deal ausrichten. Der Umbau soll dabei die europäischen Bürgerinnen und Bürger im Blick behalten und soziale Härten vermeiden.
Der Green Deal umfasst Klimaschutzziele, saubere Energie und die Kreislaufwirtschaft. Er zielt auf die Erhaltung der Artenvielfalt und will gesündere Lebensmittel "vom Hof auf den Tisch" bringen. (© Europäische Kommission, Der europäische Grüne Deal, Brüssel 2019, S. 4.)
Diese Agenda ist so umfassend wie noch keine andere der Kommission. In den fünf Jahren ihrer Amtszeit kann sie den Green Deal als europäisches Projekt auf ein solides Fundament stellen – vor allem durch entsprechende Gesetzgebung und einen Finanzierungsplan, der die Investitionen der Mitgliedsstaaten "grüner" macht. Das Gelingen hängt jedoch vor allem davon ab, dass sie die 27 Mitgliedsstaaten eint, das Europäische Parlament sie mitgestalten kann und sie in Krisen sowie angesichts globaler Trends weiter aufrechterhalten wird.
Der Green Deal könnte in seiner gesamten Breite erst zum Tragen kommen, wenn es längst eine neue Kommission und viele neue Regierungsoberhäupter in den Mitgliedsstaaten gibt. Die Umgestaltung der EU-Wirtschaft hin zur Klimaneutralität bedeutet eben nicht weniger als die Transformation des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells in Europa. Klimaziele geben den Takt vor
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen auf einer Pressekonferenz vor blauem Hintergrund mit den gelben Lettern "Green Deal". (© picture-alliance, AA | Dursun Aydemir)
Die im Klimagesetz der EU verankerten Ziele sind anspruchsvoll. Um 2030 im Vergleich zu 1990 55 Prozent weniger Treibhausgase auszustoßen, müssen die Anstrengungen aller Beteiligten stark steigen. Die Kommission hat hierfür das Fit-for-55-Gesetzespaket auf den Weg gebracht, das in einem ersten Schritt vor allem die vorhandenen klimapolitischen Instrumente schärft und ergänzt. Es handelt sich zwar um eine Fortschreibung der EU-Klimapolitik, die mit dem Emissionshandel, der Setzung von Emissionsstandards, der Förderung von Innovationen und einer klimafreundlichen Industriepolitik die Unternehmen und Haushalte zur Abkehr von der vorherrschenden CO2-intensiven Wirtschaftsweise bewegen soll. Diese Fortschreibung der Klima- und Energiepolitik der vergangenen Jahre ist nun aber eingebettet in den Green Deal, der anstrebt, alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessengruppen einzubinden.
Beispielhaft ist die Diskussion um den Umgang mit sozialen Folgen eines steigenden CO2-Preises. Die daraus entstehenden finanziellen Belastungen für ärmere Haushalte und EU-Regionen sollen durch einen Sozialen Klimafonds abgemildert werden. Dieser Fonds soll sich aus den Einnahmen des geplanten erweiterten Emissionshandelssystems für den Gebäude- und Transportsektor speisen. Mit dem Just Transition Fund sollen gezielt Kohleregionen unterstützt werden, die die Kohleverstromung beenden wollen. Weitere Fonds werden fortgeführt, die Mittel für die Modernisierung der Energiesysteme in den zehn ärmsten EU-Mitgliedsstaaten bereitstellen (Modernisierungsfonds) und für neue Demonstrationsprojekte in der Industrie, welche emissonsarme oder -freie Technologien entwickeln (Innovationsfonds).
2020 sollte die Umsetzung des Green Deal an Fahrt aufnehmen, doch im März brach auch in Europa die Corona-Pandemie aus, mit tiefgreifenden Folgen für die europäische und die internationale Wirtschaft. Die EU reagierte im Sommer 2020 mit dem umfassenden Konjunkturpaket "NextGenerationEU" im Umfang von 750 Milliarden Euro auf die Gesundheits- und damit verbundene Wirtschaftskrise. Zudem gelang es der Kommission in den Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten, ein Drittel der geplanten Investitionen aus dem NextGenerationEU-Paket sowie dem neuen siebenjährigen Finanzrahmen (Gesamthöhe: 1,21 Billionen Euro) für den Green Deal und vor allem für den Kampf gegen den Klimawandel zweckzubinden. Der Just Transition Fund und das Programm für Umwelt und Klimaschutz (LIFE) sind Herzstücke der Finanzierung des Green Deals und werden mit rund 14,5 Milliarden Euro im mehrjährigen Finanzplan veranschlagt.
Diese Einigung auf eine Zweckbindung ist insofern bemerkenswert, als verschiedene Mitgliedsstaaten forderten, die ehrgeizige Agenda angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf Eis zu legen. Der Reflex, angesichts akuter Krisen die Herausforderungen einer Umstrukturierung hin zur Klimaneutralität aufzuschieben, gehört zu den größten politischen Hindernissen bei der Umsetzung des Green Deal. Die Dimensionen der staatlichen und privaten Transformationsinvestitionen treffen nicht in allen Mitgliedsstaaten auf Zustimmung. Strukturelle Fragen des Wirtschaftens
Über die angelaufene Fit-for-55-Gesetzesinitiative hinaus müssen in Europa grundlegende strukturelle Fragen des Wirtschaftens angegangen werden. Denn für das langfristige Ziel der Klimaneutralität bis 2050 geht es nicht allein darum, den Konsum mithilfe steigender CO2-Preise klimafreundlicher auszurichten. Vielmehr muss den EU-Bürgerinnen und -Bürgern auch ein CO2-armes oder sogar -freies Leben überhaupt ermöglicht werden. Hierfür bedarf es moderner Infrastrukturen im Energie- und Transportsektor, eines Abbaus der Subventionen für den Verbrauch fossiler Energien, der Reform der Landwirtschaftspolitik und des Naturschutzes sowie der geringeren Flächeninanspruchnahme und eines Umlenkens im Bau- und Wohnungssektor. Die breite Verfügbarkeit bezahlbarer klimafreundlicher Produkte und der Zugriff auf eine funktionierende Kreislaufwirtschaft mit steigenden Recyclingquoten sind genauso wichtig für eine Kursänderung wie die gesellschaftliche Zustimmung zu dieser Transformation. Beide Voraussetzungen müssen aber erst noch geschaffen oder ausgebaut werden.
Eine wesentliche Grundlage für diese strukturellen Veränderungen sind Investitionen in den Kapitalstock. Auch diese können nicht allein durch Politikinstrumente wie CO2-Preise und Standards angeregt werden, sondern müssen durch öffentliche Ausgaben begleitet werden. Schätzungsweise müssten die jährlichen Investitionsströme zwischen 2021 und 2030 insgesamt 255 Milliarden Euro jährlich betragen (was ungefähr 2 Prozent der jährlichen EU-weiten Wirtschaftsleistung entspricht), wenn der Green Deal die Klimaneutralität anstoßen soll. Der größte Anteil der emissionsmindernden Investitionen sollte in die Sanierung von Gebäuden fließen (27 Prozent), gefolgt von Investitionen in technologische Innovationen, Forschung und Entwicklung von digitalen Lösungen zur Energieeinsparung (jeweils 12 Prozent), ins Stromnetz für Erneuerbare (10 Prozent) und die Transformation des Autoverkehrs, des europäischen Binnenmarkts und weiterer Bereiche (8 Prozent und weniger). Dabei sind die sozialen Komponenten einer grünen Investitionsoffensive essenziell – also Beschäftigung, Gesundheit und Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb der EU und ihrer Mitgliedsstaaten.
Die Einbindung der EU in die internationale Wirtschaft spielt zudem für eine erfolgreiche Umstrukturierung eine wichtige Rolle, denn der Anteil der in der EU verkauften Importe am Warenangebot ist sehr hoch, genauso ist die europäische Wirtschaft von Exporten abhängig und somit auch von einer internationalen Zusammenarbeit bei der Änderung der Wirtschaftsweisen. Globaler Kontext
Der Green Deal ist nicht der erste Vorstoß Europas, sich einem Wirtschaftsmodell anzunähern, das die natürlichen Lebensgrundlagen als Begrenzung für wirtschaftliches Handeln begreift und ihre Erhaltung als Ziel in die Wirtschaftsentwicklung integriert. Ihren Ursprung haben grüne Wirtschaftskonzepte in der Nachhaltigkeitsdebatte, die mit der Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen 1972 in Stockholm ihren Anfang nahm und für deren Konkretisierung der Brundtland-Report von 1987 das Konzept der drei Säulen einer nachhaltigen Entwicklung lieferte: die soziale, die ökologische und die wirtschaftliche Säule. In diesem Bericht wird die Idee einer nachhaltigen Weltwirtschaft als gemeinsames Anliegen der Menschheit ausformuliert. Eine gemeinsame Zukunft aller Staaten sollte so gestaltet werden, dass die Versorgung mit Lebensmitteln gesichert, die natürlichen Ressourcen und die Umwelt geschützt sowie Frieden und Sicherheit ermöglicht werden. Der Brundtland-Report liest sich heute so aktuell wie vor 35 Jahren. In der Folge wurde die erste UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro abgehalten. Der "Earth Summit" brachte verschiedene Umweltabkommen, unter anderem die Klimarahmenkonvention und die "Rio-Erklärung" mit Grundsätzen für die Konkretisierung der nachhaltigen Entwicklung hervor.
Knapp zwei Jahrzehnte später wurde unter dem Eindruck der Finanzkrise – auch angesichts der immer noch geringen Erfolge, den Umwelt- und Klimaschutz global voranzutreiben – auf internationaler Ebene das Modell der Green Economy entwickelt. Die Konjunkturprogramme, die die Folgen der Wirtschaftskrise auffangen sollten – so der Vorschlag – für umwelt- und klimafreundliche Investitionen verwendet werden. Die OECD entwickelte als Beitrag für die UN-Nachhaltigkeitskonferenz 2012 eine grüne Wachstumsstrategie und gab ihren Mitgliedsländern Vorschläge an die Hand, wie sie Hindernisse für ein grün ausgerichtetes Wachstum identifizieren und Politikinstrumente zu deren Beseitigung nutzen können. Südkorea hatte sich 2009 an die Spitze der Bewegung gestellt und mit einer nationalen grünen Wachstumsstrategie sowie Fünfjahresplänen konkrete politische Agenden aufgesetzt. Öffentliche Finanzmittel in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts sollten für entsprechende Programme und Wachstumsprojekte verwendet werden, allen voran für Infrastrukturinvestitionen, um die damalige Wirtschaftskrise zu überwinden. Auch berichtete man regelmäßig den Fortschritt an die OECD. Allerdings war das Modell des Green Growth eng gefasst und diente zunächst dazu, Wachstumsimpulse mit dem Anspruch des Umweltschutzes zu verbinden, ohne damit zu stark in die nationalen Prioritäten bei der Krisenbewältigung einzugreifen.
Bei der Konferenz für nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro 2012 war die Green Economy eines der Leitthemen. Das Konzept sollte im Zuge der volkswirtschaftlichen Stabilisierung und der Armutsbekämpfung nach der Finanzkrise eine kohlenstoffarme und ressourceneffiziente Wirtschaftsweise global voranbringen. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen definierte die Green Economy damals als "Wirtschaftsweise, die zu erhöhtem menschlichem Wohlbefinden und mehr sozialer Gerechtigkeit führt, während sie gleichzeitig Umweltrisiken und ökologische Knappheit deutlich verringert". Auch die Wirtschaftswissenschaften hatten für diese Idee bereits Grundlagen gelegt, denn eine Green Economy als ökologisches Modernisierungsmodell war in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren eine Reaktion auf die immer offensichtlichere Herausforderung, dass das klassische, quantitativ ausgerichtete ökonomische Wachstumsmodell nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung in der ökologischen und sozialen Dimension passt. Eine Abkehr vom Kapitalismus propagieren aber weder die Green Economy noch der Green Deal der EU.
Auch der im US-Wahlkampf 2020 von den Demokraten propagierte "Green New Deal" stellt keine solche Grundsatzfrage, vielmehr lehnt er sich an das Konjunkturprogramm Roosevelts aus den 1930er Jahren an, bei dem staatliche Regulierung und die Erhöhung der Staatsausgaben für einen neuen Aufschwung sorgen sollten. Bei allen "grünen" Wirtschaftskonzepten geht es bisher darum, mit Ressourceneffizienz, Umweltschutztechnologien, Innovationen und einem positiven Bild der ökonomischen Potenziale die wirtschaftlichen Akteure zu überzeugen. Um Grenzen des Wachstums wurde und wird aber nicht gerungen. Der Staat soll stattdessen mithilfe seiner finanziellen Ressourcen einen Weg bereiten, Wirtschaft und Gesellschaft auf einen nachhaltigeren Wachstumspfad zu lenken. Da das Geldausgeben den Kern staatlicher Souveränität berührt, wurde auf UN-Ebene 2012 gar nicht erst versucht, eine Transformation zur Green Economy konkreter auszubuchstabieren. Die konkrete Umsetzung muss jedes Land selbst entwickeln. Globale Trends machen Green Deals wichtiger
Was aber könnte dafür sorgen, dass der Green Deal erfolgreicher verläuft als die grünen Wirtschaftsagenden der vergangenen Jahrzehnte? Für die Europäische Union hat sich in den vergangenen zehn Jahren sowohl im Innen- wie auch im Außenverhältnis einiges verändert. Die EU hat 2016 mit dem Brexit-Votum im Vereinigten Königreich einen Tiefschlag erlitten. Die Staats- und Regierungschefs und die Kommission sind seitdem gefordert, dem Projekt der europäischen Integration neue Strahlkraft zu verschaffen. Im Innenverhältnis wird dies durch den Aufstieg nationalistischer Regierungen in den östlichen Mitgliedsstaaten erschwert. Die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 hat zu harten Kontroversen über gemeinsame Werte geführt. Der Green Deal, auf dessen konkrete Maßnahmen sich schließlich alle Mitgliedsstaaten verständigen müssen, ist also kein Selbstläufer.
Im Verhältnis zu den internationalen Partnern war die EU bereits 2016 auf der Suche nach einer neuen geopolitischen Positionierung. Verstärkt durch den Rückzug der USA aus internationaler Verantwortung ab 2017, wurde aus der Diskussion einer "Globalen Strategie" eine über die "strategische Autonomie" Europas.
Der Green Deal dient der Europäischen Kommission daher auch als Baustein für die geopolitische Neuausrichtung der EU-27. Die ambitionierte Klimapolitik ist für diese Strategie ein wichtiger Teil, obwohl die EU allein nicht das Klima retten kann, denn dazu ist ihr Anteil an den globalen Emissionen zu gering. Dennoch kann die Positionierung als Vorreiter durch eine Verquickung der Klimapolitik mit einer innovativen Wirtschaftsagenda ein Beitrag zum Erhalt der ökonomischen Stärke sein. Im Wettstreit mit China und den USA um die geoökonomische Vorherrschaft verliert die EU an Boden. Die Maßnahmen des Green Deal zahlen in dieser Hinsicht auf die Wette der Kommission ein, mit einer fortschrittsgetriebenen, ressourceneffizienten und sozialverträglichen Wirtschaftsentwicklung auf den Weltmärkten mitzuhalten und sich von Ländern wie Russland und China unabhängiger zu machen. Diese nutzen ihre Energie- und Rohstoffexporte als taktisches Instrument, um eigene geoökonomische Ziele zu erreichen. Das wurde wieder deutlich, als 2021 russische Gaslieferungen in die EU zurückgehalten und die chinesischen Exportbeschränkungen für Rohstoffe erhöht wurden.
Gegenüber den USA ist der Green Deal ein politischer Vorsprung, welcher die neue Regierung des demokratischen Präsidenten Biden erheblich unter Druck setzt. Vier Jahre der US-amerikanischen Abwesenheit in der Klimapolitik haben zu einem deutlichen Rückstand in diesem Politikfeld geführt. Die EU muss nun allerdings ihre klimapolitischen Prioritäten gegenüber den USA verteidigen. Der Druck aus Washington, einzelne Projekte des Green Deal – wie die Einführung von CO2-Preisen für bestimmte CO2-intensive Industriegüter aus dem Ausland – zu stoppen, macht deutlich, wie der transatlantische Partner seine Führungsrolle versteht: Die EU soll ihre klimapolitischen Maßnahmen an die der USA anpassen. Davon ist abzuraten, denn mit jedem Wechsel im Weißen Haus kann es zu einem Umschwung kommen und damit zu einer Rücknahme der nun eingeläuteten Klimaschutzpolitik in den USA. Lässt sich ein Green Deal globalisieren?
Wohlstandsmehrung durch Umweltschutz ist offenkundig nicht das Standardmodell der internationalen wirtschaftlichen Entwicklung seit der Industrialisierung. Raubbau an Ressourcen gehörte zum rasanten Aufstieg von Volkswirtschaften genauso dazu wie die Verletzung von grundlegenden Rechten schwacher gesellschaftlicher Gruppen. Die unter anderem auf den Kolonialismus und den Kalten Krieg zurückgehenden wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen den Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern tragen zu einem weiteren nicht-nachhaltigen Wirtschaften bei. Versuche, diesen Strukturen auf der Ebene der Vereinten Nationen zu begegnen, bringen kaum Fortschritte. Die Kräfteverhältnisse werden zurzeit durch den Aufstieg Chinas und der geopolitischen Konkurrenz zwischen den Anbietern und Nachfragern von Ressourcen und Rohstoffen neu austariert.
Die Idee eines Green Deal wendet sich gegen diese Strukturen und soll die Kräfteverhältnisse beeinflussen. Dies unterscheidet den europäischen Green Deal von der Green Economy. Denn der Green Deal steht der Agenda 2030 nahe, auch wenn er nicht alle Ziele einer nachhaltigen Entwicklung verinnerlicht. Vielmehr verwendet der Green Deal die Logik der Industriestaatenwelt, indem er auf eine Transformation durch technologischen Fortschritt setzt und die Wohlstandssicherung in den Mittelpunkt wirtschaftspolitischer Entscheidungen stellt. Die dafür notwendigen Handlungsfreiheiten und die politischen und finanziellen Ressourcen haben nur wenige Länder der Welt.
Für den Green Deal der EU steht die Bewährungsprobe noch aus. Denn die Ziele des Deals – zum Beispiel eine bessere Kreislaufwirtschaft und Klimaneutralität – bedeuten auch, dass die EU weniger von den weltweit verfügbaren Konsumgütern und Rohstoffen verbrauchen wird und damit resilienter gegenüber den taktischen Manövern anderer Regierungen werden kann. Gelänge der EU der Green Deal als Modell für einen gesellschaftlichen Konsens über den Umgang mit der globalen Umweltkrise und für ökonomischen Erfolg, könnte dies auch weitere Regierungen beeinflussen. Somit wäre die Hoffnung, dass der Green Deal zum Zugpferd für andere Industrie- und Schwellenländer wird, weil er auf die Verteilungskämpfe um Ressourcen, die Herausforderungen des Klimawandels und die steigenden sozialen Verwerfungen eine Antwort hat. Von dieser europäischen Idee kann also ein wichtiger Impuls ausgehen, für den es global viele Anknüpfungspunkte und potenzielle Mitstreiter gibt.
Der Green Deal umfasst Klimaschutzziele, saubere Energie und die Kreislaufwirtschaft. Er zielt auf die Erhaltung der Artenvielfalt und will gesündere Lebensmittel "vom Hof auf den Tisch" bringen. (© Europäische Kommission, Der europäische Grüne Deal, Brüssel 2019, S. 4.)
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen auf einer Pressekonferenz vor blauem Hintergrund mit den gelben Lettern "Green Deal". (© picture-alliance, AA | Dursun Aydemir)
Vgl. Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Der europäische Grüne Deal, 11.12.2019, Externer Link: https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/european-green-deal-communication_de.pdf.
Vgl. Europäische Union, Verordnung (EU) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 2021 zur Schaffung des Rahmens für die Verwirklichung der Klimaneutralität und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 401/2009 und (EU) 2018/1999.
Vgl. Europäische Kommission, Europäischer Grüner Deal: Kommission schlägt Neuausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft in der EU vor, um Klimaziele zu erreichen, 14.7.2021, Externer Link: http://www.ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_3541.
Vgl. Europäische Kommission, The EU’s 2021–2027 Long-Term Budget and NextGenerationEU. Facts and Figures, Luxemburg 2021.
Vgl. ebd., S. 17.
Vgl. Kalina Oroschakoff/Karl Mathiesen, How the EU’s Green Deal Survived the Coronavirus Pandemic, 17.12.2020, Externer Link: http://www.politico.eu/article/how-eu-climate-change-promises-survived-the-coronavirus-plague.
Vgl. Oliver Geden/Kirsten Westphal, Ein krisenfester "Green Deal", in: Barbara Lippert/Stefan Mair/Volker Perthes (Hrsg.), Internationale Politik unter Pandemie-Bedingungen. Tendenzen und Perspektiven für 2021, Berlin 2020, S. 69-72.
Vgl. Sarah Wolf et al., The European Green Deal – More Than Climate Neutrality, in: Intereconomics 2/2021, S. 99–107, hier S. 102.
Vgl. ebd.
Vgl. Vereinte Nationen, Report of the World Commission on Environment and Development. Our Common Future, New York 1987.
Vgl. Vereinte Nationen, Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, Rio de Janeiro 1992.
Die Europäische Kommission fokussierte sich 2011 hingegen auf das klimapolitische Ziel einer CO2-armen Wirtschaft bis 2050. Vgl. Europäische Kommission, Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft bis 2050, Brüssel 2011.
Vgl. OECD, Tools for Delivering on Green Growth, Paris 2011, Externer Link: http://www.oecd.org/greengrowth/48012326.pdf.
Vgl. dies., Green Growth in Action: Korea, 10.10.2021, Externer Link: http://www.oecd.org/korea/greengrowthinactionkorea.htm.
Susanne Dröge/Nils Simon, Green Economy: Vision mit begrenzter Reichweite – Ohne die G20 kann es keine grüne Transformation der Weltwirtschaft geben, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), SWP-Aktuell 19/2011, S. 1.
Vgl. ebd.
Vgl. Nora Löhle, Zur Entstehungsgeschichte des Green New Deal – Revival eines Begriffs, 17.3.2020, Externer Link: http://www.boell.de/de/2020/03/17/zur-entstehungsgeschichte-des-green-new-deal-revival-eines-begriffs.
Vgl. Barbara Lippert et al., Strategische Autonomie Europas, SWP-Studie S2/2019.
Vgl. Mark Leonard et al., The Geopolitics of the European Green Deal, in: International Organisations Research Journal 2/2021, S. 204–235.
Vgl. Putin verspricht – liefert Gazprom?, 8.11.2021, Externer Link: http://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/gazprom-gaslieferung-putin-gaspreise-rekordhoch-nord-stream-101.html.
Vgl. Frank Sieren, Peking verknappt Export Seltener Erden, 22.7.2021, Externer Link: http://www.table.media/china/analyse/seltene-erden-staerkere-regulierung.
Vgl. Kirsten Westphal/Maria Pastukhova/Jacopo Maria Pepe, Geopolitik des Stroms – Netz, Raum und Macht, SWP-Studie S14/2021.
| Article | , Susanne Dröge | 2022-09-26T00:00:00 | 2022-01-12T00:00:00 | 2022-09-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/green-new-deals-2022/345729/der-europaeische-green-deal/ | Der Green Deal ist die ehrgeizigste Agenda, die sich die EU je gegeben hat. Die Kommission verfolgt nicht bloß den Klimaschutz als Ziel, sondern will durch den Deal auch wirtschaftlich und geopolitisch zu den USA und China aufschließen. | [
"europäische Union",
"Green Deal",
"ENISA",
"Dekarbonisierung",
"Verkehrswende",
"Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit",
"Klimaziele",
"Emissionen",
"politische Überzeugungen",
"Vereinte Nationen",
"Polyzentrismus",
"USA",
"China",
"Demagogie",
"Geopolitik"
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Kommentar: Der Sieg des Linkspopulismus – und der Einfluss der Oligarchen | Ukraine-Analysen | bpb.de | Die ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2019 betrachte ich als Wahlen in einer "neopatrimonialen Demokratie", wie der ukrainische Politikwissenschaftler Oleksandr Fisun das politische Regime der Ukraine bezeichnet hat (siehe dazu auch die Ukraine-Analysen Nr. 169 vom 25.5.2016, Externer Link: http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen169.pdf). Genau wie in den vorangegangenen Jahren werden die Prinzipien der repräsentativen Demokratie in den nächsten fünf Jahren von Oligarchen auf die Probe gestellt werden. Die "Revolution der Würde", der Euromaidan, hat bedauerlicherweise den Einfluss der Oligarchen auf die Politik nicht zurückgedrängt, sodass sie weiter Auftraggeber und Profiteure der ukrainischen Politik sind, ohne sich demokratischen Kontroll- und Rechenschaftsverfahren zu unterziehen.
Das Wahlergebnis stellt einen Schritt auf dem Weg zur "Rückeroberung" der politischen Machtposition und des Zugangs zu wirtschaftlichen Vorteilen durch einen der wichtigsten Akteure in der ukrainischen Politik – Ihor Kolomojskyj – dar. Sein Geschäftspartner, der Medienmanager und Stand-up-Comedian Wolodymyr Selenskyj, erzielte als perfekter linkspopulistischer Kandidat einen überzeugenden Sieg im zweiten Wahlgang. Die Leitmotive seines Diskurses sind Gerechtigkeit und Gleichheit. Das Ziel ist ein "Land der Träume". Das Mittel zum Erfolg ist sein persönlicher Einsatz für das Gemeinwohl.
Das "Highlight" des Wahlkampfes war die Tatsache, dass sich Selenskyjs Kampagne auf seine Darstellung eines Lehrers (und damit "einfachen Mannes" aus dem Volk), der zum Staatsoberhaupt gewählt wird, in einer Fernsehserie stützte. Wolodymyr Selenskyj selbst nahm keine persönlichen Treffen mit Wählern wahr – insofern kann man sagen, dass die Wähler eher für die Fernsehfigur gestimmt haben und dass Selenskyjs eigene Kandidatur im Hintergrund stand.
Dieser Punkt ist sehr wichtig, wenn man die politische Perspektive von Wolodymyr Selenskyj im Einzelnen und der Demokratie in der Ukraine im Allgemeinen betrachtet.
Erstens werden selbst kontrollierte Medien den Unterschied zwischen dem Serienhelden und der Person Selenskyj nicht für lange Zeit verbergen können, da durch das Fehlen einer zivilgesellschaftlichen und politischen Vorgeschichte die Abhängigkeit seiner Entscheidungen von zwielichtigen Kreisen, die in seinen Sieg investiert haben, schnell deutlich werden wird. Dies dürfte Selenskyj zum Verhängnis werden.
Zweitens befindet sich die Ukraine in einer objektiv schwierigen wirtschaftlichen und in einer noch komplizierteren außenpolitischen Lage. Wenn der bisherige Präsident Petro Poroschenko mit seinem Wahlkampf zu Sicherheitsthemen und der Bedrohung von außen bei den Wählern nicht erfolgreich war, heißt das nicht, dass äußere Bedrohungen nicht vorhanden wären. (Das Wahlergebnis zeigt eher, dass die Wähler in Poroschenko nicht die Person sehen, die diesen Bedrohungen gewachsen wäre.) Buchstäblich am ersten Tag nach der Wahl erklärte Russland auf höchster politischer Ebene, die Bewohner der selbsternannten Republiken in der Ostukraine könnten russische Pässe erhalten, und kurz darauf, alle Ukrainer könnten einen russischen Pass beantragen.
Mit einer ähnlichen Strategie begannen im Jahr 2014 der "Krim-Frühling" und das Projekt "Neurussland" im Osten der Ukraine, als unter dem Vorwand, russische Bürger müssten geschützt werden, verschiedene finanzielle und militärische Maßnahmen zur Unterstützung separatistischer Bewegungen eingeleitet wurden. Vor dem Hintergrund der Eskalation der Beziehungen zum östlichen Nachbarn muss der neue Präsident der Ukraine sowohl seine Position zu Russland als auch seine Politik gegenüber den selbsternannten Republiken formulieren. Es gibt in diesem Zusammenhang keine einfachen Entscheidungen und es gibt keine Lösung, die die beteiligten Gruppen – die ukrainische Gesellschaft, die selbsternannten Republiken und Russland – auch nur zur Hälfte zufriedenstellen würde. Deshalb besteht kein Zweifel, dass der beispiellos hohe Stimmenanteil Selenskyjs bei der Wahl (73 Prozent) schon bald von anderen politischen Akteuren abgeworben wird.
Wenn nichts Außergewöhnliches geschieht, wird die Ukraine im Oktober 2019 Parlamentswahlen abhalten. Es ist klar, dass Selenskyj im zweiten Wahlgang Protestwähler gegen Poroschenkos Politik und Protestwähler gegen das Establishment als solches weitgehend hinter sich versammeln konnte. Seine tatsächliche Unterstützung wurde im ersten Wahlgang deutlich und ist mit 30 Prozent nicht einmal halb so groß.
Auch wenn Selenskyjs politische Partei (die erst noch formiert und auf den Wahlkampf vorbereitet werden muss) bei derjenigen Hälfte der Parlamentssitze, die per Verhältniswahlrecht vergeben werden, ebenfalls 30 Prozent erreicht und selbst wenn für die andere Hälfte der Parlamentssitze, die in Einzelwahlkreisen vergeben werden, das "Team Kolomojskyj-Selenskyj" am Ende ebenfalls einen Teil der Abgeordneten stellt, ist es unwahrscheinlich, dass Selenskyj in der Lage sein wird, im Parlament eine stabile Mehrheit zu bilden, die seine politischen Initiativen effektiv unterstützt. Dies gilt insbesondere für Verfassungsänderungen in Bezug auf die Machtverteilung im politischen System, für die eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten erforderlich ist.
Da die übrigen politischen Akteure kein Interesse daran haben, dass der neue Präsident mit seiner Klientel die ukrainische Politik dominiert, ist ein intensiver politischer Machtkampf zu erwarten, der den oligarchischen Konsens – ein Gleichgewicht der Kräfte bzw. der verschiedenen Einflussgruppen – erhalten wird. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass der neue Präsident seine Macht in Politik und Gesellschaft konsolidieren kann. Stattdessen wird die Ukraine ein schnelles Ende des linkspopulistischen Märchens erleben.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines | Article | Von Switlana Konontschuk (Ukrainian Center for Independent Political Research, Kiew) | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-05-22T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/291665/kommentar-der-sieg-des-linkspopulismus-und-der-einfluss-der-oligarchen/ | Die Wähler haben eher für die Fernsehfigur als für den Kandidaten Wolodymyr Selenskyj gestimmt, kommentiert Autorin Switlana Konontschuk. Ob er mit seinen linkspopulistischen Leitmotiven eine längerfristige Unterstützung aus der Bevölkerung jenseits | [
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Parteien | 24 x Deutschland | bpb.de | Im politischen System der Bundesrepublik Deutschland wird den Parteien eine herausragende Stellung im politischen Meinungsbildungsprozess zugebilligt. Diese wird im Artikel 21 des Grundgesetzes (GG) festgelegt. Parteien dienen als wichtigstes Instrument zur Bündelung und Vermittlung der politischen Ziele von Einzelpersonen und Gruppen. Diese wichtige Rolle spiegelt sich auch darin wider, dass sie durch die staatliche Parteienfinanzierung zu einem gewissen Teil auch aus Steuermitteln finanziert werden.
Jedem Bürger steht es frei, eine Partei zu gründen, solange diese ihren Zielen nach die freiheitliche demokratische Grundordnung respektiert. Der bereits erwähnte Artikel 21 GG verpflichtet die Parteien zur Einhaltung einer innerparteilichen Demokratie. Ihre Mitglieder müssen durch Wahlen zu den Parteigremien, durch Diskussionen und durch Wahrung der freien Meinungsäußerung an der politischen Willensbildung beteiligt werden. Wie dies im Einzelnen geregelt ist, bestimmt das Parteiengesetz, welches 1967 in Kraft trat.
Um die Einhaltung dieser Grundsätze zu gewährleisten, regelt das Grundgesetz auch die Möglichkeit eines Verbotes von Parteien. Ausschließlich das Bundesverfassungsgericht kann auf Antrag der Bundes- bzw. Landesregierung, des Bundestages oder des Bundesrates ein Verbot aussprechen. Die Möglichkeit, eine Partei verbieten zu können, ist ein Resultat aus dem Scheitern der Weimarer Republik und wird oft mit dem Prinzip einer streitbaren oder wehrhaften Demokratie begründet. Das sogenannte Parteienprivileg aber setzt die Grenzen für das Verbot einer Partei sehr eng. Die Bedingung ist, dass eine Partei mit ihrem Ziel oder durch das Verhalten ihrer Anhänger darauf hinarbeitet, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen.
Seit der Gründung der Bundesrepublik ist ein Verbot nur zweimal – 1952 gegen die Sozialistische Reichspartei und 1956 gegen die Kommunistische Partei Deutschlands – ausgesprochen worden. 2001 hatten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung ein Verbotsverfahren gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) eingeleitet. Das Verfahren wurde aber wegen Fehlern im Vorfeld des Verfahrens eingestellt, die eigentliche Prüfung der Verfassungsfeindlichkeit hat nicht stattgefunden.
Die Arbeit von Parteien erfordert Finanzmittel. Bei großen Parteien entsteht immer ein Bedarf an hauptamtlichen Arbeitskräften, um die Parteiarbeit zu koordinieren. Wichtige Finanzmittel von Parteien sind Mitgliederbeiträge und Spenden. Um eine unangemessene Einflussnahme durch Spender auf die Parteien aber auszuschließen, wird die maximale Spendenhöhe durch das Parteiengesetz reguliert und von den Parteien ein Rechenschaftsbericht verlangt. Als weiteren großen Posten erhalten Parteien Gelder aus der staatlichen Parteienfinanzierung. Die Höhe der Zuschüsse ist abhängig von den erreichten Stimmen bei der jeweils vergangenen Europa- und Bundestagswahl und den jeweils vergangenen Landtagswahlen sowie der Höhe der gesammelten Spenden und Mitgliedsbeiträgen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-10-26T00:00:00 | 2011-11-12T00:00:00 | 2021-10-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/politisches-system/24-deutschland/40481/parteien/ | Parteien bündeln und vertreten die Interessen von Gruppen und Einzelpersonen. Laut Grundgesetz wirken sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Sie sind daher ein Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft. | [
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"Parteien",
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"Parteiensystem"
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Bildungsgerechtigkeit - Essay | Bildung und Chancen | bpb.de | Einleitung
Deutschland hat in den ersten drei PISA-Studien unterschiedlich gut abgeschnitten. 2000 und 2003 erreichte es ein Ergebnis im Mittelbereich der OECD-Staaten, 2006 schloss es in der internationalen Rangfolge zum vorderen Viertel auf und ließ sogar das hochangesehene Schweden hinter sich. Insgesamt ist durch die PISA-Studien eine lebhafte bildungspolitische Debatte in Deutschland angestoßen worden. Diese Debatte ist zum Teil hilfreich, zum Teil aber auch überzogen und wird für andere Zwecke instrumentalisiert. Zuletzt wurde PISA vor allem sozialpolitisch diskutiert. "Bildung ist die soziale Frage des 21.Jahrhunderts", so heißt es. Das ist richtig. Zugleich gilt: Sozial ist, was Arbeitsplätze erhält beziehungsweise neu schafft. Bildung ist dabei ein wichtiges - wenngleich nicht das einzige - Vehikel zur Verbesserung von Chancen. Eine formal höhere Bildung kann individuelle Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern, sie verschärft aber zugleich den Konkurrenzkampf. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch wundert sich daher nicht zu Unrecht, dass manche Politiker auf Bildung setzen, dabei aber übersehen, dass nur eine Minderheit in den Genuss des Aufstiegs kommen könne.
Gleichwohl hat Bildung eine bedeutende soziale und eine mindestens gleichberechtigte personale Dimension. Bildung ist Zweck und Mittel der Persönlichkeitsentwicklung. Nur durch Bildung können sich Menschen zu mündigen Mitgliedern eines freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens entwickeln. Bildung sollte deshalb nicht zum bloßen Vehikel von Sozialpolitik werden. Höchst bedenklich wäre aber auch eine völlige Indienstnahme der Bildung durch die Wirtschaftspolitik, denn eine fortschreitende Ökonomisierung der Bildung könnte dazu führen, dass "unrentable" Bildungsangebote gerade zulasten sozial Schwächerer wegrationalisiert würden. Gleichheit versus Freiheit
Im Kontext mit PISA gibt es in Deutschland einen leidenschaftlichen Streit um Gerechtigkeit. Das ist zwar gut, aber nicht unproblematisch. Denn bei der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse gilt es zwei Prinzipien zu beachten: das Prinzip Gleichheit und das Prinzip Freiheit. In Reinform praktiziert, bedeutet Gleichheit Vereinheitlichung und Gleichmacherei; Freiheit pur bedeutet Überleben der Stärksten. Es kann also weder das eine noch das andere Paradigma einziger Maßstab sein. Denn Freiheit ohne Gleichheit wäre ein Laisser-faire-Libertarismus, und Gleichheit ohne Freiheit wäre Kollektivismus. Insofern kann es gerade in einem freiheitlich-demokratischen Rechts- und Sozialstaat immer nur um einen Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit gehen. Beide sind auf der Basis von Subsidiarität und Solidarität durchaus vereinbar, erst daraus erwächst Gerechtigkeit.
Das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit bleibt jedoch nicht aufhebbar: Sind die Menschen frei, dann wollen sie gleich sein; und sind sie gleich, so wollen sie frei sein. Deshalb gilt nach wie vor, was Goethe sagte: "Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane". Die Gefahr, die hinter der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit lauert, ist freilich, dass das Prinzip Freiheit schwieriger zu wahren ist. Bereits Alexis de Tocqueville hat 1835 warnend darauf hingewiesen: Freiheit erliege gern der Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse, während Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbiete. Am Ende sei den Menschen die Gleichheit in Knechtschaft lieber als die Ungleichheit in der Freiheit.
Bezogen auf Schulbildung lautet die Frage also: Soll ein Schulwesen am Prinzip Freiheit oder am Prinzip Gleichheit orientiert sein? Hier ist der Freiheit eindeutig der Vorrang zu geben, denn Gleichheit total wäre der Tod der Individualität. Und haben wir uns erst einmal der Gleichheit verschrieben, so fangen wir auch über Erziehung und Bildung an, Unterschiede abzuhobeln. Dem aber steht entgegen, was der Berliner Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth kürzlich in einem Interview zum Ausdruck brachte: "Die Beseitigung der Ungleichheit durch Bildung ist ein kollektives Missverständnis (...) Schule ist ein System der Erzeugung von Differenz und nicht von Gleichheit."
Die "conditio humana" kennt keine Gleichheit. Menschen kommen unterschiedlich auf die Welt. Wer völlige Chancengleichheit will, müsste sie entmündigen. Beim Start in die Bildungslaufbahn sollten -abgesehen von den Genen - alle die gleichen Chancen haben, gleiche Zielchancen kann es aber nicht geben. So äußert sich auch der Begabungsforscher Christopher Jencks, dessen Klassiker von 1972 "Inequality" betitelt ist (und der in Deutschland bezeichnenderweise unter dem Titel "Chancengleichheit" auf den Markt kam). Bereits bei Jencks findet sich auch die Feststellung: Chancengleichheit durch Bildung sei eine Illusion, denn selbst wenn Bildung am Ende gleichmäßig verteilt wäre, würden doch andere Unterschiede durchschlagen: familiäre Förderung, Begabung usw. Was den Faktor Begabung betrifft, so mag es heute politisch nicht mehr korrekt sein, davon zu sprechen. In manchen Diskussionen ist aus Begabung eine "vermeintliche Begabung" geworden. Wissenschaftlich haltbar ist eine solche Diktion nicht. Denn die Forschung hat seit mehreren Jahrzehnten eindeutig nachgewiesen, dass 70 Prozent des kognitiven Potentials durch Erbfaktoren bestimmt sind. Gerechtigkeits-Rhetorik
Gerade in Wahlkampfzeiten haben Bindestrich-Gerechtigkeiten Konjunktur: etwa Generationen-, Geschlechter-, Umwelt-, Leistungs-, Renten-, Einkommens- oder Verteilungs-Gerechtigkeit. In diesem Katalog nimmt die so genannte Bildungsgerechtigkeit seit etwa 2001 eine prominente Stellung ein. Obgleich der Zusammenhang zwischen Schulleistung und sozialer Herkunft keine neue Einsicht ist, erheben in der Folge manche Bildungspolitiker und Bildungsforscher - da es angeblich gerechter ist - die Forderung nach einem egalisierenden Bildungswesen. Was dabei unter dem Titel "Gerechtigkeit" implizit und explizit mit aufgelegt wird, mutet wie eine Verschwörungstheorie an: Akademiker würden Kinder von Nicht-Akademikern von höherer Bildung ausschließen und von höheren Bildungsabschlüssen abhalten wollen. Vertreter der oberen Dienstklassen hätten Angst vor einer nivellierenden Masse und legten deshalb Wert auf Exklusivität, auf Privilegienhierarchien, auf Status- und Kultur-Reproduktion, auf einen ausgrenzenden bürgerlichen Bildungskanon sowie auf die Monopolisierung spezieller materieller und kultureller Güter. Es wird zudem behauptet, PISA habe bewiesen, dass Bildung vom Geldbeutel der Eltern abhänge. Dabei hat PISA das Einkommen der Eltern gar nicht erfassen können, sondern nur das Vorhandensein "kultureller Besitztümer" (gemeint sind vor allem Bücher).
In solcher Rhetorik schwingt ein gewisser antibürgerlicher Affekt mit, der sich aus der Tatsache speist, dass Heranwachsende nun einmal einen Vorsprung haben, wenn sie über Distinktion, Lebensstil, Habitus und Bildungsehrgeiz verfügen. Hier wird gelegentlich sogar das Evangelium bemüht - konkret der so genannte Matthäus-Effekt: "Wer hat, dem wird gegeben. Wer aber nicht hat, vom dem wird genommen." Dass in der Bildung niemandem etwas genommen wird und - so er es denn hat - genommen werden kann, scheint dabei keine Rolle zu spielen.
Absolute Gerechtigkeit bleibt auch in Fragen von Erziehung und Bildung ein irrationales (metaphysisches) Ideal. In der Bildung kann es keine egalisierende Gerechtigkeit im Sinne eines "Jedem das Gleiche" geben, weil Individualität damit blockiert würde. Überhaupt geht es in der Bildung nicht um Verteilungsgerechtigkeit im Sinne von Chancenverteilung, sondern um Chancennutzung. Aber Chancen sind keine Garantien. Zu konkreten Optionen werden sie erst durch eigene Anstrengung. Die Menschen müssen Agenten ihrer eigenen Interessen sein können. Die Motivation dazu ist freilich zum Teil wiederum eine Frage der Schichtzugehörigkeit und der Bildung. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat dazu festgestellt: Selbst bei einer Inflation an höheren Bildungsabschlüssen bleiben traditionelle Privilegien bessergestellter Familien erhalten ("Bildungsparadoxon"). Auch eine Studie von 2007 zeigt, dass sogar eine Korrelation zwischen den Bildungsabschlüssen der Großeltern- und der Kindergeneration besteht. Das heißt: Viele Bildungsaufstiege sind über die Generationen hinweg nicht nachhaltig. Da Bildung per se kein knappes Gut ist, kann sie nicht den einen genommen und den anderen gegeben werden. Es ist zudem nicht vertretbar, die Chancen bestimmter Gruppen zu verbessern, indem man andere Gruppen bremst. Aus diesem Grund verbieten sich übrigens auch Quotierungen.
Zugleich gilt: Vermeintliche Gleichheit könnte allenfalls durch Absenkung des Anspruchsniveaus erzielt werden. Wer aber die Ansprüche senkt, der bindet gerade junge Menschen aus schwierigen Milieus in ihren "eingeschränkten Codes" fest. Derartige Gleichmacherei würde nur zu einer gefühlten Gerechtigkeit führen, nach dem Motto: Was nicht alle können, darf keiner können.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat dazu Bedenkenswertes festgestellt: Die Politik der Chancengleichheit erhöhe massiv den bürokratischen Aufwand, und sie sei zugleich illusionär, weil kein Bildungssystem imstande sei, Chancen nach Begabung und Leistung gerecht zu verteilen. Der Staat müsste, falls Chancengleichheit hergestellt werden solle, Chancen zuweisen und so Freiheiten beschneiden. Das Ergebnis wäre nicht mehr Gerechtigkeit für alle, sondern nur eine andere Verteilung mit neuen Benachteiligungen. Es gebe überhaupt nie gleiche Chancen, weil die Talente verschieden seien und die Ressourcen der Bildung sowohl genutzt als auch verpasst werden könnten. Schiefe internationale Vergleiche
Zur Frage sozialer Ungleichheiten im Bereich Bildung ist in PISA 2000 im internationalen Vergleich nachzulesen: "Es gelingt keinem Teilnehmerland, Schülerleistungen von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler zu entkoppeln (...) Die disparitätserzeugenden Effekte von familiären Strukturmerkmalen werden überwiegend durch die kulturelle Praxis von Familien vermittelt." Auch 2006 erreichten Schüler aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status tendenziell bessere PISA-Kompetenzwerte. Dieser Zusammenhang sei besonders eng in Tschechien, Luxemburg, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien, besonders gering in Kanada, Mexiko, Island, Finnland, Korea und Japan. Deutschland liegt hier im OECD-Mittelfeld. Am ausgeprägtesten ist die soziale Selektivität des Bildungswesens in Ländern mit flächendeckendem öffentlichem Einheitsschulsystem und kostspieligen Privatschulen. In Japan schicken zwei Drittel der Eltern ihre Kinder auf eine private Nachhilfeschule, oder sie heuern einen Privatlehrer an. In England, Frankreich und in den USA geben Eltern ihre Kinder auf eine Privatschule, sofern sie sich die zehn- bis dreißigtausend Euro Schulgeld pro Kind und Jahr leisten können.
Allein vor diesem Hintergrund trifft die Behauptung nicht zu, ein gegliedertes Schulwesen wie in Deutschland sei ein sozial besonders selektives Schulwesen. Soziale Selektivität gibt es eben in allen nationalen Schulsystemen. Dort, wo es sie auf dem Papier nicht gibt, werden Studienberechtigungen nahezu flächendeckend vergeben. Viele internationale Vergleiche der "Abitur- und Akademikerquoten" sind statistische Artefakte, denen - nach dem Prinzip "upgrading of certificates and downgrading of skills" - eine Gleichsetzung von Quote mit Qualität zugrunde liegt. Statistische Artefakte sind auch die Angaben über die so genannte "soziale Durchlässigkeit". Wenn zum Beispiel die Tochter eines finnischen Hafenarbeiters Krankenschwester wird, gilt sie - da mit Hochschulstempel ausgestattet - als Beleg für die ausgeprägte soziale Durchlässigkeit des dortigen Schulwesens; wenn in Deutschland die Tochter eines Fließbandarbeiters Krankenschwester wird, gilt sie - da ohne Hochschulstempel - als Beleg für die mangelnde soziale Durchlässigkeit des deutschen Bildungswesens.
Frankreich mag mit einer 80-prozentigen "Abitur"-Quote als besonders sozial durchlässig wahrgenommen werden. Staatspräsident Nikolas Sarkozy sieht das jedoch anders: Aus dem "collège unique" sei ein "collège inique" geworden. (Aus dem einheitlichen Collège sei ein ungerechtes Collège geworden.) Hintergrund für seine Klage ist die Tatsache, dass in Frankreich 65 Prozent der Studierenden ihr Studium abbrechen. Eine Quotenpolitik kann also nicht die Lösung sein. Denn dann müssten Frankreich mit 80 Prozent baccalauréat général und Italien mit 80 Prozent maturità viel reicher sein als Deutschland, das laut Statistischem Bundesamt eine Studienberechtigtenquote von 43Prozent hat (Stand: 2006). Zugleich müsste die Schweiz mit einer gymnasialen Maturitätsquote von knapp 20 Prozent und einer Berufsmaturitätsquote von 12 Prozent (vergleichbar mit FH-Reife) ein ärmeres Land als Deutschland sein. Ein wichtiges sozialpolitisches Kriterium wird ebenfalls häufig übersehen, nämlich das Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit. Hier haben oft sogar PISA-Vorzeigeländer mit Gesamtschulsystemen eine Quote von um die 20 Prozent - Finnland und Schweden etwa. In Ländern mit gegliederten Schulsystemen und dualer Berufsbildung dagegen sind es um oder unter zehn Prozent: in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Bildungsexpansion durch ein differenziertes Schulwesen
Chancengleichheit ist über das Bildungswesen nicht herstellbar. Daran ändert kein PISA-Schock etwas. Auch der so genannte Sputnik-Schock von 1957 hat in den USA trotz größter Anstrengungen nicht zu einer weitreichenden und nachhaltigen Mobilisierung von "Begabungsreserven" geführt. Falsch ist auch die Behauptung, durch die Integrierte Gesamtschule könne ein sozialer Ausgleich stattfinden. In einer Langzeitstudie von 2008 wurde nachgewiesen, dass der Besuch einer Gesamtschule keineswegs verbesserte soziale Aufstiegsmöglichkeiten schafft. Unabhängig von der besuchten Schulform zeigte sich zugleich, dass 25 Prozent der damaligen Neuntklässler zu höheren Abschlüssen gekommen sind, als es das Abschlussziel der zunächst besuchten Schulform war. Es gibt also keinen Abschluss ohne Anschluss. Zugleich bleibt für die vergangenen drei Jahrzehnte für Deutschland festzuhalten: Durch die Verlängerung der Pflichtschulzeit, durch mehr Beteiligung in höheren Bildungsgängen sowie durch sehr viele Schulgründungen gab es vielerlei positive Effekte, die den so genannten bildungsfernen Schichten zugute kamen. Wenn das deutsche Gymnasium immer nur die eigene Klientel reproduziert hätte, wie es manche Kritiker behaupten, dann hätte sich die Zahl der Gymnasiasten im gegliederten Schulwesen binnen 20 Jahren (von 1960 bis 1980) nicht um 150 Prozent erhöhen können. All dies sind Leistungen des herkömmlichen, gegliederten Schulwesens. Insgesamt gibt es in der Bundesrepublik heute rund 60 verschiedene Wege zu einer Hochschulreife. Die Anzahl der Hochschulen hat sich in 30 Jahren (von 1960 bis 1990) fast verdoppelt, die der Studentinnen und Studenten sogar versechsfacht.
Jedenfalls haben wir in Deutschland in den vergangenen Jahren eine eindeutige Entkoppelung von besuchter Schulform einerseits und dem höchsten formal erreichten Bildungsabschluss andererseits. Das heißt: Der Anteil der Studienanfänger, die nicht über den herkömmlichen Weg des Gymnasiums an die Hochschule kommen, ist immer größer geworden. In manchen Bundesländern hat er 50 Prozent überschritten und selbst in Bayern liegt er bei 44 Prozent. Nutznießer dieser Entwicklung sind vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten (kaum jedoch von Migranten). Gerade das berufsbildende Schulwesen in Deutschland bietet hier im Sinne vertikaler Durchlässigkeit nicht nur qualifizierte Ausbildung, sondern in erheblichem Maße Aufstiegsbildung. Allerdings findet trotz dieser Optionen oft immer noch eine Selbstselektion statt. Arbeiterkinder studieren, selbst wenn sie Abitur haben, zu einem geringeren Anteil als Kinder aus anderen Familien. Eine gerechte Schule ist eine Schule der Leistung
Zum Leistungsprinzip in der Schule gibt es keine gerechte Alternative. Wer es untergräbt, setzt zugleich eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht oder dergleichen die maßgeblichen Kriterien zur Positionierung eines Menschen im Gemeinwesen. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt: ein revolutionärer Fortschritt und die große Chance zur Emanzipation für jeden Einzelnen und jede Einzelne!
Auch Sozialstaatlichkeit ist nur mit dem Leistungsprinzip möglich. Ein simpler Beweis hierfür ist die Tatsache, dass 20 Prozent der besonders Leistungsfähigen für 70 Prozent des Steueraufkommens sorgen. Deshalb kann das Sozialprinzip auch nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden, da es kein Leistungssubstitut ist. Das Sozialstaatsprinzip ist allerdings ein ethisch gebotenes, dem Leistungsprinzip immanentes Korrektiv. Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit. Vielmehr ist nichts so ungerecht wie die gleiche Behandlung Ungleicher. Nur in totalitären Organisationen gibt es die eine, zeitlose Gerechtigkeit als Ausdruck einer - totalitären - Glückverheißung. Kinder und Jugendliche brauchen ein möglichst individuelles Anspruchs- und Herausforderungsniveau. Ein Einheitsanspruch aber würde individuelle Anstrengungsbereitschaft und Eigeninitiative bremsen. Was noch notwendig und möglich ist
Eine freiheitliche Gesellschaft muss mit Unterschieden leben. Soziale Unterschiede werden durch das Prinzip Solidarität abgepuffert. Es kann aber kein einklagbares Recht auf einen bestimmten Bildungsabschluss geben. Natürlich gibt es ein moralisches Recht auf Bildung. Damit muss freilich eine moralische Pflicht zur Bildung korrespondieren. Bildung und Wissen sind heute frei verfügbare Güter; Wissen hat zuletzt durch die neuen Medien (bei aller Problematik ihres Angebotsspektrums) eine Demokratisierung ohnegleichen erfahren. Bildung ist insofern kein Privileg mehr von wenigen. Man kann Bildungsabschlüsse jedoch nicht planwirtschaftlich-inflationär vergeben, und man kann niemanden zu echter Bildung zwingen. Bildungsbereitschaft staatlich anzuordnen wäre totalitär. Es kann also nur um Hilfe zur Selbsthilfe gehen und um eine Rückbesinnung darauf, dass die erste Bildungsverantwortung in der Familie liegt. Der Staat hat hinsichtlich des Bildungsangebots eine Bringschuld, die Eltern und ihre Kinder aber haben eine Holschuld. Wichtig ist es auch anzuerkennen, dass Fördern und Auslese zusammengehören. Leistung und Auslese sind zwei Seiten derselben Medaille. Auslese ist eine notwendige Voraussetzung für individuelle Förderung. Die antithetische Formel "Fördern statt Auslese" ist falsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung!
Eine Optimierung des Bildungsangebots im Interesse der sozial schwächeren Klientel ist gleichwohl möglich und ein Gebot der Fairness. Die Erziehungs- und Bildungsberatung muss in den Risiko-Populationen intensiviert werden. Damit kann ein Beitrag gegen die Selbstselektion dieser Familien geleistet werden. Vor allem muss es mehr als bisher gelingen, Angehörige bildungsferner Schichten im Falle eines entsprechenden Leistungsvermögens ihrer Kinder zum Besuch weiterführender Bildungseinrichtungen zu motivieren. Des Weiteren müssen dem Kindergarten und der Vorschule mehr Bedeutung beigemessen werden. Ohne die institutionalisierte frühkindliche Förderung überschätzen zu wollen - es ist notwendig, dass der (kostenfreie) Besuch des Kindergartens stärker auf Bildung als auf Betreuung ausgerichtet wird. Gerade für Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern ist ferner eine rechtzeitige Einschulung notwendig. Würden diese Kinder zu lange von der Schule zurückgestellt, blieben ihnen in prägenden Phasen wichtige Anregungen vorenthalten. Darüber hinaus sollten Schulen mit besonderen sozialen Problemlagen bevorzugt für die Jugendsozialarbeit geöffnet und als Ganztagsschulen betrieben werden. Für Risikoschüler, die im ersten "Anlauf" zu keinem Schulabschluss gekommen sind, sollte es außerdem die Chance eines zweiten "Anlaufs" geben.
Da Bildungsarmut vor allem männlich und multiethnisch geprägt ist, bedarf es schließlich speziell für diese Klientel zusätzlicher schulischer, vor allem sprachlicher Fördermaßnahmen. Notwendig ist aber auch eine Ordnungspolitik, die sanften Druck auf Eltern ausübt, damit ihre Kinder das vorhandene Bildungsangebot tatsächlich wahrnehmen. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) lag in dieser Hinsicht wohl nicht ganz falsch (und das gilt auch für so manches deutsche Elternhaus), als er im Sommer 2007 mit Blick auf Schulschwänzer mit Migrationshintergrund das Streichen von Kindergeld vorschlug: "Wenn ein Vater merkt, dass ihm 300 Euro fehlen, wenn Ayse und Murat nicht zur Schule gehen, haben die das letzte Mal geschwänzt."
Zum Schluss: Auch in der Bildungs- und Sozialpolitik sollte wieder vermehrt das Subsidiaritätsprinzip gelten. Die Bürger müssen die ihnen gebotenen Chancen eigenverantwortlich nutzen, bevor der Staat eingreift. Darüber hinaus sind - so ein Postulat von John Rawls - soziale Ungleichheiten so zu gestalten, dass sie jedermanns Vorteil dienen. Insofern kann Ungleichheit gerecht sein - nämlich dann, wenn das Handeln von Eliten zu einem Mehrwert führt. Auch aus diesem Grund dürfen die Stärkeren nicht gebremst werden, denn man macht die Schwächeren nicht stärker, indem man die Stärkeren schwächt. Den Mitgliedern einer Gesellschaft, auch den gutsituierten, ist eine Kultur des Respekts gegenüber jedermann abzuverlangen - auch gegenüber den Klienten des Sozialstaates. Der Mensch beginnt schließlich nicht erst mit Abitur ein Mensch zu sein.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), vom 16.9. 2008.
Vgl. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart 1971; diess., Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1997; Marek Fuchs/Michaela Sixt, Zur Nachhaltigkeit von Bildungsaufstiegen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 59 (2007) 1, S. 1-29.
Vgl. Friedrich A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971; ders., Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg 1981.
Vgl. Helmut Fend u.a., LifE - Lebensläufe ins frühe Erwachsenenalter, Wiesbaden 2008.
1960: 131 Hochschulen/0,29 Millionen Studierende; 1990: 248/1,58 Millionen; heute: 360/2,26 Millionen. Vgl. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.), Grund- und Strukturdaten 1974; Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.), Grund- und Strukturdaten 2003/2004; dies. (Hrsg.), Grund- und Strukturdaten 2007/2008, in: http://gus.his.de/gus/download.html (10.11. 2008).
Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975.
Vgl. Richard Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin 2002; ders., Handwerk, Berlin 2007.
| Article | Kraus, Josef | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30799/bildungsgerechtigkeit-essay/ | Bildung ist kein knappes Gut, das den einen genommen und den anderen gegeben werden kann. Chancen bestimmter Gruppen zu verbessern, indem man andere bremst, verbietet sich daher. | [
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Sprache und Sprachlenkung im Nationalsozialismus | Sprache und Politik | bpb.de | In seiner programmatischen Schrift 'Mein Kampf' (zuerst in 2 Bänden 1925/26 erschienen) charakterisierte Hitler die Ideologie des Nationalsozialismus als - wie er sie nannte - Weltanschauung unmissverständlich: "Denn die Weltanschauung ist unduldsam und kann sich mit der Rolle einer 'Partei neben anderen' nicht begnügen, sondern fordert gebieterisch ihre eigene, ausschließliche und restlose Anerkennung sowie die vollkommene Umstellung des gesamten öffentlichen Lebens nach ihren Anschauungen."
Als eine der schärfsten Waffen im Kampf um "die restlose Erfassung aller Deutschen mittels der nationalsozialistischen Aufklärung und Lehre [d. h. der Propaganda] in der Partei und im Anhängerkreis ..." , sah er eine für alle verbindliche, einheitliche Parteisprache an. So wurde etwa nach dem Machtantritt der Nazis in Berlin ein Unterricht für Gymnasiasten eingerichtet, der neben der NS-Ideologie und den NS-Politikern vor allem die regierungsoffizielle Terminologie behandelte. Dabei sollten parteiorganisatorische Bezeichnungen bekannt gemacht, und - als ideologisches Ziel - festgelegte Interpretationen, Definitionen und Wertungen in der öffentlichen Sprache und schließlich in der Allgemeinsprache überhaupt durchgesetzt werden. Das Ziel formulierte Goebbels nach der Errichtung des "Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda" (15.3.1933) vor der Presse kurz und bündig so: "Das Volk soll anfangen, einheitlich zu denken, einheitlich zu reagieren ..."
Natürlich gab es in der Politik schon immer Versuche, mittels verzerrender Sprache, durch selektive, schönrednerische oder verhüllende Information die öffentliche Meinung zu manipulieren, öffentliche Kritik zu unterdrücken oder zu tabuisieren. Der NS-Staat aber brachte als totalitäres Regime sämtliche Informationsmedien unter seine Kontrolle - mit dem Ziel der totalen propagandistischen Durchdringung der Bevölkerung, wie es Hitler schon in 'Mein Kampf' gefordert hatte. Abgesehen von den meist von NS-Funktionären verfassten Wörterbüchern, die 1933 in großer Zahl herauskamen (zum Beispiel das 'Politisches ABC des neuen Reiches', 'Das ABC des Nationalsozialismus' oder das 'Taschenwörterbuch des Nationalsozialismus') wurden daher alle neu erscheinenden, aber auch bestehende Wörterbücher und Enzyklopädien den ideologischen Anforderungen des Dritten Reichs angepasst.
Progpaganda in Wien, 1938 (© AP)
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Ein besonders prägnantes Beispiel ist die 8. Auflage von 'Meyers Lexikon' (1936-1942). In der 1976 erschienenen Verlagsgeschichte des Bibliographischen Instituts in Leipzig nennt Heinz Sarkowski diese Enzyklopädie ausdrücklich das "parteiamtliche Lexikon". Anfangs wurden dessen Artikel von der Parteiamtlichen Prüfungskommission (PPK) nur zensiert, später lieferte die PPK selbst zu bestimmten Stichwörtern vollständige Artikel, an denen nichts geändert werden durfte. "Aber nicht selten änderte sie [d. h. die PPK] auch ihre Meinung. So mussten einige Male in gebundenen Büchern noch nachträglich einzelne Blätter ausgewechselt werden."
Ein anderes Beispiel: Vergleicht man die Duden-Auflagen vor 1933 mit den Auflagen von 1934 und 1941, so zeigt sich eine markant zunehmende Anzahl neu aufgenommener NS-Vokabeln. In der 11. Auflage von 1934 waren es 180 (wie z. B. Arbeitsfront, Arbeitslager, aufnorden, Deutscher Gruß, Deutsches Jungvolk) und in der 12. Auflage von 1941 bereits 883. Viele neue Einträge (wie etwa Rassenschande, Vierteljude, Volljude, Volksgenosse, Volksschädling) wurden bereits in der 1. Nachkriegsauflage von 1948 wieder getilgt. Andere Wörter wie vollelterig oder deutschvölkisch verschwanden erst in der 14. Auflage von 1957, Volksfremd und auswuchern (durch Wucher ausbeuten) erst in der 15. Auflage im Jahr 1961.
Welche Bedeutung die Nationalsozialisten der Beeinflussung durch die NS-konforme Terminologie beimaßen, erhellt die Tatsache, dass Goebbels auch in den besetzten Gebieten das NS-Vokabular mit Hilfe von Wörterbüchern verbreiten wollte. Am 12. Februar 1942 schrieb er in sein Tagebuch: "Ich veranlasse ... Wörterbücher für die besetzten Gebiete, die ... vor allem eine Terminologie pflegen, die unserem modernen Staatsdenken entspricht. Es werden dort vor allem Ausdrücke übersetzt, die aus unserer politischen Dogmatik stammen. Das ist eine indirekte Propaganda, von der ich mir auf die Dauer einiges verspreche."
Im Jahr 1933 besaßen die Nazis die direkte Kontrolle über 121 von insgesamt ca. 4.700 Zeitungen, 1934 waren es 434 von nur noch 1.402 Zeitungen. 3.298 Zeitungen waren innerhalb nur eines Jahres verschwunden, verboten, abgewickelt oder in vorauseilender Selbstzensur aufgelöst worden.
Zur Vereinheitlichung der Nachrichtengebung, zur inhaltlichen Kontrolle, aber auch zur Normierung der Nachrichtenformulierung in den verbliebenen Zeitungen gab es die "Anweisungen der Pressekonferenz der Reichsregierung des Dritten Reichs". Diese wurden auf der täglich stattfindenden Pressekonferenz in Berlin von den Korrespondenten mitgeschrieben und an die Heimatredaktionen weitergegeben. Zeitungen ohne eigenen Korrespondenten erhielten das offizielle Protokoll über die Gaupropagandaämter. Goebbels persönlich überwachte das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB), das als einzige Agentur von Bedeutung übriggeblieben war. Obwohl häufig in verbindlichem Ton formuliert, mussten die Presseanweisungen, auch die über die Einführung oder Zurückziehung von Schlagwörtern und Parolen, über den Gebrauch oder Nichtgebrauch von Ausdrücken, streng beachtet werden. Andernfalls machte sich der verantwortliche Journalist strafbar, und die betreffende Zeitung konnte wegen Landesverrats für einen Tag, eine Woche oder länger, oder auch ganz verboten werden. Einige unsystematisch herausgegriffene Beispiele mögen die Sprachregelung durch Presseanweisungen illustrieren: Immer wieder lässt die NSDAP darauf hinweisen, dass bestimmte Bezeichnungen für die Partei und den Nationalsozialismus reserviert sind und nur in diesem und keinem anderen Bezug gebraucht werden dürfen:
"Die tschechischen Nationalsozialisten sollen in Zukunft als tschechische Volkssozialisten bezeichnet werden." (7.1.1938) "Die deutsche Presse wird auch General Antonescu nicht den Titel Staatsführer oder Führer geben, er bleibt für uns Ministerpräsident". (6.10.1940) "Der Begriff Parteigenosse ist nur für die NSDAP." (8.3.1943) "Die Worte Parteitag und Kongress sind für die NSDAP." (1940) "Die Bezeichnung Feierstunde und Morgenfeier sind ausschließlich für die Partei vorbehalten." (16.2.1942) "Kampfflugzeuge nur für die deutschen Flugzeuge ..."(14.8.1941) "tapfer nur für deutsche Soldaten." (11.9.1939)
Wichtige Hochwertwörter der nationalsozialistischen Weltanschauung durften nicht profaniert werden:
"Es ist unzulässig, mit dem Stichwort Rasse Propaganda für einen modernen Hut zu machen." (14.1.1937) "Die Formulierungen katholisches Volk, Kirchenvolk, evangelisches Volk sind unbedingt zu vermeiden. Es gibt nur ein deutsches Volk." (11.8.1936) "Es wird gebeten, das Wort Propaganda nicht missbräuchlich zu verwenden. Propaganda ist im Sinne des neuen Staates gewissermaßen ein gesetzlich geschützter Begriff und soll nicht für abfällige Dinge Verwendung finden. Es gibt also keine Greuelpropaganda, keine bolschewistische Propaganda, sondern nur eine Greuelhetze, Greuelagitation, Greuelkampagne usw. Kurzum – Propaganda nur dann, wenn für uns, Hetze, wenn gegen uns." (28.7.1937)
Gebäude des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda am Wilhelmplatz in Berlin. (© Bundesarchiv, Bild 146-1985-013-24 / Fotograf: Otto Hagemann)
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Als 1938 die tödlichen Schüsse des 17–jährigen Herschel Grünspan auf den Botschaftssekretär Ernst Eduard vom Rath zum Vorwand genommen wurden für die beispiellosen Gewaltexzesse des organisierten Novemberpogroms gegen die Juden, nahm Goebbels die Steuerung der Presseberichtersterstattung über die barbarischen Ereignisse am 9./10. November selbst in die Hand. Goebbels selbst war es, der mit Zustimmung Hitlers durch eine hetzerische Hassrede gegen die Juden die von der SA organisierten Terroraktionen in Gang gesetzt hatte. Nun aber wollte er die Verhaftung Zehntausender Juden, die Verschleppung in Konzentrationslager, die brutalen Gewalttaten, die eine unbekannte Zahl von Menschen das Leben kosteten, das Niederbrennen der Synagogen, die Demolierung Zigtausender von Geschäften, die Verwüstung von Wohnungen und die Zertrümmerung ungezählter Fensterscheiben als Ausdruck der spontanen Volkswut erscheinen lassen.
Die entsprechende Presseanweisung vom 10. November 1938 lautet: "Meldungen ueber Vergeltungsmaßnahmen gegen Juden dürfen nur in DNB-Fassung gebracht werden." Die DNB-Meldung, die am folgenden Tag in der gesamten Presse an herausgehobener Stelle erschien, hatte den Text: "Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen Meuchelmord an einem Diplomaten in Paris hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichen Maße Luft verschafft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen. Es geht nun an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen ..."
In einer weiteren Presseanweisung legte der Propagandaminister ergänzend fest: "Wenn Kommentare noetig sind, sollen sie nur kurz sein und etwa sagen, dass eine begreifliche Empoerung der Bevoelkerung eine spontane Antwort auf die Ermordung des Gesandtschaftsrates gegeben habe."
Tatsächlich findet man in der Presse, in allen Publikationen bis zu den "Geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS" , immer nur die 5 oder 6 genehmigten Vokabeln (Vergeltungsmaßnahmen, Aktionen gegen die Juden, Demonstrationen, spontane Antwort, begreifliche Empörung, Protestaktionen oder Zusammensetzungen daraus: Vergeltungs-, Juden-, Demonstrations--, Empörungs-, Spontanaktionen, -maßnahmen). Für die umstrittene Bezeichnung Reichskristallnacht gibt es im Übrigen keinen zeitgenössischen schriftlichen Beleg. Sie war offenbar ein Element der inoffiziellen mündlichen Sprache.
Auch die sprachlichen Äußerungen von Parteigrößen und selbst Hitlers 'Mein Kampf' wurden von den regulierenden Maßnahmen zur ideologischen Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs nicht ausgenommen. Eine Presseanweisung vom 1. September 1934 etwa ordnet an: "Das Wort des Ministerpräsidenten Göring Das deutsche Volk muß ein Volk von Fliegern werden soll aus außenpolitischen Gründen aus der deutschen Presse verschwinden." In einer Anweisung vom 6. März 1941 wird ausgeführt: "In der Ley-Rede in Leipzig kam der Satz vor: Recht ist allein, was der Nation nutzt. Ein anderes Recht gibt es nicht. In einem Augenblick, wo wir uns um die Neuordnung Europas im Sinne einer höheren Gerechtigkeit bemühen, sind derartige Wendungen gefährlich und müssen unterbleiben. Alle deutschen Schriftleiter werden vom Reichspressechef auf ihre nationale Verantwortlichkeit bei der Weitergabe außenpolitischer Redewendungen erinnert. Auch wenn solche Dinge in DNB-Meldungen, Redewiedergaben usw. stehen, müssen sie ausgemerzt werden. Jeder deutsche Schriftleiter ist dem Reichspressechef für diese Sorgfalt verantwortlich. Es kann also in Zukunft in Reden herumgestrichen werden."
In Hitlers 'Mein Kampf' zählt Hermann Hammer allein 2.294 Änderungen von der 1. Auflage 1925/27 bis zur 6. Auflage 1930/33 – weitere Änderungen folgten bis zur letzten Auflage. Die Änderungen dienten der stilistischen Glättung, kleinen sachlichen Korrekturen, aber auch der Anpassung von bestimmten Textstellen an den ideologisch definierten NS-Sprachgebrauch. Ein Beispiel: Erst in der 820. Auflage von 1943 – zur Zeit der Judenvernichtung – erhält ein bis dahin unverändert gebliebener hasserfüllter Satz über die Juden in Russland eine neue Fassung. Da wo vorher von 'fanatischer Wildheit' die Rede war heißt es nun: "Das furchtbarste Beispiel bietet Rußland, wo er [der Jude] an 80 Millionen Menschen in wahrhaft satanischer Wildheit ... töten und verhungern ließ." Die Tatsache, dass Fanatismus im Dritten Reich zur höchsten Qualifikation eines Nationalsozialisten geworden war, ließ eine Anpassung auch des Hitlertextes als opportun erscheinen.
Es wird erkennbar, dass die nationalsozialistische Sprachlenkung durch die Festlegung der Gebrauchsweisen von Wörtern, Schlagwörtern und Slogans auf eine einzige Bedeutung eine Einheitssprache schaffen wollte, die konkurrierenden Meinungen und Interpretationsweisen (W. Dieckmann) das Wort abschnitt, so dass Gegenmeinungen und Gegenargumente in der Öffentlichkeit nicht mehr vernehmbar waren.
Es ist allerdings zu beachten, dass einer solchen Sprachbeeinflussung von oben das begeisterte Mitgehen der Überzeugten, die Anpassungsbereitschaft der Opportunisten, die Echohaftigkeit der Unreflektierten, das Unauffälligkeitsstreben der Ängstlichen, die Camouflage der Abseitsstehenden entgegenkam. Wobei allerdings auch zu berücksichtigen ist, dass öffentliche Kritik oder durch Denunziation öffentlich gewordene private Kritik unter vorher nicht kalkulierbaren Umständen tödlich sein konnte.
Progpaganda in Wien, 1938 (© AP)
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Gebäude des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda am Wilhelmplatz in Berlin. (© Bundesarchiv, Bild 146-1985-013-24 / Fotograf: Otto Hagemann)
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"Schlussrede vom "Reichsparteitag der Freiheit", 1935 . In: Die Reden Hitlers am Parteitag der Freiheit 1935. München o. J., S. 15/16.
"Vgl. C. Müller: Politik u. Kommunikation, München 1975, S. 37.
"W. Ranke: Propaganda. In: Enzyklopädie d. Nationalsozialismus. Hg. W. Benz u. a., München, 2. Aufl. 1998, S. 42.
"H. Sarkowski: Das Bibliographische Institut. Verlagsgeschichte u. Bibliographie 1826-1976, München u. a., 1976, S. 156 ff.
"E. Fröhlich, Hg.: Die Tagebücher v. Joseph Goebbels. Teil II. Bd. 3. München 1994, S. 292.
"NS-Presseanweisungen d. Vorkriegszeit. Edition u. Dokumentation. Hg. Hans Bohrmann. Bearb. G. Toepser-Ziegert 1933-1937, K. Peter 1937-1939, Register C. Bartels. Vorwort E. Sänger, München 1984-2001.
"Presseanweisungen ab 1939 s. R. Glunk: Erfolg u. Mißerfolg d. nationalsozialistischen Sprachlenkung. In: Zeitschr. f. dt. Sprache 22/1966-27/1971.
"In: NS-Presseanweisungen d. Vorkriegszeit, Bd. 6/III, Nr. 3204.
"In: NS-Presseanweisungen d. Vorkriegszeit, Bd. 6/III, Nr. 3204.
"Bd. 6/III, Nr. 3209
"Meldungen aus d. Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte d. Sicherheitsdienstes d. SS. Hg. u. eingel. v. Heinz Boberach, 17 Bde. Herrsching 1984.
"ZSg. 101/4, Nr. 704, 1.9.1934, Slg. Brammer, Bundesarchiv Koblenz.
"ZSg. 101/19, Nr. 727 TP, 6.3.1941, Slg. Brammer, Bundesarchiv Koblenz.
"Die deutschen Ausgaben von Hitlers 'Mein Kampf'. In: Vierteljahresh. f. Zeitgesch., 4. Jg., 1956, Nr. 2, S. 161-178.
| Article | Cornelia Schmitz-Berning | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-11-24T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/sprache-und-politik/42752/sprache-und-sprachlenkung-im-nationalsozialismus/ | Das Ziel der Nationalsozialisten war die Kontrolle und vollständige Durchdringung der Gesellschaft zur Festigung ihrer totalitären Herrschaft. Doch wie nutzten sie dabei die Sprache als politisches Instrument? | [
"Sprache",
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"Nationalsozialismus",
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Carl Schröter (CDU) | Grundgesetz und Parlamentarischer Rat | bpb.de | Im Parlamentarischen Rat
Foto: Haus der Geschichte / Bestand Erna Wagner-Hehmke
Im Sommer 1948 wird Carl Schröter vom Schleswig-Holsteinischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt. Er betätigt sich hauptsächlich im Ausschuss für Wahlrechtsfragen. Zudem ist er Mitglied im Ausschuss für Organisation des Bunds sowie Verfassungs-gerichtshof und Rechtspflege und nach dessen Teilung im Ausschuss für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege.
Neben dem CSU-Abgeordneten Gerhard Kroll zählt er innerhalb seiner Fraktion zu den Hauptverfechtern eines einfachen Mehrheitswahlrechts. Allerdings zeigt sich Schröter durchaus kompromissbereit und sucht vor allem eine Verständigung mit den Freien Demokraten und deren Wahlrechtsexperten Max Becker. Über gute persönliche Kontakte verfügt er auch zu Rudolf Katz (SPD), Justizminister von Schleswig-Holstein und ebenfalls Mitglied im Parlamentarischen Rat. Katz teilt mit Schröter dessen Ablehnung gegen ein reines Verhältniswahlsystem.
Indessen tritt Schröters Einfluss in Wahlrechtsfragen mit dem Fortgang der Beratungen im Parlamentarischen Rat zurück. Denn es setzt sich die Tendenz durch, die Frage des Wahlsystems zum Bestandteil eines allgemeinen Verfassungskompromisses zu machen, in den es zahlreiche weitere strittige Fragen einzubeziehen gilt.
Biografie
Geboren am 29. Mai 1887 in Neustadt (Holstein), gestorben am 25. Februar 1952 in Kiel, evangelisch-lutherisch.
1907-1912 Studium der klassischen Philologie und Geschichte an den Universitäten Kiel und Halle-Wittenberg. Nach der Referendarzeit 1918 Eintritt in den gymnasialen Schuldienst in Kiel, ab 1922 als Studienrat an der Höheren Marinefachschule für Verwaltung und Wirtschaft in Kiel-Wik tätig. 1918 Beitritt zur Deutschen Volkspartei (DVP). 1924-1928 Abgeordneter des Preußischen Landtags.
1933 Beurlaubung von der bisherigen beruflichen Tätigkeit, später Versetzung in den Ruhestand. In der Folgezeit Privatlehrer für Fremdsprachen.
Carl Schröter zählt nach dem Zweiten Weltkrieg in Schleswig-Holstein zu den treibenden Kräften einer antisozialistischen bürgerlichen Sammlungsbewegung. Anfang 1946 Gründer und Erster Vorsitzender der Demokratischen Union, die wenig später in der CDU Schleswig-Holstein aufgeht. Er übernimmt auch hier den Landesvorsitz, den er im Juni 1951 niederlegt. 1947-1950 Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtags und Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion. 1947-1948 Mitglied des Zonenbeirats.
1949-1952 Mitglied des Deutschen Bundestags, seit Anfang 1950 einer von drei Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. 1950 in Schleswig-Holstein maßgeblich am Zustandekommen des Deutschen Wahlblocks aus CDU, FDP und DP beteiligt, der zusammen mit dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) im Sommer 1950 die SPD-Landesregierung ablöst.
Nachlass: Nicht bekannt.
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Foto: Haus der Geschichte / Bestand Erna Wagner-Hehmke
| Article | Prof. Dr. Erhard H.M. Lange | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-11-06T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nachkriegszeit/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39138/carl-schroeter-cdu/ | [
"Unbekannt (5273)"
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Bildung der Jugend für den digitalen Wandel. Kompetenzanforderungen, Ressourcen, Potenziale | Bildung und Digitalisierung | bpb.de | Wenn angesichts der Digitalisierung, die als Chiffre für einen gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozess genutzt wird, eine "digitale Bildung" gefordert wird, mutet das wie ein logischer Schluss an. Es wirft aber auch die Frage auf, ob dieser nicht gleichermaßen trivial ist. Denn wenn die fortschreitende Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalen Medien zur Folge hat, dass auch im Bildungsbereich digitale Medien genutzt werden sollen, dann steckt darin weder ein bildungstheoretischer Anspruch noch eine Innovation im Kontrast zu den bildungstechnologischen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte, wie beispielsweise E-Learning, virtuelle Klassenzimmer oder Blended Learning, also die didaktisch aufbereitete Kombination von On- und Offline-Lernphasen. Mit all diesen Ansätzen wurden ebenfalls Hoffnungen auf verbesserte Lehr- und Lernformen verbunden. Ausstattungsoffensiven sind natürlich unverzichtbar, damit im Bildungsbereich der digitale Wandel konstruktiv gestaltet werden kann. Eine noch näher zu präzisierende "digitale Bildung" muss aber wesentlich mehr umfassen. Im Folgenden wird reflektiert, welchen Beitrag die Förderung von Medienkompetenz hierzu leisten kann und welche Konzepte hilfreich sein können, nicht nur die digitale Kommunikation, sondern vielmehr die Verwobenheit gesellschaftlicher Entwicklungen mit digitalen Technologien als Bildungsinhalte aufzugreifen.
Um aktuell diskutierte Konzepte für eine Bildung in der digitalen Welt einordnen zu können, ist die vom Pädagogen Manuel Rühle kürzlich in den Diskurs eingebrachte ideen- und sozialgeschichtliche Reflexion des Bildungsbegriffs hilfreich. Demnach wohnt "Bildung" eine Dialektik inne, die bis heute nicht aufgelöst ist. Der Begriff verweist einerseits darauf, "den einzelnen Menschen zu vernünftiger Selbstbestimmung zu befähigen", die sich in einem "reflektierten Umgang mit sich selbst, der Welt und seinen Mitmenschen" ausdrückt. Bildung hat dieses Ziel dann jenseits einer Verengung auf die Nützlichkeit der Bildungsinhalte zu verfolgen. Andererseits ist im Bildungsbegriff auch ein Verfügbarmachen der Individuen für gesellschaftliche Zwecke enthalten, in der Regel als Arbeitskräfte. Dies wird in Verweisen auf die Ausbildungsfähigkeit oder auf zukünftig am Arbeitsmarkt benötigte Kenntnisse und Fertigkeiten erkennbar, die die Auswahl von Bildungsinhalten, zu vermittelnden Schlüsselqualifikationen oder Kompetenzen begründen. Im Kontrast zu den reflexiven Zugriffen auf Selbst- und Weltverhältnisse stehen hier mithin primär konkret nutzbare Inhalte im Fokus. Rühle beschreibt dies als "lebenslange Selbstanpassung im Dienste der Ökonomie" – ein Aspekt, auf den nochmals zurückzukommen sein wird.
Angesichts von gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen stellt sich die Frage, welche Kompetenzen in der digitalen Welt für eine selbstbestimmte Lebensführung wie auch für eine auskömmliche Teilhabe am Arbeitsleben hilfreich sein werden. So findet sich ein Spektrum an Studien und Modellen, die teils klar umrissene und für bestimmte Berufsfelder wie etwa die Soziale Arbeit als relevant erscheinende Anwendungsbereiche digitaler Medien oder Dienste in den Fokus nehmen. Andere hingegen fokussieren nicht auf berufsspezifische Anwendungsbereiche, sondern leiten die relevanten Kompetenzanforderungen allgemeiner her. Auffällig ist allerdings mit Blick auf diese Dokumente, dass oftmals die sozialen und gesellschaftlichen Folgen des digitalen Wandels, auf die sich die Kompetenzanforderungen beziehen, nicht explizit oder differenziert ausgeführt werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Fake News zwar als Erscheinung der aktuellen Medienlandschaft herausgegriffen und als Lerngegenstand benannt werden, ohne sie aber über diese Ebene hinaus zu analysieren und in den grundlegenden Wandel von politischer Kommunikation einzuordnen.
Lebensweltliche Kompetenzanforderungen
Als Kompetenz wird gemeinhin die Fähigkeit verstanden, Lösungen für aktuelle Herausforderungen in der Lebensführung zu finden. Ein zentraler Bereich, in dem Digital- beziehungsweise Medienkompetenz gefordert ist, ist folglich der lebensweltliche Umgang mit digitalen Medien und Systemen. Aufwachsen heißt heute auch immer: Aufwachsen mit digitalen Medien. Kinder und Jugendliche kommen von Geburt an mit digitalen Medien in Kontakt, bei ganz unterschiedlichen Tätigkeiten sind digitale Medien unverzichtbar. Sei es Kommunikation, Information oder Unterhaltung – in all diesen Bereichen nehmen digitale Medien und Dienste eine wichtige Rolle im Leben von Kindern und Jugendlichen ein. Und gerade im Jugendalter werden das Smartphone und Online-Dienste unverzichtbar für einen Großteil der Heranwachsenden.
In dieser Altersgruppe sind digitale Medien und Apps wie Whatsapp oder Instagram eng verknüpft mit der sozialen Kontaktpflege. Hieraus erwachsen eine Reihe von Herausforderungen, mit denen die Jugendlichen umgehen müssen: Seien dies selbst- und sozialverantwortliche Entscheidungen bei der Selbstdarstellung im Internet oder bei der Veröffentlichung persönlicher Informationen anderer, sei es der sozialkompetente Umgang mit Konflikten, sei es der Impuls, möglichst häufig das Smartphone auf neue Nachrichten zu überprüfen – ein Phänomen, dessen englische Bezeichnung "FOMO" (fear of missing out) die dahinterliegende Motivlage beschreibt. FOMO eignet sich zugleich besonders zum Hinweis auf Bestandteile wie Benachrichtigungsfunktionen und ihren Beitrag dazu, die jeweils genutzten Geräte und Apps möglichst häufig aus der subsidiären in die fokale Beanspruchung zu rücken, die Aufmerksamkeit also auf die Dienste zu steuern. Mit dieser Funktion fördern und bedienen Geräte und Apps die zunehmende Bedeutung medienvermittelter Kommunikation im Alltag von Jugendlichen und Familien, befördern aber auch im eigenen Interesse möglichst viele Interaktionen, die wiederum für die Finanzierung der Angebote relevant sind. So wird deutlich, dass FOMO nicht allein in einer mangelnden Impulskontrolle von Jugendlichen begründet liegt, sondern vielmehr in soziale, mediale und ökonomische Zusammenhänge eingebunden ist. In Bildungsprozessen sind ebendiese immer auch zu thematisieren, um die Selbst- und Weltverhältnisse so reflektieren zu können, dass die Rahmenbedingungen für Selbstbestimmung möglichst weitgehend erfasst werden.
Entsprechend der großen Bedeutung von digitalen Medien im Alltag von Jugendlichen gilt Medienkompetenz nach wie vor als zentral für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen bezüglich des digitalen Wandels. Dabei erweist sich, dass einige der bereits etablierten Modelle viele relevante Bereiche adressieren und entsprechend adaptiert werden können. So kann die Fassung von Medienkompetenz nach Bernd Schorb und Helga Theunert auf aktuelle Phänomene des Medienhandelns übertragen werden und dabei eine Orientierung für die Bildungsarbeit liefern.
Dem Modell zufolge umfasst Medienkompetenz zunächst in der Dimension Wissen instrumentelle Fertigkeiten der Anwendung, um die Mediengeräte und Dienste nutzen zu können. Überdies ist analytisches Wissen notwendig, um die Inhalte und Darbietungsformen einschätzen und angemessen interpretieren zu können. So finden sich beispielsweise auf Youtube oder bei der Videoapp Tiktok teils neue, angebotsspezifische Genres, die aber immer auch auf kulturelle Vorläufer verweisen. Kenntnisse zu Skriptsprachen und Inszenierungsformen sind daher hilfreich, um die Inhalte verstehen und einordnen zu können. Außerdem weist Schorb auf das Strukturwissen hin, womit die technischen und ökonomischen Strukturen adressiert sind, die hinter den Angeboten stehen. Damit ist bei Online-Medien das Wissen über die Organisationsstruktur des Internets und die technischen Funktionsweisen der Datenübertragung ebenso impliziert wie Geschäftsmodelle und ökonomische Verflechtungen von Anbietern und beteiligten Konzernen. Dies ermöglicht die Einschätzung, nach welchen Prinzipien Inhalte sichtbar werden können, welche Interessen mit der Bereitstellung von Angeboten verfolgt werden und welche Möglichkeiten der Partizipation real gegeben sind. Dies muss korrespondieren mit der Reflexion der Medienerfahrungen und -phänomene auf die eigene Person, unter anderem im Hinblick auf Wirkungen, Erwartungen und die Form, wie man selbst in den Angeboten aktiv werden kann. Dies ist eng verbunden mit einer medienbezogenen Reflexion und sowohl ethischen als auch ästhetischen Beurteilung der Inhalte und Angebotsformen, die wiederum mit einer gesellschaftsbezogenen Reflexion in Verbindung steht. Bei dieser sind unter anderem Fragen danach zu stellen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen vorangetrieben werden, welche sozialen Folgen mit der Nutzung der spezifischen Angebote verbunden sein können und vor allem wie diese aus einer sozialethischen Perspektive bewertet werden.
Wissen und Reflexion bieten demnach die Grundlage für eine eigene Positionierung in Bezug auf die Medien und die dritte Dimension des Modells: das Handeln mit Medien zur verständigungsorientierten Kommunikation, zur Erstellung eigener Artikulationen sowie auch zur gesellschaftlichen Partizipation. Gerade hinsichtlich des Medienhandelns kann abgeleitet werden, dass nicht die Tatsache allein, dass junge Menschen Medien nutzen, bereits ein Hinweis auf ihre diesbezügliche Kompetenz ist. Kompetenz zeigt sich vielmehr als eine Qualität des Umgangs.
Für eine Vielzahl an Medienphänomenen, die mit dem digitalen Wandel verbunden sind, trägt das hier skizzierte Modell nach wie vor und bietet entsprechend weiterhin eine wichtige Grundlage für die pädagogische Arbeit. Der Erwerb von (digitaler) Medienkompetenz ist mittlerweile in allen pädagogischen Handlungsfeldern als Querschnittsaufgabe relevant geworden – zum Beispiel im frühkindlichen Bereich, in der Jugendsozialarbeit oder in der verbandlichen Jugendarbeit. Ressource informelles Lernen
Damit sind bereits mehrere Bereiche angesprochen, in denen junge Menschen Wissen erwerben, zu Reflexionen angestoßen werden und Handlungsoptionen erproben. An erster Stelle sind hier aber der alltägliche Umgang mit digitalen Medien und Diensten sowie der Austausch mit Gleichaltrigen zu nennen. Dies verweist bereits auf eine veränderte Rolle von Bildungsinstitutionen im Prozess der Bildung hinsichtlich digitaler Medien – sowohl der Schule als auch außerschulischer Bildungsorte. Für viele Fragen der Handhabung stehen Ansprechpersonen zur Verfügung oder können Online-Quellen zu Rate gezogen werden. Im Falle von Jugendlichen sind dies beispielsweise häufig Online-Videos. Auch im Sinne der Aktivierung der Adressat*innen im Bereich der instrumentellen Fertigkeiten besteht daher die Möglichkeit, diese Ressourcen auch in Bildungsangeboten einzubinden. Dies ist nicht zuletzt deshalb sinnvoll, da so auch die bereits erworbenen Kenntnisse der jungen Menschen sichtbar werden und Anerkennung finden können.
Offenkundig kann aber nicht vorausgesetzt werden, dass sich junge Menschen ohne entsprechende Anregungen in Bildungsangeboten mit all den beschriebenen Dimensionen von Medienkompetenz auseinandersetzen. Beim Umgang mit entsprechenden Angeboten und im Austausch mit Gleichaltrigen werden in dabei stattfindenden informellen Aneignungsprozessen insbesondere instrumentelle Fertigkeiten und analytische Kenntnisse zu Formaten und Inszenierungsformen erworben. Ungleich schwieriger, da nicht unmittelbar im Umgang erfahrbar, sind dagegen Kenntnisse im Bereich des Strukturwissens zu erwerben. Ebenso sind die Reflexion dieser Entwicklungen und die Positionierung hierzu voraussetzungsvoll und erfordern Anregung und Begleitung. Beispielsweise weisen verschiedene Untersuchungen fatalistische Haltungen bei Kindern und Jugendlichen bezüglich der Möglichkeiten nach, eine ihren Vorstellungen und Schutzansprüchen entsprechende Handhabung personenbezogener Informationen zu realisieren. Das Zitat "dann sollte man gar nicht erst ins Internet, weil sie da mit Daten machen, was sie wollen" bringt diesen Fatalismus auf den Punkt und bildet zugleich den Titel eines Monitoring-Projektes, in dem 10- bis 14-Jährige zu den für sie relevanten Online-Angeboten, den bei der Altersgruppe üblichen Umgangsweisen, den aus ihrer Sicht bestehenden Risiken und ihren Unterstützungsbedarfen befragt werden. Deutlich wird dabei, dass die befragten Kinder und Jugendlichen insgesamt den Anspruch haben, selbstbestimmt mit den Angeboten umzugehen, was auch der alterstypischen Akzentuierung von Handlungsautonomie entspricht. Zugleich benennen sie aber auch verschiedene Spannungsfelder, in denen ihr Medienhandeln eingebunden ist. Dies können die undurchsichtigen Verwendungsweisen von persönlichen Daten sein, soziale Erwartungshaltungen, wonach bestimmte Dienste "Pflicht" sind, um an der sozialen Interaktion teilhaben zu können, oder auch undurchsichtige Plattformregeln wie etwa im Hinblick auf die Sanktionierung von Regelverletzungen. All diese Bereiche markieren Felder, in denen Kinder und Jugendliche Unterstützung benötigen.
Zur Unterstützung und Weiterführung des informellen Lernens müssen also noch weitere Angebote bereitgestellt werden. Eine besondere Rolle können hier diejenigen Einrichtungen einnehmen, die sich im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe auf medienpädagogische Arbeit und den präventiven Kinder- und Jugendmedienschutz spezialisiert haben. Schon jetzt binden gerade Schulen, die entsprechend der Strategie "Bildung in der digitalen Welt" der Kultusministerkonferenz verstärkt Angebote der Medienbildung entwickeln müssen, inhaltlich profilierte außerschulische Einrichtungen als Bildungspartner ein. Sowohl in Ganztagsangeboten als auch eingebunden in den Unterricht übernehmen mithin also Fachkräfte aus außerschulischen Einrichtungen die Begleitung und Unterstützung von Schüler*innen in der Medienbildung.
Lernorte der Medienbildung
Im bildungspolitischen Fokus steht derzeit aber der Lernort Schule. Investitionsoffensiven wie der Digitalpakt sollen dort notwendige Entwicklungen ermöglichen. Wenngleich die technische Ausstattung dabei im öffentlichen Fokus steht, ist im Fachdiskurs klar, dass die pädagogischen Konzepte zum Einsatz der Technik eigentlich entscheidend sind. Und obwohl in den vergangenen Jahren an immer mehr Schulen Medienkonzepte entwickelt wurden, zeigt sich noch immer Entwicklungsbedarf hinsichtlich der pädagogischen Unterstützung von Lehrkräften. So gaben im Länderindikator 2017 beispielsweise nur 42,5 Prozent bundesweit befragter Lehrkräfte an, dass sie genügend pädagogische Unterstützung erhielten. Die einschlägige Literatur weist dabei aus, dass Lehrszenarien mit digitalen Medien nur dann eine Verbesserung darstellen, wenn sie die Lernenden aus einer passiven oder zwar aktiven, aber nachahmenden Haltung bringen und sie zu konstruktiven beziehungsweise sozial-interaktiven Lernaktivitäten anregen.
Vor diesem Hintergrund wird das besondere Potenzial der spezifischen Didaktik der außerschulischen Arbeit für die Medienbildung deutlich. Da die Teilnahme an den Angeboten auf Freiwilligkeit beruht, steht außerschulische Bildungsarbeit unter einem permanenten Druck, relevante Fragen in für die Zielgruppe attraktiven Formaten zu adressieren. Mithin sind Ressourcenorientierung, Niedrigschwelligkeit, aber speziell auch Selbstbestimmung und Mitgestaltung durch die Teilnehmenden wichtige Arbeitsprinzipien der außerschulischen Arbeit. Damit liegen hier bereits Erfahrungen vor, wie konstruktive und sozialinteraktive Lernprozesse gestaltet werden können. Zugleich zeigt sich, dass diese Prinzipien auch mit digitalen Vernetzungs- und Partizipationsformen von Nichtregierungsorganisationen und Aktivistengruppen korrespondieren, die damit wiederum in der außerschulischen Bildungsarbeit aufgegriffen werden können.
Das finnische Projekt "Youth against Drugs" ist ein Beispiel für eine derartige Adaption in der außerschulischen Bildung. Bei diesen Formen des Engagements ist bekannt, dass es häufig anlassbezogen stattfindet und einen niedrigschwelligen Einstieg und die Partizipation an Aktivitäten einer online-sichtbaren Gruppe ermöglichen sollte. Mit dem Ziel, Materialien der Sucht- und Drogenprävention in den für Jugendliche relevanten Szenen zu platzieren, haben die Fachkräfte diese Prinzipien in einem online-unterstützten System aufgegriffen. Darüber können sich Jugendliche registrieren und auf freiwilliger Basis verschiedene Aufgaben annehmen, etwa Flyer verteilen oder Gespräche mit Eltern über das Thema Drogen organisieren. Je nach Aktion können sie diese dann in unterschiedlichen Graden selbstbestimmt bearbeiten. Damit nutzt das Projekt online-spezifische Aktivierungspotenziale für die Bildungsarbeit und greift veränderte Sozialformen auf, die mit dem digitalen Wandel einhergehen.
Mehr als digital übermittelte Kommunikation
Das zuletzt angeführte Beispiel zeigt, dass der digitale Wandel mehr umfasst als den Bedeutungszuwachs digitaler Kommunikationsmedien. Mit Blick auf Prozesse, die für eine politische Bildung zur und ein politisches Gestalten der Digitalisierung notwendig werden, verdeutlicht dies der Politikwissenschaftler Sebastian Berg: "Wenn man nur die auf diesen Prozessen beruhende, medialisierte Kommunikation betrachtet und sie einseitig mit dem Wandel der Öffentlichkeit in Beziehung setzt, entgeht dem*der Betrachter*in der Transformationsprozess sozialer Ordnungsbildung als solcher, der sich in verschiedenen Sach- und Problemkontexten realisiert." Beispiele wie autonom fahrende Fahrzeuge, die Automatisierung von Arbeit sowie die Organisation und Überwachung von öffentlichen, insbesondere städtischen Räumen verdeutlichen, dass es nicht allein um mediale Kommunikation geht, die aktuell zum Thema gemacht werden muss.
Oftmals erscheint dann wiederum das Lernen von Programmiersprachen als die naheliegende Antwort, um diese Entwicklungen für Bildungsprozesse verfügbar zu machen. Analog zur Dimensionierung von Medienkompetenz nach Schorb und Theunert würde dies aber zunächst nur einen instrumentellen Zugriff erlauben, womit gerade die als bildungsrelevant eingestufte Reflexion von Selbst- und Weltverhältnissen nicht notwendig stattfindet. Zu leicht würde ein Fokus auf Programmiersprachen auch die Idee stützen, der gesellschaftliche Wandel sei ein Resultat der technologischen Entwicklungen. Dagegen ist klar, dass die Gesellschaft durch diese nicht von außen verändert wird, sondern technologische und gesellschaftliche Entwicklungen auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind. Mit dieser Sichtweise eröffnen sich zugleich Gestaltungspotenziale für vermeintlich allein technisch induzierte Entwicklungen des digitalen Wandels, die auch das Potenzial bergen, aus einer fatalistischen Haltung herauszutreten.
Um diese Fragestellungen für die Bildungsarbeit zugänglich zu machen, verbindet das sogenannte Dagstuhl-Dreieck "Bildung in der digital vernetzten Welt" eine technologische, gesellschaftlich-kulturelle und anwendungsbezogene Perspektive. Im interdisziplinären Diskurs zwischen Informatik(didaktik), Medienpädagogik und Medienwissenschaft wurde dieses Modell in den vergangenen Jahren weiterentwickelt und bietet durch die Integration der Dimensionen Analyse, Reflexion und Gestaltung beziehungsweise Handeln konkrete Ansatzpunkte für die pädagogische Praxis. So wird eben nicht mehr nur nach der Bedeutung digitaler Kommunikation, sondern nach der Bedeutung digitaler Medien und Systeme für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung zu fragen sein.
Manuel Rühle, Was ist Bildung? Geschichte und Gegenwart einer neuzeitlichen Idee, in: Merz. Medien + Erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik 5/2018, S. 11.
Ebd.
Für einen Überblick siehe JFF – Institut für Medienpädagogik, Digitales Deutschland, Externer Link: digitales-deutschland.jff.de. In nur 21 der 83 analysierten Modelle und Studien wurden explizite Aussagen zu den sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung formuliert.
Für aktuelle Daten siehe Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2018.
Vgl. Eduard Kaeser, Kopf und Hand. Von der Unteilbarkeit des Menschen, Waltrop–Leipzig 2011.
Vgl. Bernd Schorb, Medienkompetenz, in: ders./Jürgen Hüther (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik, München 2005, S. 257–262; Helga Theunert, Medienkompetenz: Eine pädagogische und altersspezifisch zu fassende Handlungsdimension, in: dies./Fred Schell/Elke Stolzenburg (Hrsg.), Medienkompetenz, Grundlagen und pädagogisches Handeln, München 1999, S. 50–59.
Siehe auch den Beitrag von Harald Gapski in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
Siehe auch den Beitrag von Helen Knauf in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
Vgl. Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet, DIVSI U25-Studie. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der digitalen Welt, Hamburg 2014, Externer Link: http://www.divsi.de/wp-content/uploads/2014/02/DIVSI-U25-Studie.pdf; Niels Brüggen et al., Jugendliche und Online-Werbung im Social Web, München 2014, Externer Link: http://www.jff.de/jff/fileadmin/user_upload/Projekte_Material/verbraucherbildung.socialweb/JFF-Studie_Jugendliche_Online-Werbung_SocialWeb.pdf; ders./Christa Gebel, Jugendliche im Daten-Dilemma. Motive und Probleme der Preisgabe personenbezogener Daten im Internet, in: DDS. Die Demokratische Schule 1/2009, S. 9–10.
Christa Gebel/Gisela Schubert/Ulrike Wagner, "… dann sollte man gar nicht erst ins Internet, weil sie da mit Daten machen, was sie wollen." Risiken im Bereich Online-Kommunikation und Persönlichkeitsschutz aus Sicht Heranwachsender, Act on! Short Report 2/2016, Externer Link: act-on.jff.de/wp-content/uploads/2016/11/act-on_SR2.pdf.
Vgl. Kultusministerkonferenz, Bildung in der digitalen Welt, Berlin 2016.
Niels Brüggen/Guido Bröckling/Ulrike Wagner, Bildungspartnerschaften zwischen Schule und außerschulischen Akteuren der Medienbildung, Berlin 2017, Externer Link: http://www.medien-in-die-schule.de/wp-content/uploads/Bildungspartnerschaften-zwischen-Schule-und-au%C3%9Ferschulischen-Akteuren-der-Medienbildung.pdf.
Siehe auch den Beitrag von Henrik Scheller in dieser Ausgabe (Anm. d. Red).
Vgl. Wilfried Bos et al., Schule digital. Der Länderindikator 2017. Digitale Medien in den MINT-Fächern, Bonn, November 2017, Externer Link: http://www.telekom-stiftung.de/sites/default/files/files/media/publications/Schule_Digital_2017__Web.pdf.
Orientiert an Michelene Chi, Active-constructive-interactive, in: Topics in Cognitive Science 1/2009, S. 73–105. Siehe auch Michael Sailer/Julia Murböck/Frank Fischer, Digitale Bildung an bayerischen Schulen. Infrastruktur, Konzepte, Lehrerbildung und Unterricht, Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, VBW-Studie, November 2017, Externer Link: http://www.vbw-bayern.de/Redaktion/Frei-zugaengliche-Medien/Abteilungen-GS/Bildung/2017/Downloads/Bi-0146-001_vbw_Studie_Digitale-Bildung-an-bayerischen-Schulen.pdf.
Vgl. Ulrike Wagner/Peter Gerlicher/Niels Brüggen, Partizipation im und mit dem Social Web. Herausforderungen für die politische Bildung, Expertise für die Bundeszentrale für politische Bildung, München 2011, Externer Link: http://www.bpb.de/71418, S. 11ff.
Vgl. Digital Youth Work Project, Externer Link: http://www.digitalyouthwork.eu/?material=yad-street-team-de.
Sebastian Berg, Politisches Gestalten als Herausforderung der Digitalisierung, in: Wolfgang Stadler (Hrsg.), Mehr als Algorithmen. Digitalisierung in Gesellschaft und Sozialer Arbeit, Weinheim 2018, S. 40–48, hier S. 41.
Gesellschaft für Informatik, Dagstuhl-Erklärung: Bildung in der digitalen vernetzten Welt, Berlin 2016, Externer Link: gi.de/fileadmin/GI/Hauptseite/Themen/Dagstuhl-Erkla__rung_2016-03-23.pdf.
Die Veröffentlichung des weiterentwickelten Modelles mit dem Titel "Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt" ist für den Sommer 2019 zu erwarten.
| Article | , Niels Brüggen | 2021-12-07T00:00:00 | 2019-06-26T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/293128/bildung-der-jugend-fuer-den-digitalen-wandel-kompetenzanforderungen-ressourcen-potenziale/ | Medienkompetenz ist besonders im lebensweltlichen Umgang mit digitalen Medien gefordert. Für die Bildungsarbeit ist nicht nur nach der Bedeutung digitaler Kommunikation, sondern auch nach den Wechselwirkungen gesellschaftlicher und technologischer En | [
"Digitalisierung. Digitaler Wandel",
"Digitalität",
"Bildung",
"Außerschulische Lernorte",
"Lernformen",
"Medienkompetenz",
"Digitalpakt",
"Schule"
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Terminplan Europawahl | Wahlen zum Europäischen Parlament | bpb.de | Mo, 04.03.2019 (83. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag – 18.00 Uhr – für die Einreichung der Wahlvorschläge für Listen für ein Land und gemeinsame Listen für alle Länder beim Bundeswahlleiter Fr, 15.03.2019 (72. Tag vor der Wahl)
Fristablauf a. für die Zurücknahme oder Änderung eines Wahlvorschlages b. für die Beseitigung von Mängeln des Wahlvorschlages, die seine Gültigkeit nicht berührenEntscheidung des Bundeswahlausschusses über die Zulassung
a. der gemeinsamen Liste für alle Länder b. der Listen für einzelne Länder
Frühester Termin für die Erteilung von Wahlscheinen
Di, 19.03.2019 (68. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag für die Einlegung einer Beschwerde
beim Bundeswahlausschuss gegen dessen Entscheidung, mit der ein Wahlvorschlag ganz oder teilweise abgelehnt wird (§ 14 Absatz 4 Europawahlgesetz)
beim Bundesverfassungsgericht gegen die Entscheidung des Bundeswahlausschusses, einen Wahlvorschlag wegen fehlenden Wahlvorschlagsrechts nach § 8 Absatz 1 Europawahlgesetz zurückzuweisen (§ 14 Absatz 4a Europawahlgesetz). Bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (längstens bis zum Ablauf des 52. Tages) ist die Entscheidung des Bundeswahlausschusses gehemmt.
Do, 04.04.2019 (52. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag bis zu einer Entscheidung über die vorgenannte Beschwerde
nach Nummer 1. durch den Bundeswahlausschuss
nach Nummer 2. durch das Bundesverfassungsgericht
Mo, 08.04.2019 (48. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag für die öffentliche Bekanntmachung über
die zugelassenen Listen für einzelne Länder
die zugelassenen gemeinsamen Listen für alle Länder durch den Bundeswahlleiter
So, 14.04.2019 (42. Tag vor der Wahl)
Stichtag für die Eintragung aller Wahlberechtigten in das Wählerverzeichnis, die an diesem Tag bei der Meldebehörde gemeldet sind So, 05.05.2019 (21. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag für die
Benachrichtigung der Wahlberechtigten über ihre Eintragung ins Wählerverzeichnis
Stellung eines Antrags auf Eintragung in das Wählerverzeichnis durch Wahlberechtigte, die nur auf Antrag (Anlage 2 EuWO) eingetragen werden (Deutsche im Ausland)
Stellung eines Antrags auf Eintragung in das Wählerverzeichnis von wahlberechtigten Unionsbürgern (Anlage 2A EuWO)
Stellung eines Antrags von Unionsbürgern, nicht im Wählerverzeichnis geführt zu werden (Anlage 2C EuWO)
Mo, 06. bis Fr, 10.05.2019 (20. bis 16. Tag vor der Wahl)
Möglichkeit der Einsichtnahme in das Wählerverzeichnis und Einspruchsmöglichkeit wegen Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Wählerverzeichnisses Do, 16.05.2019 (10. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag für die Zustellung der Entscheidung über die Einsprüche gegen die Richtigkeit des Wählerverzeichnisses Sa, 18.05.2019 (8. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag für die Einreichung der Beschwerde an den Kreiswahlleiter (in kreisfreien Städten an den Stadtwahlleiter) gegen die Entscheidung der Gemeindebehörde über Einsprüche gegen die Richtigkeit der Wählerverzeichnisse; die Beschwerde ist bei der Gemeindebehörde einzulegen Mo, 20.05.2019 (6. Tag vor der Wahl)
Spätester Termin für die Bekanntmachung der Gemeindebehörde über Beginn und Ende der Wahlzeit, Wahlbezirke, Wahlräume, Stimmzettel und Wahlverfahren Mi, 22.05.2019 (4. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag für die Entscheidung des Kreiswahlleiters oder Stadtwahlleiters über Beschwerden gegen die Entscheidung der Gemeindebehörde über Einsprüche gegen das Wählerverzeichnis Fr, 24.05.2019 (2. Tag vor der Wahl)
Letzter Tag – 18.00 Uhr – für die Beantragung von Wahlscheinen So, 26.05.2019 (Tag der Wahl)
Stimmabgabe in der Regel in der Zeit von 08.00 bis 18.00 Uhr
bis 15.00 Uhr – Beantragung von Wahlscheinen in besonderen Fällen (§ 24 Absatz 2 EuWO und bei nachgewiesener plötzlicher Erkrankung)
18.00 Uhr spätester Zeitpunkt für den rechtzeitigen Eingang der Wahlbriefe bei der zuständigen Stelle
nach 18.00 Uhr Ermittlung, Feststellung und Bekanntgabe des vorläufigen Wahlergebnisses
amtliche Bekanntgabe des vorläufigen Wahlergebnisses für Deutschland durch den Bundeswahlleiter (frühestens, wenn die Wahl in dem EU-Mitgliedstaat, dessen Wähler in dem Wahlzeitraum als Letzte wählen, abgeschlossen ist)
Ab Mo, 27.05.2019 (1. Tag nach der Wahl)
Ermittlung und Feststellung des endgültigen Ergebnisses in den Kreisen und kreisfreien Städten durch die Kreis- und Stadtwahlausschüsse in öffentlicher Sitzung
Ermittlung und Feststellung des endgültigen Ergebnisses im Land durch den Landeswahlausschuss in öffentlicher Sitzung
Feststellung des endgültigen Ergebnisses im Wahlgebiet und welche Bewerber gewählt sind durch den Bundeswahlausschuss in öffentlicher Sitzung
Benachrichtigung der Gewählten durch den Bundeswahlleiter
Öffentliche Bekanntmachung
a. des endgültigen Wahlergebnisses im Land durch den Landeswahlleiter b. des endgültigen Wahlergebnisses für das Wahlgebiet, die Verteilung der Sitze auf die einzelnen zu berücksichtigenden Wahlvorschläge sowie der im Wahlgebiet gewählten Bewerber durch den Bundeswahlleiter
Di, 02.07.2019 (37. Tag nach der Wahl)
Gewählte Bewerber erwerben die Mitgliedschaft im Europäischen Parlament nach der abschließenden Feststellung des Ergebnisses mit Eröffnung der konstituierenden Sitzung des Europäischen Parlaments Fr, 26.07.2019 (2 Monate nach der Wahl)
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Kalter Krieg oder neue Ostpolitik? Ansätze deutscher Russlandpolitik | Russland und Deutschland | bpb.de | Das Verhältnis zu Russland spaltet die politischen Parteien, die Öffentlichkeit und die Sozialwissenschaften, insbesondere seit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine. Im Ukrainekonflikt kulminierten unter anderem tiefer liegende Probleme der deutschen und europäischen Ostpolitik, die sich über Jahre hinweg aufgebaut hatten. So hat es nach Auflösung der Sowjetunion 1991 nie einen Konsens über die Zielvorstellung der Russlandpolitik gegeben: Sollte Russland als Teil Europas, als Partner oder als Gegner betrachtet werden? Niemand hierzulande konnte sich Russland als EU- oder NATO-Mitglied vorstellen, und solange es schwach war, galt es als quantité négligeable. Umgekehrt machte es auch die russische Politik den Deutschen und Europäern schwer, eine klare Haltung zu entwickeln, denn was die politische Elite Russlands jenseits ihrer Überlegenheits- und Unterlegenheitskomplexe bewegte, war kaum auszumachen. Wollte Russland ein Teil Europas sein oder als euro-asiatische Macht ein Gegengewicht bilden?
Das Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin steht unter internem und externem Erfolgszwang; Außenpolitik ist für ihn somit auch eine Fortsetzung der Innenpolitik. Teile der russischen politischen Elite befinden sich mental offenbar in einem Kriegszustand mit dem Westen und sehen Politik als eine Form der Kriegführung. Die gegenwärtige Politik Russlands kombiniert zaristische, bolschewistische und euro-asiatische Traditionslinien. Eine Wertegemeinschaft mit der EU ist damit nicht mehr gegeben. Welche Kosten-Nutzen-Kalküle das Verhalten des Machtzirkels um Putin bestimmen, können externe Beobachter allerdings nur erahnen. Der Kreis der Entscheidungsbeteiligten ist heute kleiner als zu Sowjetzeiten, die Intransparenz aber ist vergleichbar.
Die Einschätzungen, ob Russland mit seiner militärischen, geheimdienstlichen und medialen Einflussnahme in den zurückliegenden Jahren an "Gestaltungsmacht" gewonnen hat, gehen auseinander. Russland hat an Sichtbarkeit, an Veto- und Chaosmacht im postsowjetischen Raum, im Nahen Osten und auf dem westlichen Balkan gewonnen, aber strategisch könnte das Regime Putins eher Verlierer sein, denn die Aussichten für die von ihm favorisierte Euro-Asiatische Union haben sich infolge des Ukrainekonfliktes vermindert, das russische Kapital flieht, und selbst autoritäre Nachbarn wie Kasachstan und Belarus sind misstrauisch geworden. Zudem ist Russland außenpolitisch von den gegensätzlichen Interessen seiner "Partner" Iran, Syrien, Hizbollah und Ägypten abhängig. Unterschiedliche Antworten
Aus der Wahrnehmung des putinschen Regimes werden in Deutschland (und darüber hinaus) unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen – es gibt sowohl Plädoyers für Entspannung als auch für Eindämmung und Abschreckung sowie schließlich auch solche, sich für einen Regimewandel einzusetzen. Angesichts der Sorge vor einer militärischen Konfrontation sind die westlichen Reaktionen auf die russische Politik von einer Mischung aus diplomatischer Deeskalation und militärischer Versicherung der neuen NATO-Mitglieder in Mittel- und Südosteuropa geprägt.
Eine Sichtweise, der zufolge Putin nur aufgrund von gekränktem Narzissmus handelt, hofft auf eine Wiederannäherung. Spannungen zwischen Deutschland und Russland wären demnach allein ein Kommunikationsproblem. Doch die Psychologisierung des russischen Verhaltens bietet kaum Anlass zur Beruhigung: Letztlich bedeutet sie, dass es im politischen System Russlands an verlässlichen Regeln fehlt und es die Bereitschaft gibt, eine Politik militärischer Eskalation zu verfolgen. Welche Art von Außen- und Sicherheitspolitik ist also mit und gegenüber einer Großmacht wie Russland möglich, die seit gut zehn Jahren einen antiwestlichen Kurs verfolgt? Aufgrund unterschiedlicher Weltanschauungen, Paradigmen und konträrer Lektionen aus dem Kalten Krieg sind die Ansichten hierzu gespalten. Russland ist daran nicht unbeteiligt, denn es wirkt über soziale Medien, globale Fernsehkanäle wie RT (ehemals "Russia Today") und die Unterstützung antiliberaler, antieuropäischer und rechtspopulistischer Parteien auf die Meinungsbildung in westlichen Staaten ein.
Für einige mittelosteuropäische Staaten und konservative Militärs in der NATO verkörpert Putins Russland eine Fortsetzung des zaristischen und sowjetischen Imperialismus. Konträr dazu werden am rechten und linken Rand des politischen Spektrums russische Feindbilder von der Ukraine, der NATO oder der EU im Sinne einer pauschalen Schuldzuweisung an "den Westen" übernommen. Die NATO-Erweiterung, der Kosovokrieg, der Irakkrieg, die Libyenintervention, die westliche Syrienpolitik und ein militärischer und wirtschaftlicher "Drang nach Osten" dienen dann der Entlastung von Russland, das vermeintlich nur auf westlichen Expansionismus reagiere.
Von Willy Brandt und Helmut Schmidt über Helmut Kohl bis zu Gerhard Schröder traten deutsche Kanzler als verlässliche Fürsprecher russischer Befindlichkeiten auf. Aufgrund der doppelten Vergangenheit des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und der Ermöglichung deutscher Einheit empfanden deutsche Politiker lange Zeit eine Bringschuld. Mit Ausnahme der Grünen (contra) und der Linken (pro) sind die Parteien heute intern uneins, ob deutsche Russlandpolitik die ältere Entspannungspolitik fortsetzen oder auf Abwehr setzen soll. Vertreter eines "Wandels durch Annäherung" werben um Verständnis, sie beschwören die Gefahr eines großen Krieges und wähnen das Haupthindernis in der Dämonisierung Putins. Deutsche Russlandpolitik sah sich zudem lang in der Rolle eines Entwicklungshelfers: Russland sollte durch deutsches Wirken moderner, effizienter und rechtstaatlicher werden.
Manche Interessen und Botschaften Russlands sind in der jüngeren Vergangenheit in der Tat missachtet beziehungsweise fehlgedeutet worden; insbesondere die Kränkung der politischen Eliten über den Statusverlust nach der Auflösung der Sowjetunion und die Wahrnehmung der NATO-Erweiterung seit den 1990er Jahren wurden im Westen unterschätzt. Doch die Vorstellung, es habe gar keinen Dialog mit Russland gegeben, ist eine Legende. Russland hatte ausreichend Gelegenheit, seine Positionen vorzutragen: im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), im UN-Sicherheitsrat, im NATO-Russland-Rat, auf der Münchner Sicherheitskonferenz, beim Treffen der G8-Regierungschefs, in G20-Runden, in den Verhandlungen mit der EU – bis vor zehn Jahren sprachen beide Seiten noch von einer strategischen Partnerschaft – und bilateral bei den Deutsch-Russischen Regierungskonsultationen oder im Petersburger Dialog. Die Vertreter Russlands taten dies zunehmend in bewusster Abgrenzung. Russland versteht eine "Politik auf Augenhöhe" als Anerkennung eines Status, der allen anderen 28 EU-Staaten und den USA zusammengenommen entspräche.
Zwischen den heterogenen Kräften in Deutschland und Europa, die ihre je eigene Agenda auf Putin projizieren, hat sich eine eigentümliche Allianz herausgebildet, die das klassische Links-rechts-Schema unterläuft. Ihre Gemeinsamkeiten liegen im Antiamerikanismus, in der Geringschätzung für die Mittelosteuropäer, in der Anerkennung Russlands als "Gestaltungsmacht" und im Appeasement gegenüber Putins Eskalationsdominanz. Antiimperialisten und Antiamerikaner finden in Putin einen potenten Bündnispartner in der Gegnerschaft zur NATO. In der Partei Die Linke sammeln sich Kräfte, die in Putin einen Verbündeten im Kampf gegen den "Ukro-Faschismus" und die Dominanz der EU sehen. Rechtspopulisten erkennen wiederum ihre Gemeinsamkeit mit Putin in der Ablehnung einer offenen Gesellschaft, im Schutz von Volk und Staat und konservativen Familienwerten, in der Ablehnung von Homosexualität sowie von Geschlechtergerechtigkeit. Das russische Regime wiederum bemüht sich, seine rechtsextremen Freunde in einer Internationale zu vereinen.
Neben den Parteien wirken auch nichtstaatliche Akteure auf die deutsch-russischen Beziehungen ein. Zwischen den Wirtschaftseliten beider Länder hat sich eine gewisse Interessenkonvergenz herausgebildet. Es gibt in Russland gegenwärtig rund 5200 Unternehmen mit einer deutschen Kapitalbeteiligung, die von niedrigen Löhnen und Vergünstigungen wie etwa Steuererleichterungen profitieren. In Rankings zu Investitionsbedingungen liegt Russland wegen seiner Bürokratie und der notorischen Korruption zwar auf hinteren Rängen, und deutsche Unternehmen beklagen den russischen Fachkräftemangel, erwarten Reformen beim Zoll, bei Genehmigungs- und Zertifizierungsverfahren, bei der Bekämpfung des Protektionismus und der Visavergabe – aber dennoch wird das Geschäftsklima überwiegend positiv beurteilt. Entsprechend setzt sich der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft für die Aufhebung der Russland-Sanktionen ein: diese hätten nichts gebracht und nur Kosten verursacht. Vor dem Deutsch-Russischen Forum im Mai 2016 machte sich der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier das Votum für eine Lockerung der Sanktionen zu eigen. Tatsächlich ist das bilaterale Handelsvolumen seit 2012 von 80 Milliarden auf 47 Milliarden Euro zwischen Januar und November 2016 gesunken. Für den Rückgang der Exporte nach Russland sind jedoch insbesondere die niedrigen Gas- und Ölpreise entscheidend, nicht die Sanktionen.
Eine Vielzahl von Organisationen ist im Schüler- und Jugendaustausch, im Wissenschaftsaustausch und in Städtepartnerschaften aktiv. Auch deutsche Wissenschaftsorganisationen engagieren sich tatkräftig. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) ermöglicht fast 1900 Deutschen pro Jahr einen Aufenthalt in Russland, über doppelt so viele russische Akademiker kommen nach Deutschland – es ist das Topstudienzielland für Russen. Wenn Russland stärker in Wissenschaft, Forschung und Entwicklung investieren würde, wären die Beziehungen freilich weniger asymmetrisch. Entspannung, Eindämmung oder Regimewandel?
Je nach zugrunde liegendem Paradigma lassen sich drei prinzipielle Optionen für eine Politik gegenüber Russland unterscheiden. Vereinfacht gesprochen, stehen sich eine entspannungspolitische, eine realistische und eine regimetheoretische Lesart gegenüber. Die entspannungspolitische Sicht setzt auf Wandel durch Annäherung, die realistische baut auf Eindämmung und Abschreckung, die regimetheoretische Perspektive meint, dass sich die russische Außenpolitik nur infolge eines inneren Regimewandels ändern wird.
Wandel durch Annäherung
Für einen Dialog mit Russland lassen sich gewichtige Argumente vorbringen, dazu gehört die Einhegung von militärischen Eskalationsrisiken an der Nahtstelle zur NATO sowie im Ukraine- und im Syrienkonflikt, die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle, das humanitäre Konfliktmanagement und die Zusammenarbeit in der Bekämpfung von Terror und gegen die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln. Ein Grund für Entspannung ist die Befürchtung, dass Kritik russische Feindbilder verstärkt, dass die russische Bevölkerung sich weiter von Europa entfremdet und den russischen Hardlinern unnötig Argumente geliefert werden. So setzte Frank-Walter Steinmeier während seiner ersten Amtszeit als Außenminister von 2005 bis 2009 auf eine "Modernisierungspartnerschaft", um die wirtschaftliche, soziale und politische Leistungsfähigkeit Russlands zu stärken. Freilich setzten sich in Russland die Hardliner anstelle der "Modernisierungspartner" um den seinerzeitigen Präsidenten Dmitri Medwedew durch, weil die Partnerschaft mit der EU als bedrohlich für das eigene Regimeüberleben angesehen wurde.
Eine pragmatische Version der Entspannungspolitik plädiert für eine gesamteuropäische Ordnung, die die russische Innenpolitik außen vor lässt, sich auf den Aufbau leistungsfähiger Staatlichkeit konzentriert (anstelle von Demokratie, Menschenrechten und freien Medien), Wirtschaftsbeziehungen pflegt, die transformativen Ambitionen der EU reduziert und die OSZE revitalisiert. Die Vorstellung, Russlands Regime könne vor Kritik an Demokratiedefiziten, Menschenrechtsverletzungen und äußerer Aggression geschützt werden, um die Beziehungen zu entspannen, mutet jedoch unwirklich an. Kommunikative Räume und normative Diskurse lassen sich heute nicht mehr durch einen "eisernen Vorhang" begrenzen.
Der Appell zur Mäßigung erscheint insofern wirklichkeitsfremd, weil sich demokratische und autoritäre Weltsichten gegenüberstehen und hinter der russischen Abwehr von Demokratie gewichtige politische Interessen stehen. Das Plädoyer für eine Rückkehr zur Entspannungspolitik verkennt, dass die europäische Staatenwelt seit 1989 auf der Freiheit der Wahl beruht und sich die nicht-russischen Völker Osteuropas für Selbstbestimmung entschieden haben. Die Vertreter der Entspannungspolitik bleiben der Logik des Kalten Krieges verhaftet, wenn sie von unverrückbaren Einflusssphären ausgehen.
Zweifellos sind Foren für das Aushandeln wirtschaftlicher Interessen vonnöten, doch hat die wirtschaftliche – vor allem die energiewirtschaftliche – Verflechtung mit Russland weder einen sicherheits- oder friedenspolitischen Effekt gezeitigt, noch hat sie zum Aufbau einer gesamteuropäischen Ordnung beigetragen. Die engen Handelsverbindungen haben die russische Regierung nicht davon abgehalten, eine aggressive Außenpolitik zu verfolgen. Wenn es die Notwendigkeit für Entspannungspolitik gibt, dann wohl am dringlichsten in der Sicherheitspolitik, das heißt bei der Rüstungskontrolle, für vertrauensbildende Maßnahmen und für Kooperation in Regionalkonflikten sowie im Kampf gegen Terroristen.
Eindämmung und Abschreckung
Eindämmung zielt darauf, einem weiteren Ausgreifen Russlands Einhalt zu gebieten. Für den Fall einer erneuten Eskalation der Gewalt in der Ostukraine könnte zum Beispiel das bestehende Sanktionsregime um Export-, Import- und Finanzsanktionen und um Waffenlieferungen erweitert werden. Eindämmung würde Putins Kalkül unterminieren: Der Westen würde keine Schwäche zeigen, die "Sanktionsfront" bliebe geschlossen, und zwischen den USA und der EU käme es nicht zu einer Spaltung. Teil dieser Politik wäre es, den Status quo zu akzeptieren, das heißt die Annexion der Krim und die Existenz der selbstproklamierten "Unabhängigen Volksrepubliken" im Donbass. Das bedeutete jedoch nicht, diese auch juristisch anzuerkennen. Der Eindämmung entspräche es, die Abhängigkeit der EU von Gaslieferungen aus Russland durch Diversifizierung der Importe oder durch Substitution zu überwinden – sich also um Öl und Gas aus anderen Ländern oder andere Energieträger zu bemühen. Schließlich würde Eindämmung heißen, künftigen EU-Assoziierungskandidaten politische, wirtschaftliche und militärische Hilfe für den Fall russischer Intervention zu gewähren.
Das realistische Paradigma geht davon aus, dass Putins Machtpolitik nicht mit Normen begegnet werden kann. Realisten argumentieren daher entweder zynisch und fatalistisch – Putins Machtpolitik sei Ausdruck der ewiggleichen internationalen Beziehungen – oder sie rufen zu robuster Gegenwehr auf. Diejenigen, die Letzteres tun, plädieren dafür, sich auf die Regeln der "alten Ordnung" einzustellen: Demnach agiere Russlands Regierung aggressiv und imperial nach außen und autoritär nach innen. Folglich sei es an der Zeit, sich auch militärisch auf noch schlimmere Gewalt einzustellen.
Abschreckung würde über Eindämmung noch hinausgehen und rote Linien signalisieren. Eine solche Politik könnte etwa darin bestehen, eine robuste internationale Friedensmission für die Ostukraine zu beschließen, die ukrainisch-russische Grenze international zu sichern, Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrraketen und Überwachungsdrohnen an die Ukraine zu liefern, das dortige Militär entsprechend auszubilden und Militärberater zu entsenden. Auch die Aufnahme von Verhandlungen über die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, ein entsprechender "Membership Action Plan" oder die Verlegung von NATO-Truppen nach Osteuropa wären in der Abschreckungslogik denkbar. Allerdings ginge all dies mit dem Risiko einer sich immer schneller drehenden Aktions-Reaktions-Spirale einher. Negative Folgen wären nicht nur für die deutsche Exportwirtschaft zu erwarten. Eindämmung und Abschreckung wären für die EU-Staaten zudem kostenintensiv. Gleichwohl gilt es abzuwägen, ob das Fehlen von Eindämmung und Abschreckung nicht selbst zur Eskalation beiträgt.
Abschreckung jenseits des NATO-Bündnisses wird von der deutschen Politik aus Sorge vor einer Eskalation und Stellvertreterkriegen überwiegend abgelehnt. Doch jeder Staat hat das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 UN-Charta), insbesondere wenn die internationale Gemeinschaft einen Staat nicht vor Aggression schützt. Die EU- und die NATO-Staaten verlassen sich auf wechselseitigen Schutz; von daher kann Staaten wie Georgien, Moldau oder der Ukraine mit völkerrechtlichen Argumenten nicht das Recht abgesprochen werden, sich ebenfalls um ausreichenden Schutz vor russischer Militärintervention zu bemühen.
Regimewandel
Am weitreichendsten wäre eine Politik, die auf einen russischen Regimewandel setzt, das heißt auf eine Regimeliberalisierung unter oder nach Putin. Externe Demokratieförderung ist begrenzt auf Austauschprogramme, Städtepartnerschaften, die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen, die sich an demokratischen Werten orientieren, den Ausbau medialer Kommunikation mit der russischen Gesellschaft sowie Visaerleichterungen. Doch demokratischer Wandel muss von innen wachsen, Mehrheiten finden und durch Parteien und Eliten gestützt werden – weder Deutschland noch die EU ist in der Lage, Russlands Regime zu transformieren. Denn ein autoritäres Regime wie das putinsche benötigt das westliche Feindbild, äußere Spannung und periodische Krisen – einschließlich Ablenkungskriegen –, um seine Macht im Innern zu sichern. Eine grundlegende Öffnung würde erst wahrscheinlich, wenn anstelle der negativen Integration durch Nationalismus die russische Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Defizite des Regimes richtete.
Ein positiver Langzeiteffekt des gorbatschowschen "Neuen Denkens" lag in der Aufweichung des Bildes vom feindlichen Westen unter den osteuropäischen Völkern. Und hierin bestünde ein Grund, auf eine zweite Perestroika hinzuwirken, um nämlich mit soft power gegenüber der russischen Bevölkerung die Vorzüge freier Gesellschaften erfahrbar zu machen. Das Angebot einer künftigen EU-Assoziierung etwa würde einer Einladung gleichen, mithilfe der EU-Normen zur Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses zurückzufinden.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und der Eurasischen Union könnte längerfristig "Wandel durch Handel" befördern. Im November 2010 hatte selbst Putin noch für eine gesamteuropäische Freihandelszone "von Lissabon bis Wladiwostok" plädiert. Freilich ignorierte die russische Delegation dann beim Wirtschaftsforum in Davos im Januar 2015 die Idee von Bundeskanzlerin Angela Merkel, diesen Vorschlag wieder aufzugreifen, knüpfte sie ihn doch an die Einhaltung des Minsker Abkommens und eine Friedenslösung für den Krieg in der Ukraine.
Ein ungewisser Regimewandel in den autoritären Nachfolgestaaten der Sowjetunion muss nüchtern gegen transformative Kapazitäten abgewogen werden, denn niemand kann garantieren, dass nach Putin eine liberale oder gar demokratische Regierung an die Macht kommt. Das System Putin befindet sich in einer kumulativen Radikalisierungsdynamik. Das Argument, Putin wäre gegenüber noch radikaleren Nationalisten das kleinere Übel und müsse gegen Destabilisierung geschützt werden, gemahnt an die Präferenz für autoritäre Stabilisierung, die in der Vergangenheit gegen die Solidarność in Polen oder gegen den Arabischen Frühling vorgebracht wurde. Wenn die entscheidende Triebkraft für das russische Außenverhalten in dessen Innenpolitik liegt, dann kann kooperative Außen- und Sicherheitspolitik längerfristig nur nach einem Regimewandel erwartet werden.
Der Schlüssel zum Regimewandel in Russland liegt nun darin, dass die Transformation in der Ukraine gelingt und auf Russland positiv zurückstrahlt. Kern der deutschen und europäischen Russlandpolitik sollte daher vor allem sein, der ukrainischen Wirtschaft und Politik bei der Überwindung von Korruption und Oligarchenmacht beizustehen. Gelingt die Transformation der Ukraine nicht, wird Putins Russland aus der ukrainischen Staatsschwäche weiter politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gewinn ziehen. Entscheidet sich die EU gegen eine Parteinahme im Ukrainekonflikt, dann wird die EU-Nachbarschaftspolitik dauerhaft Schaden nehmen, die "Partnerschaft für den Frieden" der NATO Geschichte sein und die Hoffnung auf transformative Hilfe im postsowjetische Raum sterben. Was lehren die Konflikte?
Das Verhalten aller Beteiligten im Ukrainekonflikt und im Syrienkrieg folgt der fatalen Logik eines Nullsummenspiels. Offensichtlich bedarf es mehr Frühwarnung, verlässlicher Information und Expertise, zudem ist wechselseitig mehr Transparenz und Vorhersehbarkeit über militärisches Verhalten vonnöten. Eine direkte Koordination von Erwartungen misslingt bisher, weil der Bestand geteilter Wertvorstellungen zwischen Russland und dem Westen bereits seit Jahren auf ein Minimum geschrumpft ist. Das ist auch der Grund, weshalb keine stabilen Institutionen zur Konfliktregelung entstanden und die existierenden wie die OSZE, der NATO-Russland-Rat und der UN-Sicherheitsrat blockiert sind. Doch Nullsummenspiele sind nicht unvermeidlich.
Da Kriege sich nicht durch ferne Aussichten auf den "demokratischen", den "gerechten" oder den "positiven" Frieden verhindern lassen, müssen zwei grundsätzliche Fragen beantwortet werden. Erstens: Wie lassen sich Erwartungen wechselseitig so vermitteln, dass auf der jeweils anderen Seite ein möglichst realistisches Bild von den Präferenzen und beabsichtigten Handlungen entsteht? Und zweitens: Wie kann Kommunikation über die jeweiligen Absichten durch Handlungen ergänzt werden, die das Kalkül der Gegenseite so beeinflussen, dass die eigenen Interessen berücksichtigt werden und Zusagen und Verpflichtungen vollstreckbar werden?
Die Identifikation von Absichten – was will ich, was will der andere? – setzt eine Definition eigener Interessen voraus: Was wollen die EU, die NATO und die USA mit welchem Grad an Selbstverpflichtung gegenüber Russland und anderen postsowjetischen Staaten erreichen? Das Identifikationsproblem besteht nicht nur im Arkanum der russischen Entscheidungsprozesse und der Unsicherheit, ob dort ideologische, machtpolitische oder situative Motive dominieren, sondern in der diffusen Finalität der EU-Nachbarschaftspolitik. Eine Lehre besteht also darin, sich dem Identifikationsproblem zu stellen, das heißt, eigene Absichten gegenüber Russland und Assoziationskandidaten wie der Ukraine deutlich auszusprechen und zugleich das Bild von Russlands Absichten nicht durch Wunschdenken à la "Modernisierungspartnerschaft" zu trüben. Gleichwohl sollte Russland nicht als homogener Akteur wahrgenommen werden: Die russischen Wirtschaftseliten sind nicht grundsätzlich antiwestlich, neben den dominanten Nationalisten gibt es auch Liberale, und die temporär hohen Zustimmungsraten für Putin sollten nicht mit bedingungsloser Regimetreue verwechselt werden.
Für die Frage nach den eigenen Handlungen, die nötig wären, um strategische Kalküle der Außen- und Sicherheitspolitik Russlands zu ändern, können nur Überlegungen skizziert werden. Ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates stehen außerhalb der Vollstreckbarkeit des Völkerrechts, weil sie selbst die obersten Richter sind. Eskalationsverhalten lässt sich nur durch die Verflechtung von Verwundbarkeit ändern. Die Bestandteile der atomaren Abschreckung wie massive Vergeltung, die wechselseitig gesicherte Zerstörungsfähigkeit und ein möglichst perfektes Gleichgewicht des Schreckens haben in der Zeit des Kalten Krieges die strategischen Kalküle der USA und der Sowjetunion eingehegt. Da Abschreckung im bilateralen Verhältnis nach wie vor leidlich funktioniert, im Verhältnis zu anderen Parteien sich jedoch weder Russland noch die USA abschrecken lassen, sind konventionelle Kriege seit 1989/90 tendenziell leichter zu führen, allzumal in Gestalt von "hybriden" Kriegen, und die Gefahren einer militärischen Ost-West-Konfrontation nehmen zu.
Eine Alternative zur militärischen Abschreckung heißt "Sanktionen". Aber diese werden erst nachträglich verhängt, nicht präventiv – von daher ist ihr Effekt auf künftige Regelbeachtung ungewiss, und sie lassen sich nicht ewig aufrechterhalten. Wie könnten also Regeln zwischen und gegenüber Akteuren durchgesetzt werden, die sich keiner unabhängigen dritten Partei unterwerfen?
In der Ökonomie wird der wechselseitige Tausch von Pfandstücken – meist hochwertige Güter, die an den Betrogenen eines Deals fallen – als Mittel zur Durchsetzung von Verträgen angesehen. Ein hinterlegtes Faustpfand erhöht den Anreiz, die eigenen Handlungsabsichten offenzulegen. Allerdings funktioniert das Pfand nur, wenn jener, der es hinterlegt, weiß, dass es eingezogen oder zerstört werden kann. Das wechselseitige Stellen von Sicherheiten beruht auf bewusster, institutionalisierter Verletzbarkeit. Was könnten solche Pfandstücke in den sicherheitspolitischen Beziehungen mit Russland sein?
Ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates könnten Vertrauen stärken, indem sie Absichtserklärungen hinterlegen, sich im Falle einer Völkerrechtsverletzung einer unabhängigen Untersuchung durch den UN-Sicherheitsrat und den Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen. Rivalen würden sich gleichermaßen dem Risiko eines ungewissen juristischen Prozesses aussetzen. Das wechselseitige Vertrauen würde durch die Akzeptanz von vorab definierten Sanktionen für den Fall von Regelverletzung gestärkt. Hätte Russland etwa im Vorfeld gewusst, welchen Schaden es durch sein Verhalten im Ukrainekonflikt auf sich zieht, hätte es möglicherweise weniger autistisch kalkuliert. Im Handel, im Kultur- und Wissenschaftsaustausch gibt es viele Güter zwischen Deutschland und Russland, die sich als Faustpfand eignen. Würden sie als solches behandelt, dann gäbe es nicht die Möglichkeit, "den Betrieb ganz normal weiterlaufen zu lassen", wie es in weiten Bereichen der deutsch-russischen Beziehungen nach der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine geschah.
Durch die Akzeptanz von Beobachtermissionen und Untersuchungskommissionen und das Zugänglichmachen von kritischen Informationen, zum Beispiel zur Verschiebung von Truppen und militärischem Gerät, setzen sich rivalisierende Konfliktparteien dem Risiko aus, der Lüge, des Missbrauchs oder des Betrugs überführt zu werden. Vertrauen kann nur wieder entstehen, wenn es nicht mehr der Beliebigkeit unterliegt, ob Verbrechen gegen die Menschlichkeit als solche erkannt und wirksam geächtet oder ob sie als "fake news" abgetan werden wie zum Beispiel aktuell in Syrien. An die Stelle der atomaren Abschreckung würde eine gegenseitige Verpflichtung für den Fall von Regelverletzung treten (mutually assured vulnerability). Ob dies zustande kommt, hängt von wechselseitiger Bereitschaft ab – sie wäre zugleich ein Test für die westlichen Staaten, sich nicht nur als Advokaten des Völkerrechts zu präsentieren, sondern sich auch dessen Urteilen zu unterwerfen.
Die Hoffnung, alt-neue Männerfreundschaften oder die Exportinteressen der deutschen Industrie könnten das zerrüttete Verhältnis wieder richten, ist illusionär. Eine Rückkehr zur Politik des modus vivendi mit Russland setzt die Anerkennung von Grundnormen der Charta von Paris voraus, mit der die Länder der OSZE (damals noch KSZE) 1990 den Ost-West-Konflikt offiziell beilegten und eine auf Menschenrechten beruhende europäische Friedensordnung schufen. Das Verhältnis zu Russland kann nur auf Grundlage des Völkerrechtes erneuert werden. In dieser Hinsicht sollten sich Deutschland und die Europäische Union nicht scheuen, auf Augenhöhe zu sprechen.
Vgl. Peter Strutynski (Hrsg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen. Köln 2014.
Vgl. Renate Köcher, Das Russlandbild der Deutschen – das Deutschlandbild der Russen. Ergebnisse repräsentativer Bevölkerungsumfragen in Deutschland und Russland, Pressekonferenz des Petersburger Dialogs mit dem Deutsch-Russischen Forum und dem Institut für Demoskopie Allensbach, 18.9.2008, Externer Link: http://www.deutsch-russisches-forum.de/20jahre/tl_files/drf/material/2008/Studie_Russlandbild_Praesentation-dt.pdf.
Vgl. Josef Joffe, Die bizarre Russland-Apologetik der Linken, 19.3.2014, Externer Link: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-03/sahra-wagenknecht-krim-russland; Sahra Wagenknecht, Rot-Rot-Grün: Politik- statt Personalwechsel, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2015, S. 73–81.
Vgl. Benjamin Bidder, Russlands rechte Freunde, 4.2.2016, Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/ausland/a-1075461.html.
Vgl. Auswärtiges Amt, Länderinformationen zur Russischen Föderation, Externer Link: http://www.auswaertiges-amt.de, Stand: März 2017.
Vgl. 10. Geschäftsklimaumfrage des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft und der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer, 10.2.2013, Externer Link: http://www.ost-ausschuss.de/deutsche-unternehmen-russland-optimistisch.
Vgl. Ende der Sanktionen gegen Russland gefordert, 21.11.2016, Externer Link: http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-11/sanktionen-russland-ost-ausschuss-deutsche-wirtschaft.
Vgl. Steven Geyer, Steinmeier kündigt Kursänderung bei Russland-Sanktionen an, 30.5.2016, Externer Link: http://www.ksta.de/politik/deutsch-russisches-forum-steinmeier-kuendigt-kursaenderung-bei-russland-sanktionen-an-24144300.
Vgl. Auswärtiges Amt (Anm. 5).
Siehe Externer Link: http://www.daad.de/laenderinformationen/russische-foederation.
Vgl. Andreas Heinemann-Grüder, Wandel statt Anbiederung. Deutsche Russlandpolitik auf dem Prüfstand, in: Osteuropa 7/2013, S. 179–194.
Vgl. Markus Kaim/Hanns W. Maull/Kirsten Westphal, Die gesamteuropäische Ordnung vor einer Zäsur – drei Leitlinien für einen Neubeginn, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Aktuell 14/2015.
Vgl. Andreas Umland, Kein russisches Öl mehr!, 25.2.2015, Externer Link: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/russland-oelimporte-eu-embargo.
Wladimir Putin, Von Lissabon bis Wladiwostok, 25.11.2010, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.1027908.
Vgl. Katja Tichomirowa, Merkel lockt Russland, 23.1.2015, Externer Link: http://www.fr.de/514179.
Vgl. Andreas Heinemann-Grüder, Die Radikalisierungsdynamik des Putinismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2014, S. 77–85.
| Article | , Andreas Heinemann-Grüder | 2021-12-07T00:00:00 | 2017-05-18T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/248502/kalter-krieg-oder-neue-ostpolitik-ansaetze-deutscher-russlandpolitik/ | Es gibt verschiedene Vorstellungen davon, wie die deutsche Politik Russland begegnen sollte. Aber wenn die entscheidende Triebkraft für das russische Außenverhalten in dessen Innenpolitik liegt, ist eine kooperative Außenpolitik nur nach einem Regime | [
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Dokumentation: Kritik an neuem Informationsministerium (03.12.2014) | Ukraine-Analysen | bpb.de | Als Minister berufen wurde Juri Stez, ein Vertrauter von Staatspräsident Petro Poroschenko.
"Es ist nicht Aufgabe der Regierung, Informationen zu kontrollieren", sagt ROG-Geschäftsführer Christian Mihr in Berlin. "Propaganda bekämpft man nicht durch Propaganda, stattdessen sollte man unabhängige Medien und kritische Journalisten ermutigen. Es ist kein guter Start für die neu gewählte Regierung, als erstes eine Art Propagandaministerium ins Leben zu rufen."
Das ukrainische Parlament beschloss die Gründung des neuen Ministeriums im Zuge der Abstimmung über die neue Regierung. Das künftige Ministerium soll in erster Linie die russische Propaganda im Land zurückdrängen und sowohl auf der Krim als auch in den von pro-russischen Truppen kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine Gegenpropaganda machen.
Als künftiger Informationsminister wurde Juri Stez ernannt. Stez hat enge Verbindungen zu Staatspräsident Petro Poroschenko. Während der vergangenen Jahre hat unter anderem als Intendant den Fernsehsender Kanal 5 geleitet, der zu Poroschenkos Medienunternehmen gehört. Seit Juni 2014 stand Stez an der Spitze der Informationsabteilung der Nationalgarde und war maßgeblich für die Informationspolitik der Armee zuständig.
Die zivilgesellschaftliche Bewegung Stop Censorship hat die Idee zu dem neuen Ministerium bereits scharf kritisiert. Das unabhängige Institute of Mass Information – der ukrainische Partner von Reporter ohne Grenzen – hat sich der Bewegung angeschlossen. Statt staatlich kontrollierter Informationen fordert Stop Censorship die Stärkung und Förderung der unabhängigen Medien in der Ukraine. Der Vorschlag zu dem Ministerium war kurzfristig eingebracht worden und die Zivilgesellschaft hatte keine Möglichkeit gehabt, sich an Diskussionen über die Pläne zu beteiligen.
Erst am Montag waren die Regeln für Journalisten, die aus dem Osten des Landes berichten wollen, vorübergehend verschärft worden. Das ukrainische Militär gab bekannt, dass Journalisten künftig nur noch in Militärbegleitung in den Osten des Landes reisen dürften, so könne man die Journalisten besser vor Angriffen schützen. Nachdem viele Journalisten und Medienvertreter dagegen protestiert hatten, wurde die Regel am Dienstag nach nur einem Tag wieder außer Kraft gesetzt.
Für Medienvertreter ist die Situation in der Ukraine nach wie vor gefährlich. Dass die Entführungen und Angriffe auf Journalisten vor allem im Osten des Landes in den vergangenen Wochen rückläufig waren, liegt zum einen daran, dass insgesamt weniger Journalisten in die umkämpften Gebiete reisen. Zudem haben die pro-russischen Rebellen in den besetzten Gebieten den Großteil der Medien unter ihre Kontrolle gebracht. Vor allem unabhängige Journalisten haben die Gegend längst verlassen.
In den zurückliegenden Monaten sind Journalisten und Medien in der Ukraine unter massiven Druck geraten. Vor allem im Osten des Landes haben pro-russische Rebellen, aber auch ukrainische Sicherheitskräfte zahlreiche Medienvertreter entführt, verletzt und gezielt bei ihrer Arbeit behindert. Insgesamt sechs Journalisten kamen im Zuge ihrer Arbeit ums Leben. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Ukraine auf Platz 127 von 180 Ländern.
Quelle: Externer Link: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/kritik-an-neuem-informationsministerium/
Lesetipps zum Thema Medienfreiheit in der Ukraine
Freedom of speech violation in Ukraine from the beginning of Russian aggression (infographic, eng.), Ukrainian NGO “Institute of Mass Information” (05.12.2014), http://imi.org.ua/en/news/46812-freedom-of-speech-viola tion-in-ukraine-from-the-beginning-of-russian-aggression-infographic.html
Journalist civic movement “Stop Censorship!” deprecates establishing of state-run censorship in Ukraine (02.12.2014, eng.), Externer Link: http://imi.org.ua/en/news/46749-journalist-civic-movement-stop-censorship-deprecates-establishing-of-state-run-censorship-in-ukraine.html
Regular Report to the Permanent Council by Dunja Mijatović, OSCE Representative on Freedom of the Media (27.11.2014), pp. 26–35, Externer Link: http://www.osce.org/fom/127656?download=true | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-12-15T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/197909/dokumentation-kritik-an-neuem-informationsministerium-03-12-2014/ | Reporter ohne Grenzen kritisiert die am Dienstag beschlossene Gründung eines Informationsministeriums in Kiew. Die neue Behörde soll die Ukraine künftig vor Informationen aus dem Ausland schützen und die russische Propaganda zurückdrängen. | [
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Projekt "Wegweiser“ | Salafismus als Herausforderung für Demokratie und politische Bildung | bpb.de |
Hala Zhour vom Nordrhein-Westfälischen Innenministerium spricht über das Projekt "Wegweiser". (© Tobias Vollmer/bpb)
Wer zu Ihnen kommt, hat Leidensdruck. Meist sind es Mütter, Lehrer/-innen, Sozialarbeiter/-innen oder Gemeindemitglieder. Immer geht es um den eigenen Sohn, den (Mit-)Schüler oder den jungen Koranschüler, der droht in den extremistischen Islamismus/gewaltbereiten Salafismus abzugleiten. Die Mitarbeiter/-innen des Projektes "Wegweiser" sind dann für viele Betroffene die erste Anlaufstelle: diskret ansprechbar, fachlich kompetent und oftmals seelisch beistehend.
Im März 2014 wurde das Projekt "Wegweiser" vom Innenministerium in Nordrhein-Westfalen gestartet, seitdem haben Beratungsstellen in drei Städten ihre Arbeit aufgenommen. Ratsuchende können sich in Düsseldorf, Bochum und Bonn an die "Wegweiser" wenden, wenn sie Fragen zu gewaltbereitem Salafismus haben oder Informationen dazu suchen. Die Beratungsstelle soll besonders jenen Betroffenen weiterhelfen, die bei nahestehenden Menschen ein Abgleiten in die gewaltbereite salafistische Szene befürchten. "Wegweiser" verstehe sich weniger als Aussteiger- denn als Präventionsprogramm, sagt Hala Zhour, die das Projekt für das Innenministerium leitet und auf der Tagung vorgestellt hat.
Die Beratungsstellen setzen dabei auf Partner vor Ort: Welche Menschen, Vereine oder Initiativen sind bereits in der Kommune aktiv? Und wer verfügt über die notwendige Expertise und Kontakte? "Wegweiser" will den Betroffenen gezielt Anprechpartner außerhalb von staatlichen Behörden bieten, ohne die drohende Gefahr einer Strafverfolgung. Persönliche Daten würden nicht an die Behörden weitergeleitet, sagt Zhour.
Die anschließende Diskussion wird von einer Frage bestimmt: An welchen Anzeichen erkennt man einen in den gewaltbereiten Salafismus abgleitenden Jugendlichen? Wann ist die Schwelle zum Extremismus überschritten? Und wer entscheidet das? Ein Diskutant spitzt zu und warnt vor möglicher Diskriminierung: Muss jeder Muslim nun Angst haben, als gewaltbereiter Salafist angeschwärzt zu werden, nur weil er in eine bestimmte Moschee geht?
Zhour versucht die Bedenken zu zerstreuen: Jeder Fall werde diskret als Einzelfall behandelt, jedem Betroffenen Anonymität zugesichert. Diese würden letztlich zuerst selbst entscheiden, was sie als bedenkliches Verhalten ansehen und sich deshalb an die "Wegweiser" wenden. Die Beratungsstellen können dann auf den Sachverstand von Pädagoginnen und Pädagogen, Islamwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern oder Extremismusexperten innerhalb von kooperierenden Behörden oder Initiativen zurückzugreifen, sagt Zhour. So könne man zusammen entscheiden, ob das Verhalten des Jugendlichen unbedenklich ist oder seine Entwicklung weiter begleitet werden müsse.
Die "Wegweiser" übernehmen damit Funktionen, die einige Diskutanten eher in der Verantwortung des sozialen Umfelds sehen: Sind nicht eher die Familie, die Schule und die Gemeinde in der Pflicht, als erste zu intervenieren? Zhour stellt zum Abschluss stattdessen die Gegenfrage: Warum werden diese Institutionen nicht mehr als Ansprechpartner anerkannt? Das "Wegweiser"-Programm soll nun auf ganz Nordrhein-Westfalen ausgeweitet werden.
Mehr unter Externer Link: http://www.mik.nrw.de/verfassungsschutz/islamismus/wegweiser.html
Hala Zhour vom Nordrhein-Westfälischen Innenministerium spricht über das Projekt "Wegweiser". (© Tobias Vollmer/bpb)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-14T00:00:00 | 2014-06-18T00:00:00 | 2021-12-14T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/islamismus/salafismus-tagung-2014/186695/projekt-wegweiser/ | Wer zu Ihnen kommt, hat Leidensdruck. Meist sind es Mütter, Lehrer/-innen, Sozialarbeiter/-innen oder Gemeindemitglieder. Immer geht es um den eigenen Sohn, den (Mit-)Schüler oder den jungen Koranschüler, der droht in den extremistischen Islamismus/g | [
"Islamismusprävention",
"Radikalisierungsprävention",
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"Wegweiser"
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Die Internet-Revolution | USA | bpb.de | Als es 1992 mit dem World-Wide Web in das öffentliche Bewußtsein trat, war das Internet noch eine Computer-zentrierte Technologie, die im beginnenden Informationszeitalter ein nützliches Hilfsmittel darstellte. Keine fünfzehn Jahre später ist der Siegeszug der Technologie allumfassend, Webseiten und E-Mails als Kommunikatonsmittel unverzichtbar und mit dem Web2.0 und mobilen Applikationen hat sich die amerikanische Erfindung des Internets so schnell wie kein Kommunikationsmedium in der Geschichte der Menscheit fundamental in den Alltag einer globalen Welt eingeklinkt. "Es wird der Marktplatz des globalen Dorfes von morgen sein" intonierte Personal Computerpionier Bill Gates eine Zukunft, die wesentlich schneller real wird, als man seinen Computer gegen ein leistungsfähigeres Modell austauscht.
Der Zugang zur digitalen Zukunft ist (noch) amerikanisch
Zugang zum Internet ist ein fast unverzichtbarer Bestandteil für ein ökonomisch funktionierendes Leben im 21.Jahrhundert. Neben der Kluft zwischen Arm und Reich wird nun auch vom "Digital Gap" oder der "Digital Divide" gesprochen, von der Trennung zwischen denen, die Zugang zu digitalen Technologien und dem Internet haben – und denen, die außen vor stehen. Immerhin, knapp ein Fünftel der Weltbevölkerung hat im Jahre 2008 Zugang zum Internet, mit einer jährlichen Wachstumsrate von 6,6 Prozent. Die USA sind nach wie vor das Land mit der höchsten Quote an Internetzugang mit knapp 75% seiner Bevölkerung (zum Vergleich: in Australien sind es knapp 60%, in Europe 49%, in China sind es 19%, aber mit 253 Millionen Usern in absoulten Zahlen hat es die USA mit 220 Millionen Usern nun überholt).
Die Dominanz der USA in diesem Medium ist ungebrochen, nicht nur weil immer noch eine überwältigend hohe Anzahl an Servern und "Backbone"-Technologien, die Datenübertragungsleitungen, amerikanisch sind. Die Internet-Revolution ist in weiten Teilen eine amerikanische, weil das Medium in den USA erfunden und dort auch mit Inhalten versehen wurde. Es kombiniert den Einfallsreichtum, die Finanzkraft und die Werte der Amerikaner (freier Zugang zu Informationen und zu Märkten) beflügelt von der Tatsache, daß das Internet durch seinen amerikanischen Ursprung als Hauptsprache das Englische kennt. Wie genau das Internet und die Tatsache, daß Menschen nun jederzeit und überall weltweit miteinander über alles kommunzieren können, den Gang der Geschichte verändern wird, bleibt abzuwarten. Deutlich ist, dass das Internet schon jetzt enorme Auswirkungen auf die "alten" Medien, die Politik sowie die Privatsphäre des einzelnen im Land seines Ursprungs bewirkt hat.
Medien im Cyberspace
Als im Januar 1998 das angesehene Nachrichtenmagazin Newsweek die Recherche über die außereheliche Affäre des amtierenden Präsidenten Bill Clinton einstellte, war die Zeit für das Internet als journalistischer Akteur gekommen. Ein selbsternannter Redakteur, der allein aus seinem Apartment in Los Angeles Nachrichten jeder Art, geprüft oder ungeprüft, auf seine Webseite packte, hatte keine ethischen Bedenken und ließ die Bombe platzen: "Newsweek kills story on White House intern". Der Lewinsky Skandal begann, veröffentlicht nicht durch ein angesehenes Nachrichtenmagazin mit Hunderten von Journalisten und einer jahrzehntelange Geschichte, sondern von einer kleinen Webseite namens Drudge Report. Mit dem Internet ist nun erstmalig ein Massenmedium in Gebrauch, das tatsächlich einen Rückkanal bietet. Theoretisch hat nun jeder Zugang zu einer Publikationsplattform, der das Geld und das mittlerweile geringe Know-How besitzt, eine Webseite zu betreiben. Seit Online-Medien wie der Drudge Report eigenständige Online-Gemeinden kultivieren und sogar durch ihre Publikation den Sprung in die existierende "alte" Medienwelt geschafft haben, wird das Internet als Medium ernst genommen.
Zeitungen, Radiosender, Fernsehstationen oder Unterhaltungssendungen sind nun alle online vertreten und tragen dazu bei, daß ihr Publikum im realen Leben langsam, aber stetig abnimmt. Die neue "digitale" Generation an Usern will ihre Inhalte konsumieren, wann und wo sie es will und versammelt sich nur noch selten vor dem Fernseher. Vor allem Zeitungen sind in den USA von einem Leser- und Anzeigenschwund betroffen, der selbst bei den großen etablierten Publikationen wie der New York Times oder der L.A. Times zu massiven Entlassungen und Budgetkürzungen geführt hat. Ironischerweise landen die Anzeigen-Dollar nun im Cyberspace, wo neue Spieler wie Google und Yahoo ihr Geld mit Online-Werbung verdienen und seit ein paar Jahren auch das Anzeigengeschäft der Zeitungen technisch abwickeln. Was das für die Zukunft des Journalismus bedeutet, bleibt abzuwarten. Journalistische Qualität und gründliche Recherche kosten Geld. In Zeiten von "Bürgerjournalisten", die heute mit einer Kamera bewaffnet über ein Blog Beobachtungen publik machen und damit auch für Aufmerksamkeit sorgen, scheint das herkömmliche Nachrichtengeschäft seine dominante Stellung zu verlieren.
Die digitale Demokratie
Nach einer Umfrage des Pew Institute for People and the Press vom Sommer 2008 nehmen zwar immer noch eine Mehrzahl der Amerikaner den Wahlkampf über das Fernsehen wahr (71%), aber zunehmend spielt das Internet eine Rolle, vor allem für jüngere Wähler und politische Interessierte zwischen 18 und 34 Jahren. Für 41% ist das Internet die Hauptquelle ihrer Wahlkampf-Informationen. Kein Wunder, sind es doch gerade junge Bürger, die sich im Wahljahr 2008 besonders aktiv am Wahlkampf beteiligen, motiviert durch eine einzigartige Internetkampagne des demokratischen Bewerbers Barack Obama. Wie kein anderer vor ihm hat er es verstanden, das Internet zu einem Werkzeug der Wählermobilisation zu machen sowie zu einem Finanzierungsmotor seiner Kampagne. Dabei tritt Obama in die Fußstapfen des demokratischen Kandidaten Howard Dean, der bereits 2004 als Internet-Kandidat von sich reden machte. Während andere Kandidaten sich im realen Händeschütteln übten, arbeitete Howard Dean mit einer Webseite namens Meetup.com und Hunderten von Bloggern, die ihm direktes Feedback auf seine Reden und Themen gaben. Dean hatte die Stärke des Internets als direktes Kommunikationsmittel mit seinem Wähler erkannt und bald schon eine junge, engagierte Wählergruppe um sich gescharrt. Dass seine Kampagne dann durch einen als unheimlich empfundenen Hurra-Schrei aus den Fugen geriet hat Obama nicht davon abgehalten, von Anfang an seine Fähigkeiten als "community organizer" auf das Web auszudehnen und eine denkbar maximale Community online zu bilden. Über die Webseite werden Aktions-Treffen organisiert, auf Kampagnen-Termine aufmerksam gemacht, Foren gebildet, mit denen sich Gleichgesinnte real treffen und es wird immer wieder um Spenden gebeten.
Wie sehr das Internet ein Instrument der politischen Partizipation sein kann, haben auch die "YouTube"-Debatten des Vorwahlkampfes 2007 gezeigt. Hunderte von Amerikanern setzten sich vor ihre Computer-Kameras und stellten Fragen an die Kandidaten, die diese dann in einer online und im Kabelfernsehen ausgetragenen Debatte beantworteten. Eine private Internet-Seite (YouTube gehört zum Google-Imperium) stellte damit die Plattform und Technik zur Verfügung, in der Bürger ungefiltert wie sonst auch nicht im Fernsehen ihre Fragen stellen konnten. Ein Marktplatz der direkten demokratischen Kommunikation, das Internet machts möglich.
Datenflut und Online-Striptease
Der stetig wachsende Datensatz, der über das Internet zugreifbar ist, wird immer schwieriger zu erschließen. Wer online ist, tippt in der Regel zuerst die Adresse einer Suchmaschine in seinen Browser, um das zu finden, was er sucht. Eine absolute Vormachtstellung hat dabei die Firma Google, die 2008 gerade einmal 10 Jahre alt geworden ist. Google, mit Sitz im Silicon Valley, hat die Informatik hinter der Suchmaschine revolutioniert und nebenbei ein extrem überzeugendes Wirtschaftsmodell entwickelt, das es zu einer der reichsten Firmen der digitalen Branche hat werden lassen. Google ist bis auf wenige nicht unwesentliche Ausnahmen (Rußland, China) auch weltweit die führende Marke bei den Suchmaschinen.
Google verknüpft die Suchanfrage jedes Nutzers mit Werbebotschaften von Anzeigenkunden, die eingeblendet werden, wenn ihr Produkt mit der Suchanfrage übereinstimmt. Eine Revolution in der Werbewirtschaft, die bis dato eher blind ihre Werbebotschaften ausstreute, in der Hoffnung, daß unter den vielen Fernsehzuschauern bspw. einige sein würden, die das beworbene Produkt brauchen. Kehrseite dieses Modells ist eine bis dato ungeahnte Flut an gespeicherten User-Daten. Jede Anfrage wird in den Prozeß der Suchmaschine zurückgefüttert, je mehr Daten das Programm hat, desto bessser kann es lernen, wie das Suchergebnis verbessert wird - aber umso genauere Profile der User werden auch erstellt. Google und auch andere Suchmaschinen sind in ihrem (noch) nicht öffentlichen Wissen über die Nutzer einem Big Brother so nahe wie wenige in der Geschichte vor ihnen.
Aber wer weiß, vielleicht wird das in absehbarer Zeit niemanden mehr stören. In Zeiten von MySpace und Facebook, den auch aus den USA stammenden sozialen Networking-Stars des Internet, bei denen Millionen von Nutzern freiwillig jede Art persönlicher Daten kundtun, ist die Idee eines Datenschutzes vielleicht irgendwann obsolet. Diskussionen über Zugang zum Netz, Kostenfreiheit, Datenübertragung und Datenspeicherung sowie eine weitere Verzahnung der globalen, digitalen Welt bleiben jedenfalls die Konstante in dem Netz, das sich ständig wandelt. | Article | Dagmar Hovestädt | 2022-02-05T00:00:00 | 2011-11-24T00:00:00 | 2022-02-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/10712/die-internet-revolution/ | Das Internet ist eine amerikanische Erfolgsgeschichte. Es hat sich so schnell wie kein anderes Kommunikationsmittel der Menschheit verbreitet. Die Folgen dieser digitalen Revolution beginnen in den USA Spuren zu zeigen: Klassische Medien verlieren an | [
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EU-Kleinstaaten: Motoren der Integration? | Slowenien und Portugal | bpb.de | Einleitung
Als die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) im Dezember 2000 darum rangen, endlich die im Vorfeld der geplanten Osterweiterung nötigen institutionellen Reformen der Union auf den Weg zu bringen, schienen die Fronten klar: Die Vertreter der großen Staaten feilschten mit denen der kleinen um Sitze, Stimmen und Sperrminoritäten. Jede Seite fürchtete, künftig von der anderen majorisiert zu werden. Als Repräsentant der Kleinen legte sich Portugals Regierungschef António Guterres gleich mit mehreren Großen an. Die Behauptung des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, "die Großen (haben) jeden Tag neun von zehn Schritten gemacht. Es ist ein großer Sieg für die Kleinen", konterte er mit historischen Argumenten: "Die portugiesische Geschichte handelt von nationaler Selbstbehauptung auf einer Halbinsel während achteinhalb Jahrhunderten. Ich muss erklären, dass man von einem Verhältnis von 8 zu 5 [Stimmen Spaniens und Portugals im Ministerrat bis 2000, Anm. d. Verf.] zu einem anderen von 28 zu 11 kommt. Das werde ich im Parlament nicht ratifiziert bekommen." Selbst als Großbritanniens Premierminister Tony Blair vorrechnete, dass nach dem geplanten neuen Abstimmungsmodus "das Vereinigte Königreich eine Stimme für zwei Millionen Einwohner (...) und Portugal eine Stimme für jeweils 0,8 Millionen Einwohner" haben werde, erwiderte Guterres unbeeindruckt: "So kann ich den Vertrag nicht annehmen." Hinter diesem offenen Schlagabtausch "Klein gegen Groß" stand ein arithmetisches Problem. Neun der zehn Länder, die 2004 der EU beitreten sollten, sind so genannte Kleinstaaten. Wäre die Gewichtung ihrer Stimmen im Rat der EU ("Ministerrat") nach dem bis dato üblichen Verteilungsschlüssel berechnet worden, hätten sie - je nach Einwohnerzahl - zwischen zwei und fünf Stimmen bekommen. In der Summe hätten die neuen Kleinen zusammen mit den zehn bereits zur EU gehörenden kleineren Staaten demnach über 72 von 124 Stimmen (das entspricht einem Anteil von rund 58 Prozent) im Ministerrat verfügt, gemeinsam aber nur 23,8 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung repräsentiert (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version).
Während die rechnerischen Ungereimtheiten durch eine komplette Neugewichtung der nunmehr 321 Stimmen im Rat letztlich weitgehend ausgeglichen werden konnten, lösten die Komplexität der staatlichen Einzelinteressen und vor allem die Vehemenz, mit der sie im Verlauf der Reformdebatte vertreten worden waren, bei vielen Beobachtern grundsätzliche Bedenken aus. Nach dem Zerfall des weltweiten Blocksystems befinde sich Europa offensichtlich auf dem Weg zum "Kleinstaaten-Kontinent", und das bedeute für die Zukunft der EU nichts Gutes. Der Kampf um die Stimmengewichtung sei nur ein Beispiel für die immer stärkere Fragmentierung der Interessenlage innerhalb der Union, wobei gerade die steigende Zahl kleinerer Mitgliedsländer mit ihren je eigenen nationalen Egoismen die ohnehin schwierige Entscheidungsfindung auf EU-Ebene weiter kompliziere. Im Ergebnis wachse die Gefahr einer "schleichenden Intergouvernementalisierung", die den supranationalen Rechtscharakter der Gemeinschaft auszuhöhlen und durch ein unverbindliches Arrangement internationaler Gelegenheitsallianzen zu ersetzen drohe.
Es gibt viele Gründe dafür, warum eine solche (Rück-)Entwicklung der EU grundsätzlich durchaus denkbar erscheint. Ob allerdings gerade die kleineren Mitgliedsstaaten in besonderer Weise für derartige Tendenzen verantwortlich gemacht werden können, erscheint fraglich. Eine nähere Beschäftigung mit der Rolle, die die Beneluxstaaten, Dänemark, Irland, Portugal, Griechenland, Schweden, Finnland und Österreich in der EU bis heute gespielt haben, legt vielmehr den gegenteiligen Schluss nahe: Gerade diese Kleinen haben sich oft als Garanten für den Erhalt und sogar die weitere Stärkung der EU als handlungsfähige, supranationale Rechtsgemeinschaft erwiesen. Es gibt wenig Anzeichen dafür, warum nicht auch die neuen Kleinen künftig eine ähnlich positive Rolle spielen sollten. Wie klein sind die kleinen EU-Staaten?
Klein und groß sind relative Begriffe, konstitutiv für die Definition ist der jeweilige Bezugsrahmen. Dies gilt auch für die Unterscheidung zwischen kleinen und großen Staaten. Was ein Kleinstaat ist, lässt sich eben nicht absolut bestimmen, sondern nur im Bezug auf diejenigen Länder festlegen, die ihn umgeben oder mit ihm in Beziehung treten. Hier hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges in Europa viel getan: Die Sowjetunion und Jugoslawien zerfielen in eine Vielzahl souveräner Einzelstaaten, aus der Tschechoslowakei gingen zwei Länder hervor, und die fehlende Blockzugehörigkeit machte die nationale Eigenständigkeit auch derjenigen ehemaligen Satellitenstaaten stärker sichtbar, deren Außengrenzen stabil blieben.
Die Wissenschaft reagierte auf diese Entwicklung mit einer Wiederbelebung der lange vernachlässigten Kleinstaatenforschung und legte zahlreiche Abgrenzungs- und Definitionsversuche vor. Im Kern lassen sich die meisten Begriffsbestimmungen auf drei zentrale Kriterien zurückführen, mit deren Hilfe die Größe oder vielmehr die Kleinheit von Staaten festgestellt werden kann. Zu unterscheiden sind demnach (1) immanente bzw. substanzielle Merkmale, (2) kontingente/relationale Kennzeichen und (3) wahrgenommene oder attributive Kriterien. Substanziell klein sind Staaten, wenn sie über so wenige Einwohner und ein so kleines Territorium verfügen, dass sie aus eigener Kraft weder wirtschaftlich noch politisch in der Lage sind, die nötigen kollektiven Güter eines Gemeinwesens (z. B. Infrastruktur, Bildungswesen) zu produzieren. Das Kriterium relationaler Kleinheit besteht in dem Unvermögen, dem Druck anderer Länder standzuhalten bzw. ihnen gegenüber die Eigenständigkeit zu verteidigen. Schließlich kann Kleinheit auch aus der Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung eines Staates resultieren, das heißt, sie wird ihm - unabhängig von messbaren Größenverhältnissen - von außen oder von innen (attributiv) zugeschrieben.
Während substanziell sehr kleine, aus eigener Kraft kaum lebensfähige Staaten in der EU nicht vertreten sind, bildet die relationale Kleinheit einiger Mitglieder geradezu eine Raison d'être der Gemeinschaft. So stand am Beginn des europäischen Einigungsprozesses unter anderem das Bestreben, die relativ kleinen Nachbarn vor einem möglichen neuerlichen Hegemoniestreben der relativ großen Bundesrepublik Deutschland zu schützen. Deshalb schlossen sich mit Gründung der ersten supranational organisierten europäischen Institution, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), drei große (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien) und drei kleine Staaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg) zusammen. Gerade die Benelux-Staaten sahen in einer supranationalen Kontrolle der - ungeachtet der Kriegsfolgen - noch immer imposanten westdeutschen Kohle- und Stahlproduktion eine Sicherheitsgarantie für ihre Existenz.
Ähnliche Motive verbanden die mittelosteuropäischen Staaten mit ihrem seit den neunziger Jahren konsequent verfolgten Beitrittswunsch. Angesichts der traumatischen historischen Erfahrungen als Pufferstaaten zwischen dem erdrückenden westlichen Nachbarn Deutschland und der russischen bzw. sowjetischen Großmacht im Osten verfolgten sie mit einem Beitritt zur Europäischen Union einen doppelten Zweck: Zum einen garantiert ihnen die enge institutionelle Verflechtung mit den Staaten in Westeuropa - zusätzlich zu der militärischen Absicherung nach Osten durch die NATO-Mitgliedschaft - sicherheitspolitische Stabilität. Zum anderen profitieren gerade die kleinen, ökonomisch (noch) schwachen Neu-Mitglieder von der wirtschaftlichen Potenz der großen westeuropäischen Länder, die ohne die supranationalen Strukturen und Verteilungsmechanismen innerhalb der EU sehr schnell zu einseitiger nationaler Dominanz führen könnte.
Die Beziehungen innerhalb der EU veranschaulichen darüber hinaus, wie sehr das Verhältnis zwischen klein und groß bzw. zwischen schwach und stark von der Selbst- und/oder Fremdwahrnehmung der beteiligten Länder abhängig ist - und folglich je nach Betrachtungsweise ganz unterschiedlich beurteilt werden kann. Besonders sichtbar wird diese attributive Ebene von Kleinheit am Beispiel Luxemburgs. Bis zur Aufnahme Maltas im Jahr 2004 handelte es sich um das mit Abstand territorial kleinste und bevölkerungsärmste EU-Mitglied (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version). Diesen Daten stand jedoch von Anfang an eine unverhältnismäßige große Wirtschaftskraft gegenüber. So stellte Luxemburg im Jahr 1950 beispielsweise 2451 Millionen Tonnen Stahl her. Das war selbst in absoluten Zahlen deutlich mehr als die Gesamtproduktion der territorial und bevölkerungsmäßig wesentlich größeren Niederlande (490 Millionen Tonnen) und sogar des europäischen Großstaats Italien (2362 Millionen Tonnen). An der überproportionalen Wirtschaftskraft des Landes hat sich bis heute nichts geändert: Mit dem weitaus höchsten Bruttosozialprodukt pro Einwohner innerhalb der gesamten EU ist Luxemburg ökonomisch gesehen der relativ größte EU-Staat. Nicht zuletzt infolge dieser wirtschaftlichen Potenz übersteigt auch der politische Einfluss, über den Luxemburg innerhalb der europäischen Entscheidungsstrukturen verfügt, das numerische Gewicht seiner Stimmen und Sitze in den verschiedenen Gremien bei weitem.
Für die Berechnung der Stimm- und Sitzanteile spielt die attributive Ebene von Kleinheit bzw. Größe in der EU keine Rolle. Sie orientiert sich ausschließlich an der Bevölkerungszahl eines Mitgliedsstaates. Wie in den meisten föderal strukturierten politischen Institutionen gilt auch in der EU der Grundsatz einer gewissen Überrepräsentation der kleineren Mitglieder. Dies ist zum einen der rechnerischen Schwierigkeit geschuldet, die Stimmen zwischen extrem unterschiedlich großen Einheiten proportional gerecht zu verteilen. Würde man beispielsweise die Mandate im Europaparlament und die Stimmen im Rat der EU nach einem für alle Länder gleichen Bevölkerungsschlüssel vergeben, wären die Kleinen in allen Entscheidungsverfahren zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Zum anderen wurden die bevölkerungsarmen Mitgliedsstaaten in den Gemeinschaftsverträgen auch ganz bewusst mit einem überproportionalen Anteil an Stimmen und Sitzen versehen, um ihrer staatlichen Souveränität im Umgang mit den Großen Nachdruck zu verleihen. Als Kriterium galt hierbei, dass die notwendige Stimmenzahl für eine qualifizierte Mehrheit oder eine Sperrminorität nur durch eine Koalition von großen und kleinen Staaten zu erreichen sein sollte.
Da die Anzahl bevölkerungsarmer Staaten in der EU mit jeder Erweiterungsrunde wuchs, wurde die eingangs skizzierte, erst mit dem Vertrag von Nizza im Jahr 2000 erfolgte Neuberechnung der Sitz- und Stimmverteilung immer dringlicher. Schließlich erscheint es demokratietheoretisch problematisch, wenn wesentliche Entscheidungen innerhalb der EU von einer Mitgliederallianz getroffen werden könnten, die gemeinsam nur eine Minderheit der EU-Bevölkerung repräsentiert. Auch wenn die neuen Mechanismen der Stimmgewichtung seit Nizza hier wieder "gerechtere" Verhältnisse geschaffen haben, ist es dennoch bei einer gewissen, rechnerisch ebenso unvermeidlichen wie politisch gewollten Überrepräsentation der kleinen Mitgliedsstaaten geblieben (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version). Profiteure der europäischen Integration
Wie das Beispiel des relational besonders kleinen, in bestimmten Bereichen attributiv jedoch besonders großen EU-Mitglieds Luxemburg zeigt, kann der politische Einfluss der bevölkerungsärmeren EU-Staaten ihre numerischen Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Gemeinschaft bei weitem übersteigen. Neuere empirische Studien belegen sogar, dass Kleinheit geradezu als Idealvoraussetzung für eine rechnerisch kaum erklärbare Durchsetzungsfähigkeit in den Entscheidungsverfahren der EU gelten kann. Eine partielle Fähigkeit oder Bedeutung, die einem kleinen Land in bestimmten Zusammenhängen besonderes Gewicht bzw. zusätzliche Größe verleiht - wie die überproportionale Wirtschaftskraft im Falle Luxemburgs -, ist dabei nur eine der möglichen Trumpfkarten, um mit den größeren Staaten auf Augenhöhe zu verhandeln. Nationale gesellschaftliche Besonderheiten, die zumindest den älteren Mitgliedern unter den kleinen EU-Staaten gemeinsam sind, werden von der Kleinstaaten-Forschung ebenso als erklärende Variable in Spiel gebracht wie die spezielle Funktionslogik der EU-Institutionen selbst und - last but not least - das große Verhandlungsgeschick, über das viele Politiker aus kleinen Ländern traditionell verfügen.
In der Mehrheit der europäischen Kleinstaaten scheinen nationale politische Besonderheiten den Einfluss auf EU-Ebene tendenziell zu stärken. Der Politikwissenschaftler Peter Katzenstein etwa argumentiert, dass die dichten wirtschaftlichen Verflechtungen dieser Länder mit ihren Nachbarstaaten und die daraus resultierende ökonomische Offenheit im Innern die Herausbildung korporatistischer Entscheidungsstrukturen gefördert hätten. Im Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses stünde nicht Konkurrenz, sondern eine beständige Suche nach politischen Konsenslösungen. Die Bereitschaft zum Kompromiss und zur Entscheidungsfindung durch Verhandeln sei daher in Schweden, Dänemark, Belgien und den Niederlanden, aber auch in Österreich und der Schweiz stärker ausgeprägt als in Deutschland, Großbritannien oder Frankreich. Diese nationale Konsenskultur kommt den kleinen Staaten innerhalb der komplexen Entscheidungsmechanismen der EU-Institutionen zugute, die per definitionem auf den Interessenausgleich und die Kompromissfähigkeit der Akteure bauen.
Verbindet man diese Überlegungen mit verhandlungstheoretischen Erkenntnissen, werden die besonderen Vorteile kleiner Staaten im Aushandlungssystem der EU noch deutlicher. Demnach kommt es für erfolgreiches Verhandeln weniger auf absolute Größe bzw. Stärke an als auf die Wahrnehmung der jeweiligen Verhandlungsoptionen durch alle Beteiligten. Die kleinen EU-Mitglieder profitieren hier von einem Paradox: Gerade weil sie als schwach gelten, wächst ihnen mitunter eine anhand objektivierbarer Faktoren kaum nachvollziehbare Verhandlungsmacht zu. Sie werden von den Größeren oft gar nicht als ernsthafte Vertreter konkurrierender Interessen wahrgenommen, zumal sie sich in vielen Fragen sehr flexibel zeigen. In den wenigen, klar begrenzten Bereichen, die ihr nationales Interesse berühren, gelingt es ihnen dann umso besser, ihren Standpunkt ohne nennenswerte Abstriche durchzusetzen.
Dieses Paradox wahrgenommener Schwäche, die sich in faktische Stärke verwandeln kann, lässt sich am Beispiel der Gemeinsamen Agrarpolitik gut veranschaulichen. Während die großen Staaten ihre weit gefächerten landwirtschaftlichen Interessen in den periodisch wiederkehrenden Aushandlungsprozessen über Produktions- und Absatzquoten von Beginn an offensiv durchzusetzen versuchen und so schnell in ein Geflecht von Interessengegensätzen geraten, werden die Kleinen nur punktuell aktiv - dann allerdings umso vehementer (und erfolgreicher). Dänemark beispielsweise geht es ausschließlich um die Quoten für Schweinefleisch und Milch, während Portugal eigene Interessen vornehmlich in den Bereichen Geflügelhaltung, Weinbau und Getreideproduktion verfolgt. Dass sich die kleinen Länder in den zahlreichen anderen zu verhandelnden Fragenkomplexen zurückhaltend und kompromissbereit verhalten, erhöht die Akzeptanz der in allen Verhandlungsbereichen engagierten größeren Staaten gegenüber ihren wenigen, dann allerdings geschickt verteidigten Anliegen.
Auch die spezifischen Wirkungsweisen der supranationalen EU-Institutionen verschaffen den Kleinen in mancher Hinsicht Vorteile. So gilt die Europäische Kommission den kleinen Mitgliedsstaaten traditionell als "natürliche Verbündete" bei dem Bemühen, sich gegen die nationalen Egoismen der größeren Länder zu behaupten. Schließlich bildet die Kommission, deren Mitglieder nicht als Repräsentanten ihrer Herkunftsländer, sondern ausschließlich als Anwälte der Gemeinschaftsinteressen agieren, ein natürliches Gegengewicht zu den nationalen Dominanzbestrebungen gerade der großen EU-Länder. Die kleineren Mitgliedsstaaten haben sich daher bislang in aller Regel für eine Stärkung der supranationalen Kommissionsbefugnisse eingesetzt, selbst wenn diese Entwicklung letztlich auch zu Lasten ihrer eigenen nationalen Kompetenzen geht. Sie vertrauen auf die Fähigkeit der Kommission, als "Hüterin der Verträge" einen fairen Interessenausgleich zwischen großen und kleinen Mitgliedern herbeizuführen. Es handelt sich also um eine geschickte Kompensation der relationalen Kleinheit bzw. Schwäche, die eine Durchsetzung der eigenen, nationalen Interessen auf direktem Wege unmöglich macht. Eine vorbehaltlose Unterstützung der Gemeinschaftsinteressen kann unter diesen Umständen den nationalen Anliegen besser dienen als ein ohnehin chancenloser nationaler Alleingang.
Zusätzlich zu den skizzierten institutionellen Möglichkeiten, mit deren Hilfe die kleinen Mitglieder die Entscheidungsprozesse in der EU überproportional beeinflussen können, eröffnet die Union ihnen auch auf der Akteursebene beachtliche Spielräume. Auch hier sind es gerade die begrenzten Ressourcen, und zwar sowohl in personeller wie auch in inhaltlicher Hinsicht, die den Kleinen dabei letztlich zum Vorteil gereichen. Angesichts kleiner nationaler Verwaltungen und geringer finanzieller Mittel können die Vertreter der kleinen Staaten an vielen Entscheidungsprozessen nur als stille Beobachter teilnehmen, die ganz bewusst am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit bleiben und keine eigenen Standpunkte vertreten. Gleichwohl haben sie Zugang zu allen Informationen und sind stets in die Verhandlungen eingebunden. Von den Hauptakteuren nicht als Bedrohung der eigenen Interessen wahrgenommen, übernehmen die Vertreter der Kleinstaaten in schwierigen Konfliktsituationen oft eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den widerstreitenden Standpunkten der großen Mitgliedsstaaten.
Es gibt in der Geschichte der europäischen Integration viele Beispiele für die zentrale Bedeutung solcher "ehrlicher Maklerdienste" der Kleinen. So widmete etwa Konrad Adenauer dem damaligen belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak in seinen Memoiren eine wahre Eloge. Als es im Vorfeld der Unterzeichnung der Römischen Verträge von 1956 zu einem zähen Kräftemessen zwischen den drei großen Gründungsmitgliedern der EG kam, habe der Vertreter des kleinen Belgien die vom Scheitern bedrohten Verhandlungen immer wieder gerettet. Ohne Spaaks "kreative Kraft" und die "Fähigkeit, das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden", wäre die Einigung über die Grundlagen der weiteren europäischen Integration schon in ihren Anfängen stecken geblieben, so der erste Kanzler der Bundesrepublik. Auch in der jüngeren Vergangenheit der EU - etwa im Vorfeld der Währungsunion und der Osterweiterung - kam es zu Situationen, in denen die Repräsentanten kleiner Mitgliedsstaaten die nationalen Interessenkonflikte der großen Länder mit Verhandlungsgeschick entschärften und so letztlich die europäische Integration voranbrachten. Diese "ehrlichen Maklerdienste" sind ein nicht zu unterschätzendes Mittel, mit dessen Hilfe führende Politiker kleiner Länder auf der internationalen Bühne ein Maß an Aufmerksamkeit und Anerkennung gewinnen, das ihnen sonst kaum je zuteil würde.
Bilanziert man die genannten Einflussmöglichkeiten der kleinen Staaten auf die politischen Entscheidungsprozesse innerhalb der EU, ergibt sich ein klarer Befund: Die kleinen Länder profitieren gerade aufgrund ihrer relationalen und perzipierten Unterlegenheit im Vergleich mit den großen Staaten am meisten von dem Modell der supranationalen Integration. Der dänische Kleinstaatenforscher Pertti Joenniemi geht sogar so weit, geringe staatliche Größe als eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Einflussnahme auf die europäische Politik zu postulieren. Zumal seit dem Ende des Kalten Krieges nehme die politische Bedeutung der kleinen Länder in Europa gerade deshalb zu, weil sie nicht mit den historischen Bürden klassischer Großmachtpolitik und nationaler Interessenwahrung belastet seien. Unter diesen Voraussetzungen, so Joenniemi, "small could indeed become a synonym for smart in the post-Cold War era". How smart is small?
Die griffige Formel "small is smart" relativiert die Bedeutung der eingangs geschilderten nationalen Prestigeduelle um möglichst große Stimm- und Sitzanteile in den europäischen Entscheidungsgremien in doppelter Hinsicht. Zum einen sind diese formalen Kriterien - wie gezeigt - ohnehin keine zuverlässigen Messinstrumente für den tatsächlichen Einfluss eines Mitgliedsstaates auf die Politik der europäischen Integration. Zum anderen könnte es unter den Voraussetzungen pluralistischer, supranationaler Entscheidungsstrukturen sogar vorteilhaft sein, über wenig formalisierte Macht zu verfügen, da dies den Spielraum für "smarte" (im Sinne von klugen und erfolgreichen) politische Initiativen nicht schmälert, sondern vielmehr erweitert.
Lässt man die Rolle der kleinen Mitgliedsländer in der jüngeren EU-Vergangenheit Revue passieren, scheinen indes nicht alle Akteure von diesen Prämissen überzeugt zu sein. Die nachweisbaren Vorteile, die sich gerade für die relational kleinen Staaten aus ihrer Mitgliedschaft ergeben, verwandeln offenbar weder die Bevölkerung noch die politischen Eliten automatisch in engagierte Befürworter einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration. Auch wenn die meisten kleineren Staaten seit den Anfängen ihrer EG- bzw. EU-Mitgliedschaft zu den verlässlichsten Motoren weiterer Integration zählen, gab es auch gegenteilige Entwicklungen. Besonders deutlich manifestierte sich die EU-Skepsis in Dänemark, wo sich die Wähler 1992 mit knapper Mehrheit gegen die Annahme des Maastrichter Vertrags entschieden, der die europäische Integration in wichtigen Feldern voranbringen sollte. Erst nach der Aushandlung von vier "opting-out"-Bereichen für Dänemark konnte der Unionsvertrag schließlich doch in Kraft treten.
Eine mögliche Erklärung für das Veto der Dänen betont die Angst vor einem für ein kleines Land besonders traumatischen Souveränitätsverlust. Dies könnte auch eine gewisse Reserviertheit gegenüber weiteren Integrationsschritten erklären, die bei einigen der kleinen Neu-Mitglieder in Mittel- und Südosteuropa spürbar ist. Noch ist es zu früh für fundierte Aussagen über die künftige Rolle der sieben kleinen EU-Staaten aus dem ehemals sowjetischen Herrschaftsbereich. Ob sie eher als Bremser oder als Motoren der europäischen Integration auftreten werden, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie sie mit dem historischen Erbe eines latenten Bedrohungsgefühls durch die großen Nachbarn im Osten und Westen umgehen werden. Der erste postkommunistische Staatspräsident Ungarns, Árpád Göncz, sprach nicht nur mit Blick auf sein Land von einer "nationalen Paranoia", die sich aus einem unterschwelligen Minderwertigkeitskomplex angesichts eigener Kleinheit und der tief verwurzelten Furcht vor der Dominanz durch die Größe der anderen speise.
Vor diesem Hintergrund könnten die tatsächlichen Profite entscheidend sein, die sich aus der EU-Mitgliedschaft für die neuen Kleinen bereits ergeben haben und noch ergeben werden. In dem Maße, in dem die Vorteile der Kleinheit in dem supranationalen Entscheidungssystem der Europäischen Union für sie spürbar werden, sollte die Skepsis gegenüber dem teilweisen Verlust der gerade erst errungenen staatlichen Souveränität verblassen. Neben die dargestellten institutionellen und akteursbezogenen Möglichkeiten einer überproportionalen Einflussnahme auf die Entscheidungen der Gemeinschaft, die für alle kleinen Mitgliedsstaaten gleichermaßen gelten, treten in den mittel- und südosteuropäischen Ländern zwei weitere manifeste Vorteile.
Erstens hat die EU-Mitgliedschaft (in Ergänzung zur inzwischen ebenfalls vollzogenen Aufnahme in die NATO) für sie eine deutliche sicherheitspolitische Perspektive. Vor allem in den baltischen Staaten, aber auch in Slowenien, wird der Souveränitätsverlust somit durch einen fühlbaren Gewinn an Sicherheit und an außenpolitischer Handlungsfreiheit kompensiert. Zweitens sind in ökonomischer Hinsicht gerade in den kleinen Ländern, deren nationale Wirtschaft durch relationale Schwäche gekennzeichnet ist, die größten und am schnellsten greifbaren Vorteile des EU-Beitritts zu erwarten, wie die positiven Erfahrungen Irlands, Griechenlands oder Portugals aus früheren Erweiterungsrunden belegen. Betrachtet man das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version), sind hier für alle ost- und südosteuropäischen Staaten mehr oder minder rasche Profite zu erwarten.
Ob sich die inzwischen so zahlreichen kleinen Mitglieder der EU in Zukunft mehrheitlich als Motoren der europäischen Integration erweisen werden, hängt indes von einer fundamentalen Erkenntnis ab, die in der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaften gerade den kleinen Mitgliedsstaaten sehr präsent war: Die in den internationalen Beziehungen beispiellose supranationale Konstruktion der EU basiert auf der Überzeugung aller Beteiligten, die Beziehungen untereinander nicht länger auf - vornehmlich militärisch begründete - Macht zu stützen, sondern auf die Prinzipien des Rechts. Selbst wenn natürlich alle Mitgliedsstaaten von diesem Grundsatz profitieren, sind dessen Auswirkungen für die kleinen Länder besonders entscheidend. Schließlich stellte die sprichwörtliche Macht des Stärkeren gerade für sie durch die Jahrhunderte eine existenzielle Bedrohung dar. Eine weitere Festigung und Vertiefung der rechtsstaatlichen Beziehungen innerhalb der EU liegt damit unweigerlich im nationalen Interesse der kleinen Mitglieder.
Mitschrift des Verhandlungsprotokolls von Nizza, in: El Pais vom 12. 12. 2000, Nr. 1684, zit. nach Christine Landfried, Das politische Europa. Differenz als Potential der Europäischen Union, Baden-Baden 20052, S. 101 - 103. Der schließlich verabschiedete Kompromiss veränderte den Abstimmungsmodus im Ministerrat nochmals, das Stimmenverhältnis von Spanien und Portugal beträgt seitdem 27 zu 12.
Lediglich Polen zählt mit rund 38,5 Millionen Einwohnern im EU-Rahmen zu den mittelgroßen Ländern, vergleichbar etwa mit Spanien (knapp 40 Millionen). Von den beiden Beitrittsländern für 2007 fällt Rumänien - mit 22,5 Millionen Einwohnern - ebenfalls (gerade noch) in die mittlere Kategorie, während mit Bulgarien (8,2 Millionen) ein weiterer Kleinstaat hinzukommen wird.
Neben der Stimmgewichtung im Rat der EU waren auch die künftige Zusammensetzung der Europäischen Kommission sowie die Sitzverteilung im Europaparlament heftig umkämpft.
Romain Kirt/Arno Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaaten-Kontinent Europa. Probleme und Perspektiven, Baden-Baden 2001.
So äußerte sich etwa der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, vgl. C. Landfried (Anm. 1), S. 109. Auf ähnliche Befürchtungen verweist auch Claus Giering, Die institutionellen Reformen von Nizza, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse. Strategien für Europa, Gütersloh 2001, S. 51 - 144, hier: S. 52.
Allein die Größe der EU 25 bzw. bald 27 stellt die supranationalen Mechanismen der Entscheidungsfindung fraglos vor extreme Herausforderungen, ebenso der seit den neunziger Jahren stark veränderte internationale Kontext oder die wachsende Unzufriedenheit der nationalen Bevölkerungen angesichts fehlender Entscheidungstransparenz.
Vgl. Hans Geser, Was ist eigentlich ein Kleinstaat?, in: R. Kirt/A. Waschkuhn (Anm. 4), S. 89 - 124, hier: S. S. 90ff.
Neben Polen, Tschechien, Ungarn, der Slowakei, Litauen, Lettland, Slowenien und Estland traten auch Zypern und Malta 2004 der EU bei. Auf ihre spezifischen Beitrittserwartungen kann hier nicht eingegangen werden.
Vgl. Sasha Baillie, The Seat of the European Institutions. An Example of Small State Influence in European Decision-Making, EUI Working Paper RSC Nr. 96/28, Badia Fiesolana, San Domenico 1996, S. 18.
Vgl. ders., The Position of Small States in the EU, in: Laurent Goetschel (Hrsg.), Small States inside and outside the European Union. Interests and Policies, Boston - Dordrecht - London 1998, S. 193 - 205; ders. (Anm. 9), S. 36ff.
Vgl. Sieglinde Gstöhl, Der Mikrostaat als Variante des Kleinstaats? Erfahrungen mit UNO und EU, in: R. Kirt/A. Waschkuhn (Anm. 4), S. 101 - 124, hier: S. 119f.
Vgl. Peter J. Katzenstein, Small States in World Markets. Industrial Policy in Europe, Ithaca - London 1985. Katzensteins Analyse ist nicht speziell auf die politischen Verhältnisse in der EU ausgerichtet (sie umfasst auch Staaten wie die USA, Japan oder Norwegen), wurde in jüngerer Zeit jedoch erfolgreich auf diese angewendet.
Vgl. S. Baillie, The Position (Anm. 10), S. 202.
Vgl. Baldur Thorhallsson, The Role of Small States in the European Union, Aldershot 2000, S. 53f.
Vgl. Charles-Michel Geurts, The European Commission: A Natural Ally of Small States in the EU Institutional Framework?, in: L. Goetschel (Anm. 10), S. 49 - 64.
Vgl. ebd., S. 50.
Vgl. S. Baillie (Anm. 9), S. 4f.
Konrad Adenauer, Memoiren 1953 - 1956, zit. Nach: Wilfried Loth, L'Allemagne et les petits États dans la construction européenne, in: La Belgique, les petits États et la construction européenne. Actes du colloque de clôture de la VIIe Chaire Glaverbel d'études européennes 2001 - 2002, S. 247 - 258, hier: S. 253.
Pertti Joenniemi, From Small to Smart: Reflections on the Concept of Small States, in: Irish Studies in International Affairs, 9 (1998), S. 62.
Hierzu zählten insbesondere die Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die Vertiefung der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik sowie die Intensivierung der Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik (GASP).
Vgl. zu den Einzelheiten dieser Regelungen sowie zu den Gründen für das "Nein" der Dänen: Uffe Balslev, The Danish Case: International Involvement as the Small State's Remedy for Great Power Dominance, in: L. Goetschel (Anm. 10), S. 107 - 124.
Vgl. z.B. Kai-Olaf Lang, Störenfriede oder Ideengeber? Die Neuen in der GASP, in: Osteuropa, 54 (2004) 5 - 6, S. 443 - 459.
Vgl. A'rpád Göncz, Small Nations, in: Ferenz Glatz (Hrsg.), Die kleinen Nationen in Europa, Budapest 1997, S. 9 - 10.
Vgl. für das Baltikum: Aivars Stranga, The Baltic States in the European Security Architecture, in: Atis Lejins/Zaneta Ozlina (Hrsg.): Small States in a Turbulent Environment. The Baltic Perspective, Riga 1997, S. 11 - 59; für Slowenien: Anton A. Bebler, Security Policy of a Small Central-European Candidate for the Enlarged EU: Slovenia, in: L. Goetschel (Anm. 10), S. 125 - 138.
Vgl. Antti Kuosmanen, Decision-Making in the Council of the European Union, in: L. Goetschel (Anm. 10), S. 65 - 78, hier: S. 78.
| Article | Steinsdorff, Silvia von | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29419/eu-kleinstaaten-motoren-der-integration/ | Im Lauf der Erweiterungsrunden ist das politische Gewicht der Kleinstaaten in der EU gewachsen. Die kleinen EU-Länder zählen in der Regel zu den Motoren einer vertieften Integration. | [
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Zwischen "Störfreimachung" und Rückkehr zum Tagesgeschäft | Deutschland Archiv | bpb.de | I. Einleitung
Große Hoffnungen setzte das SED-Politbüro in die Berliner Mauer. Sie sollte zwei wesentliche Voraussetzungen gewährleisten, damit das sozialistische Modell endlich seine wahren Vorzüge entfalten und im Systemwettbewerb den demokratisch-marktwirtschaftlichen Gegenentwurf, sprich die Bundesrepublik, überflügeln könnte. Erstens würde die Mauer gut ausgebildeten Arbeitskräften den Weg nach Westdeutschland versperren, wo sie bislang in großer Zahl das Wirtschaftspotential des "Klassenfeindes" gestärkt hatten. Künftig blieben sie den volkseigenen Betrieben erhalten und forcierten den ökonomisch-technologischen Fortschritt der DDR-Volkswirtschaft. Zweitens erlaubte das Bauwerk eine effektivere Kontrolle und Reduzierung unliebsamer Kontakte zwischen beiden deutschen Staaten auf kultureller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene. Denn sowohl die über 60.000 DDR-Pendler, die in West-Berlin tagtäglich ihrer Arbeit nachgingen, als auch die mannigfachen Bande zwischen Kirchengemeinden, Sportvereinen, Kulturorganisationen, Wissenschaftsverbänden, Familien und Freunden waren den SED-Oberen ein Dorn im Auge, fürchteten sie doch die "zersetzende Wirkung" von Demokratie und Marktwirtschaft auf das sozialistische Bewusstsein. Bekanntlich erfüllte die Berliner Mauer hinsichtlich der benannten Punkte die in sie gesetzten Erwartungen. Der demografische Aderlass versiegte und auch die gesellschaftlichen West-Ost-Beziehungen dünnten in den 1960er-Jahren merklich aus. Allerdings gelang es trotz der umfassenden Abschottung nicht, zwei bedeutsame westdeutsche Einflussfaktoren auf die eigene Bevölkerung auszuschalten. Zum einen blieben die bundesrepublikanischen Medien in den ostdeutschen Wohnstuben dauerhaft präsent, vor allem der Rundfunk, in zunehmendem Maße aber auch das Fernsehen. Sämtliche Bemühungen, dieser medialen Infiltration Herr zu werden, schlugen fehl und zeigten damit der Partei die Grenzen ihrer Herrschaftsdurchsetzung auf. Zum anderen entwickelten sich auch die Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik in mittelfristiger Perspektive weitgehend ungestört, sieht man einmal von einem
Abb. 1: Umsatzentwicklung des deutsch-deutschen Handels nach Angaben des Statistischen Bundesamtes. Eigene Darstellung.
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kurzfristigen Rückgang des Handelsvolumens während der Jahre 1961 und 1962 ab (Abbildung 1). Dieser Befund überrascht, weil Parteiführung wie Regierung im Rahmen der sogenannten "Störfreimachung" nachdrücklich eine außenwirtschaftliche Neuausrichtung verkündet hatten, die im Kern eine Abkehr vom kapitalistischen Westen und eine verstärkte Hinwendung zum sozialistischen Osten beinhaltete. Auf diese Weise gedachte man künftigen Wirtschaftssanktionen und politischen Erpressungsversuchen jegliche Grundlage zu entziehen. Wieso aber folgten den Worten nicht die entsprechenden Taten? Schließlich lag im Gegensatz zur westmedialen Durchdringung der DDR die Gestaltungskompetenz auf dem Gebiet der Außenwirtschaft doch in den Händen von Partei und Staat. Fehlte es an der politischen Entschlossenheit für einen konsequenten Abschottungskurs, weil dieser sehr teuer zu stehen kommen würde oder sich aus wirtschaftlich-technischen Gründen in Teilen als undurchführbar erweisen könnte? Missachteten Funktionseliten in Ministerialbürokratie und Außenhandelsbetrieben vorsätzlich die parteiamtlichen Anweisungen? Beiden Fragen liegt die Vermutung zugrunde, dass Sachzwänge oder gesellschaftlicher Eigensinn der außenwirtschaftlichen Gestaltungskompetenz engere Grenzen steckten, als es auf den ersten Blick zu erwarten wäre. Ein dritter Erklärungsansatz bietet sich an. Womöglich hatte es frühzeitig aus Bonn Hinweise gegeben, dass die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten überhaupt keine Wirtschaftssanktionen planten. In diesem Falle hätte sich eine kostspielige Umsteuerung des Außenhandels erübrigt. Sollte sich diese Argumentation als stichhaltig erweisen, bliebe zu klären, weshalb Bonn auf wirtschaftliche Strafmaßnahmen verzichtete. Wollte man wegen des isolierten West-Berlins eine Kriseneskalation vermeiden? Oder zweifelten der Kanzler und seine Minister grundsätzlich an der Wirksamkeit eines Lieferboykotts? Offenkundig standen im Sommer 1961 die wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen hüben wie drüben vor einer überaus komplexen Entscheidungssituation. Die Entscheidungsabläufe jener Monate stellen gewissermaßen ein Lehrstück über das Spannungsverhältnis von politischer und ökonomischer Eigenlogik, daraus abgeleiteten Eigeninteressen und politischem Durchsetzungsvermögen in unterschiedlichen Herrschaftssystemen dar. Erweitert man das Blickfeld auf die Fortentwicklung der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen während der Jahre nach dem Mauerbau, so treten zwei strukturelle Schwächen der DDR-Wirtschaft offen zu Tage, die später in der Außenwirtschaftskrise der Ära Honecker eine wesentliche Rolle spielten: unzureichende Innovationsdynamik und, damit zusammenhängend, mangelnde Anpassungsfähigkeit an den ökonomischen Strukturwandel. Beide Aspekte, das Lehrstück vom Sommer 1961 sowie die in den 1960er-Jahren erkennbare ökonomische Strukturschwäche verdienen eine ausführlichere Analyse und werden im Folgenden vorgestellt.
II. Verlässlich, stetig, behäbig: Die organisatorische, rechtliche und wirtschaftliche Struktur der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
Die Wirtschaftsbeziehungen bildeten eine der wenigen konstanten und verlässlichen Größen im Verhältnis beider deutscher Staaten seit 1949. Dies erklärt sich aus dem großen, wenn auch unterschiedlich gelagerten Interesse, welches Ost-Berlin und Bonn mit einem Warenaustausch verbanden. So schätzten SED-Wirtschaftsfunktionäre die Möglichkeit, Engpassgüter zu günstigen Konditionen beziehen und umgekehrt auf dem Weltmarkt schwer absetzbare Produkte in Westdeutschland gewinnbringend verkaufen zu können. Hingegen sprachen aus Sicht der Bundesregierung nur wenige ökonomische Argumente für die Beibehaltung oder gar den Ausbau des deutsch-deutschen Handels. Hierzu zählten etwa die DDR-Braunkohlelieferungen ins Zonenrandgebiet oder die Lebensmittelversorgung West-Berlins aus dem Umland. Mehr noch aber gaben politische Erwägungen den Ausschlag für ein Festhalten am Warenaustausch über die innerdeutsche Grenze hinweg. Seine Funktion als deutschlandpolitische Klammer bzw. Brücke – auch mit Blick auf eine mittelfristig erwartete Wiedervereinigung – sowie seine Qualität als Verhandlungspfund im Kontext der Berlinfrage galten als überzeugende Gründe. Das handelstechnische Regelwerk war im Berliner Abkommen vom 20. September 1951 festgeschrieben und am 16. August 1960 modifiziert worden. Darin verständigten sich beide Seiten über Art und Menge der auszutauschenden Waren bzw. Dienstleistungen. Anpassungen an geänderte Rahmenbedingungen, kurzfristige Entwicklungen und aktuelle Fragen diskutierten die Verhandlungsdelegationen in 14-täglichen Routinebesprechungen, bei denen bisweilen auch allgemeinpolitische Anliegen auf der Tagesordnung standen. Der Güteraustausch wurde im Clearingverfahren über die Deutsche Bundesbank und die Deutsche Notenbank abgerechnet. Da beide Währungen nicht konvertibel waren, musste eine sogenannte "Verrechnungseinheit" (VE) eingeführt werden. Aus Gründen der politischen Imagepflege galt das Verhältnis von 1 DM-West = 1 VE = 1 DM-Ost, auch wenn diese Parität eine Überbewertung der DM-Ost bedeutete. Weil aber dem deutsch-deutschen Handel die in der Bundesrepublik geltenden Marktpreise zugrunde lagen, entsprach die VE hinsichtlich ihres tatsächlichen Wertes dem der DM-West. Mittels eines zinslosen Überziehungskredits ("Swing") konnten beide Seiten etwaige Negativsalden in ihren Handelsbilanzen ausgleichen. Im Zeitraum von 1950 bis 1960 wuchs das Handelsvolumen von, gemessen am Vorkriegsstand, bescheidenen 671 Millionen VE auf zwei Milliarden VE. Der auf den ersten Blick beeindruckende Anstieg um rund 210 Prozent liegt deutlich unter den Vergleichswerten für den bundesdeutschen Außenhandel (+395 %) und für den DDR-Außenhandel (+401 %). Daher widerspiegeln die Zahlen weniger die wachsende (Re-)Integration als vielmehr das Auseinanderdriften beider deutscher Staaten auf ökonomischem Felde. Eine genauere, hier nicht weiter auszuführende Analyse würde aufzeigen, dass der politisch motivierten West- bzw. Ostintegration beider Staaten erheblicher Anteil an dieser Entfremdung zukam. Allerdings resultierte dieser Trend keineswegs nur aus den außenpolitischen Richtungsentscheidungen. Die geringe Entwicklungsdynamik des deutsch-deutschen Handels lag nach selbstkritischer Einschätzung zahlreicher DDR-Außenhändler und Vertreter der DDR-Ministerialbürokratie vor allem an den unzureichenden Produktions- und damit Lieferkapazitäten der volkseigenen Industrie, an Qualitätsmängeln ihrer Produkte, an Schwächen beim Service und Kundendienst sowie am wachsenden technologischen Rückstand wichtiger Schlüsselbranchen. Beispielsweise verloren ehedem konkurrenzfähige Branchen wie die Elektrotechnik oder der Büromaschinenbau peu à peu Marktanteile im Westen.
Abb. 1: Umsatzentwicklung des deutsch-deutschen Handels nach Angaben des Statistischen Bundesamtes. Eigene Darstellung.
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Der prozentuale Anteil von Maschinenbau-erzeugnissen an den gesamten DDR-Lieferungen in die Bundesrepublik sank von 18 Prozent im Jahr 1953 auf zehn Prozent im Jahr 1958. Kompensiert wurde dieser Rückgang durch Zuwächse bei Grund- und Rohstoffen. Insbesondere die Braunkohle trug mit mehr als einem Viertel des Gesamtwertes aller DDR-Lieferungen wesentlich zu einer halbwegs ausgeglichenen Handelsbilanz bei. Allerdings bahnte sich in der Bundesrepublik bereits der energiewirtschaftliche Strukturwandel von den Primärenergieträgern Braun-/Steinkohle zum Mineralöl ab. Folglich wandelte sich die Braunkohle vom Verkaufsschlager zum Ladenhüter. Der allgemeine Trend zum technisch anspruchsloseren, damit weniger profitablen Güterspektrum rückte die DDR in eine zunehmend inferiore Position. Umgekehrt verfügte die Bundesrepublik insbesondere bei Spezialstählen, nahtlosen Rohren und hochwertigen Maschinen über eine außerordentlich starke Verhandlungsbasis. Angesichts der für die DDR so misslichen Situation bestand zwischen politischer, administrativer und operativer Ebene, sprich zwischen Partei, Außenhandelsministerium und Außenhandelsunternehmen ein tiefer Dissenz bezüglich der Frage, wie künftig vorzugehen wäre. Einerseits schätzten vor allem Wirtschaftsfunktionäre die hochwertigen Lieferungen aus Westdeutschland, für die keine Devisen aufgebracht werden mussten. Unterstützt wurden sie in ihrer Haltung von zahlreichen Betriebsleitern und Ingenieuren, die aus positionsbezogenem Eigeninteresse an den bewährten Geschäftskontakten in die Bundesrepublik festhalten wollten. Andererseits warnten ideologische Puristen stets vor einer wirtschaftlich-technologischen Abhängigkeit, Vertreter der Sicherheitsorgane sorgten sich vor Diversion und Sabotage.
III. Kündigung – Störfreimachung – Mauerbau. Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen im Kontext der zweiten Berlinkrise
Die Überzeugung, dass die DDR sich aus einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zur Bundesrepublik befreien müsste, lässt sich bis in die Anfänge der deutsch-deutschen Geschichte zurückverfolgen. Aber erst im Januar 1961 erlangte sie politische Handlungsmacht in Gestalt des Beschlusses der Staatlichen Plankommission "über die Sicherung der Wirtschaft der DDR gegen willkürliche Störmaßnahmen militaristischer Kreise in Westdeutschland vom 4. Januar 1961". Den maßgeblichen Impuls für diese weitreichende Entscheidung gab die Kündigung des Berliner Abkommens durch die Bundesregierung am 30. September 1960. Sie sollte zum 1. Januar 1961 in Kraft treten. Vor allem Kanzler Konrad Adenauer und Außenminister Heinrich von Brentano hatten gegen den Widerstand von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard diesen sehr energischen Schritt beschlossen, in Reaktion auf das vom 1. bis 4. September 1960 verhängte Besuchsverbot für Bundesbürger in Ost-Berlin. Das Einreiseverbot wollte das SED-Politbüro als Sanktion für die zeitgleich in West-Berlin abgehaltene Jahrestagung des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen sowie für den vom Bund der Vertriebenen organisierten "Tag der Heimat" verstanden wissen. Die sich wechselseitig hochschaukelnde Konfrontation führte schließlich zur Kündigung des Berliner Abkommens. Auch wenn ein tatsächlicher Handelsabbruch nach zähem Ringen in letzter Minute noch abgewendet worden war, blieb SED-Chef Walter Ulbricht misstrauisch und nahm den Vorgang als willkommenen Anlass, seine latenten Sorgen vor westdeutschen Erpressungsversuchen in das konkrete Programm der "Störfreimachung" münden zu lassen. Bestärkt fühlte er sich in seinem Argwohn durch eine neue Regelung, welche die Bundesregierung ungeachtet allen Protests des ostdeutschen Delegationsleiters verabschiedet hatte. Die ab Januar 1961 geltende Widerrufklausel sah vor, dass im Falle politischer Unbotmäßigkeiten der DDR einzelne Lieferverträge kurzfristig außer Kraft gesetzt werden konnten. Damit verfügte Bonn über ein sehr fein justierbares Sanktionsinstrument, ohne das Berliner Abkommen gleich als Ganzes in Frage zu stellen. Die Parteiführung interpretierte die Widerrufklausel als einen untrüglichen Hinweis auf unlautere Absichten der Bundesregierung, sprich die Behinderung des wirtschaftlich-technologischen Fortschritts in der DDR. Eben diesem Ansinnen sollte die Störfreimachung entgegenwirken. Dabei stand keineswegs das Ende der deutsch-deutschen Handelsbeziehungen zur Debatte. Vielmehr strebte man ihre Ausgestaltung in einer Weise an, die keine ernsthaften Beeinträchtigungen des Produktionsablaufes durch westdeutsche Akteure mehr zuließ. Konkret galt es, aus der Bundesrepublik bezogene Waren mit hohem Störpotential für die volkseigene Industrie ganz oder teilweise zu substituieren, was auf drei Wege vorstellbar war: Einsparung – Ersatz – Verlagerung. Oberste Priorität wurde der Einsparung beigemessen. Falls sie sich nicht realisieren ließe, suchte man nach Möglichkeiten, das entsprechende Produkt selbst herzustellen oder ein Funktionsäquivalent zu entwickeln. Erwies sich auch dieser Weg als nicht gangbar, setzte man auf die Verlagerung der Bezugsquelle. Vorrangig wünschte man Lieferanten aus der Sowjetunion zu gewinnen, aber auch Betriebe aus anderen sozialistischen Staaten kamen in Frage. Nur wenn Hersteller aus verbündeten Ländern wegen technischer oder kapazitärer Überforderung abwinkten, durften potentielle Vertragspartner in neutralen oder gar in NATO-Staaten angesprochen werden.
Plakat des VEB Filmfabrik AGFA Wolfen zur Leipziger Messe, 1958. (© Bundesarchiv, Plak 103-018-013, Grafik: Schneider)
Die Störfreimachung erfasste neben materiellen Produkten auch immaterielle Güter. Bei Lizenzen, Patenten und Warenzeichen untersagte das Politbüro jedwede Form bislang praktizierter Kooperationen. Das betraf beispielsweise den VEB Filmfabrik Wolfen, der gemeinsam mit der Agfa AG Leverkusen Fotofilme unter dem Label "Agfa" auf Drittmärkten vertrieb. Nutzungskonflikte um bestimmte Firmennamen galt es rasch zu lösen. Im prominenten Fall "Deutsche Lufthansa" musste man nach langjährigem Streit 1963 Firmenname und -logo dem in Köln ansässigen Unternehmen zugestehen und fortan unter dem Namen Interflug GmbH den Flugverkehr aufrechterhalten. Schließlich sollte die konsequente Umstellung der technischen Normierung vom deutschen System (DIN) auf das sowjetische System (GOST) bzw. die ostdeutsche Variante TGL vorangetrieben werden, ein Vorhaben, das sich bereits etliche Jahre hingezogen hatte. Es liegt auf der Hand, dass eine solche außenwirtschaftliche Neuausrichtung organisatorisch sehr aufwändig und finanziell kostspielig war. André Steiner zufolge floss allein im Jahr 1962 knapp ein Drittel der für Forschung und Entwicklung eingeplanten Gelder in die verschiedenen Maßnahmen. Insgesamt dürften sich die Ausgaben für die "Störfreimachung" auf rund eine Milliarde MDN belaufen haben. Wenn so viel Geld in die Hand genommen wurde, stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Erfolgsbilanz. Zahlreiche Berichte an die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle (ZKSK) belegen, dass die Umsetzung der Störfreimachung ausgesprochen schleppend verlief. Diesen Eindruck bestätigt auch der Bericht einer vom Politbüro eingesetzten Untersuchungskommission, dem die Überprüfung von über 40 VEB aus den Bereichen Chemie, Maschinenbau, Leicht- und Rundfunkindustrie zugrunde lag. Im Wesentlichen verzeichnen die Quellen vier neuralgische Punkte:
Fehlendes technisches know how:
Oftmals scheiterte die eigene Herstellung des zu substituierenden Produktes oder eines funktionsäquivalenten Ersatzproduktes an unzulänglichen technischen Kenntnissen.
Engpässe bei Ressourcen bzw. Produktionskapazitäten:
Selbst wenn das erforderliche Expertenwissen vorhanden war, verhinderten Engpässe bei Material und Produktion einen vollständigen Verzicht auf bestimmte Westimporte. Das betraf indirekt auch die Versorgungslage in der Sowjetunion, die zahlreiche Anfragen nach kompensatorischen Lieferungen abschlägig beschied.
Mangelhafte Planung, Koordinierung und Umsetzung:
Schwächen auf der organisatorischen Ebene sind in großer Zahl dokumentiert, ebenso die dadurch hervorgerufenen massiven Reibungsverluste. Stellvertretend für zahlreiche andere Beispiele sei folgender Fall geschildert: Dem VEB Karl Liebknecht/Magdeburg gelang es auftragsgemäß, im Jahr 1961 westdeutsche Kurbelwellen durch Eigenproduktion zu ersetzen; die für die Herstellung notwendigen Manometer aber mussten aus der Bundesrepublik bezogen werden. Damit wurde das Ziel einer Störfreimachung eindeutig verfehlt. Ironie der Geschichte: die Manometer waren bis 1960 in der DDR selbst hergestellt worden, aufgrund einer Planumstellung hatte man aber die Produktion aufgegeben.
"Eigensinn" auf der operativen Ebene:
Es ist eine triviale Einsicht, dass eine Reform nicht jenen Gruppen überlassen werden sollte, die von ihr eher Nachteile zu erwarten haben. Zu groß ist das Risiko, dass sie das Projekt stillschweigend im Sande verlaufen lassen. Die zahlreichen Klagen von Parteikontrolleuren über die "Westkrankheit" der technischen und ökonomischen Funktionseliten, welche lieber an bewährten Geschäftspartnern in der Bundesrepublik festhalten, als die mühselige und kostspielige Suche nach Ersatzlösungen oder nach zuverlässigen Lieferanten aus den sozialistischen Staaten auf sich nehmen würden, dürfen als Beleg für diese Einsicht gelten. Die Beobachtung war plausibel, entsprach sie doch den Eigeninteressen von Außenhändlern und Ingenieuren. Ihr wichtigstes Anliegen bestand in der Erfüllung der Planvorgaben, was am ehesten in Kooperation mit bewährten Partner und vertrauten Qualitätsprodukten gelang. Der politisch-ideologische Hintergrund spielte bei derartigen Erwägungen eine nachrangige Rolle. Dies umso mehr, als gegenüber den sozialistischen Betrieben in den "Bruderländer" erhebliche Vorbehalte hinsichtlich Lieferfähigkeit, -willigkeit, Vertragstreue und Produktqualität verbreitet waren.
Die Schlosserbrigade "Geschwister Scholl" im Braunkohlenkombinat "Schwarze Pumpe" wurde zum 1. Mai 1962 mit dem Titel "Kollektiv der sozialistischen Arbeit" für ihre Initiative bei der Störfreimachung ausgezeichnet. (© Bundesarchiv, Bild 183-92831-0021, Foto: Werner Großmann)
Trotz massiver Probleme erzielte die Störfreimachung nachweisbare Effekte, in einzelnen Industriezweigen sogar sehr beachtliche. Beispielsweise betrug der Umsatzrückgang im deutsch-deutschen Handel während der Jahre 1960–1962 bei der Elektrotechnik rund 62 Prozent, gefolgt vom Maschinen- und Fahrzeugbau (–54 %) und Feinmechanik/Optik (–46,2 %). Ob damit die Branchen tatsächlich als "störfrei" angesehen werden konnten und in diesem Sinne die Kampagne ihr Ziel erreichte, lässt sich schwer einschätzen. Diesbezügliche in den Kontrollberichten enthaltene Erfolgsmeldungen sind mit Vorsicht zu interpretieren, handelt es sich doch um kaum überprüfbare Selbstauskünfte der einzelnen Industriezweige. Außerdem wurde die gesamte Aktion keinem "Stresstest" seitens der Bundesregierung unterzogen. Selbstverständlich beriet das Bundeskabinett nach dem 13. August 1961 ausführlich über die Frage, ob es auf den Mauerbau mit Wirtschaftssanktionen reagieren sollte. In der Vergangenheit hatten sich Bundeskanzler und Außenminister mit ihrer restriktiven handelspolitischen Linie mehrfach gegen den Bundeswirtschaftsminister durchzusetzen vermocht. Daher überrascht es, dass ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Berlinkrise und damit der deutschlandpolitischen Konfrontation Wirtschaftssanktionen keine nennenswerte Rolle in den Planungen spielten. Ludwig Erhard leistete offenkundig erfolgreiche Überzeugungsarbeit für seine auch in Krisenzeiten kooperativere Linie gegenüber der DDR. Drei Hauptargumente dürften seine kabinettsinternen Kontrahenten zur Einsicht gebracht haben: Erstens lehrte die Erfahrung der fehlgeschlagenen Kündigungsepisode vom Herbst 1960, dass der innerdeutsche Handel seine Funktion als politisch-ökonomisches Druckmittel weitgehend verloren hatte. Umgekehrt wurde ein Schuh daraus: Völlig zu Recht argumentierte Erhard, nur intensive Wirtschaftsbeziehungen könnten gegebenenfalls für politische Gegenleistungen genutzt werden. Der vormalige sowjetische Botschafter in Bonn, Julij A. Kwizinskij, fasste diesen Sachverhalt einmal in das anschauliche Bild vom "goldenen Angelhaken". Zweitens befürchteten alle Kabinettsmitglieder, dass Wirtschaftssanktionen die Berlinkrise weiter anheizen, den Verkehr von und nach West-Berlin gefährden und die Situation in unvorhersehbarer Weise zuspitzen könnten. Das dritte und wohl entscheidende Argument bezog sich indes auf die Haltung der westlichen Verbündeten und deren große Exportunternehmen. Weder die politischen noch die ökonomischen Akteure dieser Länder, so Erhard, hätten in der Vergangenheit Rücksicht auf die besondere deutsche Frage genommen. Im Gegenteil: wo immer sich die Gelegenheit bot, hätten westeuropäische Unternehmen profitable Geschäfte in Osteuropa und namentlich in der DDR getätigt. Es wäre daher zu befürchten, dass die Konkurrenz einen bundesdeutschen Lieferboykott umgehend unterlaufen und dauerhaft Marktanteile gewinnen würde. Tatsächlich signalisierten die Verbündeten nach dem 13. August 1961 sowohl in bilateralen Regierungskonsultationen als auch in den übergeordneten Gremien von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und NATO wenig Bereitschaft, in irgendeiner Weise ein Teilembargo gegen die DDR oder ihre sozialistischen Verbündeten zu verhängen. Insbesondere den Hinweis auf die westeuropäischen Konkurrenten griffen bundesdeutsche Wirtschaftsverbände und prominente Manager auf und unterstützten Erhards Position in der Öffentlichkeit, aber auch gegenüber Adenauer. Um nun nicht völlig untätig zu wirken, sprach die Bundesregierung in Abstimmung mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie eine Boykottempfehlung für die Leipziger Herbstmesse 1961 aus. Dem internationalen Aushängeschild der DDR wollte man wenigstens einen Kratzer versetzen. Immerhin traf der Aufruf auf beachtliche Resonanz. Statt der üblicherweise mehr als 1.000 Aussteller aus der Bundesrepublik fanden sich im Herbst 1961 gerade mal 494 Firmen auf dem Leipziger Messegelände ein. Insgesamt verzeichnete die Herbstmesse 1961 nur rund 7.700 westdeutsche Besucher gegenüber 27.800 ein Jahr zuvor. Der Einbruch war gewiss dramatisch, aber kaum nachhaltig. Ab dem Jahr 1963 erreichten die Zahlen wieder den Stand vor dem Mauerbau. Das Politbüro hatte sehr genau die Stimmung in den westlichen Hauptstädten mit Blick auf ein drohendes Embargo studiert und war bereits im Herbst 1961 zur Einschätzung gelangt, dass weder eine geschlossene westliche Sanktionsfront noch ein Abbruch des innerdeutschen Handels zu befürchten wären. Ungerührt von der offiziell weiterhin propagierten und vorangetriebenen Störfreimachung entwickelte das Außenhandelsministerium daher um die Jahreswende 1961/62 Pläne für neue Kooperationsprojekte mit der Bundesrepublik. Beispielsweise sondierte Chefunterhändler Heinz Behrendt im Frühjahr 1962 in vertraulichen Gesprächen die Möglichkeit, außerhalb des Berliner Abkommens einen Kredit über zwei Milliarden VE mit einer Laufzeit von rund zehn Jahren zu erhalten. Die Planungen sahen vor, dass die Rückzahlung über Warenlieferungen erfolgen sollte. Zwar platzte das Geschäft wegen einer Indiskretion und weil Ulbricht ein öffentliches Schuldenstigma mehr fürchtete, als er ökonomische Vorteile aus dem Kreditgeschäfte wertschätzte. Dennoch belegt der Vorgang das anhaltend hohe Interesse des Politbüros an intensiven Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik. Selbiges gilt für die handelspolitische Direktive des Jahres 1963. Sie beinhaltete die Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik, wobei eine Ausweitung von Steinkohlebezügen und der Import von Industrieanlagen als vorrangige Ziele galten. IV. Entspannung, Deregulierung und die Mineralölfrage
Nimmt man die programmatischen Regierungserklärungen Konrad Adenauers, Ludwig Erhards und Kurt Georg Kiesingers zu Beginn ihrer jeweiligen Kanzlerschaften als Indikator, zeichnete sich ein grundlegender Leitbildwandel in der innerdeutschen Handelspolitik ab. Die "Politik der Stärke" wich mehr und mehr der Auffassung vom "Wandel durch Annäherung". Während Adenauer und Erhard sich noch recht zurückhaltend zu Initiativen bei den deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen geäußert hatten, setzte Kiesinger in seiner Antrittsrede am 13. Dezember 1966 einen unmissverständlichen Akzent. Die Große Koalition strebte nicht nur eine gezielte Förderung des Warenaustausches mit der DDR an. Sie akzeptierte auch Verhandlungen auf oberster Behördenebene, sprich Ministerien. Außerdem befürwortete sie ausdrücklich eine Ausweitung von Kreditgeschäften. Kiesingers Ankündigung blieb keineswegs ein Lippenbekenntnis, sondern schlug sich in einem umfangreichen handelspolitischen Liberalisierungspaket nieder. Über 20 Vereinfachungen und Erleichterungen beschloss die Große Koalition für den Güter- und Dienstleistungsverkehr mit der DDR. Zu den wichtigsten Punkten zählten:
Abschaffung der Widerrufklausel:
Mit dem Verzicht auf diese von Ost-Berlin heftig kritisierte Regelung signalisierte die Bunderegierung der anderen Seite, dass sie nicht länger eine Handelspolitik der Nadelstiche zu praktizieren gedachte.
Dynamisierung des zinslosen Überziehungskredits: Die im Außenhandel übliche Anpassung von Überziehungskrediten an das jeweilige Handelsvolumen bedeutete nicht nur eine Erleichterung in der alltäglichen Praxis, sondern symbolisiert eine Angleichung an die Gepflogenheiten im Warenverkehr zwischen souveränen Staaten. Damit bereitete die Große Koalition keineswegs der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR den Boden. Vielmehr verabschiedete sie sich von den verkrampften Formalismen im Umgang mit der DDR, wie sie die Ära der Hallstein-Doktrin gekennzeichnet hatten. Einführung einer Bundesgarantie für langfristige Investitionsgüterlieferungen: Das Pendant zur Hermesbürgschaft im Außenhandel kam vor allem der eigenen Exportindustrie zu Gute. Sie hatte schon lange über die Benachteiligung beim Industrieanlagenbau in der DDR gegenüber westeuropäischen Konkurrenten geklagt. Gründung der Gesellschaft zur Finanzierung von Industrieanlagen: Die Gesellschaft beriet Unternehmen bei der Anbahnung und Abwicklung komplexer Anlagengeschäfte mit der DDR. Sie stellte eine sinnvolle Ergänzung der Bundesgarantie dar. Zulassung neuer Kooperationsformen: Mit dieser Entscheidung öffnete Bonn den westdeutschen Unternehmen neue Geschäftsfelder in der DDR (Joint Venture, Lizenzproduktion, Gestattungsproduktion). Zugleich beseitigte sie damit einen Wettbewerbsnachteil gegenüber westeuropäischen Konkurrenten.
Parallel zu diesem Liberalisierungspaket machte sich im deutsch-deutschen Wirtschaftsdialog eine atmosphärische Entspannung breit. Galten zu Adenauers Zeiten persönliche oder schriftliche Kontakte auf den oberen Ebenen der Ministerialbürokratie wegen der vermeintlichen deutschlandpolitischen Signalwirkung als Katastrophe, sah man dies nun sehr viel gelassener. Gespräche zwischen Staatssekretären, Briefwechsel zwischen Ministern und sogar zwischen Kanzler und Ministerpräsident regten kaum noch jemanden ernstlich auf. Ein weiterer Indikator für das geänderte Klima ist in den zahlreichen Kontakten zwischen Wirtschaftsvertretern und dem Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel zu sehen. Manager wie Ernst Wolff Mommsen, Berthold Beitz, Carl Hundhausen, Otto Wolff von Amerongen drückten sich dort Ende der 1960er-Jahre gewissermaßen die Klinke in die Hand. Angesichts der politisch deutlich entspannteren Atmosphäre erscheint es folgerichtig, dass ab 1963 der deutsch-deutsche Warenaustausch wieder auf den Wachstumspfad der 1950er-Jahre einschwenkte. Allerdings verlief er wie gehabt deutlich flacher als jener des bundesdeutschen Außenhandels. Legte der deutsch-deutsche Wirtschaftsaustausch zwischen 1960 und 1969 um 89 Prozent zu, stand der außenwirtschaftliche Vergleichswert bei 133 Prozent. Wie schon länger zu beobachten, verloren die traditionellen, vormals technisch hochentwickelten und profitstarken Exportbranchen Maschinenbau und Elektrotechnik gegenüber dem Westen immer weiter an Boden. Mit dem Einsetzen der mikroelektronischen Revolution verstärkte sich dieser Trend.
VEB Erdölverarbeitungswerk Schwedt, Juni 1964. (© Bundesarchiv, Bild 183-C0606-0005-001, Fotograf: o.A.)
Bislang hatte die DDR den Absatzeinbruch durch die Steigerung ihrer Braunkohlenlieferungen auszugleichen vermocht. Der Siegeszug des Primärenergieträgers Mineralöl und seiner Derivate zwang die DDR-Außenhandelsfunktionäre allerdings für die 1960er-Jahre zu einer neuen Kompensationsstrategie. Tatsächlich gelang es, durch den Ausbau der petrochemischen Industrie und unter Ausnutzung der außerordentlich günstigen Erdölimporte aus der Sowjetunion die Lieferung mit entsprechenden Produkten in die Bundesrepublik erheblich zu steigern. Im Jahr 1963 lieferte die DDR petrochemische Erzeugnisse im Wert von 192 Millionen VE nach Westdeutschland, was beachtliche 19 Prozent der Gesamtlieferungen waren. Dabei profitierte die DDR von einer besonders vorteilhaften Marktsituation. Während nämlich die westdeutschen Erdöleinfuhren aus den USA oder dem Nahen Osten mit einem erheblichen Importzoll versehen waren, entfiel diese Abgabe auf die DDR-Kontingente. Denn bei der DDR handelte es sich nicht um Ausland im völkerrechtlichen Sinne, weshalb die Zollgesetzgebung nicht zu Anwendung kommen durfte.
Braunkohle- und Kraftstofflieferungen der DDR an die Bundesrepublik Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes. Eigene Darstellung.
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So konnten die DDR den Verkaufspreis ihrer Mineralölprodukte um den Betrag des Importzolls anheben, ohne an Absatzchancen einzubüßen. Das erbrachte einen Mehrerlös von rund 125 Millionen VE pro Jahr. Allerdings endete diese vorteilhafte Marktlage exakt mit dem 1. Januar 1964. Im Zuge der Harmonisierung des EWG-Außenzolls war die Bundesregierung verpflichtet, zum diesem Termin ein Gesetz über die Umstellung der Abgaben auf Mineralöl zu erlassen. Es schrieb die Abschaffung des Importzolls für Mineralöl vor bei gleichzeitiger Erhebung einer Steuer in gleicher Höhe. Aus Gründen der Steuersystematik galt diese Abgabe auch für die DDR-Kontingente, der Sondergewinn entfiel. Die Folgen für die DDR-Handelsbilanz waren dramatisch: Binnen Jahresfrist sank der Absatz bei Mineralölprodukten von 191,7 Millionen VE (1963) auf gerade mal 42,5 Millionen VE., in den Jahren 1967 und 1968 stellte die DDR ihre Lieferungen sogar ganz ein. Kaum eine Maßnahme belegt eindrücklicher, dass die Integration der Bundesrepublik in die EWG zugleich eine Abkehr vom anderen Teil Deutschlands implizierte. Die Bestürzung darüber war im Politbüro und dem Außenhandelsministerium groß, und Walter Ulbricht ging in seiner Rede auf dem VI. Parteitag 1963 auf dieses Thema ausführlich ein. In ihrer Hilflosigkeit ließen Walter Ulbricht und Erich Apel, Leiter der Staatlichen Plankommission, die Kündigung des Berliner Abkommens prüfen, verwarfen aber diesen Gedanken wieder. Stattdessen forderten sie von der Bundesregierung Kompensationszahlungen in voller Höhe. Auch wenn eine plausible Begründung fehlte, zeigte sich die Bundesregierung bereit, Ausgleichszahlungen zu leisten. Damit unterstrich sie ihr großes politisches Interesse an einer Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zur DDR. Allerdings sollten die Ausgleichszahlungen mit rund 45 Millionen VE deutlich niedriger als die geforderten 125 Millionen VE ausfallen. Die Auseinandersetzung zog sich über mehrere Jahre hin und konnte erst in den Jahren 1968/69 aus der Welt geschafft werden. Der Streit um die Mineralölfrage zeigte erstmals die enorme Abhängigkeit der DDR von petrochemischen Roh- und Grundstoffen, um die innerdeutsche Handelsbilanz auszugleichen. Mangels geeigneter Exportgüter vermochte sie sich aus dieser Abhängigkeit nicht mehr zu lösen, was in Folge der Turbulenzen der ersten und zweiten Erdölkrise maßgeblich zu ihrem ökonomischen Niedergang beitrug.
V. Fazit
Im Kontext der zweiten Berlinkrise spielten die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen in den Planungen des Politbüros wie auch der Bundesregierung eine wichtige Rolle. Beide politische Entscheidungszentren mussten dabei die Grenzen ihrer Durchsetzungsfähigkeit erkennen. So blieb in der DDR die politisch begründete Störfreimachung der Volkswirtschaft in weiten Teilen unvollendet. Das lag einerseits an Defiziten auf der Planungs-, Organisations- und Umsetzungsebene und offenbarte damit Steuerungsineffizienz. Andererseits aber ließen wirtschaftlich-technische Funktionseliten in Produktion und Außenhandel die Maßnahmen immer wieder ins Leere laufen. Allerdings verzichtete die Bundesregierung ihrerseits auf handelspolitische Boykottmaßnahmen, was nicht zuletzt der Haltung ihrer westlichen Verbündeten und deren großen Exportunternehmen geschuldet war. Vielfach beklagte Bonn deren mangelnde politische Solidarität. Sie würden ihre Exportinteressen auf Kosten der Bundesrepublik und der westdeutschen Unternehmen durchsetzen. Letztlich schwenkte die Bundesregierung auf den außenwirtschaftlichen Liberalisierungskurs ein, der die Ost-West-Beziehungen für einige Jahre prägen sollte. Dass der Warenverkehr trotz der günstigen politischen Bedingungen dennoch hinter dem westdeutschen Außenhandelswachstum zurückblieb, lag an der immer deutlicher zu Tage tretenden Schwäche der DDR-Volkswirtschaft. Bei technologisch anspruchsvollen Gütern, darunter etliche traditionelle Exportbranchen des vormaligen Mitteldeutschlands, verlor sie mehr und mehr den Anschluss an die westliche Konkurrenz und rutschte daher in die Rolle eines Grund- und Rohstofflieferanten. Aber gerade bei den Energieträgern Braunkohle und Mineralöl, die als kompensatorische Exportprodukte fungierten, zeigte sich die Malaise. Aufgrund des zügigen Strukturwandels auf dem Energiesektor in der Bundesrepublik blieb die DDR zunehmend auf ihren Braunkohlekontingenten sitzen. Die als Ersatz vorgesehenen Mineralölprodukte, den Rohstoff bezog die DDR günstig aus der Sowjetunion, büßten sie die anfangs hervorragenden Profitmargen im Zuge der europäischen Harmonisierung der Mineralölbesteuerung ein. Auf diese Entwicklung reagierte die SED-Führung um Ulbricht mit dem hinlänglich bekannten Vorwurf, imperialistische Kreise in der Bundesrepublik suchten gezielt den sozialistischen Fortschritt zu stören. Außerdem erhob er die Forderung nach Kompensationszahlungen für die weggebrochenen Gewinne. Beide Äußerungen sollten auch die eigene Bevölkerung über die grundsätzliche Problematik, nämlich die eigene ökonomisch-technologische Inferiorität hinwegtäuschen. Bereits in den 1960er-Jahren schlug die DDR einen außenwirtschaftlichen Entwicklungspfad ein, der in hohem Maße vom Export petrochemischer Produkte geprägt war. Daraus erwuchs eine relative Abhängigkeit, deren verheerenden Konsequenzen sich erstmals im innerdeutschen Handel der Jahre 1964–1969 abzeichneten und in Folge der beiden Ölkrisen 1973/78 vollends herausbildeten. Der vorstehende Beitrag ist die schriftliche Ausarbeitung eines Vortrages, gehalten auf der gemeinsam vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) und dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) veranstalteten Tagung "Nach dem Mauerbau. Geteilte Entwicklungen – bleibende Verbindungen", 28.–30. September 2011 in Berlin.
Plakat des VEB Filmfabrik AGFA Wolfen zur Leipziger Messe, 1958. (© Bundesarchiv, Plak 103-018-013, Grafik: Schneider)
Die Schlosserbrigade "Geschwister Scholl" im Braunkohlenkombinat "Schwarze Pumpe" wurde zum 1. Mai 1962 mit dem Titel "Kollektiv der sozialistischen Arbeit" für ihre Initiative bei der Störfreimachung ausgezeichnet. (© Bundesarchiv, Bild 183-92831-0021, Foto: Werner Großmann)
VEB Erdölverarbeitungswerk Schwedt, Juni 1964. (© Bundesarchiv, Bild 183-C0606-0005-001, Fotograf: o.A.)
Braunkohle- und Kraftstofflieferungen der DDR an die Bundesrepublik Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes. Eigene Darstellung.
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Vgl. die tiefgründige Analyse und differenzierende Bewertung von Michael Meyen, Alltägliche Mediennutzung in der DDR. Rezeption der Ost- und Westmedien in unterschiedlichen Kohorten, in: Annegret Schüle u.a. (Hg.), Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 247–270.
Vgl. dazu Externer Link: Franziska Kuschel, "Keine NATO-Sender mehr dulden". Westmedien in der DDR der Sechzigerjahre, in: DA-Online, 2/2012.
Grundlegend zum Thema deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen: Detlef Nakath, Zur Geschichte der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen. Die besondere Bedeutung der Krisenjahre 1960/61 für die Entwicklung des innerdeutschen Handels, Berlin 1993; Ferdinand von Heyl, Der innerdeutsche Handel mit Eisen und Stahl 1945–1972. Deutsch-deutsche Beziehungen im Kalten Krieg, Köln 1997; Michael Kruse, Politik und deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen 1949–1989, Berlin 2005; Peter E. Fäßler, Durch den "Eisernen Vorhang". Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen 1949–1969, Köln u.a. 2006; Peter Krewer, Geschäfte mit dem Klassenfeind. Die DDR im innerdeutschen Handel 1949–1989, Trier 2008.
Vgl. Peter E. Fäßler, Innerdeutscher Handel als Wegbereiter der Entspannungspolitik, in: APuZ, 3/2007, S. 31–38.
Vgl. Fäßler, Durch den "Eisernen Vorhang" (Anm. 3), S. 129–131 u. 221f.
Offizielle Bezeichnung Deutsche Mark der Deutschen Notenbank, ab 1.8.1964 Mark der Deutschen Notenbank (MDN), ab 1.1.1968 Mark der DDR.
Vgl. Statistische Berichte V /22/2a, Hg. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 1951, S. 10; vgl. Fachserie F, Reihe 6, Warenverkehr zwischen den Währungsgebieten der DM-West und DM-Ost, Hg. Dass. Stuttgart 1962, S. 6f. – Angaben zu laufenden Preisen; die Inflationsrate ist für jene Zeit eine zu vernachlässigende Größe.
Vgl. Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, Hg. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden div. Jgg.; vgl. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, Hg. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Berlin (O.) div. Jgg.
Stellvertretend für zahlreiche Aussagen, die in diese Richtung weisen vgl. Analyse über die Entwicklung des Außenhandels und des Innerdeutschen Handels im 1. Fünfjahrplan, 1.8.1955, BArch, DE 1, 3834.
Vgl. Übersicht über Güter mit großer Lieferkapazität; Schreiben des Ministeriums für Außenhandel und Innerdeutschen Handel an die Staatliche Plankommission, 21.7.1955, BArch, DL 2, 3911, Bl. 286–289.
Vgl. Fäßler, Durch den "Eisernen Vorhang" (Anm. 3), S. 146 u. 250.
Exemplarisch aufgezeigt bei Peter E. Fäßler, "Diversanten" oder "Aktivisten"? Westarbeiter in der DDR, in: VfZ 49 (2001) 4, S. 613–642. Vgl. auch Christian Könne, Wirtschaftssendungen für die DDR, in: DA 44 (2011) 2, S. 222–229, hier 224.
Vgl. Protokoll der SED-Politbürositzung v. 1.8.1950, BArch, DY 30/IV 2/2/102, Bl. 24; Referat des Ministers für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, Heinrich Rau, auf der 4. Tagung des ZK der SED, 17.–19.1.1951, BArch, N 1062/15, Bl. 38; Schreiben des Bundesamtes für Verfassungsschutz an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, 14.12.1959, BArch, B 137/16249.
BArch, DE 1, 2465.
Vgl. Fäßler, Durch den "Eisernen Vorhang" (Anm. 3), S. 223–245.
Vgl. ebd., S. 234f.
Hierzu Peter E. Fäßler, Streitobjekt "Warenzeichen". Deutsch-deutscher Wettbewerb um Tradition, Vertrauen und Legitimation, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93 (2006) 3, S. 283-303
Vgl. Rainer Karlsch, Zwischen Partnerschaft und Konkurrenz. Das Spannungsfeld in den Beziehungen zwischen den VEB Filmfabrik Wolfen und der Agfa AG Leverkusen, in: Zs. f. Unternehmensgeschichte 36 (1991), S. 245-281.
Ausführlich hierzu Peter E. Fäßler, Probelauf für eine "Politik der Bewegung". Die Auseinandersetzung um den Firmennamen "Deutsche Lufthansa" (1954–1963), in: ZfG 53 (2005) 3, S. 236–261.
Vgl. Schreiben von Lange, ZK-Abt. Handel, Versorgung, Außenhandel, an Ulbricht, 30.12.1960, BArch, DY 30/IV 2/2.029/90, Bl. 119–121.
Vgl. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Bonn 2007, S. 125.
Vgl. Bestand Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle, BArch, DC 1/2108.
Vgl. Bericht über den Instrukteurseinsatz der wirtschaftspolitischen Abteilungen [...], 8.9.1961, BArch DY 30/IV 2/2.029/115, Bl. 152–158.
Zur ambivalenten Haltung der sowjetischen Führung gegenüber Ulbrichts Forderung nach weitreichender wirtschaftlicher Unterstützung vgl. Michael Lemke, Nur ein Ausweg aus der Krise? Der Plan einer ostdeutsch-sowjetischen Wirtschaftsgemeinschaft als Systemkonkurrenz und innerdeutscher Konflikt 1960–1964, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall, Münster 2003, S. 248–265, hier 252f.
Vgl. Vermerk des Ministeriums für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, 14.4.1961, BArch, DY 30/IV 2/2.029/85, Bl. 158.
Vgl. Protokoll der Wirtschaftskommission beim Politbüro, 28./29.4.1961, BArch, DY 30/IV/2/2.101/23, Bl. 10.
Vgl. Fachserie 6 (Anm. 7), 1962, S. 6f.
So in den Kabinettssitzungen am 16.8. u. 6.9.1961; vgl. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Hg. Bundesarchiv, Bd. 14, München 2004, S. 236, 246–247.
Julij A. Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, S. 255.
Vgl. Fäßler, Durch den "Eisernen Vorhang" (Anm. 3), S. 252–255.
Vermerk Carl Krautwig, Bundeswirtschaftsministerium, 30.11.1961, BArch, B 102/105188.
Die genauen Zahlen bei Christiane Fritsche, Schaufenster des "Wirtschaftswunders" und Brückenschlag nach Osten, München 2008, S. 551.
Vgl. Information von Lange, ZK-Abt. Handel, Versorgung, Außenhandel, an Ulbricht, 13.9.1961, BArch, DY 30/IV 2/6.10/34.
Protokoll 4/62 der Politbürositzung, 30.1.1962, BArch, DY 30/J IV 2/2/811, Bl. 6–8; Vermerk über die Ausweitung des Interzonenhandels, 1/1963, BArch, B 137/16611, Bl. 168–182.
Vgl. Handelspolitische Direktive für das Jahr 1963, ZK-Abt. HVA, Lange, 12.1.1963, BArch, DY 30/IV A 2/6.10/275.
Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, Bd. 63, Berlin 1967, S. 3664.
Hierzu Fäßler, Durch den "Eisernen Vorhang" (Anm. 3), S. 259–268; allgemein zur Reise- und Geschäftstätigkeit von westdeutschen Wirtschaftsvertretern in Osteuropa: Karsten Rudolph, Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg, Die Ostpolitik der westdeutschen Großindustrie, 1945–1991, Frankfurt a. M., 2004, S. 195–273.
Vgl. Fachserie 6 (Anm. 7), 1960–1969. Der Berechnungszeitraum ist so gewählt, dass der politisch bedingte Handelseinbruch 1962/63 keine Rolle spielt und die Wachstumsdynamik in erster Linie die wirtschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt.
Ebd.
Vgl. Sitzungsprotokoll des Politbüros, 10.12.1963, BArch, DY 30/J IV 2/2/909, Bl. 20.
BGBl. T. 1, 31.12.1963, S. 995–1002.
Vgl. Vermerk des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen, 12.9.1963, BArch, B 137/3696.
Vgl. Fachserie 6 (Anm. 7), 1969.
Bericht des Zentralkomitees an den VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 4, Berlin (O.) 1963, S. 155.
Vermerk Krautwig, 7.9.1963, BArch, B 137/3696.
Schreiben Erhards an Felix von Eckardt, Sts. im Bundeskanzleramt, 7.12.1963, BArch, B 137/6767.
| Article | Peter E. Fäßler | 2023-02-17T00:00:00 | 2012-04-11T00:00:00 | 2023-02-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/126613/zwischen-stoerfreimachung-und-rueckkehr-zum-tagesgeschaeft/ | Eigentlich war nach dem Mauerbau mit negativen Auswirkungen für den deutsch-deutschen Handel zu rechnen. Aber abgesehen von kurzfristigen Irritationen kehrte man rasch zum Tagesgeschäft zurück. | [
"Zeitgeschichte",
"Deutschland Archiv",
"Mauerbau",
"Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen",
"BRD",
"DDR"
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Analyse: Migration und nationale Frage: Russland für Russen? | Russland-Analysen | bpb.de | Migranten und Xenophobie
Kein anderes Thema beherrscht zurzeit die öffentliche Debatte in Russland so wie der Streit um Migranten. Der Pogrom von Birjuljowo im Süden Moskaus im Oktober hat die russische Regierung unter Druck gesetzt, das Problem der angeblichen Flut der Zuwanderer in den Griff zu bekommen. Diese gelten in der öffentlichen Wahrnehmung oft als illegal und kriminell. Der Aufmarsch der Nationalisten am "Tag der Einheit des Volkes" am 4. November stachelte die Aggressionen gegen kaukasische und zentralasiatische Menschen weiter an. Dabei werden in der Debatte um Migranten wichtige Fakten häufig außen vor gelassen: dass die Zuwanderung nach Russland im internationalen Vergleich gering ist, und dass die Wirtschaft Russlands die Kräfte aus dem Ausland dringend braucht.
Zahl und Herkunft der Migranten
Wie viele Migranten sich illegal in Russland aufhalten, ist umstritten. Die Schätzungen gehen weit auseinander. Der Direktor des Föderalen Migrationsdienstes Konstantin Romodanowskij ging im Oktober 2012 von 2,1 Millionen Menschen aus. Die Konzeption der staatlichen Migrationspolitik der Russischen Föderation bis zum Jahr 2025 beziffert die Zahl auf drei bis fünf Millionen Migranten. Eine Konsens-Schätzung russischer Experten von 2010 spricht von 2,4 Millionen Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis. Sie stellen die Mehrheit der Zuwanderer dar. Nur 39 %, also 1,6 Millionen Menschen hielten sich legal in Russland auf. Die Zahl der Migranten – mit legalem und illegalem Status – bewegt sich somit zwischen 3,8 und 6,7 Millionen Menschen. Menschen aus dem Nordkaukasus gelten in der öffentlichen Debatte paradoxerweise auch als Migranten, obwohl sie die russische Staatsbürgerschaft haben. Sie sind von diesen Statistiken nicht erfasst. Die meisten Arbeitskräfte kommen nach Angaben der Konsens-Schätzung aus dem zentralasiatischen Usbekistan (1 Million), gefolgt von der Ukraine (800.000). An dritter Stelle der Herkunftsländer steht Tadschikistan (700.000). Als erster Kaukasus-Staat belegt Aserbaidschan Platz vier mit 0,6 Millionen. Die Zentralasiaten sind die Gruppe, die zwischen 2000 und 2010 die stärksten Zuwächse verzeichnete, was auf die hohe Arbeitslosigkeit und den niedrigen Lebensstandard in den Herkunftsländern zurückzuführen ist. So verneunfachte sich die Zahl der Migranten aus Zentralasien und betrug 2011 unter den legal mit Arbeitserlaubnis in Russland lebenden Migranten 71 %, wie eine aktuelle Studie des russischen Soziologen Wladimir Mukomel aufführt. Migranten sind im russischen Verständnis repatriierte Landsleute aus den GUS-Staaten, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten, die mit einem Anteil von ¾ an den Arbeitskräften aus dem Ausland die größte Gruppe stellen. Jeder vierte Migrant würde sich gern in Russland dauerhaft niederlassen. Die meisten Menschen (28 %) wollen jedoch nur ein bis zwei Jahre in Russland arbeiten und dann in ihr Heimatland zurückkehren. Jeder Fünfte reist ständig zwischen Russland und seiner Heimat hin und her.
Ausbildung und Rechtsstatus
Die Ausbildung und Berufserfahrung aus ihren Heimatländern ist in Russland nur selten gefragt, so das Ergebnis von Mukomels Studie. 34 % der Migranten mit abgeschlossener oder abgebrochener Hochschulausbildung arbeiten in unqualifizierten Jobs, ebenso 45 % der Menschen mit Berufsausbildung. Auch mehr als ein Drittel der ehemaligen Manager müssen sich in Russland mit der Position eines einfachen Arbeiters begnügen. Insgesamt sind zwei Drittel der Neuankömmlinge mit unqualifizierten Tätigkeiten beschäftigt, sie arbeiten häufig auf Baustellen, in Märkten und als Putzkräfte. Grund für den beruflichen Abstieg ist meist die fehlende Rechtsgrundlage für den Aufenthalt. Nur etwa 40 % der Migranten haben einen schriftlichen Arbeitsvertrag. Im Schnitt arbeiten sie 61 Stunden in der Woche, haben kaum ärztliche Versorgung und Probleme, Wohnungen zu mieten, da sie auf Vorbehalte wie "zu vermieten an russische Familie" oder "an slawische Menschen" stoßen. Es gebe auch keine Sicherheit, den Lohn zu erhalten, "denn der Arbeitgeber kann sie jederzeit als Illegale anzeigen und damit unter Druck setzen", sagte Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Flüchtlingshilfeorganisation "Bürger-Unterstützung" bei einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie in Berlin. "Es ist ein System der Sklavenarbeit." Zwar gilt für die meisten GUS-Staaten in Russland Visafreiheit. Aber die Migranten müssen sich bei den Behörden registrieren lassen, was oft problematisch ist. Zudem ist eine Arbeitserlaubnis vonnöten, die streng nach Quoten für die jeweiligen Herkunftsländer vergeben wird. "Nur der Arbeitgeber kann eine Erlaubnis beantragen. Es ist sehr schwierig, einen Quotenplatz zu erhalten", kritisierte Gannuschkina. Mitarbeiter des Föderalen Migrationsdienstes erteilten die Genehmigung oft nur gegen Bestechung. Am restriktivsten wird die Vergabe dort gehandhabt, wo die meisten Migranten hinstreben: in Zentralrussland (insbesondere Moskau und Umgebung), im Nordwesten, in einigen Regionen des Urals und im Wolgagebiet. Die Folge davon ist, dass Korruption und Schwarzmarkt blühen. Eine Erlaubnis kann zehntausende Euro kosten.
Arbeitsmarkt und Xenophobie
Trotz dieser Widrigkeiten ziehen immer mehr Migranten nach Russland, das Staatliche Statistikamt ("Rosstat") geht von 7,2 Millionen Menschen bis 2030 aus. Diese können allerdings den Rückgang der arbeitenden Bevölkerung nicht kompensieren. Bis 2030 soll die russische arbeitsfähige Bevölkerung um 10,3 Millionen Menschen abnehmen. Die Arbeitskräfte aus dem Ausland werden in Russland also dringend gebraucht: Nach Schätzungen des russischen Ökonomen Andrej Mowtschan bräuchte Russland bereits jetzt weitere drei Millionen nichtqualifizierte Arbeitskräfte, um das wirtschaftlich rückständige Land an das Niveau westlicher Industrieländer heranzuführen. Schon jetzt liegt ihr Anteil am russischen BIP bei 15 bis 20 %. Es sei ein Mythos, dass Russland von Migranten überschwemmt sei, so der Autor. Jährlich kämen etwa 300.000 Migranten nach Russland, der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung mache nur zwei Drittel des Wertes in den westlichen Industrieländern aus. Diese Ansicht ist allerdings in der Bevölkerung Russlands nicht mehrheitsfähig. Die Losung "Russland den Russen" ist längst nicht mehr nur in nationalistischen Kreisen aktuell, 23 % der Bürger Russlands meinen, das hätte schon längst geschehen müssen. Eine Mehrheit von 43 % ist der Ansicht, die Idee sei nicht schlecht, müsse aber im vernünftigen Rahmen realisiert werden, so eine Umfrage des Lewada-Zentrums von Anfang November. Mehr als die Hälfte der Befragten verspürt gegenüber Migranten aus den südlichen Republiken (Russlands und der GUS) Antipathie und ist von ihnen genervt. Die größte Herausforderung der russischen Migrationspolitik bestünde darin, die große Zahl der illegal in Russland lebenden Menschen zu legalisieren. Das wollen aber nur 15 % der Befragten. Die überwiegende Mehrheit von 73 % ist dafür, sie aus Russland auszuweisen. Vier Fünftel sind der Meinung, der Zustrom der Migranten müsse begrenzt werden. Insbesondere Kaukasier sind schlecht angesehen. 71 % der Bürger Russlands unterstützen die Losung "Genug den Kaukasus gefüttert" – das bezieht sich auf die russischen Teilrepubliken. "Russland den Russen"
Das Problem der Migration ist derzeit Russlands Gesellschaftsproblem Nummer eins. Vor den Bürgermeisterwahlen in Moskau nannte eine Mehrheit von 55 % der Befragten die Zugereisten aus dem Kaukasus und den südlichen Republiken der GUS als das Problem, das sie am meisten beunruhigt. Auch der Hoffnungsträger der Opposition Aleksej Nawalnyj versuchte, aus dem Problem politisches Kapital zu schlagen, indem er behauptete, die Hälfte der Straftaten in Moskau würden von Migranten begangen. Seit dem Pogrom von Birjuljowo im Südwesten Moskaus Anfang Oktober hat sich die nationale Frage weiter verschärft. Am Tag der Einheit des Volkes am 4. November veranstalteten Nationalisten in 100 Städten so genannte "Russische Märsche", wie die alljährlichen Demonstrationen seit 2005 genannt werden. In Moskau gab es gleich zwei, den "Russischen Marsch" und den "Zarenmarsch". Die Teilnehmer skandierten "Russen, Russen!" und trugen Banner mit Losungen wie "Eine russische Macht für Russland", "Echo des aufziehenden Krieges" und "Für Birjuljowo". Obwohl etwa 30.000 Teilnehmer erwartet wurden, kamen allerdings nach Angaben der Polizei nur 8.000, den Veranstaltern zu Folge 20.000 Menschen. Auf ihrer Abschlusskundgebung forderten die Nationalisten einen "Russischen Nationalstaat" und den Rücktritt der Regierung. Zudem solle die "ausländische Kolonisation" aufhören, so Punkt 14 der Forderungen. Geeignete Mittel dafür seien die Einführung eines Visaregimes mit den Staaten des Kaukasus und Asiens, zehn Jahre Zwangsarbeit für illegale Immigration und "null Toleranz gegenüber ethnischen kriminellen Gruppen". Obwohl der unabhängige Fernsehsender "Doschd" sowie Fotos im Internet zeigten, wie Demonstranten Kaukasier verprügelten und die Scheiben ihrer Autos einwarfen, sprach das Innenministerium von keinen ernsthaften Zwischenfällen. Möglicherweise hätte es noch mehr Randale gegeben, aber das schlechte Wetter bremste die Nationalisten. Ein weiterer Grund für die geringe Teilnahme war, dass Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj, anders als in den Vorjahren, nicht erschienen war. Zwar hatte er seine Anhänger aufgerufen zu marschieren, blieb aber selbst fern. Nawalnyj verteidigte den Marsch in seinem Blog als "richtiges politisches Ereignis, das unterstützt und entmarginalisiert werden muss". Von den Vertretern der politischen Elite Russlands distanzierte sich allein Michail Prochorow, Gründer der Partei "Bürgerplattform", deutlich von dem Russischen Marsch. Die Kommunisten nahmen zwar nicht teil, zeigten aber Sympathie. Der Vorsitzende der LDPR Wladimir Schirinowskij hatte sich bereits im Vorfeld der Veranstaltung mit Forderungen profiliert, die Geburtenrate im Nordkaukasus zu begrenzen und das Territorium mit einem Stacheldraht einzuzäunen. Die Regierungspartei "Einiges Russland" sah einen "Trend, den die Regierung übernehmen sollte", so Parteimitglied Sergej Markow. "Die Losung "Russland den Russen" ist vollkommen richtig." Auch die öffentliche Meinung war mehrheitlich auf Seiten der Nationalisten, 40 % sprachen sich bei einer Umfrage des Lewada-Zentrums für die Idee des "Russischen Marsches" aus – vor sieben Jahren waren es nur 14 % gewesen.
Russische Migrationspolitik
Wie reagiert Russlands Regierung auf das Problem? Da sich mindestens 61 % der Migranten – ausgehend von den eingangs erwähnten eher vorsichtigen Schätzungen der russischen Expertengruppe – illegal aufhalten, liegt hier das eigentliche Problem der Migrationspolitik, nicht in der angeblichen Überschwemmung Russlands mit Ausländern. Aber von der Illegalität der Migranten profitieren korrupte Beamte auf allen Ebenen. Viele verdienen daran: Mitarbeiter des Migrationsdienstes für die Erteilung von Genehmigungen über die Polizei, die die Menschen festnimmt und für Geld wieder frei lässt, bis zur Bau- und Wohnungswirtschaft, die die meisten Migranten anwirbt und ihnen nur einen Teil des ihnen zustehenden Geldes bezahlt. Außerdem machen nicht wenige Politiker mit dem Thema Karriere, indem sie das Problem künstlich aufblasen. Bislang zeichnete sich die Migrationspolitik der russischen Regierung vor allem durch Untätigkeit aus. "Die Notwendigkeit, Migranten zu adaptieren und integrieren wurde deklariert, aber nicht implementiert", schrieb der Soziologe Mukomel. Eine Wende sollte das 2012 verabschiedete "Konzept für die Staatliche Migrationspolitik der Russischen Föderation bis 2025" bringen, in dem die "erfolgreiche soziale und kulturelle Integration von Migranten" als eines der Ziele formuliert wurde. Fraglich ist, ob die Konzeption umgesetzt wird. Zurzeit sieht es eher aus, als würde die Regierung den "Trend" der Nationalisten übernehmen, wie der Politiker Markow von "Einiges Russland" forderte. Als Antwort auf den Russischen Marsch verkündete die Regierung noch am selben Tag, dem 4. November, die Zahl der Gastarbeiter zu begrenzen. Wie der Fernsehsender RBK berichtete, werden im kommenden Jahr 100.000 Migranten weniger aufgenommen als 2013.
Lesetipps
Chebankova, Elena: Contemporary Russian Multiculturalism, in: Post-Soviet Affairs, 28.2012, Nr. 3, S. 319–345. Golova, Tatiana, Robert Kusche, Ute Weinmann: Hate Crime in Russland. Monitoring und Unterstützung für Betroffene rassistischer Gewalt, Berlin 2010; Externer Link: http://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Publikationen/Studien/Pilotstudien-Hate_Crime/Reach-Out-berli/russia_full_german.pdf; Mukomel, Vladimir: Integration of Migrants: Russian Federation. CARIM-East Research Report 2013/02; Externer Link: http://www.carim-east.eu/media/CARIM-East-RR-2013-02.pdf, 19. November 2013; White, Anne: Internal Migration Trends in Soviet and Post-Soviet European Russia, in: Europe-Asia Studies, 59.2007, Nr. 6, S. 887–911. Zuev, Denis: The Russian March: Investigating the Symbolic Dimension of Political Performance in Modern Russia, in: Europe-Asia Studies, 65.2013, Nr. 1, S. 102–126.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2013-11-25T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/173433/analyse-migration-und-nationale-frage-russland-fuer-russen/ | Der Streit um Migranten hat sich seit dem Pogrom von Birjuljowo und dem Aufmarsch der Nationalisten am 4. November verschärft. Zwei Drittel der Bürger Russlands unterstützen laut Umfragen die Losung der Nationalisten "Russland den Russen". Das Proble | [
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Kommentar: Michail Mischustin als ambitionierter "Systemadministrator" des Putinismus | Russland-Analysen | bpb.de | Der russische Premierminister Michail Mischustin hat seit seiner Ernennung am 15. Januar 2020 eine wenig beachtete, aber umso ehrgeizigere Umgestaltung von Russlands Staatsverwaltung vorangetrieben. Dieser Vorstoß sollte jedoch nicht mit "Reformen" oder gar "Modernisierung" verwechselt werden. Das Ziel besteht darin, den russischen Staat gegen die Risiken, die der zunehmend zentralisierte, stark hierarchisierte und schwerfällige vertikale Governance-Stil Russlands im späten Putinismus mit sich bringt, abzusichern. Außerdem sollen durch ähnliche Effizienzsteigerungen, wie sie Mischustin zuvor schon in der Steuerbehörde durchgesetzt hatte, so viele Ressourcen wie möglich aus dem stabil stagnierenden russischen Staat, den Unternehmen und den Bürger:innen extrahiert werden, während grundlegende Veränderungen bewusst vermieden werden. Die "Meta-Reform": Das Koordinationszentrum der Regierung
"Ich denke, er wird mit der Reform der öffentlichen Verwaltung [ gosuprawlenie ] beginnen", sagte Sberbank-Chef German Gref am 16. Januar 2020, einen Tag nachdem Mischustin zum Premierminister ernannt worden war. Während Mischustin vor allem dank der erfolgreichen digitalen Transformation der russischen Steuerbehörde bekannt wurde, ist seine Vision als Premierminister ehrgeiziger: Mischustin hat tatsächlich eine Umgestaltung der Staatsverwaltung auf den Weg gebracht, deren Ausmaß und Ambition nur mit der in den Jahren 2003 und 2004 initiierten Verwaltungsreform vergleichbar ist. Am 22. Februar 2021 wurde ein sogenanntes "Koordinationszentrum" geschaffen, das als Kernstück dieser "Reform" angesehen werden kann. Es ist dem regierungsinternen Think Tank, dem sog. "Analytischen Zentrum", angegliedert und wird vom stellvertretenden Premierminister Dmitrij Tschernyschenko geleitet. Die Idee geht auf das Jahr 2015 zurück, als Präsident Wladimir Putin Premierminister Dmitrij Medwedjew mit der Konzeption eines spezialisierten "Projektbüros" beauftragte. Die Philosophie, die hinter diesem obskuren "Projektbüro" steht, wurde am deutlichsten vom Sberbank-Chef German Gref dargelegt, der als Ideengeber des späteren Koordinationszentrums angesehen werden kann. Grefs Einschätzung der Lage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Zustand von Russlands Wirtschaft ist miserabel. Bevor aber sinnvolle Reformen in Angriff genommen werden können, sollte die Qualität und Kapazität der öffentlichen Verwaltung des Staates verbessert werden, idealerweise mit Hilfe von Management-Techniken, die im "Big Business" schon lange angekommen sind: agiles Projektmanagement, "Performance Management" und natürlich die digitale Transformation. Diese Meta-Reform müsste also dem für den russischen Staat charakteristischen vertikalen Governance-Stil entgegensteuern. Dieses archaische Top-down-System müsste durch moderne, horizontale Managementpraktiken der öffentlichen Verwaltung wie "Performance Management" ersetzt werden. Gref ist bekannt dafür, ein Faible für PEMANDU zu haben, die "Performance Management and Delivery Unit", die im Jahr 2009 gegründet wurde, um die Fortschritte von Malaysias "Government Transformation Program" messbar zu machen und zu überwachen. Am 30. Juni 2016 richtete Putin den "Präsidialrat für strategische Entwicklung und prioritäre Projekte" ein, im Wesentlichen eine Koordinierungs- und Monitoringkommission für die Mai-Dekrete, die Putin nach seiner Wiederwahl 2012 erlassen hatte. Der Präsidentenberater Andrej Belousow wurde zum Sekretär des Strategierates ernannt, um die Umsetzung der Mai-Dekrete von 2012 zu überwachen. Obwohl es große Probleme mit der Umsetzung der Mai-Dekrete von 2012 gab, wurden sie weitgehend in die Nationalen Projekte von 2018 verpackt, und mit der Wiederernennung der Medwedjew-Regierung nach der Präsidentschaftswahl 2018 wurde die frühere Managementstruktur der Mai-Dekrete weitgehend beibehalten. Moskau gab die Ziele vor, die Regionen sollten diese gefälligst umsetzen. Die Reaktivierung des Staatsrats (Gosudarstwennyj Sowjet) trug nicht viel dazu bei, die Rückkopplungsmechanismen zwischen Zentrum und Regionen zu verbessern: In einigen Bereichen, wie z. B. bei den Gehältern für bestimmte Kategorien von Staatsbediensteten, fielen die meisten Regionen sogar wieder hinter die Ziele von 2018 zurück, die sie schon einmal erreicht hatten. Dem Grund, warum die Regierung Medwedjew am 15. Januar 2020 gleichzeitig mit dem Beginn der Verfassungsreform zurücktreten musste, ist von Beobachter:innen bisher recht wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Angesichts Mischustins Ambitionen ist zu konstatieren, dass Medwedjew Teilen der Elite zunehmend als Hindernis für die "Meta-Reform" des russischen Staates galt: Mit den Nationalen Projekten hatte Russland zwar sein Pendant auf das malaysische "Government Transformation Program" gefunden, aber ein funktionierendes "Delivery Office" und "Performance Management" fehlte weitgehend. Während PEMANDU "große, schnelle Ergebnisse" versprach, ließ es Medwedjew kleinmütig und behäbig angehen. Die wichtigste Frage ist natürlich hierbei, ob Mischustins Vorstoß lediglich eine weitere Umstrukturierung der Exekutive ist, wie sie schon mehrere Male in den letzten zwei Jahrzehnten zu beobachten war. Bisher scheint Mischustin zumindest motiviert zu sein, "groß und schnell" zu handeln. Erstens wird die föderale Exekutive um etwa 32.000 Personaleinheiten geschrumpft, mit Kürzungen im Zentrum von bis zu 5 Prozent und in den Regionen von bis zu 10 Prozent des Personals (hauptsächlich durch die Streichung derzeit unbesetzter Stellen). Im Gegensatz dazu wird der Verwaltungsapparat des Premierministers auf 1.792 Mitarbeitende aufgestockt. Noch wichtiger ist, dass der Apparat des Premierministers nicht mehr nur für die Betreuung von 61 Regierungskommissionen zuständig ist. Stattdessen wächst seine Verantwortung in vielen Politikbereichen: Der Apparat des Premierministers spiegelt nun das Ministerkabinett und dessen funktionale Arbeitsteilung wider, was seine Fähigkeit, Politiken (policies) zu koordinieren und Staus bei deren Umsetzung aufzulösen, verstärken soll. In diesem Zusammenhang ist auch die Umstrukturierung von Russlands 40 Entwicklungsinstitutionen zu sehen, von denen einige nun unter dem Dach von Igor Schuwalows WEB (Wneschekonombank) angesiedelt sind (z. B. Skolkowo und Rosnano): Während sechs von ihnen aufgelöst werden, sollen die Funktionen der anderen neu strukturiert werden, um eine koordinierte Umsetzung der nationalen Entwicklungsziele zu ermöglichen. Teil dieser Reform ist nicht nur eine Überprüfung der Leistungskennzahlen (key performance indicators) der verschiedenen Entwicklungsorganisationen und staatlichen Korporationen, sondern auch Kürzungen bei Personal, Gehältern und Privilegien. Zweitens ist der Koordinationsrat keine untergeordnete Verwaltungseinheit innerhalb des Apparats des Premierministers, wie es die "Projektabteilung" war, sondern eine eigenständige Task Force direkt unter dem stellvertretenden Premierminister Tschernyschenko. Das Statut des Koordinationsrats definiert drei Hauptfunktionen: incident management , prioritäre Aufgaben und Sonderprojekte. Außerdem sind die Entscheidungen des Zentrums für alle föderalen Exekutivorgane verbindlich. Der Koordinationsrat wird zum wichtigsten Instrument der Regierung, um akute Probleme und Krisensituation zügig anzugehen. Im vergangenen Jahr war eine vorläufige Task-Force schon damit beauftragt gewesen, Zwischenfälle" (incidents) zu lösen, bei denen es etwa um rückständige Bonuszahlungen für Ärzt:innen, die Covid-19-Patient:innen betreuen, um die Versorgung von Schüler:innen mit warmen Mahlzeiten und um die Behebung von Defiziten bei bestimmten Medikamenten ging. Zu den vorrangigen Aufgaben gehört zum Beispiel die Koordination der staatlichen Unterstützung für die neun wirtschaftlich schwächsten Regionen Russlands. Die Hauptidee hinter dem Koordinationszentrum ist es, die Risiken, die durch die von Putin geschaffene Machtvertikale entstehen, die wiederum durch starre Befehlsketten von oben nach unten gekennzeichnet ist, durch eine horizontalere, projektbasierte Arbeit zwischen Exekutivbeamten und föderalen Behörden abzumildern. All dies soll dazu beitragen, ein "analytisches Ökosystem" zu schaffen, das die üblichen Informationsbarrieren zwischen den vertikalen, siloartig organisierten Ministerien und Exekutivbehörden aufhebt. Mischustins "Soziale Netzwerke" und Russlands datengetriebener Autoritarismus
Eine der größten Herausforderungen für das Funktionieren des Koordinationsrats ist der "digitale Feudalismus": Innerhalb der Exekutive existieren mehr als 800 Informationssysteme mit geringer Kompatibilität, die von Bürokraten keineswegs mit objektiven Zahlen, sondern oft mit manipulierten Daten gefüttert werden. Mischustins Herangehensweise ist angelehnt an die Idee des "Staates als Plattform", die von Alexej Kudrins Zentrum für Strategische Entwicklung (CSR) vorgeschlagen wurde: Ein solcher datengesteuerter Staat würde als Hauptintegrator fungieren, der die nahtlose Kommunikation zwischen Bürger:innen, Unternehmen und staatlichen Exekutivorganen gewährleistet. Doch bis jetzt bleiben Daten, die von einigen schon als Russlands "neues Öl" beschworen werden, "schmutziges Öl": 2019 verabschiedete die Regierung das Nationale System für Datenmanagement (NSUD), um Hunderte von staatlichen Datenbanken zu synchronisieren und einheitliche Regeln für die Sammlung, Bearbeitung, Speicherung und Nutzung dieser Daten zu schaffen. Regionale Pilotprojekte haben jedoch große Probleme bei der Koordination zwischen Exekutivorganen mit funktionalen Überschneidungen offenbart. Weitaus erfolgreicher ist die Plattform für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi , die bis Ende 2020 126 Millionen Nutzer:innen erreichte, wobei sich allein im Jahr 2020 insbesondere aufgrund der Pandemie 24 Millionen registriert haben. Rund 70 Millionen Russ:innen sind verifizierte Nutzer:innen des Einheitlichen Systems zur Identifizierung und Authentifizierung (ESIA) und damit berechtigt, E-Government-Dienste vollständig online über Gosuslugi zu nutzen. Durch die Verknüpfung von verifizierten Gosuslugi -Benutzerprofilen mit den vielfältigen staatlichen Datenbanken in einer einheitlichen Datenstruktur, die zwischen 20 und 60 Kategorien von Bürgerdaten umfasst, wird ein "Digitales Bürgerprofil" der russischen Regierung zunehmend einen nahtlosen Datenfluss zwischen Staat, Bürger:innen und Unternehmen (vor allem Banken) ermöglichen. Russland ist zwar noch weit von Chinas Sozialkredit-System entfernt, dennoch wird diese zunehmende Zentralisierung von Daten eine Fülle von Möglichkeiten zur Überwachung der Bürger:innen schaffen. Das Koordinationszentrum ist als regierungsinterner Think-Tank aber auch dazu aufgerufen, die Rückkopplungsmechanismen mit der Bevölkerung zu verbessern; zu diesem Zweck wird in allen föderalen Subjekten die Plattform Gosuslugi – Reschaem Wmeste ("Wir entscheiden gemeinsam") eingeführt. Die Verknüpfung von Bürgerbeschwerden mit E-Government-Dienstleistungen schafft nicht nur ein Frühwarnsystem für Unzufriedenheit in der Bevölkerung, sondern ist auch eine sinnvolle Ergänzung zu den Zentren für Regionalmanagement (TsUR) des Kremls, die Beschwerden über regionale Behörden über soziale Medien sammeln. Untersuchungen zeigen, dass diese Art von digitaler, partizipativer Regierungsführung bei Wahlen mehr Stimmen für den Amtsinhaber generiert. Die erweiterten Befugnisse des Präsidenten im Zuge der Verfassungsänderungen von 2020 verschärfen die "schlechte Regierungsführung", die mit Überzentralisierung und personaler Herrschaft einhergeht. Im Vorfeld des langen Wahlzyklus der Dumawahl 2021 und der Präsidentschaftswahl 2024 sollen Mischustins administrative Kniffe die Kontroll- und Steuerungsrisiken (wie etwa Fehlentscheidungen durch mangelnde oder fehlerhafte Informationen) ausgleichen, die mit der Annullierung von Putins bisherigen Amtszeiten durch eine weitere Personalisierung der Macht im Rahmen der Verfassungsreform einhergehen. Lesetipps
Burkhardt, Fabian. "Institutionalising Authoritarian Presidencies: Polymorphous Power and Russia’s Presidential Administration" Europe-Asia Studies 73.3 (2021): S. 472–504, Externer Link: https://doi.org/10.1080/09668136.2020.1749566. Burkhardt, Fabian. "Institutionalizing Personalism: The Russian Presidency after Constitutional Changes" Russian Politics 6.1 (2021): S. 50 –70, Externer Link: https://doi.org/10.30965/24518921-00601004. Burkhardt, Fabian, Ben Noble und Nikolay Petrov. "Rebooting the State Council Increases Putin’s Power", Chatham House , 28. Oktober 2020, Externer Link: https://www.chathamhouse.org/2020/10/rebooting-state-council-increases-putins-power. Gorgulu, Nisan, Gulnaz Sharafutdinova und Jevgenijs Steinbuks. "Political Dividends of Digital Participatory Governance. Evidence from Moscow Pothole Management" World Bank Group, Policy Research Working Paper 9445 (2020), Externer Link: https://openknowledge.worldbank.org. Petrow, Michail, Wasilij Burow, Marija Schkljaruk, Andrej Scharow. "Gosudarstwo kak Platforma. (Kiber)Gosudarstwo dlja Zifrowoj Ekonomiki" Zentr Strategitscheskich Rasrabotok (2018), Externer Link: https://www.csr.ru/upload/iblock/313/3132b2de9ccef0db1eecd56071b98f5f.pdf. Schkljaruk, Marija, Schtschetnaja Palata Rossijskoj Federazii, Zentr perspektiwnich uprawlentscheskich ismenenij (Hg.). "Kadrowaja politika na gosslushbe: tekuschtschie problemy i neobchodymye ismenenija", Ekspertnaja sapiska Nr. 1 (4), (2021), Externer Link: https://cpur.ru/new-research/r_civil_servants_reforms_2021/.
| Article | Fabian Burkhardt (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg) | 2021-09-30T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | 2021-09-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-403/335357/kommentar-michail-mischustin-als-ambitionierter-systemadministrator-des-putinismus/ | Der russische Premierminister Michail Mischustin will die Staatsverwaltung effizienter gestalten. Richtige Veränderungen werden vermieden, die "Reform" soll das System Putin weiter absichern. | [
"Russland",
"Politisches System",
"Staatsverwaltung",
"Massenmedien",
"Russland"
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Der schnelle Weg zum Weltwissen | Wikipedia | bpb.de | Sich frei durch das Netz bewegen: Webseiten besuchen, eigene Inhalte erstellen und sich austauschen - dies war die Vision von Tim Berner Lees, als er 1989 das "world wide web" als Kommunikationsmedium erdachte. Insofern war die Idee einer nutzergenerierten dynamischen Online-Enzyklopädie längst überfällig, als sie 2001 mit der Wikipedia lebendig wurde.
Dass die technischen Mittel für das interaktive Internet fehlten, war allerdings nicht der Grund dafür, dass das Web 2.0 auf sich warten ließ. Die Technik stand längst bereit: Dazu gehörte nicht viel mehr als ein Webserver, eine Datenbank und etwas Programmcode. Doch in den Neunziger Jahren hatte sich das immer populärere Web zum Konsummedium entwickelt. Statt Inhalte selbst zu erstellen, surften die meisten Nutzer auf den Webseiten kommerzieller Anbieter. Der Raum für Interaktionen blieb eng begrenzt auf Webforen, Chats und eher schlichte private Webseiten.
Und so erreichte 1995 das erste „Wiki“ des amerikanischen Programmierers Ward Cunningham keine große Breitenwirkung. Obwohl es gerade auf eine allgemeinverständliche Weise angelegt war. Das Programm ermöglichte es jedem Websurfer, bemerkenswert einfach Webseiten selbst anzulegen und zu ändern – ohne Programmierkenntnisse oder komplizierte Formatierungen. Das unterstreicht der Name des Systems: „Wiki-wiki“ kommt aus dem Hawaiianischen und heißt dort „schnell“. Eigentlich hatte Cunningham das neue Medium zum Eigengebrauch entwickelt – doch schon bald entstand eine enthusiastische, wenn auch sehr kleine Gemeinde, die immer neue Wikis anlegte und an neuen Wiki-Systemen programmierte.
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales spricht auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Journalisten. (© picture-alliance/AP, Anja Niedringhaus)
Als der Unternehmer Jimmy Wales und der Philosoph Larry Sanger sich in den Neunziger Jahren im Netz kennenlernten, entwickelten sie gemeinsam die Idee, ein Online-Lexikon als kostenlose Wissens-Ressource für jedermann zu erschaffen. Das Projekt ging im Januar 2000 unter dem Namen "Nupedia" online. Von der Wiki-Technik hatten beide noch nicht gehört, Nupedia basierte auf einem eher behäbigen Redaktionssystem. Die Qualitätsansprüche der Neu-Enzyklopädisten waren hoch: Nur ausgewiesene Experten durften Texte verfassen, in einem langwierigen Redaktionsprozess wurden sie vollendet. Zu langwierig, wie sich herausstellte: In den drei Jahren seiner Existenz brachte es die Nupedia auf gerade Mal 24 fertige Artikel.
Larry Sanger ist einer der Mitgründer der Wikipedia. (© ddp/AP, Kiichiro Sato)
Von dem langsamen Fortschritt frustriert, erfuhren Wales und Sanger ein Jahr später von dem Wiki-Konzept und installierten wenig später auf dem Server von Nupedia ein Wiki, auf dem sich die interessierten Enzyklopädieautoren austoben konnten. Am 15. Januar 2001 ging die "Wikipedia" online. Der Erfolg stellte sich fast sofort ein: Als man ihnen freie Hand ließ, entfalteten die Autoren plötzlich eine ungeahnte Schreiblust. In nur zwei Monaten verfassten sie mehr als 2000 Artikel. Von dem Erfolg motiviert eröffnete Wales am 15. März 2001 unter der Adresse deutsche.wikipedia.com die deutsche Version der Wikipedia. Weitere Sprachversionen folgten. Eine formelle Struktur oder Organisation gab es noch nicht.
Auch Kurt Jansson, damals Soziologie-Student an der Freien Universität Berlin, stieß schnell auf das Projekt: "Ich war begeistert: man musste nur auf 'Bearbeiten' klicken und das Ergebnis stand sofort online”, sagt Jansson. Die Idee, das Web nicht nur zu konsumieren, sondern an der Erstellung einer neuen Art von Enzyklopädie teilzunehmen, faszinierte ihn und viele andere. Wie die Wikipedia in den ersten Monaten aussah, hat Jansson für die Allgemeinheit festgehalten: Auf Externer Link: seiner Webseite veröffentlichte er eine Momentaufnahme der deutschen Wikipedia in ihrem ersten Jahr. Noch musste das Projekt fast ganz ohne Grafiken auskommen – alleine das Logo der Nupedia prangte auf der Wikipedia-Startseite. Auch die Qualität der Texte war noch eher schlicht: Ein halbes Jahr nach Gründung umfasste der Eintrag zu Deutschland ganze fünf Zeilen und enthielt im Wesentlichen nur eine Aufzählung der Bundesländer, wichtiger Städte und angrenzender Staaten. Zum Vergleich: Der heutige Artikel ist 75 Druckseiten lang und deckt die Geschichte Deutschlands genauso ab wie Kultur und Politik.
Rasanter Aufstieg einer Idee
In den ersten Jahren fungierte Larry Sanger als Projektverantwortlicher und eine Art Chefredakteur der Wikipedia, Jimmy Wales war der Finanzier und Visionär. Ansonsten herrschte egalitäres Chaos: Jeder Nutzer hatte die gleichen Rechte und es gab nur wenige Regeln. "Wann immer Du etwas findest, von dem Du erkennst, dass es korrigiert oder sonstwie verbessert werden könnte, tu es einfach”, hieß es in der ersten Anleitung.
Auch wenn die Wikipedia seither viele Verwandlungen durchgemacht hat, hat sich an der grundsätzlichen Idee wenig verändert: Bis heute kann fast jeder Artikel mit einem einfachen Klick geändert werden. Kein Nutzer muss sich erst anmelden, sondern kann direkt beginnen, seine Beiträge in den Browser zu tippen. Für Larry Sanger wurde die Wikipedia jedoch schon bald zu chaotisch: Er schied 2002 aus dem Projekt aus und betätigt sich seitdem als einer ihrer eifrigsten Kritiker. Doch auch ohne den Mitgründer florierte das Projekt.
Auf der Startseite der Wikipedia hatten die Wikipedianer 2001 ein ehrgeiziges Ziel veröffentlicht: 100.000 Artikel wollten die unbezahlten Autoren erstellen, in nur fünf Jahren sollte es soweit sein. Doch die Realität überholte die Vision schnell. Bereits im Januar 2003 überschritt die englische Wikipedia die Marke von 100.000 Artikeln, die deutsche Wikipedia folgte Juni 2004. Zwar war nur ein Bruchteil davon voll ausformuliert und vollständig, doch der Weg war klar. Wikipedia sollte in kürzester Zeit zum ernsthaften Herausforderer für die klassischen Enzyklopädieverlage werden.
Einer der wichtigsten Geburtshelfer des rasanten Erfolgs war die ebenfalls aufstrebende Internet-Suchmaschine der 1996 gegründeten Suchmaschine Google. Die beiden Angebote ergänzten sich perfekt: Google bemüht sich, so viel vom Internet zu erfassen wie möglich und die besten Ergebnisse ganz nach oben zu sortieren. Wikipedia sammelte im Gegenzug zu möglichst vielen Themen Artikel.
Die Struktur der Wikipedia, bei der die Artikel über viele Links miteinander verwoben werden, begünstigte die Entwicklung noch. Viele Links auf einen Artikel wertet Google als Qualitätsmerkmal. Folge: Teilweise landeten sehr mangelhafte oder sogar nicht existierende Wikipedia-Artikel auf der ersten Seite der Google-Suche. Ein selbst verstärkender Effekt setzte ein: Je höher Google Wikipedia einstufte, umso mehr Autoren beteiligten sich an der Wikipedia, je mehr Artikel in der Wikipedia verfügbar waren, umso öfter verwies Google auf Wikipedia. Auch die zunehmende Berichterstattung in den Medien über das Projekt sorgte für einen ständigen Zustrom von Lesern und Autoren. Waren im Januar 2003 laut offizieller Statistik gerade einmal 250 Autoren aktiv, waren es ein Jahr darauf bereits 1456. Heute registriert Wikipedia über 120.000 Autoren in der deutschen Wikipedia – davon zählen allerdings nur zirka 1000 zum harten Kern, die mehr als hundert Änderungen pro Monat beitragen.
Das rasante Wachstum der Anfangsjahre hatte nicht nur positive Folgen. "Mit jedem Wachstumsschub kamen neue Probleme auf: wie gehen wir mit Störenfrieden um, welche Themen sind relevant, wie gliedern wir die Artikel?”, erinnert sich Jansson "Und jeder hatte eine andere Vorstellung davon, was eine Enzyklopädie sein sollte." Folge war ein nie endender Diskussionsprozess über die Grundregeln des Projekts, der zwischen den verschiedenen Autoren auf Diskussionsseiten, Mailinglisten und auch auf Nutzertreffen ausgetragen wird. Gaben Wales und Sanger am Anfang noch die Grundsätze und Strukturen vor, entschied das Autorenkollektiv immer mehreigenständig über die Organisation der Enzyklopädie.
Die Wikipedianer spezialisierten sich immer mehr: Schon früh hatten sie die Funktion des Administrators geschaffen, der für die Einhaltung der Regeln sorgen sollte, indem er beispielsweise Autoren für Regelverstöße sperrt oder nicht ordnungsgemäße Artikel löscht. Aus dem anfangs anarchischen Projekt wurde ein durchorganisierte Enzyklopädie-Maschinerie mit Hunderten Regeln, Schlichtungsverfahren und Schiedsgerichten. Alleine die "Relevanzkriterien”, die festlegen zu welchen Themen Wikipedia-Artikel erlaubt sind, umfassen in der deutschen Ausgabe mittlerweile 29 Druckseiten. Es gibt Wikipedianer, die sich fast ausschließlich der Spam-Bekämpfung widmen und Spezialisten, die sich ihre Fachgebiete wie Schach oder Mineralien bearbeiten. Die verschiedenen Sprachversionen befruchten sich dabei gegenseitig. So erfanden deutsche Wikipedianer im Jahr 2008 das Konzept der gesichteten Versionen – Änderungen von Neu-Autoren werden der Allgemeinheit nicht mehr sofort angezeigt. Ein Jahr später wurde das Konzept auch für die englische Wikipedia übernommen. Völlig eigenständige Wege können die unterschiedlichen Communities allerdings nicht beschreiten: Die Strukturen der Wikipedia sind mit durch die zu Grunde liegende Software MediaWiki – eine Eigenentwicklung der Wikimedia Foundation – bestimmt. Die Communities können darüber bestimmen ob sie bestimmte Funktionen wie zum Beispiel Feedback-Möglichkeiten für Leser aktivieren wollen.
Von der Enzyklopädie zur Organisation
War Wikipedia zunächst ein Hobby-Projekt auf den Servern des von Jimmy Wales gegründeten Internet-Unternehmens Bomis.com, beanspruchte die Online-Enzyklopädie immer mehr Ressourcen. Bereits ein Jahr nach Gründung stellte sich die Frage, wie sich Wikipedia auf Dauer finanzieren könne. Eine naheliegende Idee war Online-Werbung – schließlich verdiente Jimmy Wales mit seiner Firma vor allem durch Online-Werbung das Geld, das Wikipedia am Laufen hielt.
Hier zeigte sich zum ersten Mal die Macht der Community der Wikipedia-Autoren. Alleine die Gerüchte über die Einführung von Werbung führten unter den Autoren zu einem Aufstand. Sie sahen das Projekt als Gegenpol zum grassierenden Kommerz im Internet. Im Februar 2002 koppelte sich die spanische Wikipedia-Ausgabe von dem Haupt-Projekt ab und machte unter dem Namen "Enciclopedia Libre Universal en Español" weiter. Selbst die eilige Versicherung von Jimmy Wales, nicht gegen den Willen der Autoren Werbung zu schalten, konnte die Spaltung nicht verhindern. Erst Jahre später konnte sich die spanische Wikipedia von diesem Rückschlag erholen.
Im Sommer 2003 gründete Jimmy Wales daher die Wikimedia Foundation, eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in den USA, die fortan den Betrieb der Wikipedia verantworten sollte. Ein erster Spendenaufruf auf der Webseite brachte weltweit 30.000 Dollar ein – mehr als genug um die Server des Projekts zu bezahlen. Das Geld wurde unter anderem genutzt, um der Wikipedia mehrere Schwesterprojekte zur Seite zu stellen: 2002 war schon das Wörterbuch "Wiktionary" gestartet, 2003 folgten die Zitatesammlung Wikiquote und Wikibooks, eine Plattform für frei verfügbare Lehrbücher. 2004 eröffnete das kollaborative Nachrichtportal Wikinews. Heute hat Wikipedia insgesamt acht Schwesterprojekte, von denen jedoch lediglich die Multimedia-Sammlung "Wikimedia Commons" den Erfolg von Wikipedia nachahmen konnte.
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales spricht auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Journalisten. (© picture-alliance/AP, Anja Niedringhaus)
Larry Sanger ist einer der Mitgründer der Wikipedia. (© ddp/AP, Kiichiro Sato)
Externer Link: 'The State of Wikipedia' ist ein Animationsfilm von Externer Link: JESS3 in dem Jimmy Wales die Geschichte der Wikipedia spricht
In Deutschland setzten Wikipedia-Enthusiasten andere Akzente: Anfang 2004 gründeten sie "Wikimedia Deutschland”. Obwohl der Verein keine direkte Verantwortung für den Betrieb der Online-Enzyklopädie hat und anfangs formell eher ein Wikipedia-Fanclub war, wurde er zur Keimzelle der Wikimedia-Bewegung. So luden die Deutschen 2005 Wikipedia-Aktivisten aus der ganzen Welt zur ersten Konferenz unter dem Titel "Wikimania" ein. Außerdem eröffneten sie in Frankfurt eine eigene Geschäftsstelle, die als Ansprechpartner für die Allgemeinheit diente und um Kooperationen mit Wissenschaftlern und anderen Organisationen warb.
Das Ringen um Qualität und Neutralität
Eines der ersten Projekte des jungen Vereins war eine Kooperation mit dem Berliner Verlag Digibib. Er gab ab 2004 eine Offline-Ausgabe der Wikipedia auf CD und DVD heraus. Dies hatte zwei wesentliche Effekte: Zum einen konnte Wikipedia so den Exoten-Status des reinen Internet-Projekts abstoßen und sich mit den digitalen Produkten der etablierten Konkurrenz wie Brockhaus oder Microsofts damaliger Multimedia-Enzyklopädie Encarta messen lassen. Zum anderen steigerte das Projekt die Qualitätsmaßstäbe innerhalb der Wikipedia.
War die Online-Enzyklopädie bis dahin "work in progress" ohne Abgabetermine und Anspruch auf Vollständigkeit, identifizierten die freiwilligen Autoren nun qualitativ hochwertige Artikel und versuchten beim Rest zumindest Mindeststandards zu erfüllen. In einer konzertierten Aktion versahen Wikipedia-Autoren zum Beispiel mehrere Tausend Artikel über Personen mit Angaben wie Geburtsort, Beruf, Sterbedatum. Auch andere Sprachausgaben übernahmen diese Qualitätsmaßstäbe, was dem öffentlichen Image von Wikipedia gut bekam. Die Online-Enzyklopädie war nicht mehr nur das Exoten-Projekt unbezahlter Freiwilliger, sondern eine anerkannte Enzyklopädie.
Höhepunkt der öffentlichen Anerkennung war Externer Link: ein Artikel des anerkannten Wissenschafts-Magazins Nature im Dezember 2005 , der dem unkommerziellen Projekt eine vergleichbare Qualität wie der Encyclopaedia Britannica attestierte – ein Ergebnis, das vom Verlag des Enzyklopädie-Urgestein heftig bestritten wurde. Doch bei immer neuen Tests schnitt die Wikipedia ähnlich gut ab wie die kostenpflichtige Konkurrenz. Zwar waren die Wikipedia-Artikel nicht durchweg gut formuliert oder übersichtlich wie klassische Enzyklopädien, der enorme Umfang und die Querverbindungen zu anderen Artikeln machten diese Mängel aber wieder wett. Gleichzeitig konnte Wikipedia mit Aktualität punkten: Während klassische Enzyklopädien nur selten aktualisiert wurden, konnten die Wikipedia-Autoren aktuelle Entwicklungen sofort in ihr Werk einpflegen. Als Beispielsweise 2010 herauskam, dass die Länge des Rheins über Jahrzehnte falsch angegeben wurde, konnte Wikipedia die Korrektur sofort präsentieren.
Doch immer wieder gab es kleinere und größere Skandale um falsche Wikipedia-Informationen – vom systematischen Bereinigen der Artikel von Politikern über falsche Todesmeldungen bis hin zum scherzhaften Hinzufügen eines Vornamens beim Freiherrn zu Guttenberg. Doch dem Erfolg des Projekts machte dies wenig aus. Für viele Internetnutzer war die Wikipedia inzwischen zum zentralen Nachschlagewerk für Informationen aller Art geworden. Schon 2005 führte der Web-Dienstleister Alexa die Online-Enzyklopädie als eine der weltweit 40 meist abgerufenen Webseiten, inzwischen ist Wikipedia bis in die Top 10 aufgerückt.
In Industrieländern mit einem ausgebauten Schulsystem und Internetzugängen florierte Wikipedia. So publizierte die englische Wikipedia im September 2004 ihren millionsten Artikel, die deutsche Wikipedia folgte Ende 2009. Doch in Entwicklungsländern, die eigentlich von dem kostenlosen Wissen am meisten profitieren sollten, bekam das Projekt keinen Fuß auf den Boden. Um dies zu ändern, trieb die damalige Vorsitzende des Stiftungsrats der Wikimedia Foundation Florence Nibart-Devouard einen Umbau der Organisation voran.
Die US-Stiftung sollte vom chaotisch geführten Mini-Büro zur schlagkräftigen Organisation werden, die bei der Verteilung des Wissens eine aktive Rolle spielen sollte. Dazu engagierte die Stiftung die kanadische Managerin Sue Gardner, die den Hauptsitz der Organisation 2008 vom beschaulichen Städtchen Sankt Petersburg in Florida ins San Francisco verlegte. Auf der einen Seite war der Umbau bemerkenswert erfolgreich. In vier Jahren wuchs die Wikimedia Foundation vom Büro mit einer Handvoll Angestellten bis zu einer Organisation mit über 100 bezahlten Mitarbeitern und einem Budget von mehr als 28 Millionen Dollar, die zum größten Teil aus kleinen Privatspenden stammten.
Eine der ersten großen Aufgaben der Stiftung war die Organisation einer projektweiten Abstimmung zum Lizenzwechsel der Wikipedia. Zur Projektgründung hatte sich Jimmy Wales für die Gnu Free Document Licence entschieden, die eigentlich für Dokumentation freier Software-Projekte gedacht war. Doch mit der Zeit erwies sich die sperrige Lizenz eher als Hindernis bei der Weiterverbreitung von Wikipedia-Inhalten. So musste bei Print-Produkten immer ein seitenlanger englischer Lizenztext mitgeliefert werden, die Probleme bei der Nennung der oft anonymen Autoren war ein weiteres Hindernis. An der Abstimmung im Frühjahr 2009 beteiligten sich 17.000 Autoren, über 75 Prozent stimmten dem Wechsel zur bedeutend einfacheren Creative-Commons-Lizenz zu. Die neue Wikimedia Foundation hatte ihre Handlungsfähigkeit bewiesen.
Die Grenzen des Wachstums?
Doch in anderer Hinsicht kam die Stiftung in schweres Fahrwasser: Vom Erfolg der ersten Jahre verwöhnt, hatten die Wikipedianer die Zeichen der Zeit verschlafen. Im Zeitalter interaktiver Angebote wie Facebook oder Google Maps wirkt die Oberfläche der Wikipedia hoffnungslos antiquiert. Der über Jahre aufgetürmte Regelberg machte die Teilnahme an dem auf Freiwillige angewiesenen Projekt immer komplizierter. Gerade in Deutschland gibt es immer wieder Unmut über die teilweise rigide Redaktionspolitik in der deutschen Wikipedia, die gerade auf Neulinge abschreckend wirkt. Auch scheinbar nichtige Anlässe sorgen für heftigen Streit. So führte beispielsweise die Frage, ob der Szene-Cocktail "Tschunk" einen eigenen Wikipedia-Artikel verdient, zu heftigen Diskussionen. Der Verein Wikimedia Deutschland versucht zwar immer wieder zu vermitteln, hat aber keine offiziellen Einflussmöglichkeiten auf die Autoren der Wikipedia. Und auch die Wikimedia Foundation in den USA hält sich bei direkten Eingriffen zurück.
Im November 2009 publizierte der spanische Forscher Felipe Ortega eine Untersuchung, wonach die englische Wikipedia unter einem rapiden Autorenschwund litt. Die Wikimedia Foundation wies den Befund zuerst zurück, teilte die Diagnose jedoch bald nach eigenen Untersuchungen: Zwar stoßen zehn Jahre nach Gründung immer noch Zehntausende Neulinge zur Wikipedia hinzu, doch die freiwilligen Autoren kehrten dem Projekt viel schneller den Rücken als in den Gründungsjahren. Zudem offenbarten die Umfragen http://meta.wikimedia.org/wiki/Editor_Survey_2011/Executive_Summary ein erhebliches Ungleichgewicht: gerade einmal 8,5 Prozent der Befragten in einer Autorenstudie waren Frauen.
Um den Rückgang der Autorenzahlen aufzuhalten, arbeitet die Wikimedia Foundation an einem neuen Editor, einer neuen Eingabemaske, die das Korrigieren und Erstellen von Artikeln wesentlich vereinfachen soll. Bisher müssen die Artikel nämlich in einer komplexen Satzsprache geschrieben werden. Links zum Beispiel werden in eckige Klammern gesetzt, Überschriften von Gleichheitszeichen eingerahmt und Literaturreferenzen müssen mit eingeleitet werden. Der neue Editor soll das Verfassen von Wikipedia-Artikeln so einfach machen, wie einen Brief am eigenen Computer zu schreiben. Doch die Arbeit geht langsam vonstatten, wann die neue Software für den Einsatz in der Wikipedia bereit ist, steht in den Sternen. Eine Neuorganisation der unübersichtlichen Diskussionsseiten ist ebenfalls seit Jahren überfällig.
Um neues Publikum zu finden und die Mission des freien Weltwissens zu erfüllen hat die Wikimedia Foundation ihren Blick in Entwicklungsländer gerichtet, in denen die Online-Enzyklopädie bisher kein Selbstläufer war. So kündigte Sue Gardner 2010 die Eröffnung von Büros in Indien, Südamerika und im arabischen Raum an. Doch auch hier geht die Arbeit nur langsam voran. Die in der Entwicklungsarbeit völlig unerfahrene Wikimedia Foundation muss sich erst mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut machen. Zunächst versucht die Stiftung technische Probleme zu lösen: Eine neue Mobil-Version der Enzyklopädie erleichtert den Zugang in Gegenden mit langsamen Internetverbindungen, Vereinbarungen mit Mobilfunk-Unternehmen sollen den Abruf in vielen Entwicklungsländern zudem kostenlos machen. Doch der neue Fokus bringt auch Streit in die Wikimedia-Bewegung: Während die Wikimedia Foundation in Zukunft Geldfluss und Aktionen mehr zentralisieren will, pochen die Länderorganisationen wie Wikimedia Deutschland auf ihre Eigenständigkeit.
Wikimedia Deutschland setzt unterdessen wieder andere Akzente. Der Verein, der mittlerweile mehr als 20 Angestellte hat, hatte schon frühzeitig Kooperationspartner gesucht, die Inhalte bereitstellen. So haben zum Beispiel die Deutsche Nationalbibliothek und das Bundesarchiv Teile ihrer Datenbestände für das Projekt zur Verfügung gestellt, die von den freiwilligen Mitarbeitern manuell oder halbautomatisch in das Projekt eingebaut wurden. So kann man zum Beispiel im Artikel von Helmut Kohl per Mausklick die gesammelte Literatur über den Altkanzler nachschlagen oder die offiziellen Pressefotos abrufen. Auch die Zusammenarbeit mit dem Projekt OpenstreetMap http://www.openstreetmap.org/ , das in einem ähnlichen Prozess wie Wikipedia Karteninformationen zusammenstellt, wurde in Deutschland initiiert.
In der nächsten Stufe soll Wikipedia mit einer Fakten-Datenbank unterlegt werden. Müssen heute noch alle Texte in den mittlerweile mehr als 250 Sprachversionen von Hand geschrieben werden, soll das Projekt "WikiData" zumindest grundsätzliche Faktenbeziehungen in Software abbilden. Dass beispielweise Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist, ist in jeder Sprache unstrittig und kann daher an einer Stelle einmalig festgelegt werden. Doch viele Community-Mitglieder misstrauen der neuen Technik – so macht sie das Verfassen von Artikeln wieder komplexer und das Einschleusen von Falschinformationen einfacher. Dabei könnten gerade kleinere Sprachversionen von einem vorgegebenen Faktenbestand profitieren.
Wie sehr sich Wikipedia gewandelt hat, zeigt das WikiData-Projekt sehr anschaulich: Konnte zu Beginn der Wikipedia alles mit freiwilliger Hilfe erledigt werden und grundlegende Änderungen in wenigen Tagen umgesetzt werden, hat Wikimedia Deutschland für das neue Projekt elf zusätzliche Angestellte für mehr als ein Jahr verpflichtet. "Wiki-wiki" heißt immer noch "schnell”, doch diese Eigenschaft hat Wikipedia seit den turbulenten Anfangsjahren Stück für Stück verloren. Als gereiftes Projekt, auf das sich Millionen Menschen weltweit verlassen, muss die Gemeinschaft der Autoren Wege finden, das Projekt ständig neu zu erfinden. Wohin die Wikipedia in den kommenden elf Jahren steuert, ist kaum vorherzusagen. | Article | Torsten Kleinz | 2022-01-25T00:00:00 | 2012-10-10T00:00:00 | 2022-01-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/bildung/wikipedia/145807/der-schnelle-weg-zum-weltwissen/ | Als am 15. Januar 2001 die "Wikipedia" online ging, war nicht abzusehen, wie sehr sie die Vorstellung vom Web 2.0. mitbestimmen würde. Aus dem Hobby-Projekt "Online-Enzyklopädie" einer kleinen Community wuchs schnell eine Organisation, die sich mit i | [
"Wissen",
"Enzyklopädie",
"Wikipedia",
"Geschichte der Wikipedia"
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M 04.37 Internetrecherche | Umweltbewusstsein und Klimaschutz | bpb.de | Die folgende Linkliste liefert euch eine erste Hilfestellung bei eurer Internetrecherche. Es bietet sich an, darüber hinaus Suchmaschinen einzusetzen, um Informationen zu folgenden Bereichen zu bekommen:
1. Gruppe: Mobilität (Anteile beim Verkehr, Energiespartipps Autofahren, Car-Sharing, Geschwindigkeitsbeschränkungen, Billigflieger, atmosfair, Biodiesel, Hybrid...)
2. Gruppe: Ernährung (Ökobilanzen der Nahrungsmittel, Einkaufen, Fleischkonsum und Treibhausgase, Klimafreundlich trinken und Essen, Klimawandel und Landwirtschaft....)
3. Gruppe: Strom (Stromverbrauch im Haushalt, Energieklassen von Haushaltsgeräten, Stromsparen bei Haushaltsgeräten, Stromklau, Energieverbrauch Computer, Energiesparlampen, Ökostrom, Fotovoltaik....)
4. Gruppe: Heizen (Wie heizt und lüftet man richtig?, Energiespartipps, Wärmedämmung, Heizen mit Holzpellets, Sonnenkollektoren, Wärmepumpe, Gasheizung....)
Linkliste
Bund der Energieverbraucher e. V.: Schönauer Strom- und Energiespartipps Externer Link: http://www.ews-schoenau.de/Download/files/Stromsparbroschuere.pdf Hier finden sich die "Top-Ten der Energiespartipps", Informationen zum Stromverbrauch in Privathaushalten, zur privaten Strom- und Wärmeerzeugung, allgemeine Tipps zu Themen wie "Heizung und Warmwasser" sowie ein Glossar.
Öko-Institut e.V.: EcoTopTen Externer Link: http://www.ecotopten.de EcoTopTen bietet Produktempfehlungen für den Kauf energie- und kostensparender Produkte, Tipps zum energiesparenden Verhalten und einen ausführlichen Informationsbereich zu häufigen Fragen in allen Bereichen des alltäglichen Lebens.
Deutsche Energie-Agentur Externer Link: http://www.thema-energie.de Das Angebot umfasst "Energiespartipps für Haus und Wohnung, Unterstützung bei der Sanierung, Modernisierung und Finanzierung sowie Informationen zur Energieerzeugung und Erneuerbaren Energien."
Klima sucht Schutz: Eine Kampagne gefördert vom Bundesumweltministerium Externer Link: http://www.klima-sucht-schutz.de "Die Kampagne 'Klima sucht Schutz' motiviert, sich aktiv am Klimaschutz zu beteiligen und dabei Geld zu sparen – mit interaktiven Energiespar-Ratgebern, Heizspiegeln, einem Klimaquiz sowie Portalpartnern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Politik."
Umweltbundesamt: Energiesparen im Haushalt Externer Link: https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/energiesparen-im-haushalt Der Ratgeber bietet "Tipps und Informationen zum richtigen Umgang mit Energie", zum Betrieb verschiedener Haushaltsgeräte, zu so genannten Stromräubern, Solarkollektoranlagen und neuen Verordnungen.
atmosfair Externer Link: http://www.atmosfair.de Die Initiative will die einzelnen Flugpassagiere über die zunehmende Belastung des Weltklimas durch den rasch wachsenden Flugverkehr informieren und ihnen eine Möglichkeit bieten, etwas dagegen zu unternehmen.
Umweltbundesamt (Hrsg.): Klimaschutz Die Informationsseite des Umweltbundesamtes bietet neben Informationen zum Klimawandel einen Überblick zum Thema Klimaschutz in den Bereichen Haushalt, Verkehr und Heizen.
WDR Fernsehen (Hrsg.): Quarks & Co Externer Link: http://www.quarks.de/ Informationen rund um Ökoprodukte. Wie ist die Ökobilanz eines Produktes? Quarks & Co hat mit Hilfe der Wissenschaftler des Ökoinstituts Freiburg einen leicht zu bedienenden Öko-Rechner entwickelt.
stern.de Externer Link: http://www.stern.de/wissenschaft/natur/:Globale-Erw%E4rmung-Welt-Wandel/580852.html EXTRA zum Thema "Welt im Wandel" mit einer umfangreichen Auswahl an interessanten Artikeln rund um das Thema Ernährung und Klimawandel. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-04-30T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/umweltbewusstsein/134953/m-04-37-internetrecherche/ | Eine Linkliste zu verschiedenen Themen bietet Hilfestellung bei der Internetrecherche. | [
"Forschen mit GrafStat"
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Die DDR auf der Anklagebank | Deutschland Archiv | bpb.de | In der Debatte über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die derzeit in Deutschland stattfindet, nimmt der Antisemitismus eine besondere Rolle ein. Das galt insbesondere im Juli 2020, als der Prozess gegen jenen Attentäter begann, der am 9. Oktober 2019 – an Jom Kippur – die Synagoge in Halle angegriffen hatte. Es war reines Glück, dass der Mörder die Tür der Synagoge nicht öffnen konnte, um sein dort geplantes Blutbad in die Tat umzusetzen. Aus Frustration darüber, dass es ihm nicht gelang, die rund 50 Menschen im Inneren der Synagoge zu töten, erschoss er willkürlich zwei Passanten, eine 40-jährige Frau auf der Straße und einen 20-jährigen Mann in einem Imbiss. Warum tat er das? Aus Hass auf jüdische Menschen. Und, wie seine Mutter später präzisieren sollte, aus Hass auf jene, die Geld haben.
Vor Gericht zeigte er nicht die geringste Reue. Sein Hass kommt tief aus seinem Inneren, wie auch bei Anders Breivik, dem Rechtsterroristen, der im Sommer 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete.
Halle liegt in Sachsen-Anhalt, auf dem Gebiet der früheren DDR. Obwohl der Mörder erst nach dem Fall der Mauer geboren wurde, fühlten sich durch diese einfache Tatsache jene bestätigt, die der Ansicht sind, der politische Umgang der DDR mit der Nazizeit sei die Wurzel des heutigen Antisemitismus. So erklärte der (west-)deutsch sozialisierte Intellektuelle Micha Brumlik in seinem Beitrag „Wie braun war die DDR?“, Jüdinnen und Juden in Deutschland seien heute wieder in Gefahr. Die Schuld dafür trage die untergegangene DDR, ein Staat, der sich nicht mit der Vergangenheit auseinandergesetzt habe; ein Staat, der Ex-Nazis in die Gesellschaft reintegriert habe, um sie besser zu kontrollieren; dessen hierarchisch-autoritäre Strukturen eine Kontinuität der Strukturen des sogenannten Dritten Reiches bezeugten. Hinzu kommt, dass die DDR sich geweigert habe, den Opfern der Schoah und dem Staat Israel Reparationen zu zahlen. Ostdeutsche Jüdinnen und Juden, welche diese Politik unterstützten, seien in die „Falle der Loyalität zum Kommunismus“ getappt und so zu „nützlichen Idioten“ geworden, welche die antizionistische Politik der DDR unterstützten. Brumlik schlussfolgerte in Umschreibung von August Bebels bekanntem Diktum: Antisemitismus sei „der ‚Sozialismus der dummen Kerls‘ und, möchte man hinzufügen, eines diktatorischen Staatssozialismus namens DDR.“
Eine heftigere Anschuldigung ist kaum denkbar. Als emeritierter Professor und Sohn jüdischer Eltern, die aus freien Stücken nach dem Krieg nach Westdeutschland zurückgekehrt waren, ist Micha Brumlik eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Die Medien greifen das, was er sagt, gern auf. Ein US-Historiker, der meint, in der DDR die „zweite antisemitische Diktatur des 20. Jahrhunderts“ zu erkennen, unterstützt ihn nun in einem Buch, das die DDR beschuldigt, mithilfe der extremen Linken Westdeutschlands die Zerstörung Israels betrieben zu haben. Jeffrey Herf stützt seine These auf eine gewaltige Menge an Dokumenten und Zitaten, die häufig verkürzt sind und aus dem Kontext gerissen werden. Sie lassen eher Rückschlüsse auf die seltsame Dummheit des ostdeutschen Führungspersonals zu als auf ein angebliches Bestreben, den israelischen Staat zu zerstören. Mit Ausnahme der Phase von 1949 bis 1953, in der Stalins UdSSR in einer antisemitischen Paranoia versank, die mehr als 500 Juden aus der DDR in die Emigration trieb, kann Antisemitismus bisher nicht eindeutig in das Sündenregister des kommunistischen Deutschlands aufgenommen werden.
Unterschwellig gab es den Vorwurf jedoch immer. Während die Linke im 19. Jahrhundert durchaus als jüdisch geprägt betrachtet werden kann, wurde sie später selbst mit dem Antisemitismus in Verbindung gebracht. Die Verbindung zwischen Antisemitismus und Antikommunismus wird wiederum sehr häufig gezogen: In der äußerst produktiven postkommunistischen Literatur Osteuropas werden die Übel des Kommunismus den Juden zugeschrieben, doch ohne, dass es deshalb unbedingt zu antizionistischen Äußerungen käme. Man betrachte nur die guten Beziehungen zwischen dem Ungarn Viktor Orbán, in dessen Hauptstadt offen antisemitische Plakate gegen den „Juden Soros“ zu sehen sind, und seinem ehemaligen israelischen Amtskollegen Benjamin Netanjahu. Der Hass auf den Kommunismus – und wir sprechen hier nicht von seinem stalinistischen Zerrbild, sondern von dem, was er als Gegenstück zum kapitalistischen Wirtschaftssystem bedeutet – ist genau wie der Antisemitismus grundlegender Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie, für welche der Marxismus ein zu eliminierendes Produkt des Judentums war.
Die Antwort auf Micha Brumlik kam von einer in Berlin-Pankow, also in Ostdeutschland, geborenen Essayistin, die allerdings beim Fall der Mauer erst 10 Jahre alt war. Charlotte Misselwitz erinnert an die Kinderärztin der Charité, Inge Rapoport, die 2017 im Alter von 104 Jahren starb. Nach dem Exil, das sie als Jüdin und Kommunistin in den USA verbracht hatte, war sie in die DDR zurückgekehrt und machte dort Karriere. Da sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebte, blieb ihr das Attentat von Halle erspart, nicht aber der Aufstieg der extremen Rechten, den sie beobachtete und in ihren Erinnerungen auch beschrieb. Es wurde bereits festgestellt, dass sich nach der Wiedervereinigung die fremdenfeindlichen und antisemitischen Taten in Deutschland häuften. Inge Rapoport war darüber keineswegs erstaunt. Hatte die DDR sich nicht mit einem Land wiedervereinigt, in dem frühere Nationalsozialisten in den höchsten Sphären Karriere machen konnten? Wenn die Juden wieder in Gefahr waren, dann genau jetzt und eben nicht zu Zeiten der DDR!
Brumlik zitiert als Quelle die Forschungen des westdeutschen Historikers Harry Waibel, der angibt, er habe Tausende Akten studiert, darunter auch Stasiakten, die er als Erster überhaupt und exklusiv gesichtet habe. Nach Waibels Angaben hatte die Stasi 7.000 rassistische und antisemitische Delikte registriert, wovon 145 Entweihungen jüdischer Friedhöfe und 200 „pogromartige Übergriffe“ in 400 DDR-Gemeinden waren, dazu zählte er auch „zehn Lynchmorde“. Das Auftreten von Hooligans am Rande von Fußballspielen sowie die Zurschaustellung von Nazisymbolen waren zwar bekannte Phänomene, jedoch hat die Dimension, die Waibel diesen zumisst, frühere DDR-Bürgerinnen und -Bürger überrascht. Zwar wussten sie, dass die Behörden Neonazi-Delinquenten weniger ehrgeizig verfolgten als Regimegegner. Sie gingen dennoch davon aus, dass die meisten von Waibels Zahlen mit Vorsicht zu genießen seien. Ein Vergleich mit der Statistik der alten Bundesrepublik ist nicht möglich, da dort die rechten Straftaten nicht von Beginn an statistisch erfasst worden sind. Jüngere Studien zeigen, dass sich der Bundesverfassungsschutz als Organ der Inneren Sicherheit im Westen ebenso wie der mit Blick auf das Ausland agierende Bundesnachrichtendienst deutlich stärker mit der Überwachung der Linken – sei sie nun kommunistisch gewesen oder nicht – sowie mit der Verfolgung der RAF befasst hatte. Dies ging bis zur Leugnung der Existenz einer extremen Rechten, deren jüngst entdeckte „Nester“ in Polizei und Armee es nicht erst seit gestern gibt. Vor kurzem wurde sogar bekannt, dass der Vorsitzende des Landesverbandes der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) Mitglied in einem rechten Netzwerk war. Charlotte Misselwitz bestreitet Brumliks These angesichts der verfügbaren Umfragen der Meinungsforschungsinstitute. 1991 ging man davon aus, dass 16 Prozent der Westdeutschen und sechs Prozent der Ostdeutschen antisemitische Vorurteile hatten. 1994 waren 40 Prozent der Westdeutschen der Meinung, man messe dem Genozid an den Juden eine zu große Bedeutung zu; im Osten waren 22 Prozent dieser Meinung. Erst 15 Jahre nach dem Fall der Mauer, also um 2005 herum, zeigten die Ergebnisse, dass die antisemitischen und rassistischen Tendenzen sich in Ost- und Westdeutschland im Wesentlichen angeglichen hatten.
Nichtsdestotrotz ist die Überzeugung, die DDR habe die Konfrontation mit der Nazivergangenheit gemieden, nach wie vor weit verbreitet. Die Mehrheit der Historikerinnen und Historiker vertritt weiterhin diesen Standpunkt. Ein Beispiel ist der aus Westdeutschland stammende Jenaer Geschichtsprofessor Norbert Frei. Seiner Meinung nach war die antifaschistische Kulturpolitik der DDR reine Routine und bestand aus bloßen Worthülsen – was aber im Widerspruch zu den oben erwähnten Meinungsumfragen zu stehen scheint: Offensichtlich war bei den Menschen doch etwas hängen geblieben! Anderer Meinung ist auch die US-Historikerin Susan Neiman, die in dem Buch Learning from the Germans (2019) die Auffassung vertritt, beide deutschen Staaten hätten, wenn auch auf unterschiedliche Weise, über die Vergangenheit reflektiert – was ein Vorbild für die USA hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der Sklaverei sein könne. Die Rolle Deutschlands als Vorbild könnte Micha Brumlik durchaus gefallen. Dennoch wirft er Susan Neiman ihre Aussagen zur DDR vor und besteht darauf, der kommunistische Teil Deutschlands habe die Nazivergangenheit weitaus stärker verdrängt als die Bundesrepublik.
Genau wie Norbert Frei führt Brumlik die bekannten „autoritär-hierarchischen Strukturen“ als Ursache faschistischer Tendenzen an. Nun aber – welch doppelte Ironie der Geschichte – haben die jüngsten Skandale das Wiederaufleben solcher Strukturen an zwei Orten gezeigt, wo diese eigentlich verurteilt werden. Im ersten Fall handelt es sich um die Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, deren Leiter entlassen wurde, weil er sexistisches Verhalten seines Stellvertreters nicht hinreichend aufgeklärt und Beschwerden von Mitarbeitenden über sexuelle Belästigung durch diesen ignoriert hatte. Im zweiten Fall geht es um die KZ-Gedenkstätte Buchenwald, deren ehemaliger Leiter 2019 einen Mitarbeiter rechtswidrig entlassen hatte. Eine Untersuchung enthüllte einen „stalinistischen“ Führungsstil. Beide ehemaligen Leiter sind westdeutsche Historiker. Eines hatten die Ostdeutschen - zugespitzt formuliert - in Windeseile gelernt: War es in der DDR sehr gefährlich, den Staatschef zu kritisieren, führte Kritik am Vorgesetzten am Arbeitsplatz in der Regel nicht zum Jobverlust. Heute scheint es umgekehrt zu sein.
Doch wenden wir uns weiteren strittigen Punkten zu. Ging die sogenannte Entnazifizierung in der DDR zu schnell vonstatten? Nun, sie ging auf jeden Fall schneller und war mit weniger Aufwand verbunden als in der Bundesrepublik, in welche die meisten Menschen, die sich auf das sogenannte Dritte Reich tiefer eingelassen hatten, geflohen waren. Hatte die DDR Ex-Nazis reintegriert? Gewiss. Allerdings in weitaus geringerer Zahl als die Bundesrepublik und vor allem an nicht so vielen herausgehobenen Positionen wie im Westen. Wurden diese Menschen in der DDR mit ihrer Vergangenheit erpresst? Wahrscheinlich schon. Erpressung ist eine Methode, die Geheimdienste anwenden. Es stimmt allerdings, dass der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst (BND) im Unterschied zur Stasi wenig gegen alte Nazis in der Hand hatten, da ein großer Teil des Personals dieser Behörden bis in die 1970er-Jahre aus genau dieser Personengruppe stammte! Der BND wurde von Reinhard Gehlen aufgebaut, dem früheren Leiter der Abwehr (Nachrichtendienst des sogenannten Dritten Reiches). Dies geschah auf Betreiben der USA, die den Nationalsozialisten im Kampf gegen den Kommunismus übernatürliche Kräfte zugeschrieben. Hinzu kommen weitere Diener des „Dritten Reiches“, die bald wieder in Amt und Würden gelangten, wie etwa der prominente Hans Globke, unter anderem Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze: Globke leitete unter Konrad Adenauer das Kanzleramt.
Schwierig wird es hingegen, wenn man versucht, alte Nazis an der Spitze der ostdeutschen Regierung zu finden, die bis zu ihrem Verschwinden von Erich Honecker geleitet wurde, einem Opfer des „Dritten Reichs“. Während Adenauers Deutschland 1952 mit Israel seine berühmten „Reparationen“ für den Mord an sechs Millionen Juden verhandelte – also eine Finanzhilfe für Israel, für die im Gegenzug deutsche Produkte gekauft werden sollten – standen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck an der Spitze der DDR. Diese Führungskräfte mögen wenig sympathisch gewesen sein, doch sie hatten im sowjetischen Exil gelebt oder, wie Otto Grotewohl, den Nazi-Kerker überstanden, oder sie waren Kind eines Rabbiners wie Albert Norden. Warum sollten diese Menschen eine Mitschuld an der Schoah empfunden haben? Damals hatte die UdSSR die DDR, indem sie Teile ihres Eisenbahnstreckennetzes als Reparationen abbaute, bereits derart im ökonomischen Würgegriff, dass sich etwa der DDR-Minister Gerhart Ziller 1957 das Leben nahm. Während die DDR sich weigerte, jüdische Menschen außerhalb ihrer Landesgrenzen zu entschädigen, erhielten auf ihrem Staatsgebiet „Opfer des Faschismus“ (Juden, Sinti und Roma) und insbesondere Mitglieder des antifaschistischen Widerstands Interner Link: Jüdische Überlebende, NS-Täter und Antisemitismus in der DDR,
Will man die Erinnerungspolitik der DDR bewerten, bietet es sich an, dies – trotz der Gefahr, anachronistisch zu werden – im Kontext der damaligen Epoche zu tun. Der vermeintliche Kult um die Antifaschisten, der für die DDR legitimierende Bedeutung hatte, erinnert an einige Aspekte der Politik und des Gedenkens im damaligen Frankreich. Auch unsere Straßen erhielten damals die Namen dieser Menschen, die in der Resistance kämpften. Wie in der DDR sparten auch unsere Sonntagsreden jenen Teil der Gesellschaft aus, der kollaboriert hatte. Auch die französische Geschichtswissenschaft trug zum Mythos von einem weitgehend widerständigen Frankreich bei. Jeder hatte also etwas zu verschweigen. Die DDR schwieg über den deutsch-sowjetischen Pakt und das Verschwinden kommunistischer Flüchtlinge in Moskau, die im KGB-Hauptquartier per Genickschuss hingerichtet wurden; die meisten westdeutschen Historiker verwendeten immer noch den Ausdruck „Invasion“, wenn sie von der Landung der Alliierten am 6. Juli 1944 sprachen; sie erteilten der Wehrmacht hinsichtlich jeglicher Beteiligung am Unternehmen Massenmord die Absolution; sie schufen den Mythos, die deutsche Diplomatie habe von den Verbrechen nichts gewusst. Martin Broszat, Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, sprach dem israelischen Historiker Saul Friedländer die notwendige Kompetenz ab, über den Genozid zu sprechen: Als Jude sei er zu stark selbst betroffen (letzterer musste später feststellen, dass Martin Broszat selbst Mitglied der NSDAP gewesen war). Die Mythen der westdeutschen Schule gerieten erst durch eine Wanderausstellung über die Wehrmacht an der Ostfront ins Wackeln, die das Hamburger Institut für Sozialforschung von 1995 bis 2004 zeigte, sowie durch die Arbeit der Historikerkommission mithilfe der diplomatischen Archive im Jahr 2010. Auch die KZ-Zwangsarbeit von mehr als drei Millionen Gefangenen im nationalsozialistischen Deutschland – vor allem Menschen aus Polen und der UdSSR – erhielt erst im Jahr 2001 größere Aufmerksamkeit. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas wurde 2005 eingeweiht und jenes für die Sinti und Roma im Jahr 2012. Letzteres ist heute durch den Bau eines Tunnels zum Bundestag gefährdet, womit die heutigen Behörden sich ebenso „sensibel“ zeigen wie jene der DDR, als in den 1980er-Jahren eine breite Straße Richtung Berlin direkt über den großen jüdischen Friedhof von Weissensee führen sollte.
Derzeit erscheinen immer mehr historische Studien zu den Unterströmungen der im Aufbau befindlichen Bundesrepublik Deutschland: zum Unwillen dieser Republik, alte Nazis zur Rechenschaft zu ziehen („Kameraden“ hätten sich gegenseitig verurteilen müssen, da 90 Prozent der Richter und Rechtsanwälte in den Diensten des sogenannten Dritten Reiches gestanden hatten ); zur Kommunistenjagd im öffentlichen Dienst; zur personellen Zusammensetzung der Nachrichtendienste. Zugleich wird, als sei das eine Art ausgleichender Gerechtigkeit, das Sündenregister der DDR fortgeschrieben, während man vergisst, welchen Beitrag zur Erinnerungskultur die vielen dort entstandenen Filme, Theaterstücke und literarischen Werke geleistet haben oder die intensive Erinnerungsarbeit evangelischer Pfarrer. Jedenfalls war Interner Link: Auschwitz in der DDR alles andere als ein Tabu. Um nur ein Beispiel zu nennen: Margarete Mitscherlich, die gemeinsam mit Alexander Mitscherlich Die Unfähigkeit zu trauern (1967) verfasste, betrachtete Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976) als den wichtigsten deutschsprachigen Beitrag zum Gedenken. Genau wie in Frankreich hatte die künstlerische Produktion vor der Historiographie reagiert und die Lücken im offiziellen Diskurs gefüllt.
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit haben zu tiefe Ursachen, um ihnen mit oberflächlichen Erklärungen beizukommen. Sie zeigen sich heute in ganz Deutschland – uralte, tief in die Gesellschaft eingegrabene Vorurteile werden wieder sichtbar, womit sich über den deutschen Fall hinaus die Frage stellt, wie wirksam die famose Erinnerungspolitik eigentlich ist. Diese im Sinne eines ideologischen Kampfes zu instrumentalisieren, kann kontraproduktiv sein. In einer Debatte im Jahr 2011 erinnerte der Philosoph Jürgen Habermas daran, dass der Antikommunismus der Bundesrepublik eng mit der Kontinuität der Nazi-Ideologie verknüpft gewesen sei, und dass dies nur überwunden werden könne, indem man gegen den Antikommunismus Stellung beziehe. Der Tonfall des vorherrschenden Diskurses zum „Sündenbock DDR“ zeigt, dass dieser Ruf noch immer nicht gehört worden ist.
Zitierweise: "Rassismus und Antisemitismus in Deutschland: Die DDR auf der Anklagebank", Sonia Combe, in: Deutschland Archiv, 31.01.2022, Link: www.bpb.de/504479
Der Genauigkeit halber ist es wichtig, die Herkunft der Autorinnen und Autoren zu nennen, da die Mehrheit jener, die über die DDR schreiben, immer noch aus dem Westen stammt.
Michaël Wolffsohn, Die Deutschland Akte, München 1996.
Micha Brumlik, Ostdeutscher Antisemitismus. Wie braun war die DDR?, in: blaetter.de, Januar 2020, www.blaetter.de/ausgabe/2020/januar/ostdeutscher-antisemitismus-wie-braun-war-die-ddr, letzter Zugriff 20.03.2020 sowie ders., In der DDR wurde die NS-Zeit verdrängt, in: Die Zeit, 6.3.2020, https://www.zeit.de/2020/11/nationalsozialismus-aufarbeitung-ddr-bundesrepublik-antisemitusmus-micha-brumlik, zuletzt aufgerufen am 18.01.2022.
Jeffrey Herf, Undeclared Wars with Israel, East Germany and the West German Far Left, 1967-1989, Cambridge 2016.
Paul Hanebrink, A Specter haunting Europe. The myth of Judeo-bolchevism, Cambridge, Mass. 2018.
Charlotte Misselwitz, Als ob wir nichts zu lernen hätten von den linken Juden der DDR ... - Bemerkungen zu dem Beitrag von Micha Brumlik 'Ostdeutscher Antisemitismus: Wie braun war die DDR?'", in: Deutschland Archiv, 29.4.2020, www.bpb.de/308502.
Micha Brumlik, Ostdeutscher Antisemitismus (Anm. 3).
Vgl. Jost Dülffer/Klaus-Dietmar Henke/Wolfgang Krieger/Rolf-Dieter Müller (Hg.), Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945 – 1968.
Siehe Gareth Joswig, DPolG-Chef mit rechter Vergangenheit Mitgliedsnummer 11, in: TAZ,20.07.2020, https://taz.de/DPolG-Chef-mit-rechter-Vergangenheit/!5695858/; siehe auch: Jonas Stapper u. Rechercheteam GdAfD, Polizeigewerkschaftsfunktionär mit rechtsradikaler Geschichte, belltowernews, 08.07. 2020, https://www.belltower.news/bodo-pfalzgraf-polizeigewerkschaftsfunktionaer-mit-rechtsradikaler-geschichte-101325/; siehe auch: The Dark Side of State Power Exploring Right-Wing Extremism in Germany's Police and Military, Spiegel International, 13.08.2020, https://www.spiegel.de/international/germany/the-dark-side-of-state-power-exploring-right-wing-extremism-in-germany-s-police-and-military-a-0600aa1e-3e4e-45af-bfc9-32a6661e66ef, zuletzt aufgerufen am 18.01.2022.
Im Gespräch mit Anja Reinhardt, Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Historiker Norbert Frei: Antifaschismus in der DDR oft „hohle Gedenkroutine“, Deutschlandfunk, 09.02.2020.
Susan Neiman, Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können, München 2020.
Susan Neiman sieht Umgang mit Nazizeit als Vorbild, Zeit online, 15.2.2020, https://www.zeit.de/news/2020-02/15/susan-neiman-sieht-umgang-mit-nazizeit-als-vorbild, zuletzt aufgerufen am 18.01.2022.
So wurde beispielsweise 1999 von dem westdeutschen Kriminologen Christian Pfeiffer unterstellt, dass der Umstand, dass die ostdeutschen Kinder in den DDR-Krippen alle und überall zu derselben Zeit aufs Töpfchen gegangen seien, dazu geführt habe, dass eine individuelle kindliche Entwicklung unterdrückt worden sei, was ursächlich für den Hass auf Fremde sei (die sog. Töpfchen-These, siehe Christian Pfeiffer, Anleitung zum Haß, in: Der Spiegel, 12/1999, 21.03.1999, https://www.spiegel.de/politik/anleitung-zum-hass-a-43ac5427-0002-0001-0000-000010245923).
Siehe Jost Dülffer/Klaus-Dietmar Henke/Wolfgang Krieger/Rolf-Dieter Müller (Hg.), Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945 – 1968; siehe auch Deák István, Europe on trial. The Story of Collaboration, Resistance and Retribution during World War II, Boulder 2015.
Gerhart Ziller war Minister für Maschinenbau und Minister für Schwermaschinenbau der DDR.
Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann (Hg.), Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
Romani Rose, „Glaubt man, mit den Roma und Sinti so umgehen zu können?“, Interview von Susanne Lenz, Berliner Zeitung, 08.07.2020.
Vgl. Klaus Bästlein, Der Fall Globke, Berlin 2018.
Vgl. Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland, Göttingen 2013.
Antisemitismus und Antikommunismus. Eine Tagung blickt zurück auf die 60er Jahre. Daniel Cohn-Bendit und Jürgen Habermas sind als Zeitzeugen geladen und diskutieren über den „linken Faschismus“, Frankfurter Rundschau, 01.07.2011, https://www.fr.de/kultur/antisemitismus-antikommunismus-11399659.html, zuletzt aufgerufen am 18.01.2022.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-09T00:00:00 | 2022-01-31T00:00:00 | 2022-02-09T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/504479/die-ddr-auf-der-anklagebank/ | Sonia Combes Beitrag erschien zunächst in Savoir-Agir Nr. 55, 2021 und im Januar 2021 gekürzt in Le Monde diplomatique. Er ist ein Blick von außen auf die Debatte über Antisemitismus in der DDR. | [
"Antisemitismus",
"Antisemitismus in der DDR",
"Antisemitismus in der Bundesrepublik"
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Essay: Die Familie wird wirtschaftskompatibel gemacht | Familienpolitik | bpb.de | Seit mehr als einem Jahrzehnt herrscht in Deutschland parteiübergreifend Konsens, was moderne, familienfreundliche Politik bedeutet: den Ausbau von Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen, sodass die Kinder möglichst den ganzen Tag betreut werden und die Eltern den ganzen Tag arbeiten können. Manche Politiker fordern inzwischen, die Einrichtungen auch nachts zu öffnen, damit Eltern in Nachtschichten arbeiten können. Die Begründung lautet, ähnlich wie bei der Einführung von Hartz IV: Sozial ist alles, was den Menschen hilft, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Diese Denkweise hat sich bei den Familienpolitikern aller im Bundestag vertretenen Parteien durchgesetzt. Niemand kommt mehr auf die Idee zu fragen: Ist es wirklich familienfreundlich, eine Infrastruktur zu schaffen, deren Zweck vor allem darin besteht, die Familie den ganzen Tag voneinander zu trennen? Ist es wirklich sozial, Betreuungseinrichtungen 24 Stunden am Tag zu öffnen, damit alleinerziehende Mütter spätabends an der Supermarktkasse sitzen oder ihre Nachtschicht als Krankenschwester ableisten können?
Die neue Familienpolitik agiert keineswegs ohne Eigennutz
Mehr als 20 Milliarden Euro hat die Bundesregierung bereits in den Bau von Krippen und Ganztagsschulen investiert. Nachdem erst die Alten aus den Familien ausgelagert wurden, sind nun die Kinder und Jugendlichen an der Reihe, die zweite große, unproduktive Gruppe der Gesellschaft. Der Wandel vollzieht sich weltweit. Wir steuern auf eine Gesellschaft zu, stellte die amerikanische Soziologin Arlie Russel Hochschild fest, in der ein Mensch seine ersten Worte zu einer Kinderbetreuerin spricht und seine letzten Worte zu einer Altenbetreuerin.
Während diese Vision bei Eltern immer noch Unbehagen weckt, betont die Politik nimmermüde die Vorteile: Ganztagsbetreuung ermögliche die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, also mehr Wahlfreiheit. Sie sei ein notwendiger Schritt zur Emanzipation der Frau, die sich nun im Beruf verwirklichen könne und nicht länger von ihrem Mann abhängig sei. Und die Kinder würden nun von Experten betreut und gefördert, besser als die Eltern dazu in der Lage seien.
Doch so uneigennützig ist die neue Familienpolitik nicht, und bisher werden ihre Versprechungen im Alltag nicht annähernd eingelöst. Vor allem führt diese Politik nicht zu mehr Wahlfreiheit, sondern zwingt Eltern in ein Lebensmodell, das längst nicht alle anstreben, das aber einflussreiche Kräfte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als wünschenswerte Norm erachten. Schon jetzt haben viele Eltern keine Wahlfreiheit, sie müssen ganztags arbeiten, erst recht, wenn sie alleinerziehend sind. In den Städten sind die Mieten explodiert. Der Bestand an Sozialwohnungen in Deutschland schrumpfte von sechs Millionen auf heute gerade noch 1,4 Millionen. Dagegen stagnieren die Löhne und Gehälter in vielen Berufsgruppen seit Langem. Es gab Zeiten, da reichte das Gehalt eines Fabrikarbeiters, um eine vierköpfige Familie zu ernähren. Davon können heute selbst viele Akademiker nur träumen. Der Grund für diese Entwicklung ist eine verfehlte Wohnbau- und Lohnpolitik. Doch statt die Ursachen für die Not zu beseitigen, stellt die Politik Betreuungseinrichtungen bereit und spielt den Ball zurück an die Familien: Sie sollen sich selbst aus der misslichen Lage befreien.
Es gilt weiterhin: nur Erwerbsarbeit wird entlohnt
Natürlich gibt es Frauen, die von der Ganztagsbetreuung profitieren; Frauen, die arbeiten wollen und das nun auch können. Gleichzeitig gibt es viele Mütter – und immer mehr Väter –, die die ersten Jahre nach der Geburt gern bei ihrem Kind zu Hause bleiben würden. Während der Staat das eine Lebensmodell mit viel Geld unterstützt – ein Krippenplatz wird monatlich mit mehr als 1.000 Euro bezuschusst –, ist ihm das andere nichts wert: Das Betreuungsgeld, mit 150 Euro ohnehin spärlich bemessen, wurde 2015 unter dem Applaus fast aller Parteien abgeschafft. Damit wird aber zementiert, was Frauenrechtlerinnen vor Jahrzehnten beklagten: Die Arbeit von Frauen (und auch Männern) hat nur einen Wert, wenn sie als Erwerbsarbeit erbracht wird. Deswegen forderten zum Beispiel die Grünen in ihrem Gründungsprogramm 1980, Hausarbeit und Kindererziehung als voll entlohnten Beruf mit Rentenanspruch anzuerkennen. Alles längst vergessen. Wer sich heute noch entschließt, mit Rücksicht auf die Kinder allzu lange zu Hause zu bleiben, riskiert, den Wiedereinstieg in den Beruf zu verpassen und spätestens im Alter zu verarmen. Das ist der große Makel der heutigen Familienpolitik: Sie unternimmt wenig, um die Wirtschaft familienfreundlicher zu machen, aber viel, um die Familien wirtschaftskompatibler zu machen.
Die erfreuliche Entwicklung, dass Frauen heute beruflich mindestens so qualifiziert sind wie Männer, würde es ermöglichen, dass sich Mütter und Väter die Erziehung der Kinder gleichberechtigt teilen und sich jeweils ein Elternteil zu Hause um das Kind kümmert – was sich in Umfragen immer noch viele Eltern wünschen. Doch dieses Modell kann sich zunehmend nur noch eine privilegierte Oberschicht leisten. Es war wohl auch nie für die breite Masse vorgesehen: Familienministerin Manuela Schwesig sagte schon vor ihrem Amtsantritt, sie wolle erreichen, dass Frauen möglichst Vollzeit arbeiten. Im Herbst 2016 äußerte sie, mit einer zukunftsorientierten Familienpolitik ließe sich die Erwerbsquote von Müttern weiter erhöhen und deren durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 31 Stunden steigern. Dadurch würde das Bruttoinlandsprodukt um 69 Milliarden Euro wachsen. Dass die Kinder ihre Eltern dadurch seltener sehen, erwähnt die Familienministerin nicht. Auch Schwesigs – im Grundsatz ja richtiger – Vorschlag, junge Eltern, die ihre Arbeitszeit etwas reduzieren, mit einem Familiengeld von 300 Euro monatlich zu unterstützen, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als wenig familienfreundlich: Das Geld sollen nur Eltern bekommen, die immer noch mindestens 32 Stunden in der Woche arbeiten. Das bedeutet, dass die Kinder täglich sieben bis acht Stunden fremdbetreut werden müssen und weiterhin kaum Zeit für ein gemeinsames Familienleben bleibt.
Kritik an der neuen Familienpolitik gilt schnell als reaktionär und frauenfeindlich
Bereits im Frühjahr 2012 stellten Ökonomen im Auftrag des Familienministeriums fest, auch Alleinerziehende könnten länger arbeiten, wenn es flächendeckende Ganztagsbetreuung für alle Kinder gäbe. Das würde "nicht nur zu einer Einsparung bei den Transferleistungen, sondern auch zu höheren Steuern und Sozialabgaben führen". Und schon vor zehn Jahren betonte der damalige Wirtschaftsweise Bert Rürup angesichts sinkender Geburtenraten und Fachkräftemangel die "Notwendigkeit einer Mobilisierung der sogenannten stillen Reserve, Frauen mit kleinen Kindern". Das macht Ganztagsbetreuung eben so attraktiv. Sie löst so viele Probleme – Probleme der Politik, der Wirtschaft und auf den ersten Blick auch die der Eltern.
Und die Kinder? Sie "dürfen nicht länger ein Hindernis für Beruf und Karriere sein" hielt die schwarz-rote Regierung 2005 in ihrem Koalitionsvertrag fest. Von diesem Weg lässt sich die Politik seitdem durch nichts abbringen. Nicht durch die Warnungen zahlreicher Kinderärzte und -psychiater, die in umfangreichen Studien die Risiken für Kleinkinder durch zu frühe und zu lange Fremdbetreuung nachgewiesen haben. Nicht durch die bisher einzige flächendeckende Untersuchung zur Qualität der Krippen in Deutschland, die nur drei Prozent der Einrichtungen als gut bewertete, aber 85 Prozent als mittelmäßig und zwölf Prozent als schlecht. Nicht durch den Befund im Frühjahr 2016, wonach Schülerinnen und Schüler in deutschen Ganztagsschulen keine besseren Leistungen erzielen als jene in traditionellen Halbtagsschulen.
Der Aufschrei der Öffentlichkeit blieb bisher aus. Das ist wohl der größte Erfolg, den die Verfechter der neuen Familienpolitik verzeichnen können: Es ist ihnen gelungen, ihre Agenda als modern und alternativlos darzustellen, wer sich kritisch äußert, gilt schnell als reaktionär und frauenfeindlich. Dabei beklagen viele Frauen bereits jetzt den gesellschaftlichen Druck, im Beruf perfekt funktionieren zu müssen, obwohl die Last der Haushalts- und Erziehungsarbeit kaum abgenommen hat. Die Familienpolitik muss endlich wieder zu ihrer ureigensten Aufgabe zurückkehren: die Vertretung der Interessen von Familien, und zwar aller Familienmitglieder. Das bedeutet insbesondere den Schutz des Familienlebens vor den Begehrlichkeiten einer auf Effizienz getrimmten, durchökonomisierten Gesellschaft. Das moderne Märchen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, dank flächendeckender Ganztagsbetreuung könnten sich Eltern im Berufsleben verwirklichen und gleichzeitig ein erfülltes Familienleben genießen, mag bei einigen Erwachsenen verfangen. Aber sicher nicht bei der kommenden, ganztagsbetreuten Generation – einer Generation, die in früher Kindheit die Rationierung von Elternliebe und Geborgenheit ertragen musste, und später den Verlust ihrer Freiheit. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2017-02-27T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/familie/familienpolitik/243303/essay-die-familie-wird-wirtschaftskompatibel-gemacht/ | Die Familienpolitik will die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern. Klingt gut. Doch der Politik geht es nicht um die Familien, sondern um die Wirtschaft, findet der Journalist Rainer Stadler. In diesem Meinungsstück kritisiert er, dass die Pol | [
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Der 11. September als globale Zäsur? Wahrnehmungen aus Lateinamerika, Nahost, Russland und Indonesien | 11. September 2001 | bpb.de | Indonesien nach dem 11. September
Die Nachricht vom Tod des weltweit meistgesuchten Terroristen Osama Bin Laden kam zu einem Zeitpunkt, der symbolträchtiger kaum hätte sein können: nur wenige Monate vor dem 10. Jahrestag der verheerenden Anschläge auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Washington, bei denen fast 3.000 Menschen ihr Leben verloren hatten. Das Ende der Ära Bin Ladens wurde in Indonesien mit javanischer Höflichkeit zur Kenntnis genommen. Eine offizielle Stellungnahme aus dem Präsidentenpalast gab es nicht. Präsident Susilo Bambang Yudhoyono ließ auf Anfrage verlauten, dass Indonesien die Haltung der meisten Nationen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus teile, und dass man nicht nachlassen werde, terroristische Netzwerke zu zerschlagen. Er berief eine Sondersitzung mit Vertretern der Polizei, des Militärs und dem Chef des Geheimdienstes ein, um die durch den Tod Bin Ladens veränderte nationale Sicherheitslage zu erörtern. Polizei und Militär wurden umgehend in Bereitschaft versetzt und die Bevölkerung zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen: "Wir rechnen mit allem, nichts kann ausgeschlossen werden", war von einem Sprecher des Präsidenten zu hören.
Champagnergelage und jubelnde Menschenmengen, wie sie in Fernsehbildern aus den USA zu sehen waren, suchte man in der indonesischen Hauptstadt freilich vergeblich. Die Devise lautete: Zurückhaltung und unter allen Umständen Provokationen vermeiden.
So ist es nicht verwunderlich, dass die Front Pembela Islam (Islamische Verteidigungsfront, FPI), eine der aktivsten und militantesten islamistischen Organisationen Indonesiens, unbehelligt zu Massengebeten und "Bin-Laden-Gedenkgottesdiensten" in ihren headquarters im Zentrum Jakartas aufrufen konnte und ihr Anliegen frech per SMS an die Online-Zeitung "Tempointeraktiv.com" sandte; Ortsangabe und Zeitpunkt inklusive. Galt der Al Qaida-Chef den islamistischen Gruppen in Indonesien schon lange als Held und Prophet, wurde er durch seine Ermordung über Nacht zum Märtyrer.
Unterstützung für ihr Anliegen fanden die Islamisten bei Mustafa Kamal, einem führenden Politiker der stärksten islamischen Partei im Land, der Partai Keadilan Sejahtera (Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei, PKS). Kamal drückte sein Verständnis für das Bedürfnis nach einer Trauerfeier für den Terroristen aus. Schließlich handele es sich um Mitglieder der Gesellschaft, die ihren Überzeugungen Ausdruck verleihen wollten. Die PKS war bei den ersten freien Parlamentswahlen in 2004 fulminant mit einem Anti-Korruptionsprogramm gestartet und konnte auf Anhieb sieben Prozent der Stimmen auf sich vereinen; bei der Wahl in 2009 blieb sie jedoch mit acht Prozent hinter den Erwartungen zurück - nicht zuletzt wegen einiger bekannt gewordener parteiinterner Korruptionsfälle. Indonesiens "Zwang" zur Solidarität
Zehn Jahre zuvor hatte die damalige Präsidentin Megawati Sukarnoputri, Tochter des Republikgründers Sukarno, gerade ihr delikates Erbe als Staatschefin angetreten. Nach 350 Jahren holländischer Kolonialmacht, an dessen Ende das damalige Niederländisch-Ostindien in blutigen Machtkämpfen zwischen Holländern, Briten und Japanern und im Krieg um Unabhängigkeit aufgerieben war. Gefolgt von 22 Jahren glückloser Versuche ihres Vaters Sukarno, Indonesien als Nation zu einen und weiteren 32 Jahren unter der totalitären Herrschaft des Diktators Suharto, der zwar dem Land zu einiger Stabilität und wirtschaftlichem Erfolg verhalf, sein Volk aber gnadenlos unterdrückte, ausbeutete, ermorden ließ und am Ende in den wirtschaftlichen und politischen Ruin getrieben hatte. Sein privates Vermögen, das er bis zu seinem Sturz in 1998 beiseite geschafft hatte, wird auf 30 bis 60 Milliarden US-Dollar geschätzt. Zwei Interims-Regierungen unter Yusuf Habibie und Abdurrahman Wahid folgten, bis Megawati Sukarnoputri im Juli 2001 die Amtsgeschäfte des ethnisch, religiös und politisch zerrütteten und wirtschaftlich mehr als desolaten Staates übernahm.
Als die Präsidentin am 19. September 2001 auf Einladung des US-Präsidenten George W. Bush in die USA reiste, reiste sie mit schwerem Gepäck. Während der Suharto-Diktatur waren die USA Indonesiens wichtigster Handelspartner. Ihr fiel es nun zu, die junge Demokratie als stabiles und für Investitionen offenes Land zu bewerben, denn nichts brauchte Indonesien dringender als Geld.
Doch dann kam "9/11", und was eigentlich als eine "Promo-Tour" für amerikanische Investitionen gedacht war, entwickelte sich für Megawati zum politischen Balanceakt. Während indonesische Ökonomen einen Tag nach den Anschlägen noch erörterten, welche Auswirkungen die drohende Rezession in den USA auf die Ökonomien der Welt und die ohnehin darniederliegende Wirtschaft Indonesiens haben würde, meldeten sich schon zwei Tage nach "9/11" einige politische Beobachter der Muhammadiyah Universität in Yogyakarta zu Wort, die George W. Bush nachdrücklich davor warnten, voreilig muslimische Gruppen für die Anschläge verantwortlich zu machen. Sie erinnerten daran, wie schnell die USA Muslimen die Verantwortung für den Bombenanschlag in Oklahoma in 1995 in die Schuhe schieben wollten, während die wirklichen Täter damals "hausgemachte" amerikanische Terroristen gewesen seien. An Terrorakte und Bombenanschläge hatte sich Indonesien beinahe schon gewöhnt - das Machtvakuum nach dem Fall Suhartos hatte als Petrischale für konservative und radikale islamistische Gruppen wie die Laskar Jihad (LJ) und die FPI gedient -, betrachtete diese aber als ein nationales Problem.
Nicht so George W. Bush: Mit seinen den Anschlägen folgenden aggressiven Thesen vom "You're either with us or against us" und des von ihm erklärten Global War on Terror, mit denen er die Anschläge umgehend von einem nationalen in ein weltumfassendes Problem umwidmete, ließ kaum einer Nation einen Ausweg. Ganz sicher keiner, die auf gute Beziehungen mit den USA so angewiesen war wie Indonesien. Bush erkannte seine Chance, die politisch unerfahrene Präsidentin des bevölkerungsreichsten muslimischen Staates der Welt als strategisch wichtige Verbündete einzubinden. Indonesien brauchte dringend Investitionen, und eine international sichtbare Imagepolitur konnte auf der Suche nach Geld nicht schaden. Megawati sicherte den USA noch während ihres Besuches ihre volle Unterstützung zu. Was zunächst nach einer win-win-Situation aussah, sollte sich schon bald als innenpolitisches Problem für die Präsidentin entpuppen.
Denn zuhause wurden Megawatis Zugeständnisse mit gemischten Gefühlen betrachtet. Eine enge Zusammenarbeit mit der Weltmacht USA wurde von vielen zwar als politischer Ritterschlag empfunden, und die Aussicht, endlich wieder im internationalen Reigen mitzutanzen, wertete das Land auf. Doch vorsichtigere Stimmen warnten schon bald davor, sich zu sehr mit den amerikanischen Zielen zu identifizieren. Denn für die meisten Indonesier waren die Anschläge auf amerikanische Ziele zu diesem Zeitpunkt noch ein rein amerikanisches Problem, und nicht wenige verorteten diese als Reaktion auf amerikanische Politik. Was hatte Indonesien damit zu tun?
Kaum zurück in der Heimat, musste Megawati auch schon massiv zurückrudern mit ihren Zugeständnissen. Als die USA schon Anfang Oktober mit militärischen Interventionen in Afghanistan begannen, war auch den moderaten Kräften im Land kaum mehr zu vermitteln, warum Indonesien sich am amerikanischen Krieg beteiligen und damit die tödlichen Angriffe auf Muslime mittragen sollte. Es kam zu landesweiten Demonstrationen. Auch Stimmen, die ein Ende der wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu den USA forderten, wurden in der Folge lauter. Für radikale Gruppen wie die damals noch aktive militante LJ und die FPI waren die Angriffe auf Afghanistan Öl auf die antiwestlichen und proislamistischen Mühlen. Aber in einem Punkt waren sich Islamisten und moderate Gruppen einig: Indonesien sollte die amerikanischen Rachefeldzüge gegen Afghanistan nicht unterstützen. Vom potenziellen Täter zum Opfer
Wachgerüttelt wurden die indonesische Bevölkerung und Politik erst durch die verheerenden und eindeutig antiwestlichen Bombenattentate auf Bali, dem Aushängeschild Indonesiens, im Oktober 2002. War die Bush-Regierung bis dahin wenig überzeugt von Megawatis commitment zum War on Terror, war Indonesien nun vom potenziellen Täter- ins Opfer-Lager gerutscht und damit auf derselben Seite. Die Nation war tief schockiert, Terrorismus war nicht mehr als ein rein amerikanisches oder indonesisches Problem abzutun. Gleichzeitig lieferten die Anschläge Megawati die innenpolitische Legitimation, sich nun mit größerer Zustimmung in der Bevölkerung dem War on Terror anzuschließen. Noch ahnte niemand, dass die USA nur wenige Monate später ein weiteres muslimisches Land, den Irak, bombardieren würden. Für die "Koalition der Willigen" konnte Präsident Bush Indonesien allerdings nicht gewinnen.
Wiewohl glücklos und zögerlich in der Bekämpfung der Korruption, konnte die indonesische Regierung unter ihrem in 2004 ersten frei gewählten Präsidenten S. B. Yudhoyono einige Erfolge im Kampf gegen den nationalen und internationalen Terrorismus verbuchen. Die Täter der Bali-Anschläge wurden verhaftet und zum Teil hingerichtet. Dadurch gewann das Land zumindest in der westlichen Welt an Ansehen und Vertrauen und spielt auf dem internationalen Parkett eine immer wichtigere Rolle.
Seit 2004 geht es auch wirtschaftlich wieder deutlich bergauf. Das ist zweifellos zu einem guten Teil den emsigen Bemühungen des Präsidenten geschuldet. Als Auslöser für die aktuelle Entwicklung ist aber das Zugeständnis Indonesiens an die Forderungen der USA und in der Folge die Bereitschaft, auch international mehr Verantwortung zu übernehmen, nicht zu unterschätzen. Indonesien hat teuer dafür bezahlt: Die Bali-Anschläge in 2002, Bombenanschläge auf das Marriott Hotel in 2003 und auf die australische Botschaft in 2004, eine ganze Bombenserie auf westliche Ziele in Bali im Oktober 2005, Anschläge auf das Ritz-Carlton Hotel und erneut das Marriott Hotel im Juli 2009 sind - direkt oder indirekt - die Rechnung der Islamisten für die Unterstützung der amerikanischen Politik. Fokus auf "lokale Feinde"
Gilt auch die Jeemah Islamiyah (JI) in Indonesien inzwischen als leidlich zurückgedrängt, haben andere, lokale militante Gruppen sowohl deren Ziele als auch deren Mittel adaptiert und zahllose Anschläge, die sich fast ausschließlich gegen soft targets wie Kirchen oder christliche Gemeinden richten, verübt. So wurden nach Angaben der Online-Zeitung "Compass Direct" zwischen 2004 und 2007 mehr als 100 christliche Kirchen in Indonesien niedergebrannt und zahllose Kirchgänger unter Androhung oder Anwendung von Gewalt an einer Teilnahme am Gottesdienst gehindert.
Allein am 4. Mai 2011 entschärfte die Polizei in Jakarta zwei Bomben. In den Wochen zuvor hatten die Bombeneinheiten ebenfalls alle Hände voll zu tun: Eine 150kg schwere Bombe, die an Ostern auf dem Gelände einer christlichen Kirche in Serpong/Westjava hochgehen sollte, erwies sich jedoch als Blindgänger. Im vergangenen Monat hat die Polizei mehr als 20 Verdächtige verhaftet, die für eine ganze Serie von Briefbomben innerhalb Jakartas verantwortlich gemacht werden. Adressiert waren die Sendungen allesamt an liberale Muslimführer.
Es gab auch eine Serie von gewalttätigen Anschlägen auf die islamische Ahmadi-Sekte, als deren Höhepunkt ein beispielloses Massaker im Februar 2011 in der Provinz Banten gilt: Ein Mob von mehr als tausend Personen hatte 20 Ahmadis in deren Moschee attackiert und vor laufenden Kameras drei Männer unter den Blicken der Polizei, die keinerlei Anstalten machte einzugreifen, brutal erschlagen. Der FPI, die seit Monaten eine massive Anti-Ahmadi-Kampagne betreibt, weil sie sie für unislamisch hält, und mehrere ihrer Moscheen niedergebrannt hat, war eine Beteiligung nicht nachzuweisen. Doch sandte der Umgang mit diesem Vorfall deutliche Zeichen an die Extremisten: Gegen keinen der Angreifer wurde ein Verfahren eingeleitet. Auch der letzte durch Zeugen identifizierte Täter kam Anfang Mai 2011 aus der Untersuchungshaft frei.
Einem Bericht der International Crisis Group zufolge gibt es unter den indonesischen Jihadisten einen neuen Trend: weg von den großen Organisationen und hin zu einem freelance- und low-cost-Terrorismus, der von kleinen unabhängigen Gruppen ausgeht und eine neue Strategie verfolgt. Zunehmend fokussieren diese auf "lokale Feinde" wie Politiker, liberale Muslime und die Polizei. Ein Beispiel für diese neue Linie war das Selbstmordattentat auf eine Polizeimoschee in Cirebon/Westjava im April 2011, bei dem 30 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Die terroristische Bedrohung in Indonesien ist seit "9/11" nicht geringer geworden. Sie ist anders: weniger überschaubar und weniger kontrollierbar. Die großen Terrororganisationen haben ihre Saat verteilt und sich - vorerst - zurückgezogen. Lateinamerika: Im Schatten des "ersten" 11. September
Die Auswirkungen des 11. September 2001 auf Lateinamerika erscheinen auf den ersten Blick widersprüchlich: Einerseits rückte die Region auf der Liste der strategischen Prioritäten der Vereinigten Staaten von Amerika nach unten, andererseits eröffnete der "Krieg gegen den Terrorismus" neue Wege für die Einmischung der USA in diese Region. Dieser Artikel beschreibt, wie einzelne Länder Lateinamerikas von dieser neuen Situation betroffen sind und welche Konsequenzen sie daraus ziehen.
Militarisierung der Beziehungen: Sicherheit über alles
Der mexikanische Präsident Vicente Fox (2000-2006) und sein US-amerikanischer Amtskollege George W. Bush (2001-2008) kamen fast zeitgleich an die Macht und fanden bald eine gemeinsame Sprache, nicht zuletzt über ihre gemeinsame Vorliebe für Lederstiefel, Jeanshosen und das Leben auf dem Land. So führte die erste offizielle Auslandsreise von US-Präsident Bush knapp drei Wochen nach seinem Amtsantritt nach Mexiko. Der Besuch wurde von Präsident Fox bald erwidert. Mexikanische Interessen wie die Reform der US-amerikanischen Migrationspolitik standen auf der Tagesordnung, und Bush unterstrich die Bedeutung der bilateralen Beziehung: "[Mexico] is our most important relationship, because Mexico is our neighbor, and neighbors must work together." Das war am 6. September 2001.
Fünf Tage später war alles anders. Die Reform der Migrationspolitik - das einzige Thema, das Fox überhaupt in der bilateralen Agenda unterzubringen bemüht war - wurde von der US-Regierung von der Sorge über die Durchlässigkeit der gemeinsamen Grenze verdrängt. Die bilateralen Beziehungen wurden nun ausschließlich von den US-amerikanischen Interessen beherrscht, wie der damalige mexikanische Außenminister Luis Ernesto Derbez in einer Rede im Center for Strategic and International Studies (CSIS) im Mai 2002 anlässlich eines Besuches in den USA unterstrich: "Die Priorität Nummer Eins unserer Beziehung ist der Kampf gegen den Terrorismus. Diese Priorität gilt sowohl für die mexikanische wie auch für die amerikanische Regierung." Nach und nach war eine Unterordnung Mexikos unter die Verteidigungsziele der USA festzustellen, die sich in der Militarisierung der gemeinsamen Grenze, der "Abschirmung" der mexikanischen Grenze nach Guatemala und der Überwachung des mexikanischen Staatsgebietes durch unbemannte Flugzeuge der US-Luftwaffe niederschlug.
Auch Kolumbien hat für die USA eine Schlüsselrolle inne. Der vom damaligen Präsidenten Andrés Pastrana 1999 konzipierte und von seinem Amtskollegen Bill Clinton unterstützte "Plan Colombia" war ursprünglich vor allem dafür vorgesehen, den kolumbianischen Bauern Alternativen für den illegalen Anbau von Koka anzubieten. Die USA konzentrierten ihre Bemühungen im Rahmen des "Plan Colombia" allerdings in erster Linie auf die Bekämpfung des Drogenhandels. Auch hier verlagerte sich der Schwerpunkt nach den Attentaten des 11. September 2001 auf den "Krieg gegen den Drogenterror". In diesem Sinne ist die Anschuldigung des damaligen stellvertretenden US-Außenministers Rand Beers im August 2003 besonders bezeichnend, die "Terroristen der FARC [Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens, Anm. M.G.] [seien] in Trainingslagern der Al Qaida in Afghanistan ausgebildet worden". Beers musste seine Äußerung wenige Wochen später zurücknehmen.
Ähnliche Anschuldigungen gab es auch gegenüber anderen Staaten. Im Mai 2002, zwischen der Invasion Afghanistans und derjenigen Iraks, beschuldigte der damalige Staatssekretär für Rüstungskontrolle und Internationale Sicherheit und späterer Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen John R. Bolton Kuba, offensive biologische Waffen zu entwickeln und die Ergebnisse "mit anderen Schurkenstaaten" zu teilen - eine Äußerung, für die er keine Beweise vorlegen konnte.
Aufgrund der Militarisierung des "Plan Colombia" war Kolumbien zwischen 2000 und 2010 der größte lateinamerikanische Empfänger von Militärhilfe aus den USA und einer der größten Empfänger weltweit. Dies äußerte sich in einer verstärkten Bekämpfung von Aufständischen (contrainsurgencia) und in einer Zunahme von Menschenrechtsverletzungen, ohne dass die Kokainproduktion dadurch zurückging, wie ein Bericht an den US-Senat 2008 feststellte.
Die hohe militärische Präsenz von US-Streitkräften im südamerikanischen Staat trug zu ständigen Spannungen zwischen den USA (beziehungsweise Kolumbien) und anderen lateinamerikanischen Staaten bei. So stieß die Entscheidung des damaligen kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe in 2009, sieben Militärstützpunkte für die US-Streitkräfte zu öffnen, auf erheblichen Widerstand seitens Brasiliens, Venezuelas und Ecuadors. Die Stützpunkte sowie die Wiederbelebung der vierten US-Flotte im Einsatzgebiet der Karibik und der Küsten Zentral- und Südamerikas im Jahr 2008 können als Hinweis auf die Bemühungen Washingtons gesehen werden, den verlorenen Einfluss in Lateinamerika zurückzugewinnen. Neue Handlungsspielräume
Die lateinamerikanischen Staaten gewannen gleichzeitig politischen Spielraum dadurch, dass Washington ganz auf den "Krieg gegen den Terror" fokussiert war. Die deutlichsten Beispiele für den politischen Einflussverlust der USA auf dem Subkontinent sind vermutlich die diplomatische Krise zwischen Kolumbien und Ecuador (die durch einen Bombenangriff der kolumbianischen Luftwaffe mit Unterstützung der USA auf Stellungen der FARC im ecuadorianischen Grenzgebiet in den frühen Morgenstunden des 1. März 2008 ausgelöst wurde) sowie die bolivianische Krise im August und September des gleichen Jahres. Erstere wurde eine Woche nach dem Vorfall auf dem 20. Gipfel der Rio-Gruppe - ein multilateraler Zusammenschluss lateinamerikanischer Staaten, welchem die USA nicht angehören - in Santo Domingo beigelegt. Die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) mit Sitz in Washington, 1948 auf Betreiben der USA im Kontext des Kalten Krieges gegründet, diente in diesem Fall entgegen ihrer eigentlichen Funktion als regionales Forum für Konsultation und Konfliktlösung nicht als Schauplatz für die Diskussion und Mediation.
Die bolivianische Krise ging aus einem Konflikt zwischen der Zentralregierung von Präsident Evo Morales und den Präfekten der reichsten Region hervor, die sich einer Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten der ärmeren Regionen widersetzten. Als auf dem Höhepunkt der Krise bekannt wurde, dass sich der US-amerikanische Botschafter Philip Goldberg im Geheimen mit einem der oppositionellen Präfekten getroffen hatte, verwies ihn Morales des Landes, was eine Reihe von weiteren Ausweisungen nach sich zog: Hugo Chavez, Präsident Venezuelas, solidarisierte sich mit Morales und wies den US-amerikanischen Botschafter in Caracas aus, worauf die USA am Tag darauf mit der Ausweisung des bolivianischen und des venezolanischen Botschafters reagierten.
Dies wiederum veranlasste den Präsidenten von Honduras Manuel Zelaya, die Akkreditierung des neuen US-Botschafters in Tegucigalpa aufzuschieben, während der Präsident von Nicaragua Daniel Ortega ein Treffen mit dem damaligen US-Präsidenten Bush absagte. Schließlich berief die Präsidentin Chiles Michelle Bachelet eine außerordentliche Sitzung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) zur bolivianischen Krise ein, in der Morales die volle Unterstützung ausgesprochen wurde. UNASUR distanzierte sich von der Position der USA, die einerseits Morales kritisierten, es andererseits aber unterließen, das - sich ebenfalls an einem 11. September ereignete - Massaker von Pando in 2008 zu verurteilen, bei dem 20 Morales-Sympathisanten von Anhängern des oppositionellen Präfekten ermordet wurden. Auch in diesem Fall wurde die OAS zu Gunsten einer - erst im Mai 2008 gegründeten - regionalen Organisation unter Ausschluss der USA verdrängt. Der 11. September 1973: Unvergessene Verantwortung
Um die Bedeutung der Ausweisungen von Botschaftern im Rahmen der Bolivien-Krise nachzuvollziehen, muss man die historische Rolle der US-Botschaften in Lateinamerika beleuchten. Der außenpolitische Berater des brasilianischen Staatspräsidenten Marco Aurélio Garcia soll dem US-Botschafter in Brasilia einmal folgenden Witz erzählt haben: "Weshalb gab es in den USA noch nie einen Staatsstreich? Weil es dort keine amerikanische Botschaft gibt."
Es ist unmöglich, aus lateinamerikanischer Perspektive auf den 11. September 2001 zu schauen, ohne die lange Geschichte von Interventionen und Einmischungen der USA auf dem lateinamerikanischen Subkontinent zu berücksichtigen. Aufgrund des Datenzufalls ist vor allem die Erinnerung an den Staatsstreich Augusto Pinochets am 11. September 1973 in Chile unvermeidlich, der heute als paradigmatisches Beispiel für die US-amerikanische Einmischung in Lateinamerika gilt. Die Erinnerung an von den USA mitverursachten Terror verhinderte in Lateinamerika proamerikanische Sympathiebekundungen in dem Maße, wie sie etwa in Europa spontan entstanden. Dadurch wurden die Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika zusätzlich strapaziert, da sich die USA eine bedingungslose Unterstützung erhofften, stattdessen aber mit der Einstellung vieler Lateinamerikaner "schrecklich, aber selber schuld" konfrontiert wurden.
Typisch für diese Einstellung ist die Reaktion des uruguayischen Schriftstellers Eduardo Galeano: "Henry Kissinger war einer der ersten, der angesichts der gerade geschehenen Tragödie reagierte. 'So schuldig wie die Terroristen sind diejenigen, die ihnen Hilfe, Finanzierung und Anregungen zukommen lassen' urteilte er. (...) Wenn das so ist, müsste man beginnen, Kissinger zu bombardieren. Er ist schuldig an viel mehr Verbrechen als denen, die durch Bin Laden und alle Terroristen der Welt begangen wurden. Und in viel mehr Ländern: Im Dienste verschiedener Regierungen der Vereinigten Staaten, unterstützte er mit 'Hilfe, Finanzierung und Anregungen' den Staatsterror in Indonesien, Kambodscha, Zypern, Iran, Südafrika, Bangladesh und den Ländern Südamerikas, die den schmutzigen Krieg des Plan Condor erlitten. Am 11. September 1973, genau 28 Jahre vor den heutigen Bränden, ließ er den Präsidentenpalast Chiles niederbrennen."
Aus einer anderen Perspektive schreibt der chilenische Schriftsteller Ariel Dorfman, ehemaliger Berater des 1973 gestürzten Präsidenten Salvador Allende, über seine Hoffnung, dass die Tragödie des 11. September 2001 die amerikanische Bevölkerung dabei unterstützen möge, ihre auf fehlender Erinnerung beruhende Selbstgefälligkeit aufzugeben: "Wie kann sich das amerikanische Volk unschuldig fühlen", fragt Dorfman, "nachdem seine Regierung Vietnam in ein riesiges Massengrab verwandelt hat?" Die USA hätten jetzt die Chance festzustellen, dass sie nicht alleine seien mit ihrem Schmerz, dass sie in diesem Sinne nichts Außergewöhnliches seien, nicht einmal das Datum betreffend; dass der gleiche Schmerz - von den USA verursacht - bereits von anderen empfunden worden sei, und dass sich daraus ein Weg für das amerikanische Volk abzeichne, zu verzeihen. Nachbeben des "arabischen" 11. September
Der 11. September 2001 kam in den USA politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich einem Erdbeben gleich. Nirgends waren die "Nachbeben" so stark zu spüren wie in der arabisch-islamischen Welt. Dies gilt sowohl für einzelne Länder wie den Irak als auch für die Gesamtatmosphäre zwischen "den Arabern" und "dem Westen". Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Titelseite der internationalen arabischen Zeitung "Al-Quds al-Arabi" (arab.: Das Arabische Jerusalem) am Mittwoch, den 12. September 2001, kaum von amerikanischen, europäischen oder sonstigen Zeitungen am Tag nach den Angriffen vom 11. September 2001. Die in London erscheinende und in den meisten arabischen Ländern vertriebene Zeitung titelte: "Angst in Amerika: Angriffe mit Flugzeugen und Explosionen sprengen das Internationale Handelszentrum und treffen das Weiße Haus, das Pentagon und das Außenministerium und bringen vier Flugzeuge zum Sturz. Bush und andere hohe Beamte verstecken sich in sicheren Orten. Tausende Tote und Verletzte." Darunter sind vier Bilder, die den Sturz des zweiten Turms des Internationalen Handelszentrum dokumentieren. Auf derselben Seite ist ein weiterer Artikel: "Amerikas Bild bricht vor den Augen der Welt zusammen." Weiter unten finden sich zwei kürzere Artikel darüber, dass die amerikanischen Truppen am Arabischen Golf in Alarmbereitschaft versetzt wurden, und dass die Investoren weltweit aus den Börsen in Richtung Gold flüchteten. "Al-Quds al-Arabi" steht stellvertretend für die meisten arabischen Zeitungen, Zeitschriften und anderen Massenmedien und damit für die arabische öffentliche Meinung im Allgemeinen. Zwischen den westlichen und den arabischen Medien gab es viele Parallelen in der Wahrnehmung und der Reaktion: Schock, Unklarheit und zum Teil durch das Chaos in den Vereinigten Staaten von Amerika bedingte falsche Tatsachenbehauptungen. Doch eines taten die arabischen Medien nicht: Spekulieren über die Täter und Drahtzieher der Angriffe. Die Sorge in der arabischen Welt war zu groß, um zu spekulieren.
In den ersten Stunden nach den Angriffen vertraten einige westliche Medien die Ansicht, dass die Täter aus palästinensischen Organisationen stammen könnten. Andere sprachen relativ schnell vom "Islamischen Terrorismus" und einige Tage später von einer möglichen Beteiligung des damaligen irakischen Präsidenten Saddam Hussein in Zusammenarbeit mit Al Qaida. Zwar waren dies alles nur Spekulationen, dennoch zeichnete sich bereits eine Tendenz ab: Die Schuldigen waren in der "arabisch-islamischen Welt" zu suchen.
Die Unterschiede zwischen den westlichen und arabischen Medien in der Berichterstattung wurden immer größer: Während in manchen westlichen Publikationen Bilder von Arabern in jordanischen Palästinenserlagern zu sehen waren, die angeblich vor lauter Freude über die Angriffe Süßigkeiten verteilten, handelten die Analysen und Kommentare der seriösen arabischen Medien von den Ängsten vor möglichen Konsequenzen der Angriffe auf die arabischen "Problemregionen": die palästinensischen Gebiete, Irak und die Beziehungen zum Westen beziehungsweise die Lage der arabischen Migrantinnen und Migranten in Europa und den USA. Es gab auch weniger seriöse arabische Medien und Teile der Massen, die ihren seelischen Frieden in "Verschwörungstheorien" fanden: Demnach seien Araber - Al Qaida hin oder her - technisch nicht in der Lage, die Angriffe zu organisieren und durchzuführen (eine Art Selbstzweifel?); die Sicherheitsmaßnahmen der Amerikaner könnten doch nicht so ohne weiteres umgangen worden sein; der US-Auslandsgeheimdienst CIA selbst stecke vermutlich hinter dem Ganzen (eine Art Überschätzung des Anderen?). Doch es sollte sich herausstellen, dass die Spekulationen des Westens und nicht die Gegenspekulationen mancher Araber die Entwicklungen in den drei "Problemfeldern" (palästinensische Gebiete, Irak und das Verhältnis zum Westen) mitbestimmen würden. Palästinensisch-israelischer Konflikt
In der Palästina-Frage setzte sich die amerikanische "Gleichgültigkeit" gegenüber dem Friedensprozess im Nahen Osten fort, die sich seit dem Amtsantritt von US-Präsident George W. Bush und während der zweiten palästinensischen Intifada im Jahr 2000 gezeigt hatte. Nach einem Besuch des Tempelbergs des damaligen israelischen Oppositionspolitikers Ariel Scharon im September 2000 war ein Aufstand der Palästinenser entflammt, der erst im Jahr 2005 sein Ende fand. Die amerikanische Nahost-Politik blickte durch die Brille der Terrorismusbekämpfung auf den palästinensisch-israelischen Konflikt. Während sich Israel im Rahmen des "Krieges gegen den Terrorismus" zwischen die westlichen Staaten reihen konnte, half den Palästinensern weder die Tatsache, dass keine palästinensische Organisationen - im Übrigen auch kein einziger Palästinenser - an den Angriffen vom 11. September beteiligt waren, noch die schnelle Verurteilung der Angriffe seitens des Chefs der Palästinensischen Autonomiebehörde und PLO-Oberhaupts Jassir Arafat. Vielmehr befanden sich die Palästinenser aufgrund der Selbstmordanschläge gegen Israel seit Mitte der 1990er Jahre in der Defensive.
Die Argumentation vieler Palästinenser, dass es sich im Falle Palästinas um einen Befreiungskampf handle, während die Ereignisse vom 11. September ein Angriff seien, stellte in den amerikanischen beziehungsweise westlichen Augen nur ein Detail dar, das über die an sich "gleiche" Natur der Attacken in den USA und in Israel nicht hinwegtäuschen durfte und konnte. Israel nutzte die Gunst der Stunde und arbeitete auf die Disqualifikation von Jassir Arafat hin, der fort an im Westen bis zu seinem Tod im November 2004 als Befürworter von Gewalt und somit nicht mehr als Partner im Friedensprozess galt. Sein Nachfolger Mahmoud Abbas musste mit ansehen, wie die Macht seiner Fatah-Bewegung immer mehr schrumpfte, während die Macht der palästinensischen Islamisten, sprich der Hamas, zunahm. Eine Entwicklung, die in einem eindeutigen Sieg der Hamas bei den Parlamentswahlen im Jahr 2006 gipfelte und später in einem blutigen Machtkampf zwischen Fatah und Hamas ausartete. So gesehen leidet der Friedensprozess bis heute an den Spätfolgen des 11. September. Jedenfalls scheint eine Regelung des Nahost-Konflikts heute weiter entfernt zu sein, als sie zu Beginn des Friedensprozesses im Jahr 1991 erschien. Situation im Irak
Für das Regime von Saddam Hussein bedeutete der 11. September 2001 das Ende, für den Irak war es der Beginn einer Reise in eine ungewisse Zeit. Nach den Angriffen entflammte der weltweite "Krieg gegen den Terrorismus", der in Afghanistan - dem damaligen Sitz des inzwischen getöteten Al Qaida-Chefs Osama Bin Laden - sein erstes Ziel fand und auch alle anderen sogenannten Schurkenstaaten im Visier hatte. Der Irak stand seit der Befreiung Kuwaits von den irakischen Truppen im Jahr 1991 im ständigen Konflikt mit dem Westen und der internationalen Staatengemeinschaft. Die USA stellten kurz nach den Angriffen in New York und Washington eine direkte Verbindung zwischen Bagdad und Al Qaida her: zum einen aufgrund eines vermeintlichen Treffens zwischen einem der Attentäter und einem Regimevertreter in der irakischen Botschaft in Prag, zum anderen durch die propagierte Gefahr, dass terroristische Organisationen - allen voran Al Qaida - in Besitz der Massenvernichtungswaffen kommen könnten, die es im Irak angeblich gab.
Der im März 2003 gestartete Irak-Krieg führte zu Verstimmungen zwischen den USA und "Alteuropa", sprich Frankreich und Deutschland. In der arabischen Welt führte der Fall von Bagdad zum beinahe totalen Bruch der arabischen Massen mit den USA. Zwischen 2003 und 2008 machten sich Tausende junge Araber auf den Weg in den Irak, um gegen die amerikanische Besatzung zu kämpfen, aber auch um dort an einem Bürgerkrieg teilzunehmen, der zwischen Sunniten und Schiiten - den zwei Hauptglaubensrichtungen des Islam - ausbrach. Über eine Million Tote forderte der Irak-Krieg und seine Folgen nach Schätzung einiger Menschenrechtsorganisationen, weitere drei Millionen flohen aus dem Land, vor allem in die benachbarten Länder Syrien und Jordanien.
Wäre der Irak-Krieg ohne den 11. September 2001 möglich gewesen? Über die Antwort streiten sich die Geister, auch die arabischen. Eines steht jedoch fest: Der Irak wurde nach dem 11. September und dem darauffolgenden Krieg für Jahre zum Schauplatz zur Begleichung offener Rechnungen zwischen den USA und Al Qaida. Wohin das Land nach dem beabsichtigten Abzug der amerikanischen Truppen Ende dieses Jahres treiben wird, wagt niemand zu prognostizieren. Verhältnis zum Westen
"Der 11. September ist ein Krieg gegen die Zivilisation." Durch diese von vielen westlichen Politikern - darunter auch der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder - gerne verwendete Formulierung fühlten sich viele Menschen in der arabisch-islamischen Welt ausgegrenzt. Denn, wenn allein der Westen mit seinen Errungenschaften, inklusive den beiden Türmen, pauschal die Zivilisation darstelle, dann müssten nach dieser Logik nicht nur die Attentäter, sondern auch deren Herkunftsländer beziehungsweise deren Religion die "Unzivilisiertheit" verkörpern.
Es war keine Seltenheit, dass nach dem 11. September 2001 Araber in Europa und Amerika von Verwandten in der Heimat gefragt wurden, ob sie auf offener Straße angegriffen werden. Die - wenn auch kurze - Verhaftung des arabischen Autors Ilyas Khoury (im Übrigen ein libanesischer Christ) im Jahr 2002 bei einem Besuch in den USA, nachdem er von seinem Hotel aus ein Fax auf Arabisch zu schicken versuchte, markierte einen von vielen Höhepunkten der "Hysterie" im Hinblick auf die Araber im Westen. Der 11. September bedeutete für Millionen Araber und Muslime in Europa, Amerika, Kanada und Australien den Beginn von Generalverdacht, Rasterfahndung und Anfeindungen seitens der Exekutive, der Massenmedien und oft erheblicher Anteile der Mehrheitsgesellschaft.
Kurzum: Es war der Beginn einer neuen Dimension von Islamophobie. Die heftigen Kopftuch-Debatten, der Karikaturen-Streit und die Erstarkung rechtspopulistischer Kräfte sind nur die Spitze des Eisberges in einer Zeit, die durch Nachrichten über Verhaftungen, Terrorprozesse und Terrorwarnungen gekennzeichnet war. Diese Kluft zwischen "den Arabern" und "dem Westen" zeigte sich auch auf der Staatenebene: Verbündete wie Saudi-Arabien wurden, was bis dahin unvorstellbar war, zum Gegenstand der lauten öffentlichen Kritik. Andere Staaten wie etwa Syrien oder Libyen, zu denen der Westen bis dahin immer auf Distanz ging, wurden - wenn auch inoffiziell, indirekt und nur für kurze Zeit - zu Helfern im Kampf gegen den Terrorismus. Weitere Staaten wie Ägypten, Marokko oder Jordanien sahen sich zu umstrittenen Sicherheitsmaßnahmen fast gezwungen - wie etwa der Entführung von Verdächtigen, dem Errichten von Geheimgefängnissen oder dem bei der eigenen Bevölkerung wenig populären Austausch von Geheimdienstinformationen mit israelischen Stellen.
Nirgends auf der Welt waren und sind die Folgen des 11. September 2001 so sichtbar und spürbar wie in den arabischen Ländern und in den Beziehungen dieser Länder - und deren Minderheiten im Ausland - zum Westen. Es gibt sicherlich objektive Faktoren, die diese Tatsache zum Teil erklären. Schließlich stammen die Attentäter und deren Ideologie aus der arabisch-islamischen Welt. Dennoch sind viele mit der arabisch-islamischen Welt und dem 11. September zusammenhängende Phänomene nicht zu verstehen, ohne die Reaktionen der USA im Speziellen und des Westens im Allgemeinen zu betrachten. Erst seit der Rede des US-Präsidenten Barack Obama in Kairo im Jahr 2009, in welcher er einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen den USA und der arabisch-islamischen Welt versprach, kann die Rede vom Anfang vom Ende der Nachbeben des 11. September in der arabisch-islamischen Welt sein. Präsident Putin überrascht mit tatkräftiger Unterstützung
Der russische Staatspräsident Wladimir Putin gehörte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zu den ersten Anrufern im Weißen Haus. Der Kremlchef machte sehr schnell deutlich, dass seine Regierung im "Kampf gegen den Terrorismus" an der Seite Washingtons stehe. Sein überraschendes Angebot an den damaligen US-Präsidenten George W. Bush war, die USA bei der Gegenwehr in Afghanistan logistisch zu unterstützen. Sogar ein Austausch geheimdienstlicher Informationen und die Teilnahme an internationalen Rettungsaktionen schienen kein Tabu mehr zu sein. "Putin tritt dem Westen bei", titelte damals der Moskau-Korrespondent der Zeit Michael Thumann seine Analyse einer dramatischen Wende der russischen Außenpolitik: "Zum ersten Mal seit 1945 haben Russen und Amerikaner einen gemeinsamen Feind", schrieb er. In fast täglichen Telefonaten mit Bush sei Putin zu einem der engsten Verbündeten gegen den Terror herangewachsen. "Moskau versorgt die Amerikaner mit Informationen über Lager und Infrastruktur der Terroristen. Die Geheimdienste tauschen sich aus. Amerikanische Flugzeuge mit humanitärer Hilfe dürfen über Russland nach Zentralasien fliegen. Putin hat nichts dagegen einzuwenden, dass Usbekistan den US-Luftstreitkräften Flughäfen zur Verfügung stellt", so Thumann weiter.
In einer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001 wurde deutlich, dass Putin im gemeinsamen "Kampf gegen den Terrorismus" die entscheidende Chance sah, um die Gegensätze des Kalten Krieges zu überwinden und einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zwischen Moskau und dem Westen herbeizuführen. In der gleichen Rede warb Putin gleichzeitig um Verständnis für die Terrorismusbekämpfung im eigenen Land: "Infolge von Explosionen bewohnter Häuser in Moskau und in anderen großen Städten Russlands kamen Hunderte friedlicher Menschen ums Leben. Religiöse Fanatiker begannen einen unverschämten und großräumigen Angriff auf die benachbarte Republik Dagestan, nachdem sie die Macht in Tschetschenien ergriffen und einfache Bürger zu Geiseln gemacht hatten. Internationale Terroristen haben offen - ganz offen ihre Absichten über die Schaffung eines neuen fundamentalistischen Staates zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer angekündigt, das sogenannte Khalifat oder der Vereinigten Staaten des Islam." Moskauer "Großmachtrhetorik"
Putin hatte schnell erkannt, dass die Unterstützung des Kampfes gegen den Terror ihm die Anerkennung des Westens sicherte. Vor allem in Washington erlangte Moskau neue Bedeutung, der vermeintliche Triumph über die zerfallene Sowjetunion trat angesichts der Terrorgefahr in den Hintergrund. Dank seiner militärischen Möglichkeiten, den Erfahrungen aus dem sowjetischen Afghanistan-Krieg und dem russischen Einfluss in Zentralasien schien Russland den USA plötzlich als bedeutsamer strategischer Partner. Vorbei schien die Zeit, als Kongressabgeordnete in Washington sich fragten, warum Russland im Weltgeschehen angesichts schwindender militärischer und wirtschaftlicher Macht eigentlich noch wichtig sei. "Russland gewinnt den Status einer Großmacht zurück", titelte die Regierungszeitung "Rossijskaja Gazeta" und erklärte dies ihren Lesern folgendermaßen: "Es mag zynisch erscheinen, doch es waren die tragischen Ereignisse in den USA vom 11. September, welche die westliche Welt dazu veranlasst haben, erneut die Beziehungen zu Russland zu suchen."
Putins Angebote überraschten nicht nur in Washington. Schließlich gehörte innerhalb der Moskauer Eliten, aber auch innerhalb der Bevölkerung ein offener Anti-Amerikanismus zum guten Ton. Auch nach dem Ende der Sowjetunion hatte sich Moskaus Außenpolitik vor allem durch den Gegensatz zu Washington definiert, sei es im Kosovo-Konflikt 1999, in der Ablehnung der Nato-Osterweiterung oder des geplanten Raketenabwehrsystems der USA in Osteuropa. Putin setzte darauf, diese "Großmachtrhetorik" nun dadurch zu bedienen, dass er stärker auf die Partnerschaft mit den USA, anstatt auf die frühere Gegnerschaft setzte. Auf diese Weise versuchte er den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion auszugleichen und Russland wieder zur Großmacht zu formen.
"In Russland hat man den 11. September eigentlich nicht verstanden", schildert der Islamwissenschaftler Alexej Malaschenko vom Moskauer Carnegie Center die Reaktionen in der Bevölkerung. "Er wirkte auf viele wie ein Katastrophenfilm." Er habe im eigenen Bekanntenkreis erlebt, wie viele Menschen sich heimlich freuten, dass es die Amerikaner getroffen hatte. "Viele Russen haben gesagt, dass die USA selbst schuld sind und es verdient haben", erinnert sich Malaschenko. Er spricht von einer widersprüchlichen Reaktion: "Einerseits fanden viele, es sei eine gerechte Strafe für die USA, andererseits gab es natürlich Mitgefühl für die Opfer." Viele, vor allem ältere russische Bürger hatten die US-Politik als arrogant erlebt und waren gekränkt darüber, wie sich die US-Regierung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Sieger des Kalten Krieges zu profilieren versuchte. "Darin zeigt sich ein Minderwertigkeitsgefühl der Russen", sagt Malaschenko. "Natürlich will Russland zu den Großmächten gehörten und bei G8 oder G20 eine entscheidende Rolle spielen." Putin sei es mit seiner Strategie der Verbrüderung mit den USA gelungen, dies wieder zu erreichen: "Putin hat das schwache Russland von den Knien wieder hochgehoben auf Augenhöhe mit den USA." Auswirkungen auf den Nordkaukasus
Der Krieg gegen den internationalen Terrorismus lag auch aus anderen Gründen im nationalen Interesse der Moskauer Führung. Die Vergeltungsaktion der US-Truppen in Afghanistan nach dem 11. September half dabei, die eigene "Bekämpfung von Terroristen" in Tschetschenien nach außen und im eigenen Land zu legitimieren. "Wenn die Zivilbevölkerung bei der Anti-Terroroperation in Afghanistan Schaden erleidet, dann ist dies nicht den Staaten der Anti-Terrorkoalition anzulasten, sondern den Machthabern, die diese Menschen in Geiselhaft halten", machte Putin bei einem Auftritt in Brüssel die angeblichen Parallelen deutlich. "Genauso war es auch in Tschetschenien." Auch in der russischen Bevölkerung habe die Sicht vorgeherrscht, dass vor allem islamische Extremisten aus dem Ausland den Tschetschenien-Konflikt schürten.
Das Bekenntnis Moskaus zum gemeinsamen Kampf gegen den Terror diente dazu, sich westliche Unterstützung für den eigenen Kampf gegen Terroristen zu sichern. Malaschenko bringt es auf diese Formel: "Wir haben Terrorismus, Ihr habt Terrorismus." So habe man versucht, den Tschetschenien-Konflikt auf einen einfachen Nenner zu bringen. Russland hatte aufgrund der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien viel Kritik im Westen geerntet. Nun verhalf die Teilnahme an der neuen Terrorallianz Moskau dazu, von den eigentlichen Problemen abzulenken. Mit Erfolg: Die Kritik an der Moskauer Tschetschenien-Politik verstummte merklich. In Berlin versicherte Bundeskanzler Gerhard Schröder seinem Freund Putin, er wolle den Tschetschenien-Krieg künftig differenzierter bewerten.
Malaschenko vermisst bis heute in der Moskauer Führung konstruktive Ansätze für eine Lösung. Längst hat sich der Ursprungskonflikt in Tschetschenien auf den ganzen Nordkaukasus ausgeweitet. Die sozialen und ethnischen Spannungen nehmen ebenso zu wie die Zahl der Terrorakte. Auch Moskau war wiederholt Ziel von Anschlägen - zuletzt mit dem Selbstmordanschlag in der Ankunftshalle des Flughafens Domodedovo im Januar 2011: "In Moskau nimmt man die Probleme der Region nur als einen Krieg mit Banditen wahr", rügt Malaschenko. Auch die russischen Zeitungen übernähmen undifferenziert die politischen Vereinfachungen von "Terroristen" und "Banditen", ohne sich mit den vielschichtigen Ursachen der Konflikte zu beschäftigen. "Die USA kämpfen in Afghanistan, aber bei uns sieht es schlimmer aus, weil der Nordkaukasus Teil unseres Landes ist." Nach Einschätzung von Experten befindet sich die Strategie zur russischen Terrorbekämpfung nach einem Jahrzehnt in einer "konzeptionellen Sackgasse". Neue Bedeutung Zentralasiens
Nach dem 11. September gewannen auch die zentralasiatischen Staaten für die US-Politik an strategischem Interesse. Da die früheren Sowjetrepubliken in unmittelbarer Nachbarschaft Afghanistans liegen, wurde vor allem Usbekistan zum wichtigen Partner der USA in der Terrorismusbekämpfung. Auch Kirgistan und Tadschikistan unterstützten den "Krieg gegen den Terror". Trotz der Annäherung Moskaus an Washington wurde dieses US-Engagement in einer wichtigen Einflusszone russischer Politik, dem "Nahen Ausland", von einigem russischen Misstrauen begleitet. Dies zeigte sich vor allem in Äußerungen russischer Militärs. So kritisierte Generalstabschef Anatolij Kwaschnin die Nutzung von Militärbasen in Zentralasien durch US-Militär noch, als die Truppen längst in Usbekistan waren.
Anders als in Kirgistan sah die usbekische Führung in der Annäherung an Washington eine Chance, sich stärker vom Moskauer Einfluss zu emanzipieren. Doch die enge Partnerschaft zwischen den USA und Usbekistan veränderte sich nach dem Massaker im usbekischen Andijan im Mai 2005, als Regierungstruppen mehrere hundert Zivilisten erschossen. Während das Regime von Präsident Islam Karimow behauptete, es habe sich um einen von Islamisten geplanten Staatsstreich gehandelt, hagelte es Kritik aus dem Ausland. Als die US-Regierung sich sogar an der Evakuierung von Flüchtlingen aus Andijan beteiligte, war Karimow so verärgert, dass er am 29. Juli anordnete, die US-Truppen müssten innerhalb von 80 Tagen das Land verlassen. Obwohl die usbekische Regierung versuchte, Moskau zu substanziellen Sicherheitsgarantien zu bewegen, war der Kreml nicht dazu bereit, in den Konflikt einzugreifen und dadurch einen möglichen Machtgewinn in der Region auszukosten. Auch im Juni 2010 zeigte sich die Moskauer Zurückhaltung in der Region, als die kirgisische Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa unmittelbar nach dem Ausbruch von Unruhen im kirgisischen Osch die russische Führung darum bat, einzugreifen und der Regierung in Bischkek zu Hilfe zu kommen. Beide Beispiele deuten darauf hin, dass Moskau inzwischen nicht mehr eine dominante Rolle in Zentralasien anzustreben scheint. Verpasste Chance
Der Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin Alexander Rahr wertet den 11. September 2001 heute als verpasste Chance der USA in der Annäherung an Russland. "Ich finde, dass die Amerikaner die Russen brüskiert haben", sagt er. Statt sich für die Unterstützung im Kampf gegen den Terror zu bedanken und sich auf die Jagd nach dem Al Qaida-Chef Bin Laden zu konzentrieren, habe Washington den Kampf ausgeweitet. Dabei spielte auch eine Rolle, dass hinter dem "Kampf gegen den Terror" der USA immer deutlicher zu erkennen war, dass Washington sich maßgeblichen Einfluss in Regionen zu sichern suchte, die für die Energiesicherheit der USA in der Zukunft von zentraler Bedeutung waren.
Mit dem Irak-Krieg 2003 als "Kampf ums Öl" kam es zum erneuten Bruch zwischen Moskau und Washington. Erst mit Präsident Barack Obama und Dmitrij Medwedjew gelang eine neue Annäherung. Malaschenko spricht davon, dass Moskau heute auf eine "Politik des Pragmatismus" in der Region setze und Rudimente der alten Annäherungspolitik wieder deutlich würden. Dabei sei es ganz im eigenen Interesse Moskaus, den Kampf gegen den Terror zwar zu unterstützen, aber jede eigene direkte Einmischung zu vermeiden. "Ohne die USA wäre Afghanistan noch gefährlicher für Russland. Es ist deshalb angenehm, dass die USA dort für uns kämpfen", sagt Malaschenko. Moskau sei dem heute weder wirtschaftlich noch militärisch gewachsen.
Rede online: http://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2001/09/20010906-6.html (17.5.2011).
Vgl. La Jornada vom 11.1.2004.
Rede online: www.revistainterforum.com/espanol/articulos/061803soc_relaciones-us-mx.html (17.5.2011).
Vgl. La Jornada vom 15.5.2011.
Vgl. Connie Veillette, Plan Colombia: A Progress Report, Report for Congress, Mai 2005, online: www.au.af.mil/au/awc/awcgate/crs/rl32774.pdf (17.5.2011).
Vgl. Dug Stokes, America's Other War: Terrorizing Colombia, London 2005, S. 106.
Vgl. Judith Miller, Washington Accuses Cuba of Germ-Warfare Research, in: The New York Times vom 7.5.2002. Judith Miller ist Ko-Autorin der Kolumne "Threats and Responses: The Iraquis; U.S. Says Hussein Intensifies Quest for A-Bomb Parts", die mit zahlreichen Falschinformationen am 8. September 2002 veröffentlicht wurde. Condoleezza Rice, Donald Rumsfeld und andere US-Regierungsmitglieder beriefen sich bei der Invasion Iraks unter anderem auf die in der Kolumne aufgezählten Argumente und Tatsachenbehauptungen.
Laut US-Regierung flossen Kolumbien im Rahmen des "Plan Colombia" zwischen 2000 und 2010 etwa 7 Milliarden US-Dollar zu, online: http://opencrs.com/document/RL32250/ (17.5.2011).
Vgl. United States Government Accountability Office, Plan Colombia. Drug Reduction Goals Were not Fully Met, But Security Has Improved, Oktober 2008, online: www.gao.gov/new.items/d0971.pdf (18.5.2011).
Vgl. Semana vom 4.8.2009.
Vgl. Deutsche Welle Online vom 4.7.2008: www.dwworld.de/dw/article/0"3455815,00.html (18.5.2011).
Vgl. El Tiempo vom 6.3.2008.
Vgl. Spiegel Online vom 16.9.2008: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,578469,00.html (15.5.2011).
Vgl. ebd.
Vgl. El País vom 4.12.2008.
Documento relata encontro de Garcia com embaixador, 27.6.2008, online: www1.folha.uol.com.br/poder/852684-documento-relata-encontrode-garcia-com-embaixador-leia-em-ingles.shtml (24.5. 2011).
La Jornada vom 21.9.2001.
Vgl. Ariel Dorfman, Other Septembers, Many Americas, New York 2004, S. 11-14.
1 Michael Thumann, Putin tritt dem Westen bei, in: Die Zeit, (2001) 42.
Rede online: www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/putin/putin_wort.html (24.5.2011).
Zit. nach: Rolf Peter/Claudia Wagner, Rußland und der "Kampf gegen den Terrorismus", in: Osteuropa, (2001) 11-12, S. 1253.
Im Interview mit der Autorin.
Zit. nach: M. Thumann (Anm. 1).
Vgl. ebd.
Aglaya Snetkov, Terrorismus in Russland: von einer existenziellen Bedrohung zum Sicherheitsrisiko und einer konzeptionellen Sackgasse, in: Russland-Analysen vom 20.5.2011.
Vgl. Rainer Freitag Wirminghaus, Zentralasien und der Kaukasus nach dem 11. September, in: APuZ, (2002) 8, S. 3.
Vgl. M. Thumann (Anm. 1).
Vgl. Christian Wipperfürth, Nach dem "Reset". Russland und der Westen in Zentralasien, in: Zentralasien-Analysen vom 21.9.2010.
Im Interview mit der Autorin.
| Article | , Doris K. Gamino / , Manuel de los Reyes García Márkina / , Aktham Suliman / , Gemma Pörzgen | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-06T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33240/der-11-september-als-globale-zaesur-wahrnehmungen-aus-lateinamerika-nahost-russland-und-indonesien/ | Ob der 11. September 2001 eine Zäsur war oder nicht ist strittig. Fest steht aber, dass er eine globale Wirkung hatte. In diesem Beitrag werden Wahrnehmungen aus Lateinamerika, Nahost, Russland und Indonesien dargestellt. | [
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Lernen für die Gegenwart | Geschichte begreifen | bpb.de |
Ein Gedenkstein im ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück (© Jan Zappner)
Historisch-politische Bildung zum Nationalsozialismus ist sowohl in der Schule als auch in der außerschulischen Bildungsarbeit ein pädagogisch anspruchsvolles Vorhaben. Die Lernenden sollen nicht nur kognitive Leistungen erbringen ("Lernen über die Geschichte"), sondern auch ihre Einstellungen und Handlungen moralisch reflektieren und entsprechend gewonnener Einsichten verändern ("Geschichte begreifen").
Historisches Lernen wird auf diese Weise häufig mit gegenwartsorientierten Fragestellungen verbunden. Diese zielen nicht auf ideologische, politische, personelle Kontinuitäten zwischen dem "Dritten Reich" und der deutschen Nachkriegsgesellschaft, sondern vor allem auf die Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen.
Empirische Forschung zur historisch-politischen Bildung
Die Umsetzung solcher Ziele ist schwierig, befand ein Forschungsprojekt um den Frankfurter Erziehungswissenschaftler Frank-Olaf Radtke zum Thema "Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsunterricht". Die Ziele existieren zuerst einmal ausschließlich auf der Ebene pädagogischer Absichten. Dies lässt noch keinen Rückschluss darauf zu, ob sie auch erfolgreich umzusetzen sind bzw. umgesetzt werden.
In Unterrichtsbeobachtungen fand das Forschungsteam heraus, dass eine moralische Positionierung – "Nie wieder" – zu den NS-Verbrechen nicht durch den Unterricht erreicht werden kann. Eine solche moralische Haltung besteht bereits vorher - oder eben nicht.
Schülerinnen und Schüler können in der Unterrichtskommunikation über den Nationalsozialismus allerdings Informationen über den NS gewinnen, gängige gesellschaftliche Bewertungen kennen lernen und so die eigenen Optionen für Dispositionsänderungen erweitern.
Ob sie sich tatsächlich moralisch positionieren oder sich lediglich aus taktischen, opportunistischen Gründen sozial erwünscht verhalten, ist allerdings nicht überprüfbar. So lernen die Schülerinnen und Schüler im Unterricht nachweisbar vor allem die Einübung sozial akzeptierter Redeweisen über den Nationalsozialismus und den Holocaust, wie das Frankfurter Forschungsprojekt herausarbeitete.
Aus den umfangreichen Studien des Geschichtsdidaktikers Bodo von Borries wissen wir, dass Geschichtsunterricht oder andere außerschulische Formate der historisch-politischen Bildung nur eine von vier wichtigen Quellen für das Geschichtswissen Jugendlicher sind. Sie beziehen ihr Wissen auch aus Medien, anderen Unterrichtsfächern wie dem Deutsch- oder Ethikunterricht, der sozialen Bezugsgruppe (peer group) oder ihren Familien.
Gleichzeitig lässt sich kaum ein Zusammenhang zwischen Geschichtsunterricht und dem Wissen über Geschichte einerseits und dem Geschichtsbewusstsein andererseits erkennen. Erklärbar ist dies zum Beispiel für den Lerngegenstand Nationalsozialismus dadurch, dass er den Jugendlichen im Geschichtsunterricht erst ab Jahrgangsstufe 9 begegnet. Zu diesem Zeitpunkt können Jugendliche schon ein beträchtliches jedoch ungeordnetes Wissen vorweisen.
Lernen über die Geschichte für die Gegenwart?
Trotz dieser empirischen Ergebnisse wird die historisch-politische Bildung über den Nationalsozialismus als Weg angesehen, nicht nur über die Geschichte zu lernen, sondern Demokratielernen zu ermöglichen, für Menschenrechte zu sensibilisieren oder sogar, wie im Projekt des Freiburger Erziehungswissenschaftlers Werner Nickolai, Veränderungen im Weltbild rechtsextremer Jugendlicher zu erwirken.
Seine Praxisreflektionen, das Praxisforschungsprojekt zur Vereinbarkeit von Demokratiebildung und gedenkstättenpädagogischen Konzepten oder die Studie der Freiburger Forschungsgruppe um Albert Scherr zu Projekten der historisch orientierten Menschrechtsbildung verweisen auf die Komplexität eines gegenwartsorientierten historischen Lernens. Und so bleibt es eine kontrovers diskutierte und offene Frage, wie die Hoffnungen auf "Geschichte begreifen" in Konzeptionen von Unterricht oder Projekten didaktisch sinnvoll zu fassen sein könnten.
Für die Reflexion der pädagogischen Praxis mag ein Hinweis des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Meseth sinnvoll sein. Meseth zufolge seien die gegenwartsausgerichteten Vorhaben im Umfeld der Forderung eines "Nie wieder" möglicherweise nicht deswegen so populär, weil sie effektive Formen der Wissensvermittlung darstellten. Sie seien vielmehr eine Möglichkeit, die Geschichte der Verbrechen positiv gewendet zu thematisieren – als eine Geschichte, aus der man etwas lernen und damit etwas Gutes machen könne.
Deshalb sollte historisch-politische Bildung zum Nationalsozialismus für Menschenrechte und Demokratie bestimmten Anforderungen genügen. Diese beschreibt Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, wie folgt: "Der Rückbezug auf die negative Vergangenheit muss umfassend und konkret sein, muss Opfer, Täter und gesellschaftliche wie individuelle Tatvoraussetzungen einschließen; er darf auch Ambivalenzen und Grauzonen, die sich eindeutigen Opfer-Täter-Schemata widersetzen, nicht ausweichen. Zweitens schließt kritische Selbstreflexion Pietät, die den Opfern als Opfern gilt, ein. Historisches Erinnern als Akt der Pietät ernstgenommen, steht gegen alle Formen der Funktionalisierung des Erinnerns."
Um diese Funktionalisierung zu vermeiden, ist für alle pädagogischen Vorhaben kritisch die Frage zu stellen, ob mit der Geschichte vorrangig aus gegenwartsbezogenen Gründen gearbeitet werden soll. Den Nationalsozialismus im Kontext des 20. Jahrhunderts beschreiben
Aktuelle nationale wie internationale erinnerungspolitische Diskussionen fordern von der historisch-politischen Bildung, die Beziehungen zwischen der Geschichte des Nationalsozialismus und der deutschen Geschichte vor und nach dem Nationalsozialismus zukünftig stärker herauszuarbeiten. So ist es notwendig, die Geschichte der Aussiedlungen/Vertreibungen zu kontextualisieren.
Die Verbrechen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR müssen weiter aufgearbeitet und Fragen nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Ideologien, Herrschaftsstrukturen und –praktiken gestellt werden. Und nicht zuletzt sind die Brüche und Kontinuitäten zwischen dem deutschen Kolonialrassismus und der NS-Rassenideologie zu bestimmen.
Setzt man die Geschichte der Verbrechen während des Nationalsozialismus mit denen in anderen Epochen in ein Verhältnis, so besteht die Gefahr problematischer Analogisierung. Verzichtet man jedoch auf einen kritischen Vergleich, bedeutet dies in fachwissenschaftlicher Hinsicht, entkontextualisierend zu arbeiten. Darüber hinaus entzieht man sich in diesem Fall einer Diskussion, die für Jugendliche und junge Erwachsene wahrnehmbar in allen Medien geführt wird.
Auch in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus als zentrale Ideologie im Nationalsozialismus sowie dem heutigen Antisemitismus ist eine Kontextualisierung des Nationalsozialismus im weltpolitischen Geschehen des 20. Jahrhunderts notwendig.
Die Ablehnung von Jugendlichen, sich empathisch mit Juden als Opfern der deutschen Verbrechen auseinander zusetzen, kann mit ihren Schwierigkeiten zusammenhängen, als Nachfahren der deutschen Täter/innen angesprochen zu werden. Sie kann sich aber auch auf die Gründung des Staates Israel und seine aktuelle Politik beziehen – hier begründet sich die Ablehnung von Auseinandersetzung und Empathie zum Beispiel in der Zugehörigkeit zu oder der Solidarität mit den Palästinensern. Um sich pädagogisch wirkungsvoll mit antisemitischen Äußerungen von Jugendlichen auseinanderzusetzen, bedarf es also der Klärung ihrer Motivationen.
Unterricht oder Seminare sollten eine differenzierte und doppelte Auseinandersetzung anregen: Einerseits die über den weltgeschichtlichen Kontext der NS-Geschichte und andererseits über die nationale und internationale Rezeption dieser Geschichte – was nicht zuletzt auch eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Bewertungen und ihren Bedingungen einschließt.
Vielfältige Zugehörigkeiten brauchen vielfältige Zugänge
Pädagogische Vorhaben müssen auf die Diversität innerhalb der Lerngruppen, egal ob sie sich in Herkunft oder z.B. Geschlecht begründet, reagieren. Sie müssen durch innere Differenzierung/ Binnendifferenzierung verschiedene Zugänge schaffen und dafür sorgen, dass sich die Lebenswelten aller Jugendlichen in den Materialien wiederfinden.
Die Auswahl von Bildungsinhalten orientiert sich in der Bundesrepublik jedoch noch immer an den nationalstaatlichen Traditionen, Geschichte wird als Nationalgeschichte gedacht. Unterricht über die NS-Geschichte in der deutschen Einwanderungsgesellschaft sollte jedoch inklusiv sein. Damit kann die Zugehörigkeit zur Gruppe der "Deutschen" nicht mehr ausdrücklicher oder impliziter motivationaler Ausgangspunkt der Beschäftigung sein.
Die Geschichte des Nationalsozialismus ist auch die des Zweiten Weltkriegs – ein Terminus, der deutlich macht, dass es nicht allein um eine Geschichte Europas und Nordamerikas geht. Und nicht zuletzt kann die Auseinandersetzung mit den Sichtweisen anderer Gesellschaften auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und ihre gegenwartsbezogene Relevanz – Erinnerungskulturen – ein Thema sein, durch das auch nichtdeutsche Perspektiven bearbeitet werden können.
Historisch-politische Bildung zum Nationalsozialismus muss auch daraufhin reflektiert werden, inwiefern ihre Ziele oder Inhalte aus einer zeit- und generationenspezifischen Perspektive formuliert sind. Es ist anzunehmen, dass sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur NS-Geschichte auch die Sichtweisen auf diese verändern.
Gedenktage, Ausstellungen, Schulbücher oder andere Formen der Erinnerungskultur enthalten häufig die spezifische Sichtweise auf den Nationalsozialismus, die der Kinder der Erlebnisgeneration,. "Nie wieder" war und ist das Leitmotiv dieser Generation. Es symbolisiert und repräsentiert nicht unbedingt die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte und den personellen Kontinuitäten bis in die eigene Familie hinein, sondern markierte einen Neuanfang sowie eine Abgrenzung zur Elterngeneration.
Auch die Forderung nach einem "Geschichte begreifen" bedeutet letztendlich die Pädagogisierung der Geschichte und der Auseinandersetzung mit Schuld oder Verantwortung als Lehre aus der Geschichte. Beides gehört, so der Psychoanalytiker und Soziologe Christian Schneider, zu den Elementen einer generationsspezifischen Auseinandersetzung. Die Pädagoginnen und Pädagogen erleben gegenüber ihren Angeboten im Bereich der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus oftmals eine Abwehr von Jugendlichen. Ein Teil dieser Abwehr dürfte der Schwierigkeit geschuldet sein, welche die Lernenden der so genannten dritten und vierten Generation mit der pädagogisch anvisierten Übernahme von Fragestellungen haben, die für die Lehrenden, nicht jedoch für sie selbst von Relevanz sind. Mündigkeit als Ziel und Prinzip
Diese Darstellung ist ein Plädoyer an Lehrkräfte der Geschichte, sich dem Nationalsozialismus aus einer Perspektive historischen Lernens zu nähern und die Lernenden selbst gegenwartsorientierte Bezüge beziehungsweise Schlussfolgerungen entwickeln zu lassen.
Um diese Freiheit einer mündigen Entscheidung über die Konsequenzen des "Lernens aus der Geschichte" zu gewährleisten, müssen sich didaktische Planungen konsequent an den Grundsätzen der Multiperspektivität, Pluralität, Kontroversität und des Überwältigungsverbots, wie sie der "Beutelsbacher Konsens" für die politische Bildung fordert, orientieren.
Dieser Anspruch ist bei der Bearbeitung der NS-Geschichte nicht einfach umzusetzen. Ein völlig autonomer Umgang mit dieser Geschichte ist wegen der gesellschaftlichen Bewertung der NS-Geschichte sowohl für Lernende als auch Lehrende unwahrscheinlich.
Statt Problemorientierung besteht somit die Gefahr des Moralisierens und der Konventionalität, statt Kritikfähigkeit und Verantwortung die der Anpassung. Umso mehr ist auf diese Grundorientierungen schon auf der Ebene des "Lernens über die Geschichte" zu achten, und es sind Methoden zu wählen, die diese Orientierungen unterstützen.
Realistische Ansprüche formulieren
Auf der Ebene des "Lernens aus der Geschichte" wird man realistischerweise den Lernenden eigene Schlussfolgerungen überlassen müssen. Es wird Jugendliche geben, für die es plausibel ist, aufgrund des Erlernten die eigene Einstellungen zu gesellschaftlichen Gruppen zu hinterfragen oder sich bestenfalls im Sinne der hier beschriebenen Zielsetzungen gesellschaftlich-politisch zu engagieren. Aber es wird auch Jugendliche geben, die diese Lehren aus der Geschichte nicht ziehen, weil Geschichte für sie vielleicht generell kein Feld ist, das sie zu Veränderungen eigener Einstellungen veranlasst.
Wie häufig im pädagogischen Feld entziehen sich hier außerdem die Wirkungen formellen und informellen Lernens der exakten Planung, Beobachtung und Kontrolle. Anders als nach einer Mathematikarbeit entfalten sich Lernfortschritte in der historisch-politischen Bildung oft erst im gesellschaftlichen Alltag und in der aktuellen politischen Wirklichkeit.
Zum professionellen Selbstverständnis von Pädagoginnen und Pädagogen sollte es deshalb gehören, die Spannung ertragen zu können, nicht genau zu wissen, ob oder in welchem Maße "Geschichte begreifen" stattgefunden hat.
Literatur
Bildungsbausteine gegen Antisemitismus (Hrsg.): Woher kommt Judenhass? – Was kann man dagegen tun? Ein Bildungsprogramm. Mülheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr 2007.
Borries, Bodo v.: Aus Geschichte lernen im Just-in-time-Zeitalter? – Zu erhofften Zukunfts-Leistungen des Faches Geschichte In: Schlag, Thomas/ Scherrmann, Michael (Hrsg.): Bevor Vergangenheit vergeht. Für einen zeitgemäßen Politik- und Geschichtsunterricht über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus. Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2005.
Fechler, Bernd; Kößler, Gottfried und Lieberz-Groß, Till (Hrsg.): "Erziehung nach Auschwitz" in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen. Weinheim: Juventa 2000.
Haug, Verena / Thimm, Barbara: Projektdokumentation "Aus der Geschichte lernen?" Jugendgästehaus Dachau 2007. Auf: Externer Link: www.fritz-bauer-institut.de Frohwein, Pia; Wagner, Leonie: Geschlechterspezifische Aspekte in der Gedenkstättenpädagogik. In: Gedenkstättenrundbrief 120, Jg. 2004.
Hormel, Ulrike; Scherr, Albert: Ergebnisse der Evaluation des Förderprogramm "Geschichte und Menschenrechte" der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Berlin 2008. Auf: Externer Link: www.stiftung-evz.de Knigge, Volkhard: Europäische Erinnerungspolitik ohne Identitätspolitik. Auf: Externer Link: www.kultur-macht-europa.de Meseth, Wolfgang; Proske, Matthias; Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer-Instituts, Band 11. Frankfurt am Main: Campus 2004.
Nickolai, Werner; Lehmann, Henry (Hrsg.): Grenzen der Gedenkstättenpädagogik mit rechten Jugendlichen. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag 2002.
Schäuble, Barbara; Scherr, Albert: "Ich habe nichts gegen Juden, aber ..." Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftlicher Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Berlin 2007. Auf: Externer Link: www.amadeu-antonio-stiftung.de Schneider, Christian: Schuld als Generationenproblem. In: Mittelweg 36, 7. Jg. (1998) H. 4, S. 28 – 40.
Sznaider, Natan; Levy, Daniel: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.
Ein Gedenkstein im ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück (© Jan Zappner)
| Article | Christian Geißler-Jagodzinski, Anna Pukajlo, Hanns-Fred Rathenow, Thomas Spahn | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-11-21T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/historisch-politische-bildung/geschichte-begreifen/42306/lernen-fuer-die-gegenwart/ | Wie können Jugendliche nicht nur historische Fakten erlernen sondern Gegenwartsbezüge herstellen? Ein Ausblick. | [
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Die "globale Null" für Atomwaffen - Essay | Sicherheitspolitik | bpb.de | Einleitung
Mehr als 65 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki haben wir uns an das gewöhnt, was wir gemeinhin als das "nukleare Tabu" bezeichnen. Kernwaffen, so lautet seit dem Ost-West-Konflikt das Mantra, sind politische Waffen, die der Abschreckung dienen, jedoch nicht eingesetzt werden. Doch können wir uns wirklich so sicher sein? Wissen wir überhaupt, ob Abschreckung im Kalten Krieg funktioniert hat, und wenn ja, war nicht auch sehr viel Glück im Spiel? Und was helfen uns die Erfahrungen aus den Jahren einer relativ überschaubaren Blockkonfrontation in einer Welt, in der es womöglich bald fünfzehn oder gar zwanzig Atommächte gibt? Sind 65 Jahre weltgeschichtlich betrachtet nicht eine viel zu kurze Zeitspanne, um daraus den sicheren Schluss zu ziehen, dass auch künftige Generationen von Atomwaffeneinsätzen verschont bleiben? Wenn wir uns dessen aber nicht sicher sind, müssen wir uns dann nicht darum bemühen, alle Atomwaffen aus der Welt zu schaffen? Schließlich wäre dies der einzig wirklich sichere Weg, künftige Hiroshimas und Nagasakis zu verhindern. Wenn aber die Abschaffung aller Nuklearwaffen auf die internationale Agenda gehört, wie können wir dieses Ziel verwirklichen? Welche Hürden gilt es zu überwinden, welche Widerstände zu brechen? Und wie müsste eine Welt ohne Kernwaffen so gestaltet werden, dass am Ende mehr und nicht weniger Sicherheit entsteht?
Barack Obamas Motive
Dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama gebührt das Verdienst, diese Debatte auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs hoffähig gemacht zu haben. Kaum einer von ihnen wagt es noch, sich öffentlich gegen die "globale Null" für Kernwaffen zumindest als Fernziel auszusprechen. Das ist ein erster Schritt. Doch weitere, praktische Fortschritte müssen folgen. Sam Nunn, ehemaliger US-Senator und Mitglied derjenigen überparteilichen "Viererbande" alt gedienter US-Strategen, welche die "globale Null" für Atomwaffen schon vor Obamas Amtsantritt zu propagieren begannen - die anderen drei sind Henry Kissinger, George Shultz und William Perry - nutzt gern das Bild einer Bergsteigergruppe, welche den Gipfel durch die Wolken noch nicht erblicken kann. Die Gruppe weiß also nicht genau, wo sich ihr Ziel befindet. Was sie aber weiß, ist, dass sie es nur erreichen kann, wenn sie damit beginnt, Schritt für Schritt an Höhe zu gewinnen. Das erfordert Kondition, vor allem aber Motivation. Voraussetzung für diese wiederum, ist zu wissen, warum man eigentlich auf den Gipfel will.
Die Gründe dafür, dass Barack Obama den Aufstieg zum Gipfel der vollständigen nuklearen Abrüstung begann, sind schnell erzählt. Sie handeln nicht von einem Tagträumer, der aus einer Laune heraus die Welt mit seinen Visionen in Atem halten will. Nein, der Mann im Weißen Haus ist Visionär und Realpolitiker zugleich, ebenso wie Henry Kissinger oder George Shultz, der ehemalige Außenminister unter Ronald Reagan, oder auch William Perry, der unter Bill Clinton im Pentagon diente. Sie alle sind schwerlich mit jenen "Latzhosen tragenden" Friedensaktivisten zu verwechseln, die vor gut 25 Jahren hierzulande zu nuklearer Abrüstung aufriefen. Worum es geht, sind amerikanische Interessen, so wie die aktuelle US-Regierung sie definiert. Das Spannende ist gleichwohl, dass es wesentliche Schnittpunkte zwischen diesen amerikanischen Interessen und übergeordneten, allgemeinen Interessen an der Verregelung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen sowie der Vermeidung von Kernwaffeneinsätzen gibt.
Was also treibt Obama um? Wenn man seine Prager Rede vom 1. April 2009, während der er sein Ziel einer Welt ohne Kernwaffen verkündete, liest, fällt auf, dass sich dieser Präsident offensichtlich des nuklearen Tabus nicht sicher ist. Vielmehr sieht er das mögliche Entstehen immer neuer Atommächte als eine Bedrohung an. Wenn wir, so Obama, uns diesem Trend nicht entgegenstemmen, dann finden wir uns letztlich damit ab, dass Kernwaffen irgendwann auch eingesetzt werden - sei es, weil Krisen zwischen Atomwaffen besitzenden Staaten eskalieren (etwa zwischen Indien und Pakistan oder künftig zwischen Iran und Israel), sei es, weil Terroristen im Zuge der Verbreitung von spaltbarem Material eines Tages Kernsprengsätze in die Hände bekommen. Dann würden sie diese auch einsetzen, und Amerika wäre ganz sicher ihre erste Zielscheibe. Krise des Nichtverbreitungsregimes
Bisher ist es gelungen, die Anzahl der Atommächte relativ klein zu halten. Ein wichtiger Grund dafür ist der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV). Er gesteht den USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien den Besitz von Nuklearwaffen zu. Alle anderen Vertragsstaaten, 185 an der Zahl, haben auf Atomwaffen für immer verzichtet (der NVV wurde 1995 unbefristet verlängert). Das liegt durchaus in ihrem Interesse, hoffen viele von ihnen doch, auf diese Weise gefährliche nukleare Rüstungswettläufe in ihrer jeweiligen Region verhindern zu können. Außerdem haben sie als Gegenleistung für ihren Waffenverzicht die Unterstützung bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie zugesagt bekommen. Schließlich haben sich die fünf Atommächte zu ernsthaften Abrüstungsbemühungen mit dem Fernziel der Abschaffung aller Nuklearwaffen verpflichtet.
Seit geraumer Zeit ist die Vertragsstaatengemeinschaft jedoch zerstritten. Im Jahr 2005 endete eine der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenzen ohne Ergebnis. Bei der Folgekonferenz im Mai 2010 gelang zwar die Verabschiedung eines Abschlussdokuments, das Aktionspläne zu den drei NVV-Grundpfeilern Nichtverbreitung, friedliche Nutzung der Kernenergie und Abrüstung enthält. Auch soll im Jahr 2012 eine Konferenz zur Errichtung einer Zone frei von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten stattfinden. Doch kann dies über die tiefen Gräben, die innerhalb der NVV-Gemeinde fortbestehen, kaum hinwegtäuschen. Viele nukleare "Habenichtse" sind weiterhin mit den Abrüstungsbemühungen der Atomwaffenbesitzer unzufrieden; umgekehrt haben diese sowie weitere entwickelte Länder ihr Ziel nicht erreicht, die Nichtverbreitungsnorm zu stärken, indem etwa die Überwachungsregeln der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) verpflichtend für alle verschärft würden. Problematisch bleibt die Existenz dreier Atommächte - Indien, Pakistan und Israel - außerhalb des Abkommens. Ungeklärt ist die Stellung Nordkoreas, das bereits zweimal nuklear testete und 2003 aus dem NVV austrat. Aufgrund von dabei begangenen Formfehlern wird dieser prinzipiell zulässige Austritt jedoch nicht von allen NVV-Mitgliedern anerkannt.
Die Schwäche des NVV ist umso bedrohlicher, als zugleich immer mehr Staaten ein legitimes Interesse an der friedlichen Nutzung des Atoms entwickeln. Die IAEO geht von bis zu zwanzig neuen kommerziellen Kernenergienutzern bis zum Jahr 2030 aus. Getrieben wird diese Entwicklung von einem wachsenden Energiebedarf, dem Interesse an Energiesicherheit, instabilen Öl- und Gaspreisen, aber auch von dem Prestigegewinn und der Statusaufwertung, die sich viele Staaten vom Betrieb von Kernkraftwerken versprechen. Nicht wenige der Kernenergieinteressenten befinden sich in Konfliktregionen wie dem Nahen Osten; einige von ihnen wie Ägypten haben in der Vergangenheit nach Atomwaffen gestrebt. Daher liegt für viele Beobachter der Verdacht nahe, dass es zumindest einigen nuklearen Emporkömmlingen darum geht, sich im Zuge eines zunächst zivilen Atomprogramms auch eine nukleare Waffenoption zu erarbeiten. Internationale Ordnung
Obama scheint den NVV unbedingt retten zu wollen. Die Ordnungsmacht USA ist an verbindlichen Regeln als Bezugssystem interessiert. Ohne dieses würde das Entstehen immer neuer Atommächte, letztlich also die nukleare Anarchie, drohen. Amerikanische Interessen sind unmittelbar berührt, weil Atomwaffen in den Händen von immer mehr Staaten Amerikas militärische Handlungsfreiheit einschränken. Wer diese stärkste aller Waffen sein Eigen nennt, kann sich mit konventionellen Streitkräften geführte Überfälle auf seine Nachbarn erlauben, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Mit Diktatoren, die Kernwaffen besitzen, ist nicht gut Kirschen essen. Eben dies war der Grund, warum sich selbst der Pazifist Albert Einstein während des Zweiten Weltkrieges für das "Manhattan-Projekt" aussprach: Amerika sollte die Bombe vor Hitler-Deutschland besitzen, damit dieses sich nicht die Welt gefügig machen konnte. Um ein aktuelleres Beispiel zu nennen: Im August 1990 überfiel Saddam Hussein seinen Nachbarn Kuwait. Zu diesem Zeitpunkt war der irakische Despot nachrichtendienstlichen Einschätzungen zufolge noch etwa drei Jahre von der Bombe entfernt. Hätte er sie damals bereits besessen, wäre die militärische Befreiung Kuwaits unter US-Führung und ausgestattet mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates wohl gar nicht erst zustande gekommen.
Die Verbreitung von Atomwaffen stellt also tendenziell die geltende internationale Ordnung in Frage. Die USA, noch immer das einzige Land, das weltweit zum militärischen Eingreifen gegen Aggression und zur Wiederherstellung von Ordnung befähigt ist, würde zu einem gefesselten Riesen. In der Folge würde auch das höchste Organ der internationalen Staatengemeinschaft, der UN-Sicherheitsrat, nach und nach auch gegenüber Aggressoren handlungsunfähig.
Obama hat erkannt, dass für die Rettung des NVV und der nuklearen Ordnung die Vision einer Welt ohne Atomwaffen von eminenter Bedeutung ist. Washington stellt somit Führungswillen gerade bei der von vielen Nichtkernwaffenstaaten immer wieder geforderten nuklearen Abrüstung unter Beweis. Indem die USA die noch unter George W. Bush populäre Unterscheidung zwischen guten und schlechten Atomwaffen rhetorisch aufgeben, treten sie den Doppelmoralvorwürfen vieler nuklearer "Habenichtse" entgegen. Obama hofft, auf diese Weise die NVV-Gemeinde wieder enger zusammenzuschweißen. Gefährliche nukleare Ausbrecher wie Iran könnten so wirksamer isoliert werden.
Die USA brauchen für ihre eigene Verteidigungspolitik Atomwaffen immer weniger. In der im April 2010 vorgestellten Nukleardoktrin haben die USA zwar nicht auf den nuklearen Ersteinsatz verzichtet, machten jedoch klar, dass sie Kernwaffen nur unter außergewöhnlichen Umständen und nicht gegen Nichtkernwaffenstaaten einsetzen würden, die sich an die Regeln des NVV halten. Washington kann sich seine schrittweise Abkehr von Atomwaffen leisten, da es zugleich effektive und weit reichende konventionelle Waffenoptionen verfolgt und auch Schutz durch den weiteren Aufbau einer Raketenabwehr anstrebt.
Ein wichtiger Abrüstungserfolg gelang am 8. April 2010, als Obama gemeinsam mit seinem russischen Gegenüber Dmitri Medwedew das Neu-START-Abkommen (Strategic Arms Reduction Treaty) zur Begrenzung stationierter strategischer Kernwaffen beider Seiten unterschrieb. Aufgrund der vereinbarten Zählregeln sind die damit verbundenen Abrüstungsschritte nicht sehr tiefgreifend. Immerhin ist es aber der erste nukleare Abrüstungsvertrag seit 1991, der auch beiderseitige Überwachungsmaßnahmen beinhaltet. Die nächste Etappe ist die Inkraftsetzung dieses Abkommens durch den US-Senat sowie die russische Duma und den Föderationsrat. Nichtverbreitungsparadoxon der Kernwaffen
Sehr viel schwieriger werden jedoch die dann folgenden Höhenmeter. Die nächste Abrüstungsrunde wird neben den strategischen auch die nicht-strategischen Atomwaffen berücksichtigen müssen, also auch die noch in Europa stationierten US-Kernwaffen. Russland hat in diesem Bereich eine numerische Überlegenheit, die es mit Blick auf das NATO-Übergewicht bei konventionellen Streitkräften nicht aufzugeben gedenkt. Moskaus Ziel hingegen ist das Hinausdrängen Amerikas aus Europa, weshalb es - ein Vorhaben noch aus sowjetischen Zeiten - den Abzug sämtlicher amerikanischer Atomwaffen verlangt. Dies stößt auf Wohlwollen bei manch westlicher Regierung - darunter der deutschen -, aber auf Widerstände anderer, vornehmlich osteuropäischer NATO-Mitglieder. Ihnen ist die langjährige Okkupation durch Moskau noch präsent, weshalb sie Amerika zu ihrem Schutz unbedingt in Europa halten wollen. Andere, wie Italien, sehen amerikanische Atomwaffen auf ihrem Boden und ihre enge nukleare Zusammenarbeit mit den USA als wichtiges Statussymbol. Wieder andere, an der NATO-Peripherie gelegene Partner wie die Türkei könnten im Angesicht einer iranischen Atomwaffenoption bei gleichzeitigem US-Kernwaffenabzug selbst die Bombe bauen wollen.
Diese gerade begonnene Debatte über die Zukunft der NATO als einem nuklearen Bündnis verweist auf eine grundsätzliche Schwierigkeit, die mit atomarer Abrüstung verknüpft ist. Atomwaffen selbst sind nämlich, so paradox dies klingen mag, Instrumente zur Verhinderung des Entstehens immer neuer Atommächte. Im Rahmen der NATO oder bilateraler Bündnisse mit Washington haben Staaten, die technisch dazu in der Lage wären, Kernwaffen zu bauen, darauf verzichtet, weil sie es für politisch sinnvoller hielten, sich unter den amerikanischen Nuklearschirm zu begeben. Verliert die amerikanische Schutzgarantie infolge von Abrüstung jedoch an Glaubwürdigkeit, könnten manche Staaten ihr Heil in eigenen Kernwaffen suchen, sofern sie sich von den atomaren Bemühungen ihrer Nachbarn bedroht sehen. Iranisches Atomprogramm
Zudem liegt ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Schlüssel auf dem Weg zu einer Welt ohne Kernwaffen in einer erfolgreichen Mission zur Beendigung des derzeitigen iranischen Atomprogramms. Sollte es nicht gelingen, Teheran trotz mehrfacher Aufforderungen des UN-Sicherheitsrates - zuletzt mit seiner mit verschärften Sanktionen bewehrten Resolution 1929 vom 9. Juni 2010 - zu einer Umkehr von seinem derzeitigen Atomkurs zu bewegen, so dass es nach Nordkorea als zweites Land trotz rechtlich verbrieftem Kernwaffenverzicht zur Atommacht würde, rückt eine Welt ohne Nuklearwaffen in weite Ferne. Vielmehr werden dann womöglich weitere Staaten des Nahen und Mittleren Ostens wie Saudi-Arabien, Ägypten und wohl auch die Türkei eine atomare Option anstreben. Dies ist kein Automatismus, und die genannten Länder würden zum Aufbau eigener atomarer Kapazitäten viele Jahre benötigen. Doch die Gefahr eines nuklearen Rüstungswettlaufs in Nahost wäre auf jeden Fall gegeben. Die nukleare Nichtverbreitungsnorm wäre damit durchlöchert wie ein Schweizer Käse; der NVV würde zur leeren Hülle. Interessen der Atomwaffenbesitzer
Aber selbst falls das Problem des iranischen Atomprogramms gelöst werden könnte, stellt sich die Frage, ob diejenigen Staaten, die heute bereits Nuklearwaffen besitzen, zu ihrer Aufgabe bereit wären. Denn Kernwaffen bedeuten einen herausgehobenen Status, sie bieten Schutz vor Invasion und äußerer Einflussnahme, selbst dann, wenn man wie im Falle Nordkoreas politisch fast vollständig isoliert ist, und sie sind eine Art Überlebensversicherung in einer feindlichen Nachbarschaft, was der Hauptgrund für Israels Atomwaffenbesitz ist.
Auch wenn sie sich rhetorisch zum Ziel der nuklearen Totalabrüstung bekennen, haben alle Atommächte Vorbehalte. Für Russland sind seine Atomwaffen bedeutsam, weil man den USA nur bei Nuklearverhandlungen auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. Auch werden diese Waffen in Moskau als wichtig angesehen, um der ansonsten militärisch weit überlegenen NATO entgegentreten zu können. China verlässt sich seit längerem auf eine nukleare Minimalabschreckung, baut diese jedoch allmählich in dem Maße aus, in dem es vor dem Hintergrund seines wirtschaftlichen Aufstiegs auch politisch mehr und mehr nach Einflussnahme strebt. Frankreichs Force de Frappe ist das wichtigste Symbol unabhängiger französischer Außenpolitik. Großbritannien verspricht sich von seinen noch verbliebenen atomaren U-Booten Einfluss auf die amerikanische Politik. Indien ist sein Status als Atommacht wichtig, während sein Nachbar Pakistan solange seine Kernwaffen nicht aufgeben wird, solange Indien welche besitzt. Weitere Hindernisse: Politische Konflikte und Überwachung
Mag man angesichts dieser Motivlagen am Ziel der "globalen Null" zweifeln, so führen Kritiker einer Welt ohne Kernwaffen noch einen weiteren wichtigen Grund an: In einer solchen Welt würden konventionelle Kriege wieder möglich. Ergo müssten vor der Abschaffung aller Atomwaffen erst einmal die vielfältigen Konflikte zwischen Staaten gelöst werden. Ein Einwand, der in der Tat schwer wiegt. Die Lösung politischer Konflikte wie zwischen Indien und Pakistan oder im Nahen Osten müsste also der "nuklearen Null" vorausgehen.
Doch damit nicht genug. In einer atomwaffenfreien Welt müsste auch möglichst verlässlich sichergestellt werden, dass nicht wieder heimlich Nuklearwaffen gebaut werden, denn das entsprechende Wissen besteht ja fort. Notwendig wäre also der Aufbau eines weit in die Souveränitätsrechte der Staaten eingreifendes Überwachungssystems. Alle Staaten müssten sich den Inspektionen öffnen, denn in einer Welt ohne Atomwaffen wäre nicht einmal der kleinste Winkel der Erde tolerabel, der sich ihnen verweigerte. Bisher ist es aber noch nie gelungen, wirklich alle Länder vom Beitritt zu einem Abrüstungsabkommen zu bewegen. Kreative Lösungen
Ist eine Welt ohne Atomwaffen also gar nicht möglich? Wer diese Frage bejaht, findet sich zugleich damit ab, dass die Menschheit für immer mit der nuklearen Gefahr leben muss. Dies ist die zweifelhafte Lösung derjenigen, die mehr oder weniger alles beim Alten belassen und sich weiterhin der Hoffnung hingeben wollen, dass Atomwaffen politische Waffen und keine militärischen Instrumente sind. Man kann die Gründe, die gegen eine kernwaffenfreie Welt sprechen, auch einfach ignorieren. Aber auch dieser Weg der Friedensbewegten und Abrüstungsenthusiasten vermag nicht zu überzeugen. Denn die Probleme hin zu einer "globalen Null" sind gewichtig, und ohne sich ihnen zu stellen, wird man das Ziel nie erreichen.
Gefragt sind daher kreative Lösungen. Ein wichtiger Schlüssel für die Erreichung des Ziels einer Welt ohne Kernwaffen liegt in einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit - etwa hinsichtlich der künftigen Gestaltung des nuklearen Brennstoffkreislaufes wie auch militärischen Schutzinstrumenten wie der Raketenabwehr.
Eine Welt ohne Kernwaffen wäre keine Welt ohne zivile Atomenergieprogramme. Vielmehr ist in den kommenden Jahren mit mehr Kernkraftwerksnutzern zu rechnen. Solange diese nur mit von der IAEO überwachten Leichtwasserreaktoren arbeiten, sind die Gefahren heimlicher militärischer Zweckentfremdung relativ gering. Gefährlicher wird es hingegen, wenn sensitive Technologien wie Urananreicherung und Wiederaufbereitung hinzukommen. Sie lassen sich recht leicht für Atomwaffenprojekte nutzen. Daher muss das Ziel sein, die Verbreitung der entsprechenden Einrichtungen auf freiwilliger Basis zu begrenzen, und Kernkraftwerksbetreibern den Zugang zu nuklearem Brennstoff zu garantieren, ohne dass sie diesen mittels Urananreicherung selbst herstellen. Das Fernziel könnte darin bestehen, dass sich alle Staaten aus international betriebenen Anlagen versorgen. Entsprechende Diskussionen werden seit geraumer Zeit bei der IAEO geführt, und Russland hat bereits eine erste Anlage für die gesicherte Brennstoffversorgung identifiziert.
Auch wäre eine Welt ohne Kernwaffen keine Welt ohne Raketen. Künftig werden immer mehr Staaten in die friedliche wie auch die militärische Nutzung des Weltraums einsteigen. Vor allem aber wäre eine Welt ohne Atomwaffen keine Welt ohne Diktaturen. Deren Bereitschaft zu Transparenz wird immer begrenzt bleiben. Der effektiven Überwachung sind daher Grenzen gesetzt. Es bestünde also die Möglichkeit heimlicher Atomprogramme in einem Land, das auch über Raketen verfügt und somit schnell ein weitreichendes atomares Drohpotenzial aufbauen könnte. Gegen diese Gefahr ist eine Rückversicherung durch eine von möglichst vielen Staaten gemeinsam getragene Raketenabwehrarchitektur erforderlich. Die USA und Russland haben erste vorsichtige Sondierungen in diese Richtung unternommen. Doch bleibt dies ein sehr komplexes Vorhaben.
Der Gipfel der nuklearen Abrüstung bleibt wolkenverhangen, und wir wissen noch nicht, wie wir die vielen Gletscherspalten dorthin überwinden können. Dennoch müssen wir den Weg nach oben fortsetzen, denn unser derzeitiger Standplatz ist brüchig geworden, und unter uns tut sich eine tiefe Schlucht auf. In ihr lauert die Gefahr der nuklearen Anarchie und der Vernichtung ganzer Städte und Landschaften durch die stärkste Waffe, die der Mensch je entwickelt hat. Daher kann das Motto nur lauten: Der Weg ist das Ziel.
Vgl. den Wortlaut der Rede, online: www.oe24.at/welt/weltpolitik/Obamas-Rede-im-Wortlaut/506368 (25.10.2010).
| Article | , Oliver Thränert | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32299/die-globale-null-fuer-atomwaffen-essay/ | Die Krise des nuklearen Nichtverbreitungsregimes besteht fort. Das Ziel einer Welt ohne Kernwaffen ist daher sinnvoll. Kreative Lösungen wie die internationale Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr sind erforderlich. | [
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Glossar | Der Mauerfall und ich | bpb.de | Von ADN über SED bis Westfernsehen – kurze Erklärungen zu wichtigen Begriffen, Institutionen und Personen in der Geschichte "Der Mauerfall und ich". Das Glossar wird fortlaufend aktualisiert.
Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN)
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die einzige zentrale Nachrichten- und Fotoagentur der Interner Link: DDR und war für die Bereitstellung der Nachrichten für Presse, Rundfunk und Fernsehen im Inland und für das Ausland zuständig. Gegründet wurde der ADN 1946.
Mehr dazu: Interner Link: Zeitungen in der DDR (bpb.de)
Ausreiseantrag
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Wer nicht mehr in der Interner Link: DDR leben wollte, stellte einen "Antrag auf Ausreise aus der DDR" in die Bundesrepublik. Von Mitte der 1970er Jahre bis Oktober 1989 stellten mehrere hunderttausend Menschen einen solchen Ausreiseantrag. Ausreiseanträge wurden als rechtswidrig angesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Ausreiseantrag (jugendopposition.de)
Bornholmer Brücke
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Der Grenzübergang Bornholmer Straße, auch "Bornholmer Brücke" genannt, verband während der Teilung Berlins die Stadtteile Interner Link: Prenzlauer Berg und Wedding. Am 9. November 1989 war die Bornholmer Brücke der erste Grenzübergang an der Interner Link: Berliner Mauer, an dem gegen 23.30 Uhr die Grenze halbständig geöffnet wurde. Die DDR-Grenzpolizisten gaben dem Druck der Menschenmassen nach.
Interner Link: 9. November, 23 Uhr – Filmaufnahmen von der Bornholmer Straße und dem Brandenburger Tor
Mehr dazu: Externer Link: Bornholmer Brücke (jugendopposition.de)
Bundesrepublik Deutschland (BRD)
Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ging 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg aus den drei westlichen Besatzungszonen hervor.
Mehr dazu: Teilung Deutschlands (bpb.de)
CSSR / Tschechoslowakei
Die Tschechoslowakei (Abkürzung CSSR) gehörte zu den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Seit dem 1.1.1993 ist sie in die eigenständigen Staaten Tschechien und Slowakei geteilt.
Mehr dazu: Externer Link: CSSR / Tschechoslowakei (jugendopposition.de)
Demokratischer Aufbruch (DA)
Der Demokratische Aufbruch (DA) entstand im Herbst 1989 als Bürgerbewegung der Interner Link: DDR. Hauptziele der Vereinigung waren zunächst die Reformierung und Demokratisierung des Landes. Im Dezember 1989 formierte sich der DA als Partei und gliederte sich im August 1990 der CDU an.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratischer Aufbruch (jugendopposition.de)
Deutsche Demokratische Republik (DDR)
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstand 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone und entwickelte sich zu einer von der Interner Link: Sowjetunion abhängigen Diktatur. Sie umfasste das Gebiet der heutigen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und Ost-Berlin. Am 3. Oktober 1990 treten die neuen Länder der BRD bei (Wiedervereinigung).
Mehr dazu: DDR (bpb.de)
Demokratie Jetzt (DJ)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Demokratie Jetzt (DJ) war eine im Herbst 1989 entstehende Bürgerbewegung, deren erklärtes Ziel die Demokratisierung der DDR war. 1991 löste sich DJ auf, um im September mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und Teilen des Interner Link: Neuen Forums die Partei Bündnis 90 zu gründen.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratie Jetzt (jugendopposition.de)
Demonstrieren in der DDR
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
In der Interner Link: DDR waren Demonstrationen fast immer verboten. 1989 versammelten sich trotzdem immer mehr Unzufriedene und Oppositionelle zu friedlichen Demonstrationen und erhöhten so den Druck auf die DDR-Regierung.
Mehr dazu: Externer Link: Demonstrationen in der ganzen DDR (jugendopposition.de)
Ebert, Frank
Frank Ebert gehörte zur letzten Generation der Jugendopposition in der Interner Link: DDR, bevor der Staat aufhörte zu existieren. Er war unter anderem an den Protesten gegen den Wahlbetrug beteiligt und bei den Interner Link: Demonstrationen in Ost-Berlin im Oktober 1989 dabei.
Mehr dazu: Externer Link: Frank Ebert (jugendopposition.de)
Friedensgebet in der Nikolaikirche
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Mitglieder der Arbeitsgruppe Friedensdienste und kirchliche Mitarbeiter/-innen luden ab 1982 wöchentlich in die Leipziger Nikolaikirche zu Friedensgebeten ein. Im November 1983 wurde zum ersten Mal nach dem Friedensgebet vor der Interner Link: Kirche gegen die Militarisierung der Gesellschaft demonstriert. Mit der Interner Link: Demonstration im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 begannen die Interner Link: Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten.
Mehr dazu: Externer Link: Friedensgebet in der Nikolaikirche (jugendopposition.de)
Kampfgruppen
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die Kampfgruppen waren paramilitärische Formationen in der Interner Link: DDR, die vor allem zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen vorgesehen waren. Bei einer Großübung der Kampfgruppen in Sachsen Anfang April 1989 wurde der Interner Link: SED-Führung deutlich, dass ihr diese im Ernstfall den Gehorsam verweigern könnten. Dennoch hat die SED ihren Einsatz gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten im Herbst 1989 vorgesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Kampfgruppen (jugendopposition.de)
Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU)
Die KPdSU war die Kommunistische Partei der Interner Link: Sowjetunion. Die Partei trug diesen Namen zwischen 1952 und 1991, existierte aber bereits seit 1918. Zwischen 1918 und 1991 beherrschte die KPdSU das gesamte gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion.
Mehr dazu: Externer Link: Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) (jugendopposition.de)
Kirche in der DDR
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Die Evangelische Kirche bildete in vielerlei Hinsicht die Basis der Oppositionsarbeit in der Interner Link: DDR, da sie die einzige vom Staat unabhängige Organisationsstruktur bot, die landesweit präsent war. In der Revolutionszeit 1989 fungierten Kirchen im ganzen Land als Basislager vieler Interner Link: Demonstrationen.
Mehr dazu: Externer Link: Kirche in der DDR (jugendopposition.de)
Kulturopposition in Ost-Berlin
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Der Kulturopposition in Ost-Berlin werden jene Künstler/-innen zugerechnet, die jenseits der offiziellen Kulturpolitik der Interner Link: SED versuchten, eine eigene Kulturszene zu etablieren. Sie gerieten damit fast automatisch in Konflikt mit dem politischen System der DDR. Dies förderte ihre Bereitschaft, Kontakt mit der politischen Opposition aufzunehmen.
Mehr dazu: Externer Link: Kulturopposition in Ost-Berlin (jugendopposition.de)
Ministerium für Staatssicherheit (MfS)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich Stasi) wurde per Gesetz am 8. Februar 1950 gegründet und war der Geheimdienst der Interner Link: DDR. Die Stasi war zugleich politische Geheimpolizei und für strafrechtliche Untersuchungen gegen von ihr ausgemachte politische Gegnerinnen und Gegner zuständig.
Mehr dazu: Externer Link: Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (jugendopposition.de)
Montagsdemonstration
In Leipzig fanden ab Anfang der 1980er Jahre jeweils montags Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche statt. Am 4. September 1989 gingen anschließend Bürgerrechtler/-innen mit Plakaten vor die Interner Link: Kirche und forderten Interner Link: Reisefreiheit. In den folgenden Wochen vergrößerte sich der Kreis der Teilnehmenden sehr schnell. Am 9. Oktober 1989 Interner Link: demonstrierten ungefähr 70.000 Personen.
Mehr dazu: Externer Link: Montagsdemonstration (jugendopposition.de)
Nationale Front
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der Interner Link: DDR. Sie war eine scheindemokratische Einrichtung, mit der die Interner Link: SED versuchte, ihre Vormachtstellung unter dem Deckmantel der demokratischen Struktur zu festigen.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Front (jugendopposition.de)
Nationale Volksarmee (NVA)
Die offizielle Armee der Interner Link: DDR wurde am 1. März 1956 gegründet. Durch die "Politische Hauptverwaltung" sicherte sich die Interner Link: SED innerhalb der NVA einen bestimmenden Einfluss auf die Armee. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate, auf Druck der Interner Link: Kirchen gab es ab 1964 die Bausoldaten, die ihren Wehrdienst ohne Waffe in Baueinheiten ableisten konnten.
1990 wurde die NVA aufgelöst, ihre Bestände und Standorte wurden der Bundeswehr übergeben.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Volksarmee (jugendopposition.de)
Neues Forum
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Das Neue Forum war die mit Abstand zulaufstärkste Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Sie forderten Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Die Interner Link: DDR-Behörden stuften das Neue Forum als "verfassungsfeindlich" ein.
Mehr dazu: Externer Link: Neues Forum (jugendopposition.de)
Notaufnahmeverfahren
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
Die große Zahl an Flüchtlingen aus der Interner Link: DDR machte es für die Interner Link: BRD erforderlich, ein geregeltes Aufnahmeverfahren zu entwickeln. Jeder Flüchtling, sofern er auf staatliche Hilfen angewiesen war und nicht von Freunden oder Familie unterstützt wurde, musste ein im Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 geregeltes Verfahren zur rechtlichen und sozialen Eingliederung durchlaufen.
Mehr dazu: Externer Link: Notaufnahmeverfahren (jugendopposition.de)
Paneuropäisches Picknick
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Am 19. August 1989 luden ungarische oppositionelle Gruppen um das Ungarische Demokratische Forum und die Interner Link: Paneuropa-Union zum "Paneuropäischen Picknick" ein – bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dabei sollte ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor symbolisch für einige Stunden geöffnet werden. Dabei gelang etwa 700 Interner Link: DDR-Bürger/-innen die Flucht nach Österreich. Das "Paneuropäische Picknick" steht symbolisch für den Riss im Eisernen Vorhang.
Mehr dazu: Externer Link: Paneuropäisches Picknick (jugendopposition.de)
Paneuropa-Union
Die Paneuropa-Union wurde 1925 durch den Österreicher Richard N. Coudenhove-Kalergi gegründet. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Rolle in der Welt zu stärken. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen.
Mehr dazu: Interner Link: Paneuropa-Union (bpb.de)
Politbüro
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Das Politbüro bezeichnete das Führungsgremium und Herrschaftszentrum der Interner Link: SED und der Interner Link: DDR. An der Spitze stand der Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der SED. Die Aufgabe des Politbüros bestand laut Parteistatut darin, die Arbeit der Partei zwischen den Plenartagungen des ZK zu leiten.
Mehr dazu: Externer Link: Politbüro (jugendopposition.de)
Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
Viele Interner Link: DDR-Bürger/-innen suchten im Sommer 1989 Zuflucht in der Botschaft der Interner Link: BRD in Prag und hofften, auf diesem Weg in den Westen ausreisen zu können. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 die Zustimmung zur Ausreise von Tausenden Flüchtlingen, die in Sonderzügen durch die DDR in die BRD gebracht wurden.
Mehr dazu: Externer Link: Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag (hdg.de)
Reisefreiheit
In der Interner Link: DDR gab es keine Reisefreiheit. Die Reise in Länder außerhalb des sogenannten Ostblocks gestatteten die Behörden im Regelfall nicht. Das Recht auf Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989.
Mehr dazu: Externer Link: Reisefreiheit (jugendopposition.de)
RIAS
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Der in West-Berlin beheimatete Sender RIAS unterstand der United States Information Agency und strahlte ab 1946 sein Programm aus. Die Mischung aus Unterhaltung, Musik und Information richtete sich vornehmlich an Interner Link: DDR-Bürger/-innen, die das Programm in der gesamten DDR verfolgen konnten – trotz vielfacher Störaktionen gegen den "Feindsender" (wie die Parteiführung ihn nannte).
Mehr dazu: Externer Link: RIAS (jugendopposition.de)
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sozialistische Einheitspartei (SED) entstand 1946 unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht durch die Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone. Sie war seit der Gründung der Interner Link: DDR am 7. Oktober 1949 bis zur Revolution von 1989 die herrschende Partei.
Mehr dazu: Externer Link: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (jugendopposition.de)
Sowjetunion
Die Sowjetunion wurde nach dem Ende des russischen Reichs (1917) im Dezember 1922 (Unionsvertrag, erste Verfassung 1924) gegründet und war bis zu ihrem endgültigen Zerfall 1991 das politische Zentrum des sogenannten Ostblocks.
Mehr dazu: Externer Link: Sowjetunion (jugendopposition.de)
Staatsrat
In der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatte der Staatsrat die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Er wurde im September 1960 nach dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der Interner Link: DDR, Wilhelm Pieck, gebildet. Erster Staatsratsvorsitzende wurde Walter Ulbricht; 1976 übernahm Erich Honecker dieses höchste staatliche Amt.
Mehr dazu: Externer Link: Staatsrat (jugendopposition.de)
Ständige Vertretungen der BRD und der DDR
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 vereinbarten die Interner Link: BRD und die Interner Link: DDR, "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander" zu entwickeln. In diesem Vertrag wurde auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in der DDR und der BRD beschlossen. Sie befanden sich in Ost-Berlin und in Bonn.
Mehr dazu: Externer Link: Ständige Vertretungen der BRD und der DDR (hdg.de)
Studieren in der DDR
In der Interner Link: DDR durfte nicht jede/-r studieren. Bei der Auswahl spielte die soziale Herkunft und die politische Einstellung eine große Rolle. Die Hochschulpolitik des SED-Regimes verfolgte das Ziel, parteiloyale Bürger/-innen auszubilden und die junge Generation zu disziplinieren.
Mehr dazu: Interner Link: Studieren in der DDR (bpb.de)
Ungarn
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Viele Ostdeutsche sind von der Interner Link: DDR nach Ungarn gereist, um von dort aus in den Westen zu fliehen. Im Mai 1989 begann Ungarn, die Grenzanlage zu Österreich abzubauen. Am 10. September 1989 wurde die Grenze zum Westen für die DDR-Flüchtlinge halbständig geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: Ungarn (jugendopposition.de)
Vogel, Wolfgang
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Wolfgang Vogel war ein Rechtsanwalt in der Interner Link: DDR, der auf das Freikaufen von Häftlingen und den Austausch von Agenten spezialisiert war. Er soll an der Freilassung von 150 Agenten aus dem DDR-Gewahrsam, der Ausreise von ca. 250.000 DDR-Bürger/-innen und dem Freikaufen von mehr als 30.000 Häftlingen beteiligt gewesen sein.
Mehr dazu: Externer Link: Wolfgang Vogel (jugendopposition.de)
Volkskammer
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer war das Parlament der Interner Link: DDR. Faktisch hatte die Volkskammer bis zur Friedlichen Revolution kein politisches Gewicht. Auf administrativer Ebene standen ihr die politisch wichtigeren Gremien (Ministerrat, Interner Link: Staatsrat und Nationaler Verteidigungsrat) gegenüber.
Mehr dazu: Externer Link: Volkskammer (jugendopposition.de)
Volkspolizei (VP)
Die Volkspolizei (Vopo) wurde im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Sie bestand bis zum Ende der Interner Link: DDR.
Mehr dazu: Externer Link: Volkspolizei (jugendopposition.de)
Wahlbetrug
Am 7. Mai 1989 fanden in der Interner Link: DDR die Kommunalwahlen statt. Bei dieser Wahl stand nur die Interner Link: Nationale Front zur Auswahl – also der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen. Unabhängige Wahlbeobachter/-innen aus der Bevölkerung konnten bei der Stimmenauswertung deutlich mehr Nein-Stimmen zählen, als am späten Abend des 7. Mai 1989 öffentlich bekannt gegeben wurden.
Mehr dazu: Interner Link: Wahlbetrug (bpb.de)
Westfernsehen
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Das Schauen von Sendungen des Westfernsehens war in der Interner Link: DDR nicht gesetzlich verboten und wurde geduldet. Durch das Errichten von Antennen- und Kabelgemeinschaften wurde der Empfang von Westprogrammen in den 1980er Jahren verbessert.
Mehr dazu: Interner Link: Westfernsehen (bpb.de)
Einkaufen in der DDR
Einkaufen ging man in der Interner Link: DDR z.B. in der "HO" (Handelsorganisation) oder im "Konsum". Waren des täglichen Grundbedarfs gab es dort besonders günstig zu kaufen, weil sie staatlich subventioniert wurden. Allerdings kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, vor allem bei technischen Geräten oder Importwaren wie Orangen oder Kaffee. Die Versorgungslage war regional stark unterschiedlich. Wer über D-Mark verfügte, konnte in sogenannten Intershops einkaufen, die ein breites Angebot an westlichen Waren anboten.
Mehr Informationen dazu: Konsum (Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit) (bpb.de)
Datsche
Als Datsche bezeichnet man kleine Gartenhäuser, die oft in Kleingartenanlagen zu finden sind. In der Interner Link: DDR dienten sie vielen als Rückzugsort vom Leben im Wohnblock. Viele bauten in den Gärten ihrer Datschen Obst und Gemüse an, das zum Eigenbedarf verbraucht oder an staatliche Annahmestellen verkauft wurde.
Biermann, Wolf
Wolf Biermann (*1936 in Hamburg) ist ein Liedermacher und Schriftsteller. 1953 siedelte er in die Interner Link: DDR über. Er geriet wegen seiner Werke immer mehr mit der DDR-Führung in Konflikt, die ihm ab 1965 ein Auftrittsverbot und Berufsverbot erteilte. Während einer Konzertreise 1976 in der Bundesrepublik Deutschland entzog die DDR-Führung Biermann die Staatsbürgerschaft. Biermann musste daraufhin in Westdeutschland bleiben.
Mehr dazu: Externer Link: Wolf Biermann (jugendopposition.de)
Subbotnik
Vom russischen Wort "Subbota" (Samstag) abgeleitetes Wort für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Die Nichtteilnahme galt als unkollegiale und negative Einstellung zum sozialistischen Staat.
Wohnungspolitik
Die Wohnungsvergabe wurde in der Interner Link: DDR vom Staat geregelt. Um den Wohnraummangel zu bekämpfen, wurde 1973 ein Wohnungsbauprogramm beschlossen. Es wurden große Plattenbausiedlungen errichtet, die für viele Menschen Platz boten. Wollte man in eine der begehrten Neubauwohnungen umziehen, musste man einen Antrag stellen und oft mehrere Jahre warten.
Pankow (Rockband)
Die Rockband Pankow wurde 1981 gegründet. Aufgrund ihrer provokanten Texte und Auftritte geriet sie immer wieder mit der Interner Link: DDR-Führung in Konflikt. Die Musiker von Pankow gehörten im September 1989 zu den Unterzeichnern der "Resolution von Rockmusikern und Liedermachern", die Reformen in der DDR forderten.
Wahlen
Am 15. Oktober 1950 fanden in der DDR erstmals Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen statt. Zur Abstimmung stand eine Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front. Entweder stimmte der Wähler / die Wählerin der gesamten Liste zu, oder er/sie lehnte sie ab. Es war nicht möglich, einzelne Abgeordnete zu wählen. Mehr dazu: Externer Link: Keine Wahl (jugendopposition.de)
Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Demnach hat jeder Mensch das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild öffentlich zu äußern. Niemand darf – sofern er nicht gegen geltendes Recht verstößt – aufgrund seiner Meinung verfolgt werden. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 garantierten dieses Grundrecht formal ebenfalls. In der Praxis wurden aber nicht nur kritische öffentliche Äußerungen, sondern auch private strafrechtlich verfolgt. Mehr dazu: Externer Link: Recht auf freie Meinungsäußerung (jugendopposition.de)
Braunkohle
Braunkohle war der wichtigste Energieträger in der Interner Link: DDR. Für die intensive Nutzung wurden seit 1949 mehr als 80.000 Menschen umgesiedelt und zahlreiche Dörfer abgebaggert. 1985 stammten rund 30 Prozent der weltweiten Braunkohle-Produktion aus der DDR. Der Tagebau schaffte viele Arbeitsplätze, führte aber gleichzeitig zu einer hohen Luftverschmutzung, besonders in industriellen Zentren wie Leipzig.
Autos in der DDR
In der DDR waren viele Konsumgüter, etwa Kleidung oder technische Waren, sehr teuer und knapp. Für den Kauf eines Autos musste man beim IFA-Autohandel den Kauf eines PKW beantragen – und dann oft zehn, manchmal auch über 15 Jahre warten. Neben den DDR-Fabrikaten "Trabant" und "Wartburg" wurden auch Importwagen vertrieben, zum Beispiel von Skoda oder Lada.
Bildung in der DDR
Das Bildungssystem der DDR hatte neben der Wissensvermittlung auch zum Ziel, junge Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen. Der Zugang zu höherer Bildung sollte nicht von bürgerlichen Privilegien abhängen, sondern auch Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien offen stehen. Eine neue Elite entstand dennoch: Kinder hochrangiger Funktionäre oder Interner Link: SED-naher Eltern wurden z.B. im Bildungssystem bevorzugt. Mehr dazu: Interner Link: Bildung in der DDR (Dossier Bildung) (bpb.de)
Schwarzwohnen
In der DDR standen viele Wohnungen und Häuser – vor allem Altbauten – leer, weil notwendige Renovierungsarbeiten aufgrund zu niedriger Mieteinnahmen, fehlender Fachkräfte oder Materialen nicht durchgeführt werden konnten. Einige Menschen umgingen die staatliche Wohnungszuweisung und nutzten diesen Wohnraum illegal, indem sie dort heimlich einzogen. Mehr dazu: Interner Link: Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis (bpb.de)
Umweltbewegung
Während die SED-Führung die existierenden Umweltprobleme leugnete, formierte sich innerhalb der Kirche eine eigenständige Umweltbewegung. Sie organisierte u.a. Demonstrationen und Baumpflanzaktionen, um die Bürger/-innen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch der Kampf gegen die Atomkraft war ein zentrales Anliegen der Naturschützer/-innen. Mehr dazu: Externer Link: Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung (jugendopposition.de)
Gefängnis Rummelsburg
Zu Zeiten der DDR diente das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg als Haftanstalt der Volkspolizei in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Gefängnis für Männer, in dem auch politische Häftlinge einsaßen. Auch Demonstranten wurden immer wieder in Rummelsburg festgehalten.
Umweltbibliothek
Die Umweltbibliothek wurde im September 1986 im Keller der Ost-Berliner Zionsgemeinde gegründet. Die Mitglieder befassten sich nicht nur mit dem Thema Umwelt , sondern auch mit weltanschaulichen und politischen Fragestellungen. Sie druckten und verbreiteten eine Reihe von oppositionellen Publikationen und systemkritischen Informationsblättern. Mehr dazu: Externer Link: Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek (jugendopposition.de)
Alexanderplatz
Der Alexanderplatz in Ost-Berlin war ein wichtiger Schauplatz für Demonstrationen gegen das SED-Regime. Ab Sommer 1989 wurde er zu einem regelmäßigen Treffpunkt der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration gegen das politische System der DDR statt.
Arnold, Michael
Michael Arnold (*1964 in Meißen) wurde 1987 als Medizinstudent Mitglied der "Initiativgruppe Leben". Er war Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums und organisierte 1988/89 mehrere öffentliche Protestaktionen in Leipzig, weshalb er kurzzeitig inhaftiert und exmatrikuliert wurde. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags. Mehr dazu: Externer Link: Michael Arnold (jugendopposition.de)
Genscher, Hans-Dietrich
Hans-Dietrich Genscher (*1927 in Reideburg bei Halle) war ein deutscher Politiker (FDP) und insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister sowie Vizekanzler der BRD. Am 30. September 1989 verkündigte er vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer/-innen. Als Außenminister setzte sich Genscher für die Wiedervereinigung Deutschlands ein.
Junge Welt (Zeitung)
Die Zeitung "Junge Welt" (JW) wurde erstmals am 12. Februar 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben, zunächst wöchentlich, ab März 1950 täglich. Ab dem 12. November 1947 fungierte sie als Organ des Zentralrats der SED-Jugendorganisation FDJ . Mit 1,4 Millionen Exemplaren war sie die Tageszeitung mit der höchsten Auflage in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: Junge Welt (JW) (jugendopposition.de)
Neues Deutschland (Zeitung)
Das "Neue Deutschland" (ND) war eine Tageszeitung und das Zentralorgan der SED. Die Zeitung erschien erstmals am 23. April 1946. Viele Artikel wurden bis Dezember 1989 von sämtlichen anderen Tageszeitungen der DDR aus dem ND übernommen. Mehr dazu: Externer Link: Neues Deutschland (ND) (jugendopposition.de)
Freie Deutsche Jugend (FDJ)
Die FDJ war die Jugendorganisation der SED. Fast alle Schüler/-innen folgten dem parallel zum Schulsystem angelegten Modell der Mitgliedschaft: erst Jungpionier, dann Thälmannpionier, mit 14 folgte der Beitritt zur FDJ. Wer nicht Mitglied war, musste mit Nachteilen rechnen – etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Mehr dazu: Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ) (jugendopposition.de)
Proteste gegen den Wahlbetrug am 7.9.1989
Nach dem Bekanntwerden des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fanden monatliche Proteste auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Am 7. September 1989 brachten die Demonstranten ihre Verärgerung über das SED-Regime mit Trillerpfeifen zum Ausdruck, gemäß dem Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug". Mehr dazu: Externer Link: Proteste gegen den Wahlbetrug (jugendopposition.de)
Umweltpolitik in der DDR
Der Schutz der Natur stand bereits seit 1968 in der Verfassung der DDR. Die fortschreitende Industrialisierung führte jedoch zu massiven ökologischen Problemen, insbesondere in den großen Industriezentren – zum Beispiel durch die Gewinnung von Braunkohle und die Chemie-Industrie. Innerhalb der Kirche formierte sich eine Umweltbewegung, die die Umweltzerstörung in der DDR anprangerte. Mehr dazu: Externer Link: Umweltzerstörung (hdg.de/lemo)
Arbeitsgruppe Umweltschutz
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Umwelt. Mehr dazu: Externer Link: Arbeitsgruppe Umweltschutz (jugendopposition.de)
Westpaket
Als "Westpakete" bezeichnete man Postsendungen, die Leute aus der BRD an Freunde und Verwandte in der DDR schickten. Sie enthielten Geschenke wie Kleidung, Süßigkeiten oder Kaffee. Handelsware oder Geld durfte nicht verschickt werden. Auch Tonträger, Bücher oder Zeitschriften zu verschicken war verboten. Die "Westpakete“ sind zwar bekannter, aber Geschenke wurden auch in die andere Richtung – von Ost nach West – verschickt. Und auch die BRD kontrollierte die Post teilweise. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html
Schundliteratur
Als "Schmutz- und Schundliteratur" galten in der DDR pornografische Inhalte, vermeintliche Kriegsverherrlichung oder Texte, die die DDR oder den Sozialismus verunglimpften. Das heimliche Lesen oder der Schmuggel der verbotenen Literatur wurde teilweise mit Gefängnisstrafen geahndet. Auch in der BRD gab es seit 1953 ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.
Sozialismus
Der Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sind. Der Sozialismus gilt als eine Vorstufe zum Interner Link: Kommunismus. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148315
Kommunismus
Der Kommunismus ist eine politische Weltanschauung, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Grundlegend dafür ist die Abschaffung des privaten Eigentums. Auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte als Vorstufe der Interner Link: Sozialismus verwirklicht werden. Mehr dazu: https://www.bpb.de/161319
Artikel 28
(1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur ungehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet.
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Artikel 29
"Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen."
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Verfassung der DDR
Die Interner Link: DDR hatte während ihres Bestehens drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich eng an die der Weimarer Reichsverfassung an und enthielt umfangreiche Grundrechte. Die Verfassung von 1968 verankerte den Sozialismus als Grundsatz und garantierte weiterhin viele Grundrechte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht und das Verbot einer Pressezensur. Mit den Änderungen von 1974 wurde die Freundschaft zur Sowjetunion betont. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
ML-Ausbildung
Unabhängig vom Interner Link: Studienfach mussten alle Studierenden in der Interner Link: DDR ein "Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" in Interner Link: Marxismus-Leninismus absolvieren. Politische Propaganda und wissenschaftliche Pflichtlektüre wurden miteinander verbunden. Zu Beginn jedes Semesters gab es die sogenannte "Rote Woche", in der Studierende mit Veranstaltungen zum Marxismus-Leninismus politisch indoktriniert werden sollten.
Marxismus-Leninismus
Der "Marxismus-Leninismus" war die Staatsideologie der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Staaten wie der Interner Link: DDR. Im Zentrum stand die Annahme, dass auf den Kapitalismus notwendig der Interner Link: Sozialismus und Interner Link: Kommunismus folgen müssen, um die Arbeiterklasse zu befreien. In der DDR war Interner Link: ML ein verbindliches Interner Link: Studienfach. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148578
Junge Pioniere (JP)
Die JP, eigentlich "Pionierorganisation Ernst Thälmann" war in der Interner Link: DDR die staatliche Massenorganisation für Kinder. Sie diente als ideologische Kaderschmiede, in der Kinder im Sinne der Interner Link: SED erzogen wurden. Fast alle Schüler/-innen gehörten ihr an. Die Pioniere waren unterteilt in die Jungpioniere und Thälmannpioniere. Ab dem 14. Lebensjahr folgte der Beitritt zur Interner Link: FDJ.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Kapitalismus
Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Fabriken, Geld) überproportionale Bedeutung hat. Grundlegend dafür sind der Schutz von Privateigentum sowie ein von staatlichen Eingriffen weitgehend freies Wirtschaftssystem. Der Markt wird demnach durch Angebot und Nachfrage gesteuert.
Mehr dazu: Interner Link: http://m.bpb.de
Neues Forum: Ablehnung des Antrags auf Zulassung
Am 19. September 1989 beantragte das Neue Forum die Zulassung als Vereinigung. Das Interner Link: DDR-Innenministerium lehnte den Antrag zwei Tage später ab und bezeichnete die Bewegung als "staatsfeindliche Plattform". Mit einem Handzettel forderten die Initiatoren (darunter Michael Interner Link: Arnold) die Bevölkerung zur Solidarität auf.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/kathrin2209
AG Umweltschutz
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Interner Link: Umwelt.
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148350
Führer, Christian
Christian Führer (1943-2014) war ein evangelischer Pfarrer und Mitbegründer der Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148050
Moritzbastei
Die Moritzbastei ist eine historische Befestigungsanlage in Interner Link: Leipzig. Zwischen 1974 und 1982 wurde sie in über 150.000 Arbeitsstunden von Studierenden zu einem Studentenklub ausgebaut. In den 1980er Jahren wurde sie von der Interner Link: FDJ betrieben. Auch heute ist sie ein Kulturzentrum.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/m6b
Merkel, Angela
Angela Dorothea Kasner heißt heute Angela Merkel und ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie Physik in Leipzig, bevor sie für ihre Promotion nach Ost-Berlin zog. Sie war aktives Mitglied der Interner Link: FDJ. 1989 trat sie der Partei Interner Link: Demokratischer Aufbruch bei, deren Pressesprecherin sie 1990 wurde.
Mehr zu Angela Merkels Biografie: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/biografie/angela-merkel.html
Leipzig 1989
Leipzig wurde im Herbst 1989 zu einer der wichtigsten Städte für die friedliche Revolution. Hier begannen die Interner Link: Friedensgebete und die Interner Link: Montagsdemonstrationen. Außerdem formierten sich hier Bürgerrechtsbewegungen wie das Interner Link: Neue Forum.
Mehr über wichtige Orte der DDR-Opposition erfährst du hier: Externer Link: www.jugendopposition.de/Orte/
Honecker, Erich
Erich Honecker (1912-1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der Interner Link: SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrats.
Honecker war ab 1930 Mitglied der KPD und leistete Widerstand im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er die Jugendorganisation Interner Link: FDJ auf. Nach der Wiedervereinigung wurden Ermittlungen gegen Honecker aufgenommen, die 1993 eingestellt wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148080
Zuführung
Bei den sogenannten Zuführungen wurden Personen ohne weitere Begründung (und ohne Rechtsgrundlage) festgenommen. Nach einigen Stunden Verhören oder kurzen Belehrungen endeten sie in der Regel mit der Freilassung. Sie konnten aber auch in einer formellen Interner Link: Verhaftung münden.
Mehr dazu: Externer Link: http://www.jugendopposition.de
Politische Haft
Das SED-Regime verfolgte politische Oppositionelle wegen vermeintlicher Widerstandshandlungen, Fluchtversuchen oder Fluchthilfe. Für die DDR-Regierung waren diese Personen Kriminelle, die sich gegen die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung richteten. Schätzungen nach waren etwa 200.000 bis 250.000 Personen in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Tausende Häftlinge wurden zwischen 1963 und 1989 von der Bundesrepublik freigekauft – die Gefangenen durften ausreisen, im Gegenzug erhielt die Interner Link: DDR Warenlieferungen im Wert von mehr als drei Milliarden DM.
Nationalhymne der DDR
Für die Interner Link: DDR wurde 1949 mit "Auferstanden aus Ruinen" eine Nationalhymne geschaffen. Ein Auszug aus der Nationalhymne:
"Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint."
Wegen der Textzeile "Deutschland, einig Vaterland" wurde bei offiziellen Anlässen seit Anfang der 1970er Jahre nur noch deren Melodie gespielt.
Mehr Infos dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-nationalhymne-der-ddr.html
Internationale (Arbeiterlied)
"Die Internationale" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung und nahm in der DDR und anderen sozialistischen Staaten einen wichtigen Platz neben der Interner Link: Nationalhymne ein. Im Refrain heißt es:
"Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Tag der Republik
Am 7. Oktober 1989 wurde mit großen Festumzügen, Aufmärschen und Volksfesten das 40-jährige Bestehen der Interner Link: DDR gefeiert. Staatsgäste aus aller Welt, u.a. Michail Interner Link: Gorbatschow, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die politische Krise im Land wurde ausgeblendet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145459
Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde am 1. Januar 1919 als Zusammenschluss mehrerer linksrevolutionärer Gruppierungen unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründet. 1946 erfolgte in der Sowjetischen Besatzungszone (Interner Link: SBZ) die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur Interner Link: SED. In der Bundesrepublik wurde die KPD 1956 verboten.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148456
Gorbatschow, Michail
Michail Sergejewitsch Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Interner Link: Sowjetunion (KPdSU) und stieß 1985 umfassende politische und wirtschaftliche Interner Link: Reformen an. Gorbatschows Außenpolitik war geprägt von einer Taktik der Abrüstung und Annäherung an den Westen. 1990 stimmte er der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Quelle/Link: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148055/
Glasnost und Perestroika
Unter den Schlagworten "Glasnost" (Öffentlichkeit/Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) leitete Michail Interner Link: Gorbatschow 1985 politische und wirtschaftliche Reformen in der Interner Link: Sowjetunion ein. Die Gesellschaft sollte unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und unter Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion modernisiert werden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148407
Zentralkomitee der SED (ZK)
Das Zentralkomitee war das oberste Gremium der Interner Link: SED. Es wurde auf den SED-Parteitagen gewählt. Die Sekretäre des ZK betreuten etwa 40 verschiedene Abteilungen und konnten auch den Mitgliedern des Ministerrats Befehle erteilen – sie kontrollierten also sowohl die Partei als auch die Regierung. Das ZK wählte auch die oberste Führungsriege der DDR, das Interner Link: Politbüro. Der Erste Sekretär war bis zum Oktober 1989 Interner Link: Erich Honecker. Auf ihn folgte Egon Krenz.
Mehr dazu: Interner Link: http://www.bpb.de/18500/zentralkomitee-zk
Tian’anmen-Massaker
In der Nacht zum 4. Juni 1989 wurden politische und soziale Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian An Men) in Peking von der chinesischen Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen. In der Folge protestierten Menschen weltweit gegen das Massaker. Bis heute ist nicht geklärt, ob mehrere Hundert oder einige Tausend Menschen getötet wurden.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/185616
Ministerrat
Der Ministerrat war formal laut DDR-Verfassung die Regierung der Interner Link: DDR und bestand 1989 aus 39 Mitgliedern (Ministern), die alle der Interner Link: SED angehörten.Die eigentliche Macht hatte in der DDR aber das Interner Link: Politbüro des Interner Link: Zentralkomitees der SED inne, denn die Sekretäre konnten den Ministern Befehle erteilen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148601
Schefke, Siegbert
Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler. Als Journalist und Kameramann dokumentierte er Ende der 1980er Jahre die Umweltzerstörung in der Interner Link: DDR. Im Herbst 1989 lieferte er gemeinsam mit Aram Radomski die ersten Fernsehbilder der Montagsdemonstrationen in Interner Link: Leipzig, die im Anschluss in der Interner Link: Tagesschau übertragen wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148159/
Dietrich, Mike
Mike Dietrich ist ein DJ, Produzent und Musiker aus Leipzig. Ende der 1980er Jahre gründete er in Leipzig das Hiphop-Projekt B-Side the Norm.
Hip-Hop in der DDR
Inspiriert vom amerikanischen HipHop entwickelte sich in der DDR in den 1980er Jahren eine kleine Szene aus Breakdancern, Rappern, Graffitikünstlern und DJs. HipHop war nicht verboten, zum Teil wurde die Jugendkultur aber vom Staat kontrolliert.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145417
Beat Street
Der Film "Beat Street" läuft 1985 in den Kinos der DDR. Für viele Jugendliche in der DDR ist es der Startschuss, sich mit Grafitti und Breakdance zu beschäftigen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/hip-hop-in-der-ddr100.html
Silly (Band)
Die Rockband "Silly" wurde 1978 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Frontfrau, Tamara Danz, war eine der berühmtesten Sängerinnen der DDR. 1985 verboten die DDR-Zensoren das Album "Zwischen unbefahrenen Gleisen", welches später in bereinigter Version erschien. Trotz Zensur versuchte die Band immer wieder, politische Andeutungen in ihren Texten unterzubringen.
Karat (Band)
1975 in Ost-Berlin gegründet, gehörte "Karat" zu den erfolgreichsten Rockbands in der DDR. Ihre Musik bewegte sich zwischen Progressive-Rock, Pop und Schlager. Ihr bekanntestes Lied ist "Über sieben Brücken musst du gehen". Zuerst waren die Texte noch komödiantisch, später wandte sich die Band ernsteren Texten zu. Trotz Vorwürfen, politisch konform zu sein, enthielten einige Songs auch kritische Passagen, z.B. der Song "Albatros" (1979).
Komitee für Unterhaltungskunst
Das 1973 gegründete kulturpolitische Kontrollgremium der DDR-Regierung überwachte die Einhaltung von politischen Richtlinien in der Unterhaltungskunst. Kritische Stimmen wurden unterdrückt, politisch konforme Künstlerinnen und Künstler bevorzugt. Das von der SED eingesetzte Komitee entschied unter anderem, wer zu Veranstaltungen und Tourneen ins westliche Ausland fahren durfte.
Krenz, Egon
Egon Krenz (*1937 in Kolberg/Pommern), ehemaliger SED-Politiker, löste am 18.10.1989 Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und als Vorsitzender des Staatsrates ab. Am 3.12.1989 trat schließlich das gesamte ZK mit Krenz als Generalsekretär zurück. 1995 wurde er wegen der Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.
7./8. Oktober
Zum 40. Jahrestag der Interner Link: DDR demonstrierten Tausende Berliner/innen gegen das Interner Link: SED-Regime. Die Interner Link: Volkspolizei und Spezialeinheiten der Interner Link: Stasi gingen brutal gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten vor. Männer und Frauen wurden verprügelt, LKW transportierten Interner Link: Verhaftete ab, die Volkspolizei setzte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge ein. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zog weitere Demonstrationen und Mahnwachen für die Verhafteten in der ganzen DDR nach sich.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145462
Schabowski, Günter
Günter Schabowski war Interner Link: SED-Funktionär und Mitglied im Interner Link: Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Interner Link: DDR. Am Abend des 9. November 1989 verkündete er im Rahmen einer Pressekonferenz (nicht ganz halbständig) eine neue Ausreise-Regelung für DDR-Bürger/-innen. Daraufhin strömten tausende Ost-Berliner/-innen an die Grenze. Noch in derselben Nacht wurden alle Grenzübergänge geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148156
Masur, Kurt
Kurt Masur (1927-2015) war Dirigent und Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Interner Link: Leipzig. Als einer der Interner Link: Leipziger Sechs veröffentlichte er am 9. Oktober 1989 einen Aufruf zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen.
Stadtfunk Leipzig
Der Leipziger Stadtfunk war ein Netz von Lautsprecheranlagen, die zwischen 1945 und 1998 an öffentlichen Gebäuden und Plätzen in Leipzig installiert waren. Genutzt wurde er vor allem für Propaganda und Information. Am 9. Oktober 1989 wurde der Aufruf der Interner Link: Leipziger Sechs über den Stadtfunk verbreitet. Nach der Wiedervereinigung übernahm Radio Leipzig das Programm.
Leipziger Sechs
Die Leipziger Sechs waren eine Gruppe von sechs Männern, die am 9. Oktober gemeinsam einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Interner Link: Stadtfunk verbreiteten. Darunter waren Kulturschaffende sowie Mitglieder der SED-Bezirksleitung. Sie forderten beide Seiten – Interner Link: Demonstranten und Interner Link: Volkspolizei - zur Besonnenheit auf. Der Aufruf soll maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen friedlich verliefen.
Reformbestrebungen
Im Sommer und Herbst 1989 formierten sich in der DDR zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die das Ziel hatten, demokratische Reformen in der DDR anzustoßen. Sie forderten die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen. Im Rahmen z.B. der Montagsdemonstration versammelten sich die verschiedenen Oppositionsgruppen und verliehen ihren Forderungen Nachdruck.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/295940
Nationaler Verteidigungsrat
Der Nationale Verteidigungsrat (NVR) der Interner Link: DDR wurde im Jahr 1960 gegründet und war das wichtigste Organ für sicherheitspolitische Fragen. Die Personalunion an der Spitze von Interner Link: Politbüro, Interner Link: Staatsrat und Verteidigungsrat hob die theoretische Trennung der Entscheidungsgremien in der Praxis weitgehend auf.
Mehr Infos: Externer Link: https://www.bstu.de/mfs-lexikon
Telefonieren in der DDR
Das Telefonnetz der Interner Link: DDR war schlecht ausgebaut. Nicht einmal 15 Prozent der privaten Haushalte hatten einen Telefonanschluss. Viele nutzten deshalb Telefonzellen oder öffentliche Telefone in den Postämtern. In der Stadt – insbesondere in Ost-Berlin – war es leichter, einen Telefonanschluss zu bekommen. Telefongespräche aus der DDR in die Interner Link: BRD mussten angemeldet werden.
Der Morgen (Zeitung)
"Der Morgen" war eine Tageszeitung in der Interner Link: DDR und das Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (Interner Link: LDPD). Als erste Zeitung der DDR druckte "Der Morgen" 1989 Beiträge und Leserbriefe, die sich kritisch mit dem Interner Link: SED-Regime auseinandersetzten.
Liberal-Demokratische Partei Deutschlands
Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) wurde 1945 gegründet. Ab 1949 war sie in die Nationale Interner Link: Front eingebunden. Zentralorgan der LDPD war die Tageszeitung "Der Interner Link: Morgen".
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148413
Henrich, Rolf
Rolf Henrich ist Jurist und Schriftsteller. Ab 1964 war er Mitglied der Interner Link: SED, setzte sich später aber zunehmend kritisch mit der Partei und dem Interner Link: Sozialismus auseinander. 1989 veröffentlichte er das Buch "Der vormundschaftliche Staat", weshalb er aus dem Anwaltskollegium und der SED ausgeschlossen wurde. Er war Mitbegründer des Interner Link: Neuen Forums und trat 1990 in die SPD ein.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Rausch, Friedhelm
Friedhelm Rausch war von 1986 bis 1989 Präsident der Interner Link: Volkspolizei Berlin und damit unter anderem verantwortlich für die Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober gegen Demonstranten. Beim ersten sogenannten "Sonntagsgespräch" vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, am 29.10.1989, entschuldigte er sich dafür.
Eppelmann, Rainer
Rainer Eppelmann ist ein evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler. Von 1979 bis 1987 organisierte er Interner Link: Bluesmessen in Berlin. Er stand unter permanentem Druck der Interner Link: Stasi. Er war Mitbegründer und später Vorsitzender des Interner Link: DA, Abgeordneter der Interner Link: Volkskammer und später des Deutschen Bundestages. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Bluesmessen
Die Bluesmessen in Berlin wurden von Interner Link: Rainer Eppelmann initiiert und von 1979 bis 1987 in Interner Link: Kirchen veranstaltet. Als Gottesdienste unterlagen sie nicht der staatlichen Anmeldepflicht. Sie entwickelten sich zu wichtigen Orten für oppositionelle Jugendliche in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Aktuelle Kamera
Die abendliche DDR-TV-Nachrichtensendung ist das Sprachrohr der Interner Link: SED. Über was wie berichtet wird, bestimmt die Partei. Mitte Oktober 1989 beginnt die Aktuelle Kamera aber unabhängig und kritisch zu berichten und lässt auch Bürgerrechtler und Demonstrierende zu Wort kommen.
Mehr dazu: Externer Link: www.mdr.de/zeitreise/aktuelle-kamera-nachrichten-im-ddr-fernsehen-100.html
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)
Der FDGB war der Dachverband der Gewerkschaften in der Interner Link: DDR. Wie alle Massenorganisationen in der DDR war auch der FDGB zentralistisch von der Interner Link: Partei aus organisiert. 1989 hatte der FDGB ungefähr 9,5 Millionen Mitglieder.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
National-Demokratische Partei Deutschland (NDPD)
Die NDPD war eine der Interner Link: Blockparteien in der Interner Link: DDR. Sie wurde 1948 mit dem Ziel gegründet, ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP in das staatssozialistische System der DDR zu integrieren Nach 1990 ging die NDPD in die FDP über.
Mehr dazu: Externer Link: www.bpb.de/
Tisch, Harry
Harry Tisch war ein SED-Funktionär mit hohen Rang. Bereits 1963 wurde er Mitglied des Interner Link: ZK und 1975 Mitglied des Interner Link: Politbüros der Interner Link: SED. Von 1975 bis 1989 war er Vorsitzender des Interner Link: FDGB. Im November 1989 trat er als Vorsitzender des FDGB zurück und schied aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aus. Ende des Jahres 1989 wurde er aus der SED und dem FDGB ausgeschlossen.
CDU in der DDR
Die Christlich-Demokratische Union (CDU) wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei gegründet. In der Interner Link: DDR wurde die Ost-CDU zu einer Blockpartei innerhalb der SED-dominierten Interner Link: Nationalen Front.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148367
Transitstrecke
Transitstrecken waren die Straßen, die durch das Gebiet der Interner Link: DDR führten. Neben der Verbindung zwischen der BRD und West-Berlin durfte auch der Transitverkehr nach Polen und Tschechoslowakei nur über diese wenigen Strecken erfolgen.
Berliner Mauer
Die Berliner Mauer war die Sperranlage, die zwischen 1961 und 1989 West- und Ostberlin trennte. Sie war 156,40 km lang und bestand aus mehreren Teilen: zwischen zwei Mauern befanden sich u. a. ein 15 bis 150 Meter breiter "Todesstreifen" und ein Sperrgraben. Zur Bewachung waren Beobachtungstürme und eine Lichttrasse installiert. Mindestens 140 Menschen kamen an der Berliner Mauer oder im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die Mauer wurde zum Symbol für die deutsche Teilung.
Eine Karte und Fotos des Grenzverlaufs: Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/166398
Einreise nach Ost-Berlin
Seit 1972 benötigten BRD-Bürger mit Wohnsitz in Westberlin einen "Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums der DDR", um als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt einzureisen. BRD-Bürger, die nicht in West-Berlin lebten, konnten direkt an den Grenzübergangsstellen ein Tagesvisum beantragen. Mehrtagesaufenthalte waren nur in besonderen Fällen möglich. Für DDR-Bürger (und damit auch Ost-Berliner) gab es kaum eine Möglichkeit, in den Westen zu reisen.
Prenzlauer Berg
Der Prenzlauer Berg in Ostberlin entwickelte sich in den 1970 und 1980er Jahren zu einem Zentrum der oppositionellen Szene, die sich zum Beispiel in Wohnungen oder Kirchengemeinden traf. Als Ort der DDR-Opposition und wegen seiner Nähe zur Interner Link: Mauer zu Westberlin war die Überwachungsdichte der Stasi im Prenzlauer Berg besonders hoch.
Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten im Prenzlauer Berg: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/stasiopposition/
Umweltblätter / Telegraph
Die Informationszeitschrift der Umweltbibliothek erschien seit 1987 alle ein bis zwei Monate und behandelte Themen wie Umweltschutz, Menschen- und Bürgerrechte, die Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. 1989 wurde aus den Umweltblättern der telegraph, in dem über Friedliche Revolution berichtet wurde. Mehr Infos: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145467
Kühn, Fritz
Fritz Kühn war Mitglied der Interner Link: Umweltbibliothek (UB) und betreute dort die Druckmaschinen. In den Kellerräumen der UB druckte er die Dokumentation "Wahlfall", in der erstmals die Fälschung der Interner Link: Kommunalwahlen in der Interner Link: DDR dokumentiert und nachgewiesen werden konnte.
Ihlow, Uta
Die Bibliotheksfacharbeiterin war am Aufbau und der Betreuung der Interner Link: Umweltbibliothek beteiligt, in der unter anderem in der Interner Link: DDR verbotene Literatur gesammelt wurde. Mehr zur Person: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145511
Pressekonferenz
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Am 9. November 1989 verlas Günter Interner Link: Schabowski, Mitglied des Interner Link: Politbüros, um 18 Uhr im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen könnten, antwortete Schabowski vorschnell "Sofort, unverzüglich". Die Regelung sollte eigentlich erst am 10. November in Kraft treten.
Die Pressekonferenz wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Im Laufe des Abends stürmten tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen und forderten die sofortige Öffnung.
Die Pressekonferenz zum Nachschauen: Externer Link: http://kurz.bpb.de/schabowski
Wolf, Christa
Christa Wolf (1929-2011) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie trat 1949 in die Interner Link: SED ein und studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED, schied aber nach einer kritischen Rede aus dem Gremium aus. 1989 trat sie aus der Partei aus und forderte demokratische Reformen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148211
Ventillösung
Nach der Pressekonferenz von Günter Interner Link: Schabowski versammelten sich am 9. November 1989 tausende DDR-Bürger am Grenzübergang Interner Link: Bornholmer Straße, um nach West-Berlin auszureisen. Ab 21:30 Uhr wurden einigen besonders auffälligen DDR-Bürgern die Ausreise gewährt. Ihre Ausweise wurden dabei unbemerkt ungültig gestempelt, um ihnen eine spätere Wiedereinreise zu verwehren.
Brandenburger Tor
Die drei Meter hohe und breite Mauer am Brandenburger Tor sollte die Endgültigkeit der deutschen Teilung symbolisieren. Am Abend des 9. November 1989 wurde sie dagegen zum Symbol für die Überwindung dieser Teilung. In der Nacht und in den folgenden Tagen feierten Tausende Berliner/-innen den Fall der Berliner Mauer.
Grenzposten
Die Berliner Interner Link: Mauer (Gesamtlänge 156, 4 km) bestand im Jahr 1989 aus einem zwischen 15 und mehr als 150 Meter breiten Todesstreifen mit einer zwei bis drei Meter hohen "Hinterlandmauer" oder einem "Hinterlandsperrzaun". An mehreren Kontrollposten waren Grenztruppen stationiert, um die Anlage zu überwachen und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Mauerspechte
Schon kurz nach Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen am Abend des 9. November 1989 begannen Menschen, Teile aus der Berliner Interner Link: Mauer herausklopfen und einzelne Stücke mitzunehmen. Man bezeichnet sie als "Mauerspechte".
Dickel, Friedrich
Friedrich Dickel (1913-1993) war von 1963 bis 1989 Innenminister der Interner Link: DDR und damit auch Chef der Interner Link: Volkspolizei.
Kohl, Helmut
Helmut Kohl (1930-2017) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weil die Wiedervereinigung der Interner Link: BRD und Interner Link: DDR in seine Amtszeit fiel, wird er häufig als "Kanzler der Einheit" bezeichnet.
Brandt, Willy
Willy Brandt (1913-1992) war ein deutscher Politiker (SPD) und von 1969-1974 Bundeskanzler der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland. Mit einer "neuen Ostpolitik" setzte er sich für den Dialog mit den Staaten des sogenannten Ostblocks ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis.
Momper, Walter
Walter Momper (geboren 1945) ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister in Berlin (West) und von 2001 bis 2011 Präsident des Abgeordnetenhauses in Berlin.
Sperrgebiet
Das Sperrgebiet war von 1954 bis 1989 ein etwa 500 Meter breiter Streifen entlang der innerdeutschen Grenze. Die etwa 200.000 Menschen, die in dieser Sperrzone lebten, brauchten Sonderausweise und waren im Alltag enorm eingeschränkt. Andere DDR-Bürger hatten keinen Zutritt. Direkt an der Grenze befand sich der sogenannte "Todesstreifen", der mit Schussanlagen gesichert und vermint war. Offiziell aufgehoben wurden alle Sperrgebiete an der Grenze am 12. November 1989.
Begrüßungsgeld
Schon ab 1970 zahlte die Bundesrepublik Besuchern aus der Interner Link: DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld. Noch in der Nacht zum 10. November 1989 ordnete der West-Berliner Bürgermeister Walter Interner Link: Momper die Auszahlung von 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger durch Banken und Sparkassen an. Die Regelung wurde in den darauffolgenden Tagen in der gesamten Interner Link: Bundesrepublik übernommen.
Oberbaumbrücke
Die Oberbaumbrücke führt über die Spree und verbindet die Berliner Stadtteile Kreuzberg (bis 1990 West-Berlin) und Friedrichshain (bis 1990 Ost-Berlin). Heute beginnt dort die East-Side-Gallery.
Kurfürstendamm
Der Kurfürstendamm, umgangssprachlich auch Ku’damm genannt, gehört zu den Haupteinkaufsstraßen in Berlin. Am 9. und 10. November trafen sich Zehntausende Ost- und West-Berliner auf dem Ku’damm.
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die einzige zentrale Nachrichten- und Fotoagentur der Interner Link: DDR und war für die Bereitstellung der Nachrichten für Presse, Rundfunk und Fernsehen im Inland und für das Ausland zuständig. Gegründet wurde der ADN 1946.
Mehr dazu: Interner Link: Zeitungen in der DDR (bpb.de)
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Wer nicht mehr in der Interner Link: DDR leben wollte, stellte einen "Antrag auf Ausreise aus der DDR" in die Bundesrepublik. Von Mitte der 1970er Jahre bis Oktober 1989 stellten mehrere hunderttausend Menschen einen solchen Ausreiseantrag. Ausreiseanträge wurden als rechtswidrig angesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Ausreiseantrag (jugendopposition.de)
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Der Grenzübergang Bornholmer Straße, auch "Bornholmer Brücke" genannt, verband während der Teilung Berlins die Stadtteile Interner Link: Prenzlauer Berg und Wedding. Am 9. November 1989 war die Bornholmer Brücke der erste Grenzübergang an der Interner Link: Berliner Mauer, an dem gegen 23.30 Uhr die Grenze halbständig geöffnet wurde. Die DDR-Grenzpolizisten gaben dem Druck der Menschenmassen nach.
Interner Link: 9. November, 23 Uhr – Filmaufnahmen von der Bornholmer Straße und dem Brandenburger Tor
Mehr dazu: Externer Link: Bornholmer Brücke (jugendopposition.de)
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ging 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg aus den drei westlichen Besatzungszonen hervor.
Mehr dazu: Teilung Deutschlands (bpb.de)
Die Tschechoslowakei (Abkürzung CSSR) gehörte zu den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Seit dem 1.1.1993 ist sie in die eigenständigen Staaten Tschechien und Slowakei geteilt.
Mehr dazu: Externer Link: CSSR / Tschechoslowakei (jugendopposition.de)
Der Demokratische Aufbruch (DA) entstand im Herbst 1989 als Bürgerbewegung der Interner Link: DDR. Hauptziele der Vereinigung waren zunächst die Reformierung und Demokratisierung des Landes. Im Dezember 1989 formierte sich der DA als Partei und gliederte sich im August 1990 der CDU an.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratischer Aufbruch (jugendopposition.de)
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstand 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone und entwickelte sich zu einer von der Interner Link: Sowjetunion abhängigen Diktatur. Sie umfasste das Gebiet der heutigen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und Ost-Berlin. Am 3. Oktober 1990 treten die neuen Länder der BRD bei (Wiedervereinigung).
Mehr dazu: DDR (bpb.de)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Demokratie Jetzt (DJ) war eine im Herbst 1989 entstehende Bürgerbewegung, deren erklärtes Ziel die Demokratisierung der DDR war. 1991 löste sich DJ auf, um im September mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und Teilen des Interner Link: Neuen Forums die Partei Bündnis 90 zu gründen.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratie Jetzt (jugendopposition.de)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
In der Interner Link: DDR waren Demonstrationen fast immer verboten. 1989 versammelten sich trotzdem immer mehr Unzufriedene und Oppositionelle zu friedlichen Demonstrationen und erhöhten so den Druck auf die DDR-Regierung.
Mehr dazu: Externer Link: Demonstrationen in der ganzen DDR (jugendopposition.de)
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Frank Ebert gehörte zur letzten Generation der Jugendopposition in der Interner Link: DDR, bevor der Staat aufhörte zu existieren. Er war unter anderem an den Protesten gegen den Wahlbetrug beteiligt und bei den Interner Link: Demonstrationen in Ost-Berlin im Oktober 1989 dabei.
Mehr dazu: Externer Link: Frank Ebert (jugendopposition.de)
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Mitglieder der Arbeitsgruppe Friedensdienste und kirchliche Mitarbeiter/-innen luden ab 1982 wöchentlich in die Leipziger Nikolaikirche zu Friedensgebeten ein. Im November 1983 wurde zum ersten Mal nach dem Friedensgebet vor der Interner Link: Kirche gegen die Militarisierung der Gesellschaft demonstriert. Mit der Interner Link: Demonstration im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 begannen die Interner Link: Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten.
Mehr dazu: Externer Link: Friedensgebet in der Nikolaikirche (jugendopposition.de)
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die Kampfgruppen waren paramilitärische Formationen in der Interner Link: DDR, die vor allem zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen vorgesehen waren. Bei einer Großübung der Kampfgruppen in Sachsen Anfang April 1989 wurde der Interner Link: SED-Führung deutlich, dass ihr diese im Ernstfall den Gehorsam verweigern könnten. Dennoch hat die SED ihren Einsatz gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten im Herbst 1989 vorgesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Kampfgruppen (jugendopposition.de)
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die KPdSU war die Kommunistische Partei der Interner Link: Sowjetunion. Die Partei trug diesen Namen zwischen 1952 und 1991, existierte aber bereits seit 1918. Zwischen 1918 und 1991 beherrschte die KPdSU das gesamte gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion.
Mehr dazu: Externer Link: Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) (jugendopposition.de)
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Die Evangelische Kirche bildete in vielerlei Hinsicht die Basis der Oppositionsarbeit in der Interner Link: DDR, da sie die einzige vom Staat unabhängige Organisationsstruktur bot, die landesweit präsent war. In der Revolutionszeit 1989 fungierten Kirchen im ganzen Land als Basislager vieler Interner Link: Demonstrationen.
Mehr dazu: Externer Link: Kirche in der DDR (jugendopposition.de)
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Der Kulturopposition in Ost-Berlin werden jene Künstler/-innen zugerechnet, die jenseits der offiziellen Kulturpolitik der Interner Link: SED versuchten, eine eigene Kulturszene zu etablieren. Sie gerieten damit fast automatisch in Konflikt mit dem politischen System der DDR. Dies förderte ihre Bereitschaft, Kontakt mit der politischen Opposition aufzunehmen.
Mehr dazu: Externer Link: Kulturopposition in Ost-Berlin (jugendopposition.de)
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich Stasi) wurde per Gesetz am 8. Februar 1950 gegründet und war der Geheimdienst der Interner Link: DDR. Die Stasi war zugleich politische Geheimpolizei und für strafrechtliche Untersuchungen gegen von ihr ausgemachte politische Gegnerinnen und Gegner zuständig.
Mehr dazu: Externer Link: Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (jugendopposition.de)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
In Leipzig fanden ab Anfang der 1980er Jahre jeweils montags Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche statt. Am 4. September 1989 gingen anschließend Bürgerrechtler/-innen mit Plakaten vor die Interner Link: Kirche und forderten Interner Link: Reisefreiheit. In den folgenden Wochen vergrößerte sich der Kreis der Teilnehmenden sehr schnell. Am 9. Oktober 1989 Interner Link: demonstrierten ungefähr 70.000 Personen.
Mehr dazu: Externer Link: Montagsdemonstration (jugendopposition.de)
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der Interner Link: DDR. Sie war eine scheindemokratische Einrichtung, mit der die Interner Link: SED versuchte, ihre Vormachtstellung unter dem Deckmantel der demokratischen Struktur zu festigen.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Front (jugendopposition.de)
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die offizielle Armee der Interner Link: DDR wurde am 1. März 1956 gegründet. Durch die "Politische Hauptverwaltung" sicherte sich die Interner Link: SED innerhalb der NVA einen bestimmenden Einfluss auf die Armee. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate, auf Druck der Interner Link: Kirchen gab es ab 1964 die Bausoldaten, die ihren Wehrdienst ohne Waffe in Baueinheiten ableisten konnten.
1990 wurde die NVA aufgelöst, ihre Bestände und Standorte wurden der Bundeswehr übergeben.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Volksarmee (jugendopposition.de)
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Das Neue Forum war die mit Abstand zulaufstärkste Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Sie forderten Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Die Interner Link: DDR-Behörden stuften das Neue Forum als "verfassungsfeindlich" ein.
Mehr dazu: Externer Link: Neues Forum (jugendopposition.de)
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
Die große Zahl an Flüchtlingen aus der Interner Link: DDR machte es für die Interner Link: BRD erforderlich, ein geregeltes Aufnahmeverfahren zu entwickeln. Jeder Flüchtling, sofern er auf staatliche Hilfen angewiesen war und nicht von Freunden oder Familie unterstützt wurde, musste ein im Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 geregeltes Verfahren zur rechtlichen und sozialen Eingliederung durchlaufen.
Mehr dazu: Externer Link: Notaufnahmeverfahren (jugendopposition.de)
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Am 19. August 1989 luden ungarische oppositionelle Gruppen um das Ungarische Demokratische Forum und die Interner Link: Paneuropa-Union zum "Paneuropäischen Picknick" ein – bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dabei sollte ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor symbolisch für einige Stunden geöffnet werden. Dabei gelang etwa 700 Interner Link: DDR-Bürger/-innen die Flucht nach Österreich. Das "Paneuropäische Picknick" steht symbolisch für den Riss im Eisernen Vorhang.
Mehr dazu: Externer Link: Paneuropäisches Picknick (jugendopposition.de)
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Die Paneuropa-Union wurde 1925 durch den Österreicher Richard N. Coudenhove-Kalergi gegründet. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Rolle in der Welt zu stärken. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen.
Mehr dazu: Interner Link: Paneuropa-Union (bpb.de)
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Das Politbüro bezeichnete das Führungsgremium und Herrschaftszentrum der Interner Link: SED und der Interner Link: DDR. An der Spitze stand der Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der SED. Die Aufgabe des Politbüros bestand laut Parteistatut darin, die Arbeit der Partei zwischen den Plenartagungen des ZK zu leiten.
Mehr dazu: Externer Link: Politbüro (jugendopposition.de)
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
Viele Interner Link: DDR-Bürger/-innen suchten im Sommer 1989 Zuflucht in der Botschaft der Interner Link: BRD in Prag und hofften, auf diesem Weg in den Westen ausreisen zu können. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 die Zustimmung zur Ausreise von Tausenden Flüchtlingen, die in Sonderzügen durch die DDR in die BRD gebracht wurden.
Mehr dazu: Externer Link: Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag (hdg.de)
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
In der Interner Link: DDR gab es keine Reisefreiheit. Die Reise in Länder außerhalb des sogenannten Ostblocks gestatteten die Behörden im Regelfall nicht. Das Recht auf Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989.
Mehr dazu: Externer Link: Reisefreiheit (jugendopposition.de)
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Der in West-Berlin beheimatete Sender RIAS unterstand der United States Information Agency und strahlte ab 1946 sein Programm aus. Die Mischung aus Unterhaltung, Musik und Information richtete sich vornehmlich an Interner Link: DDR-Bürger/-innen, die das Programm in der gesamten DDR verfolgen konnten – trotz vielfacher Störaktionen gegen den "Feindsender" (wie die Parteiführung ihn nannte).
Mehr dazu: Externer Link: RIAS (jugendopposition.de)
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sozialistische Einheitspartei (SED) entstand 1946 unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht durch die Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone. Sie war seit der Gründung der Interner Link: DDR am 7. Oktober 1949 bis zur Revolution von 1989 die herrschende Partei.
Mehr dazu: Externer Link: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (jugendopposition.de)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sowjetunion wurde nach dem Ende des russischen Reichs (1917) im Dezember 1922 (Unionsvertrag, erste Verfassung 1924) gegründet und war bis zu ihrem endgültigen Zerfall 1991 das politische Zentrum des sogenannten Ostblocks.
Mehr dazu: Externer Link: Sowjetunion (jugendopposition.de)
In der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatte der Staatsrat die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Er wurde im September 1960 nach dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der Interner Link: DDR, Wilhelm Pieck, gebildet. Erster Staatsratsvorsitzende wurde Walter Ulbricht; 1976 übernahm Erich Honecker dieses höchste staatliche Amt.
Mehr dazu: Externer Link: Staatsrat (jugendopposition.de)
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 vereinbarten die Interner Link: BRD und die Interner Link: DDR, "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander" zu entwickeln. In diesem Vertrag wurde auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in der DDR und der BRD beschlossen. Sie befanden sich in Ost-Berlin und in Bonn.
Mehr dazu: Externer Link: Ständige Vertretungen der BRD und der DDR (hdg.de)
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
In der Interner Link: DDR durfte nicht jede/-r studieren. Bei der Auswahl spielte die soziale Herkunft und die politische Einstellung eine große Rolle. Die Hochschulpolitik des SED-Regimes verfolgte das Ziel, parteiloyale Bürger/-innen auszubilden und die junge Generation zu disziplinieren.
Mehr dazu: Interner Link: Studieren in der DDR (bpb.de)
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Viele Ostdeutsche sind von der Interner Link: DDR nach Ungarn gereist, um von dort aus in den Westen zu fliehen. Im Mai 1989 begann Ungarn, die Grenzanlage zu Österreich abzubauen. Am 10. September 1989 wurde die Grenze zum Westen für die DDR-Flüchtlinge halbständig geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: Ungarn (jugendopposition.de)
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Wolfgang Vogel war ein Rechtsanwalt in der Interner Link: DDR, der auf das Freikaufen von Häftlingen und den Austausch von Agenten spezialisiert war. Er soll an der Freilassung von 150 Agenten aus dem DDR-Gewahrsam, der Ausreise von ca. 250.000 DDR-Bürger/-innen und dem Freikaufen von mehr als 30.000 Häftlingen beteiligt gewesen sein.
Mehr dazu: Externer Link: Wolfgang Vogel (jugendopposition.de)
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer war das Parlament der Interner Link: DDR. Faktisch hatte die Volkskammer bis zur Friedlichen Revolution kein politisches Gewicht. Auf administrativer Ebene standen ihr die politisch wichtigeren Gremien (Ministerrat, Interner Link: Staatsrat und Nationaler Verteidigungsrat) gegenüber.
Mehr dazu: Externer Link: Volkskammer (jugendopposition.de)
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkspolizei (Vopo) wurde im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Sie bestand bis zum Ende der Interner Link: DDR.
Mehr dazu: Externer Link: Volkspolizei (jugendopposition.de)
Am 7. Mai 1989 fanden in der Interner Link: DDR die Kommunalwahlen statt. Bei dieser Wahl stand nur die Interner Link: Nationale Front zur Auswahl – also der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen. Unabhängige Wahlbeobachter/-innen aus der Bevölkerung konnten bei der Stimmenauswertung deutlich mehr Nein-Stimmen zählen, als am späten Abend des 7. Mai 1989 öffentlich bekannt gegeben wurden.
Mehr dazu: Interner Link: Wahlbetrug (bpb.de)
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Das Schauen von Sendungen des Westfernsehens war in der Interner Link: DDR nicht gesetzlich verboten und wurde geduldet. Durch das Errichten von Antennen- und Kabelgemeinschaften wurde der Empfang von Westprogrammen in den 1980er Jahren verbessert.
Mehr dazu: Interner Link: Westfernsehen (bpb.de)
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Einkaufen ging man in der Interner Link: DDR z.B. in der "HO" (Handelsorganisation) oder im "Konsum". Waren des täglichen Grundbedarfs gab es dort besonders günstig zu kaufen, weil sie staatlich subventioniert wurden. Allerdings kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, vor allem bei technischen Geräten oder Importwaren wie Orangen oder Kaffee. Die Versorgungslage war regional stark unterschiedlich. Wer über D-Mark verfügte, konnte in sogenannten Intershops einkaufen, die ein breites Angebot an westlichen Waren anboten.
Mehr Informationen dazu: Konsum (Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit) (bpb.de)
Als Datsche bezeichnet man kleine Gartenhäuser, die oft in Kleingartenanlagen zu finden sind. In der Interner Link: DDR dienten sie vielen als Rückzugsort vom Leben im Wohnblock. Viele bauten in den Gärten ihrer Datschen Obst und Gemüse an, das zum Eigenbedarf verbraucht oder an staatliche Annahmestellen verkauft wurde.
Wolf Biermann (*1936 in Hamburg) ist ein Liedermacher und Schriftsteller. 1953 siedelte er in die Interner Link: DDR über. Er geriet wegen seiner Werke immer mehr mit der DDR-Führung in Konflikt, die ihm ab 1965 ein Auftrittsverbot und Berufsverbot erteilte. Während einer Konzertreise 1976 in der Bundesrepublik Deutschland entzog die DDR-Führung Biermann die Staatsbürgerschaft. Biermann musste daraufhin in Westdeutschland bleiben.
Mehr dazu: Externer Link: Wolf Biermann (jugendopposition.de)
Vom russischen Wort "Subbota" (Samstag) abgeleitetes Wort für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Die Nichtteilnahme galt als unkollegiale und negative Einstellung zum sozialistischen Staat.
Die Wohnungsvergabe wurde in der Interner Link: DDR vom Staat geregelt. Um den Wohnraummangel zu bekämpfen, wurde 1973 ein Wohnungsbauprogramm beschlossen. Es wurden große Plattenbausiedlungen errichtet, die für viele Menschen Platz boten. Wollte man in eine der begehrten Neubauwohnungen umziehen, musste man einen Antrag stellen und oft mehrere Jahre warten.
Die Rockband Pankow wurde 1981 gegründet. Aufgrund ihrer provokanten Texte und Auftritte geriet sie immer wieder mit der Interner Link: DDR-Führung in Konflikt. Die Musiker von Pankow gehörten im September 1989 zu den Unterzeichnern der "Resolution von Rockmusikern und Liedermachern", die Reformen in der DDR forderten.
Am 15. Oktober 1950 fanden in der DDR erstmals Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen statt. Zur Abstimmung stand eine Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front. Entweder stimmte der Wähler / die Wählerin der gesamten Liste zu, oder er/sie lehnte sie ab. Es war nicht möglich, einzelne Abgeordnete zu wählen. Mehr dazu: Externer Link: Keine Wahl (jugendopposition.de)
Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Demnach hat jeder Mensch das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild öffentlich zu äußern. Niemand darf – sofern er nicht gegen geltendes Recht verstößt – aufgrund seiner Meinung verfolgt werden. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 garantierten dieses Grundrecht formal ebenfalls. In der Praxis wurden aber nicht nur kritische öffentliche Äußerungen, sondern auch private strafrechtlich verfolgt. Mehr dazu: Externer Link: Recht auf freie Meinungsäußerung (jugendopposition.de)
Braunkohle war der wichtigste Energieträger in der Interner Link: DDR. Für die intensive Nutzung wurden seit 1949 mehr als 80.000 Menschen umgesiedelt und zahlreiche Dörfer abgebaggert. 1985 stammten rund 30 Prozent der weltweiten Braunkohle-Produktion aus der DDR. Der Tagebau schaffte viele Arbeitsplätze, führte aber gleichzeitig zu einer hohen Luftverschmutzung, besonders in industriellen Zentren wie Leipzig.
In der DDR waren viele Konsumgüter, etwa Kleidung oder technische Waren, sehr teuer und knapp. Für den Kauf eines Autos musste man beim IFA-Autohandel den Kauf eines PKW beantragen – und dann oft zehn, manchmal auch über 15 Jahre warten. Neben den DDR-Fabrikaten "Trabant" und "Wartburg" wurden auch Importwagen vertrieben, zum Beispiel von Skoda oder Lada.
Das Bildungssystem der DDR hatte neben der Wissensvermittlung auch zum Ziel, junge Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen. Der Zugang zu höherer Bildung sollte nicht von bürgerlichen Privilegien abhängen, sondern auch Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien offen stehen. Eine neue Elite entstand dennoch: Kinder hochrangiger Funktionäre oder Interner Link: SED-naher Eltern wurden z.B. im Bildungssystem bevorzugt. Mehr dazu: Interner Link: Bildung in der DDR (Dossier Bildung) (bpb.de)
In der DDR standen viele Wohnungen und Häuser – vor allem Altbauten – leer, weil notwendige Renovierungsarbeiten aufgrund zu niedriger Mieteinnahmen, fehlender Fachkräfte oder Materialen nicht durchgeführt werden konnten. Einige Menschen umgingen die staatliche Wohnungszuweisung und nutzten diesen Wohnraum illegal, indem sie dort heimlich einzogen. Mehr dazu: Interner Link: Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis (bpb.de)
Während die SED-Führung die existierenden Umweltprobleme leugnete, formierte sich innerhalb der Kirche eine eigenständige Umweltbewegung. Sie organisierte u.a. Demonstrationen und Baumpflanzaktionen, um die Bürger/-innen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch der Kampf gegen die Atomkraft war ein zentrales Anliegen der Naturschützer/-innen. Mehr dazu: Externer Link: Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung (jugendopposition.de)
Zu Zeiten der DDR diente das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg als Haftanstalt der Volkspolizei in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Gefängnis für Männer, in dem auch politische Häftlinge einsaßen. Auch Demonstranten wurden immer wieder in Rummelsburg festgehalten.
Die Umweltbibliothek wurde im September 1986 im Keller der Ost-Berliner Zionsgemeinde gegründet. Die Mitglieder befassten sich nicht nur mit dem Thema Umwelt , sondern auch mit weltanschaulichen und politischen Fragestellungen. Sie druckten und verbreiteten eine Reihe von oppositionellen Publikationen und systemkritischen Informationsblättern. Mehr dazu: Externer Link: Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek (jugendopposition.de)
Der Alexanderplatz in Ost-Berlin war ein wichtiger Schauplatz für Demonstrationen gegen das SED-Regime. Ab Sommer 1989 wurde er zu einem regelmäßigen Treffpunkt der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration gegen das politische System der DDR statt.
Michael Arnold (*1964 in Meißen) wurde 1987 als Medizinstudent Mitglied der "Initiativgruppe Leben". Er war Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums und organisierte 1988/89 mehrere öffentliche Protestaktionen in Leipzig, weshalb er kurzzeitig inhaftiert und exmatrikuliert wurde. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags. Mehr dazu: Externer Link: Michael Arnold (jugendopposition.de)
Hans-Dietrich Genscher (*1927 in Reideburg bei Halle) war ein deutscher Politiker (FDP) und insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister sowie Vizekanzler der BRD. Am 30. September 1989 verkündigte er vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer/-innen. Als Außenminister setzte sich Genscher für die Wiedervereinigung Deutschlands ein.
Die Zeitung "Junge Welt" (JW) wurde erstmals am 12. Februar 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben, zunächst wöchentlich, ab März 1950 täglich. Ab dem 12. November 1947 fungierte sie als Organ des Zentralrats der SED-Jugendorganisation FDJ . Mit 1,4 Millionen Exemplaren war sie die Tageszeitung mit der höchsten Auflage in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: Junge Welt (JW) (jugendopposition.de)
Das "Neue Deutschland" (ND) war eine Tageszeitung und das Zentralorgan der SED. Die Zeitung erschien erstmals am 23. April 1946. Viele Artikel wurden bis Dezember 1989 von sämtlichen anderen Tageszeitungen der DDR aus dem ND übernommen. Mehr dazu: Externer Link: Neues Deutschland (ND) (jugendopposition.de)
Die FDJ war die Jugendorganisation der SED. Fast alle Schüler/-innen folgten dem parallel zum Schulsystem angelegten Modell der Mitgliedschaft: erst Jungpionier, dann Thälmannpionier, mit 14 folgte der Beitritt zur FDJ. Wer nicht Mitglied war, musste mit Nachteilen rechnen – etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Mehr dazu: Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ) (jugendopposition.de)
Nach dem Bekanntwerden des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fanden monatliche Proteste auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Am 7. September 1989 brachten die Demonstranten ihre Verärgerung über das SED-Regime mit Trillerpfeifen zum Ausdruck, gemäß dem Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug". Mehr dazu: Externer Link: Proteste gegen den Wahlbetrug (jugendopposition.de)
Der Schutz der Natur stand bereits seit 1968 in der Verfassung der DDR. Die fortschreitende Industrialisierung führte jedoch zu massiven ökologischen Problemen, insbesondere in den großen Industriezentren – zum Beispiel durch die Gewinnung von Braunkohle und die Chemie-Industrie. Innerhalb der Kirche formierte sich eine Umweltbewegung, die die Umweltzerstörung in der DDR anprangerte. Mehr dazu: Externer Link: Umweltzerstörung (hdg.de/lemo)
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Umwelt. Mehr dazu: Externer Link: Arbeitsgruppe Umweltschutz (jugendopposition.de)
Als "Westpakete" bezeichnete man Postsendungen, die Leute aus der BRD an Freunde und Verwandte in der DDR schickten. Sie enthielten Geschenke wie Kleidung, Süßigkeiten oder Kaffee. Handelsware oder Geld durfte nicht verschickt werden. Auch Tonträger, Bücher oder Zeitschriften zu verschicken war verboten. Die "Westpakete“ sind zwar bekannter, aber Geschenke wurden auch in die andere Richtung – von Ost nach West – verschickt. Und auch die BRD kontrollierte die Post teilweise. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html
Als "Schmutz- und Schundliteratur" galten in der DDR pornografische Inhalte, vermeintliche Kriegsverherrlichung oder Texte, die die DDR oder den Sozialismus verunglimpften. Das heimliche Lesen oder der Schmuggel der verbotenen Literatur wurde teilweise mit Gefängnisstrafen geahndet. Auch in der BRD gab es seit 1953 ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.
Der Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sind. Der Sozialismus gilt als eine Vorstufe zum Interner Link: Kommunismus. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148315
Der Kommunismus ist eine politische Weltanschauung, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Grundlegend dafür ist die Abschaffung des privaten Eigentums. Auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte als Vorstufe der Interner Link: Sozialismus verwirklicht werden. Mehr dazu: https://www.bpb.de/161319
(1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur ungehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet.
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
"Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen."
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Die Interner Link: DDR hatte während ihres Bestehens drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich eng an die der Weimarer Reichsverfassung an und enthielt umfangreiche Grundrechte. Die Verfassung von 1968 verankerte den Sozialismus als Grundsatz und garantierte weiterhin viele Grundrechte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht und das Verbot einer Pressezensur. Mit den Änderungen von 1974 wurde die Freundschaft zur Sowjetunion betont. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Unabhängig vom Interner Link: Studienfach mussten alle Studierenden in der Interner Link: DDR ein "Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" in Interner Link: Marxismus-Leninismus absolvieren. Politische Propaganda und wissenschaftliche Pflichtlektüre wurden miteinander verbunden. Zu Beginn jedes Semesters gab es die sogenannte "Rote Woche", in der Studierende mit Veranstaltungen zum Marxismus-Leninismus politisch indoktriniert werden sollten.
Der "Marxismus-Leninismus" war die Staatsideologie der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Staaten wie der Interner Link: DDR. Im Zentrum stand die Annahme, dass auf den Kapitalismus notwendig der Interner Link: Sozialismus und Interner Link: Kommunismus folgen müssen, um die Arbeiterklasse zu befreien. In der DDR war Interner Link: ML ein verbindliches Interner Link: Studienfach. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148578
Die JP, eigentlich "Pionierorganisation Ernst Thälmann" war in der Interner Link: DDR die staatliche Massenorganisation für Kinder. Sie diente als ideologische Kaderschmiede, in der Kinder im Sinne der Interner Link: SED erzogen wurden. Fast alle Schüler/-innen gehörten ihr an. Die Pioniere waren unterteilt in die Jungpioniere und Thälmannpioniere. Ab dem 14. Lebensjahr folgte der Beitritt zur Interner Link: FDJ.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Fabriken, Geld) überproportionale Bedeutung hat. Grundlegend dafür sind der Schutz von Privateigentum sowie ein von staatlichen Eingriffen weitgehend freies Wirtschaftssystem. Der Markt wird demnach durch Angebot und Nachfrage gesteuert.
Mehr dazu: Interner Link: http://m.bpb.de
Am 19. September 1989 beantragte das Neue Forum die Zulassung als Vereinigung. Das Interner Link: DDR-Innenministerium lehnte den Antrag zwei Tage später ab und bezeichnete die Bewegung als "staatsfeindliche Plattform". Mit einem Handzettel forderten die Initiatoren (darunter Michael Interner Link: Arnold) die Bevölkerung zur Solidarität auf.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/kathrin2209
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Interner Link: Umwelt.
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148350
Christian Führer (1943-2014) war ein evangelischer Pfarrer und Mitbegründer der Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148050
Die Moritzbastei ist eine historische Befestigungsanlage in Interner Link: Leipzig. Zwischen 1974 und 1982 wurde sie in über 150.000 Arbeitsstunden von Studierenden zu einem Studentenklub ausgebaut. In den 1980er Jahren wurde sie von der Interner Link: FDJ betrieben. Auch heute ist sie ein Kulturzentrum.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/m6b
Angela Dorothea Kasner heißt heute Angela Merkel und ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie Physik in Leipzig, bevor sie für ihre Promotion nach Ost-Berlin zog. Sie war aktives Mitglied der Interner Link: FDJ. 1989 trat sie der Partei Interner Link: Demokratischer Aufbruch bei, deren Pressesprecherin sie 1990 wurde.
Mehr zu Angela Merkels Biografie: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/biografie/angela-merkel.html
Leipzig wurde im Herbst 1989 zu einer der wichtigsten Städte für die friedliche Revolution. Hier begannen die Interner Link: Friedensgebete und die Interner Link: Montagsdemonstrationen. Außerdem formierten sich hier Bürgerrechtsbewegungen wie das Interner Link: Neue Forum.
Mehr über wichtige Orte der DDR-Opposition erfährst du hier: Externer Link: www.jugendopposition.de/Orte/
Erich Honecker (1912-1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der Interner Link: SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrats.
Honecker war ab 1930 Mitglied der KPD und leistete Widerstand im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er die Jugendorganisation Interner Link: FDJ auf. Nach der Wiedervereinigung wurden Ermittlungen gegen Honecker aufgenommen, die 1993 eingestellt wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148080
Bei den sogenannten Zuführungen wurden Personen ohne weitere Begründung (und ohne Rechtsgrundlage) festgenommen. Nach einigen Stunden Verhören oder kurzen Belehrungen endeten sie in der Regel mit der Freilassung. Sie konnten aber auch in einer formellen Interner Link: Verhaftung münden.
Mehr dazu: Externer Link: http://www.jugendopposition.de
Das SED-Regime verfolgte politische Oppositionelle wegen vermeintlicher Widerstandshandlungen, Fluchtversuchen oder Fluchthilfe. Für die DDR-Regierung waren diese Personen Kriminelle, die sich gegen die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung richteten. Schätzungen nach waren etwa 200.000 bis 250.000 Personen in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Tausende Häftlinge wurden zwischen 1963 und 1989 von der Bundesrepublik freigekauft – die Gefangenen durften ausreisen, im Gegenzug erhielt die Interner Link: DDR Warenlieferungen im Wert von mehr als drei Milliarden DM.
Für die Interner Link: DDR wurde 1949 mit "Auferstanden aus Ruinen" eine Nationalhymne geschaffen. Ein Auszug aus der Nationalhymne:
"Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint."
Wegen der Textzeile "Deutschland, einig Vaterland" wurde bei offiziellen Anlässen seit Anfang der 1970er Jahre nur noch deren Melodie gespielt.
Mehr Infos dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-nationalhymne-der-ddr.html
"Die Internationale" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung und nahm in der DDR und anderen sozialistischen Staaten einen wichtigen Platz neben der Interner Link: Nationalhymne ein. Im Refrain heißt es:
"Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Am 7. Oktober 1989 wurde mit großen Festumzügen, Aufmärschen und Volksfesten das 40-jährige Bestehen der Interner Link: DDR gefeiert. Staatsgäste aus aller Welt, u.a. Michail Interner Link: Gorbatschow, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die politische Krise im Land wurde ausgeblendet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145459
Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde am 1. Januar 1919 als Zusammenschluss mehrerer linksrevolutionärer Gruppierungen unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründet. 1946 erfolgte in der Sowjetischen Besatzungszone (Interner Link: SBZ) die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur Interner Link: SED. In der Bundesrepublik wurde die KPD 1956 verboten.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148456
Michail Sergejewitsch Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Interner Link: Sowjetunion (KPdSU) und stieß 1985 umfassende politische und wirtschaftliche Interner Link: Reformen an. Gorbatschows Außenpolitik war geprägt von einer Taktik der Abrüstung und Annäherung an den Westen. 1990 stimmte er der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Quelle/Link: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148055/
Unter den Schlagworten "Glasnost" (Öffentlichkeit/Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) leitete Michail Interner Link: Gorbatschow 1985 politische und wirtschaftliche Reformen in der Interner Link: Sowjetunion ein. Die Gesellschaft sollte unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und unter Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion modernisiert werden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148407
Das Zentralkomitee war das oberste Gremium der Interner Link: SED. Es wurde auf den SED-Parteitagen gewählt. Die Sekretäre des ZK betreuten etwa 40 verschiedene Abteilungen und konnten auch den Mitgliedern des Ministerrats Befehle erteilen – sie kontrollierten also sowohl die Partei als auch die Regierung. Das ZK wählte auch die oberste Führungsriege der DDR, das Interner Link: Politbüro. Der Erste Sekretär war bis zum Oktober 1989 Interner Link: Erich Honecker. Auf ihn folgte Egon Krenz.
Mehr dazu: Interner Link: http://www.bpb.de/18500/zentralkomitee-zk
In der Nacht zum 4. Juni 1989 wurden politische und soziale Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian An Men) in Peking von der chinesischen Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen. In der Folge protestierten Menschen weltweit gegen das Massaker. Bis heute ist nicht geklärt, ob mehrere Hundert oder einige Tausend Menschen getötet wurden.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/185616
Der Ministerrat war formal laut DDR-Verfassung die Regierung der Interner Link: DDR und bestand 1989 aus 39 Mitgliedern (Ministern), die alle der Interner Link: SED angehörten.Die eigentliche Macht hatte in der DDR aber das Interner Link: Politbüro des Interner Link: Zentralkomitees der SED inne, denn die Sekretäre konnten den Ministern Befehle erteilen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148601
Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler. Als Journalist und Kameramann dokumentierte er Ende der 1980er Jahre die Umweltzerstörung in der Interner Link: DDR. Im Herbst 1989 lieferte er gemeinsam mit Aram Radomski die ersten Fernsehbilder der Montagsdemonstrationen in Interner Link: Leipzig, die im Anschluss in der Interner Link: Tagesschau übertragen wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148159/
Mike Dietrich ist ein DJ, Produzent und Musiker aus Leipzig. Ende der 1980er Jahre gründete er in Leipzig das Hiphop-Projekt B-Side the Norm.
Inspiriert vom amerikanischen HipHop entwickelte sich in der DDR in den 1980er Jahren eine kleine Szene aus Breakdancern, Rappern, Graffitikünstlern und DJs. HipHop war nicht verboten, zum Teil wurde die Jugendkultur aber vom Staat kontrolliert.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145417
Der Film "Beat Street" läuft 1985 in den Kinos der DDR. Für viele Jugendliche in der DDR ist es der Startschuss, sich mit Grafitti und Breakdance zu beschäftigen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/hip-hop-in-der-ddr100.html
Die Rockband "Silly" wurde 1978 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Frontfrau, Tamara Danz, war eine der berühmtesten Sängerinnen der DDR. 1985 verboten die DDR-Zensoren das Album "Zwischen unbefahrenen Gleisen", welches später in bereinigter Version erschien. Trotz Zensur versuchte die Band immer wieder, politische Andeutungen in ihren Texten unterzubringen.
1975 in Ost-Berlin gegründet, gehörte "Karat" zu den erfolgreichsten Rockbands in der DDR. Ihre Musik bewegte sich zwischen Progressive-Rock, Pop und Schlager. Ihr bekanntestes Lied ist "Über sieben Brücken musst du gehen". Zuerst waren die Texte noch komödiantisch, später wandte sich die Band ernsteren Texten zu. Trotz Vorwürfen, politisch konform zu sein, enthielten einige Songs auch kritische Passagen, z.B. der Song "Albatros" (1979).
Das 1973 gegründete kulturpolitische Kontrollgremium der DDR-Regierung überwachte die Einhaltung von politischen Richtlinien in der Unterhaltungskunst. Kritische Stimmen wurden unterdrückt, politisch konforme Künstlerinnen und Künstler bevorzugt. Das von der SED eingesetzte Komitee entschied unter anderem, wer zu Veranstaltungen und Tourneen ins westliche Ausland fahren durfte.
Egon Krenz (*1937 in Kolberg/Pommern), ehemaliger SED-Politiker, löste am 18.10.1989 Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und als Vorsitzender des Staatsrates ab. Am 3.12.1989 trat schließlich das gesamte ZK mit Krenz als Generalsekretär zurück. 1995 wurde er wegen der Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.
Zum 40. Jahrestag der Interner Link: DDR demonstrierten Tausende Berliner/innen gegen das Interner Link: SED-Regime. Die Interner Link: Volkspolizei und Spezialeinheiten der Interner Link: Stasi gingen brutal gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten vor. Männer und Frauen wurden verprügelt, LKW transportierten Interner Link: Verhaftete ab, die Volkspolizei setzte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge ein. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zog weitere Demonstrationen und Mahnwachen für die Verhafteten in der ganzen DDR nach sich.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145462
Günter Schabowski war Interner Link: SED-Funktionär und Mitglied im Interner Link: Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Interner Link: DDR. Am Abend des 9. November 1989 verkündete er im Rahmen einer Pressekonferenz (nicht ganz halbständig) eine neue Ausreise-Regelung für DDR-Bürger/-innen. Daraufhin strömten tausende Ost-Berliner/-innen an die Grenze. Noch in derselben Nacht wurden alle Grenzübergänge geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148156
Kurt Masur (1927-2015) war Dirigent und Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Interner Link: Leipzig. Als einer der Interner Link: Leipziger Sechs veröffentlichte er am 9. Oktober 1989 einen Aufruf zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen.
Der Leipziger Stadtfunk war ein Netz von Lautsprecheranlagen, die zwischen 1945 und 1998 an öffentlichen Gebäuden und Plätzen in Leipzig installiert waren. Genutzt wurde er vor allem für Propaganda und Information. Am 9. Oktober 1989 wurde der Aufruf der Interner Link: Leipziger Sechs über den Stadtfunk verbreitet. Nach der Wiedervereinigung übernahm Radio Leipzig das Programm.
Die Leipziger Sechs waren eine Gruppe von sechs Männern, die am 9. Oktober gemeinsam einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Interner Link: Stadtfunk verbreiteten. Darunter waren Kulturschaffende sowie Mitglieder der SED-Bezirksleitung. Sie forderten beide Seiten – Interner Link: Demonstranten und Interner Link: Volkspolizei - zur Besonnenheit auf. Der Aufruf soll maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen friedlich verliefen.
Im Sommer und Herbst 1989 formierten sich in der DDR zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die das Ziel hatten, demokratische Reformen in der DDR anzustoßen. Sie forderten die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen. Im Rahmen z.B. der Montagsdemonstration versammelten sich die verschiedenen Oppositionsgruppen und verliehen ihren Forderungen Nachdruck.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/295940
Der Nationale Verteidigungsrat (NVR) der Interner Link: DDR wurde im Jahr 1960 gegründet und war das wichtigste Organ für sicherheitspolitische Fragen. Die Personalunion an der Spitze von Interner Link: Politbüro, Interner Link: Staatsrat und Verteidigungsrat hob die theoretische Trennung der Entscheidungsgremien in der Praxis weitgehend auf.
Mehr Infos: Externer Link: https://www.bstu.de/mfs-lexikon
Das Telefonnetz der Interner Link: DDR war schlecht ausgebaut. Nicht einmal 15 Prozent der privaten Haushalte hatten einen Telefonanschluss. Viele nutzten deshalb Telefonzellen oder öffentliche Telefone in den Postämtern. In der Stadt – insbesondere in Ost-Berlin – war es leichter, einen Telefonanschluss zu bekommen. Telefongespräche aus der DDR in die Interner Link: BRD mussten angemeldet werden.
"Der Morgen" war eine Tageszeitung in der Interner Link: DDR und das Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (Interner Link: LDPD). Als erste Zeitung der DDR druckte "Der Morgen" 1989 Beiträge und Leserbriefe, die sich kritisch mit dem Interner Link: SED-Regime auseinandersetzten.
Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) wurde 1945 gegründet. Ab 1949 war sie in die Nationale Interner Link: Front eingebunden. Zentralorgan der LDPD war die Tageszeitung "Der Interner Link: Morgen".
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148413
Rolf Henrich ist Jurist und Schriftsteller. Ab 1964 war er Mitglied der Interner Link: SED, setzte sich später aber zunehmend kritisch mit der Partei und dem Interner Link: Sozialismus auseinander. 1989 veröffentlichte er das Buch "Der vormundschaftliche Staat", weshalb er aus dem Anwaltskollegium und der SED ausgeschlossen wurde. Er war Mitbegründer des Interner Link: Neuen Forums und trat 1990 in die SPD ein.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Friedhelm Rausch war von 1986 bis 1989 Präsident der Interner Link: Volkspolizei Berlin und damit unter anderem verantwortlich für die Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober gegen Demonstranten. Beim ersten sogenannten "Sonntagsgespräch" vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, am 29.10.1989, entschuldigte er sich dafür.
Rainer Eppelmann ist ein evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler. Von 1979 bis 1987 organisierte er Interner Link: Bluesmessen in Berlin. Er stand unter permanentem Druck der Interner Link: Stasi. Er war Mitbegründer und später Vorsitzender des Interner Link: DA, Abgeordneter der Interner Link: Volkskammer und später des Deutschen Bundestages. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die Bluesmessen in Berlin wurden von Interner Link: Rainer Eppelmann initiiert und von 1979 bis 1987 in Interner Link: Kirchen veranstaltet. Als Gottesdienste unterlagen sie nicht der staatlichen Anmeldepflicht. Sie entwickelten sich zu wichtigen Orten für oppositionelle Jugendliche in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die abendliche DDR-TV-Nachrichtensendung ist das Sprachrohr der Interner Link: SED. Über was wie berichtet wird, bestimmt die Partei. Mitte Oktober 1989 beginnt die Aktuelle Kamera aber unabhängig und kritisch zu berichten und lässt auch Bürgerrechtler und Demonstrierende zu Wort kommen.
Mehr dazu: Externer Link: www.mdr.de/zeitreise/aktuelle-kamera-nachrichten-im-ddr-fernsehen-100.html
Der FDGB war der Dachverband der Gewerkschaften in der Interner Link: DDR. Wie alle Massenorganisationen in der DDR war auch der FDGB zentralistisch von der Interner Link: Partei aus organisiert. 1989 hatte der FDGB ungefähr 9,5 Millionen Mitglieder.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die NDPD war eine der Interner Link: Blockparteien in der Interner Link: DDR. Sie wurde 1948 mit dem Ziel gegründet, ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP in das staatssozialistische System der DDR zu integrieren Nach 1990 ging die NDPD in die FDP über.
Mehr dazu: Externer Link: www.bpb.de/
Harry Tisch war ein SED-Funktionär mit hohen Rang. Bereits 1963 wurde er Mitglied des Interner Link: ZK und 1975 Mitglied des Interner Link: Politbüros der Interner Link: SED. Von 1975 bis 1989 war er Vorsitzender des Interner Link: FDGB. Im November 1989 trat er als Vorsitzender des FDGB zurück und schied aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aus. Ende des Jahres 1989 wurde er aus der SED und dem FDGB ausgeschlossen.
Die Christlich-Demokratische Union (CDU) wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei gegründet. In der Interner Link: DDR wurde die Ost-CDU zu einer Blockpartei innerhalb der SED-dominierten Interner Link: Nationalen Front.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148367
Transitstrecken waren die Straßen, die durch das Gebiet der Interner Link: DDR führten. Neben der Verbindung zwischen der BRD und West-Berlin durfte auch der Transitverkehr nach Polen und Tschechoslowakei nur über diese wenigen Strecken erfolgen.
Die Berliner Mauer war die Sperranlage, die zwischen 1961 und 1989 West- und Ostberlin trennte. Sie war 156,40 km lang und bestand aus mehreren Teilen: zwischen zwei Mauern befanden sich u. a. ein 15 bis 150 Meter breiter "Todesstreifen" und ein Sperrgraben. Zur Bewachung waren Beobachtungstürme und eine Lichttrasse installiert. Mindestens 140 Menschen kamen an der Berliner Mauer oder im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die Mauer wurde zum Symbol für die deutsche Teilung.
Eine Karte und Fotos des Grenzverlaufs: Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/166398
Seit 1972 benötigten BRD-Bürger mit Wohnsitz in Westberlin einen "Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums der DDR", um als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt einzureisen. BRD-Bürger, die nicht in West-Berlin lebten, konnten direkt an den Grenzübergangsstellen ein Tagesvisum beantragen. Mehrtagesaufenthalte waren nur in besonderen Fällen möglich. Für DDR-Bürger (und damit auch Ost-Berliner) gab es kaum eine Möglichkeit, in den Westen zu reisen.
Der Prenzlauer Berg in Ostberlin entwickelte sich in den 1970 und 1980er Jahren zu einem Zentrum der oppositionellen Szene, die sich zum Beispiel in Wohnungen oder Kirchengemeinden traf. Als Ort der DDR-Opposition und wegen seiner Nähe zur Interner Link: Mauer zu Westberlin war die Überwachungsdichte der Stasi im Prenzlauer Berg besonders hoch.
Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten im Prenzlauer Berg: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/stasiopposition/
Die Informationszeitschrift der Umweltbibliothek erschien seit 1987 alle ein bis zwei Monate und behandelte Themen wie Umweltschutz, Menschen- und Bürgerrechte, die Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. 1989 wurde aus den Umweltblättern der telegraph, in dem über Friedliche Revolution berichtet wurde. Mehr Infos: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145467
Fritz Kühn war Mitglied der Interner Link: Umweltbibliothek (UB) und betreute dort die Druckmaschinen. In den Kellerräumen der UB druckte er die Dokumentation "Wahlfall", in der erstmals die Fälschung der Interner Link: Kommunalwahlen in der Interner Link: DDR dokumentiert und nachgewiesen werden konnte.
Die Bibliotheksfacharbeiterin war am Aufbau und der Betreuung der Interner Link: Umweltbibliothek beteiligt, in der unter anderem in der Interner Link: DDR verbotene Literatur gesammelt wurde. Mehr zur Person: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145511
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Am 9. November 1989 verlas Günter Interner Link: Schabowski, Mitglied des Interner Link: Politbüros, um 18 Uhr im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen könnten, antwortete Schabowski vorschnell "Sofort, unverzüglich". Die Regelung sollte eigentlich erst am 10. November in Kraft treten.
Die Pressekonferenz wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Im Laufe des Abends stürmten tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen und forderten die sofortige Öffnung.
Die Pressekonferenz zum Nachschauen: Externer Link: http://kurz.bpb.de/schabowski
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Christa Wolf (1929-2011) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie trat 1949 in die Interner Link: SED ein und studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED, schied aber nach einer kritischen Rede aus dem Gremium aus. 1989 trat sie aus der Partei aus und forderte demokratische Reformen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148211
Nach der Pressekonferenz von Günter Interner Link: Schabowski versammelten sich am 9. November 1989 tausende DDR-Bürger am Grenzübergang Interner Link: Bornholmer Straße, um nach West-Berlin auszureisen. Ab 21:30 Uhr wurden einigen besonders auffälligen DDR-Bürgern die Ausreise gewährt. Ihre Ausweise wurden dabei unbemerkt ungültig gestempelt, um ihnen eine spätere Wiedereinreise zu verwehren.
Die drei Meter hohe und breite Mauer am Brandenburger Tor sollte die Endgültigkeit der deutschen Teilung symbolisieren. Am Abend des 9. November 1989 wurde sie dagegen zum Symbol für die Überwindung dieser Teilung. In der Nacht und in den folgenden Tagen feierten Tausende Berliner/-innen den Fall der Berliner Mauer.
Die Berliner Interner Link: Mauer (Gesamtlänge 156, 4 km) bestand im Jahr 1989 aus einem zwischen 15 und mehr als 150 Meter breiten Todesstreifen mit einer zwei bis drei Meter hohen "Hinterlandmauer" oder einem "Hinterlandsperrzaun". An mehreren Kontrollposten waren Grenztruppen stationiert, um die Anlage zu überwachen und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Schon kurz nach Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen am Abend des 9. November 1989 begannen Menschen, Teile aus der Berliner Interner Link: Mauer herausklopfen und einzelne Stücke mitzunehmen. Man bezeichnet sie als "Mauerspechte".
Friedrich Dickel (1913-1993) war von 1963 bis 1989 Innenminister der Interner Link: DDR und damit auch Chef der Interner Link: Volkspolizei.
Helmut Kohl (1930-2017) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weil die Wiedervereinigung der Interner Link: BRD und Interner Link: DDR in seine Amtszeit fiel, wird er häufig als "Kanzler der Einheit" bezeichnet.
Willy Brandt (1913-1992) war ein deutscher Politiker (SPD) und von 1969-1974 Bundeskanzler der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland. Mit einer "neuen Ostpolitik" setzte er sich für den Dialog mit den Staaten des sogenannten Ostblocks ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis.
Walter Momper (geboren 1945) ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister in Berlin (West) und von 2001 bis 2011 Präsident des Abgeordnetenhauses in Berlin.
Das Sperrgebiet war von 1954 bis 1989 ein etwa 500 Meter breiter Streifen entlang der innerdeutschen Grenze. Die etwa 200.000 Menschen, die in dieser Sperrzone lebten, brauchten Sonderausweise und waren im Alltag enorm eingeschränkt. Andere DDR-Bürger hatten keinen Zutritt. Direkt an der Grenze befand sich der sogenannte "Todesstreifen", der mit Schussanlagen gesichert und vermint war. Offiziell aufgehoben wurden alle Sperrgebiete an der Grenze am 12. November 1989.
Schon ab 1970 zahlte die Bundesrepublik Besuchern aus der Interner Link: DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld. Noch in der Nacht zum 10. November 1989 ordnete der West-Berliner Bürgermeister Walter Interner Link: Momper die Auszahlung von 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger durch Banken und Sparkassen an. Die Regelung wurde in den darauffolgenden Tagen in der gesamten Interner Link: Bundesrepublik übernommen.
Die Oberbaumbrücke führt über die Spree und verbindet die Berliner Stadtteile Kreuzberg (bis 1990 West-Berlin) und Friedrichshain (bis 1990 Ost-Berlin). Heute beginnt dort die East-Side-Gallery.
Der Kurfürstendamm, umgangssprachlich auch Ku’damm genannt, gehört zu den Haupteinkaufsstraßen in Berlin. Am 9. und 10. November trafen sich Zehntausende Ost- und West-Berliner auf dem Ku’damm.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-25T00:00:00 | 2019-08-12T00:00:00 | 2022-01-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/mauerfall-und-ich/295115/glossar/ | Von ADN über SED bis Westfernsehen – kurze Erklärungen zu wichtigen Begriffen, Institutionen und Personen in der Geschichte "Der Mauerfall und ich". | [
"Die Mauer und ich",
"Glossar"
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Leistungserbringer – Leistungserbringung – Leistungsinanspruchnahme | Gesundheitspolitik | bpb.de | 1. Professionelle Pflegeeinrichtungen und deren Träger
Der bei weitem größte Teil der Pflegebedürftigen wird zu Hause von Angehörigen oder Nachbarn versorgt („informelle Pflege“). Ungeachtet dessen sind professionelle Pflegeeinrichtungen für die Langzeitpflege unverzichtbar. Vieles spricht dafür, dass ihre Bedeutung in der überschaubaren Zukunft weiter wachsen wird, denn es ist zu erwarten, dass die Schwierigkeiten, die Versorgung durch informelle Pflege sicherzustellen, angesichts des sozialen Wandels wachsen werden. Diese Erwartung gründet sich auf folgende strukturelle Veränderungen (Gerlinger & Rosenbrock 2023):
die wachsende Zahl pflegebedürftiger Menschen bei einem gleichzeitigen Rückgang der Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter; die (weitere) Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, die hohe und vermutlich weiterwachsende Zahl von 1-Personen-Haushalten, die in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Flexibilitätserwartungen in der Arbeitswelt.
Auch vor diesem Hintergrund zählt(e) es zu den wichtigsten Zielen des Pflegeversicherungsgesetzes (PflegeVG), zum Aufbau einer leistungsfähigen (professionellen) Pflegeinfrastruktur beizutragen. In der Tat hat die Einführung der Pflegeversicherung der Entwicklung der professionellen Langzeitpflege und -betreuung einen starken Schub gegeben und die Pflegeinfrastruktur in Deutschland einschneidend verändert (z.B. Roth 2003). Es kam zu einer außerordentlich starken Ausweitung des Angebots sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich, „der zum Teil allerdings auch Züge eines ungelenkten Wildwuchses annahm“ (Gerlinger & Rosenbrock 2023). Das Elfte Sozialgesetzbuch (SGB XI) unterscheidet zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen (§ 71 SGB XI). Demnach sind ambulante Pflegedienste solche Einrichtungen, die „Pflegebedürftige in ihrer Wohnung pflegen und hauswirtschaftlich versorgen“ (§ 71 Abs. 1 SB XI). Stationäre Pflegeeinrichtungen (Pflegeheime) sind „Einrichtungen, in denen Pflegebedürftige gepflegt werden“ und „ganztägig (vollstationär) oder nur tagsüber bzw. nur nachts (teilstationär) untergebracht und verpflegt werden können“ (§ 71 Abs. 2 SB XI).
Ende 2019 waren in Deutschland 14.688 ambulante und 15.380 stationäre Einrichtungen zugelassen. Unter den stationären Einrichtungen gab es – unter Einschluss von Mehrfachangeboten – 11.317 Einrichtungen mit vollstationären Leistungen, 1.336 Einrichtungen mit Leistungen der Kurzzeitpflege und 5.352 Einrichtungen mit teilstationären Leistungen (s. Tabelle 1).
Mit dem Aufschwung der professionellen Langzeitpflege wuchs insbesondere die Zahl der privat getragenen Einrichtungen. Das Angebot an Pflegeeinrichtungen wird aktuell von diesen und von freigemeinnützigen Trägern dominiert (s. Tabelle 2). Mehr als die Hälfte (54,3 %) aller Pflegeeinrichtungen wurde Ende 2019 von privaten, 42,7 Prozent von freigemeinnützigen und lediglich 3,0 Prozent von öffentlichen – zumeist kommunalen – Trägern betrieben (StBA 2020: 23, 33). Dabei sind private Träger unter den ambulanten Pflegediensten besonders weit verbreitet (s. Tabelle 2). Der Anteil der freigemeinnützigen und öffentlichen Einrichtungen an den Pflegeplätzen fällt etwas höher aus als ihr Anteil an den Einrichtungen (StBA 2020: 24, 34). Ende 2019 standen in der knapp 15.400 Pflegeheimen fast 970.000 stationäre Pflegeplätze verfügbar, davon rund 877.000 (90 %) in der vollstationären Dauerpflege (StBA 2020: 14, 35).
2. Beschäftigte und Beschäftigungsverhältnisse
Die professionelle Langzeitpflege hat sich mittlerweile zu einem wichtigen Beschäftigungs- und Wirtschaftszweig entwickelt. In Pflegeeinrichtungen waren 2019 über 1,22 Millionen Personen beschäftigt, fast doppelt so viele wie zwanzig Jahre zuvor (StBA 2020: 25, 37; BMG 2022: 16f.). Ungeachtet der stark gestiegenen Beschäftigtenzahlen existiert in der Langzeitpflege bekanntlich bereits seit vielen Jahren ein eklatanter Fachkräftemangel. Zu den wichtigsten Ursachen zählen die schlechten Arbeitsbedingungen und die geringe Bezahlung (s. Artikel Interner Link: „Aktuelle Probleme“). Teilzeitbeschäftigung spielt in der Langzeitpflege traditionell eine große Rolle: 2019 waren in ambulanten Pflegediensten nur 27,8 Prozent und in Pflegeheimen nur 29,1 Prozent des Personals vollzeitbeschäftigt (StBA 2020: 25, 37). Mehr als die Hälfte des in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen tätigen Personals sind Pflegefachkräfte (StBA 2020: 28, 29, 39). Dies sind solche Personen, die „eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, die Kenntnisse und Fähigkeiten zur selbständigen und eigenverantwortlichen Wahrnehmung der von ihnen ausgeübten Funktion und Tätigkeit vermittelt“ (§ 6 Heimpersonalverordnung – HeimPersV). Altenpflegehelferinnen und -helfer sind demzufolge keine Fachkräfte. Die Heimpersonalverordnung schreibt vor, dass mindestens die Hälfte der in der Betreuung von Pflegebedürftigen eingesetzten Personen Pflegefachkräfte sind (§ 5 Abs. 1 HeimPersV). Dieser Wert wird im Durchschnitt aller Pflegeheime auch knapp überschritten, allerdings nicht in jedem Pflegeheim erreicht. Während die Vorgabe der Heimpersonalverordnung zur Personalausstattung von einigen als Voraussetzung für eine hochwertige Versorgung begrüßt wird, wird sie von anderen, insbesondere von privaten Pflegeheimträgern, mit dem Argument kritisiert, dass sie den Pflegenotstand verschärfe.
3. Leistungsinanspruchnahme
Zu Beginn der 2020er Jahre empfingen insgesamt rund 4,9 Millionen Personen Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und der privaten Pflegepflichtversicherung, wobei fast 95 Prozent in der sozialen Pflegeversicherung registriert waren (BMG 2022: 1). Rund 80 Prozent der Leistungsempfängerinnen und -empfänger wurden zu Hause versorgt, davon wiederum knapp zwei Drittel allein durch Angehörige und rund 30 Prozent durch ambulante Pflegedienste oder in Kooperation mit ihnen. Fast zwei Drittel der Pflegebedürftigen waren Frauen (s. Artikel Interner Link: „Pflegebedürftigkeit als soziales Risiko“). Mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Jahr 2017 (s. Artikel Interner Link: „Die Leistungen der Pflegeversicherung“) hatten die Zahl und der Anteil der ambulant versorgten Leistungsempfängerinnen und -empfänger deutlich zugenommen. In der sozialen Pflegeversicherung erhielten zu Beginn der 2020 Jahr mehr als zwei Drittel aller Leistungsempfängerinnen und -empfänger Leistungen nach Pflegegrad 2 (40,5 %) und Pflegegrad 3 (28,2 %).14,2 Prozent entfielen auf Pflegerad 1. In der privaten Pflegepflichtversicherung fällt der Anteil Leistungsempfängerinnen und -empfänger nach den Pflegegraden 4 und 5 Versicherungszweigs (zusammen 25,2 %) deutlich höher aus als in der sozialen Pflegeversicherung mit 17,1 Prozent (s. Tabelle 3). Dies gilt auch für den Pflegegrad 3 (33,1 % gegenüber 28,2 %). Hingegen erhält in der privaten Pflegeversicherung mit 41,6 Prozent ein deutlich geringerer Teil der Pflegebedürftigen Leistungen gemäß den Pflegegraden 1 und 2 als in der sozialen Pflegeversicherung mit 54,7 Prozent (Tabelle 3). Die Gründe für diese Abweichungen sind nicht abschließend geklärt.
Bei der Entwicklung der Leistungsarten in der sozialen Pflegeversicherung fällt der deutliche Rückgang des Anteils der vollstationär versorgten Personen auf (s. Tabelle 4). Er ist vor allem eine Folge der mit der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs stark gestiegenen Zahl von Leistungsempfängerinnen und -empfängern in den Pflegegraden 1 und 2, die ganz überwiegend ambulant betreut werden.
Bemerkenswert ist aber auch die wachsende Inanspruchnahme der Kombinationsleistungen. Sie lässt sich als Ausdruck des Willens vieler Angehöriger interpretieren, die Pflege trotz schwieriger Rahmenbedingungen, soweit es geht, selbst durchzuführen. Hier dürfte sich auch die Bemühungen des Gesetzgebers niederschlagen, das Leistungsrecht in diesem Sinn zu flexibilisieren und entsprechende Anreize für Angehörige zu schaffen (Gerlinger & Rosenbrock 2023).
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Richtige Antwort: Ambulante Pflegedienste werden überwiegend von privaten Trägern betrieben.
Richtige Antwort: Etwa 80 Prozent der Leistungsempfängerinnen und -empfänger in der Pflegeversicherung werden zu Hause versorgt.
Richtige Antwort: Etwa zwei Drittel der zu Hause versorgten Leistungsempfängerinnen und -empfänger werden allein von Angehörigen oder von Angehörigen in Zusammenarbeit mit Pflegediensten versorgt.
Richtige Antwort: Ambulante Pflegedienste werden überwiegend von privaten Trägern betrieben.
Richtige Antwort: Etwa 80 Prozent der Leistungsempfängerinnen und -empfänger in der Pflegeversicherung werden zu Hause versorgt.
Richtige Antwort: Etwa zwei Drittel der zu Hause versorgten Leistungsempfängerinnen und -empfänger werden allein von Angehörigen oder von Angehörigen in Zusammenarbeit mit Pflegediensten versorgt.
Quellen / Literatur
BMG – Bundesministerium für Gesundheit (2021). Pflegeversicherung – Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung im Jahresdurchschnitt nach Leistungsarten (errechnet aus Leistungstagen). Externer Link: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Statistiken/Pflegeversicherung/Leistungsempfaenger/2020_Leistungsempfaenger-der-sozialen-PV-nach-Leistungsarten_bf.pdf.
BMG – Bundesministerium für Gesundheit (2022). Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung, Stand: April 2022. Externer Link: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Statistiken/Pflegeversicherung/Zahlen_und_Fakten/Zahlen_und_Fakten_Stand_April_2022_bf.pdf.
Gerlinger, Thomas & Rosenbrock, Rolf (2023). Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 4., überarb. u. erw. Aufl., Bern: Hogrefe.
Roth, Günter (2003). Die Entwicklung von Angebot und Nachfrage von Pflegedienstleistungen: Regionale und sektorale Analysen. Sozialer Fortschritt 52(3): 73-79.
StBA – Statistisches Bundesamt (2020). Pflegestatistik 2019. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Publikationen/Downloads-Pflege/pflege-deutschlandergebnisse-5224001199004.pdf?__blob=publicationFile.
BMG – Bundesministerium für Gesundheit (2021). Pflegeversicherung – Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung im Jahresdurchschnitt nach Leistungsarten (errechnet aus Leistungstagen). Externer Link: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Statistiken/Pflegeversicherung/Leistungsempfaenger/2020_Leistungsempfaenger-der-sozialen-PV-nach-Leistungsarten_bf.pdf.
BMG – Bundesministerium für Gesundheit (2022). Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung, Stand: April 2022. Externer Link: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Statistiken/Pflegeversicherung/Zahlen_und_Fakten/Zahlen_und_Fakten_Stand_April_2022_bf.pdf.
Gerlinger, Thomas & Rosenbrock, Rolf (2023). Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 4., überarb. u. erw. Aufl., Bern: Hogrefe.
Roth, Günter (2003). Die Entwicklung von Angebot und Nachfrage von Pflegedienstleistungen: Regionale und sektorale Analysen. Sozialer Fortschritt 52(3): 73-79.
StBA – Statistisches Bundesamt (2020). Pflegestatistik 2019. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Publikationen/Downloads-Pflege/pflege-deutschlandergebnisse-5224001199004.pdf?__blob=publicationFile.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-12-20T00:00:00 | 2022-12-09T00:00:00 | 2022-12-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/516202/leistungserbringer-leistungserbringung-leistungsinanspruchnahme/ | Die meisten Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Ungeachtet dessen sind professionelle Pflegeeinrichtungen für die Langzeitpflege unverzichtbar. | [
"Pflegeeinrichtung",
"informelle Pflege",
"Langzeitpflege",
"Pflegeversicherungsgesetz",
"Pflegeinfrastruktur",
"ambulanter Pflegedienst",
"stationäre Pflege",
"Pflegebedürftige",
"Pflegeheim",
"Fachkräftemangel",
"Altenpflegehelfer",
"Heimpersonalverordnung ",
"Personalausstattung",
"Pflegeheimträger",
"Leistungsinanspruchnahme",
"Pflegegrad",
"Kombinationsleistungen"
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Die Anfänge in den 1950er Jahren | Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West | bpb.de |
Bernhard Wicki und Hansjörg Felmy in 'Unruhige Nacht', 1958 (© picture-alliance, Keystone)
Die Anfänge in den 1950er Jahren in der BRD
Die frühen Fernsehjahre in der Bundesrepublik sind geprägt von einem Nachholbedarf an verpasster Weltliteratur und der noch schwerfälligen Aufnahmetechnik. 1951 begann beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) in Hamburg das Versuchsprogramm des Fernsehens mit Hans Farenburgs Inszenierung vom "Vorspiel auf dem Theater" aus Goethes "Faust". Dies war programmatisch gedacht. Bühnenstücke wurden auch zu den wichtigsten Vorlagen für die Fernsehinszenierungen . Deutsche Klassiker sowie Autoren des 20. Jahrhunderts und der internationalen Moderne von O’Neill bis Sartre dominierten das Fernsehspiel . Aber auch erste Roman-Adaptionen fanden Eingang in das neue Medium. 1955 stand Franz Peter Wirths Fernsehinszenierung von Albert Goes' Novelle "Unruhige Nacht" (SDR) für den Beginn der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg im Fernsehen . Dabei war das Fernsehspiel um einen Deserteur noch moderat in seiner Kritik am Krieg im Vergleich zur Kinoadaption von Falk Harnack drei Jahre später.
Schwerfällige Kameras und fehlende Autoren
Die schwerfälligen elektronischen Kameras beschränkten die Fernsehspielproduktion auf das Studio und zumeist auf ein Kammerspiel-Format, dem das Theater und das Hörspiel die besten Vorlagen boten. Da es noch keine Aufzeichnungsmöglichkeiten gab, fand der Fernsehspielabend live statt.
Dem Fernsehen fehlten anfangs nicht nur die eigenen, speziell für das Fernsehen geschriebenen Stoffe, ihm fehlten auch die Autoren für solche "Originalfernsehspiel" genannten Produktionen. Deshalb versuchten Redakteure einiger Fernsehanstalten (NDR, BR), Literaten der Gruppe 47 zu gewinnen. Fernsehspiele von Walter Jens ("Vergessene Gesichter", 1953) und Wolfgang Hildesheimer ("Begegnung im Balkan-Expreß", 1955; "Nocturno im Grand-Hotel", 1959) sind auf diese Kontakte zurückzuführen.
Erste Fernsehspiel-Aufnahmen mit der Filmkamera
Auf dem Weg zu einer eigenen Ausdrucksweise drängte das Fernsehspiel auch darauf, sich filmischer Produktionsmittel zu bedienen und von der schwerfälligen elektronischen Studiotechnik zu befreien. Denn die Praxis, vorproduzierte Filmszenen über einen Filmabtaster in das laufende Live-Spiel einzubauen, erwies sich als kompliziert und nervenaufreibend, musste doch der Zeitpunkt für die Einbindung der vorab gedrehten Szenen genau getroffen werden. Die Zahl der einzubauenden Filmsequenzen blieb deshalb beim einzelnen Spiel auch begrenzt. Es lag nahe, das Fernsehspiel gänzlich mit der Filmkamera aufzunehmen. Den Anfang machte 1957 die Dürrenmatt-Verfilmung "Der Richter und sein Henker" (SDR).
Debatte um "Besuch aus der Zone"
1958 entstand nach einem Hörspiel von Dieter Meichsner der Fernsehfilm "Besuch aus der Zone" (SDR) unter der Regie von Rainer Wolffhardt: Ein Unternehmer aus der sogenannten "Ostzone" kommt zu Besuch nach Stuttgart, wo ehemalige Mitarbeiter von ihm leben, und entdeckt dort, dass sie ein chemisches Verfahren zur Herstellung von Kunststofffasern, das er entwickelt hat, heimlich im Westen ausbeuten. Er ist empört und zieht es trotz lukrativer Angebote aus dem Westen aus menschlich-moralischen Gründen vor, in die DDR zurückzukehren. Denn er will nicht, dass wegen seines Wegbleibens ("Republikflucht") seine Mitarbeiter in der DDR Repressionen ausgesetzt sind. Der Film zog eine heftige Debatte im Bundestag nach sich: Die CSU warf dem SDR vor, DDR-freundliche Auffassungen zu propagieren.
Bernhard Wicki und Hansjörg Felmy in 'Unruhige Nacht', 1958 (© picture-alliance, Keystone)
Politische Positionen im Fernsehfilm
Der Fernsehfilm hatte damit deutlich gemacht, dass das Fernsehspiel auch politische und weltanschauliche Positionen vermitteln konnte. 1960 erregte eine Inszenierung der Antikriegskomödie "Lysistrata" von Aristophanes (NDR) Aufsehen, weil der Regisseur Fritz Kortner eine Rahmenhandlung ergänzt hatte, die die bundesdeutsche Atomdebatte der 1950er Jahre einbezog und damit den antiken Stoff mit aktuellen Bezügen versah. Der Bayerische Rundfunk schaltete sich aus der Übertragung des im ARD-Gemeinschaftsprogramm "Deutsches Fernsehen" gesendeten Spiels aus, angeblich weil in einer Szene Romy Schneider mit leicht entblößter Brust zu sehen war. Der BR konnte offenbar öffentlich nicht vertreten, dass er wegen der pazifistischen Haltung des Stückes gegen die Ausstrahlung war.
Die Anfänge in den 1950er Jahren in der DDR
Titelbild der Programm-Zeitschrift "Der Rundfunk" (© MVF Magazinverlag/Burda, 1952)
Die erste Fernsehspiel-Szene im ostdeutschen Versuchsfernsehen war wie im Westen ein Klassiker, sie entstammte der Erzählung "Des Vetters Eckfenster" (DFF, 1953) von E.T.A. Hoffmann. Früh wandten sich die DDR-Dramaturgen Gegenwartsstoffen zu ("Die schwarze Liste", DFF, 1954). Auch hier waren die ersten Jahre bestimmt durch die Suche nach fernsehgeeigneten Darstellungsformen und nach einer fernsehgenuinen Dramaturgie.
Hörspiel vs. Filmische Erzählweise
Es standen sich zwei künstlerische Traditionen gegenüber: die eine orientierte sich am Hörspiel, die andere präferierte eine filmische Erzählweise. 1955 entstand "Der Tod von La Morgaine", ein Rennsport-kritisches Stück der Autoren Hans Müncheberg und Wolfgang Luderer (er führte auch Regie). In die Spielszenen im Studio wurden Dokumentarfilm-Passagen einmontiert, was unter den Bedingungen des Live-Spiels eine logistische Herausforderung war. Die Alternativen zu dieser Art von neuen Fernsehspielansätzen waren aus Hörspielen oder Theaterstücken entwickelte Kammerspiele wie "Morgendämmerung" (DFF, 1954) von Hermann Rodigast.
Dilemma der sozialistischen Gegenwartsdramatik
Erwünscht waren Zeitstücke, doch die sozialistische Gegenwartsdramatik befand sich in einem Dilemma: Welche psychologisch glaubwürdigen Konflikte eines Helden ließen sich erzählen in einer Gesellschaft, in der alle antagonistischen Widersprüche aufgehoben sein sollten? Außerdem ließen sich glaubwürdige Geschichten aus der Gegenwart nur schwer in der Form eines theaterhaften Kammerspiels ohne Außenaufnahmen darstellen.
Die 1950er Jahre sind deshalb im Osten wie im Westen durch zahlreiche Experimente und technische Erprobungen gekennzeichnet. Erst in der Praxis der Fernsehspielproduktion entstanden neue Formen und bildeten sich neue Gestaltungsgrundlagen heraus.
Titelbild der Programm-Zeitschrift "Der Rundfunk" (© MVF Magazinverlag/Burda, 1952)
Quellen / Literatur
Interner Link: "Besuch aus der Zone" - Die Bundestagsdebatte Interner Link: Fritz Kortner Interner Link: Hans Müncheberg
Interner Link: "Besuch aus der Zone" - Die Bundestagsdebatte Interner Link: Fritz Kortner Interner Link: Hans Müncheberg
Vgl. Hickethier 1980, S.93.
Vgl. ebd., S.107ff.
Vgl. ebd., S.188f.
Vgl. Hoff 1999.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-04T00:00:00 | 2017-03-14T00:00:00 | 2022-07-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/244617/die-anfaenge-in-den-1950er-jahren/ | Die 1950er Jahre sind im Osten wie im Westen durch Experimente und technische Erprobungen gekennzeichnet. In der Praxis der Fernsehspielproduktion entstanden neue Formen und neue Gestaltungsideen. | [
"Tele-Visionen",
"Fernsehspiel",
"Filmkamera",
"Theater",
"Fernsehsender",
"Bundesrepublik Deutschland",
"DDR"
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Teil 2: Mitmischen im Netz – Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? | Politische Bildung in einer digitalen Welt | bpb.de | Die Unterrichtsvorschläge dieses Kapitels sind gegliedert in zwei Teile. Die Teile bauen aufeinander auf. Sie können separat durchgeführt werden in Lerngruppen mit jeweils passendem Alter bzw. Lernniveau. In höheren Klassenstufen können sie auch miteinander verbunden werden.
In diesem zweiten Teil steht eine Recherche nach Möglichkeiten der Beteiligung und Mitsprache über das Internet im Mittelpunkt. Dabei bewerten die Schülerinnen und Schüler, inwiefern sich digitale Formate für eigene politische Anliegen eignen. Im Interner Link: ersten Teil diskutieren Schülerinnen und Schüler über die Bedeutung von Online-Diensten für ihren Alltag. Dabei entwickeln sie Ideen, wie möglichst vielen Menschen der Zugang zu diesen Diensten ermöglicht werden kann.
Kapitel zum Download
Handreichungen für Lehrerinnen und Lehrer zum Download
Interner Link: Handreichung: Teil 2 : Mitmischen im Netz Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? (odt) Interner Link: Handreichung: Teil 2 : Mitmischen im Netz Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? (pdf)
Arbeitsblätter für Schülerinnen und Schüler zum Download
Interner Link: Arbeitsblatt: Mitmischen im Netz – Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? (odt) Interner Link: Arbeitsblatt: Mitmischen im Netz – Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? (pdf)
Medienkompetenzen
Arbeits- und Suchinteressen klären und festlegen, in verschiedenen digitalen Umgebungen suchen, als selbstbestimmte Bürger/-innen aktiv an der Gesellschaft teilhaben, Inhalte in verschiedenen Formaten bearbeiten, zusammenführen und präsentieren, Vielfalt der digitalen Medienlandschaft kennen, Potenziale der Digitalisierung im Sinne sozialer Integration und sozialer Teilhabe erkennen und reflektieren.
Nach: Kultusministerkonferenz (2017), Kompetenzen in der digitalen Welt
Bezüge zu Fächern und Inhaltsfeldern
Politik & Gesellschaft
Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Bürgern/-innen beschreiben, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, die eigene Position (im öffentlichen Raum) vertreten, die eigene Mitwirkung an politischen Aktionen begründen, die Rolle der Medien im Hinblick auf Mitwirkungsmöglichkeiten in der Demokratie bewerten.
Voraussetzungen
Lernniveau / Altersgruppe: einsetzbar ab Klassenstufe 7/8
Technische Ausstattung:
Mobile Geräte für alle Gruppen / Partner; eigene Geräte nutzbar (BYOD) Präsentationstechnik (Beamer o.Ä.) Internet für alle Gruppen / Partner Optional: (webbasierte) Software für Abstimmungen (z.B. Edkimo, Mentimeter oder Pingo)
Unterrichtsverlauf
Übersicht
EinstiegPlenum, Präsentation, Diskussion Ergebnis: Liste / Mindmap: Möglichkeiten, sich im Netz für die eigenen Anliegen einzusetzen
Materialien: Beispiele für Beteiligung im Netz (Screenshots), Beamer, Whiteboard, Pinnwand o.Ä Lehrkraft stellt Ziel für den Unterricht vor: Möglichkeiten der Beteiligung und Mitsprache über das Internet bzw. mithilfe von Apps herausfinden und ggf. für eigenes Anliegen nutzen. (Mögliche Formulierung: "Wie kann ich mit Apps und im Internet etwas in der ‘realen Welt‘ bewegen und mich für mein Anliegen einsetzen?")
Es bietet sich an, die Fragen am Beispiel eines konkreten Anliegens zu behandeln, das die SuS im eigenen Interesse selbst gern durchsetzen würden. Geeignet sind zum Beispiel Anliegen in der Schule, im direkten Umfeld oder im eigenen Stadtteil (siehe Hinweise zur Arbeitsphase).
Lehrkraft stellt Beispiele für das (politische) Engagement im Netz vor, zum Beispiel Petitionen oder Aktionsaufrufe aus sozialen Netzwerken, Meinungsbeiträge sowie spezielle Beteiligungs-Plattformen (siehe Interner Link: Materialien).
Lehrkraft fordert SuS auf, weitere Beteiligungsmöglichkeiten zu nennen, die sie kennen. Ergänzungen der SuS werden festgehalten (Stichworte, ggf. Screenshots).
Die Beispiele werden im Plenum diskutiert. Fragen bzw. Aufträge: • Benennt das Thema des jeweiligen Beispiels und beschreibt das Ziel, das verfolgt wird. • Bei Aktionsaufrufen in sozialen Netzwerken: Beschreibt, was die Beispiele von anderen Inhalten – z.B. unterhaltenden Beiträgen – der jeweiligen Plattform unterscheidet. • Analysiert, ob - und falls ja, in welcher Form - Gegenmeinungen genannt werden.
Die wichtigsten Möglichkeiten werden für alle sichtbar notiert (Liste oder Mindmap mit Kurzbezeichnungen bzw. Stichworten. Übersicht siehe Materialien sowie Interner Link: Hintergrundtext). Arbeitsphase 1Partner- / Gruppenarbeit Ergebnis: (digitale) Doku
Materialien: Recherchetipps, Fragebogen, Endgeräte für SuS, Netzzugang Lehrkraft nennt Ziel der Arbeitsphase: Verschiedene Beispiele für Möglichkeiten kennenlernen, sich mit Apps und im Internet für bestimmte Anliegen einzusetzen.
SuS führen Online-Recherchen durch.
Die Aufträge für die Arbeitsphase lauten: • Beispiele untersuchen und erste Bewertung notieren. Zur Unterstützung dienen Recherchetipps und ein Fragebogen, siehe Interner Link: Materialien), • Ergebnisse dokumentieren (Screenshots und Kommentare) AustauschPlenum, Präsentation SuS stellen die Ergebnisse der Arbeitsphase 1 im Plenum vor. Arbeitsphase 2Partner- / Gruppenarbeit Ergebnis: (digitale) Skizzen bzw. Mockups
Materialien: Endgeräte für SuS, Netzzugang, ggf. Abstimmungs-Tool Lehrkraft nennt Ziel der Arbeitsphase: Möglichkeiten der Beteiligung im Netz daraufhin bewerten, inwiefern sie sich für eigene Anliegen eignen.
SuS formulieren ein gemeinsames Anliegen. Geeignet sind zum Beispiel konkrete Änderungswünsche in der Schule und in deren Umfeld (z.B. Gestaltung des Schulhofes o.Ä.).
(Möglichkeit zur Differenzierung: Lehrkraft gibt eine Auswahl oder ein bestimmtes Anliegen vor, z.B. sichere Radwege zur Schule schaffen, mehr Klimaschutz an der eigenen Schule, Mitsprache für Jugendliche im Stadtteil, in der Kommunalpolitik etc.)
Ein Anliegen finden: möglicher Ablauf • Brainstorming im Plenum ("Was möchtet ihr ändern/verbessern?") • Abstimmung über die Vorschläge: Welche Anliegen sind der Klasse besonders wichtig? Z.B. mithilfe von Umfrage-Werkzeugen wie Edkimo, Mentimeter oder Externer Link: Pingo.
Rahmenbedingungen für das Anliegen werden geklärt: • Brainstorming zu den Fragen: Wie werden Entscheidungen getroffen, welche Akteure spielen eine Rolle, wer entscheidet? Ergebnisse werden für alle sichtbar festgehalten. • Differenzierung: Lehrkraft nennt Akteure / Entscheidungsträger/-innen.
Die zuvor gesammelten Möglichkeiten der Beteiligung werden in Bezug auf das eigene Anliegen untersucht und bewertet. • SuS bearbeiten in Teams verschiedene Möglichkeiten. • Bei Zuteilung können Wünsche berücksichtigt, einzelne Möglichkeiten auch durch mehrere Teams bearbeitet werden. Es sollten jedoch möglichst viele verschiedene Möglichkeiten untersucht werden.
Die Teams erhalten den Auftrag zu überlegen, inwiefern das jeweilige Format der Beteiligung für das eigene Anliegen genutzt werden könnte. Zur Veranschaulichung der Ergebnisse fertigen sie (digitale) Skizzen bzw. Mockups an. (Hinweise für SuS siehe Interner Link: Materialien) Bewertung / AbschlussPlenum, Präsentation, Diskussion SuS stellen ihre Ergebnisse vor.
Lehrkraft fordert die SuS auf, die Ergebnisse zu diskutieren und die Möglichkeiten der Beteiligung zu bewerten. Mögliche Fragen für die Diskussion: • Arbeitet heraus, welche Voraussetzungen die jeweiligen Formate erfordern. Zum Beispiel: Welche Technik und welche Fähigkeiten sind nötig? • Analysiert die Möglichkeiten, mithilfe der einzelnen Beteiligungsmöglichkeiten etwas zu erreichen. Berücksichtigt dabei, welche Akteure einbezogen werden und welche Rolle sie im Entscheidungsprozess spielen. • Erörtert, welche Faktoren die Chancen auf Erfolg beeinflussen. Was würde sie verbessern, was würde sie ggf. verschlechtern? • Bewertet, welche der Möglichkeiten für unsere eigenen Anliegen besonders erfolgversprechend scheinen. Optional • ggf. anschließendes Projekt: "Konzept für digitale Jugendbeteiligung" für die eigene Stadt vorschlagen (Vereinfacht: Wie sollte die Politik mit Jugendlichen sprechen? z.B. Mockups für Social-Media-Kanäle erstellen oder auch ein alternatives Veranstaltungsformat wie ein Mini-Barcamp organisieren) • Ausführliche Informationen zur Durchführung eines Barcamps und anderer Beteiligungsformate gibt es bspw. in der Broschüre "Curriculum Praxis digitale Jugendbeteiligung" von der Initiative Externer Link: jugend.beteiligen.jetzt.
Materialien
Mitmischen mit Apps & Internet: Welche Möglichkeiten gibt es?
Es gibt viele unterschiedliche Möglichkeiten, sich mit Apps und im Internet in unsere Gesellschaft einzubringen – zum Beispiel über die Beteiligung an Diskussionen über politische Fragen oder an Initiativen, die Veränderungen bewirken sollen.
Zu den Beteiligungsmöglichkeiten zählen unter anderem folgende Formen (siehe Beispiele im letzten Abschnitt):
Teilnahme an Online-Abstimmungen oder -Wahlen, Beteiligung an Bürgerhaushalten über Internet-Plattformen, Teilnahme an digitalen Beteiligungsverfahren und Bürgeranhörungen, Online-Petitionen unterzeichnen oder erstellen, politische Beiträge verfassen, zum Beispiel in sozialen Netzwerken oder Blogs, Teilnahme an politischen Gruppen in sozialen Netzwerken, Politiker/-innen kontaktieren.
Was ist das Besondere an digitalen Beteiligungsformen im Vergleich zu anderen Medien?
Digitale Plattformen wie zum Beispiel soziale Netzwerke ermöglichen im Gegensatz zu Massenmedien wie Fernsehen, Tageszeitungen und Radio den unmittelbaren Austausch vieler Menschen untereinander. Bei sozialen Netzwerken wird ein großer Teil der Inhalte von den Nutzern/-innen selbst erstellt.
Außerdem beeinflussen die Nutzer/-innen, welche Inhalte sich weit verbreiten. Einzelne Beiträge können sehr viele Menschen erreichen, wenn sie von vielen Nutzer/-innen in sozialen Netzwerken geteilt werden. So kann sich fast jeder und jede an Diskussionen beteiligen und eigene Anliegen veröffentlichen.
Formate der Online-Beteiligung: Beispiele
Online-Abstimmungen und -Wahlen
Digitale Wahlen sind technisch möglich. Unter anderem können Vereine Versammlungen online abhalten. Während der Corona-Pandemie führte 2021 erstmalig auch eine Partei, die CDU, einen Online-Parteitag durch. Dabei wurde auch der Parteivorstand gewählt. Digitale Wahlen zum Bundestag oder Länder- und Kommunalparlamenten sind in Deutschland bisher nicht möglich.
Bürgerhaushalte
Beim sogenannten Bürgerhaushalt befragen Städte und Gemeinden ihre Einwohner/-innen dazu, wie öffentliche Gelder verwendet werden sollen. Dazu werden spezielle Online-Plattformen eingesetzt. Meistens dürfen Bürger/-innen Vorschläge machen und darüber abstimmen, welche Ideen sie am besten finden.
Interner Link: Handreichung: Teil 2 : Mitmischen im Netz Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? (odt) Interner Link: Handreichung: Teil 2 : Mitmischen im Netz Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? (pdf)
Interner Link: Arbeitsblatt: Mitmischen im Netz – Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? (odt) Interner Link: Arbeitsblatt: Mitmischen im Netz – Was kann ich mit Apps & Social Media bewegen? (pdf)
Digitalen Beteiligungsverfahren und Bürgeranhörungen
Digitale Plattformen werden oft genutzt, um sogenannte Beteiligungs- oder Anhörungsverfahren durchzuführen. Typisch sind solche Verfahren bei großen Bauprojekten oder bei Projekten der Stadt- oder Regionalentwicklung. Oft werden bestimmte Fragen zur Diskussion gestellt. Die Teilnehmenden können Stellungnahmen abgeben und teilweise online gemeinsam beraten bzw. zusammenarbeiten.
Online-Petitionen
In sozialen Netzwerken werden häufig Aufrufe verbreitet, sich Petitionen anzuschließen. Eine Petition ist eine Beschwerde oder Bitte. Meistens richten sie sich an die Politik, aber auch an Unternehmen. Petitionen ähneln Unterschriftensammlungen. Für digitale Petitionen werden oft spezielle Plattformen wie wechange.org, openPetition oder Avaaz genutzt.
Politische Beiträge und politische Gruppen in sozialen Netzwerken oder Blogs
So selbstverständlich wie alle anderen Themen werden in sozialen Netzwerken auch politische Fragen diskutiert. Alle Funktionen und Möglichkeiten der Apps werden dafür genutzt. Zum Beispiel Likes, Kommentare und Hashtags.
In sozialen Netzwerken stehen die Äußerungen verschiedener Menschen oft gleichberechtigt nebeneinander. Neben "ganz normalen" Nutzern/-innen sind auch viele Politiker/-innen dort aktiv.
Politiker/-innen kontaktieren
Viele Politiker/-innen nutzen digitale Kanäle für den Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern. Einige sind in sozialen Netzwerken präsent und beteiligen sich dort an Diskussionen.
Beispiele für Möglichkeiten der Partizipation finden: Tipps für die Recherche
Die Recherche eingrenzen
Folgende Fragen sind hilfreich, um Ansatzpunkte für die Recherche zu finden:
Wer sind die Beteiligten? Dazu können unter anderem zählen:
Personen wie Politiker/-innen (Mitglieder von Parteien), Amtsträger/-innen (Bürgermeister/-in der eigenen Stadt, Bundeskanzler/-in etc.), ... Institutionen wie Ministerien, Parlamente, Verbände, Vereine, NGOs, Stadt-verwaltung, ...
Was ist das Thema?
Gibt es einen aktuellen Anlass? Welche Fragen werden diskutiert? Was sind die wichtigsten Begriffe / Schlagworte in der Diskussion?
Wo/wie werden (politische) Entscheidungen zu diesem Thema getroffen?
Geht es um ein Gesetz? Falls es um ein Gesetz geht: Geht es um die Ebene der Kommune, der Bundesländer, des Bundes oder der EU?
Im Internet suchen
Institutionen wie Parlamente, aber auch Amtsträger/-innen bieten oft ausdrücklich Möglichkeiten zum Austausch und zur Kontaktaufnahme an. Informationen dazu finden sich in der Regel auf den entsprechenden Internetseiten. Zu den Möglichkeiten gehören zum Beispiel Links zu sozialen Netzwerken oder Mail-Adressen, aber auch aufwändige Beteiligungsverfahren, die teilweise über spezielle Internet-Plattformen organisiert werden. Ein Beispiel ist die Externer Link: Petitionsplattform des Deutschen Bundestags. In sozialen Netzwerken suchen
Neben allen anderen Themen geht es in sozialen Netzwerken auch um Politik. Die Nutzerinnen und Nutzer bringen ihre eigenen Anliegen in die Netzwerke ein oder reagieren auf Anlässe aus der "realen" Welt. Folgende Tipps helfen, Beispiele für solche Beiträge zu finden:
Profile von Menschen oder Organisationen suchen, die sich besonders oft zu politischen Themen äußern: Politiker/-innen, Ministerien, NGOs etc. Profile von bekannten Medien aufsuchen, die über Politik berichten, z.B. Tagesschau o.Ä. Unter ihren Beiträgen diskutieren häufig viele Nutzer/-innen. Große Gruppen oder Gruppen zu bestimmten Themen aufsuchen, z.B. Stadteil-Gruppen bei Facebook wie "Nett-Werk". Mittels Hashtags (#) oder Suchfunktion Beiträge zu aktuellen Themen suchen.
Fragebogen: Fallbeispiele untersuchen
Folgende Fragen helfen, Beiträge auf Beteiligungsplattformen und in sozialen Netzwer-ken einzuordnen:
Auf welcher Plattform ist der Beitrag erschienen? Was ist der Anlass? Wer hat den Beitrag erstellt? Was ist das Thema des Beitrags? Wie steht die/der Verfasser/-in zu dem Thema? Was ist das Ziel des Beitrags? An wen richtet sich der Beitrag? Wer kann den Beitrag sehen? Wie viele Leute haben ihn bereits gesehen? Was (ist) passiert, nachdem der Beitrag erschienen ist? Was kann der Beitrag bewirken? Wie stehen andere zu dem Thema? Was hat der Beitrag mit dem Thema Beteiligung zu tun?
Kompetenzen in der digitalen Welt: Kompetenzbereiche. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8. Dezember 2016. Online unter: Externer Link: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2017/KMK_Kompetenzen_-_Bildung_in_der_digitalen_Welt_Web.html (Stand: 15.06.2022)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-08-10T00:00:00 | 2022-03-18T00:00:00 | 2022-08-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/politische-bildung-in-einer-digitalen-welt/unterrichtsmaterialien/506338/teil-2-mitmischen-im-netz-was-kann-ich-mit-apps-social-media-bewegen/ | Die Schülerinnen und Schüler recherchieren Möglichkeiten der Beteiligung und Mitsprache über das Internet und bewerten, inwiefern sich digitale Formate für eigene politische Anliegen eignen. | [
"Digitales",
"Digital Literacy",
"Digitalisierung"
] | 661 |
Veranstaltungskalender | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de |
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Übersicht
Zu den Termindetails gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken.
August
Interner Link: Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Interner Link: Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung14. August 2023, Berlin & online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?24. August 2023, online Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS)
September
Interner Link: Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten4. September 2023, Düsseldorf CoRE NRW Interner Link: BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September 2023, Leipzig Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media12. September 2023, online Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Interner Link: Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit13. September 2023, Berlin ufuq.de Interner Link: Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention28. bis 29. September 2023, Berlin cultures interactive e. V.
Oktober
Interner Link: Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus04. und 18. Oktober 2023, Berlin cultures interactive e. V. Interner Link: Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur19. Oktober 2023, Berlin Violence Prevention Network (VPN)
November
Interner Link: Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus9. bis 10. November 2023, Berlin Hochschule Fresenius Interner Link: Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und AbsolventenNovember 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Bundeszentrale für politische Bildung
Dezember
Interner Link: Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Pädagogische Hochschule Heidelberg
Februar 2024
Interner Link: Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 202428. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung)
Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
August
Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen
31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online
In der Online-Fortbildung des Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) geht es darum, Jugendliche und junge Erwachsene im Umgang mit extremistischer Ansprache in den sozialen Medien zu schulen. In den Lehrgängen wird zudem die Funktionslogik von sozialen Medien thematisiert und die allgemeine Medienkompetenz der Teilnehmenden verbessert. Mögliche Abläufe von Radikalisierungsprozessen sowie Grundlagen des Online Streetwork bekommen ebenfalls einen Raum in den Seminaren. Ziel ist es, eigene digitale Angebote der Demokratieförderung zu entwickeln und menschenfeindlichen Inhalten im Netz selbstbewusst entgegenzutreten.
Die Online-Fortbildung gibt es in drei Durchgängen:
31. Juli 2023 bis 16. Oktober 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr 12. September 2023 bis 21. November 2023, immer dienstags & donnerstags von 11:00-12:30 Uhr 9. Oktober 2023 bis 18. Dezember 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr
Termin: 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023 Ort: online Veranstalter: Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von CEOPS
Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung
14. August 2023, Berlin & online
Was brauchen wir als Gesellschaft, um zunehmenden Polarisierungstendenzen zu begegnen? Was braucht es auf individueller und struktureller Ebene, um Menschen zu stärken, die anfällig sind für extremistische Ansprachen? Das diesjährige Politik- und Pressegespräch der BAG RelEx widmet sich den strukturellen Faktoren von Radikalisierung. Der Fokus liegt dabei auf möglichen Lösungsstrategien im politischen Handeln wie auch auf Ebene der zivilgesellschaftlichen Träger. Diese werden im Rahmen eines Impulsvortrags und einer Podiumsdiskussion erörtert. Im Anschluss bietet die Veranstaltung Raum für Rückfragen.
Das hybride Politik- und Pressegespräch richtet sich an Vertreter:innen aus Medien und Politik, an Fachkräfte sowie die breite Öffentlichkeit. Journalist:innen können sowohl vor Ort als auch online teilnehmen. Weitere Interessierte können der Veranstaltung online beiwohnen.
Termin: 14. August 2023, 18:00-19:30 Uhr Ort: Berlin-Wedding & online Veranstalter: BAG RelEx Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx
Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?
24. August 2023, online
Das Online-Seminar beschäftigt sich mit islamistischer Ansprache in den sozialen Medien. Dabei geht es vor allem darum, wie Staat und Zivilgesellschaft auf die damit einhergehenden Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention reagieren können. Das Seminar liefert eine Einordnung zu Ansätzen der Präventionsarbeit und vermittelt Überblick über Projekte der digitalen Jugendarbeit. Im Anschluss werden mögliche Bedarfe in der Jugend- und Präventionsarbeit skizziert. Das Online-Seminar richtet sich an Teilnehmende des Plan P.-Netzwerks sowie Fachkräfte der Jugendhilfe, insbesondere aus den Bereichen des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Jugendarbeit und der Sozialarbeit.
Termin: 24. August 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. August möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AJS
September
Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten
4. September 2023, Düsseldorf
In einer wehrhaften Demokratie stehen staatliche Institutionen vor der Aufgabe, immer wieder zu überprüfen, inwieweit sie selbst gegen antidemokratische und extremistische Einstellungen gefeit sind. Staatsbedienstete sind gegen die Verbreitung von extremistischen Einstellungs- und Vorurteilsmustern nicht immun. Aufmerksamkeit verdienen hier nicht nur Justiz, Polizei und Nachrichtendienste, sondern auch der Schul- und Erziehungssektor.
Die Frage für Forschung und Praxis ist, woher solche Einstellungen kommen, wie Gruppendynamiken entstehen, wie wir sie in Polizeien in mehreren Bundesländern gesehen haben, und wie diesen Entwicklungen präventiv begegnet werden kann. Darüber soll auf dem Netzwerktreffen intensiv diskutiert werden. Neben Vorträgen und Diskussionen gibt es ausreichend Zeit für Gespräche zur Vernetzung.
Termin: 4. September 2023, 9:30-17:00 Uhr Ort: Townhouse Düsseldorf, Bilker Straße 36, 40213 Düsseldorf Veranstalter: CoRE NRW Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail bis zum 25. August unter Angabe des vollen Namens sowie der institutionellen Anbindung
Weitere Informationen in Kürze auf den Externer Link: Seiten von CoRE NRW
BarCamp Islamismusprävention
4. bis 6. September, Leipzig
Im September 2023 findet in Leipzig ein interaktives BarCamp der Bundeszentrale für politische Bildung zum Themenfeld Islamismus statt. Die Fachtagung bietet einen Raum für Akteurinnen und Akteure, die in der Radikalisierungsprävention und der politischen Bildung tätig sind, einmal innezuhalten, gemeinsam über die Entwicklungen zu reflektieren, sich über aktuelle Themen, Debatten aber auch die Belastung in der täglichen Arbeit auszutauschen und gleichzeitig Ideen, multiprofessionelle Perspektiven und neue Energie aufzutanken.
Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte aus dem Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildung, Wissenschaftler/-innen und Multiplikator/-innen, die sich bereits intensiver mit dem Phänomen Islamismus und dem Feld der Islamismusprävention auseinandergesetzt haben oder in diesem arbeiten.
Auch das Team des Infodienst Radikalisierungsprävention wird auf der Tagung vertreten sein und freut sich, Sie dort zu begrüßen.
Termin: 4. bis 6. September 2023 Ort: Hyperion Hotel, Sachsenseite 7, 04109 Leipzig Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: Teilnahmegebühr ohne Übernachtung 50 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 21. August 2023 möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung
Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media
12. September 2023, online
Mit welchen Argumenten verbreiten extremistische "Prediger" online ihre Botschaften? Welche Themen und vermeintliche Belege führen sie an? Welche Plattformen und Formate nutzen sie? Und wie gewinnen sie das Vertrauen von Jugendlichen?
Der Workshop beginnt mit einer Auswahl gängiger Phrasen, Aussagen und Argumente extremistischer Online-"Prediger". Im Anschluss diskutieren die Teilnehmenden gemeinsam über folgende Fragen: Welche Formate und Argumente sind bei Jugendlichen besonders wirksam? Welche Themen stehen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen im Vordergrund? Welche Fragestellungen scheinen für Jugendliche zentral zu sein, werden von extremistischen Online-Akteuren jedoch bewusst ausgeklammert?
Fachkräfte können vorab Beispiele und konkrete (anonymisierte) Fälle aus der eigenen Arbeit einreichen. Diese werden dann im Rahmen der Veranstaltung aufgegriffen.
Termin: 12. September 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 1. September 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der IU Internationalen Hochschule
Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit
13. September 2023, Berlin
Wie können Fachkräfte in der pädagogischen Arbeit auf antimuslimischem Rassismus reagieren und diesem entgegenwirken? Welche Rolle spielt die persönliche Haltung zu Religion? Wie können Betroffene von diskriminierenden oder rassistischen Äußerungen unterstützt und gestärkt werden? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Fortbildung. Pädagogische Mitarbeitende aus Schule, Sozialarbeit und außerschulischer Bildungsarbeit sind eingeladen, daran teilzunehmen und Anregungen zum Umgang mit Religion, Resilienz und Rassismus für ihre Arbeit mitzunehmen.
Termin: 13. September 2023, 9:00-16:00 Uhr Ort: Räume der Landeszentrale für politische Bildung, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin Veranstalter: ufuq.de Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 11. September
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq
Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene
20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main
Inwiefern kann Radikalisierung beziehungsweise die Hinwendung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen auch als mögliche Bewältigungsstrategie angesichts struktureller gesamtgesellschaftlicher Problemlagen verstanden werden? Welche Implikationen ergeben sich hieraus für die Ausrichtung von Präventionsstrategien und -ansätzen? Welche stigmatisierenden Effekte birgt die Arbeit der Islamismusprävention? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Fachtag. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte und Interessierte.
Termin: 20. bis 21. September 2023 Ort: Frankfurt am Main Veranstalter: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Anmeldung: Externer Link: online bis 1. September möglich
Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von BAG RelEx
Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention
28. bis 29. September 2023, Berlin
Wie lässt sich Gaming für die Präventionsarbeit nutzen und wie können Jugendliche darüber erreicht werden? Die Fortbildung beschäftigt sich mit diesen Fragen und zeigt auf, wie Menschenrechte, demokratische Haltungen und Medienkompetenz in diesem Bereich vermittelt werden können. Mit Hilfe des Spiels „Adamara“, das cultures interactive e. V. entwickelt hat, sollen die Teilnehmenden lernen, wie Jugendliche eigene Handlungsoptionen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Lebenserfahrungen im Spiel verarbeiten können. Ziel ist es, ein Verständnis für die Gaming-spezifischen Anforderungen in der Präventionspraxis zu gewinnen. Die Fortbildung richtet sich an Fachkräfte aus der Jugend- und Sozialarbeit sowie der politischen Bildung.
Termin: 28. bis 29. September 2023 Ort: Tagen am Ufer, Ratiborstraße 14, 10999 Berlin-Kreuzberg Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V.
Oktober
Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus
4. und 18. Oktober 2023, Berlin
Wie prägen Gendervorstellungen den islamisch begründeten Extremismus? Welche Chancen bieten mädchen*spezifische Präventionsansätze? Und wie sehen erfolgreiche Strategien aus für den Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen*? Diese Fragen stehen im Fokus der zweitägigen Fortbildung für Fachkräfte der Jugendarbeit in Berlin. Neben interaktiven Elementen werden auf der Veranstlatung aktuelle Forschungsergebnisse zu Mädchen* im Salafismus vorgestellt. Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden, welche erfolgreichen Strategien es im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen gibt.
Termin: 4. und 18. Oktober 2023, jeweils von 17:00 – 20:00 Uhr Ort: Berlin Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V.
Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur
19. Oktober 2023, Berlin
Bei diesem Fachtag im Rahmen des Projekts „Islam-ist“ geht es um die Frage, wie islamistische Akteur:innen digitale Räume nutzen, um junge Menschen zu beeinflussen und zu mobilisieren. Thematisch wird das Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Anpassung sowie radikaler Narrative und Verharmlosung ideologisierter Weltbilder bearbeitet. Ziel ist es, konkrete Konsequenzen für die Arbeit von Fachkräften herauszuarbeiten, um unterschiedlichen Ansprachestrategien zu begegnen, ohne dass junge Muslim:innen stigmatisiert werden. Der Fachtag teilt sich in Impulsvorträge, Workshops und Panels auf und lädt zum gemeinsamen Austausch ein.
Termin: 19. Oktober 2023, 9:30 – 17:30 Uhr Ort: Berlin, Alt-Reinickendorf Veranstalter: Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von VPN
November
Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus
9. bis 10. November 2023, Berlin
Welche Faktoren motivieren Frauen, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen? Welche Funktionen und Rollen nehmen Frauen in den verschiedenen Phänomenbereichen ein? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der zweitägige Workshop der Hochschule Fresenius. Die Veranstaltung richtet sich an Nachwuchswissenschaftler:innen des Themenfelds Extremismus und soll einen Rahmen schaffen, um eigene Forschungsprojekte mit Expert:innen zu besprechen. Hierfür sind die Teilnehmenden dazu eingeladen, eigene Abstracts einzureichen und bei Interesse einen Vortrag zu halten.
Termin: 9. bis 10. November 2023 Ort: Berlin Veranstalter: Hochschule Fresenius Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per Mail möglich
Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten der Hochschule Fresenius
Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und Absolventen
November 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online
Wie bedingen gesellschaftliche Konflikte Veränderungen innerhalb der islamistischen Szene? Welche Strategien, Inhalte und islamistischen Gruppierungen sind für die Präventionsarbeit in Deutschland relevant? Und wie gelingt der Berufseinstieg in dieses Arbeitsfeld? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die MasterClass der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Veranstaltung richtet sich an Masterstudierende sowie Absolventinnen und Absolventen mit Interesse an einer beruflichen Tätigkeit in der Islamismusprävention. In fünf Modulen erhalten sie einen Einblick in Theorien, Methoden und Praxis der Präventionsarbeit. Die Umsetzung der Module findet in Präsenz an verschiedenen Orten in Deutschland und online statt.
Termin: 17. November 2023 bis 8. November 2024, insgesamt fünf Module Ort: Berlin/Köln/Erfurt und online Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: 150 Euro Teilnahmegebühr. Reisekosten, Hotelkosten und Verpflegung werden übernommen. Bewerbung: Externer Link: online möglich bis zum 7. August. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist findet eine Auswahl der Teilnehmenden durch die bpb statt. Die Teilnehmendenzahl ist auf 25 Personen begrenzt.
Weitere Informationen zur MasterClass auf den Interner Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung
Dezember
Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen
1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online
Wie können pädagogische Fachkräfte souverän reagieren, wenn sich junge Menschen demokratiefeindlich äußern? Wie kann man erkennen, ob jemand nur provozieren möchte oder tatsächlich eine extremistische Haltung entwickelt hat? Die sechstägige Online-Weiterbildung soll Pädagog:innen dazu befähigen, eine Radikalisierung zu erkennen und präventive Maßnahmen einzuleiten. Das Kontaktstudium besteht aus einer Verknüpfung von Theorie und Praxisbeispielen und bietet die Möglichkeit, sich mit Expert:innen aus verschiedenen Fachbereichen auszutauschen.
Die Weiterbildung richtet sich an Pädagog:innen, die mit jungen Menschen arbeiten. Sie findet an folgenden Terminen statt:
Freitag, 1. Dezember 2023, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 2. Dezember 2023, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 19. Januar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 20. Januar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 23. Februar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 24. Februar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr
Termin: 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024 Ort: online Veranstalter: Pädagogische Hochschule Heidelberg Kosten: 490 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. Oktober möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der pädagogischen Hochschule Heidelberg
Februar 2024
Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 2024
28. und 29. Februar 2024, Wiesbaden
Auch im nächsten Jahr veranstaltet MOTRA wieder eine Jahreskonferenz. MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungsverbund im Kontext der zivilen Sicherheitsforschung.
Im Mittelpunkt der Konferenz steht der disziplinübergreifende Austausch von Wissenschaft, Politik und Praxis zum aktuellen Radikalisierungsgeschehen in Deutschland. Dazu bietet die Veranstaltung ein vielfältiges Programm aus Beiträgen der Radikalisierungsforschung und Präventionspraxis zu einem jährlich wechselnden Schwerpunktthema. Fachkräfte sind dazu eingeladen, Forschungs- und Praxisprojekte zu diesem Thema einzureichen und auf der Konferenz zu präsentieren.
Der entsprechende Call for Papers sowie Informationen zum Schwerpunktthema und den Bewerbungs-, Teilnahme- und Anmeldemöglichkeiten werden in Kürze veröffentlicht.
Termin: 28. und 29. Februar 2024 Ort: Wiesbaden Veranstalter: Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung)
Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung werden auf den Externer Link: Seiten von MOTRA bekannt gegeben.
Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-08-04T00:00:00 | 2016-01-18T00:00:00 | 2023-08-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/218885/veranstaltungskalender/ | Veranstaltungshinweise und Fortbildungen aus dem Themenfeld Radikalisierung, Islamismus & Prävention | [
"Infodienst Salafismus",
"Termine"
] | 662 |
In Leipzig Courage zeigen | Rechtsextremismus | bpb.de | ''Es begann damit, dass Nazis dort aufmarschieren wollten'', erinnert sich Sebastian Krumbiegel, Sänger der Leipziger Band Die Prinzen, an den für den am Vorabend des 1. Mai 1998 geplanten Aufmarsch der NDP vor dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal. ''Am besten, wir besetzen den Platz'', war die Idee des Künstlers, besorgter Bürger, Politiker, etc. Und so kam es dann auch: Stadtverwaltung, Gewerkschaften und viele Initiativen riefen dazu auf, den Platz vor dem Völkerschlachtdenkmal zu besetzen. Eine Reihe von prominenten Künstlern veranstaltete an diesem Tag mit einem großen Konzert einen bunten und engagierten Protest gegen den Aufmarsch der Rechtsextremen. Seitdem die NPD in den sächsischen Landtag eingezogen ist, wird das Thema Rechtsextremismus wieder zunehmend gesellschaftlich problematisiert. In Leipzig heißt es deshalb auch in diesem Jahr wieder am 30. April: Leipzig zeigt Courage.
Um das Engagement und den Protest auf eine breitere Basis zu stellen, gründete sich der Trägerverein Leipzig.Courage zeigen e.V. Das Festival wendet sich nicht nur gegen Neonazis, sagt Krumbiegel. Darüber hinaus stehe es für Demokratie und Toleranz. Daneben ist Krumbiegel die Assoziation dieser Art des Protests mit der zivilgesellschaftlichen Auflehnung von 1989 ein wichtiges Anliegen: Es sei eine Art öffentliches Statement dafür, dass Leipzig ein ''streitbares Städtchen'' ist. Es gehe auch darum musikalisch Stellung zu beziehen. Daher werden Künstler, die sich sonst nicht zu Themen wie Zivilcourage und Rechtsextremismus positionieren, zu einem solchen Event nicht eingeladen.
Unter dem Motto ''Leipzig.Courage zeigen.'' versammeln sich seit 1998 jedes Jahr am 30. April Tausende Leipziger, um bei dem stimmungsvollen Ereignis mitzufeiern und gleichzeitig ihre Ablehnung politisch motivierter Gewalt zum Ausdruck zu bringen. Alle Künstler spielen ohne Gage, so dass das Konzert für die Besucher kostenlos ist. Natürlich geht es darum finanzielle Mittel für diese kostenlosen Veranstaltungen zu akquirieren. Dank seiner Prominenz hat Krumbiegel es da wohl leichter als andere, Sponsoren für das Leipziger Event zu finden. Seines Erachtens aber geht es vielmehr darum, dass man möglichen Sponsoren aus Wirtschaft und Politik deutlich macht, was wäre, wenn man nicht Gesicht zeigen würde: Dass sich z.B. Investoren aus der Region zurückziehen werden, wenn man keine Farbe gegen Rechtsextremismus bekennt.
Das Konzert bietet immer auch Gelegenheit für interessante Neuentdeckungen: Jährlich findet im Vorfeld des Protesttages das Festival ''Junge Musiker gegen Gewalt und Rassismus'' statt. Auch das Jugendfestival soll ein Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen. Aus zahlreichen Bewerbungen werden junge Bands ausgewählt, die in verschiedenen Jugendzentren um den Auftritt an der Seite der Profis spielen. Wer sich hier durchsetzt, steht am Vorabend des 1. Mai mit auf der großen Bühne.
Auch 2008 haben Sebastian Krumbiegel und viele weitere Künstler bereits zum elften Mal laute Musik gegen Rechtsextremismus vor dem Völkerschlachtdenkmal veranstaltet. Krumbiegel ist froh, dass die Aktion durchgehalten wird und sich auch die Stadt mit der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters von Leipzig und finanzieller Unterstützung dazu bekennt, ganz egal, ob am Tag davor oder danach Neonazis aufmarschieren wollen. Gezeigt werden soll: Leipzig Courage zeigen ist "saisonunabhängig" eine Frage der Einstellung - auf Kontinuität bedacht.
Mehr unter: http://www.leipzig-courage-zeigen.de/home.html | Article | Von Susanne Beyer | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-11-17T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/41684/in-leipzig-courage-zeigen/ | Wie Leipzig jährlich am 30. April Flagge gegen Rechtsextremismus zeigt. Eine Initiative "DER PRINZEN" in Sachsen. | [
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"Engagement"
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Alternative für Deutschland | Landtagswahl Schleswig-Holstein 2022 | bpb.de |
Alternative für Deutschland (AfD)
Die "Alternative für Deutschland" (AfD) richtete sich nach ihrer Gründung 2013 zunächst gegen die Politik der Euro-Rettung. In den Folgejahren rückte die Kritik an der Asyl- und Integrationspolitik der Regierung sowie seit 2020 an den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in den Vordergrund. Die AfD bezeichnet sich in ihrem Grundsatzprogramm als eine grundsätzliche Alternative zur "politischen Klasse" und nimmt für sich in Anspruch, "bürgerlichen Protest" zu artikulieren. In der Parteienforschung wird die AfD überwiegend als "rechtspopulistisch" bezeichnet. Der völkisch-nationalistische "Flügel" innerhalb der AfD wurde im März 2020 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als "erwiesen rechtsextremistische Bestrebung" eingestuft. Nach seiner Auflösung durch den Bundesvorstand der AfD streben ehemalige Funktionäre und Anhänger des "Flügels" weiterhin Einfluss innerhalb der Gesamtpartei an. Auch die Jugendorganisation der Partei stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremistischen "Verdachtsfall" ein. 2014 und 2019 schaffte die Partei den Einzug in das Europäische Parlament. Sie ist seit 2017 im Bundestag und mittlerweile in allen Landtagen vertreten.
Fakten zur Partei
Gründungsjahr Landesverband: 2013* Landesvorsitz: vakant (stv. Vorsitzender: Joachim Schneider)* Mitgliederzahl in Schleswig-Holstein: 900* Wahlergebnis 2017: 5,9 %
* nach Angaben der Partei
2017 erreichte die AfD in Schleswig-Holstein 5,9 Prozent der Zweitstimmen und erhielt damit Einzug in den Landtag. Auch in Schleswig-Holstein sind die Strukturen des ehemaligen "Flügels" ein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Als Spitzenkandidat wurde der Landtagsabgeordnete Jörg Nobis nominiert.
In ihrem Wahlprogramm fordert die AfD ein sofortiges Ende aller Corona-Maßnahmen von Bundes- und Landesregierungen und spricht sich gegen eine allgemeine oder berufsbezogene Impfpflicht aus. Polizeibeamtinnen und -beamte sollen besser bezahlt werden. Die Partei fordert, dass Ausländerinnen und Ausländer bereits bei geringfügigen Straftaten ausgewiesen werden. Zudem soll das Asylrecht durch ein Moratorium ausgesetzt werden. Die Partei kritisiert den sogenannten politischen Islam, den sie im Landtag 2020 als "Religion des Terrors" bezeichnet hatte. Grundsätzlich vertritt die AfD die Ansicht, der "nicht säkularisierte Islam" gehöre nicht zu Deutschland. In der Familienpolitik tritt die Partei für das Leitbild von Vater, Mutter und Kind ein. Für neugeborene Kinder, sieht die AfD ein Willkommensgeld vor. Einen weiteren Ausbau der Windkraft an Land lehnt die Partei ab. Für die gesicherte Energieversorgung sollen neue Atomkraftwerke gebaut werden.
Alternative für Deutschland (AfD)
Gründungsjahr Landesverband: 2013* Landesvorsitz: vakant (stv. Vorsitzender: Joachim Schneider)* Mitgliederzahl in Schleswig-Holstein: 900* Wahlergebnis 2017: 5,9 %
* nach Angaben der Partei
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-04-21T00:00:00 | 2022-03-23T00:00:00 | 2022-04-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/schleswig-holstein-2022/506501/alternative-fuer-deutschland/ | Die AfD entstand 2013. Sie wird als rechtspopulistisch, in Teilen als völkisch-nationalistisch und rechtsextremistisch eingeordnet. Seit 2017 ist die AfD im Landtag vertreten. | [
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"Landtagswahl Schleswig-Holstein 2022",
"Wer steht zur Wahl "
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Ablauf von Politiksimulationen | Planspiele | bpb.de | Politiksimulationen werden in der Regel in vier Phasen durchgeführt:
Vorbereitung Einführung und Rollenvergabe Simulations- und Verhandlungsphase (die eigentliche Spielphase) Auswertung (De-Briefing)
Tipp
Falls genügend Zeit zur Verfügung steht, kann die Politiksimulation wiederholt werden, um alternative Spielstrategien durchzuspielen bzw. Erfahrungen und Lernprozesse aus der ersten Runde aufzugreifen.
1. Phase: Vorbereitung
Vor der Durchführung einer Politiksimulation müssen zwei grundsätzliche Fragen geklärt werden:
Spielvariante: geschlossen oder offen? Nutzung einer bestehenden Politiksimulation (dafür bspw. Recherche in der Planspieldatenbank) oder Neukonzeption einer Politiksimulation?
Bei der Überlegung, welche Politiksimulation durchgeführt wird, müssen die (möglichen) Vorkenntnisse der Teilnehmenden und die zur Verfügung stehende Zeit zwingend berücksichtigt werden.
Hinweis
Eine eigenständige Entwicklung einer Politiksimulation ist durchaus möglich und reizvoll (siehe hierzu auch Vorlagen im Dossier), stellt jedoch auch eine pädagogisch komplexe Herausforderung dar, die zudem viel Arbeitszeit bindet.
Die Vorbereitung für Simulationen ist oft sehr arbeitsintensiv. So sollten mehrere Räume zur Verfügung stehen, die Infrastruktur vor Ort vorhanden sein (beispielsweise Flipchart, Wandzeitung, Kopiergerät) und die Arbeits-/Spielmaterialien in ausreichender Anzahl kopiert sein. Die Räume sollten nach raumdidaktischen Gesichtspunkten gestaltet sein, d.h. sie sollten durch entsprechende Umgestaltung (Schulräume!) die Lerngruppe in ihrem Lernprozess didaktisch unterstützen und einen dialogischen Bildungsprozess ermöglichen. Für das Planspiel werden in der Regel ein großer Tagungsraum (z B. Aula in der Schule) und weitere kleinere (drei bis vier) Räume für die Gruppenarbeit benötigt, in die sich die einzelnen Akteure zu strategischen Gesprächen zurückziehen können.
Die Räume sollten mit Tischkarten für die Vertreter/-innen der einzelnen Gremien, Fahnenwimpel für die beteiligten Länder, ggf. Europaflaggen (bei europabezogenen Simulationen) und Tagungsglocken für die Sitzungsleitungen "präpariert" werden. Des Weiteren sollten Stellwände für die wichtigsten Presseveröffentlichungen, Stellungnahmen oder Hinweise (z.B. Einladungen zu Pressekonferenzen, Zeitplan, Raumnummern, Konferenzergebnisse) bereitstehen. Auch sollten ggf. Möglichkeiten, die sich vor Ort ergeben könnten, mit in die Politiksimulation integriert werden, je nachdem, wo die Simulation durchgeführt wird (z.B. Durchführung im Rathaus, Berücksichtigung der Aula der Schule oder der Turnhalle für die Durchführung von Plenarsitzungen). Für die Teilnehmenden müssen entsprechend der Anzahl der Spieler/-innen (mindestens 15, günstig 30 und mehr Spieler/-innen) die Spielunterlagen kopiert und verteilt werden. Auch wenn der Aufwand hoch ist: Er lohnt sich. Denn in Evaluierungen haben die Teilnehmenden immer die Motivationssteigerung durch die Requisiten und der Raumgestaltung betont.
2. Phase: Einführung und Rollenvergabe
In der Regel können Politiksimulationen ohne eine intensive Vorbereitung der Teilnehmenden durchgeführt werden. Bevor die eigentliche Simulation beginnt, werden zuerst die Methode und die Zielsetzung der Simulation vorgestellt. Anschließend wird das Szenario (Politikfeld) erläutert, zudem werden die einzelnen Akteure und der Entscheidungs- und Verhandlungsprozess durch eine sogenannte Spielmatrix (Zeitplan) präsentiert sowie organisatorische Fragen geklärt. Danach erfolgt die Rollenverteilung.
Die Rollen können in der Regel in zwei Varianten vergeben werden:
Die Rollen werden über ein Losverfahren (z.B. Zettel mit Namen in einen Topf) spontan zugeteilt. Jede/-r Teilnehmer/-in ist jetzt Vertreter/-in eines Landes bzw. einer Institution. Nach einer Kurzvorstellung der Rollen suchen sich die Teilnehmenden ihre Rollen selbst aus. Bei dieser Variante muss die Spielleitung jedoch unbedingt darauf achten, bei der Vorstellung nicht zu viel über die Rollen mitzuteilen, damit nicht bereits zu Beginn die unterschiedlichen Interessenlagen den Teilnehmenden zu deutlich werden. Außerdem kann sich diese Variante sehr in die Länge ziehen.
In der langjährigen Praxis hat sich die Rollenverteilung über das Losverfahren als sinnvolle und praktikable Umsetzung erwiesen.
Tipp 1:
Die Rollen der sog. Funktionsträger (d.h. beispielsweise Bürgermeister/-in) und Vertreter/-in der Medien sollte freiwillig ausgewählt werden können. Für diese Rollenübernahme ist eine Fähigkeit zur Moderation von Gruppen bzw. der Spaß am Schreiben und an Recherche notwendig!
Tipp 2:
Die Rollenverteilung sollte schnell vollzogen und auch nicht "zerredet" werden.
Die Spielenden denken sich anschließend eigene Namen aus, die sie auch während der gesamten Simulation behalten (Die Spielleitung sollte ggf. Namen vorbereitet haben, wenn Teilnehmende sich nicht selbst einen Namen geben können). Die Namen werden auf die ausgeteilten Namensschilder geschrieben. Um die Simulation so wirklichkeitsnah wie möglich zu gestalten, sprechen sich die Teilnehmenden ab sofort in offiziellen Verhandlungsrunden nur noch mit diesen Namen in Sie-Form an. Wie in der Realität auch können sich die Teilnehmenden selbstverständlich in nicht-offiziellen Teilen der Simulation duzen (wie z.B. Arbeitsgruppen-Sitzungen oder bei "Arbeitsessen").
Anschließend kann die Spielleitung entweder zuerst ausschließlich das Szenario und nach einer ersten Lesephase (ca. 10 Min.) dann die spezifischen Rollenprofile austeilen, oder die Spielleitung übergibt sofort alle Unterlagen, d.h. Szenario, Rollenprofile und Hintergrundinformationen an die Teilnehmenden in Spielmappen (z.B. Klarsichthüllen). Die Spielleitung bittet die Teilnehmenden, diese länderspezifischen Rollen vorerst nicht gegenseitig mitzuteilen. Das Konferenzspiel lebt davon, dass alle Vertreter/-innen Interessen verfolgen, die zu Komplikationen mit anderen Staaten/Akteuren führen (können) und eine Einigung erschweren. Bei beiden dargestellten Varianten ist darauf zu achten, dass genügend Einarbeitungszeit zur Verfügung steht, d.h. ca. 30 bis 45 Minuten. In der Einarbeitungszeit steht die Spielleitung für mögliche Rückfragen zur Verfügung.
3. Phase: Simulations- und Verhandlungsphase (die eigentliche Spielphase)
Die Struktur der Simulation ergibt sich durch die Anzahl der Teilnehmenden, den Politikgegenstand (z.B. Erweiterung der Europäischen Union, Klimaschutz oder Migrationspolitik) und die zugrundeliegende rechtliche Basis der Entscheidungsfindung. Der strukturelle Ablauf des Verfahrens richtet sich nach dem gewählten Politikfeld und dem jeweiligen Gesetzgebungsverfahren.
In der Regel besteht die Verhandlungsphase aus einem Wechsel zwischen individueller Arbeit, Kleingruppenarbeit der einzelnen Akteure, Interventionen der einzelnen Akteure und Plenarsitzungen. Die Handlungsmöglichkeiten der Akteure sind durch Spielregeln, Verhaltensnormen, Wissen und Information sowie Zeitbudget unterschiedlich verteilt. Der Spielraum ergibt sich teilweise auch aus den Rollenprofilen.
Für den Einstieg in die Simulation gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
Die Simulation wird in der Regel mit einer Rede bzw. einer feierlichen Zeremonie des Bürgermeisters bzw. der Bürgermeisterin, des Landrats bzw. der Landrätin oder des Präsidenten bzw. der Präsidentin der Europäischen Kommission eröffnet. Anschließend beginnen die Teilnehmenden mit ihren jeweiligen Verhandlungen auf der Basis spezifischer Rollenanweisungen. Die Simulation beginnt mit zeitgleichen Arbeitstreffen der Vertreter/-innen der einzelnen Akteure. Sie diskutieren ihre Geschäftsordnung, ihre Strategien, ihre Ziele und überlegen sich, welche Mitglieder anderer Institutionen zur Problemlösung herangezogen werden können bzw. müssen. Danach erfolgt dann ein Plenum mit der Rede eines Funktionsträgers bzw. einer Funktionärsträgerin (z.B. Bürgermeisterin).
Empfehlenswerter ist die erste Variante, d.h. der offizielle Beginn im Plenum. Anschließend präsentieren und verhandeln die beteiligten Gruppen. Aufgelockert werden die Sitzungen durch Pressekonferenzen, Briefings, Eilmeldungen und unvorhersehbare Ereignisse.
Konkretisierung des Ablaufschemas anhand von europabezogenen Simulationen
In der Regel wird über die Europäische Kommission (EK) ein fiktiver Gesetzesvorschlag an das Europäische Parlament (EP) und an den Rat der EU (Rat) geleitet. Beide Gremien müssen sich nun im Rahmen des sog. "ordentlichen Gesetzgebungsverfahren(s)" (früher: Mitentscheidungsverfahrens) der EU mit den verschiedenen Bestandteilen des Antrags beschäftigen. Das Europäische Parlament berät in Ausschusssitzungen – zu denen Spezialisten/-innen oder auch Vertreter/-innen von Nichtregierungsorganisationen eingeladen werden können –, welchem Antrag oder Gesetzesvorschlag zugestimmt werden kann, welche Änderungen nötig sind oder welche Inhalte gestrichen werden müssten. Am Ende der Diskussionen und Beratungen steht entweder die Annahme des Antrages oder eine konkrete Abänderung. Der Rat der EU berät zeitgleich ebenfalls den Kommissionsvorschlag. Im Rat werden vor allem die nationalen Interessen deutlich. Der Rat kann sich einzelne Experten/-innen, Lobbyisten bzw. Lobbyistinnen und weitere Vertreter/-innen zu Anhörungen in seine Sitzungen einladen, um das eigene Meinungsbild zu vertiefen. Auch hier soll am Ende ein konkreter Beschluss (Änderung oder Annahme des ursprünglichen Antrags) erfolgen.
In einer kürzeren Spielversion (z.B. in einer Doppelstunde) kann an dieser Stelle abgebrochen und zur Evaluation (s.u.) übergegangen werden. Im "Normalfall" (=längere Spielvariante) wird bei Nichtübereinstimmung der beiden Beschlüsse ein Vermittlungsausschuss aus Rat und Parlament gebildet, um einen gemeinsamen Entwurf zu erstellen. Anschließend wird dieser gemeinsame Entwurf noch einmal in beiden Gremien zur Abstimmung zurückverwiesen. Billigen Rat und EP den gemeinsamen Entwurf, wird in einem feierlichen Rahmen der neue Rechtsakt unterzeichnet. Gibt es keine Mehrheit im Vermittlungsausschuss, ist der Rechtsakt gescheitert. Während der Simulation sollten Pausen für informelle Gespräche und Unterbrechungen der Sitzungen eingeplant werden, weil – wie in der Realität – gerade in "Verhandlungspausen" Entscheidungen oder Kompromisse getroffen werden. Simulationen werden in der Regel im Plenum mit einer finalen (Entscheidungs-)Sitzung der beteiligten Akteure und einer Pressekonferenz abgeschlossen. Damit ist die eigentliche Spielphase beendet.
4. Phase: Auswertung (De-Briefing)
An die Simulation schließt sich eine ausführliche Nachbereitung an. Die Bedeutung der Reflexion im Rahmen der Simulation wird meistens unterschätzt. Sie ist sehr wichtig, denn in ihr werden der Spielverlauf beleuchtet, die Spielerfahrungen und Ergebnisse mit der realen Situation verglichen und interpretiert sowie die Lernziele analysiert. Mögliche Rollenkonflikte, Probleme, Stereotypen und die Selbst- bzw. Fremdeinschätzung oder Fragen, die während des Spieles auftraten, werden aufgegriffen. Die spielerische und thematische Auswertung des Planspiels erfolgt über drei Stufen und kann entweder mündlich oder schriftlich geschehen.
1. Direktes Feedback in der Rolle
Zuerst werden die Teilnehmenden gebeten, sich spontan zum Spielverlauf und zu den persönlichen Erfahrungen der Simulation zu äußern. Die Auswertung kann zunächst mit Hilfe eines sog. "Meinungsbarometers" erfolgen. Die Teilnehmenden werden gebeten, in der Rolle zu bleiben und sich bezüglich folgender Fragen im Raum zu platzieren (z.B. in einer Linie):
Wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis? Wie zufrieden sind Sie mit dem Verlauf? Wie geht es Ihnen gerade? Konnten Sie mit Ihrer Rolle Einfluss auf das Spielgeschehen ausüben? Wie?
Hier besteht schon für den Moderator/die Moderatorin die Möglichkeit, mit kurzen Fragen entsprechend nachzuhaken bzw. nachzusteuern. Anschließend werden die Teilnehmenden gebeten, ihre Rollen zu verlassen. Dies kann auch durch verschiedene Symboliken unterstützt werden, beispielsweise durch kollektives Abnehmen des Rollenschildes oder mehrmaliges Drehen um die eigene Achse ("Rollen entrollen"). Danach sollte es eine kurze Pause geben.
2. Reflexion über Akteure, Ablauf- und Entscheidungsprozess und Positionen in der Simulation
In der 2. Phase stehen Fragen nach Verlauf der Simulation (Entscheidungsprozess), Rollenmustern und -umsetzung (Akteure), den verschiedenen Überlegungen bzw. Strategien und dem tatsächlichen (möglichen) Beschluss/Ergebnis im Vordergrund. Dabei soll das Verhältnis zwischen den Rollen beleuchtet, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Strategien und die Folgen sowie Perspektiven, die sich daraus für die Thematik ergeben (könnten), herausgearbeitet werden.
Durch die Politiksimulation lernen die Teilnehmenden die Bedeutung, Stellung und Funktion von Institutionen kennen. So erleben sie persönlich die Funktion und Wirkung von Verfahrensregeln und die schwierige Suche nach Kompromissen. Sie haben selbst Macht in der Politiksimulation ausgeübt und erlebt, wie und warum welche Interessen umgesetzt worden sind. Letztlich wird durch die Analyse von Macht- und Herrschaftsaspekten die politische Dimension aufgeschlüsselt. Wichtig in diesem Evaluationsschritt ist insbesondere der Abgleich zwischen der Simulation und der Politik-Realität. Hierzu ist es auch notwendig, die in der Simulation erfolgte Komplexitätsreduzierung aufzugreifen und darzustellen, damit keine verzerrte oder vereinfachte Wahrnehmung der Politik produziert wird.
Folgende Leitfragen sind denkbar:
Wie empfanden Sie den Spielverlauf? Konnten Sie die Interessen Ihrer Rollen vertreten? Konnten Sie Ihre Argumente in der Diskussion einbringen? Wie wurde der Meinungsbildungsprozess beeinflusst? Wie haben Sie die Zusammenarbeit (negativ/positiv) zwischen den einzelnen Akteuren wahrgenommen? Gab es den Einsatz von Machtmitteln und "diplomatischen" Mitteln? Gab es sogar sachfremde Spielzüge und "Ablenkungsmanöver"? Wie fiktiv ist das Szenario?
Ein Schlüsselelement der Auswertung und der anschließenden Metareflexion im Hinblick auf die Alltagswelt der Teilnehmenden ist der subjektive Anteil der Beteiligten am Prozess.
Tipp:
Bei ausreichend zur Verfügung stehender Zeit sollten die Teilnehmer/-innen ihre spezifischen Rollenanweisungen dem Plenum vorlesen. Dadurch wird allen Beteiligten das Verhalten ihrer "Mitkonkurrenten/-innen" einsichtiger, und zugleich werden die oftmals widersprüchlichen Interessen der Spieler/-innen offenkundig.
3. Realitätscheck/Transfer auf die Lebenswelt der Teilnehmenden
Als letzter Schritt erfolgt der Transfer auf die Lebenswelt und Erfahrungen der Teilnehmenden. Bei der Auswertung ist die didaktische Rückbindung des Spielgeschehens an konkrete Lebenssituationen unabdingbar. Geschieht diese nicht, "besteht die Gefahr, dass sich die teilnehmenden Spieler illusionäre Scheinwelten schaffen, die von ihnen als gesellschaftspolitische Realität ausgelegt werden" (Buddensiek 1999, 370).
In europabezogenen Simulationen bedeutet dies exemplarisch, dass geprüft und diskutiert wird, in welchem Maß die simulierte europäische Politik die tatsächliche europäische Realität widerspiegelt. In einem weiteren Schritt werden mögliche Vereinfachungen und Verzerrungen aufgegriffen und mit der Realität verglichen. Bezogen auf das eigentliche Politikfeld – wie beispielweise Erweiterung oder Migrationspolitik – werden die damit verbundenen Chancen und Risiken kritisch reflektiert und der Spannungsbogen zwischen nationalstaatlichem Interesse und europäischer Verantwortung aufgezeigt und diskutiert. Auch sollten die Folgen für den Einzelnen und mögliche Handlungsperspektiven diskutiert werden.
Falls genügend Zeit zur Verfügung steht, kann die Politiksimulation wiederholt werden, um alternative Spielstrategien durchzuspielen bzw. Erfahrungen und Lernprozesse aus der ersten Runde aufzugreifen.
Eine eigenständige Entwicklung einer Politiksimulation ist durchaus möglich und reizvoll (siehe hierzu auch Vorlagen im Dossier), stellt jedoch auch eine pädagogisch komplexe Herausforderung dar, die zudem viel Arbeitszeit bindet.
Die Rollen der sog. Funktionsträger (d.h. beispielsweise Bürgermeister/-in) und Vertreter/-in der Medien sollte freiwillig ausgewählt werden können. Für diese Rollenübernahme ist eine Fähigkeit zur Moderation von Gruppen bzw. der Spaß am Schreiben und an Recherche notwendig!
Die Rollenverteilung sollte schnell vollzogen und auch nicht "zerredet" werden.
Bei ausreichend zur Verfügung stehender Zeit sollten die Teilnehmer/-innen ihre spezifischen Rollenanweisungen dem Plenum vorlesen. Dadurch wird allen Beteiligten das Verhalten ihrer "Mitkonkurrenten/-innen" einsichtiger, und zugleich werden die oftmals widersprüchlichen Interessen der Spieler/-innen offenkundig.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-07-17T00:00:00 | 2022-07-12T00:00:00 | 2023-07-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/planspiele/510589/ablauf-von-politiksimulationen/ | Die Durchführung eines Planspiels erstreckt sich in der Regel auf vier Phasen: Vorbereitung, Einführung und Rollenvergabe, Simulations- und Verhandlungsphase und die Auswertung (De-Briefing). | [
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Bürger der EU | Europa | bpb.de | Im Frühjahr 2018 gab in allen EU-Mitgliedstaaten eine Mehrheit der Bürger an, sich als EU-Bürger zu fühlen – zum ersten Mal seit 2010. Auf EU-Ebene wurde dieses Gefühl von 70 Prozent der Befragten geteilt – ebenfalls ein Rekordwert. Auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten lag der Anteil der Befragten, die sich als Bürger der EU verstehen, zwischen 93 Prozent in Luxemburg und jeweils 51 Prozent in Griechenland und Bulgarien (Deutschland: 84 Prozent). Dabei ist zu beachten, dass sich eine Mehrheit der Europäer in erster Linie als Bürger des eigenen Landes sieht und dann als Bürger der EU: Im Frühjahr 2018 definierten sich 55 Prozent der Befragten zuerst über ihre Nationalität und dann über ihre EU-Bürgerschaft.
Fakten
In allen 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) fühlte sich im Frühjahr 2018 jeweils mehr als die Hälfte der Bevölkerung als Bürger der EU. Das ist das erste Mal seit 2010, dass in allen EU-Mitgliedstaaten eine Mehrheit der Bürger angab, sich als EU-Bürger zu fühlen. Bezogen auf die EU wurde dieses Gefühl von 70 Prozent der Befragten geteilt – gleichauf mit der Umfrage vom Herbst 2017 ist das der höchste Wert, der jemals gemessen wurde. Auf die Frage, ob sie sich als Bürger der EU fühlen, antworteten 29 Prozent der Befragten mit 'Ja, voll und ganz' und 41 Prozent mit 'Ja, teilweise'. Weiter antworteten 20 Prozent mit 'Nein, eher nicht' und 9 Prozent mit 'Nein, überhaupt nicht'.
Auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten lag der Anteil der Befragten, die sich als Bürger der EU verstehen, zwischen 93 Prozent in Luxemburg und jeweils 51 Prozent in Griechenland und Bulgarien. Neben Luxemburg gaben auch in Irland (85 Prozent), Deutschland (84 Prozent), Portugal (83 Prozent), Malta und Spanien (jeweils 82 Prozent) sowie in Dänemark, Polen und der Slowakei (jeweils 80 Prozent) mindestens vier Fünftel der Befragten an, sich als EU-Bürger zu fühlen. Weniger als zwei Drittel waren es – neben Griechenland und Bulgarien – auch in Italien (56 Prozent), dem Vereinigten Königreich (57 Prozent), Tschechien (59 Prozent), Frankreich (61 Prozent), Kroatien (63 Prozent) und Rumänien (64 Prozent).
Wird bei der Antwort 'Ja' noch zwischen 'Ja, voll ganz' und 'Ja, teilweise' unterschieden, antworteten im Frühjahr 2018 in keinem Land die Befragten häufiger mit 'Ja, voll ganz' als in Luxemburg (70 Prozent). Darauf folgten Irland (46 Prozent), Deutschland (43 Prozent) und Estland (40 Prozent). Wird auf der anderen Seite bei der Antwort 'Nein' noch zwischen 'Nein, eher nicht' und 'Nein, überhaupt nicht' unterschieden, antworteten in keinem Land die Befragten häufiger mit 'Nein, überhaupt nicht' als in Bulgarien (20 Prozent). Darauf folgten Griechenland (19 Prozent), Frankreich (16 Prozent) und das Vereinigte Königreich (15 Prozent).
Abseits der Schwankungen im Zeitverlauf hat sich der Anteil der Befragten, die sich als Bürger der EU fühlen, zwischen 2010 und Frühjahr 2018 im EU-Durchschnitt von 62 auf 70 Prozent erhöht. Im Frühjahr 2018 galt unter den Befragten, dass je jünger die Altersgruppe war, desto größer war der Anteil derjenigen, die sich als Bürger der EU fühlten. Auch mit steigendem Bildungsabschluss nahm dieses Gefühl zu. Schließlich fühlten sich die Befragten, die sich der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht zuordnen, deutlich häufiger als EU-Bürger als die, die sich als Teil der Arbeiterschicht oder der unteren Mittelschicht sehen.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass das Gefühl, Bürger der EU zu sein, verschiedene Ausprägungen haben kann. So sieht sich eine Mehrheit der Europäer in erster Linie als Bürger des eigenen Landes und dann als Bürger der EU: Im Frühjahr 2018 definierten sich 55 Prozent der Befragten zuerst über ihre Nationalität und dann über ihre EU-Bürgerschaft. Lediglich 6 Prozent der Befragten betrachteten sich zuerst als europäische Bürger und dann als Bürger ihres Landes. 2 Prozent verstehen sich ausschließlich als Europäer. Entsprechend definierten sich in diesem Zusammenhang mehr als ein Drittel ausschließlich über ihre Nationalität (35 Prozent).
Werden die Umfrageteilnehmer danach gefragt, welche Faktoren maßgeblich zum Gefühl einer europäischen Bürgerschaft beitragen, nannten von den Befragten 29 Prozent 'Kultur'. 'Geschichte' und 'Werte' waren im Frühjahr 2018 für jeweils 23 Prozent der Befragten am wichtigsten für die Erzeugung eines Gemeinschaftsgefühls bei den EU-Bürgern. 'Wirtschaft', 'Geografie', 'Rechtsstaatlichkeit' und 'Sport' erzeugten für rund jeden fünften Befragten am stärksten ein Gefühl der Gemeinschaft unter den Bürgern der EU. Darauf folgten 'Solidarität mit ärmeren Regionen' (14 Prozent), 'Gesundheitswesen, Bildung und Renten', 'Erfindungen, Wissenschaft und Technologie' (jeweils 13 Prozent) sowie 'Sprachen' (11 Prozent). 'Religion' wurde im Frühjahr 2018 von lediglich 8 Prozent der Befragten genannt und lag damit auf dem zwölften und letzten Platz.
Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen
Informationen zu den Werten, die für die Europäer am besten die EU repräsentieren, erhalten Sie Interner Link: hier...
Das Eurobarometer ist eine in regelmäßigen Abständen von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene, öffentliche Meinungsumfrage in den Ländern der Europäischen Union. Dabei wird in allen Ländern eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung befragt.
Quellen / Literatur
Europäische Kommission: Standard-Eurobarometer 89, Die europäische Bürgerschaft, Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Frühjahr 2018
Europäische Kommission: Standard-Eurobarometer 89, Die europäische Bürgerschaft, Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Frühjahr 2018
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-13T00:00:00 | 2012-02-29T00:00:00 | 2022-01-13T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/70661/buerger-der-eu/ | Im Frühjahr 2018 gab in allen EU-Mitgliedstaaten eine Mehrheit der Bürger an, sich als EU-Bürger zu fühlen – zum ersten Mal seit 2010. Auf EU-Ebene wurde dieses Gefühl von 70 % der Befragten geteilt. | [
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"EU-28",
"EU-27"
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Podcast: Netz aus Lügen – Die Netzwerke (5/8) | Digitale Desinformation | bpb.de |
Interner Link: 00:00 – Einstieg – die Facebook Leaks Interner Link: 01:55 – Um was geht es in Folge 5? Interner Link: 02:42 – Gekaufte Influencerinnen und Influencer Interner Link: 13:26 – Das Problem an den Plattformen und die Logik dahinter Interner Link: 20:14 – Was tut Facebook gegen Desinformation? Interner Link: 24:00 – Die Whistleblowerin Sophie Zhang Interner Link: 31:22 – Youtubes Algorithmen sind eine Black Box Interner Link: 38:45 – Amazon als Desinformationsverbreiter – ein blinder Fleck Interner Link: 41:04 – Strategien gegen Falschinformationen auf Plattformen – der Digital Services Act Interner Link: 44:35 – Ausblick
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[00:00] ZSP Haugen
"Good afternoon, Chairman Blumenthal, ranking member Blackburn and members of the subcommittee”
Vor ein paar Wochen bei einer Anhörung im US-Kongress. Die Whistleblowerin Frances Haugen wird befragt. Sie war mehrere Jahre lang bei Facebook - jetzt hat sie mit ihren Enthüllungen, die im Wall Street Journal veröffentlicht wurden, eine neue Reihe an Skandalen für ihr ehemaliges Unternehmen ausgelöst.
ZSP Haugen
"Ich bin zu Facebook gegangen, weil ich davon überzeugt bin, dass Facebook das Potential hat, das Beste in uns hervorzubringen. Aber heute bin ich hier, weil ich glaube, dass die Produkte von Facebook Kindern schaden, soziale Spaltung fördern und unsere Demokratie schwächen. Die Firmenleitung weiß genau, wie man Facebook und Instagram sicherer macht, aber sie wird nichts Notwendiges ändern, weil sie die astronomischen Profite über die Menschen stellt." Ihre Enthüllungen treffen auf offene Ohren. Seit Jahren gibt es Bestrebungen - sowohl in den USA als auch Europa, Asien und Australien - die Macht der Internetgiganten und vor allem der sozialen Netzwerke zu verkleinern. Aber bisher vergrößern diese ihre Macht immer weiter.
ZSP Haugen
"Das Ergebnis: Mehr soziale Spaltung, mehr Schaden, mehr Lügen, mehr Drohungen und mehr Streit. In manchen Fällen führt der Dialog online zu echter Gewalt, die sogar Menschen tötet."
Jingle
Netz aus Lügen – Die globale Macht von Desinformation – ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Folge 5 – Die Netzwerke
[01:55] Hallo, mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker und ihr hört "Netz aus Lügen”.
Wichtig, bei uns bauen alle Folgen aufeinander auf - wenn ihr also die letzten Folgen noch nicht gehört habt, drückt kurz auf Stopp und hört sie. Denn wir machen nahtlos weiter. Und wenn ihr schon dabei seid, abonniert doch den Kanal.
In den letzten Folgen gab es einen Elefanten im Raum, über den wir noch nicht ausführlich gesprochen haben. Und zwar: die Internet-Plattformen. Also Facebook, Instagram, Whatsapp, Google, Twitter, Telegram, Youtube usw.
Denen wollen wir uns heute in aller Ausführlichkeit widmen. Wir wollen klären: Wie groß ist der Einfluss von sozialen Netzwerken wirklich? Was machen sie mit uns als Gesellschaft? Ist der Einfluss überhaupt messbar? Und welche Möglichkeiten gibt es, etwas gegen Desinformation auf den Plattformen zu unternehmen?
Bevor wir in die modrigen Gewässer unserer Newsfeeds und Timelines hinabsteigen, wollen wir uns aber eine Geschichte genauer ansehen. Sie erklärt uns, welche Rolle Social Media inzwischen auch für staatliche Desinformation spielt. Und sie beginnt mit einer E-Mail.
[02:42] ZSP Drotschmann
"Ich saß da ganz entspannt auf der Couch und hab nochmal meine Mails gecheckt und dann kam diese Nachricht und zuerst hätte sie fast gelöscht, es war eine englischsprachige Nachricht, kam mir vor wie Spam."
Das ist Mirko Drotschmann. Wissenschaftsjournalist, Youtuber und ZDF-Moderator. Viele kennen ihn vielleicht als MrWissen2Go. Unter diesem Namen hat Drotschmann einen Youtube-Kanal mit mehr als 1,6 Millionen Abonnenten und Abonnentinnen. Er ist Influencer. Und als solcher bekommt er öfter mal Anfragen, ob er nicht dieses oder jenes Produkt bewerben will.
ZSP Drotschmann
"Man bekommt öfter mal so Nachrichten oder ich bekomme öfter mal so Nachrichten von irgendwelchen Agenturen, die schreiben Willst du mit uns zusammenarbeiten und sind oft an Agenturen irgendwo im Ausland sitzen und sich meinen Kanal überhaupt nicht angeguckt haben? Generell mache ich keine Kooperation, weil mein Kanal öffentlich rechtlich ist. Ich darf das nicht. Ich würde es aber auch generell nicht machen auf einem Kanal. Naja, und dann hätte ich diese Mail fast gelöscht, hab aber dann doch noch mal kurz reingeguckt und da bin ich dann schon echt schockiert gewesen, dass man mit der Tür ins Haus fällt, dass da direkt drin steht Ja, wir hätten gerne, dass du in einer Informationskampagne, so haben sie es genannt, teilnimmst und Informationen verbreitest zu Todesfällen mit Biontech-Pfizer Impfstoff. Das fand ich total seltsam und hab mir das dann genauer angeguckt."
Dass Mirko Drotschmann, ein wirklich erfahrener Youtuber so schockiert ist, liegt an mehreren Dingen. Erst einmal fällt eine Agentur meistens nicht einfach so mit der Nachricht ins Haus. Oft wird erst einmal nachgefragt, ob man überhaupt an einer Kooperation interessiert sei, bevor klar wird, um was es geht.
Und dann ist da natürlich noch das, was in sonst keiner Influencer-Mail steht: Drotschmann wird Geld dafür geboten, dass er vermeintlich neue Erkenntnisse im Bezug auf den Biontech-Impfstoff in die Welt bringt.
ZSP Drotschmann
"Was die Mail unterschieden hat, ist, dass es um den politischen Inhalt geht, dass es nicht um ein Produkt ging oder ja, mehr oder weniger politischen Inhalt und dass es darum ging, Desinformationen zu verbreiten. Also nicht um eine Dienstleistung oder ein Produkt, sondern um um Information. Und das hatte ich so in der Form noch nie, vor allem nicht von der Agentur. Und das hat mich dann schon hellhörig gemacht. Vor allem wurde ich hellhörig, als ich mir mal die Webseite der Agentur angeschaut habe. In der ersten Mail war ein Link mit drin zu einer Reddit Seite, die ein Artikel enthalten hat oder eine Tabelle enthalten hat, die angeblich beweisen sollte, dass bei Biontech/Pfizer- Impfungen besonders viele Menschen sterben. Der kleine erklärende Text dazu war aber mitten im Satz abgeschnitten. Also wirklich brauchbar war das nicht über und trotzdem, dass man diesen Link verbreitet."
Für Drotschmann ist sofort klar: Hier stimmt etwas nicht. Und gleich ploppt auch noch eine andere Frage auf: Wieso sollte man das in Auftrag geben? Wer profitiert davon? Drotschmann will mehr wissen und geht zum Schein auf das Angebot ein.
ZSP Drotschmann
"Und als ich dann zum Schein darauf eingegangen bin, weil ich mehr wissen wollte, habe ich einen Link bekommen zu einer Seite, auf der man ganz genaue Anweisungen bekommen hat, was man zu tun hat. Da wurde dann zum Beispiel gesagt Auf gar keinen Fall sollte man seine Beiträge zu diesem Thema als gesponsert bezeichnen. Man sollte nicht sagen, dass man Geld dafür bekommt, sondern so tun, als wäre es die eigene Meinung, als wäre man selbst darauf gekommen. Man sollte verschiedene Formulierungen verwenden, die das Ganze dann noch mal authentisch machen. Und das wurde auch noch mal der eine oder andere Link zusätzlich geliefert. Es wurden Formulierungen Hilfen gegeben. Also genau das, was man bei einer Influenza Kooperation zu einem Produkt auch bekommt, hat man in diesem Fall bekommen für die Desinformation [00:04:22] und was das Ganze schon von Anfang an unseriös gemacht hat, ist, dass man darum gebeten wurde, nicht zu kennzeichnen, dass es gesponsert wurde, dass das in Deutschland illegal. Man wurde also quasi aufgefordert, etwas Illegales zu machen. Allein das sollte einen schon hellhörig machen."
Wie viel Geld Mirko Drotschmann dafür bekommen hätte, ist leider nicht klar. Denn kurz nachdem die Agentur ihm schreibt, geht ein Wissenschaftsjournalist aus Frankreich an die Presse. Er hat dasselbe Angebot bekommen. Für 2000 Euro soll er die Desinformation über seine Kanäle streuen. Andere haben das Angebot aber angenommen.
Zum Beispiel der Youtuber Ashkar Techy aus Indien.
Auch ein ziemlich beliebter Influencer aus Brasilien geht auf den Deal ein und verbreitet die Nachricht, dass AstraZeneca angeblich viel besser sei als der Impfstoff von Biontech.
Bleibt nur die Frage: Wer steckt dahinter? Wer bezahlt Influencer und Influencerinnen dafür, Desinformation zu verbreiten?
ZSP Drotschmann
"Die Seite sah aus wie Websites von einer typischen Influenza Agentur auf Englisch. Die Firma saß in London, zumindest laut Website, FAS oder FAZ oder wie auch immer man das ausspricht, es weiß kein Mensch. Und was mir aber direkt aufgefallen ist, ist, dass die Mitarbeiter der Firma, die ich zum Beispiel gefunden habe, eigentlich gar nicht in London saßen. Dass sie zum Beispiel in Moskau andere Mitarbeiter auch in Moskau, zum Teil in Polen, Ukraine war, glaube ich, auch noch mit dabei. Also es gab eine Firma, deren Mitarbeiter aber alle nicht an einem Standort der Firma saßen. Ich bin dann zu Google Maps gegangen, habe mir dann die Adresse angeguckt gesehen. Das ist so eine, sondern ziemlich heruntergekommenes Gebäude, in dem eigentlich gar keine Firma drin sein kann. Es gab auch etliche andere Firmen, die auf diese Adresse gemeldet waren. Im britischen Handelsregister war diese Firma gar nicht eingetragen. Also es war alles ziemlich dubios und die Spuren haben dann schnell nach Russland geführt über die Personen, die man identifizieren konnte."
Nachdem die Agentur Fazze - F A Z Z E, die BBC spricht es zumindest Fas aus - mit ihrer Kampagne aufgeflogen ist, wurde es schnell still um sie.
Dass die Spur nach Russland führt, liegt an mehreren Dingen. Da wäre zum einen der Geschäftsführer, der von Moskau aus arbeitet. Auch alle vier im Login-Bereich der mittlerweile gelöschten Website ersichtlichen Kunden sind russisch. Die Mitarbeitenden kommen aus Moskau, der Ukraine und Polen.
Und dann ist da noch etwas: Denn die Influencer und Influencerinnen wurden gebeten auf einen Artikel aus der französischen Tageszeitung Le Monde zu verlinken. Dieser Artikel verwendet seinerseits wiederum Daten, die zum Teil aus einer Hacking-Attacke gegen die europäische Arzneimittelagentur EMA stammen.
Die niederländische Zeitung DeVolkskrant berichtete, dass sowohl chinesische als auch russische Akteure im Netz der Behörde waren. Hier wurden jene Informationen erbeutet, die den Biontech-Impfstoff im schlechten Licht darstellen sollen und dann geleakt wurden.
Dass Staaten auf Social Media setzen, um Desinformation zu verbreiten, das haben wir schon in Folge 1 gehört, als es um die Operation Ghostwriter ging, die aus Russland kommt. Hier wurden Accounts von Politikern und Politikerinnen gehackt, um dort Falschinformationen zu posten.
Aber es gibt noch andere Beispiele: Die New York Times hat eine Reihe von Videos über die chinesische Region Xinjiang und die Situation der dortigen Uiguren und Uigurinnen aufgetan. Damit es nicht zu Autonomiebestrebungen kommt, hat die chinesische Regierung in Xinjiang ein flächendeckendes Überwachungs- und Internierungssystem installiert.
Zeugen und Zeuginnen, investigative Rechercheurinnen und Human Right Watch prangern die Zustände in den Lagern seit Jahren an, sprechen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und sexualisierter Gewalt.
Und die Videos zeigen: In beinahe identischen Worten erzählen die Menschen von ihrem überaus schönen Leben in Xinjiang. Und obwohl die meisten großen Social-Media-Webseiten in China nicht verfügbar sind, fanden die Videos doch ihren Weg auf Twitter und Youtube. Von diesen Videos gibt es Tausende.
Die identische Machart und die Verbreitungswege der Videos legen nahe, dass sie nicht direkt von Social Media-Usern, sondern vom Propagandaapparat der Kommunistischen Partei produziert werden. So soll die internationale Wahrnehmung des Xinjiang-Konflikts im Sinne Pekings beeinflusst werden. Nochmal Mirko Drotschmann:
ZSP Drotschmann
"Ich glaube aber, noch mal Mirko Drotschmann wenn man die in Anführungszeichen richtigen Leute anspricht, Leute, die für Geld alles machen würden und eine gewisse Reichweite haben rund die gibt es und das denen geschickt verkauft, dann kann das schon funktionieren. Man muss die Leute nur um den Finger wickeln, den richtigen Betrag auf den Tisch legen und ihnen die Sachen so präsentieren, dass sie es glauben. Dann, dann kann das klappen. Und ich glaube, es hängt wirklich an der Auswahl der Influencer."
Wieso staatliche Akteure jetzt auf Influencer setzen, hat mehrere Gründe. Da wäre zum einen der offensichtliche: Influencer und Influencerinnen vermarkten ihre Reichweite auf Social Media. Normalerweise für Werbung - sie drehen uns Cremes an, wollen dass wir bestimmte Uhren oder Nahrungsergänzungsmittel kaufen und die fragwürdigsten unter ihnen, machen Werbung für Glücksspiel. Und wer schon für einen schnellen Euro seine Followerinnen und Follower ins Online-Casino schickt - der lässt sich vielleicht auch schnell für andere Dinge einkaufen.
Dann der zweite Grund: Menschen vertrauen Influencern und Influencerinnen. In einer Studie von Nielsen, dem größten Marktforschungsunternehmen der Welt, finden sich Hinweise, wie stark dieses Vertrauen ausgeprägt ist. Nielsen untersucht regelmäßig das Vertrauen in Werbung. 30.000 Menschen in 60 Ländern wurden befragt. Und das Ergebnis: 83 Prozent von ihnen vertrauen Empfehlungen, die von ihren Freunden kommen. 83 Prozent.
In der Sozialpsychologie hat dieser Befund sogar einen Namen: Halo Effect - auf deutsch: Heiligenschein-Effekt. Wenn mir eine Person, der ich sowieso schon vertraue, etwas erzählt, dann glaube ich ihr öfter als einer fremden Person - selbst wenn das gar nicht ihre Expertise ist. Jetzt einmal verkürzt als Beispiel: Wenn mir also die sympathische Bäckerin, bei der ich seit Jahren mein Brot kaufe, eines Tages erzählt, dass sie eine tolle Faltencreme entdeckt hat - dann bin ich eher geneigt ihr zu glauben als eine Kosmetikerin, die ich gerade erst kennengelernt habe.
[13:26] Ja… und dann ist da noch der dritte Grund. Ein Grund, den wir ganz am Anfang schon gehört haben: Viele Plattformen sind so gebaut, dass sie Inhalte, die negative Gefühle auslösen, nach oben spülen - was auch auf viele Falschmeldungen zutrifft. Hier gewinnt, wer am meisten Engagement, also Interaktion, erzeugt. Den größten Gesprächswert hat, am meisten emotionalisiert. Das fanden übrigens auch Forschende innerhalb von Facebook heraus - ihre Studien wurden neulich von Frances Haugen an das Wall Street Journal geleakt.
ZSP Julian Jaursch
Sensationalitische Überschriften, teilweise Falschmeldungen, gefakte Bilder, die klicken einfach gut, die, wenn Leute angesprochen werden in ihrer Wut und in ihrer Angst, emotional verhilft, dass Geschichten einfach zu mehr Klicks.
Das ist noch einmal Julian Jaursch von der Stiftung Neue Verantwortung. Ihn haben wir in der zweiten Folge schon gehört, als es um Desinformation in Deutschland ging.
ZSP Julian Jaursch
"Das sind Studien, die das gezeigt haben in sozialen Medien. Wenn wir wissen, dass das so ist und wenn wir wissen, dass Plattform auf Engagement setzen. Kann man dann vielleicht Maßnahmen ergreifen, um zumindest diese Viralität einzuschränken, dass wir sagen. Gibt es irgendwelche Stopptaste? Stopp, wo man sagt Wenn du Nachricht noch nicht Fakten gecheckt, Fakten gecheckt ist, gibt es dann eine Möglichkeit, dass sie sich nicht so schnell verbreitet"
Stopp Stopp Stopp… Da greift Julian Jaursch vor und spricht schon über Lösungen, obwohl wir noch gar nicht mit der Problembeschreibung durch sind. Der Punkt, den Julian Jaursch hier macht, den haben auch schon andere vor ihm gemacht. Das Problem liegt in der Sortierung. In einer normalen Nachrichtensendung wie zum Beispiel der Tagesschau, wählen Redakteure und Redakteurinnen für die Zuschauer die Inhalte aus. Von Bundestagsdebatten über Wirtschaftsthemen bis zum Sport. Und jede gute Redaktion weiß: es gibt Themen, die jetzt vielleicht nicht super spannend sind, aber sie sind wichtig. Wegen der Pendlerpauschale hat wohl noch niemand einen Stress-Infarkt bekommen.
Anders die sozialen Netzwerke.
ZSP Haugen
"Heutzutage bestimmt Facebook unsere Wahrnehmung von der Welt, indem es darüber bestimmt, welche Informationen wir sehen. Auch Menschen, die Facebook nicht nutzen, werden von der Mehrheit beeinflusst, die es tun. Ein Unternehmen mit einem so beängstigenden Einfluss auf so viele Menschen und ihre innersten Gedanken und Gefühle braucht eine wirkliche Aufsicht. Aber Facebooks geschlossenes Design sorgt dafür, dass es keine wirkliche Aufsicht gibt. Nur Facebook weiß, wie es deinen Feed für dich personalisiert."
Die großen sozialen Netzwerke funktionieren alle unterschiedlich. Während Instagram sehr auf Bilder setzt, gibt es auf Facebook mehr Posts mit Links. TikTok wiederum setzt ganz aufs Bewegtbild, während Twitter viel textlastiger ist.
Dazu kommen auch Unterschiede selbst im gleichen Unternehmen: Facebook und Instagram folgen vollkommen unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, haben andere Algorithmen, die wiederum zu anderen Problemen führen. Das kann man auch in den von Frances Haugen geleakten Dokumenten schön wiederfinden. Sie zeigen, dass Facebook mit seinen vielen Links ein großes Problem mit Desinformation hat und die bildgetriebene Plattform Instagram sich negativ auf die Psyche vieler junger Mädchen auswirkt.
So zumindest der aktuelle interne Forschungsstand - denn viel Forschung außerhalb des Netzwerkes - egal ob zu Psyche oder Desinformation - gibt es noch nicht.
Aber bleiben wir mal kurz beim Elefant im Raum.
Wenn man Julian Jaursch und Frances Haugen folgt, dann zählt bei Facebook vor allem das Engagement. Userinnen und Usern wird nicht der redaktionell wichtigste Post gezeigt, sondern der, der am meisten zum Mitreden einlädt. Der Emotionen erzeugt. Und die stärkste Emotion auf sozialen Netzwerken ist nun einmal die Wut.
Das wissen Forscherinnen und Forscher übrigens schon sehr lange. Also lange in Internetmaßstäben - 2013 hat eine Forschungsgruppe aus China 70 Millionen Posts auf dem Netzwerk Weibo ausgewertet und gemerkt: Die größte Viralität haben jene Posts, in denen Menschen sauer sind.
Wut ist ein zentraler Motor für das Engagement in sozialen Netzwerken. Und dann gibt es noch einen Rückkopplungseffekt. Denn soziale Netzwerke sind ja darauf ausgerichtet uns möglichst lange auf der Seite zu halten. Vereinfacht gesagt: Wenn wir mit einem frischen Account am Montag auf Posts zu einer viralen Falschinformation reinfallen, dann kann es sehr gut sein, dass uns Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag noch mehr Posts dazu angezeigt werden.
Das Problem dabei ist die Kuratierung. Denn natürlich passieren schlimme Dinge - in unserer Nachbarschaft, in Deutschland, in der Welt. Aber es passieren auch Dinge in unserer Gesellschaft, die naja … weniger emotional sind. Es hat schon einen Grund, warum wir Desinformation zu vermeintlichen Messerattacken, entführten Kindern und erfundenen Verbotsvorschlägen sehen und eben nicht zur Pendlerpauschale oder progressiver Besteuerung.
Wir als Social-Media-Nutzerinnen und -Nutzer denken, wir sehen die Realität, dabei bekommen wir nur einen genau auf uns gerichteten Ausschnitt der Welt zu sehen. Einen Ausschnitt, den wir durch all die Likes und Klicks, die wir auf der Plattform jemals hinterlassen haben, schärfen. Und dazu kommt, dass auf Plattformen alles in einem deutlich höheren Tempo geschieht.
Noch einmal Julian Jaursch, der ein Beispiel aus dem Bundestagswahlkampf anführt.
ZSP Jaursch
"Es gab Kampagnen gegen sowohl den Spitzenkandidaten aus der Union als auch von den Grünen, wo über gefälschte Zitate denen einfach Worte in den Mund gelegt wurden. Und wenn das früher passiert ist, über ein Flugblatt oder in der Zeitung, ist das halt nicht das Gleiche, wie wenn es sich tausendfach, teilweise 10 oder 100 tausendfach über WhatsApp-Nachrichten, über Facebook-Nachrichten, über Youtube-Videos, über sonstige Plattformen verbreitet. Das hat einfach eine andere Dimension."
PAUSE
Wir haben jetzt lange darüber gesprochen, wie Social Media an sich funktioniert. Was die Gesetzmäßigkeiten sind, die plattformübergreifend sind. Aber lasst doch jetzt eine Ebene nach unten wechseln. Und zu den einzelnen Netzwerken gehen. Fangen wir bei Facebook an … die Plattform, die in Deutschland mehr als 30 Millionen Nutzerinnen und Nutzer zählt. So zumindest die aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2018.
Was der Harvard-Student Mark Zuckerberg 2003 zu programmieren begann, nannte er Facemash. Auf der Website lud er Fotos seiner Harvard-Kommilitoninnen hoch, Studenten sollten dann deren Aussehen bewerten. Die Fotos hatte er zuvor aus dem Studierendenverzeichnis seiner Uni gestohlen. Nach einem Wochenende war Schluss mit Facemash. Zuckerberg entschuldigte sich - und machte weiter, fand Mitstreiterinnen und Risikokapitalgeber. Am 4. Februar 2004 ging Facebook offiziell an den Start.
Und was macht das Netzwerk heute? Wir fragen nach, womit verdient Facebook heute Geld?
ZSP Baldauf
"Naja, das Geschäftsmodell von Facebook ist: Wir bieten Werbeplätze an für die Leute"
Das ist Johannes Baldauf. Auf seiner Visitenkarte steht: Public Policy Manager, er kümmert sich um ...
ZSP Baldauf
"da um (...) Themen wie Rechtsextremismus, Verschwörungstheorien, Misinformation, Cybersecurity, Terrorismus."
Im Sommer 2021 hat Facebook ein Netzwerk von Querdenken-Gruppen von der Plattform entfernt. In diesen Gruppen haben sich Menschen getroffen, die daran glauben, dass wir - in ihren Worten - in einer "Coronadiktatur" leben.
[20:14] Facebook glaubt, dass die Inhalte die Gefahr bieten, in reale Gewalt umzuschlagen und sagt, die Querdenker würden eine "koordinierte Schädigung der Gesellschaft” betreiben. Darüber hinaus beschäftigt sich Johannes Baldauf auch mit der Operation Ghostwriter, über die wir schon gesprochen haben.
ZSP Baldauf
"Natürlich ist Ghostwriter auch ein Thema für uns und wir haben ja in Vorbereitung der Wahlen standen wir im engen Austausch z.B. mit dem BSI, dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, in Deutschland, aber auch mit anderen Sicherheitsbehörden. Natürlich tauscht man sich dort über verschiedene verschiedene Bedrohungen Möglichkeiten aus."
Ihr erinnert Euch: In den Folgen 1 und 2 von "Netz aus Lügen” haben wir über Ghostwriter gesprochen, eine Operation des russischen Geheimdienstes GRU.
PAUSE
Facebook ist heute für viele Menschen das Tor zur Welt. Zentrum aller Online-Aktivitäten. Hier lernen sich Menschen kennen, posten Familienfotos, Wohnungsanfragen, Witze. Es ist aber auch ein Raum für Desinformation und Verschwörungsmythen, Hass und Hetze und Ausprobierfeld für staatliche wie private Akteure uns als Gesellschaften zu spalten.
Johannes Baldauf von Facebook sagt:
ZSP Baldauf
"Wenn man eben große soziale Plattform betreibt, spiegelt sich natürlich fast alles, was so draußen in Anführungsstrichen der Welt stattfindet, nicht auch auf den Plattform wieder. Und dementsprechend muss man natürlich schauen, wie geht man mit diesen Dingen um. Einige Sachen sind gefährlich an, andere Sachen sind vielleicht nicht für jede Person geeignet, für anderes muss man gucken. Wir haben ja z.B. ein Netzwerk innerhalb der Querdenkern Bewegung entfernt.Hier müssen wir intervenieren. Das Gleiche gibt's auch immer wieder im Bereich Rechtsextremismus oder vielleicht ein anderes Beispiel auch im Bereich Antisemitismus. Wir entfernen Holocaustleugnung weltweit"
Kurze Einordnung dazu: Das "weltweit” gilt erst seit letztem Jahr. Noch 2018 weigerte sich Mark Zuckerberg in einem Interview mit dem Tech-Magazin Re:code, Holocaustleugnung von der Plattform zu nehmen. Johannes Baldauf nimmt man ab, dass er ein wirkliches Interesse hat, Facebook für alle zu verbessern. Er weiß aber auch genau, wie viel Arbeit noch zu tun ist. Auf uns wirkt er wie ein Verkehrspolizist, der mit erhobenen Armen an einer vielbefahrenen Kreuzung steht und Autos zum anständigen Fahren bringen will.
"das sind eben nicht nur staatliche Akteure," ... … wie der russische Geheimdienst GRU ... … sondern es kann auch kommerzielle Akteure sein ... … wie die Agentur Fazze, die mit ihrer Impfstoffkampagne aufgeflogen ist ... "… die dann eben anderen das als Dienst anbieten"
Auch wenn Johannes Baldauf um die Probleme seiner Plattform weiß: er glaubt, dass es besser wird. Zum Beispiel konnte durch Technik schon ein großer Teil der Fake-Profile rausgefiltert werden.
Facebook versucht dadurch die Kosten für koordinierte Attacken zu erhöhen. Beispielsweise wenn ein Akteur Stimmung gegen die Impfung machen wollen würde. Anders gesagt: Wo ich früher nur eine Armee an einfach gemachten Fake-Profilen gebraucht habe, um eine Botschaft unters Volk zu kriegen, da brauche ich heute ein Netzwerk aus echt aussehenden Accounts, die ich über Jahre anlegen und pflegen muss.
ZSP Baldauf
"Baue ich mir vielleicht auch ein Netzwerk von Freunden auf, dessen Profil tatsächlich immer authentischer aussieht? Das kostet Zeit, das kostet Ressourcen und damit steigen die Kosten. Und das ist sozusagen ein Beispiel, wie sozusagen in dem Moment, wo ich einfach mehr Zeit brauche, um so ein Netzwerk aufzubauen, kostet das mehr."
Staatliche gegen kommerzielle Akteure, Netzwerke von Freunde versus nicht-authentische Profile, koordinierte Einflussnahme und Manipulation -- eine, die den Facebook-Fachjargon dechiffrieren kann, ist Sophie Zhang, die zweite Whistleblowerin aus dem Facebook-Kosmos, die wir in dieser Sendung hören.
[24:00] ZSP Zhang
"Hallo ich bin Sophie Zhang. Zhang Fee Fee für alle, die Chinesisch sprechen. Ich habe von Januar 2018 bis September 2020 bei Facebook gearbeitet. Ich wurde im September entlassen. Ich war Datenwissenschaftlerin bei Facebook. Und wurde... wurde eine Whistleblowerin. Sie haben vielleicht in den Nachrichten von meinem Fall gelesen. Zurzeit bin ich zu Hause und kümmere mich um meine Katzen. Sie sind sehr gute Katzen. Die Rolle, die ich angenommen habe, neben meinem Job war: nach nicht-authentischen Accounts, die politische Diskussionen beeinflussen, zu suchen; dazu gehörten auch politische Diskussionen im Vorfeld von Wahlen auf der ganzen Welt. Ich hab viele Ergebnisse gefunden in vielen Ländern, insbesondere im globalen Süden, außerhalb Europas und in der westlichen Welt im Allgemeinen. Insbesondere habe ich die Regierungen von Honduras und Aserbaidschan auf frischer Tat ertappt."
Was Zhang aufdeckt: Unter Posts des Präsidenten von Honduras, Juan Orlando Hernández, damals hatte der rund eine halbe Million Followerinnen und Follower auf Facebook, häufen sich Likes.
Das Land in Mittelamerika, eine Demokratie mit vielen Problemen, hat knapp 10 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner - ein Drittel davon ist auf Facebook. Wenn Hernandez also 500.000 Fans hat, dann sind das ein Sechstel aller Accounts des Landes.
Ein Großteil der Likes kommt nicht von echten Nutzerinnen auf Facebook sondern von sogenannten Facebook Pages, Seiten, die Firmen oder Stars für sich selbst anlegen können. In jenem Fall ist es Hilda Hernández, die Schwester des Präsidenten und damalige Kommunikationsministerin, die 2017 als Administratorin Hunderte solcher gefälschter Seite auf Facebook betreut, und dort für ihren Bruder falschen Jubel und erlogene Zustimmung simuliert.
Ein anderes Beispiel: Aserbaidschan, ein kleines Land im Südkaukasus. Im Korruptionswahrnehmungsindex 2020 von Transparency International belegt Aserbaidschan den 129.Platz von 180 bewerteten Ländern.
In Aserbaidschan macht sich ein Netzwerk genau die Taktik aus Honduras zu nutze, um Schmutz ins Netz zu kübeln: Mehr als zwei Millionen Kommentare werden auf den Facebook-Seiten der Opposition und denen von unabhängigen Medien publiziert. Sie werden übel beschimpft, als Landesverräter bezeichnet, der autokratische Präsident Aserbaidschans, Ilham Alijew, und seine Regierungspartei dagegen in höchsten Tönen gelobt. Und viele Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner erreicht man auf Facebook: Gut 40 Prozent der Bevölkerung hat ein Konto.
Für Sophie Zhang ist das ein Problem. Und das will sie lösen, sie berichtet ihrem Chef davon, spricht mit dem Manager ihres Managers, mit anderen Teams im Konzern. Nur:
ZSP Zhang
"Facebook schenkt Ländern wie Deutschland, Großbritannien und den USA mehr Aufmerksamkeit"
Das tun wir übrigens auch gerade. Wir sprechen die ganze Folge über Plattformen, die in der westlichen Welt sehr populär sind. Inn Folge 7 gehen wir dann auf Plattformen ein, die in Asien populär sind.
Aber zurück zu Facebook: Gerade wenn es um Wahlen wie die Bundestagswahl in diesem Jahr oder Abstimmungen um den Brexit geht, schaut Facebook genauer hin, dass hier alles gut geht. Aber was ist mit Honduras und Aserbaidschan? Im Facebook-Universum: unwichtig.
Sophie Zhang sagt: Facebook will oft nicht handeln - und zwar aus Geschäftsinteresse. Ich glaube, dass man verstehen muss, dass Geschäftsinteressen Firmen leiten. Es ist ihre treuhänderische Verantwortung im Sinne der Shareholder zu handeln.
Übrigens: Im vergangenen Jahr machte Facebook einen Gewinn von 29,15 Milliarden US-Dollar. Damit steht es auf Platz 10 der profitabelsten Unternehmen der Welt. Und tatsächlich merkt man: Wenn wegen Skandalen wie Cambridge Analytica der öffentliche Druck größer wird, dann bewegt sich Facebook auch. Über Jahre hat das Unternehmen Cambridge Analytica persönliche Daten über eine Facebook-App gesammelt und für andere Zwecke genutzt.
Als Reaktion auf das "Datenleck” hat Facebook 2018 den Zugang für Drittanbieter gekappt und sich in ganzseitigen Anzeigen entschuldigt. Was übrigens auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die über Facebook forschen, die Arbeit erschwert hat. Wenn in anderen Teilen der Welt schlimme Dinge auf Facebook passieren, interessiert das die Öffentlichkeit und Facebook nur bedingt.
ZSP Zhang
"Die Orte, bei denen es am Schwierigsten war, Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, waren Länder wie Honduras oder Aserbaidschan. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass diese Länder wenig Einfluss haben."
PAUSE
Auch die andere Whistleblowerin, Fances Haugen, ist überzeugt, dass der wichtigste Antriebsgrund für die Plattformlogik bei Facebook und Instagram Profit ist....
ZSP Haugen
"Ich glaube nicht, dass Facebook jemals das Ziel hatte, eine Plattform aufzubauen, die Schaden anrichten soll. Facebook hat eine Organisationstruktur geschaffen, wo jener Teil, der für Wachstum und Expansion zuständig ist, getrennt von jenem läuft, der sich mit den negativen Auswirkungen der Plattform beschäftigt. Und diese Organisationsstränge berühren sich nur sehr selten. So werden Projekte, die Facebook sicherer machen sollen und für die die Sicherheitsteams hart gekämpft haben, von neuen Expansionsprojekten platt gemacht."
[31:22] Und was hat das mit uns zu tun? Die kürzeste ehrliche Antwort ist wohl: It’s complicated. Es ist kompliziert.
Menschen wie Sophie Zhang oder Frances Haugen sind für uns deshalb so wichtig, weil sie uns Einblicke geben in eine Firma, die sich kaum in die Karten schauen lässt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beklagen sich immer wieder, dass ihnen - und damit auch uns - Zugang zu Daten fehlt. Erst im September 2021 beschwerten sich Forscherinnen der New York University, dass ihnen der Zugang einfach gekappt wurde - ihre Forschung ist so nicht möglich. Ohne diesen Zugang können wir kaum wissen, wie groß der Einfluss von Desinformation auf der Plattform wirklich ist.
Auch bei dem Kerngeschäft von Facebook - Werbung verkaufen - gibt es inzwischen Stimmen, die sagen: naja, ob das alles wirklich valide ist. Zum Beispiel wissen wir aus einer internen Facebook-E-Mail, dass Sheryl Sandberg, die Nummer 2 neben Mark Zuckerberg, schon seit Jahren wusste, dass die Zahlen für die Werbereichweite nicht wirklich stimmen.
Wenn also gar nicht erwiesen ist, dass die Werbemodelle von Facebook wirklich funktionieren, man Menschen also wirklich microtargeten kann - ich also wirklich alle Kaninchenzüchter aus Wuppertal erreiche und überzeugen kann... dann heißt das: Wir können noch weniger beweisen, dass Desinformation ein Riesenproblem ist. Obwohl wir tagtäglich die vermeintlichen Auswirkungen davon erleben. Uns fehlen die geeigneten Mitteln das zu quantifizieren.
Trotzdem verkauft sich Facebook als Plattform, die Werbekunden zielgenau zu ihrem Wunschprodukt bringt. Egal ob das jetzt eine Werbung für die Impfkampagne der Bundesregierung oder für Hundefutter ist.
[38:45] Gleiches gilt für YouTube, die Video-Plattform, die im vergangenen Jahr auch mit Werbung einen Umsatz von rund 15 Milliarden US-Dollar machte. Wir sprechen zwar immer über die Skandale von Facebook, aber Youtube ist ein oft unterschätzter Teil der Desinformations-Sphäre.
Auch hier gibt es wenig Daten, was genau YouTubes Algorithmen mit Desinformation zu tun haben. Einer, der uns helfen kann, ist Johannes Filter.
ZSP Filter
"Mein Name ist Johannes Filter. Ich bin Softwareentwickler bei Algorithm Watch, arbeite hier primär an Dataskop-Projekt."
Algorithm Watch ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich Algorithmen anschauen, die "entweder menschliche Entscheidungen vorhersagen oder vorbestimmen, oder Entscheidungen automatisiert treffen”. Johannes Filter recherchiert mit Reportern des Spiegels und Wissenschaftlern und Forscherinnen der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Gemeinsam haben sie im Sommer ein Experiment - Dataskop - gestartet:
ZSP Filter
"Für unser Projekt haben wir uns YouTube angesehen und YouTube insbesondere zur Bundestagswahl."
Es geht um die Such- und Empfehlungsalgorithmen von YouTube. Und dafür haben sie Nutzerinnen und Nutzer gebeten, ihnen ihre YouTube-Daten zu spenden. Mehr als 5000 Freiwillige haben mitgemacht, Informationen zu abonnierten Kanälen, der Watch History und Listen mit Suchergebnissen und personalisierten Empfehlungen mit dem Team geteilt. Rund 2000 Datensätze sind vollständig.
Vorab: Das komplexe System der YouTube-Algorithmen lässt sich nicht vollständig entschlüsseln – dafür sind es zu wenige Daten, die Stichprobe reicht nicht aus, um repräsentativ zu sein für ganz YouTube-Deutschland. Mitgemacht haben Freiwillige. Ob die jetzt alle eher links oder eher konservativ sind, wissen wir nicht. Auch die Altersstruktur ist nicht repräsentativ. Dennoch sind die Ergebnisse interessant.
Der Spiegel fasst die Ergebnisse des Experiments so zusammen:
ZSP Spiegel
"Zumindest im Test mit knapp 2000 Freiwilligen wurden den Usern nur in sehr wenigen Fällen dubiose Videos angezeigt. Dies betraf die Empfehlungen unter dem impfkritischen Video. Bei den Suchanfragen, die alle einen Bezug zur Bundestagswahl oder aktuellen Nachrichten hatten, dominierten Videos großer Medienkanäle wie »Welt« oder »Tagesschau«, die YouTube intern offenbar als seriöse Quellen eingestuft hat.”
Johannes Filter, der Programmierer:
ZSP Filter
"Also YouTube legt ja auch nicht offen. Was sind jetzt die Entscheidungskriterien, dass jetzt da so viel Axel Springer ist oder nichts. Genau das ist ja, das ist ja alles der Grund, warum wir Forschung zu diesen Plattformen betreiben, um mehr herauszufinden, wie das jetzt funktioniert. Und das ist sehr schwierig, weil die Plattformen nicht kooperieren. Es ist ja ein bisschen so, wie so eine Art TÜV. Also wenn mein Auto einen TÜV haben will, dann fahre ich mit meinem Auto zur Werkstatt und die kriegen auch 100 Prozent Einsicht in mein Auto. Und wenn irgendwie YouTube überprüft werden soll, dann müssen sie ganz konkret sehen, was wird produktiv eingesetzt und können dann nicht auch mit irgendwelchen. beispielhaften Datensätzen abgespeist werden."
Immerhin: Dataskop, das Experiment bringt ein wenig Licht ins Dunkel.
Wir wollen es genauer wissen und fragen deshalb bei YouTube nach: Ja. Guten Morgen, mein Name ist Sabine Frank.
ZSP Frank
"Also mein offizieller Titel lautet Head of Government Affairs und Public Policy, YouTube, Dach und CEE. Das Dach steht für die deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz. Und CEE steht für Zentral und Osteuropa. Ja, ich verantworte die politische Kommunikation von YouTube in den genannten Ländern"
Politische Kommunikation bedeutet: Sie vermittelt zwischen den Interessen von Youtube und der Politik und NGOs.
"Also zu sagen, dass es im Prinzip Brückenbauer Job könnte man auch sagen."
Was macht YouTube genau? YouTube ist zunächst einmal eine Videoplattform, die zu 100 % zu Google gehört. Beziehungsweise zur Mutterfirma Alphabet. Seit ein paar Jahren sagt das Unternehmen, dass es die zweitgrößte Suchmaschine der Welt sei. Das ist zunächst Mal ein netter Claim aber auch eine Zustandsbeschreibung des Internets im Jahr 2021: Menschen gehen zu Youtube, um sich zu informieren, um sich zu unterhalten oder zu lernen. Herzstück ist der Algorithmus, der den Nutzerinnen und Nutzern empfiehlt, welche Videos sie sich als nächstes anschauen sollen. Nur wie der genau funktioniert, das macht YouTube nicht publik.
ZSP Frank
"Und das ist natürlich letztlich das Herzstück die Coca-Cola-Formel natürlich auch von Unternehmen, wie spezifisch Algorithmen funktionieren und sich natürlich auch verändert haben."
Ja, klar kennt Sabine Frank die Vorwürfe, die YouTube gemacht werden: YouTube verbreite Desinformation, manipuliere, spalte. Algorithmen-Black-Box.
YouTube zöge die Nutzerinnen in den Kaninchenbau. Nutzer bekommen nach dem Anschauen eines Videos immer weitere, immer fragwürdigere Videos eingespielt.
Oder auch: YouTube sei eine Radikalisierungsmaschine. Frank will mit Statistiken dagegenhalten, zählt auf, wie viele Videos weltweit hochgeladen werden:
ZSP Frank
"Also Sie müssen sich vorstellen, auf YouTube werden jede Minute 500 Stunden neue Video Inhalte hochgeladen. Im zweiten Quartal dieses Jahres haben wir global 6,2 Millionen Videos entfernt und allein diese schiere Masse ist vielleicht. Ich hoffe beeindruckend, aber zumindest aussagekräftig. Aber noch viel wichtiger zu betonen ist, dass es hier auch darauf ankommt, dass möglichst wenig Leute Inhalte wahrnehmen, die problematisch sind, die dann entfernt werden. Und deshalb vielleicht noch eine zweite Zahl. 74 Prozent dieser entfernten Videos wurden entfernt. Mit weniger als zehn zugriffen. nur sehr, sehr wenige Inhalte sind tatsächlich so problematisch, dass sie gegen unsere Hausregeln verstoßen.
Das alles sind Angaben, die YouTube macht. Uns gegenüber im Interview für diesen Podcast. Das alles wird auch im Netz als Transparenzbericht veröffentlicht. Es sind Zahlen, die so klein oder so groß sind, dass sie, wie es Frank sagt, "beeindrucken” sollen.
Allerdings: Überprüfen lässt sich das alles nicht. Schon gar nicht einordnen. Man kann nur mutmaßen. Zum Beispiel, wenn man sich anschaut, welche Auswirkungen bestimmte Youtube-Entscheidungen auf den Rest der Plattformen hat. Am 8. Dezember 2020 hat Youtube angekündigt, Videos zu Wahlmanipulation in den USA von der Plattform zu löschen.
Danach ist die Zahl der Posts zu dem Thema bei Facebook und Twitter drastisch zurückgegangen, wie die New York Times herausgefunden hat. Dass sich die Lüge der Wahlmanipulation trotzdem weiter verbreitete und wir den Sturm aufs Kapitol erlebten, gehört aber auch zur Wahrheit. Desinformation muss man plattformübergreifend betrachten. Die Plattformen befruchten sich gegenseitig - Youtube-Videos werden auf Twitter geteilt, während Tweets in Youtube-Videos verwurstet werden. Die Verantwortungen tragen alle gemeinsam.
PAUSE
[38:45] Und dann ist da noch Amazon. Ein Unternehmen, das im Jahr 2020 386 Milliarden Dollar Umsatz machte und von Schuhen über kleine Boote bis zu Fernsehserien alles verkauft.
Wir baten Amazon Mitte August um ein Gespräch für diesen Podcast, die Antwort kam prompt: "Gerne haben wir Ihre freundliche Anfrage in unserem Hause besprochen, müssen Ihnen aber mitteilen, dass wir Ihnen keine Expert:in für den Podcast vermitteln können.”
Wir wollten mit Amazon sprechen, weil uns etwas aufgefallen ist: Suchen wir mit dem einfachen Stichwort "Impfung" nach Büchern, dann spuckt Amazon Bücher mit Titeln aus wie: "Impfschaden durch Corona Impfung - Die ganze Wahrheit!" "Covid-19: Die ganze Wahrheit: Enthüllungen zum Great Reset, den Lockdowns, den Impfungen und der Neuen Normalität" oder "Corona Impfung - Wir impfen uns nicht" Was ist da los?
Auch das Institute for Strategic Dialogue, ein Thinktank in London und Berlin, hat dazu recherchiert und schreibt:
ZSP ISD
"Amazons Algorithmen tragen dazu bei, dass Nutzerinnen und Nutzer zu Büchern geführt werden, die Extremismus und Verschwörungstheorien fördern. Dazu gehört auch, dass denjenigen, die nach grundlegenden Begriffen wie "Impfung" suchen, Anti-Impf-Bücher als erste Ergebnisse empfohlen werden."
Letztlich handelt der Online-Buchhändler - wie die sozialen Netzwerke - mit Ideen und Informationen und nutzt Algorithmen, um im Verkauf noch besser zu werden. Die Plattform profitiert direkt vom Verkauf von Büchern, einschließlich solcher, die ihren Kundinnen und Kunden sachlich falsche und potenziell schädliche Überzeugungen vermitteln, und leitet Geld an die Autoren dieser Bücher weiter, um die Erstellung dieser Literatur zu entlohnen und zu fördern. Wenn wir also von Social-Media-Plattformen Rechenschaft für die Verbreitung von Desinformation verlangen, sollten wir auch Online-Buchhändler für ihre Rolle bei der Verbreitung von Desinformation zur Verantwortung ziehen.
PAUSE
Ok - aber was können wir denn jetzt tun? Unser diffuses Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wurde etwas erhellt. Aber was machen wir denn jetzt?
Wieder Johannes Filter von Algorithm Watch:
ZSP Filter
"Das sind also diese Entscheidung, diese Entscheidungen auf den Plattformen sind von Menschen gemacht und da steht immer Menschen hinter, dahingegen, wenn jetzt irgend Newsfeeds auf irgendeine Weise implementiert wird, dann ist das menschliche Entscheidung und es kann auch geändert werden (...) Und wir sollten da auch uns überlegen, was wir wollen und nicht so sehr, was die Plattform wollen. Und dann müssen wir das über politische Ebene regulieren zu."
Regulierung. Das ist auch, was Frances Haugen sich wünscht. Und in den USA würde ihr ehemaliger Konzern dann immer die Meinungsfreiheitskarte spielen.
ZSP Haugen
"Facebook will euch glauben machen, dass seine Probleme unlösbar sind. Sie wollen euch glauben machen, dass der Staat sich entscheiden muss zwischen einem Facebook, das voll ist mit spaltenden und extremen Inhalten - oder man würde einen der wichtigsten Werte verlieren, auf die unser Land begründet ist: Die Meinungsfreiheit"
[41:04] In der Europäischen Union wird ebenfalls seit Jahren an Regulierungen gearbeitet. Brüssel will den Plattformen mit dem Digital Services Act - dem Gesetz für digitale Dienste - neue Regeln geben: Es geht um Transparenz, ob Fake-Accounts Wahlen beeinflussen können; wer wie warum weshalb welche Werbung angezeigt bekommt; Wissenschaftlerinnen sollen Zugriff auf Nutzerdaten bekommen; und die EU will Whistleblowerinnen wie Sophie Zhang und Frances Haugen, die Missstände aufdecken, besser schützen.
Was am Ende dann im Gesetz stehen wird, ist noch nicht klar. Und auch unklar ist, wie kontrolliert und sanktioniert wird. Da im Europäischen Parlament noch laufend Änderungsanträge am Text eingehen, sind die Chancen groß, dass der Services Act nächstes Jahr in den Trilog geht - also aktiv ein Kompromiss zwischen Rat, Kommission und Parlament gesucht wird.
Julian Jaursch von der Stiftung neue Verantwortung findet, die Empfehlungen gehen in die richtige Richtung. Und hat auch eigene Ideen, was in dem Gesetz noch stehen könnte.
ZSP Jaursch
"Wenn eine Nachricht da ist, die so aktuell ist, dass die Faktenlage noch wissenschaftlich gesehen noch gar nicht. Gecheckt sein kann. Gibt es dann vielleicht eine Möglichkeit, dass sie zumindest nicht so schnell verbreitet? Beispiel für so eine Maßnahme hatte Twitter ausprobiert Wenn Leute eine einen Tweet retweeten wollen. Mit anderen Leuten teilen wollten, gab's einen kleinen Prompt eine kleine Nachricht. Haben Sie diesen Artikel überhaupt gelesen? Möchten Sie diesen teilen, ohne den Artikel gelesen zu haben? Und es hat sich herausgestellt, dass das teilweise ganz gut funktioniert, teilweise nicht. Und meines Wissens nach wurde diese Funktion aber wieder abgestellt. Ich glaube aber, solche Sachen, solche Maßnahmen zu testen, damit rumzuspielen, ein bisschen zu expandieren. Was funktioniert, ist wichtig."
Das einzige, was man nicht darf, ist diese Lösungen den Plattformen selbst zu überlassen, meint er. Und das bringt uns zur traurigen Pointe dieser Folge. Denn eigentlich haben sich einige Plattformen selbst verpflichtet bei vielen Bereichen, die heute Probleme machen, sich selbst zu regulieren. Code of Practice heißt das Dokument, unterschrieben haben unter anderem Facebook, Google und Microsoft.
Im Dokument findet man Selbstverpflichtungen für transparente Politik-Werbung, mehr Zugang zu Daten für die Wissenschaft und eine strengere Handhabung bei Desinformation. Wie die Lage heute ist - trotz all dieser Selbstverpflichtungen - haben wir in dieser Folge gehört.
PAUSE
[44:35] Das war die fünfte Folge von Netz aus Lügen. Und wir bleiben in der nächsten Folge ein wenig bei dem Thema. Denn wenn Frances Haugen sagt, dass Facebook dafür sorgt, dass Menschen Schaden nehmen - dann sieht man das auch in Indien. Denn hier hat letztes Jahr ein per Whatsapp organisierter Lynchmob sieben Menschen umgebracht.
ZSP Indien
"Die Gerüchte waren im gesamten Gebiet verbreitet, und sogar darüber hinaus im Palghar-Distrikt, im Thane-Distrikt und sogar in Nandurbar, in verschiedenen Nuancen war es dasselbe Gerücht mit zwei Erzählungen: Ein Mal, dass Leute ins Dorf kämen, Räuber oder "Chore" in Marathi, und dass diese Räuber, die ins Dorf kommen Nieren von Menschen ernten würden, besonders von Jungen. Zum Zweiten, dass Menschen kommen, die Corona verbreiten"
Wie geht die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt mit Desinformation um? Und geschieht dort gerade ein Umbau hin zu autoritären Strukturen?? Aber das beim nächsten Mal.
Diese Folge wurde geschrieben von Christian Alt und Sylke Gruhnwald.. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Simone Hundriesser. Fact-Checking: Karolin Schwarz. Produktionshilfe: Lena Kohlwes.
“Netz aus Lügen - die globale Macht von Desinformation” ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Die Folgen stehen unter der Creative Commons Lizenz und dürfen unter Nennung der Herausgeberin zu nichtkommerziellen Zwecken weiterverbreitet werden. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback zu dieser Folge habt, schreibt uns doch unter E-Mail Link: podcast@bpb.de. Und falls ihr noch nicht abonniert habt, tut das doch mal schnell. Denn in zwei Wochen kommt auch schon die nächste Folge. Bis nächstes Mal! | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-03-31T00:00:00 | 2021-11-23T00:00:00 | 2022-03-31T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/desinformation-der-globale-blick/343831/podcast-netz-aus-luegen-die-netzwerke-5-8/ | In der fünften Folge geht es endlich genauer um den Elefanten im Raum: Die Plattformen. Welche Rolle spielen Facebook, YouTube oder Amazon bei der Verbreitung von Desinformation? Und welche politischen Ideen gibt es, um dem entgegenzuwirken? | [
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Mütter heute: Leitbilder, Lebensrealitäten und Wünsche | Familienpolitik | bpb.de | Zumeist scheinen Frausein und Muttersein mit der Vorstellung von Fürsorglichkeit und Häuslichkeit eng verknüpft: In der griechischen Mythologie gibt es die Göttin Hestia, Hüterin des heiligen Feuers, d. h. Göttin von Heim und Herd. Hier spiegelt sich die (weit verbreitete) gesellschaftliche Zuschreibung der Hausarbeit als eine Tätigkeit, die "typischerweise" Frauen erledigen. Neben der Fürsorglichkeit ist auch die Fruchtbarkeit Bestandteil der Definition von Weiblichkeit: In der Kunst z. B. werden Frauen häufig als Fruchtbarkeitsgöttinnen dargestellt, in einigen Kulturen erlangen Frauen durch die Mutterschaft ein höheres soziales Ansehen. Auch in politischen Ideologien wie im Mutterkult der Nazi-Zeit (z.B. Mutterkreuz für Frauen, die mindestens vier Kinder geboren hatten) wird die Mutter in besonderer Weise hervorgehoben.
Jenseits dieser historischen Dimension ist die Mutterrolle auch in der heutigen Zeit in der Medienlandschaft stark präsent: Mütter werden besonders in der TV-Werbung vielfach als perfekt organisierte und attraktive Familienmanagerinnen inszeniert, gleichermaßen vielfach medial berichtet werden tagespolitische Debatten über das Betreuungsgeld, die Wirkung des Elterngeldes oder über den Ausbau der Krippen- und Kindergartenplätze, die von den verschiedenen politischen Lagern zum Teil mit wertenden Kommentaren in die Bevölkerung hineingetragen werden. Die Frage, was eine "gute Mutter" bedeutet, ist eine ganz und gar persönliche Frage. Jedoch ist sie, wie die erwähnten kulturhistorischen, politischen und medialen Beispiele zeigen, auch eine gesamtgesellschaftliche, von der sich Einzelne schwer lösen können. Und daher sehen sich (werdende) Mütter, aber auch Frauen generell, ob mit oder ohne Kinderwunsch, im Kontext der gesellschaftlichen Definition von Frausein und Muttersein mit vielen Fragen und einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung konfrontiert. Gesellschaftliche Leitbilder, persönliche Wünsche und die Rahmenbedingungen, die Lebensrealität, in denen Frauen und Mütter sich befinden, hängen zusammen und führen zu vielschichtigen Herausforderungen. Wie die genannten Aspekte miteinander wirken, soll nachfolgend erläutert werden.
Leitbilder der Familie sind Normalitätsvorstellungen
Jeder Mensch hat eine eigene Vorstellung davon, wie eine Familie im "Normalfall" aussehen kann. "Normal" ist zunächst das Selbstverständliche, Unhinterfragte, von dem ausgegangen wird, dass es meist oder immer der Fall und unter Umständen sogar unumgänglich sei. Und dementsprechend haben Menschen ein Bild im Kopf, wie eine dazu gehörige Mutter idealerweise sein soll. Demnach gibt es ein individuelles Leitbild (Diabaté und Lück 2014; Giesel 2007), das als Orientierungspunkt für das eigene Verhalten dient. Was eine Mehrheit als "normal", richtig und wichtig empfindet, bewerten einzelne andere als "anormal", falsch und unwichtig. Geht man davon aus, dass bestimmte Familienleitbilder aber von vielen Menschen geteilt werden, könnte man auch von gesellschaftlichen Leitbildern sprechen. Solche Familienleitbilder entstehen im Laufe des Lebens durch Erziehung und Erfahrungen. Mutterleitbilder können je nach Kontext unterschiedlich aussehen: Ihre Beschaffenheit hängt von verschiedenen Ländern, Kulturen, sozialen Milieus oder bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ab. Zudem sind sie nicht fixiert, sondern unterliegen einem gesellschaftlichen Wandel. Es ist jedoch anzunehmen, dass Wandel nur langsam geschieht und daher weit verbreitet Familienleitbilder über den Zeitverlauf recht stabil sind. Allerdings können Leitbilder von den Menschen auch neu definiert oder an die Rahmenbedingungen angepasst werden, so dass sich Leitbilder inhaltlich leicht verschieben, sich ausdifferenzieren oder auch alte, lang bestehende Familienleitbilder an Bedeutung verlieren zugunsten von neuen. Am Beispiel des Mutterleitbildes wird nachfolgend deutlich, dass es historisch äußerst stabile Elemente gibt, die seit vielen Jahrzehnten bestehen, jedoch auch (neuere) Elemente hinzugekommen sind, die das Mutterleitbild über die vergangenen sechs Jahrzehnte vielschichtiger haben werden lassen.
Wie soll Erwerbs- und Familienarbeit innerhalb der Familie verteilt werden?
Die Frage nach einer angemessenen Verteilung der beiden Bereiche von Erwerbs- und Familienarbeit bewegt sich zwischen zwei teilweise widerstreitenden Polen und ist mit der Rollenverteilung in Partnerschaften verknüpft: Zwischen der Orientierung am Kindeswohl und dem am Elternwohl bzw. am Partnerschaftswohl. Wer sich eigentlich um ein Kind kümmern soll, sei es Windeln wechseln oder bei der Unterstützung in schulischen Belangen, für den konkurrieren zwei Prinzipien miteinander (Schneider, Diabaté und Lück 2014): Hier steht das Prinzip der Gleichberechtigung innerhalb der Partnerschaft (Erwerbs-, Haus- und Familienarbeit werden zwischen den Elternteilen gleich verteilt) dem Prinzip der "verantworteten Elternschaft" (Kaufmann 1990) und dem "Mythos Mutterliebe" (Schütze 1986) gegenüber. Darunter wird verstanden, dass eine leibliche Mutter von Natur aus stärker mit ihrem Kind verbunden ist, als es der Vater sein kann. Aus dieser Vorstellung folgt, dass die Mutter intuitiv, also "naturgegeben", für ihr Kind immer weiß, was es braucht und sich aufgrund ihres besonders engen Verhältnisses zum Kind stärker engagieren sollte. Diese Norm von Mutterschaft, dass Mütter die "wichtigeren" Elternteile für die Kindesentwicklung wären, spiegelt sich auch im Bürgerlichen Gesetzbuch wider: "Mutter" ist rechtlich gesehen ein biologischer Begriff, weil das Kind durch die Geburt eindeutig der Mutter zugeordnet werden kann. Eine Mutter hat von Geburt an das (alleinige) Sorgerecht für ihr Kind. Der Begriff "Vater" hingegen ist nicht nur biologisch, er ist aus dem juristischen Verständnis in Deutschland ein sozial konstruierter: Der Vater eines Kindes ist nach § 1592 Nr. 1 BGB der Ehemann der Mutter, unabhängig davon, ob er auch der biologische Vater ist. Ohne bestehende Ehe muss die Vaterschaft anerkannt werden, entweder durch den Erzeuger selbst oder durch eine gerichtliche Feststellung. Erst durch die Eheschließung vor der Geburt oder die Anerkennung der Vaterschaft nach der Geburt, bei nicht verheirateten Elternpaaren, kann der biologische Vater auch gesetzlich als Vater anerkannt werden und damit das Sorgerecht erhalten. Ein weiterer Beleg für die besondere Rolle der Mütter für die Erziehungsarbeit ist, dass der überwiegende Anteil der Alleinerziehenden Frauen sind. Auch hier spiegeln sich die zentrale Rolle, die einer Mutter gesellschaftlich zugesprochen wird – und auch das Selbstverständnis von Müttern und Vätern (siehe hierzu auch Interner Link: "Väter heute: Leitbilder, Lebensrealitäten und Wünsche"), im Falle einer Trennung, den Lebensmittelpunkt der Kinder bei der Mutter zu belassen.
Neben dem Prinzip der Mutterliebe steht das Prinzip der "Verantworteten Elternschaft", die beide Hand in Hand gehen: Damit verknüpft sind gesellschaftlich weit verbreitete Vorstellungen davon, wie Kindheit heutzutage idealerweise aussehen sollte. Dazu zählt das Aufwachsen in "optimalen und risikoarmen Lebensbedingungen" (pädagogisch wertvolles Spielzeug, Platz zum Spielen, Natur etc.), mit gesunder Ernährung und frühzeitiger (elterlicher UND institutioneller) Förderung, um nur einige der Ansprüche zu nennen. Daraus wiederum leitet sich ein hohes Bedürfnis vieler (werdender) Eltern nach umfassender Information ab. Dies zeigt sich in den vielen Internetforen für Eltern, aber auch in der Fülle von Ratgeberliteratur. Diese Faktoren, die aus Sicht vieler Menschen zum Gelingen einer "glücklichen" Kindheit beitragen sollen, stellen (werdende) Eltern vor eine große Herausforderung und erzeugen Druck, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Das heißt, Eltern müssen, wenn das Kind da ist, bereit sein, sich komplett darauf einzustellen bzw. sich aufzuopfern. Aus dieser Idee der "verantworteten Elternschaft" resultiert wiederum die Entscheidung, sich die Aufgaben auch dementsprechend aufzuteilen und die Mutterschaft zu professionalisieren: Die Frau trägt in dem daraus abgeleiteten Mutterleitbild die Hauptverantwortung für die Kinderbetreuung, das dazu komplementär ergänzende Vaterleitbild besagt, dass der Vater der Mutter den Rücken finanziell freihalten sollte, damit sie sich ganz um die Kinder kümmern kann. Diese Vorstellung eines Familienleitbildes und diese Art der Aufgabenteilung war seit den 1950ern in Deutschland weit verbreitet, ist heute aber nicht mehr das alleinige Familienleitbild: War beispielsweise das Mutterleitbild in den 1950er Jahren in Deutschland mit klaren Aufgaben assoziiert, ist das gesellschaftliche Bild der "idealen Mutter" oder einer "richtigen Familie" heutzutage vielfältiger geworden. Sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene gibt es ein breites Spektrum an Familienmodellen und Lebensrealitäten, in denen Mutterschaft unterschiedlich gelebt wird, wie beispielsweise in einer sogenannten "Regenbogenfamilie" mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen (Gründler und Schiefer 2013, Rupp 2009). Insgesamt ist festzustellen, dass neben das früher sehr weit verbreitete Modell der Alleinverdienerpartnerschaft heutzutage das Hinzuverdienermodell weit verbreitet ist. Dies bedeutet, dass die Mutter nach der Geburt Teilzeit arbeiten geht und ihren Erwerbsumfang schrittweise an die Bedürfnisse des Kindes anpasst, solange sie ausreichend für ihr Kind da sein kann, so die Sicht derjenigen, die dieses Familienmodell favorisieren. Auch der Vater soll sich aus dieser Vorstellung heraus nun um das Kind kümmern, aber nur so, dass er noch in der Lage ist, für das Familieneinkommen zu sorgen. Dies zeigt sich auch empirisch in den Familienleitbildern:
(© bpb)
In einer Studie zu Elternleitbildern (FLB 2012) fällt auf, dass die Frauen im Gegensatz zu den Männern einerseits eine höhere Zustimmung (83% vs. 71%) aufweisen, dass Mütter nachmittags Zeit für ihre Kinder haben sollten, um ihnen beim Lernen zu helfen. Andererseits stimmen die weiblichen Befragten jedoch häufiger als die männlichen Befragten den Aussagen zu, dass Mütter erwerbstätig sein sollten, um unabhängig vom Mann zu sein (84% vs. 73%) und dass Mütter, die nur zu Hause sind und sich um die Kinder kümmern, irgendwann unzufrieden werden (76% vs. 72%).
Damit ist das Leitbild der nicht-erwerbstätigen Mutter, die vor allem die Erziehungs- und Hausarbeit erledigt, nicht mehr weit verbreitet, dieses Bild scheint knapp ein Drittel der Befragten noch als bewährtes Lebenskonzept zugunsten des Kindeswohls zu sehen. Insgesamt ist festzustellen, dass es einerseits für die überwiegende Mehrheit der jungen Deutschen ein sehr deutliches Leitbild der Mutter gibt, welche nachmittags zu Hause präsent sein sollte, um sich um die Erziehung zu kümmern. Dem gegenüber steht aber auch eine große Akzeptanz von Lebensmodellen, bei denen die Mutter idealerweise für ihre Unabhängigkeit berufstätig sein sollte, weil sie sonst irgendwann unzufrieden mit ihrem Leben werden könnten bzw. weil wegen des Scheidungsrisikos auch nicht dauerhaft von einer finanziellen Versorgung durch den Partner ausgegangen werden kann. Aus diesen Zahlen könnte geschlossen werden, dass es mehrheitlich als optimal gesehen wird, wenn eine Mutter Teilzeit arbeitet und lediglich am Vormittag nicht zuhause ist. Die Ergebnisse zeigen auch die verschiedenen Anforderungen innerhalb der gesellschaftlichen Debatte über "gute Mütter": Eine ideale Mutter soll aus Sicht der jungen Erwachsenen nachmittags zu Hause, gleichzeitig aber auch erwerbstätig und unabhängig vom Mann sein.
Insgesamt lässt sich bei der Betrachtung des Mutterleitbildes feststellen, dass die beiden beschriebenen Grundprinzipien der Geschlechtergleichheit und der "Verantworteten Elternschaft" miteinander konkurrieren und sie werden in der öffentlichen Debatte breit diskutiert. Dabei wird jedoch eine weitere Frage eher überlagert: Wie soll die Arbeit zwischen Eltern und der Gesellschaft verteilt werden? Einerseits werden dabei Lösungen gesucht bzw. angeboten (z.B. "Vätermonate"), um das familiäre Engagement der Väter zu ermöglichen bzw. zu stärken, also die Familienarbeit innerhalb von Elternpaaren gleich zu verteilen und Mütter zu entlasten. Andererseits wird diskutiert, Eltern insgesamt von der Familienarbeit ein Stück weit zu entlasten, indem vermehrt in die Infrastruktur von Kinderbetreuung investiert wird. Mutterwerden: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Die Aufgaben und Verantwortungsbereiche, die einer Mutter heute von Seiten der Gesellschaft zugeschrieben werden, sind breit gefächert. Frauen, die eine Familie gründen wollen oder bereits eine haben, sehen sich heute mit verschiedenen, teilweise miteinander konkurrierenden, Anforderungen konfrontiert. Wunsch und Wirklichkeit müssen irgendwie in Einklang gebracht werden: Frauen möchten sich vor der Familiengründung um ihre Ausbildung und ökonomische Absicherung kümmern, gleichzeitig eine für sie optimale Partnerwahl treffen und ein Arrangement mit Partner und Arbeitgeber finden, welches ihnen eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen kann. Und das nicht nur wegen des Geldes, sondern auch aus dem Bedürfnis heraus, Erwerbsarbeit als Teil der Selbstverwirklichung und persönlichen Weiterentwicklung in das individuelle Lebensmodell zu integrieren, als Gegengewicht zum Privat- und Familienleben. Dabei sind die Frauen selbst Regisseurin, müssen ihre Entscheidungen treffen und ihre Wünsche mit den gegebenen Möglichkeiten realisieren. Diese Aufgaben werden z. T. durch familienpolitische Maßnahmen (z.B. Kinder- und Elterngeld) unterstützt, die darauf abzielen, Eltern Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Lebensmodellen zu ermöglichen. Jedoch wird vielfach diskutiert (s. Gleichstellungsbericht; BMFSFJ 2012), dass die aktuellen familienpolitischen Maßnahmen zwar eine Vielzahl von mütterlichen Lebensentwürfen fördern, jedoch widersprüchliche Signale setzen und lediglich bestimmte Familienmodelle finanziell begünstigen (z.B. verheiratete Elternpaare zuungunsten unverheirateter Elternpaare). Beispielsweise wird einerseits verstärkt auf die Eigenverantwortlichkeit von Frauen und Müttern gesetzt, indem sie im Falle einer Trennung nur eine begrenzte Zeit Ansprüche auf nachehelichen Unterhalt haben. Andererseits werden durch gesellschaftliche Werthaltungen zur Mutterschaft, die sich in institutionellen Regelungen wie den bestehenden steuerrechtlichen Regelungen widerspiegeln, die Versorgerehe in besonderer Weise begünstigt. Da insbesondere in Westdeutschland (ähnlich in Südeuropa und Österreich) die ersten drei Lebensjahre der kindlichen Entwicklung als besonders wichtig erachtet werden, ist hier gesellschaftlich die Vorstellung weit verbreitet, dass ein Kind unter drei Jahren leidet, wenn es nicht von der Mutter betreut wird (European Values Study 2008). Dementsprechend ist in diesem Lebensabschnitt Müttererwerbstätigkeit wenig akzeptiert. Neben diesem gesellschaftlichen Druck für Frauen, Kinder unter drei Jahren selbst zu betreuen, tragen familienpolitische Regelungen wie das Ehegattensplitting und die kostenlose Mitversicherung der (zumeist) Partnerinnen nach der Geburt eines Kindes häufig ebenfalls dazu bei, die Erwerbstätigkeit zu unterbrechen. Diese Unterbrechung kann die Erwerbsbiographie von Frauen nachhaltig und langfristig brüchig machen, nicht selten misslingt der Wiedereinstieg in den Beruf. Aufstiegschancen oder Jobsicherheit für Mütter werden erschwert, Rentenansprüche fallen geringer aus als bei Männern, so dass es insgesamt zu einem ökonomischen Ungleichgewicht in Partnerschaften kommen kann. Dies kann zur Unzufriedenheit für Mütter und Väter führen, da sie aufgrund ökonomischer und auch gesellschaftlicher Zwänge nicht die nötige Wahlfreiheit haben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es sich wünschen und wie sie es brauchen. Dies kann Partnerschaften konfliktbehaftet und auch instabil machen (Beck-Gernsheim 1992). Eine Trennung bzw. Scheidung birgt zusätzlich das Risiko von Altersarmut, besonders für Frauen. Vor diesem Hintergrund können Entscheidungen, die junge Frauen hinsichtlich ihrer Familien- und Berufsplanung treffen, weitreichende lebenslange Konsequenzen nach sich ziehen. Die Abwägung dieser Wünsche und auch Risiken stellt eine große Herausforderung dar, die Entscheidung für eine Mutterschaft ist also voraussetzungsvoll.
Leitbild des idealen Timings: Wann ist der "richtige" Zeitpunkt, Mutter zu werden?
Angesichts der weitreichenden Konsequenzen der früh im Leben getroffenen Entscheidungen ist es nicht verwunderlich, dass junge Frauen (und auch Männer) die Familiengründung zeitlich weiter nach hinten aufschieben, bis sie die für sie notwendig erscheinenden Voraussetzungen erfüllt haben. Man könnte von einem Leitbild des idealen Timings für Familiengründungsprozesse sprechen: Zu dieser Normalitätsvorstellung könnte beispielsweise gehören, dass eine junge Frau zunächst eine Ausbildung absolvieren sollte, dann einen "idealen Partner" findet, mit diesem zusammenzieht und die Partnerschaft festigt. Beruflich erfolgt der Einstieg ins Erwerbsleben, dann die Etablierung im Job (im Idealfall mit einem sicheren Arbeitsplatz), auf privater Ebene ggf. die Eheschließung und dann wird eine Familie gegründet.
In der Realität werden jedoch mittlerweile rund ein Drittel aller Kinder in nichtehelichen Lebensgemeinschaften geboren. Die Forschung (FLB 2012) zeigt außerdem, dass die Ehe heute kaum noch als Voraussetzung für die Familiengründung gesehen wird: Lediglich 10% der Ostdeutschen und 18% der Westdeutschen bejahen diese Forderung. Die Ehe scheint in dieser Hinsicht an Bedeutung verloren zu haben; vor allem im Osten der Republik spielt sie kaum eine Rolle. Bei höher qualifizierten Frauen führen lange Ausbildungszeiten, Auslandsaufenthalte und das Streben nach einer gesicherten Stellung im Beruf auf einem eher unsicheren Arbeitsmarkt zu einer Verzögerung der Familiengründung oftmals in die Mitte oder auch das Ende des 4. Lebensjahrzehntes. In der Forschung wird diese Lebensphase, in der junge Erwachsene Ausbildung und Familiengründung parallel vereinbaren müssen, auch die "Rushhour des Lebens" genannt. Hinzu kommt der sogenannte "Mismatch" auf dem Partnermarkt, d.h. dass viele männliche und weibliche Singles nicht zueinander passen, da ihre Ansprüche sich widersprechen. Hier treffen hoch gebildete Single-Frauen auf Männer, deren Vorstellungen von Partnerschaft und Elternschaft nicht mit denen der Frauen kompatibel sind. Ergebnis vieler Studien zur Partnerwahl (Hassebrauck und Küpper 2002) besagen, dass Männer oftmals lieber Partnerschaften mit "statusniedrigeren" Frauen eingehen, d. h. mit Frauen, die z. B. einen niedrigeren Bildungsstand haben als sie selbst oder weniger Ambitionen, sich beruflich zu verwirklichen. Auch deswegen kann oftmals besonders der Wunsch von höher qualifizierten oder beruflich stark eingebundenen Frauen nach einer (früheren) Familiengründung nicht realisiert werden.
Die Diskrepanz zwischen dem genannten Idealalter für die Geburt des ersten Kindes und dem tatsächlichen Durchschnittsalter zeigt sich generell für alle Bildungsgruppen. Das geäußerte Idealalter liegt bei 27 Jahren (BiB 2012) und damit rund 2 Jahre unter dem von der amtlichen Statistik ausgewiesenen Durchschnittsalter von 29 Jahren bei der Geburt des ersten Kindes (im Jahr 2011). In vielen deutschen Großstädten ist eine Mutter bei der Geburt ihres ersten Kindes 35 Jahre alt und die Zahl der Erstgebärenden über 40 Jahre steigt.
Muttersein: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
In der Gesellschaft hat Mutterschaft gleichermaßen viele Gesichter: Mütter sind aufopferungsvolle Betreuerinnen oder unermüdliche Familienmanagerinnen, oftmals zerrissen zwischen den vielen Ansprüchen an sich selbst und solchen, die sie bei ihren Kindern, dem Partner, der Herkunftsfamilie, dem Arbeitgeber, der näheren Umgebung (z.B. Freunde) und auch in der Gesellschaft insgesamt wahrnehmen. So konkurrieren verschiedene, sich widersprechende Leitbilder von Mutterschaft miteinander. In dieser Gemengelage sind Mütter gleichzeitig noch auf der Suche nach einer inneren Balance, um ihre eigenen Bedürfnisse mit denen ihrer Umgebung ins Gleichgewicht zu bringen. Zusätzlich gibt es gängige und weit verbreitete Vorstellungen davon, wie eine "gute Mutter" sein sollte, wie sie sich gegenüber ihren Kindern und gegenüber ihrem Partner idealerweise zu verhalten hat. Und diese Vorstellungen und Erwartungen an Mütter, die eine breite Gruppe innerhalb der Bevölkerung für normal hält, spiegeln sich in den Medien, aber auch in alltäglichen Situationen, in denen Menschen miteinander über Beruf, Eltern und Familie sprechen, wider. Wenn Frauen von diesen Vorstellungen abweichen, werden sie als "Rabenmütter" (Ruckdeschel 2009) bzw. "egoistische Karrierefrauen" oder aber auch als "Heimchen am Herd" verunglimpft, je nachdem, in welchem Umfeld sich Mütter befinden.
Blickt man über den Tellerrand nach Frankreich, wird deutlich, wie unterschiedlich die Debatte um Mutterschaft geführt werden kann. Hier sind vor allem die Mütter, die nicht erwerbstätig sind und ihre Kinder selbst tagsüber betreuen, Zielscheibe von Kritik. In Frankreich hat sich dafür der Begriff der Gluckenmutter etabliert, die "Mère Poule". Seit einiger Zeit formiert sich in Frankreich jedoch auch eine Protestbewegung (Hesse 2013). Es gibt eine wachsende Zahl von Müttern, die ihre Kinder stillen: Zwischen dem Jahr 1995 und 2012 stieg die Stillquote in Frankreich von 45 auf 69 Prozent. Die neue Mutter-Generation in Frankreich wünscht sich mehr Zeit für sich und ihre Kinder und versteht sich als feministische Avantgarde. Von Kritikern werden sie als "hyper mères" beschimpft.
Hierzulande mehren sich jedoch (offenbar gegenläufig zur Entwicklung in Frankreich) auch Stimmen in der Debatte, die Mütter zunehmend unter Druck sehen, kurz nach der Geburt wieder in den Job zurückzukehren. Deutlich werden diese Konfliktlinien in Deutschland auch im Kontext des viel diskutierten Betreuungsgeldes für Eltern, welches vom 1. Lebensjahr bis zum Einstieg in den Kindergarten an Eltern gezahlt werden soll. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das aktuelle Mutterleitbild in der öffentlichen Debatte. Festzustellen ist, dass in vielen der genannten Positionen selten mit dem "Wohl der Mütter", sondern allein mit dem Kindeswohl argumentiert wird. Frauen sind daher, unabhängig davon, wie sie sich entscheiden, oftmals gezwungen, sich zu rechtfertigen. Es gibt wohl wenig andere Themen, die so stark polarisieren und sowohl positive als auch negative Gefühle wachrufen. Wodurch zeichnet sich eine "gute Mutter" aus?
Viele Menschen haben eine konkrete Vorstellung, wie sich eine "gute Mutter" normalerweise zu verhalten hat. Das jedoch, was die einen als "normal" betrachten, lehnen andere wiederum ab: Während beispielsweise ein Teil der Bevölkerung eine Vollzeit-Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kleinkindern selbstverständlich und auch positiv findet, bewerten es andere als Zumutung für die Mütter selbst und als schädlich für die Entwicklung des Kindes.
In der Studie "Familienleitbilder" (FLB 2012, Gründler et al. 2013) werden Vorstellungen davon, wie ein normales Familienleben aussehen sollte, z. B. auch wie eine "gute Mutter" idealweise zu sein hat, von jungen Deutschen im Alter von 20 bis 30 Jahren untersucht. Besonders zum Leben in der Familie existieren solche konkreten Normalitätsvorstellungen: Beispielsweise dass sich eine Mutter Gedanken über eine optimale Entwicklung und Förderung ihres Kindes machen sollte. Es geht dabei um eine gesellschaftliche Bewertung des Mutterleitbildes, die nichts damit zu tun hat, wer denn nun "wirklich eine gute Mutter" ist oder nicht. Es geht vielmehr um abstrakte Vorstellung von dem Ideal.
(© bpb)
Unter anderem wurde in dieser Studie die Zustimmung zu der Aussage erfragt, ob Mütter nachmittags Zeit haben sollten, um ihren Kindern beim Lernen zu helfen. Es wurde sowohl nach der persönlichen Meinung der Befragten gefragt als auch danach, was die Allgemeinheit in Deutschland dazu denkt. Mit der "Allgemeinheit" gemeint ist die vorherrschende Meinung in Deutschland, also was man im Alltag durch die Medien oder durch den Kontakt mit anderen Menschen besonders oft wahrnimmt. Eine große Mehrheit der Befragten stimmt dieser Aussage persönlich "eher" oder sogar "voll und ganz" zu (77%). In der Gesellschaft nehmen die Befragten dies mit 87% sehr deutlich wahr. Demnach gehört die regelmäßige Hausaufgabenbetreuung nach dem Mutterleitbild der Deutschen zu den selbstverständlichen mütterlichen Pflichten. Da dies allenfalls mit einer Teilzeitbeschäftigung vereinbar ist, entspricht der Befund dem Bild der Mutter als Hausfrau oder "Hinzuverdienerin". Bestandteil dieses Mutterleitbildes ist die Sorge, eine ganztägige Erwerbstätigkeit von Müttern sei schädlich für die kindliche Entwicklung. Dem gegenüber steht aber auch eine starke Zustimmung für Muttererwerbstätigkeit (79%), die auch etwas abgeschwächt in der Allgemeinheit wahrgenommen wird (65%). Gleichzeitig jedoch sind rund ein Drittel der Befragten der Ansicht (29%), dass die Allgemeinheit in Deutschland von Müttern erwartet, dass sie möglichst überhaupt nicht erwerbstätig sein sollten. Auf persönlicher Ebene stimmen dem lediglich 5% zu.
Herausforderung
Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit für Mütter zu verringern, ist eine der zentralen Herausforderungen, nicht nur für die Sozial- und Familienpolitik sowie für die Gesellschaft und Arbeitswelt, sondern auch für Partnerschaften und natürlich für Männer und Frauen selbst. Und sie stellt Männer heutzutage vor die Frage, wie sie ihre (zukünftige) Vaterschaft gestalten möchten und wie die Familien- und Erwerbsarbeit innerhalb der Partnerschaft gerecht verteilt werden kann. Familienarbeit ist auch von Männern immer stärker gewünscht: 64% der 20- bis 39-jährigen (FLB 2012) sind der Ansicht, dass Väter für ihre Kinder beruflich kürzer treten sollten. Junge Männer wünschen sich dies sogar signifikant häufiger als Frauen. Ein Teil der Lösung liegt daher sicherlich auch darin, wie sich das Selbstverständnis von Männern mit Kinderwunsch und Vätern entwickelt und wie sie ihr Bedürfnis nach aktiver Vaterschaft durchsetzen können. Und das nicht nur gegenüber den Interessen und Anforderungen von Arbeitgebern und der Gesellschaft insgesamt, sondern auch gegenüber den Müttern. Hinzu kommt, dass durch die bessere Bezahlung von Männern im Vergleich zu Frauen (gender pay gap) eine Erwerbsunterbrechung für Väter häufig nicht möglich ist, weil das Einkommen der Mutter oftmals nicht zur finanziellen Absicherung der Familie reicht. Außerdem ist neben dem Kindeswohl auch eine Diskussion über die des Elternwohls (Mutter und Vater) gewinnbringend. Der Qualitätsanspruch an Eltern, in der Erziehung ihrer Kinder "alles richtig" zu machen, führt zu einer Pädagogisierung und Hochstilisierung der elterlichen Rollen, zur "Professionalisierung von Elternschaft", besonders von Mutterschaft: Junge Frauen und Mütter sind heutzutage zwischen den tradierten und heutigen Vorstellungen hin- und hergerissen sind (Henry-Huthmacher 2008: 10). Darüber hinaus scheint es eine weit verbreitete Vorstellung von Mutterschaft zu geben, die aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität von Teilen der Gesellschaft als "überfrachtet" wahrgenommen wird (Diabaté 2015).
Die zu Beginn gestellte Frage, wie eine "gute Mutter" eigentlich sein soll, ist letztlich eine individuelle Frage. Jedoch scheint sie stark beeinflusst zu sein von den Vorstellungen, wie Mutterschaft in der Gesellschaft bewertet wird. Sie ist, so zeigt die Forschung, gesellschaftlich stark mit widersprüchlichen Vorstellungen und mit einer Idealisierung verbunden.
Es stellt sich daher die Frage, inwieweit der Staat bestimmte Modelle der Familie und damit auch der Mutterschaft fördern soll bzw. kann oder nicht. Und inwieweit Politik den Druck auf Eltern, besonders auf Mütter, relativieren helfen kann. Darüber hinaus ist überlegenswert, inwiefern die Gesellschaft durch ihre normativen Wertvorstellungen und Leitbilder zum Wohl von Familien, und damit zum Wohl von Kindern einerseits, andererseits aber auch von Müttern und Vätern, beitragen könnte. Denn letztlich sind Kindeswohl und Elternwohl schwer voneinander trennbar. Quellen
Beck-Gernsheim, Elisabeth (1992): Arbeitsteilung, Selbstbild und Lebensentwurf. Neue Konfliktlagen in der Familie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 44,2, 273-291.
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Familienleitbildstudie 2012. Link zur Studie: Externer Link: www.bib-demografie.de/leitbild.
BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2012): Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Stellungnahme der Bundesregierung zum Gutachten der Sachverständigenkommission. Drucksache 17/6240. Stand: Dezember 2012, 3. Auflage.
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(© bpb)
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-09-16T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/familie/familienpolitik/191689/muetter-heute-leitbilder-lebensrealitaeten-und-wuensche/ | Was ist eigentlich heutzutage eine "gute" Mutter? Die Assoziationen sind facettenreich und bewegen sich zwischen Mythos und Alltag. Mütter sollen beispielsweise fürsorglich sowie aufopferungsvoll sein und für ihre Kinder die eigene Berufstätigkeit au | [
"Geschlechterrolle",
"Geschlechterbilder",
"Familie",
"Familienbild",
"Deutschland"
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Activating an archive of inner perspectives – political education with DEFA films | Presse | bpb.de | 1. Only recently the filmmaker Volker Schlöndorff triggered a heated debate about the artistic value of the DEFA films. In an Interview for a German regional paper he stated that: "The DEFA Films were terrible. They were shown in Paris when I studied there, but only in the cinemas of the communist party. We went in there and had a laugh". This, of course, created an uproar from various directors, authors, editors and actors and lead to a long debate. Regardless of who said what and why in this debate, it shows the prevailing legacy of these films. How to appreciate them today? As a film enthusiast I have no doubt that these films are tremendously valuable – whether for their aesthetic quality or their merits as historical, social and political documents. Even more so, I understand their value from my professional perspective as President of the German Federal Agency for Civic Education: These films are very suitable to combine two of the major tasks our institution is involved in. Firstly, our work centers on promoting awareness for democracy and social participation. We do so by taking up topical and historical subjects and issuing publications, organizing seminars, events, study trips, exhibitions and competitions, offering films and on-line products. To cut it short: We want to motivate people and enable them to critical thought about political and social issues and play an active part in our civil society. Secondly we have a multi-media and film-department which promotes for children and young adults to get an understanding of how media works, how a film uses aesthetic means, how it communicates contents. We believe that one cannot do one without the other. To understand how certain political changes come and came about, one has to understand how they are represented, whether on the radio, television, the internet or in cinema. It is here where two of our interests intersect with DEFA films and where our work on the DEFA archive began. 2. In 2005 our institution started an initiative to select some of the DEFA Films and together with the "Stiftung Deutsche Kinemathek", the "DEFA foundation" and "the National Archive" we put them in a DVD Box which was published in 2006 as "PARALLELWELT FILM: EIN EINBLICK IN DIE DEFA". Our goal was not to publish a "Best-of" selection but rather to allow for a first acquaintance with the various facets of DEFA productions. It brings together films like "Wer die Erde liebt" and "Ich war neunzehn". The first one: A film that shows how the tenth World Festival of Youth and Students, taking place in East Berlin in the summer of 1973, was staged as a communist Woodstock, without ever mentioning that the real East German hippies (yes, there were quite a few!) at that time were not even allowed to enter Berlin and had to deliver their passports for four weeks. The second one is an artistic masterpiece by an auteur, enriched with a complex ambivalence that deals with the main themes of GDR ideology: Anti-Fascism, the rivalry with West Germany immediately starting after the end of the Second World War and the GDR´s self-esteem as "the better Germany". In doing so, we approached an archive – one that was closed and which contained more than 12 000 films produced between 1946 and 1993. An archive that was vast and well-kept, that held all the films and would grow no more. In respect to this archive held by the DEFA foundation, our task was not to support its preservation but rather to activate it, to make it accessible. Activation then, meant two things for us. First of all, by producing the DVD and distributing it through our media-stores, the internet and partners we made these films available again to a wider public (DEFA films are hardly ever shown on German TV channels!). And maybe not only the films, but also a part of the GDR history, its cultural context, a point to which I will come back a little later. Secondly, we tried to enhance the effect of activation by embedding the films into a historical context and combining them according to thematic similarities. We chose "women and emancipation", "beginning and end", "work and daily life", "children and youth" and "history and representation". To ham it up just a little bit, one could maybe call this an act of keywording the archive. This allows for a structured examination of the films and alleviates a comparison of the DEFA film-culture with other film-cultures, for example the one of the late West Germany. We additionally supplied the DVD Box with a booklet that contained background information on the film and its political context and another booklet that offers spreadsheets and exercises for working with the films in an academic context ranging from school to university. Here again, both our objectives found their way into these materials. You can find tutorials on historical topics as well as aesthetic questions and thus learn not to think the one without the other. To approach the material in the archive and activate it thus meant to make a selection which tries to give an overview of the DEFA as a whole and provide a framework of topical approaches, context materials and exercises for the school. Our audience, then, was clear. We wanted to reach younger people who have never gotten to know the GDR when it existed. We are aware, of course, that most of them probably have some sort of conception of what the GDR was. But this is ever so often dominated by a mass media discourse fluctuating somewhere between the image of the "secret police-state" and a nostalgia of simple, socialist times (where "not everything was good", as an ironical saying goes in the East). The film critic Ralf Schenk, for example, described the image of the GDR portrayed by such films as "Sonnenallee" (Leander Haußmann, 1999) as following: "Member of the people´s police and secret-police men appear as sappy fairy-tale figures, who were easily outsmarted. Even the Wall lost some of its terror". Even in more ambitious films such as "Das Versprechen" by filmmaker Margarethe von Trotta he discovers a "collection of comforting clichés", "where the GDR witnessed its reincarnation as a dark, grey country devoid of joy, in which suppression and espionage dominated daily life." (Just think about how the East was portrayed in Hitchcock´s "The Torn Curtain" in the 1960s) Without discussing the cinematic or historical approach of such films, one nevertheless feels that a certain every-day reality, whether social, historical, political or otherwise, is missing in these representations. It is in this blank space of the majority´s conception of the GDR today – largely a black box - that the DEFA box should find its audience. We felt that it could complement a visual archive of what exactly the GDR was by adding an inner perspective to the existing discourse. Currently we are distributing an average of about 60 film boxes per month all over the country; the fee is 25 Euros. 3. After having briefly outlined in which fashion we approached the DEFA as an archive and how we perceive our audience, I now want to say something about the function of the DEFA films as an archive. In other words, I want to respond to the idea which knowledge and information has been activated and in how far this may help to enhance critical thought to political and social issues by giving examples from the films themselves. Just like films such as "Sonnenallee" are a mirror of a society´s positioning towards their own past at the moment of its production, the DEFA films are an invaluable signifier of different viewpoints on societal questions from inside the GDR. They – so it seems - add representations from "inside the GDR" to those films which have been produced since 1989 and which often develop a visual archive of representations from an outside perspective. The DVD section called "history and representation" for example contains the films "Ich war neunzehn" by Konrad Wolf and the propagandistic "Einheit SPD-KPD" by Kurt Maetzig. In both films, the GDR tradition of anti-fascism – which strongly coined the self-concept of the GDR - is represented in the form of a biographically inspired artwork and from the obvious standpoint of the SED. Thus, one can gain an understanding, that the GDR was not a society that in its totality regarded every German from the other side of the wall as fascist. As we can see in "Ich war neunzehn" Konrad Wolf painted a highly differentiated picture of the last days of the war. Ralf Schenk points to the importance of the film when he notes that its narrative openness has not really had any predecessors within the history of German films and concludes that this allowed for "a correspondence of tragic, lyrical and funny elements as well as a variety of characters who carry a variety of mind-sets." A notion that the propagandistic film "Einheit SPD-KPD" does not suggest. By comparing these two films one understands the discrepancy between the official self-concept which a state would like to promote and an individualistic view on the same matter from people within that state, in this case the artist Konrad Wolf. At the same time, these films prove just how many-sided the DEFA and the GDR were and thus add another aspect to the later films on the GDR. "Ich war neunzehn" in particular is an excellent example of how complex the best DEFA films really were: On the one hand its aesthetic qualities are radical, and its position on ideological questions is extremely ambivalent. On the other hand the film was appointed to be an obligatory part of "Staatsbürgerkunde" (civics lessons) in the GDR schools. A film like "Berlin – Ecke Schönhauser" is an archive of glimpses into a lively and authentic youth culture and its problems when being confronted with the image of an ideal socialist adolescent. At the same time the film is also a reminder of the artistic vibrancy of the DEFA films and the ones involved. One can clearly detect influences of Italian Neorealism, as one might be surprised to see obvious borrowings from the US-Western genre in "Spur der Steine". This is not to imply that the GDR was not such a bad place after all, but rather that it was a society as many-sided as any other and thus produced a film culture where artists tested their artistic boundaries inside a rigid system. While these films stand for an interesting accumulation of creative energy within a system whose main task was to define history and the present according to its own ideology, a film like "Sabine Kleist, 7 Jahre" by Helmut Dziuba shows just how subversive some of these films were. Here, Lewis Carroll´s story of "Alice in Wonderland" is transformed into Sabine Kleist, a 7 year old girl, walking through the GDR. Originally conceptualized for children, the film takes the viewer on a tour through the GDR seen with the eyes of a child. These images provoke a curiosity that could hardly be achieved by reading history books which describe the day to day life of 1982. Last but not least, a film like "Die Architekten" stores in its archive a feeling that no history book could ever capture. When watched with young people and contextualized by, for example, a teacher, it allows for a deep understanding of how it feels to live and work inside a repressive system which is so concerned with its own legitimization and even survival that it suppresses anything out of the ordinary, anything new and ultimately anything vibrant. One can read about the SED´s ideas of culture, one can look at the photos of house after house in the GDR looking alike. But watching "Die Architekten" also opens up the archive of an emotional state: As the film´s author Thomas Knauf describes it: "What I broached upon in Die Architekten´ I would describe as my generation´s experience: namely the deep-rooted distrust of the country´s fathers towards their sons". As Thomas Brasch once put it: "Vor den Vätern sterben die Söhne", the sons die before their fathers. I would argue, that it thus allows young people to not only intellectually understand the conditions within the GDR but in some ways share the experience and thus develop a sort of empathy and deeper understanding. The film, in the end, finds a most powerful image for what must ultimately happen inside a suppressive system – just as its protagonist Daniel Brenner in the end - it has to collapse. 4. To sum it up one could say that the DEFA films function as an archive of an inner view on the GDR, on its daily life and routines, its self-concept and its failings, its ideology and its people – plain and simple: on its ambivalence. Apart from films being very often a much more intimate medium to young people nowadays than, for example, books, they also show us "real", visual material of the world it is talking about. Through the choice of the director, we do not only see these facts but we see a variety of perspectives on these facts which allows us to get a more differentiated and hopefully realistic view from inside the GDR. I would like to give you one more example, this time not from our film box. One of the most successful GDR TV series, the "Whodunit" "Polizeiruf 110" (emergency call 110) was also produced in the DEFA studios. If you watch this crime series today you can learn a lot about how the GDR changed over the years until it collapsed. When the series started in the early 1970s (as an answer to West German television which was dominating the GDR sitting rooms) it hardly ever showed capital crimes – if at all, they were narrated as "influences from the West". In the 1980ies, however, it was entirely different: Very openly the series was dealing with social evils every citizen in the GDR was fully aware of: drinking, social rehabilitation of prisoners, fraud, child molesting – even murder was shown to have "internal" GDR reasons. Even the omnipresent portrait of Erich Honecker vanished from the police offices... This search for an internal view has also led us to publish a book called "Die Spur der Filme: Zeitzeugen über die DEFA". Its title referring to the DEFA Film "Spur der Steine", the book brings together a variety of interviews and quotations from different contemporary protagonists of the DEFA. Here again our task was to activate an archive by making it accessible and to contextualize it. 5. Our involvement in approaching the GDR through visual means is an ongoing-process. Apart from these large projects we publish dossiers on the question how the GDR is represented in films after '89 or articles with background information on recent films such as "Friendship". We do this because we believe that our task is to keep activating the archives that tell us more about the GDR – may these be from the outside or the inside. In this context, the DVD Box "Parallelwelt Film" stands for a much wider issue that we as an institution stand for: In contrast to traditional archive-policies, which are oriented towards conservation we want to activate these archives. And we want to raise awareness for a common, perhaps unified, view of German post war history in which the 40-year-period of two independent states is the shared heritage of West and East Germans alike. The Leipzig historian Günther Heydemann recently wrote a very instructive text on "Integrated German Post-War History", published in our weekly "Aus Politik und Zeitgeschichte": "In spite of their diametrical double German Post-War history always belonged to all Germans. Regarding the example and learning from our recent history the supremacy of a constitutional state and democratic power over one-party rule should become too obvious." The films of the DEFA thus also belong to all Germans. Education, learning and literacy can only take place in a field where the initially preserved is opened up and thus becomes the basis of a collective memory. Far away from questions of political correctness this allows for a more ambivalent, at times unsettling glimpse at "the real life within the false". I thank you for your attention! - Es gilt das gesprochene Wort - | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/51105/activating-an-archive-of-inner-perspectives-political-education-with-defa-films/ | Rede von Thomas Krüger auf dem Symposium "Making History Revisible: East German Cinema after Unification" am 24. April 2010 in Indiana, USA | [
"Unbekannt (5273)"
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Editorial | Krieg in der Ukraine | bpb.de | Seit mehr als einem Jahr herrscht Krieg in der gesamten Ukraine. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen und von westlichen Geheimdiensten sind dem russischen Angriffskrieg bislang Zehntausende Frauen, Männer und Kinder in der ukrainischen Zivilgesellschaft und noch einmal deutlich mehr Soldaten auf beiden Kriegsseiten zum Opfer gefallen. Fast acht Millionen Menschen haben die Ukraine mittlerweile verlassen, weitere sechs Millionen wurden zu Binnenflüchtlingen. Der Alptraum, der für viele Menschen in der Ukraine bereits 2014 begann, hält unvermindert an. Sein Ende ist nicht abzusehen.
Selten war in der jüngeren europäischen Geschichte die Illegitimität eines kriegerischen Angriffs so eindeutig wie in diesem Fall, waren Aggressor und Opfer so klar identifizierbar. Die moralische Pflicht, den Angegriffenen zur Seite zu stehen, kann daher nicht infrage stehen. Dass aber über Ausmaß, Form und Ziel der Hilfe diskutiert, mitunter auch heftig polemisiert wird, gehört in einer offenen Gesellschaft zur Auseinandersetzung dazu. Auch die Frage, wie es zu diesem Krieg gekommen ist und welche Lehren daraus für die Zukunft gezogen werden können, ist legitimer Gegenstand konstruktiven Streits in einer liberalen Demokratie. Die jeweils andere Seite wahlweise als "Kriegstreiber" oder "Russlandversteher" zu diskreditieren, trägt gleichwohl kaum zur Verständigung bei.
Auch nach einem Jahr "Zeitenwende" tasten sich Politik, Wissenschaft und Gesellschaft mehr oder weniger langsam und vorsichtig an die neuen Realitäten heran. Dabei ist es eigentlich keine Schwäche der Demokratie, sondern ihre Stärke, dass sie sich für solch fundamentale Entscheidungen, wie sie heute von ihr verlangt werden, Zeit nimmt und Argumente abwägt. Dass die Menschen in der Ukraine für solche Abwägungsprozesse faktisch keine Zeit haben, gehört allerdings ebenfalls zur Wahrheit – und zeigt das ganze Dilemma demokratischer Politik in Zeiten des Krieges. | Article | Sascha Kneip | 2023-03-06T00:00:00 | 2023-03-03T00:00:00 | 2023-03-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/krieg-in-der-ukraine-2023/518827/editorial/ | Seit mehr als einem Jahr herrscht Krieg in der gesamten Ukraine. Der Alptraum, der für viele Menschen in der Ukraine bereits 2014 begann, hält unvermindert an. Sein Ende ist nicht abzusehen. | [
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Pressefreiheit in Europa | Pressefreiheit | bpb.de | So frei und unabhängig wie in Europa können Journalistinnen und Journalisten weltweit sonst allenfalls in den USA und Kanada, in Australien und Neuseeland arbeiten. Wer aber genauer hinschaut, dem wird klar: Pressefreiheit ist auch in Europa ein angreifbares Recht. Ob durch neue Gesetzesinitiativen bestimmter Regierungen, veränderte Besitzverhältnisse und Strategien von Medienkonzernen oder angestoßen letztlich durch thematische Herausforderungen wie Flüchtlingsbewegung, Terrorismus, Populismus und digitale Überwachung: Es gibt immer wieder Versuche, Medien zu gängeln, und somit genügend Anlässe, sich um die Freiheit der Berichterstattung zu sorgen. Aufgeweckte Seismografen in internationalen Organisationen und die Standards, die der Europarat und die Europäische Union ihren Mitgliedern für ihre Medienlandschaften abgerungen haben, bilden wichtige Gegengewichte. Doch sind sie schwer genug?
Pressefreiheit bedeutet zum einen das Recht, zu "pressen", zu drucken, also Medienunternehmen zu gründen, und zum anderen das Recht, Informationen und Meinungen zu verbreiten. Pressefreiheit hat somit eine ökonomisch-unternehmerische sowie eine publizistisch-inhaltliche Dimension. Politisches System und Medienfreiheit stehen dabei in Bezug zueinander: In demokratischen Gesellschaften sind Medien sowohl ein Wirtschaftsgut als auch ein Kulturgut, das meritorische Züge trägt, also dem Gemeinwohl ähnlich zuträglich ist wie etwa die Bildung oder die medizinische Versorgung. Speziell die Informationsmedien tragen hohe Verantwortung für den demokratischen Diskurs. Sie sollen die Zivilgesellschaft informiert halten, sodass jeder Einzelne auch aufgeklärt und bewusst sein Wahlrecht wahrnehmen kann. Die meisten europäischen Länder sind demokratisch verfasst, freies und unabhängiges Berichten wird als erstrebenswert anerkannt. Doch die Wirklichkeit sieht häufig anders aus, die Unterschiede auch innerhalb Europas sind groß. Medienfreiheit ist eine fragile Norm – in allen europäischen Ländern.
Normen und ihre Grenzen
Die Pressefreiheit entwickelte sich zunächst in England, wo 1695 das erste Gesetz zur Abschaffung der Zensur verabschiedet wurde, und erreichte dann über die USA, wo sie durch die Amerikanische Revolution zu einem Grundrecht wurde, im Zuge der Französischen Revolution auch das übrige Europa. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 durch die französische Nationalversammlung war zwar ein starkes Signal, aber der Durchbruch der Pressefreiheit auf breiter Ebene folgte erst im 20. Jahrhundert. Die historische Entwicklung verlief jedoch nicht einheitlich: Während einige europäische Länder die Freiheit der Medien schon früh und kontinuierlich garantierten, durchliefen andere Länder faschistische oder kommunistische Phasen, in denen die Medien kontrolliert und gelenkt oder als Propagandainstrumente und Agitatoren benutzt wurden. Durch den Zusammenbruch des Faschismus nach 1945 und nach dem Ende der Sowjetunion 1991 weitete sich der Raum der garantierten Medienfreiheit auf die meisten europäischen Länder aus.
Die EU plus einige weitere europäische Länder bilden heute einen Raum, in dem die Medienfreiheit höchste Standards erreicht. Durch die europäische Perspektive rückt ins Licht, dass nicht nur Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung als gemeinsame europäische Kulturgüter, ja als "typisch europäisch" angesehen werden können, sondern auch Medienfreiheit und public service, also öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Inzwischen haben viele europäische Länder nach dem Vorbild der britischen BBC einen staatsunabhängigen und gebührenfinanzierten Rundfunk aufgebaut, der im öffentlichen Auftrag auch über Themen aufklärt, die sich im Markt nicht rechnen würden.
Wie jede Freiheit hat auch Pressefreiheit Grenzen. Die Art, wie sie eingeschränkt wird, liefert Rückschlüsse auf die Medien- und Journalismuskultur sowie auf das politische System. In Diktaturen herrscht Zensur als eine Art von Einschränkung, die letztlich die Willkür der Machthabenden schützt. In Demokratien schützen Beschränkungen der Berichterstattung die für den Staat notwendige Geheimsphäre und die für den Einzelnen notwendige Privatsphäre und dämmen so die Willkür von Medien ein.
Media Governance, verstanden als ein System vertikaler Regulierung (nationale, europäische und globale Ebene) sowie horizontaler Regulierung (durch staatliche Regulierung, Co-Regulierung und Branchen-Selbstregulierung wie Presseräte und Kodizes), schützt die Medienfreiheit, sichert Privilegien und definiert Grenzen. Der Europarat schuf 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Artikel 10 Absatz 1 das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Medienfreiheit garantiert: "Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben." Die Staaten dürfen aber Genehmigungen für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen vorschreiben. Alle 47 Mitgliedsländer des Europarats haben die Konvention unterschrieben. Neben den 28 EU-Staaten sind das die Länder der Europäischen Freihandels-Assoziation (EFTA) Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz, ferner die EU-Beitrittskandidaten Albanien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und die Türkei sowie der potenzielle Kandidat Bosnien und Herzegowina, dazu noch Armenien, Aserbaidschan, Georgien, die Republik Moldau, Russland und die Ukraine.
In Artikel 10 Absatz 2 EMRK wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Meinungs- und Medienfreiheit an Pflichten und Verantwortung gebunden ist. Dazu gehört bei journalistisch Tätigen die sorgfältige Abwägung von öffentlicher Relevanz, bevor sie entscheiden, ob sie Informationen, die eigentlich geheim oder privat sind, öffentlich machen, weil sie einen bedeutsamen Missstand enthüllen. Die verschiedenen europäischen Journalismus-Ethikkodizes bieten einen ethischen Kompass an, der hilft, solche Entscheidungen zu treffen: wann etwa Berichterstattung aus gesellschaftlicher Verantwortung heraus oder auf Rücksicht auf die menschliche Würde eingeschränkt werden sollte. Auch nationale Gesetzgeber und die Rechtsprechung bestärken oder verschieben die Grenzen der Pressefreiheit. Prominente Beispiele aus Deutschland sind die "Spiegel"- und "Cicero"-Urteile des Bundesverfassungsgerichts von 1966 und 2007, die jeweils eine Stärkung der Pressefreiheit bedeuteten.
Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat in etlichen Ländern und Fällen die Medienfreiheit gestärkt und journalistisch Tätigen ihre Freiheiten gesichert. Die nationalen Behörden der Mitgliedsländer des Europarats sind dazu verpflichtet, die EGMR-Urteile umzusetzen. Ein Beispiel bietet ein Fall aus der Schweiz: Das Schweizerische Bundesgericht verurteilte 2008 vier Journalisten der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, eines Public-service-Anbieters, wegen Verletzung der Privatsphäre durch unbefugtes Mitschneiden von Gesprächen zu Geldstrafen. Daraufhin rief einer der Verurteilten, der damalige Chefredakteur des Fernsehens in der Deutschschweiz, Ueli Haldimann, den EGMR in Straßburg an. Anlass war ein Beitrag in der Konsumentenschutzsendung "Kassensturz" von 2003, der mit versteckter Kamera Missstände in Beratungsgesprächen mit Versicherungen dokumentiert hatte. Der EGMR gab in seinem Urteil 2015 den Journalisten Recht: Der Beitrag sei von hohem öffentlichen Interesse, das Bundesgerichtsurteil verstoße gegen die Medienfreiheit. Seismografen der Medienfreiheit
Medienfreiheit braucht ein Netzwerk aus Anwälten und Frühwarnern, die Status und Standards der Pressefreiheit kontinuierlich beobachten, Verschlechterungen und Repression von Journalisten ansprechen und diese rasch auf die Tagesordnung bringen – in der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien, in der Öffentlichkeit. Dieses Anliegen verfolgen Journalisten in nationalen und internationalen Verbänden, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie Funktionsträger internationaler Organisationen.
Eine dieser Funktionsträgerinnen ist Dunja Mijatović, die Beauftragte für die Freiheit der Medien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die in den 57 Mitgliedsländern beharrlich darauf hinweist, wenn die Medienfreiheit nicht ausreichend respektiert wird. Ähnlich agiert Ingrid Deltenre, die Generaldirektorin der European Broadcasting Union (EBU), eines Zusammenschlusses von 73 Rundfunkanstalten in 56 Staaten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens mit Sitz in Genf. Sie ermahnt eindringlich die Regierungen dieser Länder, wenn diese die Unabhängigkeit insbesondere der öffentlich-rechtlichen Rundfunkmedien nicht wahren.
Die NGOs Reporter ohne Grenzen (ROG) und Freedom House (FH) ordnen ihre Einschätzungen zur internationalen Medienfreiheit in Ranglisten: FH aus dem Blickwinkel der weltweiten Entwicklung der Demokratie, ROG aus dem der Meinungs- und Informationsfreiheit sowie der Repression von Journalisten. An ihren Erhebungsmethoden wird zwar zum Beispiel kritisiert, dass sie sich nur auf wenige Experten stützen, die fast alle aus dem westlichen Kulturkreis stammen, und selten Empfehlungen bereithalten, wo Verbesserungen ansetzen könnten. Zudem definieren beide Organisationen den Begriff "Pressefreiheit" gar nicht, sondern stellen nur ihre Ordnungskategorien vor: FH fragt nach gesetzlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, ROG sortiert in die Kategorien Pluralismus, Medienunabhängigkeit, Selbstzensur, Rechtsrahmen, Transparenz und Infrastruktur. Aber: Beide Rankings ermöglichen kontinuierlich eine international vergleichende Einschätzung und liefern somit verlässliche Hinweise, wo und wie die Medienfreiheit gefährdet ist.
FH stufte im Berichtsjahr 2015 insgesamt 86 der 197 weltweit analysierten Länder als "frei" ein, 59 als "teilweise frei", 50 als "nicht frei". Europa schneidet zwar sehr gut ab – 36 von 42 Länder landen in der Kategorie "frei", die anderen in "teilweise frei" –, aber FH konstatiert zugleich einen weltweiten Negativtrend, der Ungarn, Mazedonien, Moldau, Montenegro und den Kosovo besonders stark erfasst habe. ROG stellt in seinem jüngsten Bericht fest, dass sich die 2014 begonnene Erosion der europäischen Vorreiterrolle bei der Pressefreiheit fortgesetzt habe. Die meisten EU-Mitglieder belegen unter den 180 Staaten und Territorien Plätze der Kategorien "gut" und "zufriedenstellend", fünf Länder werden in die dritte Kategorie "erkennbare Probleme" eingestuft. Besser platziert als im Vorjahr sind nur neun Länder. Nochmals verschlechtert hat sich die Lage in Bulgarien, dem Schlusslicht unter den EU-Ländern. Den bei weitem stärksten Einbruch gab es in Polen: um 29 Plätze auf Rang 47.
Eine neue Initiative wurde 2015 in Leipzig gegründet: Das aus EU-Geldern und Stiftungsmitteln finanzierte Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) setzt sich für die Freiheit der Medien gegenüber staatlichen Eingriffen sowie für den freien Zugang von Journalisten und Bürgern zu Informationsquellen ein und hat bereits eine eigene "Europäische Charta für Pressefreiheit" entwickelt. Das Ziel der Organisation ist es, dass alle EU-Mitglieder und Beitrittsinteressenten die Charta anerkennen und Journalisten in ganz Europa sich bei Konflikten mit staatlichen Stellen auf sie berufen können. Gefährdungen und Herausforderungen
Die Gefährdungen der Medienfreiheit in Europa sind von Land zu Land unterschiedlich – insgesamt aber lassen sich vor allem drei ausmachen: erstens Druck durch staatliche Übergriffe wie Zensur, Strafverfahren oder Zwangsübernahmen; zweitens wirtschaftlicher Druck etwa durch Medienkonzentration und Werbeboykotte sowie daraus resultierender Lohn- und Zeitdruck; und drittens Druck als Folge von wachsenden Ängsten in der Bevölkerung – hervorgerufen sowohl durch die sogenannte Flüchtlingskrise als auch durch Anschläge internationaler Terrorgruppen. Die Ängste bilden sich auch ab in zunehmender EU-Skepsis und wachsendem Zuspruch für Populisten, die ihrerseits ein pauschales Misstrauen gegenüber den Medien schüren, das sich in enttäuschten Publikumskommentaren und "Lügenpresse"-Geschrei entlädt. Dies wiederum fördert Unsicherheiten und Verzagtheit bei manchen Medien, die sich nicht mehr transparent zu berichten trauen, bis hin zur Selbstzensur.
In Polen hat die nationalkonservative Regierung unter Beata Szydło nach dem Sieg bei der Parlamentswahl 2015 in Windeseile begonnen, ihr Land autokratisch auszurichten. Sie schränkt öffentlich-rechtliche Medien massiv ein und will private Medien "repolonisieren", sie also von ausländischen Verlegern zurückkaufen. Im Januar 2016 wurde das Führungspersonal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgetauscht, ab sofort entscheidet der Schatzminister der polnischen Regierung über die Personalbesetzung. Kritische Sendungen wurden aus dem Programm genommen. Als nächstes, so kündigte die Regierung an, werde sie die Datenerfassung und die elektronische Überwachung neu regeln.
Ähnlich hat in Ungarn Ministerpräsident Viktor Orbán die Zweidrittelmehrheit seiner Fidesz-Partei im Parlament genutzt, um die ungarische Medienlandschaft in eine weitgehend gleichgeschaltete umzubauen. Im Dezember 2010 bekam das Land ein Mediengesetz, das die staatlichen Kontrollen über öffentlich-rechtliche Medien hinaus auf Privatsender und Internetdienste ausweitete; Journalisten wurden mit Strafandrohungen gegängelt. Die kritische Reaktion der EU-Kommission bewirkte zwar, dass Ungarn während der eigenen EU-Ratspräsidentschaft zeitweilig zurückruderte, aber nur bis zum Ende der Amtszeit im Juli 2011. Den meisten ungarischen Bürgern behagt Orbáns Kurs offenbar, denn seine Partei gewann 2014 erneut die Parlamentswahl.
In Frankreich, Italien und besonders stark in Griechenland erweist sich als problematisch, dass viele Medien Großkonzernen mit Geschäftsinteressen in diversen Branchen gehören. In Griechenland ist die politische Elite mit mächtigen Wirtschaftszweigen verflochten und kontrolliert die Medien weitreichend; strukturell besteht nahezu keine Medienvielfalt. Die Besitzer von Medienunternehmen sind auch in anderen Branchen einflussreich und nutzen die Medien, um ihre eigenen politischen Ansichten in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Politiker schicken Medien zum Teil Anweisungen, wie sie berichten sollen, Skandale bleiben oft unter dem Deckel. In der Türkei gehen Regierung und Justiz massiv gegen kritische Berichterstattung inländischer und ausländischer Medien vor, stellen Redaktionen bisweilen unter Zwangsverwaltung, verhängen Nachrichtensperren und erhöhen den allgemeinen Druck auf Journalisten durch Verhaftungen und zweifelhafte Urteile.
In Russland gibt es trotz aller Schikanen nach wie vor unabhängige, oftmals stiftungsfinanzierte Medien wie die Tageszeitung "Nowaja Gaseta" oder den Radiosender "Echo Moskwy". Eine zweite Möglichkeit, andere Sichtweisen anzubieten, schränkt ein Anfang 2016 in Kraft getretenes Gesetz ein, das die Beteiligung ausländischer Medienunternehmen an russischen Medien auf maximal 20 Prozent begrenzt. Bis dahin gab es im Printbereich keine Beschränkung und im Rundfunk eine Höchstbeteiligung von 50 Prozent. Das neue Gesetz könnte einerseits schwächelnden russischen Medienhäusern durchaus nützen, weil sie für sich mehr vom "Werbekuchen" abschneiden können. Andererseits ist damit ein Einfallstor für unabhängigen Journalismus in Russland zugeschlagen worden. Mit vergleichbaren Regeln schränken übrigens auch Länder wie Frankreich und das Vereinigte Königreich Investitionen ausländischer Medienhäuser ein.
Ralph Büchi, Präsident der internationalen Sparte des Berliner Medienkonzerns Axel Springer, beschreibt die Situation wie folgt: In Polen, Ungarn, Serbien oder der Slowakei könne sein Haus ohne Restriktionen der Regierung agieren, unabhängigen, professionell gemachten Journalismus anbieten und damit auch diesen noch jungen, leicht zu verunsichernden Demokratien helfen. In einem autokratisch agierenden System wie Russland sei das durch das neue Gesetz jedoch nicht mehr möglich. Springer gab in Russland lange Zeit zum Beispiel "Geo" und das Politikmagazin "Forbes" heraus, hat nun aber alle Anteile an einen russischen Unternehmer verkauft. Dieser kündigte schon kurz darauf an, dass er "Geo" einstellen und "Forbes" von einem politischen auf einen wirtschaftlichen Kurs bringen werde. Nagelprobe Informantenschutz
Auch in Deutschland kam Medienfreiheit 2015 aus verschiedenen Richtungen in Bedrängnis. So gab es nicht nur einen Anstieg direkter, zum Teil auch gewalttätiger Übergriffe auf Journalisten, etwa bei Demonstrationen der Pegida-Bewegung. Auch gesetzliche Neuregelungen wie das Gesetz zur anlasslosen befristeten Vorratsdatenspeicherung von Telefon-, Mobil- und Internetverbindungsdaten erschweren – trotz Sonderregeln für Journalisten – den Schutz von Informanten und damit die investigative Recherche. Wegen des Verdachts des Landesverrats gab es im Juli 2015 gar Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen die Betreiber des Blogs "Netzpolitik.org", Markus Beckedahl und Andre Meister, und ihren Informanten. Die Journalisten hatten über den geheimen Ausbau der Internetüberwachung durch den Verfassungsschutz berichtet und als vertraulich eingestufte Dokumente veröffentlicht. Zwar wurden die Ermittlungen gegen Beckedahl und Meister nach öffentlichen Protesten eingestellt, nicht aber jene gegen den Informanten.
Inwiefern und ob Informanten und Whistleblower künftig mehr Schutz benötigen, ist europaweit ein kontrovers diskutiertes Thema. Denn ob ein ausreichender Schutz von Informanten erwünscht ist oder nicht, hängt von der Perspektive ab: Whistleblower durch Gesetze besser zu schützen, bedeutet mittelbar, dass auf der einen Seite Fehlverhalten staatlicher Institutionen leichter öffentlich gemacht werden kann (was in der Regel nicht im Interesse dieser Institutionen liegt) und auf der anderen Seite auch Steuerbetrugsfälle leichter aufgedeckt werden können, durch die dem Fiskus sonst viel Geld verloren ginge (was durchaus im Interesse der Finanzbehörden liegt). Informantenschutz ist zudem eine Frage der Professionalität: Versierte Journalisten wissen, wie sie auch im Digitalen Recherchespuren verwischen und ihre Informanten schützen.
Die NGO Transparency International bescheinigte den EU-Mitgliedern 2013 im internationalen Vergleich Rückständigkeit: In Deutschland und 15 weiteren Ländern gebe es eingeschränkt Whistleblowerschutz, in sieben Ländern so gut wie keinen und nur in Großbritannien, Slowenien, Rumänien sowie Luxemburg relativ weitreichenden Schutz. Wie groß die Schutzlücken jedoch sind, zeigte etwa der Prozess um die sogenannten LuxLeaks, der im Juni 2016 mit einer Verurteilung der beiden Whistleblower endete. Diese hatten Steuerdeals internationaler Konzerne mit den Luxemburger Finanzbehörden offengelegt und Unterlagen, die diese belegen, weitergegeben; beide haben Berufung eingelegt und wollen gegebenenfalls bis vor den EGMR ziehen. Die EU erkennt Whistleblowing zwar als Weg an, um Korruption zu bekämpfen, hat aber nur in einzelnen Bereichen Vorschriften, die Beschwerderechte regeln, und keinen wirksamen rechtlichen Schutz, auf den sich Whistleblower berufen können.
Eine im April 2016 verabschiedete EU-Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen illustriert nochmals die Ambivalenz des Themas. Sie soll Unternehmen helfen, ihre Innovationen vor dem Zugriff von Wettbewerbern zu schützen. Diese Richtlinie kann aber gerade für jene, die Korruption und Missstände melden, problematisch werden, weil sie letztlich den Unternehmen überlässt, was diese als Geschäftsgeheimnis definieren. Nationale Regeln können die Lage dieser Whistleblower weiter verschärfen: In Deutschland verpflichten sich Arbeitnehmer in der Regel auf Treue und Loyalität ihrem Arbeitgeber gegenüber und riskieren auch ihre berufliche Existenz, wenn sie Informationen weitergeben (was dann wiederum gerechtfertigt ist, wenn jemand etwas nicht Zutreffendes oder Interna ohne Relevanz für die Öffentlichkeit weitergibt).
Im Umgang mit Whistleblowing spiegelt sich auch der Grad der Freiheit der Berichterstattung wider – gerichtet nach außen und nach innen. Und dies führt zur sogenannten inneren Pressefreiheit. Sie fragt nach der inhaltlichen Unabhängigkeit der Journalisten gegenüber Herausgebern, Verlegern und Medienmanagern und wird heute überwiegend aus der ökonomischen Perspektive diskutiert. Doch spielen bei der Nachrichtenauswahl bisweilen nicht nur Anzeigenkunden, sondern auch politische und wirtschaftliche Interessen der Verlagsleitung oder der Chefredaktion eine Rolle. Neue Formen digitaler Werbung wie das native advertising, bei dem Werbung als journalistisch wirkende Geschichte verpackt ist, werfen weitere Fragen nach der journalistischen Unabhängigkeit und der Medienethik auf – nicht ohne Grund empfehlen Pressekodizes eine klare Trennung von Redaktion und Anzeigenabteilung.
Journalismus besser schützen
Der Medienfreiheit in Europa bläst derzeit aus verschiedenen Richtungen viel Wind entgegen. Die Seismografen der Journalistenverbände und NGOs, die sich dem Schutz der Pressefreiheit verschrieben haben, sind unablässig gefordert, die Kräfte wider die Medienunabhängigkeit in Schach zu halten, indem sie gegenüber der Politik und in der Öffentlichkeit beharrlich darauf hinweisen, wenn die Unabhängigkeit von Journalistinnen und Journalisten und der Medien insgesamt durch direkte und indirekte Einschränkungen gefährdet ist. Denn Medienfreiheit ist für eine funktionierende Demokratie unerlässlich. Sie sollte aber nicht nur verteidigt, sondern auch an die gewandelten Bedingungen der digitalen Mediengesellschaft angepasst werden.
Für die weitere Entwicklung ergeben sich daraus drei Postulate: Erstens bedarf es vermehrter Anstrengungen zur Förderung der allgemeinen Medienkompetenz – verstanden als Wissen zu Nutzung und Bedeutung von Medien –, auch um Gefährdungen für die Medienfreiheit frühzeitig wahrnehmen zu können. Zweitens braucht es mehr Medienjournalismus, auch als kritische Beobachtung von Erosionen der Medienfreiheit. Und drittens brauchen Journalisten bessere Schutzrechte: "Journalist" sollte ein geschützter Beruf werden, zumindest für bestimmte Spielarten wie Datenjournalismus oder investigativer Journalismus. Sonderregeln müssen verhindern, dass die digitale Überwachung die journalistische Recherche in Fesseln legt, und zwar europaweit. Hier auch eine europäische Perspektive einzunehmen, trägt zudem dem Bewusstsein Rechnung, dass Medienfreiheit gegenwärtig und hoffentlich nur vorübergehend erodiert, aber zu den identitätsstiftenden Normen in Europa gehört.
Vgl. Manuel Puppis, Einführung in die Medienpolitik, Köln u.a. 20102, S. 59–62.
Als einzige europäische Flächenstaaten fehlen Belarus und Kosovo.
Die Sammlung EthicNet der Universität Tampere umfasst 50 Ethikkodizes aus 46 europäischen Ländern: EthicNet – Collection of Codes of Journalism Ethics in Europe, hrsg. von Kaarle Nordenstreng/Ari Heinonen, 2008, Externer Link: http://ethicnet.uta.fi.
Siehe hierzu auch den Beitrag von Horst Pöttker in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
Beispiele für europäische Journalistenverbände: European Journalism Training Association (EJTA), European Federation of Journalists (EFJ), Association of European Journalists (AEJ) und Committee to Protect Journalists (CPJ). Beispiele für NGOs, die sich für Pressefreiheit einsetzen: Reporter ohne Grenzen (ROG) sowie mit Hauptsitz in den USA Freedom House (FH) und International Research and Exchanges Board (IREX).
Ein Beispiel: In Frankreich kritisierte Mijatović die Polizeiübergriffe zwischen April und Juni 2016 auf Journalisten, die über Demonstrationen berichteten, und forderte die Polizei auf, die Verantwortlichen zu stellen und künftigen Übergriffen vorzubeugen. Vgl. OSCE, Recent Police Violence Against Journalists During Demonstrations in France Disturbing, Says OSCE Representative, 3.6.2016, Externer Link: http://www.osce.org/fom/244686.
So mahnte Deltenre kürzlich die sinkende Medienfreiheit in Europa an und zeigte sich alarmiert über den drohenden Konkurs des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Bosnien und Herzegowina. Vgl. Medienfreiheit in Europa hat abgenommen, 12.2.2016, Externer Link: http://www.diepresse.com/home/4924530; EBU Alarmed at Threat to Public Service Broadcasting in Bosnia and Herzegovina, 1.6.2016, Externer Link: http://www.ebu.ch/news/2016/06/ebu-alarmed-at-threat-to-public.
Vgl. Laura Schneider, Media Freedom Indices: What They Tell Us – And What They Don’t. A Practical Guidebook, Bonn 2014, Externer Link: http://www.dw.com/popups/pdf/37157294.
Vgl. Freedom House, Freedom in the World 2016, Externer Link: http://www.freedomhouse.org/report/freedom-world/freedom-world-2016.
Vgl. ROG, Rangliste der Pressefreiheit 2016, Externer Link: http://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/2016.
Siehe die ECPMF-Homepage unter Externer Link: http://www.ecpmf.eu.
Die Art, wie manche Medien über die Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16 in Köln berichteten, ist ein Beispiel für eine solche Verunsicherung. Vgl. Marlis Prinzing, Aus Köln lernen: Kante zeigen, Kompass norden, in: W&V, 18.1.2016, Externer Link: http://www.wuv.de/medien/aus_koeln_lernen_kante_zeigen_kompass_norden.
Vgl. Gabriele Lesser, Die "Repolonisierung" Polens, in: Die Tageszeitung (taz), 20.11.2015, Externer Link: http://www.taz.de/!5254162.
Vgl. Adam Szynol/Paulina Pacula/Michal Kus, What Exactly Is Happening to Poland’s Media?, 25.1.2016, Externer Link: http://en.ejo.ch/recent/poland.
Vgl. Marlis Prinzing, Showmaster und Sonnenkönig. Journalismus unter Berlusconi und Sarkozy, in: Martin Welker/Andreas Elter/Stephan Weichert, Pressefreiheit ohne Grenzen? Grenzen der Pressefreiheit, Köln 2010, S. 206–230.
Vgl. Dimitris Boucas/Petros Iosifidis, Media Policy and Independent Journalism in Greece, 1.5.2015, Externer Link: http://www.opensocietyfoundations.org/reports/media-policy-and-independent-journalism-greece; Q&A: Professor Petros Iosifidis on Greece’s Media "Crisis", 19.8.2015, Externer Link: http://www.city.ac.uk/news/2015/august/petros-iosifidis-greece-q-and-a.
Vgl. Mike Szymanski, Fünf Jahre Haft für "Cumhuriyet"-Journalisten, 6.5.2016, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.2982047.
Vgl. Marianna Deinyan/Teresa Bechtold, Russlands unabhängige Stimmen, 21.1.2016. Externer Link: http://de.ejo-online.eu/pressefreiheit/russlands-unabhaengige-stimmen.
Vgl. Axel Springer’s Ralph Büchi on Press Freedom in Europe, 1.6.2016, Externer Link: http://www.freedomhouse.org/blog/axel-springer-s-ralph-b-chi-press-freedom-europe.
Vgl. Jannis Carmesin/Kai Steinecke, Warten auf den Exodus?, 1.2.2016, Externer Link: http://de.ejo-online.eu/medienpolitik/warten-auf-den-exodus.
Vgl. ROG (Anm. 10), Nahaufnahme Deutschland, S. 1–4.
Vgl. Constanze Kurz, Der Rest vom Eisberg, 30.5.2016, Externer Link: http://www.faz.net/-14258372.html.
Vgl. Transparency International, Whistleblowing in Europe. Legal Protections for Whistleblowers in the EU, Berlin 2013. Siehe auch die Website des Whistleblower Netzwerk: Externer Link: http://www.Whistleblower-net.de/whistleblowing/rechtslage-im-ausland/eu-recht.
Das Melden von Korruption ist in Luxemburg zwar gesetzlich gedeckt, nicht aber die Weitergabe entsprechender Informationen an Journalisten. Die beiden Whistleblower wurden vom Bezirksgericht Luxemburg zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt. Ein "fatales Signal", durch das die Justiz Angst streue, so der investigative Journalist Peter Hornung in einem Studiogespräch, 29.6.2016, Externer Link: http://www.tagesschau.de/wirtschaft/lux-leaks-urteil-101.html.
Der Text der Richtlinie sowie sämtliche Dokumente zu ihrem Verabschiedungsprozess finden sich unter Externer Link: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX:52013PC0813. Vgl. auch Monika Lungmus, Helden, die Verräter sind, in: Journalist 6–7/2016, S. 38–42.
Vgl. Björn Bendig, Gefahren für die innere Pressefreiheit 2013, Externer Link: http://pressefreiheit-in-deutschland.de/studien-ergebnisse-gefahren-fuer-die-innere-pressefreiheit-301.
| Article | , Marlis Prinzing | 2022-02-17T00:00:00 | 2016-07-19T00:00:00 | 2022-02-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/231305/pressefreiheit-in-europa/ | So frei wie in Europa können Journalisten sonst allenfalls in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland arbeiten. Blickt man genauer hin, wird aber klar: Pressefreiheit bleibt auch hier ein angreifbares Recht. | [
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Europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik seit 2015 – eine Bilanz | Europäische Union | bpb.de | Interner Link: Version des Textes von 2018
In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten gab es in der Europäischen Union (EU) umfangreiche Bestrebungen, die Regeln für Asylverfahren, die Anerkennung von Schutzbedürftigen und die Aufnahmebedingungen zu vereinheitlichen. Trotzdem bestehen in der Praxis weiterhin große Unterschiede beim Umgang mit Asylsuchenden und Flüchtlingen in den europäischen Staaten.
In den bisherigen beiden Harmonisierungsrunden des Interner Link: Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) der 2000er und frühen 2010er Jahre konnten sich die EU-Staaten in zwei wesentlichen Fragen nicht auf adäquate Lösungen einigen. Dies betrifft zum einen die Verantwortungsteilung und zum anderen die Schaffung ausreichender legaler und sicherer Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende. Die historisch hohen Zuzüge von Asylsuchenden in den Jahren Interner Link: 2015 und Interner Link: 2016 erreichten die EU und ihre Mitgliedstaaten weitgehend unvorbereitet und haben zu intensiven und anhaltenden Konflikten zwischen und innerhalb von EU-Staaten geführt. Zugleich hat sich das Ringen um eine Weiterentwicklung des GEAS intensiviert. Dieser Beitrag skizziert die wesentlichen Entwicklungen, Diskussionen und Entscheidungen im Zeitraum Januar 2015 bis April 2019.
Krise der europäischen Flüchtlingspolitik
In den Jahren 2015 und 2016 sind so viele Asylbewerberinnen und -bewerber nach Europa gekommen wie nie zuvor. 2015 wurden nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat in den 28 EU-Staaten zusammen 1,32 Millionen Asylanträge (darunter 1,26 Millionen Erstanträge) registriert, 2016 waren es 1,26 Millionen (darunter 1,21 Millionen Erstanträge) (siehe Abbildung 1). Die hohen Asylantragszahlen haben mehrere Ursachen.
Entwicklung der Asylantragszahlen (Erst- und Folgeanträge) in den 28 EU-Staaten 1998-2018 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Seit 2013 hat die Zahl der Interner Link: Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden, deutlich Interner Link: zugenommen. Den größten Anteil am weltweiten Fluchtgeschehen haben dabei Binnenvertriebene, also Menschen, die innerhalb ihres Landes vor Gewalt ausweichen. Allerdings hat seit 2013 auch die Zahl derjenigen zugenommen, die ihr Herkunftsland auf der Suche nach Schutz verlassen haben. Von besonderer Bedeutung für den europäischen Kontext sind hierbei Fluchtbewegungen, die von Staaten in der europäischen Peripherie ausgehen (v.a. Interner Link: Syrien, Interner Link: Irak , Interner Link: Afghanistan) und die sich auf bereits bestehende Netzwerke von Migrantinnen und Migranten stützen. Hinzu kommen eine unzureichende humanitäre Unterstützung und fehlende dauerhafte Perspektiven in den Interner Link: Erstaufnahmestaaten der Krisenregionen.
Obwohl sich an dieser Situation bislang nichts geändert hat, sind die Asylantragszahlen in der EU seit 2016 deutlich gesunken. Im Jahr 2017 registrierten die EU-Mitgliedstaaten insgesamt 712.235 Asylanträge (darunter 654.610 Erstanträge). 2018 waren es 645.725 Anträge (darunter 586.050 Erstanträge). Der Rückgang ist zum Teil auf die von der EU und den Mitgliedstaaten ergriffenen politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Fluchtmigration nach Europa zurückzuführen.
Die Auswirkungen der Fluchtzuwanderung auf die einzelnen EU-Mitgliedstaaten waren und sind sehr verschieden. Im Fünfjahreszeitraum 2014-2018 wurden die meisten Asylanträge in Interner Link: Deutschland, Italien, Interner Link: Frankreich, Interner Link: Schweden und Ungarn registriert (siehe Abbildung 2). In einer ganzen Reihe von Staaten – darunter zahlreiche osteuropäische Staaten – wurden hingegen kaum Asylanträge gestellt. Die Verteilung der Asylbewerberinnen und Asylbewerber auf die Mitgliedstaaten gestaltete sich somit sehr ungleich, sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße. Diese Unterschiede können durch mehrere Faktoren erklärt werden, darunter etwa die geografische Lage und die Zielstaatspräferenzen von Schutzsuchenden.
Große Unterschiede bei den Schutzquoten
Asylerstanträge in den 28 EU-Mitgliedstaaten (EU-28) 2014 bis 2018 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Die hohe Zahl der Asylanträge führte zunächst zu einem erheblichen Rückstau an Asylverfahren (September 2016: 1,24 Millionen anhängige Verfahren) und einer längeren Dauer der Verfahren. Die Zahl der anhängigen Verfahren ging in der Folge kontinuierlich zurück und lag Ende 2018 bei rund 450.000. Zugleich wurden – auch im historischen Vergleich – relativ hohe Anerkennungsquoten registriert. Im Jahr 2016 wurden im EU-Durchschnitt 61 Prozent aller Asylanträge in erster Instanz positiv entschieden (2015: 53 Prozent, 2014: 47 Prozent; 2013: 35 Prozent). Die Anerkennungsquoten sanken 2017 (46 Prozent) und 2018 (37 Prozent) deutlich. Trotz gemeinsamer Regeln bei der Anerkennung des Schutzbedarfs bestehen hinsichtlich der Anerkennungsquoten weiterhin große Unterschiede zwischen den EU-Staaten. So lag 2018 z.B. die Schutzquote für irakische Staatsangehörige in Italien bei 94 Prozent gegenüber 12 Prozent in Bulgarien.
Die EU-Migrationsagenda und der Streit um das Relocation-Programm
Die EU-Mitgliedstaaten ringen seit vielen Jahren um einen gemeinsamen Kurs in der Asylpolitik, nicht erst seit der umfangreichen Fluchtzuwanderung 2015. Bewegung in die europäische Flüchtlingspolitik kam aber erst nach mehreren größeren Interner Link: Flüchtlingstragödien im Mittelmeer. Als im April 2015 innerhalb weniger Tage mehr als 1.000 Flüchtlinge bei zwei Schiffsunglücken starben, geriet die europäische Politik unter Handlungsdruck. Im Mai 2015 legte die EU-Kommission eine "Europäische Agenda für Migration" vor, die die strategischen Leitlinien der Migrationspolitik für die folgenden Jahre enthält. Zentrale Ziele der Migrationsagenda sind das Vorgehen gegen Schleuser, die Bekämpfung von Fluchtursachen und der Ausbau der Zuwanderungsmöglichkeiten für Arbeitskräfte aus Drittstaaten. Zudem rief die Kommission die Mitgliedstaaten dazu auf, sich stärker am Interner Link: Resettlement-Programm des UNHCR zu beteiligen und sie plädierte für einen dauerhaften Mechanismus zur gerechteren Verteilung von Asylantragstellenden auf die EU-Mitgliedstaaten. Erstmalig berief sie sich in der Migrationsagenda auf die in Artikel 78 (3) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (VAEU) verankerte Notfallklausel. Diese sieht vor, dass entlastende Maßnahmen veranlasst werden können, wenn "ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in eine Notlage" geraten. Konkret schlug die Kommission vor, Asylbewerberinnen und -bewerber basierend auf einem bestimmten Verteilungsschlüssel auf die EU-Mitgliedstaaten umzuverteilen (Relocation).
Die Vorschläge der EU-Kommission führten zu Streit zwischen den Mitgliedstaaten. Insbesondere die osteuropäischen Staaten, Spanien und das Vereinigte Königreich machten deutlich, dass sie nicht bereit waren, deutlich mehr Flüchtlinge aufzunehmen als bisher. Sie verwiesen u.a. auf eigene sozioökonomische Probleme und die mangelnde Aufnahmebereitschaft ihrer Bevölkerungen. Für eine innereuropäische Umverteilung sprachen sich hingegen an wichtigen Migrationsrouten liegende Staaten wie Interner Link: Griechenland, Italien und Malta aus. Auch die Regierungen von Staaten mit hohen Asylantragszahlen wie Interner Link: Deutschland, Interner Link: Österreich, Belgien oder Interner Link: Schweden plädierten für eine stärkere Verantwortungsteilung innerhalb der EU. Trotz des Streits einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel am 25./26. Juni 2015 darauf, 40.000 Asylbewerber aus Griechenland und Italien umzusiedeln sowie weitere 20.000 Flüchtlinge über Interner Link: Resettlement aus Drittstaaten aufzunehmen.
Als die Zahl der neuankommenden Schutzsuchenden in den Sommermonaten 2015 weiter stieg, schlug die Kommission die Umsiedlung weiterer 120.000 Asylbewerberinnen und -bewerber aus Italien, Griechenland und Ungarn vor. Am 22. September 2015 stimmte der Innenministerrat diesem Vorschlag zu. Der Beschluss sah die verpflichtende Aufnahme umzusiedelnder Schutzsuchender auf Basis eines Verteilungsschlüssels vor, der die Bevölkerungsgröße, die Wirtschaftskraft, die Zahl bereits aufgenommener Asylsuchender und die Arbeitslosenquote berücksichtigte. Er wurde jedoch nicht einstimmig, sondern mit Interner Link: qualifizierter Mehrheit getroffen und damit gegen den Widerstand von Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Rumänien durchgesetzt, die dagegen votiert hatten.
Die Umsiedlung im Rahmen des Relocation-Programms vollzog sich in der Folge äußerst schleppend und war am Ende mäßig erfolgreich: Insgesamt wurden bis Ende 2018 nur rund 34.700 der geplanten 160.000 Asylbewerberinnen und -bewerber aus Griechenland und Italien in andere EU-Staaten umgesiedelt. Viele EU-Staaten waren nicht bereit, ihrer (Selbst-)Verpflichtung zur Aufnahme von Asylantragstellenden nachzukommen. Ungarn und die Slowakei reichten sogar eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die Verpflichtung zur Aufnahme ein. In seinem Urteil vom Interner Link: 6. September 2017 bestätigte dieser jedoch die Vereinbarkeit des Relocation-Beschlusses mit EU-Recht. Trotzdem weigerten sich Ungarn, Polen und Tschechien weiterhin, Asylbewerberinnen und -bewerber aufzunehmen. Die EU-Kommission zitierte diese Staaten daher Anfang Dezember 2017 im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens vor den Europäischen Gerichtshof. Dieses Verfahren war im April 2019 weiterhin anhängig.
Die "Schließung" der Balkan-Route und die EU-Türkei-Vereinbarung
Die hohen Zahlen neuankommender Schutzsuchender an den griechischen und italienischen Küsten und in den westeuropäischen Zielstaaten gingen mit Bildern von toten Geflüchteten einher. Ein temporärer Kontrollverlust beim Grenzschutz und Ängste vor Terroranschlägen durch radikalisierte Flüchtlinge setzten die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in der EU unter Druck. Auf die hohen Zuzüge ab Sommer 2015 reagierten mehrere Staaten zunächst mit der Einführung von nationalen Grenzkontrollen. Zudem verschärften viele EU-Mitgliedsländer ihre jeweiligen asylrechtlichen Regelungen, darunter v.a. Staaten mit hohen Zuzügen wie Interner Link: Deutschland, Interner Link: Schweden, Österreich und Ungarn. Einigkeit bestand zwischen den EU-Mitgliedstaaten darüber, dass die EU-Außengrenzen stärker kontrolliert werden und die Zahlen der neuankommenden Schutzsuchenden deutlich und dauerhaft reduziert werden müssten. Vor diesem Hintergrund bemühten sich Vertreterinnen und Vertreter einiger europäischer Regierungen und insbesondere Deutschlands um eine Kooperation mit der Interner Link: Türkei, dem wichtigsten Transitland für Flüchtlinge aus Syrien, Interner Link: Afghanistan und dem Irak. Am 15. Oktober 2015 einigten sich die Türkei und die EU auf einen gemeinsamen Aktionsplan, der offiziell am 29. November 2015 auf einem EU-Türkei-Gipfel angenommen wurde. Darin sicherte die Türkei strengere Kontrollen ihrer See- und Landgrenzen mit der EU und die Umsetzung von bereits zuvor vereinbarten Interner Link: Rückübernahmeabkommen mit Griechenland und Bulgarien zu. Zudem kündigte sie an, ihre Visapolitik gegenüber Herkunftsländern von Flüchtlingen und anderen Migrantinnen und Migranten zu verschärfen und den Kampf gegen Menschenschmuggler zu intensivieren, u.a. durch eine stärkere Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Der Plan beinhaltete darüber hinaus Regelungen zur verbesserten Erfassung besonders schutzbedürftiger Personen sowie des besseren Zugangs für Flüchtlinge zu medizinischer Versorgung, Schulbesuch und Arbeitsmarkt. Im Gegenzug versprach die EU, dass sie die Türkei in diesem Vorhaben mit bis zu drei Milliarden Euro unterstützen werde. Die Kooperation in der Flüchtlingspolitik wurde zudem mit der Wiederaufnahme der Interner Link: Beitrittsverhandlungen und der Aussicht auf eine Aufhebung der Visumpflicht für türkische Staatsbürger verknüpft. Die beschlossenen Maßnahmen erschienen den europäischen Regierungen jedoch schon bald als unzureichend. Die Interner Link: Zahl neuankommender Schutzsuchender in Griechenland ging zwar u.a. saisonbedingt Ende 2015 zurück, verblieb jedoch zunächst auf hohem Niveau. Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten befürchteten, dass die Ankünfte mit der Verbesserung der Witterungsbedingungen im Frühjahr wieder deutlich ansteigen würden. Der politische Druck stieg – auch aufgrund von Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien in mehreren Ländern. Es bestand jedoch Uneinigkeit über die zu ergreifenden Maßnahmen.
Eine Gruppe von Staaten, angeführt von Österreich, sprach sich für eine Schließung der sogenannten Balkanroute aus. Sie machten die griechischen Behörden für einen unzureichenden Schutz der EU-Außengrenzen verantwortlich und wollten das Land isolieren, indem Mazedonien seine Grenze schließen sollte. Flüchtlinge würden so gezwungen, in Griechenland zu bleiben, wodurch eine Überfahrt über die Ägäis unattraktiv erschiene. Ab Mitte November 2015 begannen Mazedonien, Serbien und Kroatien damit, nur noch syrische, afghanische und irakische Staatsangehörige ihre Grenzen passieren zu lassen. Später wurden Tageskontingente eingeführt, die die Migrationsbewegungen verlangsamen und die Zahl der nach Mitteleuropa weiterreisenden Schutzsuchenden reduzieren sollten. Die EU-Kommission, die Bundesregierung und andere Staaten, wie z.B. die Niederlande, standen dem kritisch gegenüber. Griechenland würde mit Europas "Flüchtlingskrise" allein gelassen und eine humanitär schwierige Lage in dem bereits wirtschaftlich stark angeschlagenen EU-Staat geschaffen. Sie plädierten für weitere Verhandlungen mit der Türkei.
Diese mündeten in die Interner Link: Türkei-EU-Erklärung vom 18. März 2016. Der Vereinbarung zufolge sollte die Türkei alle ab dem 20. März 2016 über ihr Territorium irregulär in die EU eingereisten (Flucht-)Migrantinnen und Migranten zurückzunehmen. Im Gegenzug würde die EU für jede zurückgenommene Person aus Syrien eine in der Türkei bereits als Flüchtling anerkannte und aus Syrien stammende Person aufnehmen. Diese Regelung wurde jedoch auf 72.000 Plätze begrenzt. Darüber hinaus sicherte die EU zu, dass ihre Mitgliedstaaten eine größere Zahl schutzbedürftiger Personen aus der Türkei aufnehmen würden, sobald die irregulären Grenzübertritte zwischen der Türkei und der EU erheblich und nachhaltig zurückgehen. Zudem sagte die EU der Türkei zusätzliche drei Milliarden Euro für die Unterstützung Interner Link: der dort lebenden Flüchtlinge zu. Zahlreiche Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen kritisierten die Vereinbarung mit der Türkei, da sie die Interner Link: Rechte von Flüchtlingen verletze.
Die Zahl neuankommender Schutzsuchender auf den griechischen Inseln ging nach Abschluss der Vereinbarung deutlich zurück. Die auf der östlichen Mittelmeerroute erfassten Ankünfte blieben auch 2017 und 2018 relativ niedrig. Dennoch ist umstritten, welchen Anteil die EU-Türkei-Erklärung daran hat. Skeptiker weisen darauf hin, dass die Zahl der monatlichen Neuankünfte, die im Oktober 2015 mit 211.663 Asylsuchenden ihren Höhepunkt erreichte, bereits vor der Einigung mit der Türkei rückläufig war. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass eine Kombination verschiedener Faktoren zu dem Rückgang der Zuzüge geführt hat. Zum einen wurde seit Herbst 2015 das Passieren der Balkanroute kontinuierlich erschwert. Zum anderen ist eine Erschöpfung des Potenzials der wanderungswilligen und wanderungsfähigen Schutzsuchenden aus Syrien und anderen Staaten denkbar. Die meisten Asylsuchenden, die aus der Türkei in die EU wandern wollten und die dafür notwendigen (finanziellen) Ressourcen besaßen, hätten dies demnach bis Anfang 2016 bereits getan. Zugleich kann der Rückgang der Zuzüge von Schutzsuchenden in die EU auch darauf zurückgeführt werden, dass die Türkei ihre Visapolitik verschärft und eine Interner Link: Mauer an der Grenze zu Syrien errichtet hat, wodurch es für Schutzsuchende schwieriger geworden ist, überhaupt in die Türkei zu gelangen.
Die Türkei drohte mehrfach, die Vereinbarung aufzukündigen, hat dies aber bislang nicht getan. Bis Ende Februar 2019 nahmen EU-Staaten 20.292 syrische Flüchtlinge im Rahmen der Vereinbarung aus der Türkei auf. Im Gegenzug wurden rund 2.500 Geflüchtete sowie Migrantinnen und Migranten von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeführt. Weitere 3.421 Personen sind seit Juni 2016 im Rahmen der sogenannten Interner Link: freiwilligen Rückkehr und mit finanzieller Unterstützung in die Türkei zurückgekehrt.
Trotz deutlich rückläufiger Ankunftszahlen sind die Auffangzentren (sogenannte Hotspots) auf mehreren griechischen Inseln überfüllt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die schlechten humanitären Zustände und die sehr langen Asyl- bzw. Zulässigkeitsverfahren.
Während die Zuzüge über die östliche und zentrale Mittelmeerroute deutlich gesunken sind und auch Anfang 2019 auf vergleichsweise niedrigem Niveau verbleiben, sind die Ankünfte über die westliche Mittelmeerroute (von Marokko nach Spanien) in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen (2018: 58.569 Ankünfte). Insgesamt blieb die Zahl der Personen, die 2018 über das Mittelmeer in Europa ankamen, mit 141.472 Ankünften jedoch auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in den Vorjahren.
Erneute GEAS–Reform
Internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen dokumentieren immer wieder zum Teil gravierende Verletzungen der Rechte von Asylsuchenden in einigen EU-Staaten und weisen auf die Schwachstellen des GEAS hin. Ende 2015 und Anfang 2016 eröffnete die EU-Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen mehrere EU-Staaten bezüglich der Nicht-Einhaltung bestehender europarechtlicher Vorgaben im Asylrecht. Im April und Mai 2016 legte sie dann Pläne für eine erneute und weitreichende Reform des Interner Link: GEAS vor. So sollen die Richtlinien zu gemeinsamen Verfahren bei der Zuerkennung von Asyl (Asylverfahrensrichtlinie) und zur Bestimmung von Kriterien, die Asylbewerber und Asylbewerberinnen erfüllen müssen, um einen Interner Link: Schutzstatus zu erhalten (Qualifikationsrichtlinie), in Verordnungen umgewandelt werden. Anders als Richtlinien gelten Verordnungen unmittelbar in allen EU-Mitgliedstaaten und müssen nicht erst in nationales Recht übertragen werden. Sie lassen den Staaten kaum rechtlichen Umsetzungsspielraum. Die Pläne der EU-Kommission sahen zudem eine Reform der Dublin-Verordnung vor. Ein Kommissionsvorschlag, der die Einführung eines verbindlichen Verteilungsschlüssels anstelle des bisherigen Ersteinreise-Prinzips vorsah, konnte sich nicht durchsetzen und wurde zurückgezogen. Die Kommission schlug stattdessen ein Modell vor, bei dem ein Staat erst dann entlastet wird, wenn er 150 Prozent einer errechneten Aufnahmequote für Asylantragstellende überschritten hat. Im November 2017 votierten die Europaparlamentarier mehrheitlich für eine grundlegende Reform des Dublin-Systems. Das Parlament sprach sich für ein permanentes Verteilungssystem auf Basis eines Verteilungsschlüssels aus, bei dem auch familiäre Verbindungen und Zielstaatspräferenzen von Asylsuchenden berücksichtigt werden sollen. Bis April 2019 konnten die Mitgliedstaaten in dieser Frage jedoch keine Einigung erzielen.
Stärkung europäischer Agenturen
Im Zuge der Bestrebungen, das GEAS zu reformieren, erfuhren zwei Europäische Agenturen eine erhebliche Stärkung. Im Oktober 2016 wurde die Grenzschutzagentur Frontex zur "Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache" aufgewertet. Sie erhielt neue Aufgaben und Befugnisse. So soll sie eine technische und operative Strategie entwickeln, um eine integrierte Grenzverwaltung einzuführen, die Kontrollen an den Außengrenzen beaufsichtigen und die Mitgliedstaaten bei der Grenzsicherung unterstützen, wenn dafür ein dringender Bedarf entsteht. Dazu kann sie auf einen Pool von 1.500 Grenzschutzbeamtinnen und -beamten sowie anderen Fachkräften zurückgreifen, die von den Mitgliedstaaten abgestellt werden. Der Rat der EU soll in Notsituationen einen Einsatz von Frontex-Teams beschließen können – auch ohne das Einverständnis des EU-Mitgliedstaats, auf dessen Territorium der Einsatz stattfinden wird. Die Agentur soll zudem stärker bei der Koordinierung von Rückführungen nicht (mehr) aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger in ihre Herkunftsländer tätig werden. Sie kann zudem auch in Länder außerhalb der EU Personal entsenden und mit diesen Ländern gemeinsame Aktionen zur Kontrolle von Migrationsrouten durchführen.
Im Interner Link: März und April 2019 beschlossen Rat und EU-Parlament, Frontex weiter zu stärken. So soll bis 2027 eine ständige Reserve von 10.000 Grenzschutzbeamtinnen und -beamten eingerichtet werden. Zudem wurden die Befugnisse der Agentur erweitert. Bedienstete von Frontex sollen künftig stärker operative Aufgaben wahrnehmen, etwa Identitätsfeststellungen durchführen oder Einreisegenehmigungen an den EU-Außengrenzen erteilen, allerdings nur mit Zustimmung des jeweiligen Mitgliedstaats.
Auch Externer Link: das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) soll zu einer EU-Agentur ausgebaut werden. Einen Vorschlag für eine entsprechende Verordnung legte die Kommission im Mai 2016 vor. Diese neue Europäische Asylagentur soll u.a. bewerten, wie die Mitgliedstaaten die europarechtlichen Vorgaben im Asylrecht umsetzen. Zudem soll sie EU-Staaten, die durch eine hohe Asylzuwanderung unter Druck geraten, operativ und technisch unterstützen. Dazu sind etwa "Asyl-Unterstützungsteams" vorgesehen, die auch ohne Anfrage des betreffenden Mitgliedstaats tätig werden können. Sie sollen bei der Identifikation und Registrierung von Asylsuchenden helfen sowie bei der Antragsprüfung unterstützen. Möglich ist auch die Mithilfe bei der Einrichtung von Aufnahmeeinrichtungen. Bisher ist EASO vor allem im Bereich der Weiterbildung und der Informationsbereitstellung aktiv.
Trotz zahlreicher Einigungsversuche konnten sich die EU-Mitgliedstaaten bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2019 nicht auf eine Reform der gemeinsamen Asylpolitik einigen. Hauptstreitpunkt ist weiterhin die Frage der Verteilung von Asylsuchenden. Zwar wurde zu mehreren Richtlinien und Verordnungen des GEAS (siehe oben) weitgehende Einigung erzielt. Jedoch konnten sie nicht verabschiedet werden, da vor allem südeuropäische Staaten eine Einigung nur inklusive der reformierten Dublin-Verordnung verabschieden will. Über diese streiten die Mitgliedstaaten aber immer noch. Auch die Verabschiedung der Verordnung zur Stärkung des EASO steht noch aus. Einzig der Ausbau von Frontex wurde beschlossen.
Ausbau der externen Migrationspolitik
Im Juni 2016 kündigte die EU-Kommission die Erweiterung und Intensivierung der externen Migrationspolitik an. Dadurch sollen irreguläre Migrationsbewegungen deutlich reduziert sowie Staaten zur Rücknahme ihrer Bürgerinnen und Bürger bewegt werden. Zu diesem Zweck hat die EU mit einzelnen Staaten sogenannte maßgeschneiderte Länderpakete geschlossen. Es handelt sich dabei v.a. um Staaten wie Niger, Nigeria, Senegal, Mali und Äthiopien, die entweder wichtige Herkunfts- und/oder Transitstaaten von (Flucht-)Migranten sind. Diese "Migrationspartnerschaften" verknüpfen die Kooperation in der Migrationspolitik mit der Kooperation in anderen Politikfeldern, insbesondere der Handels-, Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik. Staaten, die etwa mehr eigene Staatsangehörige zurücknehmen, sollen mehr Unterstützung erhalten ("More for More"-Prinzip). Zugleich bieten die EU und ihre Mitgliedstaaten Unterstützung beim Grenzschutz, etwa durch Ausbildung von Personal oder Bereitstellung technischer Ausrüstung an. Bereits auf dem Gipfeltreffen am 12. November 2015 in Valletta hatten die EU-Staaten (sowie Norwegen und die Schweiz) den EU-Treuhandfonds für Afrika ins Leben gerufen und umfangreiche Mittel für die Bekämpfung von Fluchtursachen bzw. die Kooperation in der Migrationspolitik bereitgestellt.
Nachdem die Zuzüge über die östliche Mittelmeerroute im Frühjahr 2016 deutlich zurückgegangen waren, geriet die Migration über die zentrale Mittelmeerroute von Nordafrika nach Italien (wieder) stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit. Nach dem Vorbild der Interner Link: EU-Türkei-Vereinbarung strebten europäische Regierungsvertreter ähnliche Vereinbarungen mit nordafrikanischen Staaten an, vor allem mit Interner Link: Libyen. 2016 und 2017 war es wichtigstes Transitland für (Flucht-)Migrantinnen und -migranten, die über das Mittelmeer nach Europa gelangen wollten. Trotz des anhaltenden Konflikts in Interner Link: Libyen begannen die EU und Italien (bilateral) eine Kooperation mit unterschiedlichen libyschen Akteuren. Anfang Interner Link: Februar 2017 fassten erst Italien und dann die EU Beschlüsse, die darauf zielen, die Zuwanderung über Libyen deutlich zu reduzieren. Vereinbart wurde u.a. die weitere Ausrüstung und Ausbildung der libyschen Marine und Küstenwache. Diese soll ablegende Boote möglichst noch in nationalen Gewässern vor der libyschen Küste aufgreifen und nach Libyen zurückführen. Darüber hinaus wurden finanzielle Mittel für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Aufnahmebedingungen in den Auffangzentren in Libyen zugesagt. Auch wollen Italien und die EU dabei helfen, die libyschen Grenzen im Süden, also zum Tschad, Sudan, Ägypten und Algerien stärker zu kontrollieren und zu sichern. Die Zahl der Mittelmeerüberquerungen über die zentrale Route ging ab Sommer 2017 deutlich zurück. Dies kann auf die Interner Link: Anstrengungen der EU zur Kontrolle von Migrationsrouten in Afrika, die Kooperation der italienischen Regierung mit libyschen Milizen sowie das Erschweren Interner Link: der häufig von privaten Hilfsorganisationen geleisteten Seenotrettung zurückgeführt werden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Rückführung von auf See aufgegriffenen Geflüchteten in sogenannte "detention centers" (Haftzentren) in Libyen, in denen u.a. Folter und Tod drohen.
Streit um Ausschiffung und Seenotrettung
Eine Zuspitzung erfuhr die Diskussion um Seenotrettung und die Kooperation mit Libyen, als die im März 2018 neu gewählte italienische Regierung (Fünf Sterne/Lega) die bis dahin etablierte Praxis der Aufnahme von im Mittelmeer geretteten Personen durch Italien weitgehend beendete. Trotz deutlich sinkender Zuwanderung über die zentrale Mittelmeerroute verfolgt die italienische Regierung einen restriktiven migrationspolitischen Kurs. Dies hängt auch mit der anhaltenden Uneinigkeit der EU-Mitgliedstaaten über die Verteilung von Schutzsuchenden zusammen. Italien ist nicht mehr bereit, weitgehend allein die Verantwortung für Menschen zu tragen, die über das zentrale Mittelmeer in die EU gelangen. In diesem Kontext setzten einige EU-Staaten, darunter Frankreich, die in der Vergangenheit bereits mehrfach gescheiterte Idee auf die Agenda, in Drittstaaten Asylzentren einzurichten. Im Interner Link: Juni 2018 beschloss der Europäische Rat, dass die Europäische Kommission ein Konzept für die "Ausschiffung" von im Mittelmeer geretteten Personen in Drittstaaten entwickeln solle. Dies sollte in Zusammenarbeit mit dem Interner Link: UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), der Interner Link: Internationalen Organisation für Migration (IOM) und Drittstaaten erfolgen. Allerdings weigern sich bislang alle Staaten in der Nachbarschaft der EU, insbesondere in Nordafrika und auf den Balkan, ein derartiges Zentrum auf ihrem Staatsgebiet einzurichten.
Die Politik der italienischen Regierung, Schiffe mit geretteten (Flucht-)Migrantinnen und Migranten an Bord nicht mehr in italienische Häfen einlaufen zu lassen, führte ab Sommer 2018 dazu, dass solche Schiffe über viele Tage auf die Erlaubnis warten mussten, in einem europäischen Hafen anlegen zu dürfen. Mehrfach erklärten sich europäische Regierungen erst nach längeren Verhandlungen bereit, die geretteten Personen aufzunehmen. Die Blockadepolitik Italiens führte Ende Interner Link: März 2019 zu einer de facto-Beendigung des gemeinsamen Marineeinsatzes EUNAVFOR MED Operation Sophia. Diese Operation im zentralen Mittelmeer zielte seit Sommer 2015 auf die Bekämpfung von Schlepperbanden. Die Crews der Einsatzschiffe retteten bei ihren Einsätzen etwa 49.000 Menschen aus Seenot. Daher hatte die von Italien geführte Leitstelle in Rom seit dem Frühsommer 2018 keine Schiffe mehr zu einem Rettungseinsatz nahe der libyschen Küste entsandt. Nach dem Ende des Marieneinsatzes sollen Aktivitäten von Schlepperinnen und Schleppern nur noch durch Drohnen und Hubschrauber aus der Luft beobachtet werden.
Ausbau legaler und sicherer Einreisewege
Menschenrechts- und Flüchtlingshilfsorganisationen rufen regelmäßig dazu auf, für Schutzsuchende mehr legale und sichere Einreisewege in die EU zu schaffen, damit sie nicht gezwungen werden, auf gefährlichen und irregulären Wegen nach Europa zu gelangen. Zwar erfüllten die EU-Mitgliedstaaten ihre Zusagen für das in der EU-Migrationsagenda vorgesehene Resettlement-Programm und nahmen in den Jahren 2015 bis 2017 mehr Personen auf als in der Vergangenheit. Im September 2017 schlug die EU-Kommission vor, dass die Mitgliedstaaten bis Oktober 2019 mindestens 50.000 Flüchtlinge über Interner Link: Resettlement aufnehmen sollten und stellte hierfür 500 Millionen Euro zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten stimmten den Plänen der Kommission zu und haben bis Anfang März 2019 rund 24.000 Flüchtlinge aufgenommen. Die Kommission forderte die Mitgliedstaaten außerdem zur Einrichtung des im Juli 2016 vorgeschlagenen regulären EU-Resettlement-Programms auf und sprach sich für die Erprobung sogenannter Private-Sponsorship-Programme aus. Dabei übernehmen Angehörige von Schutzsuchenden oder karitative Organisationen die Kosten, die bei der Aufnahme von Flüchtlingen entstehen, und ermöglichen so die legale Einreise ins Aufnahmeland. Darüber hinaus regte die Kommission die Einrichtung von Pilotprojekten zu legaler Arbeitsmigration an und stellte dafür finanzielle Mittel in Aussicht. Bis zum Frühjahr 2019 haben die Mitgliedstaaten allerdings keinen signifikanten Ausbau der Möglichkeiten für die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Drittstaaten beschlossen.
Ausblick
Trotz zahlreicher Einigungsversuche konnten sich die EU-Mitgliedstaaten bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2019 nicht auf eine Reform der gemeinsamen Asylpolitik einigen. In den zurückliegenden Jahren wurden lediglich Maßnahmen des Außengrenzschutzes und der erweiterten Kooperation mit Transitstaaten beschlossen. Die Verabschiedung mehrerer Richtlinien und Verordnungen zur Reform des GEAS, inklusive des Ausbaus des Europäischen Asylunterstützungsbüros (EASO), wurde bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühling 2019 blockiert, obwohl in vielen Punkten Einigung erzielt wurde. Eine der zentralen Aufgaben für die neue Legislaturperiode ist somit eine Einigung bei der Dublin-Verordnung, an die mehrere Staaten ihre Zustimmung zum Gesamtreformpaket der GEAS-Reform geknüpft haben.
Die deutlich gesunkenen Zahlen neu in der EU ankommender Flüchtlinge lassen die Krise der Migrations- und Flüchtlingspolitik in der öffentlichen Wahrnehmung zwar etwas in den Hintergrund treten. Es bestehen jedoch weiterhin große Herausforderungen in Flüchtlingsschutz und Asylpolitik. So ist etwa die Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg und Verfolgung fliehen, in den letzten Jahren weiter gestiegen. Auch andere Migrationsmotive – etwa Armut, Korruption, Perspektivlosigkeit oder Interner Link: Klimawandel – bestehen fort.
Ob und wie die notwendige und angestrebte Reform der europäischen Asylpolitik gelingen wird, bleibt angesichts der äußerst unterschiedlichen Positionen der EU-Mitgliedstaaten ungewiss.
Dieser Text ist Teil des Interner Link: Länderprofils Europäische Union.
Entwicklung der Asylantragszahlen (Erst- und Folgeanträge) in den 28 EU-Staaten 1998-2018 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Asylerstanträge in den 28 EU-Mitgliedstaaten (EU-28) 2014 bis 2018 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-01-13T00:00:00 | 2019-05-11T00:00:00 | 2023-01-13T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/290977/europaeische-asyl-und-fluechtlingspolitik-seit-2015-eine-bilanz/ | Die hohe Asylzuwanderung 2015 und 2016 hat die EU und ihre Mitgliedstaaten vor große Herausforderungen gestellt. Sie reagierten mit zahlreichen politischen Maßnahmen, konnten zentrale Streitfragen der gemeinsamen Asylpolitik bislang aber nicht lösen. | [
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Getrennte Klassenzimmer | USA | bpb.de | Der Zugang zu Bildung war und ist in den Vereinigten Staaten nicht uneingeschränkt möglich. Seit Interner Link: Beginn der Republik im späten 18. Jahrhundert waren immer wieder Teile der US-amerikanischen Bevölkerung von Schulbildung ausgeschlossen oder besuchten spezielle Einrichtungen: Mädchen, Kinder aus ökonomisch benachteiligten Familien oder Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten. Im 19. Jahrhundert erkämpften sich zunächst Frauen den Zugang zu Schulen, vor allem zu weiterführenden Bildungseinrichtungen und Hochschulen. An Akademien wie dem Troy Female Seminary im Bundesstaat New York waren junge Frauen aber zunächst unter sich. Sie waren vornehmlich weiß und entstammten der Mittelschicht. Mit Einführung der Interner Link: Schulpflicht, die ab 1852 in Massachusetts und ab 1918 schließlich in allen US-Bundesstaaten umgesetzt wurde (zuletzt in Mississippi), erweiterten sich die Bildungschancen für Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Auch Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien hatten von nun an das Recht, eine Schule zu besuchen, auch wenn dies für viele Eltern eine Herausforderung darstellte, weil sie auf die Arbeitskraft ihres Nachwuchses angewiesen waren oder Schulgeld bezahlen mussten. Von diesen Veränderungen profitierten auch viele eingewanderte Schulpflichtige, besonders in den urbanen Zentren, wo die Schulen häufig besser waren als auf dem Land.
Es waren vor allem afroamerikanische Kinder und Jugendliche, die bis 1865 nur im Norden und in Teilen des Westens der USA Zugang zu Schulen hatten. Dort gab es auch Internate für Kinder aus indigenen Gemeinschaften, wo allerdings eine gewaltsame Assimilierung betrieben wurde. Im Süden hingegen wurde versklavten Schwarzen jeglicher Zugang zu Bildung verwehrt; sie durften nicht einmal Lesen und Schreiben lernen.
Segregierte Schulen etablieren ein Zweiklassen-Bildungssystem
Dies begann sich erst während der Reconstruction zu ändern, der Phase des Wiederaufbaus im Süden, die auf den Interner Link: Bürgerkrieg (1861–1865) folgte. Das neu eingerichtete Freedmen’s Bureau – eine Behörde für Menschen, die aus der Sklaverei befreit worden waren – gründete Schulen im Süden, um schwarzen Kindern erste Bildungsangebote zu machen. Vom Zugang zu den Schulen für weiße Südstaatenkinder waren sie ausgeschlossen, sowohl von öffentlichen als auch privaten Einrichtungen. Diese Freedmen‘s Schools waren zunächst meist einfache Holzhütten ohne professionelle Ausstattung, die sich auch über Spenden finanzierten. In der Regel wurden Schülerinnen und Schüler unterschiedlichen Alters in einem Klassenverband unterrichtet und das Unterrichtsniveau je nach Lernfortschritt flexibel angepasst.
Während in Städten wie Atlanta, Richmond und Birmingham bald besser ausgestattete Schulen entstanden, die mit den Mitteln der afroamerikanischen Gemeinden finanziert wurden, blieb es in vielen ländlichen Regionen bei der desolaten Bildungssituation. Viele Landesparlamente im Süden weigerten sich über Jahrzehnte schlichtweg, Mittel für afroamerikanische Schulen bereitzustellen oder taten dies in so geringem Umfang, dass an eine Modernisierung dieser Schulen nicht zu denken war. Mit der Wiedereinführung der rassistischen Interner Link: Trennung von Weißen und Schwarzen nach der Reconstruction verfestigte sich dieses segregierte Ausbildungssystem, das staatlich abgesichert und von den Gerichten als verfassungskonform eingestuft wurde (nach dem Prinzip "separate but equal", auf Deutsch etwa: "getrennt, aber gleichgestellt").
Afroamerikanischen Schülerinnen und Schülern von Virginia bis nach Texas blieb der Zugang zu weißen Schulen und einer auf Integration aufbauenden Bildung verwehrt. Stattdessen etablierte sich ein Interner Link: Zweiklassen-Bildungssystem, in dem sich die konstruierte Zuordnung in unterschiedliche "Rassen" und Klassenzugehörigkeit als Benachteiligungskategorien überlappten. Während Kinder und Jugendliche aus der urbanen schwarzen Mittelschicht bald Zugang zu guten, häufig privat finanzierten Grundschulen, Highschools und Colleges (z.B. Morehouse College in Atlanta und Howard University in Washington, D.C.) bekamen, hatten junge Schwarze in ländlichen Regionen häufig Bildungsbiographien, die von Mangel an Ressourcen geprägt waren.
Ein bahnbrechendes Gerichtsurteil: Brown v. Board of Education
Dieses Bildungssystem bestand über Jahrzehnte. Es kennzeichnete vor allem, aber nicht ausschließlich die Situation an Schulen und Hochschulen des Südens. Auch Schulbehörden im Norden diskriminierten gegen Students of Color. Diese Diskriminierung manifestierte sich aber weniger in einer staatlich sanktionierten Segregation des gesamten Schul- und Hochschulsystems als vielmehr in mangelnder Förderpolitik und rassistisch motivierten Mikroaggressionen im Alltag.
Erst 1954 geriet die gesetzlich vorgeschriebene Segregation im Bildungswesen unter Beschuss. In diesem Jahr sprach der Interner Link: US Supreme Court, das Oberste Verfassungsgericht der Vereinigten Staaten, das Urteil im Fall Interner Link: Brown v. Board of Education. Dabei ging es um ein Bündel von Fällen, in denen afroamerikanische Eltern auf freie Schulwahl für ihre Kinder geklagt hatten. Im Mittelpunkt stand der Fall der Familie Brown aus Topeka, Kansas. Die Browns hatten ihre Tochter Linda zur Einschulung in der nächstgelegenen Grundschule anmelden wollen, die zu Fuß zu erreichen war. Stattdessen bestand die lokale Schulbehörde darauf, das Mädchen auf eine Grundschule für afroamerikanische Kinder zu schicken, die nur mit dem Schulbus zu erreichen war. Dagegen klagte die Familie und ging durch alle Instanzen. Das Verfassungsgericht als höchste Instanz unter dem Vorsitz von Earl Warren schloss sich der Auffassung der Browns an, dass die Trennung von Schulkindern aufgrund von Rassenzugehörigkeit deren Externer Link: Grundrechte verletzte und eine unzumutbare Form der Diskriminierung darstellte. Der Supreme Court bezog sich auf den 14. Verfassungszusatz, der eine Gleichbehandlung vor dem Gesetz vorsieht. Richter Warren schrieb in seiner Urteilsbegründung, dass die Segregation vor allem negative Auswirkungen auf die psychische Entwicklung von Schülerinnen und Schülern habe: "Sie von anderen im gleichen Alter und mit gleicher Qualifikation zu trennen, nur aufgrund ihrer ‚Rasse‘, erzeugt ein Minderwertigkeitsgefühl, das wohl nicht mehr rückgängig zu machen ist, in Bezug auf ihren Status in der Gemeinschaft." Er kam zu dem Schluss, dass die Rassentrennung an Schulen – auch wenn sie wie in Topeka gleiche Einrichtungen für Weiße und Schwarze zur Verfügung stellte – abgeschafft gehöre. Damit hob das Gericht zugleich die Rechtmäßigkeit des juristischen Grundsatzes "separate but equal" auf. Zudem ordnete es die Desegregation des Schulwesens an, allerdings ohne einen Zeitrahmen festzulegen.
Widerstand gegen ein integriertes Bildungssystem
Das Gerichtsurteil löste eine enorme, teils auch gewaltsame Welle des Widerstands vor allem im Süden des Landes aus. Während Schulbehörden in den sogenannten border states wie Kentucky und Tennessee, in direkter Nachbarschaft zu den nördlichen Bundesstaaten gelegen, die Integration zeitnah umsetzten, verweigerten viele Schulen und Hochschulen im tiefen Süden entsprechende Maßnahmen oder schoben sie auf die lange Bank. 1957 wurde die Wucht des Widerstands in Little Rock im Bundesstaat Arkansas besonders deutlich, wo sich Vertreter des Status quo, darunter auch Gouverneur Orval Faubus, gegen die Integration der Central High School wehrten und Externer Link: neun afroamerikanischen Schülerinnen und Schülern den Zutritt zur Schule verweigerten. Die Desegregation-Krise, die sich über mehrere Tage hinzog, konnte erst durch eine Intervention der Eisenhower Regierung beendet werden, die eine Armeeeinheit zum Schutz der schwarzen Schülerinnen und Schüler nach Little Rock entsandte und damit die Integration der Schule erzwang. Zu gewaltsamen Ausschreitungen kam es auch, als sich James Meredith im Herbst 1962 als erster afroamerikanischer Student an der University of Mississippi ("Ole Miss") in Oxford Mississippi einschreiben wollte. In seinem Fall war der Schutz durch Bundespolizisten nötig, um ihm den Zugang zur Universität zu verschaffen und sein Studium der Politikwissenschaft zu ermöglichen. Mehr Schwung kam in die Durchsetzung des gleichberechtigten Zugangs zur Bildung erst durch die Verabschiedung des Interner Link: Civil Rights Act durch den US-amerikanischen Kongress im Jahr 1964. Das Gesetz verbot jegliche Diskriminierung auf Grundlage von race, Hautfarbe, Religion, Geschlecht und nationaler Herkunft. Hatten Schulbehörden und Hochschulen zuvor auf Zeit gespielt, da das Urteil zum Fall Brown v. Board of Education kein verbindliches Datum für den Abschluss der Desegregation vorgegeben hatte, gab es nun einen verbindlichen gesetzlichen Rahmen, den sie zu beachten hatten, wollten sie nicht mit Klagen rechnen.
Getrennte Klassenzimmer – auch ohne rassistische Gesetze
Doch auch in der Folge gab es Schulen, an denen nur Weiße oder ausschließlich Schwarze sowie Schülerinnen und Schüler lateinamerikanischer Herkunft unterrichtet wurden. Dies war keinesfalls nur im Süden, sondern auch im Norden und im Westen des Landes der Fall. Dieses Fortbestehen segregierter Schulen erklärt sich vor allem aus den Siedlungsmustern der US-amerikanischen Bevölkerung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden waren. In den 1940er- und 1950er-Jahren beschleunigte sich ein Trend, der in den Jahrzehnten zuvor begonnen hatte: die Suburbanisierung der Vereinigten Staaten. Interner Link: Vornehmlich weiße Familien verließen ihre zentrumsnahen Wohnquartiere und zogen in die Vorstädte, wo Wohngebiete wie die sogenannten Levittowns entstanden (benannt nach dem Bauentwickler William Levitt). Sie reagierten damit auf den Interner Link: städtischen Strukturwandel, durch den das Leben im urbanen Raum an Attraktivität einbüßte. Aufgrund von Deindustrialisierung fielen Arbeitsplätze und Teile der Infrastruktur weg, Einkaufsmöglichkeiten verlagerten sich an den Stadtrand. Die weiße Mittelschicht nahm auch Förderangebote der Bundesregierung in Anspruch, etwa Maßnahmen wie die G.I. Bill, die Kriegsveteranen bei der Gründung einer Existenz unterstützte und auch preiswerte Hauskredite umfasste.
Afroamerikanische Familien partizipierten vielfach nicht an dieser Entwicklung, weil sie ärmeren Milieus entstammten, Fördermöglichkeiten aufgrund diskriminierender Rahmenbedingungen nicht in Anspruch nehmen konnten oder in den Vorortssiedlungen nicht willkommen waren. Viele Schwarze blieben daher notgedrungen in den Innenstädten und waren auf die dortigen Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche angewiesen. Weiße Schülerinnen und Schüler blieben auf den Vorstadtschulen häufig unter sich.
Schulbusse bringen Veränderungen
Um diese Situation zu verändern und landesweit endlich die Desegregation von öffentlichen Schulen zu erreichen, implementierten viele Kommunen auf Druck der Bundesregierung und der Gerichte sogenannte Busing-Programme – die Zusammenführung verschiedener sozialer Milieus in den Schulen per Bustransport. Ab 1971 wurden Schülerinnen und Schüler aus den Innenstädten in die Vorstädte gefahren und aus den Suburbs in die Innenstadtschulen. Interner Link: Kamala Harrris, seit 2021 US-Vizepräsidentin, verwies in einer der Debatten während des Wahlkampfs 2020 auf ihre Erfahrung als Kind in Berkeley, Kalifornien, dessen Bildungschancen durch ein solches Busprogramm grundlegend verändert wurden: "Es gab ein kleines Mädchen in Kalifornien, das zur zweiten integrierten Klasse seiner öffentlichen Schule gehört und jeden Tag mit dem Bus zur Schule gebracht wurde. Dieses Mädchen war ich." Ohne diese Maßnahme wäre ihr Leben anders verlaufen.
Bei vielen Eltern traf das Programm jedoch auf ein geteiltes Echo. Boston wurde dabei zu einem der Zentren des Widerstands gegen das busing. Während die Black Community sich für eine Umverteilung von Ressourcen einsetzte, die Kindern und Jugendlichen den Besuch einer gut ausgestatteten Schule in der Nähe ihres Wohnortes ermöglicht hätte, wehrten sich viele Weiße aus rassistischen Gründen gegen Integrationsmaßnahmen an ihren Schulen. Sie fürchteten vor allem eine Absenkung der Bildungsstandards. Eltern widersetzten sich, indem sie ihre Kinder dem öffentlichen Schulwesen entzogen und an Privatschulen anmeldeten oder zuhause unterrichteten. Damit hebelten sie an vielen Orten die Durchschlagskraft des Busing aus.
Dennoch führte die Maßnahme des Bustransports schließlich zu landesweiten positiven Veränderungen, wenn auch nicht in dem Umfang, den ihre Befürworterinnen und Befürworter sich erhofft hatten. Aufs Ganze gesehen waren die US-amerikanischen Schulen in den 1980er-Jahren sozial so rassenintegriert wie niemals zuvor. Mehr Kinder und Jugendliche unterschiedlicher sozialer Hintergründe saßen in gemeinsamen Klassenzimmern, um zusammen zu lernen. Dies galt vor allem für den Süden, wo die letzten Spuren der gesetzlich verankerten Segregation verschwanden. Dort ging zwischen 1968 und 1980 die Anzahl der afroamerikanischen Schülerinnen und Schüler, die an einer mehrheitlich von Minderheiten besuchten Schule unterrichtet wurden, um 54,8 Prozent zurück. Stattdessen wuchs der Anteil von Schwarzen auf Schulen mit mehrheitlich weißen Mitschülerinnen und Mitschülern bis 1988 auf 44 Prozent.
Integrationsziel erreicht? Die Rückkehr der Segregation im Schulwesen
Zugleich änderte sich vielerorts wenig, was mit dem Neuzuschnitt von Schulsprengeln, mit dem sich Schuldistrikte gegen Eingriffe in die Zusammensetzung ihrer Schülerschaften wehrten, sowie dem fortschreitenden demographischen Wandel zusammenhing. Die obligatorischen Busprogramme verstärkten die Tendenz vieler weißer US-Amerikaner, sich in immer weiter von städtischen Zentren entfernte Vororte zurückzuziehen. Dort gibt es häufig kaum Nachbarschaft aus der Black Community oder eingewanderte Familien. Diese Form der neuerlichen Rassentrennung am Wohnort, die informellen Diskriminierungsmustern folgt und nicht staatlich verordnet ist, lässt sich seit der Jahrtausendwende verstärkt beobachten. Sie hat vor allem im letzten Jahrzehnt zu einer rasanten Rückkehr der Segregation im Schulwesen geführt. Befördert wurde diese Entwicklung auch von einer sich ändernden Rechtsprechung, die richterliche Anordnungen durch das Prinzip der Freiwilligkeit ersetzte. Im Fall eines Schuldistrikts in Charlotte, North Carolina, folgten die Gerichte im Jahr 2000 der Argumentation der Schulbehörde. Diese hatte das Integrationsziel als erreicht angesehen und die Busprogramme nicht länger für nötig erachtet. Damit gab es einen neuen Präzedenzfall, der auch andernorts dazu führte, dass Schulbehörden ihre Integrationsbemühungen regulierten oder einstellten, auch wenn das Recht aller Schülerinnen und Schüler auf einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung noch nicht umgesetzt worden war. 2007 schließlich urteilte das Oberste Gericht unter dem Vorsitz von John Roberts, dass race nicht mehr als alleiniger Faktor bei der Zulassung von Schülerinnen und Schülern gelten dürfe, um Diversität in Bildungseinrichtungen zu erreichen. US-Hochschulen sind diverser als je zuvor
Auch im US-amerikanischen Hochschulwesen haben Integrationsmaßnahmen seit den 1970er- und 1980er-Jahren zu einer Vielzahl von Veränderungen geführt. Zum einen waren es das Prinzip Affirmative Action: Zulassungsquoten und Förderprogramme für bislang benachteiligte Schulabsolventinnen und -absolventen, die dazu führten, dass sich die Anzahl von Students of Color an US-amerikanischen Colleges und Universitäten maßgeblich erhöhte. Waren es bislang vor allem die traditionell afroamerikanischen Hochschuleinrichtungen (HBCU – Historically Black Colleges and Universities) gewesen, die Schwarzen Zugang zu Hochschulbildung ermöglicht hatten, akzeptierten nun auch andere öffentliche und private Hochschulen diesen Bildungsauftrag. Dies hat in den letzten Jahrzehnten zu einer wesentlichen Diversifizierung der Studierendenschaft der Colleges und Universitäten geführt. Dies gilt auch für Lerninhalte und die personelle Zusammensetzung in der akademischen Lehre. 1968 entstand am San Francisco State College das erste Institut für Black Studies. Seither sind die African American Studies und auch die LatinX Studies – das X steht für eine gendersensible Schreibweise von Latino/Latina – zu einem festen Bestandteil des Hochschulcurriculums geworden.
Vielerorts gibt es hinsichtlich der Diversität von akademischen Lehrkräften allerdings noch Nachholbedarf, und der aufsehenerregende Fall der Journalistik-Professorin Nikole Hannah-Jones machte noch einmal die Doppelstandards bei der Bewertung akademischer Leistungen kenntlich: Trotz einer Berufung zur University of North Carolina wurde der Pulitzer-Preisträgerin nur eine befristete statt – wie üblich – eine unbefristeten Professur angeboten.
Dennoch sind US-Universitäten heutzutage diverser als je zuvor. Auch dort sind allerdings in den letzten Jahren Fragen von Zulassung und Förderung vehement diskutiert und vor den Gerichten verhandelt worden. Zudem haben Wirtschaftskrisen und klamme Kassen der öffentlichen Hand vor allem an den staatlichen Universitäten dazu geführt, dass Bildungsangebote Einschnitte erfahren haben. Zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts stellt sich daher noch immer die Frage, wie bildungsdemokratisch die USA aufgestellt sind. Schaut man auf die Entwicklungen der letzten Jahre, sind Zweifel daran angebracht, ob der gleichberechtigte Zugang zu Schulen und Hochschulen ein zentrales Anliegen der US-amerikanischen Demokratie ausmacht.
Bereits acht Jahre zuvor hatte eine Gruppe mexikanisch-amerikanischer Familien gegen den Ausschluss ihrer Kinder von regulären Grundschulen in Westminster, Kalifornien geklagt. Sie protestierten damit gegen die Einrichtung von Förderschulen für Grundschülerinnen und -schülern, deren Muttersprache Spanisch war. Obwohl nicht gesetzlich verankert, handelte es sich hierbei dennoch um eine systematische Form der Benachteiligung, die die Gerichte unterbanden in Mendez et al. v. Westminster School Dist. of Orange County et al. 161 F.2d 774 (9th Cir. 1947).
Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483 (1954), Zitat im Original: "To separate them from others of similar age and qualifications solely because of their race generates a feeling of inferiority as to their status in the community that may affect their hearts and minds in a way unlikely ever to be undone." Quelle online verfügbar unter: Externer Link: https://supreme.justia.com/cases/federal/us/347/483/ (21.07.2021)
Der Civil Rights Act von 1964 ist als Public Law 88-352 (78 Stat. 241) im Gesetz zu finden.
Der Supreme Court schaffte im Fall Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education, 402 U.S. 1 (1971) die rechtliche Grundlage dafür.
Nellie Bowles, Kamala Harris and Classmates Were Bused Across Berkeley. The Experience Changed Them, New York Times, 30. Juni 2019. Zitat im Original: "There was a little girl in California who was part of the second class to integrate her public schools, and she was bused to school every day, and that little girl was me." Online verfügbar unter: Externer Link: https://www.nytimes.com/2019/06/30/us/politics/kamala-harris-berkeley-busing.html (20.07.2021).
Gary Orfield, Public School Desegregation in the United States, 1968–1980, Washington, D.C.: Joint Center for Political Studies, 1983.
Gary Orfield und Franklin Monfort, Status of School Desegregation: The Next Generation. Alexandria, VA: National School Boards Association, 1992.
Belk v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education, 269 F.3d 305, 315 (4th Cir. 2001).
Parents Involved in Community Schools v. Seattle School District No.1, 551 U.S. 701.
Lauren Lumpkin und Nick Anderson, Nikole Hannah-Jones to join Howard faculty after UNC tenure controversy, Washington Post, 6. Juli 2021. Online verfügbar unter: Externer Link: https://www.washingtonpost.com/education/2021/07/06/howard-nikole-hannah-jones-tanehisi-coates/ (13.09.2021)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-05T00:00:00 | 2021-11-12T00:00:00 | 2022-02-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/343377/getrennte-klassenzimmer/ | Dass Weiße und Angehörige von Minderheiten in den USA oft nicht zusammen zur Schule gehen, gilt als fundamentales Problem des Bildungssystems. Im Süden sorgten dafür lange Zeit rassistische Gesetze, doch die Segregation hat noch andere Gründe. Über e | [
"Segregation",
"Schulbildung",
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"Europäischer Gewerkschaftsbund",
"USA"
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Before your very eyes | bpb.de | „Ladies and Gentlemen! Gob Squad hat die Ehre, Ihnen eine Live-Show mit echten Kindern zu präsentieren! Eine gleichermaßen seltene wie aufregende Gelegenheit, Zeuge zu werden von sieben Leben im Schnelldurchlauf – direkt vor Ihren Augen!“ Mit einer göttlichen Stimme aus dem Off beginnt die Show des Künstlerkollektivs Gob Squad. In einem verspiegelten Glaskasten sitzt eine Gruppe von 8- bis 14-Jährigen auf der Bühne. Dann beginnt das Spiel und Gob Squad setzt die biografische Uhr der Kinder und Jugendlichen in Gang. Sie treffen auf sich selbst, auf ihre eigene Vergangenheit, per Video aufgezeichnet und auf eine Leinwand projiziert; und sie begegnen sich selbst als Erwachsene. Werden sie sich einst tatsächlich auf einer Party zum 45. Geburtstag so verhalten, wie sie das nun auf der Bühne spielen? Unvorstellbar vorstellbar – Gob Squads Kinder konfrontieren sich und uns in dieser Versuchsanordnung mit Fragen nach Lebensängsten und Lebensglück. Das britisch-deutsche Performancekollektiv Gob Squad erarbeitet seit 1994 Performances, Theater, Videos und Installationen. Gob Squad verwandelt städtische Räume wie Büros, Bahnhöfe, Läden, Hotels in theatrale Plätze, arbeitet aber auch in Galerien und Theatern. 1997 machte die Gruppe auf der documenta X in Kassel mit „15 Minutes To Comply“ auf sich aufmerksam. In Berlin, Hamburg und Frankfurt entstanden zahlreiche Produktionen, mit denen Gob Squad ihre charakteristischen Interaktionsformate mit Videoschaltungen weiterentwickelten. Auch Passanten und Zuschauer spielen in ihren Performances eine große Rolle. 2009 gewannen sie mit „Saving The World“ den Preis des Goethe-Instituts beim Festival „Impulse“. „Was die Inszenierung neben den umwerfenden Darstellern so bezaubernd macht, ist die gänzlich unsentimentale Verbindung zwischen dem leichten, heiteren Spiel und der nüchternen Melancholie des Erwachsen- und Altwerdens. Es ist wahrscheinlich, zumindest für den etwa 46-jährigen Teil der Zuschauer, die schönste und wahrste Aufführung des Jahres.“ Süddeutsche Zeitung „ ... und da passiert es, direkt vor deinen Augen, das gutgelaunte und nachdenkliche, kinderleichte und tieftraurige, spielerische und grausame Theaterglück.“ nachtkritik.de Mit: Martha Balthazar, Spencer Bogaert, Faustijn De Ruyck, Gust Hamerlinck, Zoë Luca, Jeanne Vandekerckhove, Ineke Verhaegen Stimme: Rigley Riley Konzept, Design, Regie: Gob Squad (Johanna Freiburg, Sean Patten, Berit Stumpf, Sarah Thom, Bastian Trost & Simon Will) Produktion: Campo, Gent und Gob Squad. Koproduktion: Hebbel am Ufer, Berlin; FFT Düsseldorf; Noorderzon/Grand Theatre Groningen; NEXT Festival, Eurometropole Lille-Kortrijk-Tournai + Valenciennes; Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt und La Bâtie – Festival de Genève. Spielstätte:
Hellerau, Großer Saal
Vorstellungstermine:
Fr., 4.11.2011, 19:00 – 20:15 Uhr // davor um 17:00 Uhr Podiumsgespräch Sa., 5.11.2011, 20:00 – 21:15 Uhr // im Anschluss Publikumsgespräch Externer Link: www.gobsquad.com | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-02-13T00:00:00 | 2012-02-29T00:00:00 | 2023-02-13T00:00:00 | https://www.bpb.de/pift2022/71064/before-your-very-eyes/ | Eine Gruppe von Acht- bis 14-Jährigen trifft auf sich selbst, auf ihre eigene Vergangenheit und begegnet sich als Erwachsene. Werden sie sich einst tatsächlich auf einer Party zum 45. Geburtstag so verhalten, wie sie das nun auf der Bühne spielen? | [
"Politik im Freien Theater "
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Va bene?! | Presse | bpb.de | Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und das Goethe-Institut Italien veranstalten in Berlin gemeinsam eine deutsch-italienische Fachkonferenz für politisch Interessierte und Medienvertreter aus Deutschland und Italien. Die Konferenz zieht Bilanz des 2010 vom Goethe-Institut Italien initiierten Projekts "Va bene?! La Germania in Italiano – Italien auf deutsch" (www.goethe.de/vabene). Mit dem Regierungswechsel in Italien im November 2011 und der Ernennung Mario Montis zum italienischen Ministerpräsidenten scheint die bald 20 Jahre währende Ära Berlusconi an ihr Ende gekommen zu sein. Italien durchschreitet eine Phase tiefgreifender Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dies hat auch Auswirkungen auf das sich ebenfalls verändernde Deutschland und die Beziehungen beider Länder zueinander. Es lohnt sich daher, die Entwicklungen hier wie dort aus verschiedenen Blickwinkeln genauer unter die Lupe zu nehmen. Demokratieentwicklung, Krisenmanagement, die gegenseitige Wahrnehmung und die gemeinsame europäische Zukunft Italiens und Deutschlands sind die Schwerpunktthemen dieser Veranstaltung. Die Vorträge, Impulsreferate, Streitgespräche und Diskussionen mit Experten – Wissenschaftlern und Medienvertretern – aus Italien und Deutschland dienen dazu, den Ist-Zustand der deutsch-italienischen Beziehungen in zentralen Politikfeldern und ausgewählten Bereichen problembewusst und kritisch zu erkunden. Die Krise der Repräsentation und neue Formen der Partizipation sind Thema des ersten Panels. Im zweiten Panel wird die Zukunft zweier Gesellschaften im Wandel – insbesondere die Situation der Jugend und von Migranten – in den Blick genommen. Die Entwicklung der Parteienlandschaft wird im dritten Teil der Veranstaltung diskutiert. Welchen Problemen und Herausforderungen müssen sich Italien und Deutschland im Europa des 21. Jahrhunderts gleichermaßen stellen? Diese Frage wird im vierten Panel erörtert. Mit Blick auf die aktuellen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen wird die Entwicklung von neuen Perspektiven und Strategien für eine langfristige Zusammenarbeit angeregt. Die Konferenz leistet damit einen Beitrag zur Reflexion der deutsch-italienischen Beziehungen und fördert den Austausch zwischen den beiden Ländern. Die vom italienischen Kulturinstitut unterstützte Konferenz wird eröffnet vom italienischen Botschafter in Deutschland, S. E. Michele Valensise, der Direktorin des Goethe-Instituts Italien, Susanne Höhn aus Rom, und dem bpb-Präsidenten Thomas Krüger. Das vollständige Programm inklusive der Teilnahmebedingungen finden Sie auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung unter: Externer Link: www.bpb.de/vabene Beginn: 01.12.2011 um 15:30 Uhr Ende: 02.12.2011 um 18:00 Uhr Ort: Jerusalemkirche, Lindenstraße 85, 10969 Berlin-Kreuzberg Akkreditierung/Anmeldung unbedingt erforderlich wegen begrenzter Platzkapazität! Verbindlich anmelden online unter Externer Link: www.bpb.de/veranstaltungen/Z401LZ oder bei: lab concepts Das Laboratorium für Konzeption und Realisation in Politik, Bildung, Kultur GmbH i.A. der Bundeszentrale für politische Bildung Friedrichstraße 206 10969 Berlin Tel +49 (0)30 25293-256 Fax +49 (0)30 25293-261 E-Mail Link: vabene@lab-concepts.de Konzeption und Programm: Karoline Rörig Fachbüro für den deutsch-italienischen Dialog i.A. der Bundeszentrale für politische Bildung Schumannstr. 114 53113 Bonn Tel +49 (0)228 262546 oder +49 (0)179 4558992 E-Mail Link: mail@karolineroerig.de Ansprechpartner in der bpb: Lothar G. Kopp E-Mail Link: kopp@bpb.de Kristina Mencke E-Mail Link: Mencke@bpb.de Tel +49 (0)30 254504-433 Fax +49 (0)30 254504-422 Hinweis: Interviews mit Mitwirkenden sind während der Konferenz möglich.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49734/va-bene/ | Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und das Goethe-Institut Italien veranstalten in Berlin gemeinsam eine deutsch-italienische Fachkonferenz für politisch Interessierte und Medienvertreter aus Deutschland und Italien. Die Konferenz zieht Bi | [
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Ausblick | bpb.de | Da die Notwendigkeit gezielter und nachholender Integration inzwischen auch von allen politischen Entscheidungsträgern anerkannt wird, wurden im Laufe der letzten Jahre auf Bundesebene eine Reihe von integrationspolitischen Maßnahmen und Initiativen entwickelt und implementiert.
Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Nationale Integrationsplan, der 2007 verabschiedet wurde und ein nationales Gesamtkonzept zur Integration der im Land lebenden Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund darstellt.
Ein weiteres aktuelles Resultat des offenen Diskurses über das Thema Integration ist die Erkenntnis, dass Integrationspolitik aufgrund der regionalen ökonomischen und demographischen Disparitäten in Deutschland möglichst kleinräumig erfolgen muss. So wird im nationalen Integrationsplan betont, dass Integration im unmittelbaren Umfeld stattfindet. Aus diesem Grund gewinnen regionale Ansätze in der Integrationspolitik in Deutschland zunehmend an Bedeutung, wobei die Partizipation am Arbeitsmarkt als zentrale Integrationsvoraussetzung verstanden wird. Darüber hinaus wird kulturelle Vielfalt als Potential für Gesellschaft und Wirtschaft gesehen, das durch gezielte Initiativen und Rahmenbedingungen zum Wohle aller zur Entfaltung gebracht werden kann.
Der Nationale Integrationsplan sieht vor, dass Kommunalpolitik und Verwaltung gemeinsam mit Migrantinnen und Migranten ein Leitbild erstellen, um eine klare politische Verbindlichkeit und Verantwortung zu gewährleisten. In diesem Leitbild muss ein Zielkatalog für Integrationspolitik verankert sein, welcher auch ermöglicht, dessen Umsetzung zu überprüfen. Die kommunalen Verantwortungsträger sind sich ihrer Verpflichtung durchaus bewusst, so dass inzwischen nahezu alle untersuchten deutschen Großstädte über eigene regionale Integrationskonzepte verfügen. Ein zentrales Element aller Konzepte ist die Förderung von Bildung und Qualifikation der ausländischen Bevölkerung und Menschen mit Migrationshintergrund. Stuttgart kann man hier durchaus eine Vorreiterrolle zusprechen.
Der zukünftige Erfolg regionaler Integrationspolitik wird davon abhängen, inwiefern die bestehenden Konzepte implementiert und zu einem dauerhaften Bestandteil städtischer Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik werden. Um zu gewährleisten, dass es nicht bei Absichtserklärungen bleibt und dass effektive Maßnahmen wirtschaftlich umgesetzt werden, wird es notwendig sein, die Integrationspolitik laufend zu evaluieren. Die Ableitung von Best-Pratice-Beispielen ist zwar ein Anfang, jedoch sollte die Entwicklung und Implementierung eines aussagefähigen Indikatorensystems Priorität haben. Die gesellschaftliche und ökonomische Integration von Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund ist eine der größten Herausforderungen der deutschen Gesellschaft. Sie sollte daher nicht von tagesaktuellen Geschehnissen beeinflusst sein, sondern muss langfristig und gezielt vorangetrieben werden. Dazu sind Offenheit und Entgegenkommen sowohl von Seiten der Zuwanderer als auch von Seiten der Aufnahmegesellschaft erforderlich. | Article | Andreas Damelang und Max Steinhardt | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-01-25T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/57342/ausblick/ | In den letzten Jahre wurden auf Bundesebene eine Reihe von integrationspolitischen Maßnahmen und Initiativen entwickelt und implementiert. Ein Beispiel hierfür ist der Nationale Integrationsplan, der ein nationales Gesamtkonzept zur Integration der i | [
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Chronik: 8. – 21. Februar 2016 | Ukraine-Analysen | bpb.de | 08.02.2016 Der Abgeordnete des Blocks Petro Poroschenko Egor Firsow tritt aus der parlamentarischen Fraktion der Partei aus. Als Grund gibt er an, dass die Fraktion weiterhin die Präsenz des Abgeordneten Ihor Kononenko in der Fraktion toleriere. Der scheidende Wirtschaftsminister Ajwaras Abromawitschus hatte Kononenko Korruption vorgeworfen. Firsow erklärt, er könne nicht länger per Mitgliedschaft in der Fraktion Kononenkos Praktiken decken und wolle nicht mit ihnen assoziiert werden. 08.02.2016 Ihor Bilous, Vorsitzender der Stiftung für Staatsvermögen, kündigt an, dass das Parlament noch im Februar ein Gesetz verabschieden werde, das eine umfassende Privatisierung von Staatsvermögen erlaube. Dieses Gesetz sei eine wichtige Forderung der internationalen Geldgeber der Ukraine, insbesondere des Internationalen Währungsfonds. 09.02.2016 Weiterhin wird der Waffenstillstand im Donbass täglich verletzt. Entlang der Frontlinie finden vereinzelte Kämpfe zwischen Separatisten und der ukrainischen Armee statt. 09.02.2016 Der Vorsitzende der rechtsradikalen Partei Freiheit, Oleh Tjanhnybok, erhält in einem Prozess gegen den Innenminister Arsen Awakow teilweise recht. Awakows Aussage zufolge, habe Tjahnybok am 31. August 2015 "Banditen" vor das Parlament gebracht, die "unsere Soldaten verstümmelt und ermordet haben". Am 31. August 2015 war es vor dem Parlament zu schweren Ausschreitungen gekommen, als das Parlament eine Verfassungsänderung zur Dezentralisierung in erster Lesung angenommen hatte. Dabei hatte ein Demonstrant eine Granate geworfen. Mehrere Polizisten waren ums Leben gekommen. 09.02.2016 Ein Staatsanwalt der Ermittlungsgruppe zu den Ereignissen auf dem Maidan am 20. Februar 2014 erklärt, man habe 25 Namen von Kämpfern der mittlerweile aufgelösten Spezialeinheit "Berkut" ermittelt, die auf Demonstranten geschossen haben. Damals waren auf dem Maidan und in unmittelbarer Umgebung mehrere Dutzend Personen durch Schüsse ums Leben gekommen. 18 der beschuldigten Personen befänden sich auf der Flucht. 10.02.2016 Der Vorstandsvorsitzende des mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Konzerns Ukrnafta, Marc Rollins, erklärt, dass ein Entzug der Förderlizenzen für den Konzern und damit für den ukrainischen Staat katastrophale Folgen hätte. Da Ukrnafta im Jahr 2015 nicht die vorgeschriebene Summe an Steuern gezahlt habe, erwägt die Regierung, dem Konzern die Lizenz zu entziehen. Rollins kritisiert, dies geschehe nur, um dem Unternehmer Ihor Kolomojskyj zu schaden, der über 40 % der Aktien des Konzerns hält. 10.02.2016 Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, erklärt, dass der IWF seine Hilfskredite für das Land aussetzen könnte, wenn weiterhin keine ernsthaften Reformen durchgeführt und die Korruption nicht bekämpft werde. 10.02.2016 In einem Gebiet bei Donezk, das weder von den Separatisten noch von der ukrainischen Armee kontrolliert wird, fährt ein Kleinbus am Straßenrand auf eine Mine und explodiert. Drei Menschen kommen ums Leben. 11.02.2016 Der Nationale Rundfunkrat verbietet die Ausstrahlung von 15 weiteren russischen Fernsehsendern auf dem Gebiet der Ukraine. EineÜberprüfung des Programms habe ergeben, dass Personen in den Sendern auftreten, die laut den ukrainischen Behörden die nationale Souveränität der Ukraine bedrohen. 11.02.2016 Die Fraktion der Partei Selbsthilfe beginnt eine Unterschriftensammlung im Parlament. Sie strebt eine Abstimmung an, um der Regierung das Misstrauen auszusprechen. Damit eine solche Abstimmung abgehalten wird, sind 150 Unterschriften notwendig. Die Partei Selbsthilfe, die Teil der Regierungskoalition ist, fordert schon seit Wochen den Rücktritt des Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk. 11.02.2016 Der Chef des Nationalen Antikorruptionsbüros, Artem Sytnyk, erklärt, dass im Jahr 2014 etwa 110 Milliarden Hrywnja (Mitte 2014 etwa 6,8 Milliarden Euro) aus Staatsbetrieben illegal abgezweigt worden seien. 12.02.2016 Mehrere Staatsbeamte, darunter einige stellvertretende Minister, veröffentlichen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Korruption in der Verwaltung beklagen. Viele derjenigen, die nach dem Machtwechsel 2014 aus verschiedenen Bereichen in die Verwaltung gewechselt seien, könnten ihrer Tätigkeit nicht länger nachgehen, da sie die Korruption nicht länger mittragen wollten. Sie rufen den Präsidenten und den Ministerpräsidenten auf, entschlossen die versprochenen Reformen umzusetzen. 12.02.2016 Das Finanzministerium veröffentlicht Zahlen zur Entwicklung der Staatsschulden. Ende 2015 habe die Staatsschuldenquote bei 79 % des Bruttoinlandsproduktes gelegen. In absoluten Zahlen seien das 65,5 Milliarden US-Dollar. 12.02.2016 Aktivisten in Transkarpatien in der Südwestukraine halten an der Grenze des Gebietes Warentransporte mit russischen Nummernschildern an und hindern sie an der Weiterfahrt. Unter den Teilnehmern sind nach Medienberichten zahlreiche ehemalige Teilnehmer der "Anti-Terror-Operation" der ukrainischen Armee. Am nächsten Tag erklärt derGouverneur des Gebiets, Hennadyj Moskal, die Aktion sei beendet. Die blockierten russischen Transporte hätten die Grenze zur Slowakei überquert. 13.02.2016 Bei einem Treffen der Außenminister der Ukraine, Russlands, Frankreichs und Deutschlands während der Sicherheitskonferenz in München wirft der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin Russland vor, gemeinsame Militärübungen mit den Separatisten abzuhalten und Waffen über die Grenze in das separatistisch kontrollierteGebiet im Donbass zu liefern. 13.02.2016 In Marjinka im Gebiet Donezk wird ein Kontrollpunkt zumÜbertritt der Frontlinie geschlossen. Nach ukrainischen Angaben ist der Grund für die Schließung der Beschuss des Kontrollpunktes durch separatistische Truppen in den vergangenen Tagen. 14.02.2016 Das russische Verkehrsministerium untersagt ukrainischen Lastkraftwagen auf russischem Territorium die Weiterfahrt. Dies geschehe als Reaktion auf die Handlungen von Aktivisten in mehreren westlichen Regionen der Ukraine, die seit dem 12. Februar russische Transporte in Richtung EU an der Weiterfahrt hindern. Am Folgetag verbietet die ukrainische Regierung im Gegenzug den Transit russischer LKW durch die Ukraine. 15.02.2016 Der stellvertretende Generalstaatsanwalt Witalij Kasko erklärt seinen Rücktritt. Er erklärt, dass der Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin seine Arbeit bei der Verfolgung von Korruptionsdelikten behindert habe. Der US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, bedauert Kaskos Rücktritt. 15.02.2016 Die leitende Staatsanwältin der von Russland annektierten Halbinsel Krim, Natalja Poklonskaja, eröffnet ein Verfahren gegen die inoffizielle Vertretung der Krimtataren, den Medschlis. Nach Medieninformationen steht das Verfahren im Zusammenhang mit der Gesetzgebung zur Extremismusbekämpfung. 16.02.2016 Die Kämpfe im Donbass verschärfen sich. Die ukrainische Armee meldet seit Wochen erstmals wieder mehrere tote Soldaten – drei seien gefallen. 16.02.2016 Der EU-Botschafter in Kiew, Jan Tombinski, fordert die umgehende Einführung eines elektronischen Registers für die Einkünfte von Staatsbeamten. Diese war für 2016 geplant, jedoch durch eine Gesetzesänderung auf 2017 verschoben worden. Tombinski beklagt außerdem, dass Änderungen im Gesetz "Über die Staatsanwaltschaft", dem Generalstaatsanwalt zu starken Einfluss auf die neu eingerichtete Antikorruptions-Ermittlungsbehörde gebe. 16.02.2016 Das Parlament verabschiedet ein Gesetz zur Privatisierung von Staatsbesitz, das es juristischen Personen aus so genannten"Aggressorstaaten" verbietet, als Käufer an der Privatisierung teilzunehmen. Damit sind russische Firmen ausgeschlossen, da Russland laut einem Parlamentsbeschluss von Januar 2015 als "Agressorstaat" eingestuft ist. 16.02.2016 Präsident Petro Poroschenko ruft Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin zum Rücktritt auf. Er habe das Vertrauen der Gesellschaft verloren. Auch die Regierung werde von der Bevölkerung nicht mehr unterstützt, so Poroschenko. Er empfehle eine vollständige Neubildung der Regierung auf Basis der Regierungskoalition der Parteien Block Petro Poroschenko-Solidarität, Volksfront, Selbsthilfe und Vaterland. 16.02.2016 Im Parlament scheitert ein Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk. 194 Abgeordnete sprechen ihm ihr Misstrauen aus, erforderlich für eine Absetzung sind 226. Er bleibt also im Amt. Die Fraktion der Partei Selbsthilfe hatte das Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk beantragt. Die erforderlichen 150 Unterschriften vonParlamentariern hatte sie in den vergangenen Tagen gesammelt. Die Parlamentsmehrheit verabschiedet eine Resolution, die die Arbeit der Regierung für unzureichend befindet. 16.02.2016 Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin reicht seinen Rücktritt ein. Am Vormittag hatte Präsident Petro Poroschenko ihn dazu öffentlich aufgerufen. Schokin war vorgeworfen worden, den Kampf gegen die Korruption – u. a. auch in seiner eigenen Behörde – nicht entschlossen genug zu führen. 16.02.2016 Russland und die Ukraine vereinbaren, den im jeweils anderen Land durch offizielle Beschlüsse festgesetzten LKW die Rückfahrt zu erlauben. 16.02.2016 Julia Tymoschenko, die Vorsitzende der Partei Vaterland, beruft den einzigen Minister der Partei, den Minister für Jugend und Sport, Ihor Schdanow, aus der Regierung ab. Sie erklärt jedoch vorerst nicht den Austritt ihrer Fraktion aus der Regierungskoalition. 17.02.2016 Boris Filatow, der Bürgermeister der ostukrainischen Stadt Dnipropetrowsk, erklärt, ein Abgeordneter des Oppositionsblocks im Stadtparlament sei von Unbekannten verprügelt worden. 17.02.2016 Die Wahlbeobachterorganisation OPORA fordert, ein kürzlich verabschiedetes Gesetz zurückzunehmen, da es unter Verletzung der Geschäftsordnung zustande gekommen sei. Das Gesetz sieht vor, dass Kandidaten von einer Parteiliste entfernt werden können, nachdem die entsprechende Wahl abgehalten wurde. 17.02.2016 Julia Tymoschenko, die Vorsitzende der Partei Vaterland, erklärt den Austritt ihrer Fraktion aus der Regierungskoalition. Der am Vortag aus der Regierung abberufene Minister für Jugend und Sport, Ihor Schdanow, erklärt unterdessen, dass er nicht bereit sei, seinen Rücktritt einzureichen. Auf Bitten des Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk werde er sein Amt weiter ausführen. 17.02.2016 Russland reicht bei einem Londoner Schiedsgericht Klage gegen die Ukraine ein. Grund ist der Kredit in Höhe von drei Milliarden US-Dollar, den Russland der Ukraine im Jahr 2013 ausgezahlt hatte und dessen Frist zur Rückzahlung Ende 2015 abgelaufen war. 17.02.2016 Der Fraktionschef des Blocks Petro Poroschenko, Jurij Luzenko, fordert Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk auf, eine neue Regierung vorzuschlagen oder selbst das Amt niederzulegen. Jazenjuk habe die Unterstützung von vier der fünf Fraktionen der Regierungskoalition verloren. 17.02.2016 Der Abgeordnete des Blocks Petro Poroschenko und Journalist Mustafa Nayem erklärt, dass auf einer Fraktionssitzung des Blocks diskutiert worden sei, warum am Vortag Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk nicht das Misstrauen ausgesprochen wurde. Ein Teil der Fraktion hatte nicht mit abgestimmt, im Ergebnis waren nicht die erforderlichen 226 Stimmen zusammengekommen. Nayem erklärt, dass Jazenjuk von ausländischen Botschaftern gestützt werde. 18.02.2016 Ein Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft erklärt, dass in den Ermittlungen zu den Ereignissen auf dem Maidan im Februar 2014 insgesamt 276 Personen angeklagt worden seien. Damals waren insgesamt etwa 100 Menschen durch Schüsse ums Leben gekommen, die große Mehrheit davon Demonstranten. 18.02.2016 Die Fraktionen der Parteien Selbsthilfe und Vaterland treten aus der Regierungskoalition aus. Beide hatten zuvor einen Rücktritt des Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk gefordert. Die Koalition verliert mit dem Austritt der Fraktionen ihre Parlamentsmehrheit. Der Chef der Radikalen Partei, Oleh Ljaschko, erklärt seine Bereitschaft zur Formierung einer neuen Koalition und zur Umbildung der Regierung. Die RadikalePartei hatte die Regierungskoalition bereits am 1. September 2015 verlassen. 18.02.2016 Das Parlament verabschiedet drei Gesetzesprojekte, die für die EU eine Bedingung für eine Abschaffung der Visapflicht darstellen. Zuvor waren diese Gesetze mehrfach verändert worden, wogegen EU-Vertreter Protest eingelegt hatten. Die nun verabschiedeten Fassungen sind im Sinne der EU. Es geht u. a. um eine Reform der Staatsanwaltschaft. 19.02.2016 Der erste Vizesprecher des Parlaments, Andryj Parubij, erklärt, dass es keinen Anlass gebe, die Auflösung der Koalition bekanntzugeben. Der gestrige Tag, an dem das Parlament mehrere wichtige Gesetze verabschiedet hatte, habe gezeigt, dass es arbeitsfähig sei. Am 18. Februar 2016 hatten zwei Fraktionen ihren Austritt aus der Regierungskoalition erklärt. 20.02.2016 Bei einem Gefangenenaustausch kommen drei Soldaten der Ukraine und sechs Kämpfer der Separatisten frei. Später wird ein weiterer ukrainischer Soldat freigelassen. Nach Angaben der Beauftragten des Präsidenten für die friedliche Regulierung des Konflikts im Donbass, Irina Heraschtschenko, verbleiben damit 133 Soldaten der ukrainischen Armee in Gefangenschaft. 20.02.2016 Boris Gryslow, der Beauftragte Russlands in der trilateralen Kontaktgruppe aus Russland, der Ukraine und der OSZE, nennt die Voraussetzungen für einen Austausch der verbliebenen Gefangenen. Dazu müsse die Ukraine ein umfassendes Amnestiegesetz erlassen. 20.02.2016 Der EU-Botschafter in der Ukraine, Jan Tombinski, beklagt, dass es in der Ukraine keinen politischen Willen zur Einrichtung einer Agentur zur Korruptionsprävention gebe. Anders könne er sich nicht erklären, warum sie nach acht Monaten ihre Arbeit noch immer nicht aufgenommen habe. Die Agentur ist eine Bedingung der EU zur Abschaffung der Visapflicht. 20.02.2016 In Kiew werfen einige Dutzend Teilnehmer einer Demonstration Steine auf Filialen der Sberbank und der Alfa-Bank. Beide Banken stammen aus Russland. Außerdem wird ein Büro des ostukrainischen Unternehmers Rinat Achmetow attackiert. Bei der Demonstration sind ukrainische Flaggen und Symbole nationalistischer Organisationen zu sehen. Am Folgetag bestreitet der Vorsitzende der rechtsradikalen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), etwas mitden Unruhen zu tun gehabt zu haben. 21.02.2016 Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erklärt, dass man im vergangenen Monat die Auszahlung von Sozialleistungen an 150.000 vermeintliche interne Flüchtlinge ausgesetzt habe. Es habe sich ein Betrugssystem etabliert, bei dem Menschen Papiere vorzeigen, die sie angeblich als geflüchtete ehemalige Bewohner desDonbass ausweisen. So bezögen sie widerrechtlich zusätzliche Sozialleistungen. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion bemüht sich, bei jeder Meldung die ursprüngliche Quelle eindeutig zu nennen. Aufgrund der großen Zahl von manipulierten und falschen Meldungen kann die Redaktion der Ukraine-Analysen keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Jan Matti Dollbaum Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf http://www.laender-analysen.de/ukraine/ unter dem Link "Chronik" lesen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2016-03-10T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/222714/chronik-8-21-februar-2016/ | Aktuelle Ereignisse aus der Ukraine: Die Chronik vom 08. bis zum 21. Februar 2016. | [
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Die Roma in Ungarn | Ungarn | bpb.de | Einleitung
Der populäre ungarische Schriftsteller Sándor Márai schrieb im Jahr 1938: "Zigeuner. Ist es wirklich so übel, am Rande der Landstraße zu leben, in armseligen Katen, (...) außerhalb jeder gesellschaftlichen Verpflichtung und verkrochen in der zwielichtigen, dumpfen Lehmhütte (...) - ein bisschen auch Geige fiedelnd, hühnerklauend, (...) in Rauch und Lehm und sich dabei an Indien erinnernd (...)? Ist es tatsächlich ein so übles Schicksal, abseits der Welt zu stehen, (...)?" Um die hier klischeehaft beschriebene Situation der Roma in Ungarn soll es im Folgenden gehen.
Auf Nationalitätenkarten des 19. und 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Ungarns und der Slowakei fehlen die Roma. Erst Ende der 1990er Jahre verwendete ein ungarischer Geograph gelbe Punktsignaturen, die auf diese Bevölkerungsgruppe verweisen. Im heutigen Ungarn bilden die Roma die größte ethnische Minderheit mit einer Bevölkerungszahl von rund 700 000 (sieben Prozent der Gesamtbevölkerung). Die Arbeitslosenquote liegt, abhängig von der Region, zwischen 50 und 90 Prozent, in einzelnen ausschließlich von Roma bewohnten Dörfern im Grenzgebiet zur Slowakei sogar bei 100 Prozent.
Stereotype
Ein verbreitetes Vorurteil auch in Westeuropa ist die Behauptung, Roma seien heimatlose Nomaden. Ihre Herkunftsregion Nordindien verließen sie im Zuge von Krieg und Verfolgung, unter anderem wegen muslimischer Angriffe, zwischen dem 4. und dem 14. Jahrhundert. Danach wurden sie auf dem europäischen Kontinent sesshaft, doch sie waren Spätankömmlinge: Die Grundstrukturen der späteren Territorialstaaten hatten sich bereits herausgebildet. Die ethnische Gruppe der Roma verfügte über kein historisches Territorium und über kein Mutterland. Damit gehören sie bis heute zu den Streu- oder Diaspora-Ethnien, die zwar starkes ethnisches Bewusstsein, aber kein Nationalbewusstsein entfalten.
Spätestens ab dem 16. Jahrhundert sahen "Zigeuner" Ungarn als ihre Heimat an, und ihre Einwanderung wurde mit Schutzbriefen der Fürsten akzeptiert. Zu jener Zeit geriet ihre Lebensweise, die in manchen Einstellungen und auch in kultureller Hinsicht auf den Hinduismus verweist, mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen noch nicht in Konflikt. Das verdeutlicht einer der ältesten Schutzbriefe von König Sigismund: "(Und) wir verordnen, dass ihr László Vajda und seine Roma Untertanen in jeder Weise beschützt, sie nicht behindert, ihr Leben nicht erschwert, sondern ganz im Gegenteil, ihr sollt sie vor jeder Unannehmlichkeit und jedem Ärger beschützen." Während der Kriege gegen den türkischen Eroberer deckten die Roma den Bedarf an Handwerkern: Sie besaßen in der Metallproduktion und -verarbeitung, in der Reparatur von Waffen sowie im Holzschnitzen eine für die Mehrheitsgesellschaft unerlässliche Funktion. Franz Liszt lobte die "freigebige Gastfreundschaft der Ungarn gegen die Zigeuner", die beispiellos gewesen sei. Die von ihm bewunderte Musikfertigkeit deutet er als Folge des integrativen Gnadenakts durch das ungarische Volk. "Zigeunerkapellen" aus Ungarn bereisten zu jener Zeit auf Konzerttouren ganz Europa.
Ein weiteres Klischee spricht von einer homogenen Bevölkerungsgruppe. Doch in Wirklichkeit unterscheiden sich ihre Mitglieder hinsichtlich der Sprache, der Traditionen sowie der Lebensweise beträchtlich voneinander. Allein in Ungarn können vier größere Gruppen unterschieden werden. Die alteingesessenen Roma (Romungrók) stellen rund 70 Prozent. Sie kamen im 15./16. Jahrhundert nach Ungarn und haben eine eigene Kultur des Musizierens entwickelt. Sie wandelten ihre Muttersprache, das Romanes, in eine europäische Sprache um, die viele ungarische Elemente in sich trägt und mit zwei Dialekten die am häufigsten gesprochene Roma-Sprache ist. Der Gebrauch der Muttersprache geht allerdings immer mehr zurück: 1893 gaben noch 30 Prozent der alteingesessenen Roma Romanes als ihre Muttersprache an, 1983 nur noch zehn Prozent. Heute dürfte die Zahl noch weit niedriger sein.
Die Oláhzigeuner kamen in der zweiten Hälfte des 19. und in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus dem Gebiet der Moldau nach Ungarn und bilden heute etwa 21 Prozent der Minderheit. Sie sprechen Romanes und den "Oláhdialekt". Die rumänisch sprechenden Roma, die sich Béas (Bergarbeiter) nennen, kamen Ende des 19. Jahrhundert aus Rumänien, um im Bergbau Beschäftigung zu finden. Ihre ursprüngliche Sprache haben sie fast verloren. Sie sprechen heute einen archaischen Dialekt des Rumänischen. Nur einen kleinen Teil macht die ethnische Untergruppe der Sinti aus, deren Vorfahren vermutlich vor sechshundert Jahren in deutschsprachiges Gebiet einwanderten. In Ungarn leben kaum Sinti, obwohl aus westeuropäischer Perspektive immer wieder von "Sinti und Roma" die Rede ist. Die meisten Roma sehen inzwischen Ungarisch als ihre Muttersprache an. So greift eine lediglich auf ihre Sprache(n) bezogene Integrationsdebatte um die Roma zu kurz. Vor der politischen Transformation
Nicht zuletzt auf Grund ihrer musikalischen Fertigkeiten galten die Roma in Ungarn als integriert - anders als in anderen Teilen Europas. Freilich wurden sie auf diese Rolle reduziert. Schon während der österreichisch-ungarischen Monarchie (1867 - 1918) sind die Roma diskriminiert und zwangsweise umgesiedelt worden. Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Abneigung gegenüber den Roma weiter - bis zum Massenmord unter dem Signum der nationalsozialistischen Rassenideologie. Ein von Heinrich Himmler Ende 1938 unterzeichneter Erlass zur "Regelung der Zigeunerfrage" mündete auch in den verbündeten und besetzten Ländern Europas in den Genozid. Zwischen Juli 1944 und März 1945 kam es zur Deportation von bis zu 30 000 ungarischen "Zigeunern", von denen nur etwa 4000 zurückkehrten. Bezeichnenderweise fehlt es bis heute an einer angemessenen historischen Aufarbeitung dieser Vernichtung, so dass die Zahlen ungenau bleiben. Seit dem Genozid hat das Wort "Zigeuner" einen diskriminierenden Zungenschlag und wird vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma abgelehnt. In Ungarn ist nach wie vor die Bezeichnung cigány üblich, auch als Selbstbezeichnung; "Roma" ist dagegen nicht beliebt und wird vor allem in akademischen Kreisen verwendet.
In der Nachkriegszeit wurde die Minderheitenpolitik vernachlässigt. Das neue kommunistische System sah über die Deportation der Roma hinweg. Nach der Automatisierungstheorie sollten sich in einer sozialistischen Gesellschaft nationale Fragen von selbst lösen. Die offizielle Politik gegenüber den Roma hatte eher instrumentellen Charakter und diente der innenpolitischen Integration mit dem Ziel der Systemerhaltung und -stabilisierung. Eine Integration der Minderheiten in die sozialistische Wirtschaft und Gesellschaft wurde zwar wegen des Bedarfs an Arbeitskräften im Zuge der landwirtschaftlichen Kollektivierung unterstützt, aber ihre sprachliche Assimilation wurde verhindert.
Die Roma hielten weitgehend an ihrer traditionellen Lebensweise fest, die mit der sozialistischen Arbeitsideologie unvereinbar war. Eine Verbesserung ihrer Lebenssituation brachte die "sozialistische Industrialisierung" der 1950er und 1960er Jahre: Als Folge der industriellen Entwicklung entstanden zahlreiche Arbeitsplätze, für die man kaum Qualifikationen, sondern vor allem physische Kraft benötigte. Anfang der 1980er waren 85 Prozent der arbeitsfähigen Roma und ca. 45 Prozent der Romni (weibliche Roma) in den Arbeitsprozess eingegliedert, blieben jedoch auf die unteren Einkommensgruppen beschränkt. Eine Untersuchung in den 1970er Jahren ergab, dass nur 11 Prozent der Romni Facharbeiterinnen waren, jedoch 10 Prozent angelernte, 56 Prozent unqualifizierte und 13 Prozent Landarbeiterinnen.
Von Mitte der 1960er Jahre an erhielten tausende Roma-Familien hygienischere Wohnungen, die aber mit dem Buchstaben "CS" (csökentett komfortfokozatú, geringeres Komfortniveau) versehen waren. Dies führte durch den kontinuierlichen Wegzug der Mehrheitsgesellschaft aus den Wohnblocks zur Marginalisierung und Wohnsegregation. Die offizielle Politik konnte trotz mancher Integrationserfolge wichtige Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der Roma-Bevölkerung nicht erfassen; dieser Umstand erklärt auch die schlechte Ausgangsposition der Roma beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Nach der politischen Transformation
Mit dem Systemwechsel schien sich die allgemeine Situation der Roma zunächst zu verbessern. Die von József Antall geführte Regierung schuf 1990 eine neue Institution mit landesweiter Befugnis: das Amt für nationale und ethnische Minderheiten, zu dessen Aufgabengebiet auch die Lage der Roma zählte. Die neuen Vereinigungs-, Rede- und Pressefreiheiten gaben auch den Roma die Möglichkeit, eigene Organisationen zu gründen. Seit 1993 sind die Roma als ethnische Minderheit in Ungarn gesetzlich anerkannt. Das führte zur Zunahme örtlicher Selbstverwaltungen (von 477 auf 1300), deren Überleben jedoch nach wie vor problematisch erscheint. Das Gesetz sicherte nicht ihre finanziellen Grundlagen: Da die Roma über kein "Mutterland" verfügen, entgeht ihnen sowohl moralische als auch finanzielle Unterstützung von außen. József Oláh, Präsident des Landesverbandes der ungarischen Roma-Akademiker, sieht die "Arbeitsunfähigkeit" der Selbstverwaltungen in der Tatsache begründet, dass sie bis heute sowohl in den staatlichen Strukturen wie auch in der Zivilgesellschaft kaum verankert sind.
Die "Homogenisierung" der Minderheit bringt zahlreiche Probleme, gerade auf kommunaler Ebene. In den Roma-Selbstverwaltungen müssen die Vertreter der vier größten Gruppen zusammenarbeiten. Eine gemeinsame Interessenvertretung nach außen ist erschwert. Nach wie vor wird der Zusammenhalt der Roma-Gemeinschaft vor allem durch Verwandtschaftsbeziehungen gestiftet. Wichtigste Organisationsform ist bis heute die Großfamilie (satra, Zelt). Das erschwert die Schaffung größerer Einheiten, da die Familien mitunter rivalisieren.
Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Großindustrie erfolgte eine rasche Reduzierung der Zahl der Industriebeschäftigten, die besonders stark die unteren Gesellschaftsschichten traf, also jene, die kaum oder nur geringe schulische Bildung und Qualifikation aufweisen konnten. Die wirtschaftliche Umstrukturierung hatte wachsende Arbeitslosigkeit zur Folge. Am Tiefpunkt der Rezession der 1990er Jahre waren nur 29 Prozent der männlichen Roma zwischen 15 und 59 Jahren beschäftigt, während der Beschäftigungsanteil der Männer in der Gesamtbevölkerung 64 Prozent betrug. Vor der Transformation hatten 85 Prozent der männlichen Roma Arbeit. Die Schere klaffte bei Frauen noch weiter auseinander: Nur 15 Prozent der Romni im Gegensatz zu 66 Prozent der Nicht-Roma waren berufstätig.
Durch ausländische Kapitalinvestitionen, die sich indes hauptsächlich in Budapest und in den westungarischen Städten konzentrierten, stieg der Bedarf nach Büroräumen. Die Umwandlung der inneren Stadtteile und die Privatisierung früherer Sozialwohnungen mobilisierte die Bevölkerung. Wohlhabendere bevorzugten nun größere und komfortablere Wohnungen in den Außenbezirken. Die bauliche Erhaltung der Innenstadtviertel wurde auch nach der Transformation stark vernachlässigt. Die dadurch entstandenen Slums wurden von den niedrigeren sozialen Schichten bewohnt, hauptsächlich von Roma, die wegen ihres Alters, ihrer Ausbildung oder der Situation auf dem Arbeitsmarkt keine Möglichkeit zum gesellschaftlichen Aufstieg hatten. Der größte Teil der Familien lebt bis heute unterhalb des durchschnittlichen Lebensstandards. Die Kaufkraftparität der Roma pro Kopf liegt weit unter dem Landesdurchschnitt, denn Roma verfügen selten über Kapital, und ihre Lebensumstände sind oft ärmlich. Nach wie vor wohnen sie mehrheitlich "unter sich", in kleinen Gemeinden, typisch für sozial Exkludierte. Viele werden vom aktuellen Geschehen nicht erreicht, und ein Prozess der Meinungsbildung bleibt aus. Mitunter fehlen sogar gültige Personaldokumente. Aus Angst und Misstrauen gegenüber dem Institutionensystem versuchen viele Roma ihre Abstammung zu verbergen und bekennen sich nicht zu ihrer Minderheit.
Aufgrund ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation sieht sich die Mehrheit der Roma Perspektiv- und Chancenlosigkeit für den gesellschaftlichen Aufstieg gegenüber. Nostalgisch gegenüber dem alten System, in dem sie über einen (geringen) gesellschaftlichen Status verfügt haben, entwickeln sie häufig Apathie gegenüber dem aktuellen politischen System. Bei der Parlamentswahl 2002 standen erstmals Vertreter der Roma-Partei Lungo Drom auf den Listen. Bei Kommunalwahlen standen häufig Roma - mit der Folge, dass sie zu Gemeindevertretern, in Einzelfällen auch zu Bürgermeistern gewählt werden. Aufgrund des allgemein niedrigen Bildungsstandes der Minderheit können die Roma-Parlamentarier aber bis hin zum Europäischen Parlament ihren Aufgaben, die Interessen der Roma zu vertreten, häufig nur schwer nachkommen. Sie dienen nicht selten als Alibi, um den Parteien Stimmen aus dem Lager der Roma zu sichern. Für die Europawahl 2009 trat die MCF Roma Ö an, was von Roma-Vertretern aus anderen Parteien wegen der Aussichtslosigkeit und der generellen Uneinigkeit scharf kritisiert wurde. Ohne Wahlprogramm bekundete sie, für alle zwölf Millionen Roma in Europa eintreten zu wollen. Als Spitzenkandidat fungierte der 21-jährige Zsolt Kis. Als erste Roma-Partei überhaupt war sie 2006 zur Parlamentswahl angetreten und kam auf 0,08 Prozent der Stimmen; bei der Europawahl erhielt sie 0,46 Prozent.
Die Mehrheit der Roma ist nach wie vor kaum in die Arbeitswelt integriert: So fehlt der Kontakt mit der Mehrheitsbevölkerung. Ein großes Problem für die Etablierung einer politischen Kultur der Roma und für ihr Demokratieverständnis stellt ihr niedriger Bildungsstand dar: Roma-Kinder haben durch die segregierte Schulbildung nicht die gleichen Ausgangsbedingungen. Nur schrittweise gibt es hier Verbesserungen: So wurde, gesamteuropäisch bis heute einzigartig, in Pécs das erste Roma-Gymnasium, das Gandhi-Gymnasium, errichtet - 1994 in Eigeninitiative des 2006 verstorbenen Soziologen János Bogdán. Trotz dieser Bemühungen genießt die Schule in traditionellen Roma-Familien eine eher geringe Wertschätzung. Nach wie vor liegt der Anteil an den Abiturienten bei unter einem Prozent. Weniger als die Hälfte der Roma-Kinder schließt überhaupt die Grundschule ab, und Sonderschulen dienen als Auffangbecken. Nährboden für Rechtsextremismus
Demokratieschutz bedeutet Minderheitenschutz, doch die Roma sind Parias der ungarischen Gesellschaft und willkommenes Feindbild für Rechtsextremisten. Weil Ungarn durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung und das chronische Haushaltsdefizit innerhalb eines Jahrzehnts vom wirtschaftspolitischen Musterknaben zum Sorgenkind in der Europäischen Union wurde und an den Rand des Staatsbankrotts geriet, dienen die Roma häufig als Sündenböcke. Verschwörungstheorien und Fremdenfeindlichkeit finden sich auch in der Mitte der Gesellschaft, selbst bei Akademikern. Durch die derzeitige Pathologie der Gesellschaft, die als Identitätsfindung durch Abgrenzung von nicht zur Eigengruppe gehörenden Menschen zu deuten ist, haben Feindbilder Konjunktur. Einen festen Platz in der gesellschaftlichen Mitte scheint paradoxerweise der Hass auf die eigene Nation zu bekommen: Wenngleich die Jugendlichen beispielsweise in der Silvesternacht traditionell die Nationalhymne singen, vertreten selbst Akademiker häufig die Meinung, "In Ungarn ist alles schlecht".
Der Rechtsextremismus entfaltet nach der als abgeschlossenen betrachteten Phase der Transformation neue Attraktivität, sowohl subkulturell wie parteiförmig: Die paramilitärische "Ungarische Garde" (Magyar Gárda) marschiert nach ihrer Gründung im Sommer 2007 durch Stadtviertel und Dörfer mit hohem Roma-Anteil und hetzt gegen die Minderheit. Ihr verlängerter Arm ist die Partei Jobbik; sie erhielt bei der Europawahl aus dem Stand fast 15 Prozent der Stimmen.
Der Anführer der Bewegung, Gábor Vona, ein aus einer traditionellen Bauernfamilie stammender Akademiker, äußerte in der "Deutsche Stimme", dem Parteiorgan der rechtsextremistischen NPD, dass es der Zweck der Garde sei, Ungarn "physisch, seelisch und auch geistig/geistlich" zu schützen. Das zentrale Problem des ungarischen Volkes ergebe sich "mit den hiesigen Zigeunern - in Bezug auf deren äußerst unverhältnismäßig große Kriminalitätsrate und die bei ihnen ausgeprägte Arbeitsunwilligkeit."
Die Lage der Roma spielte im Rahmen des EU-Beitritts lediglich eine Nebenrolle, obwohl sie als neue EU-Bürger mit allen Rechten und Pflichten die wirtschaftlich ärmste Minderheit in Europa sind. Im Zuge des Beitritts der Visegrád-Staaten gab die Europäische Kommission einen Bericht über die Situation der Roma in der erweiterten EU heraus. Darin wird offen von Versagen bei der Verringerung der Diskriminierung gesprochen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Für Ungarn wurde die schulische Segregation kritisiert: Ungefähr in 700 Schulen würden Roma-Kinder getrennt unterrichtet.
Aufgrund des mangelhaften Befundes ließ die EU im Jahr 2008 ausführlich die Situation der Roma und Sinti in Bulgarien, Tschechien, Griechenland, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei untersuchen. In jedem Land äußerten sich 500 Roma. Die "große Heterogenität" der Bevölkerungsgruppe wird in den methodischen Ausführungen zwar problematisiert, konnte aber in der Umfrage selbst nicht berücksichtigt werden. Alle befragten Roma in Ungarn gaben an, Ungarisch sei ihre Muttersprache (zum Vergleich: in Bulgarien gaben nur 25 Prozent an, Bulgarisch sei Muttersprache); 90 Prozent teilten die Auffassung, dass ihre Diskriminierung weit verbreitet und im Vergleich zu den anderen Ländern am stärksten ausgeprägt sei. 62 Prozent fühlten sich in den vergangenen zwölf Monaten persönlich als Opfer von Diskriminierung - nach Tschechien (64 %) der höchste Wert.
Doch Monitoring und Konferenzen wirken eher als zahnlose Tiger denn als effiziente Steuerungsinstrumente für die Implementierung von Minderheitenschutz. So mutet die Forderung, zur Förderung und Durchführung von Projekten müssten die Roma entsprechende Organisationsstrukturen bilden, inhaltsleer an, da sie die Heterogenität der Bevölkerungsgruppe nicht in Rechnung stellt. Auch die Situation der Roma in den alten EU-Mitgliedstaaten vermag nicht als Vorbild dienen. Es fehlt an einheitlichen Standards: In Ungarn gelten die Roma als ethnische, in Rumänien beispielsweise als nationale Minderheit. Perspektiven
Seit den 1990er Jahren ist die Diskriminierung der ungarischen Roma aufgrund schlechter oder versäumter sozialpolitischer Maßnahmen auf allen Ebenen spürbar: sozial, kulturell, institutionell und politisch. Die Transformationsforschung übersieht diese Problematik, da sie für Ungarn in der Regel äußerst positive Zahlen übermittelt und eine staatliche Konsolidierung diagnostiziert hat. Doch Stereotype gegenüber Roma sind in Ungarn omnipräsent. Die Roma, nach wie vor "Fremde in Europa", sind tatsächlich "anders" und scheinen sich häufig mit ihren Gewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft zu verschließen. Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft ergeben sich aus dem niedrigen Bildungsstand, aus hohen Kriminalitäts- wie Geburtenraten, aus Alkoholproblemen, aus häufig katastrophalen gesundheitlichen und hygienischen Zustände, aus partieller Arbeitsunwilligkeit und durch ein Leben am gesellschaftlichen Rand als Folge der sozialen Exklusion. Einzelne Beispiele und negative persönliche Erfahrungen führen zu Generalisierungen und letztlich zur Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe.
Die Zuspitzung negativer Eigenschaften führt zu irrationalem Verhalten seitens der Mehrheitsbevölkerung. "Zigeunerbilder in den Köpfen" sind besonders langlebig und hartnäckig: "Ein häufig anzutreffendes Muster ist die Verwendung idealtypischer Gegensatzpaare: auf der einen Seite die zivilisierte Mehrheitsbevölkerung, die durch die Werte Arbeit, Ehrlichkeit, Ordnung, Ruhe und Friedfertigkeit charakterisiert wird, auf der anderen Seite die Roma als unzivilisierte Minderheit, die aufgrund ihres asozialen Verhaltens diese Werte nicht akzeptiert und in Frage stellt." Bei einer aktuellen Befragung von 2500 Personen der Mehrheitsbevölkerung zeigten sich 80 Prozent davon überzeugt, dass Roma genauso leben müssten wie sie selbst. Ebenso gaben 84 Prozent der Befragten an, die Sorgen der Roma könnten gelöst werden, wenn sie "endlich zu arbeiten anfangen" würden. Dafür fehle ihnen aber der Wille.
Erst wenn Vorurteile auf dem Weg des Miteinanders ausgeräumt werden, wenn alle Bevölkerungsgruppen an breiter Bildung partizipieren können, könnte der Teufelskreis durchbrochen werden. Sonst dürfte sich an der schlimmen gesellschaftlichen Situation der Roma in Ungarn und im restlichen Europa auch im 21. Jahrhundert nichts ändern.
Im Gegenteil: Die Situation könnte eskalieren. In den vergangenen Monaten stieg die Gewalt gegen Roma weiter an. Im Februar 2009 wurden bei einem Brandanschlag in Tatárszentgyörgy, rund 50 Kilometer südwestlich von Budapest, ein Vater und sein fünfjähriger Sohn getötet. Viele der 54 erfassten Angriffe auf Roma in den vergangenen eineinhalb Jahren sind unaufgeklärt. Mittlerweile hilft die US-Bundespolizei FBI nach der drastischen Häufung von Gewalt den ungarischen Behörden bei den Ermittlungen. Manche Soziologen beschwören bereits bürgerkriegsähnliche Zustände herauf. Die demographische Entwicklung, die voranschreitende Erhöhung der Population der Roma, könnte dazu beitragen, aus der düsteren Prophezeiung Wirklichkeit werden lassen.
Sándor Márai, Die vier Jahreszeiten, München-Zürich 2009, S. 161f. (Original: A négy evszak, k?ltmények prózában, Budapest 1938).
"Rom" bedeutet übersetzt "Mann" oder "Mensch".
Durch den am 4. Juni 1920 unterzeichneten Vertrag von Trianon verlor Ungarn als Folge des Ersten Weltkriegs zwei Drittel seines Territoriums, darunter Teile der heutigen Slowakei.
Vgl. László Sebök, Map of Central and South Eastern Europe, Budapest 1998.
Das Außenministerium spricht von bis zu 600000; vgl. Fakten über Ungarn, Kapitel Zigeuner/Roma in Ungarn, Budapest 2004.
Vgl. Flórián Farkas, óiási mértékben emelkedhet az analfabétizmus, www.romnet.hu/hirek/hir0608121 (30.3. 2009), Budapest 12.8. 2006. Farkas ist Rom und Parlamentsabgeordneter der konservativen Fideszpartei.
Vgl. Egbert Jahn, Ethnische, religiöse und nationale Minderheiten. Begriffe und Statusoptionen, in: Osteuropa, 57 (2007) 11, S. 7 - 25, hier S. 17.
Elemér Várnagy (Hrsg.), Grundkenntnisse der Romologie. Bibliothek der 7 freien Künste, Budapest 1999, S. 120.
Franz Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn. Dt. von Peter Cornelius, Pest 1861, S. 258f.
Vgl. István Kemény, Linguistic Groups and Usage Among the Hungarian Gypsies/Roma, in: Ernö Kállai (Hrsg.), The Gypsies/The Roma in Hungarian Society, Budapest 2002, S. 28 - 34.
Vgl. István Kemény/Béla Janky, A cigány nemzetiségi adatokról [Über die Daten der Zigeuner], in: Kisebbségkutatás [Minderheitenforschung], (2003) 2, o.S.
Vgl. ebd.
Die Bezeichnung stammt aus der nordwestindischen Region Sindh, die Heimat der Vorfahren.
Vgl. Károly Kocsis/Zsolt Bottlik, Die Romafrage in der Karpato-Pannonischen Region, in: Europa Regional, 12 (2004) 3, S. 132 - 140, hier S. 134.
In Deutschland kam es 1982 zur Aussöhnungs- und Wiedergutmachungspolitik, als Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl die Verfolgung und Vernichtung der "Zigeuner" während des Nationalsozialismus offiziell als Völkermord bezeichneten.
Das Wort Zigeuner ist eine Fremdbezeichnung, die im Deutschen wahrscheinlich aus dem Ungarischen (cigány) entlehnt ist und in ähnlicher Form in vielen europäischen Sprachen vorkommt. Das Wort stammt wohl aus dem Persischen (ciganch, Musiker, Tänzer) oder dem Byzantinischen (atciganoi).
Vgl. das Interview mit dem Präsidenten der Stiftung für Roma-Bürgerrechte, Aladár Horváth: Magyar nemzet, roma nemzet [Ungarische Nation, Roma-Nation], in: Népszabadság vom 12.7. 2004.
Vgl. Michael Stewart, Die Roma und der ungarische Kommunismus 1945 - 1989, in: Yaron Matras/Hans Winterberg/Michael Zimmermann (Hrsg.), Sinti, Roma, Gypsies. Sprache, Geschichte, Gegenwart, Berlin 2003, S. 189 - 230, hier S. 195.
Vgl. Brigitte Mihók, Vergleichende Studien zu Situation der Minderheiten in Ungarn und in Rumänien (1989 - 1996) unter besonderer Berücksichtigung der Roma, Frankfurt/M. 1999, S. 115 - 130.
Vgl. ebd.
Vgl. M. Stewart (Anm. 18), S. 189 - 230.
Vgl. ebd.
Vgl. das Interview mit József Oláh, www.amarodrom.hu/archivum/2007/12 (20.5. 2009).
So die Beobachtung der Autorin beim Besuch des Treffens von Vertretern der Roma-Selbstverwaltungen des Komitats Tolna in Fadd im Mai 2007.
Vgl. István Kemény (Hrsg.), Romák, cigányok és a láthatatlan gazdaság [Roma, Zigeuner und die unsichtbare Wirtschaft], Budapest 2000.
Vgl. Martin Kronauer, Exklusion, Frankfurt/M. 2002, S. 215 - 225.
Kinder, die im ersten Schuljahr den Leistungsanforderungen nicht nachkommen, werden oft in Sonderschulen, nach speziellen Lehrplänen unterrichtet.
Seine Frau leitet bis heute das Gymnasium, das zur Zeit 300 Schüler mit angeschlossenem Internat erzieht.
Im Internet kursiert das Lied "Majmok" (Affen). Es diffamiert die Roma im Land als Sozialschmarotzer: "Ich verdiene die Stütze, von der ihr lebt", heißt es darin.
So Melani Barlai/Florian Hartleb, Ungarn - vom Musterknaben zum Sorgenkind der Europäischen Union, in: Politische Studien, 58 (2007) 411, S. 95 - 104.
Vgl. Melani Barlai/Florian Hartleb, Ungarischer Populismus und Rechtsextremismus. Ein Plädoyer für die Einzelfallforschung, in: Südosteuropa Mitteilungen, 48 (2008) 4, S. 34 - 51.
Der Name hat zwei Bedeutungen: Steigerungsform von "gut" bzw. "rechts".
"Ungarn schützen, das ist unser Ziel", Interview mit Gábor Vona, dem Chef der ungarischen Garde: in: Deutsche Stimme, 32 (2008) 5, S. 9.
Vgl. Europäische Kommission/Generaldirektion Beschäftigung und Soziales, Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union, Brüssel 2004.
Vgl. European Union Agency for Fundamental Rights, Data in Focus Report. Part 1, The Roma, Budapest 2009.
Vgl. mit Blick auf Rumänien: Joachim Krauß, Integration mit Widerständen. Die Roma in Rumänien, in: Osteuropa, 57 (2007) 11, S. 241 - 251, hier S. 249 - 251.
Vgl. die Fallstudie im Rahmen des Scottish Universities Roma Network von Lynne Poole/Kevin Adamson, Report on the Situation of the Roma Community in Govanhill/Glasgow, University of the West of Scotland, Glasgow 2008.
In Westeuropa werden in einer kulturalistischen Einordnung Roma und Sinti meist als kulturelle Minderheit angesehen. Auch dies bietet freilich keine Gewähr vor Diskriminierung.
So die eigenen Erfahrungen der "Unzugänglichkeit" seitens der Autorin im Rahmen einer Feldforschung zur Lebenssituation der Roma in Pécs (Bachelorarbeit; TU Chemnitz 2005). Ein besonderer Dank gilt János Gyurok von der Universität der Wissenschaften Pécs.
Vgl. Michael Stewart, Deprivation, the Roma and the "underclass", in: Christopher M. Hahn (Hrsg.), Postsocialism: Ideas, Ideologies and Practice in Europe, New York 2002, S. 133 - 156. Vgl. auch Pierre-André Taguieff, Die Macht des Vorurteils, Der Rassismus und sein Double, Hamburg 2000, S. 248.
Joachim Krauß, Bestätigt die Ausnahme die Regel? Stereotypen vom "Zigeuner" und soziale Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde, 23 (2000) 2, S. 228 - 236, hier S. 230.
Vgl. Umfrage des Progressive Instituts, zit. nach www.balaton-zeitung.info vom 3.5. 2009 (18.5. 2009).
Vgl. Ungarn erhält FBI-Hilfe bei Ermittlungen, in: Der Standard, www.derStandard.at vom 4.5. 2009 (5.5. 2009).
So der ungarische Soziologe Tamás Pál im Interview mit der Autorin am 21.5. 2007 in Budapest.
Einige Wissenschaftler prognostizieren bis zum Jahre 2050 einen Bevölkerungsanteil von 10 %, was sich in Folge der starken Geburtenrate als durchaus realistisch erweisen kann.
| Article | , Melani Barlai / Hartleb, Florian | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31854/die-roma-in-ungarn/ | Obwohl die Roma in Ungarn Bestandteil der nationalen Kultur sind, erfahren sie alle Formen von Exklusion. Sollte sich ihre Situation weiter verschlechtern, könnten bürgerkriegsähnliche Zustände drohen. | [
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Musikalisches Leben in China | China | bpb.de | "Musik" und "Freude" – die chinesische Sprache verwendet für diese beiden Begriffe dasselbe Schriftzeichen. Musik in China (wie auch unsere "westliche" Musik) ist also nicht nur ein klangliches Phänomen, sondern eng an ihren historischen, sozialen und politischen Kontext gebunden. Was aber ist unter "chinesischer Musik" zu verstehen? Musik von chinesischen Komponisten, auch wenn diese vielleicht gar nicht in China leben und eine Ausbildung in westeuropäischer Musik haben? Oder Musik, die in China geschrieben wurde? Was ist dann aber mit der Musik der muslimischen Minderheit oder mit der Musik von Immigranten? Musik, die in China gespielt und gehört wird – also auch die Sinfonien von Beethoven und die Songs von Madonna? Musik auf chinesischen Instrumenten, auch wenn es ein Wiener Walzer auf der chinesischen Kniegeige ist? Oder Musik in chinesischer Tonsprache? Kann man überhaupt von der einen chinesischen Tonsprache reden?
Da Musik in China mehr ist als nur die Summe verschiedener Tonsprachen, ist der folgende Beitrag dem musikalischen Leben in China gewidmet. Hierbei sollten wir zwei Grundannahmen im Hinterkopf behalten: 1) Musik ist meistens politisch und damit nur aus ihrer spezifischen sozialen Funktion heraus zu verstehen – sowohl in China als auch andernorts. 2) Musik ist stets flüchtig, im Wandel und im Austausch mit (vermeintlich) fremden musikalischen Traditionen. Im Falle der Musik aus China bedeutet dies einen Austausch sowohl zwischen höfischen und "hohen" mit volkstümlichen und als niedrig wahrgenommen musikalischen Formen, aber auch zwischen als chinesisch und als nicht-chinesisch empfundenen musikalischen Traditionen.
Musik im traditionellen China
Es ist überliefert, dass Musik seit ihrem Ursprung in China eine wichtige Rolle gespielt hat, über den Klang der frühen Musik allerdings ist nur wenig bekannt. Schon damals wurde ein enger Zusammenhang zwischen Kunst und Politik gesehen: Es herrschte die Überzeugung, dass die "richtige" (also gute) Kunst ein effizientes Herrschaftsinstrument sein kann. So beschreibt der konfuzianische Philosoph Xunzi (ca. 298 bis 238 v.Chr.) Musik als das "sinnvollste Regierungsinstrument", mit dem die legendären Könige Harmonie in der Gesellschaft schufen: "Die Musik bewegt die Menschen tief in ihrem Inneren und verändert sie rasch. Umsichtig gaben ihr die legendären Könige eine eigene, angemessene Form. Solange die Musik das Extrem meidet, lebt das Volk zufrieden und ohne vom rechten Wege abzukommen. Solange die Musik gesetzt ist, ist das Volk ausgeglichen und nicht aufständisch. Solange das Volk friedlich und ausgeglichen ist, sind die Truppen stark, die Stadtmauern stehen fest, und die Feinde [werden] es nicht wagen anzugreifen." Musik ist hier Teil ritueller Handlungen, die beide der Erziehung und Regierung des Volkes dienen. Gleichzeitig ist die Musik damit eng an kosmische Vorstellungen geknüpft. Diese konfuzianische Auffassung von Musik sollte die nächsten Jahrhunderte prägen.
Klanglich herrschte im vormodernen China große Vielfalt – zugleich gab es große Unterschiede zu den europäischen Musiktraditionen: Tonalität, die verwendeten Instrumente und die musikalischen Formen sind ausschlaggebend hierfür.
Tonalität: Die zwölf Halbtöne der Oktave waren in China schon vor der Zeitenwende bekannt, die chinesische Musik ist dennoch größtenteils pentatonisch aufgebaut. Ein unterschiedliches Klangbild gegenüber der europäischen Musik entsteht durch die unterschiedlichen Funktionen einzelner Intervalle: Während in Europa – vereinfacht gesagt – große oder kleine Terzen das Klangbild prägen, sind es in China die Quarten und Quinten. Hieraus ergeben sich die fünf Modi "gong", "shang", "jiao", "zhi" und "yu". Zum Teil sind diese pentatonischen Skalen um die in unseren Ohren "fehlenden" Töne zu einer siebenstufigen Tonskala erweitert, sodass sie auf den ersten Blick den kirchlichen Tonarten ähneln. Eine Gleichsetzung dieser Tonsysteme wäre aber irreführend, da die Funktionen der Intervalle sich unterscheiden – und damit auch die Melodiegestaltung.
Instrumente: Chinesische Musik wird auf einer Vielzahl von Schlag-, Blas-, und Saiteninstrumenten gespielt, von denen hier nur ein Ausschnitt der Saiteninstrumente wiedergegeben werden kann. Diese Instrumente verdeutlichen, wie stark auch das vormoderne musikalische Leben vom Austausch mit Nachbarvölkern lebte. So kam die bis heute beliebte viersaitige Laute Pipa (ein Solo- und Ensemble-Instrument) aus Mittelasien oder Indien nach China. Die zweisaitige Kniegeige Erhu (das bekannteste Instrument aus der Familie der Streichinstrumente) hat wohl persische Ursprünge und ist vor 1.000 Jahren nach China gelangt. Nahe Verwandte sind die Gaohu und die in der Peking-Oper verwendete Jinghu. Sowohl Pipa als auch die Erhu (wie auch zahlreiche andere Instrumente) wurden über die Jahrhunderte stets weiterentwickelt – die letzten großen Reformen fanden im frühen 20. Jahrhundert statt, als Reformer wie Liu Tianhua (1895 bis 1932) sich darum bemühten, die Stimmung der Instrumente so zu verändern, dass sie kompatibel mit westlichen Instrumenten wurden und seither in Begleitung eines Sinfonieorchesters gespielt werden können. Auch reformierte Liu die Spieltechniken der Erhu in Anlehnung an diejenigen der Violine. Das wohl "chinesische" Instrument schlechthin ist die Guqin ("altes Instrument") oder auch nur Qin. Diese siebensaitige Wölbbrettzither gibt es bereits seit mehr als 2.000 Jahren. Sie erfreute sich zunächst an den Höfen großer Beliebtheit, und ein Repertoire an Kunstmusik entstand. Im Laufe der Zeit entwickelte sie sich mit ihrer ausgefeilten Technik und ihrer symbolhaften Klangsprache zu dem Instrument der chinesischen Gelehrten – daher werden diese auf chinesischen Gemälden oft mit dem Instrument abgebildet. Heute gibt es nur noch eine kleine Zahl von Musikern, die das Instrument spielen und die vor allem in der Lage sind, die komplizierte Notenschrift des Qin-Repertoires zu "lesen". Eine Verwandte der Qin ist die Zheng (oder Guzheng), die früher 13 bis 16, heute in der Regel 21 bis 25 Saiten umfasst. Dieses Instrument ist aufgrund seines vergleichsweise großen Klangvolumens sowohl in der Ensemblemusik als auch als Soloinstrument beliebt. Die Guzheng gelangte im achten Jahrhundert als Instrument der Hofmusik nach Japan und ist dort unter dem Namen Koto bekannt. Wie sich an diesen exemplarischen Instrumenten zeigen lässt, fanden Austauschbewegungen also nach China und auch aus China hinaus statt.
Musikformen: Die musikalischen Formen lassen sich nach Besetzung, aber auch nach Anlässen unterscheiden. So umfasst die traditionelle chinesische Musik Stücke für Solo und Ensemble. Neben Volksliedern gab es rituelle und religiöse Musik (neben der "staatstragenden" konfuzianischen auch Musik aus daoistischen oder buddhistischen Klöstern, die z.B. bei Beerdigungen und Hochzeiten gespielt wurde und wird), Straßenmusik in der Regel von blinden Erhu-Spielern, aber auch gänzlich funktionale Musik wie die Erkennungslieder von Scherenschleifern und anderen fahrenden Händlern, die so über die Mauern der Anwesen hinweg auf ihre Dienste aufmerksam machen konnten.
Darüber hinaus existierte (und existiert) eine Vielzahl regional unterschiedlicher Formen des Musiktheaters – bei uns oftmals unter den Begriffen "chinesische Oper" oder "Peking-Oper" bekannt. Das chinesische Theater ist schon früh von Musik geprägt gewesen. Hier haben sich Musik, Literatur, Tanz, Darstellung sowie in einigen Formen auch Akrobatik gleichermaßen entwickelt und zu einem Bühnengeschehen vereinigt. Die Peking-Oper (Jingju) entstand im Laufe des 18. Jahrhunderts und erlebte ihre Blüte im 19. Jahrhundert, als verschiedene Operntruppen aus Anhui und Hubei am Kaiserhof in Peking auftraten und in gemeinsamen Aufführungen aus ihren unterschiedlichen Operntraditionen eine gemeinsame Form entwickelten. Die Peking-Oper ist gekennzeichnet durch vier Charakter-Typen, die an ihren aufwändigen Kostümen und z.T. ihren geschminkten Gesichtern erkennbar sind: die männlichen Sheng-Rollen, die weiblichen Dan, die geschminkten männlichen Jing sowie die Chou-Clown-Rollen. Aufführungen der Peking-Oper (wie auch anderer Lokal-Opern) können sich über mehrere Tage hinziehen. Da Frauen im 18. und 19. Jahrhundert das Auftreten verboten war, wurden weibliche Rollen traditionell von Männern gespielt – große Berühmtheit erlangte Mei Lanfang, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen eigenen Stil prägte und auf einer Amerika-Reise mit seiner Darstellung sogar den US-Schauspieler Charlie Chaplin beeindruckte. Musikalischer Wandel im 20. Jahrhundert
Schon vor Beginn des 20. Jahrhunderts war europäische Musik nach China gelangt. So hatten bereits die jesuitischen Missionare im 17. Jahrhundert die Musik ihrer Zeit im Gepäck. Im 19. Jahrhundert kamen Militärmusik und die Musik der Missionare, vor allem Hymnen nach China, die weitreichenden Einfluss ausübten. Angesichts der Wahrnehmung der Schwäche der chinesischen Nation fanden Modernisierungsbestrebungen auf technischen Gebieten ebenso statt wie auf kulturellen: Dahinter stand die Auffassung, dass China zu einer Stärkung seines Platzes im Nationengefüge nicht nur eine schlagkräftige Armee benötigte, sondern auch Lieder und Hymnen, um die Soldaten und die Bevölkerung zu motivieren. Aufgrund ihrer machtpolitischen Überlegenheit dienten hier die europäischen (und amerikanischen) Lieder als Vorbild. Modernisierung bedeutete also eine Orientierung an "westlichen" Vorbildern – wenngleich dahinter eigentlich eine traditionelle Auffassung von der Rolle der Musik stand: dass Musik dabei helfen kann, das Volk zu formen.
Im Zuge dieser musikalischen Modernisierung entstanden in China im frühen 20. Jahrhundert Institutionen modelliert nach westlichen Vorbildern: Konzerthallen, Orchester, Institute zur Musikerziehung an den neu gegründeten Hochschulen (sowie das Schanghaier Konservatorium, das 1927 von Cai Yuanpei ins Leben gerufen wurde), Musikgesellschaften und -zeitschriften. Hier stand das Repertoire der europäischen klassischen Musik (einschließlich der Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts) auf dem Programm. Die Akteure dieses Wandels hatten zum Teil selber im Ausland Musik studiert. Darüber hinaus fanden sich eine Reihe von Missionaren sowie Exil-Musikern (vor allem aus Russland, später dann auch Juden aus den von den Nazis beherrschten Regionen in Europa), die insbesondere in Schanghai, aber auch in Peking wirkten. Das traditionelle chinesische Repertoire stand zunächst im Hintergrund, wurde es doch als niedere Straßen- oder als feudale Musik wahrgenommen, das mit an Chinas prekärer Lage schuld war. Musiker, Musikerzieher und Gebildete wie der bereits erwähnte Liu Tianhua versuchten sich an einer moderaten Reform der chinesischen Musiktradition, indem die Instrumente der westlichen Tonskala angepasst wurden und indem sie begannen, ein zeitgemäßes Repertoire zu komponieren, während das Repertoire zuvor aus Improvisation entstanden war. Die chinesische Musiktradition wurde so im Rahmen des europäischen Vokabulars und europäischer Institutionen neu positioniert – mit dem erklärten Ziel, die eigene Tradition nicht aufzugeben. Während diese Reformkräfte damals eine Minderheitenposition einnahmen, ist ihr Einfluss nicht zu unterschätzen, denn ihre Bemühungen prägen bis heute den Umgang mit der traditionellen Musik Chinas.
Daneben gelangte aber auch amerikanische Jazz-Musik nach China, und es entstand der chinesische Schlager. Außerdem drängten sich westliche Schallplattenfirmen auf den chinesischen Markt – Musik war nicht nur klingendes Phänomen, sondern auch Handelsware. Gar nicht so anders als im China des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist dieser Industrie ein gewaltiger Transfer von Musik (Jazz, Hollywood-Musik, klassische europäische Musik) zu verdanken sowie der Erfolg und Starkult um Künstler wie den bereits erwähnten Mei Lanfang. Denn gerade Platten mit chinesischer Oper erwiesen sich bei den chinesischen Kunden als besonders beliebt.
Mit dem Krieg gegen Japan wurde das musikalische Leben stärker politisiert: Komponisten wie Xian Xinghai (1905 bis 1945) und Nie Er (1912 bis 1935) schufen mit Stücken wie der "Gelben Fluss-Kantate" einen Musikstil, der ab 1942 von Mao als orthodox festgeschrieben wurde: Eine moderne nationale chinesische Musik sollte aus der Kombination des Besten von chinesischer und westlicher Musik entstehen. Auch hier wird der Anspruch erhoben, Musik habe sich explizit politischen Zielen unterzuordnen. Mit Gründung der Volksrepublik China 1949 erhielt dieser Stil von "pentatonischer Romantik", d.h. der Verbindung von chinesischen pentatonischen Melodien und spätromantischer Harmonik, quasi Gesetzeskraft. Geradezu mustergültig sind hier die Modellstücke (yangbanxi), die während der Kulturrevolution die einzig zugelassenen Bühnenstücke waren, aber auch Propagandalieder wie das Lied "Der Osten ist rot" (Dongfang hong), das während dieser Zeit den Status einer inoffiziellen Nationalhymne besaß.
Musikalisches Leben im gegenwärtigen China
Mit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik kam verstärkt nach dem Ende der Kulturrevolution anglo-amerikanische Rock- und Pop-Musik nach China. Aber auch andere Formen westlicher Musik, insbesondere das Repertoire der europäischen Klassik und Moderne fand großes Interesse: in den Musikhochschulen und auf Konzertbühnen. Eine wichtige Rolle bei dieser Ausbreitung "westlicher" Musik spielte der Schwarzmarkt, auf dem entsprechende Einspielungen zunächst auf Kassetten, heute als illegal gepresste CDs verkauft werden. Während Rock nach wie vor ein Randphänomen ist, hat sich eine starke chinesische Pop-Musik-Industrie entwickelt – im Geschäftsmodell am "westlichen" Vorbild orientiert (einschließlich Talentshows wie dem extrem erfolgreichen "Super-Girl"-Wettbewerb), in Text und Melodien am Geschmack des chinesischen Publikums.
Neben der Pop-Szene existiert aber auch reges Interesse an europäischer klassischer Musik, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass gerade in den Städten viele Kinder Geige, Klavier oder ein anderes westliches Instrument erlernen. Auch die traditionellen chinesischen Instrumente erfreuen sich großer Beliebtheit – im Sommer 2009 strahlte das chinesische Fernsehen eine Talentshow aus, in der sich hauptsächlich junge Musiker präsentierten, die derzeit an den nationalen Musikhochschulen studieren. Die Show, die sich über mehrere Wochen in der Ferienzeit erstreckte, erinnerte sowohl an ein reguläres Vorspielen als auch an die Talentshows der Pop-Musik-Szene. Das kommerziell erfolgreiche Modell scheint hier also interessierte Nachahmer gefunden zu haben.
Die Propaganda-Musik aus der Blütezeit des chinesischen Kommunismus existiert allerdings weiterhin: So treffen sich Laienchöre in den Parks, um die Lieder ihrer Jugend zu singen, ein paar Meter weiter musizieren Peking-Oper-Liebhaber oder Anhänger italienischer Opernarien. Eine ironische Brechung erfährt dieser Eindruck im Werk des bildenden Künstlers Dai Hua, der in seinem großformatigen Bild "Ich liebe den Tiananmen-Platz" ("Wo ai Beijing Tiananmen", 2006) den zentralen Pekinger Platz in der putzigen Optik eines Computerspiels darstellt (inklusive einer Yellow Submarine, den Mario Brothers, einem freundlichen Jiang Zemin, der die Losung "der Kunst dienen" ausgibt (als Wortspiel der allgegenwärtigen Propaganda-Formel "dem Volk dienen"), sowie offenbar gut gelaunten Volksmassen, die ihrem politischen Führer Deng ein fröhliches "Guten Tag Xiaoping" entgegenrufen). Titelgebend ist hier ein Propagandalied, das vielen Chinesen aus dem Schulunterricht bekannt ist. Vermutlich weniger ironisch gemeint ist die Musik, die zu jeder vollen Stunde auf dem Vorplatz des Pekinger Hauptbahnhofs erschallt: "Der Osten ist rot".
Das heutige musikalische Leben in China ist also wohl am besten beschrieben als Teil einer globalen musikalischen Szene und einer globalen Musikindustrie – mit durchaus lokalen, mitunter auch nationalen Ausprägungen. | Article | Lena Henningsen | 2022-01-19T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2022-01-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/asien/china/44311/musikalisches-leben-in-china/ | Musik in China ist häufig sehr eng an ihren historischen, sozialen und politischen Kontext gebunden. Propaganda-Stücke aus der Blütezeit des Kommunismus werden auch heute noch gespielt. Neben diesen lokalen, mitunter auch nationalen Ausprägungen hat | [
"Musik",
"Kultur",
"China",
"Propaganda"
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Erfahrungsbericht: Corona-Spendenkampagne | Fördermittel und Fundraising für die politische Bildung | bpb.de | "Ich hätte am liebsten eine Spendenaktion für die gesamte politische Bildung gemacht!"
Dana Meyer ist seit November 2019 Geschäftsführerin des ABC Zentrums im niedersächsischen Hüll an der Elbe. Sowohl Bildungsangebote als auch das Tagungszentrum sind stark von den Corona-Maßnahmen betroffen. Während das Tagungszentrum komplett geschlossen werden musste, konnten einige Bildungsangebote digital durchgeführt werden. Die Finanzierung ist aber noch lange nicht gesichert. Dana Meyer berichtet uns, wie sie den Verein durch die Krise manövriert. Mehr unter: Externer Link: www.abc-huell.de
Akquisos: Frau Meyer, welche Corona-Maßnahme hat Sie finanziell härter getroffen: Der Stopp der Bildungsangebote oder die Schließung des Gästehauses?
D. Meyer: Eindeutig das Gästehaus. Den Bildungsbereich konnten wir ganz gut digitalisieren. Wo-bei wir bis kurz vor Beginn nicht wussten, ob die Veranstaltungen auch so gefördert werden würden. Die Angebote, wie unser Barcamp der politischen Bildung (bcpb) und #OERcamp als Online-Barcamp für Multiplikator/-innen aus der Bildungsarbeit haben wir zudem kostenlos angeboten. Denn wir waren zunächst sehr pessimistisch, ob an so einem Online-Format überhaupt Leute teilnehmen. Am Ende war es mit 130 Teilnehmer/-innen ausgebucht! Anstelle des Teilnehmendenbeitrags haben wir die Möglichkeit zur Spende gegeben. Die Resonanz war verhalten, denn die Veranstaltung richtete sich an Fachkräfte der politischen Bildung, die selbst stark betroffen sind. Doch einzelne haben uns dankenswerterweise unterstützt.
Sie haben recht schnell eine Spendenaktion zur Rettung des ABC über eine Crowdfundingplattform gestartet. Wie kam es dazu?
(© Dana Meyer)
Wir haben vor einigen Jahren schon einmal so eine Aktion gemacht, weil wir für die Sanierung unseres Reetdaches einen Eigenanteil brauchten. Unser pädagogischer Geschäftsführer hat sich daran erinnert und die Idee schnell eingebracht. Wir waren also nicht gänzlich unerfahren. Aber wir rufen nicht regelmäßig zu Spenden auf. Für mich persönlich war es neu.
Wie war Ihre Erfahrung mit der Aktion?
Wir waren in den ersten Wochen in einem aktionistischen Modus und haben das Ganze relativ schnell umgesetzt. Daher war es kein durchdachtes Konzept. Wir hatten einfach das Gefühl, wir müssen jetzt was machen. Zu dem Zeitpunkt war noch nicht klar, ob es eine staatliche Hilfe für uns geben könnte. Die wurde uns erst später bewilligt. Aber mir ging es bei der Spendenaktion nicht nur darum, uns zu retten, sondern um den gesamten Bereich der politischen Bildung als einer wesentlichen Säule unserer Zivilgesellschaft - und zwar in ihrer Pluralität. Es dürfen nicht nur die großen Häuser die Krise überleben, die in ein Netzwerk eingebettet sind. Es müssen auch die kleinen, freien Träger weiterbestehen. Jedes Haus hat eine eigene Herangehensweise und Spezialisierung. Das darf nicht verschwinden. Ich hätte gerne eine Spendenaktion für die gesamte politische Bildung gemacht!
Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?
Dafür, dass wir das nicht regelmäßig machen, ist es ganz gut gelaufen. Wir haben knapp 10.000 Euro an Spenden bekommen. Insgesamt sind wir jedoch hinter unserem Ziel zurückgeblieben. Es war gut, dass wir schnell waren und dass wir uns getraut haben, über den Tellerrand hinaus zu schauen. Aber natürlich hätte es mehr Konzept gebraucht. Andere Häuser sind etwas später als wir gestartet und da hat man gesehen, dass die Aktionen besser geplant waren.
Was hätten Sie anders machen können?
Wir haben uns zu wenig Gedanken gemacht, wie wir die Leute erreichen. Mit welchen Infos und welchen Zielen sprechen wir wen an und wie? Wir hatten nicht genug Öffentlichkeit. Wir haben uns intuitiv sehr auf die Social Media Kanäle gestürzt. Damit haben wir aber nicht alle erreicht, denn viele Unterstützer/-innen sind gar nicht digital unterwegs. Unsere Gründungsmitglieder, langjährige Unterstützer/-innen, unseren Freundeskreis haben wir dadurch zunächst vernachlässigt. Die, die uns sehr verbunden sind, sind wir erst sehr spät angegangen. Da kamen dann zum Glück noch Spenden nach.
Wir hatten uns auch sehr darauf fokussiert, die Aktion in lokalen und regionalen politischen Kreisen zu verbreiten. Darauf erhielten wir praktisch keine Resonanz. Unsere Region ist strukturschwach und zu wenig digital. Politische Bildung schlüpft da schnell durch. Das ist einfach zu wenig "fancy", nicht griffig genug. Allein das Wort "Bildungsstätte"… Ich muss zu viel erklären, wofür wir stehen, das funktioniert im Fundraising nicht.
Haben Sie sich überlegt, wie Sie nun mit den Spenderinnen und Spendern weiter umgehen?
Wir wollten eigentlich alle Unterstützer/-innen ins Haus einladen. Das ist nun nicht möglich. Und bevor wir es weiter verschieben, werden wir nun ein kleines Online-Event starten, mit einem eigenen kulturellen Programm. Uns ist der persönliche Kontakt wichtig. Wir möchten unsere Wertschätzung zeigen und Danke sagen. Außerdem wollen wir informieren, wie der Stand der Dinge ist.
Wie ist Ihr Ausblick auf die nächsten Monate?
Mit ganz vielen Fragezeichen... Der Bildungsbereich wird weiterlaufen, aber der Tagungshausbetrieb ist schwierig. Wir sind aber an kreativen Lösungen dran. Letztlich hängt alles an den weiteren Auflagen zum Schutz unserer Gäste und Mitarbeiter/-innen sowie der Finanzierung. Ich fand die Spenden, die uns erreichten, so toll. Zu wissen, dass uns Leute Geld geben, weil sie unsere Arbeit wichtig und unser Haus toll finden, war Balsam für unsere Seelen und eine tolle Wertschätzung. Da haben wir viel Stärke raus gezogen. Aber das ersetzt keineswegs notwendige Rettungsschirme oder andere staatliche Hilfen. Die Spenden, die Soforthilfe und viele andere Maßnahmen haben uns etwas Luft verschafft, aber das sichert uns nicht langfristig. Diese Krise wird ein Marathon sein. Wir brauchen neue Ansätze, zum Beispiel Kooperationen, wo wir unsere Expertise anderen anbieten, um neue Quellen zu erschließen. Das muss uns ermöglicht werden.
Liebe Frau Meyer, vielen Dank für das offene Gespräch und alles Gute für das ABC Hüll!
(© Dana Meyer)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-05-08T00:00:00 | 2020-06-04T00:00:00 | 2023-05-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/foerderung/akquisos/311034/erfahrungsbericht-corona-spendenkampagne/ | Das ABC Bildungs- und Tagungszentrum ist finanziell stark von den Corona-Maßnahmen betroffen. Das Tagungshaus wurde komplett geschlossen, einige Bildungsangebote konnten jedoch digital durchgeführt werden. Die Geschäftsführerin Dana Meyer berichtet, | [
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Politik als Prozess und Baustelle – eine Filmbesprechung | Democracy - Im Rausch der Daten | bpb.de | Der junge Mann ist es offensichtlich nicht gewohnt, Krawatten zu tragen. Auf seinem Smartphone überprüft er Schritt für Schritt, wie der Knoten richtig gebunden werden muss. Jan-Philipp Albrecht ist eher leger, er sieht nicht so aus, wie man es von einem Interner Link: Europaabgeordneten erwarten würde. Aber nun hat der 32-jährige Grüne einen wichtigen Termin. In Athen soll der Interner Link: Rat der Europäischen Union eine umfassende Datenschutzverordnung verabschieden. Und nicht nur für Albrecht persönlich steht viel auf dem Spiel, weil er deren Erstellung maßgeblich mit auf den Weg gebracht hat, sondern für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger. Es geht um nichts weniger als das Recht, selbst über die Speicherung, Weitergabe und Verarbeitung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.
Politische Entscheidungsprozesse? Wie spannend!
Im Januar 2014 findet diese Abstimmung über die Datenschutzverordnung statt – und damit etwa zwei Jahre, nachdem die Interner Link: Europäische Kommission damit begonnen hat, einen Vorschlag für diese zu entwerfen. Doch die Ergebnisse verrät Regisseur David Bernet in seinem Dokumentarfilm zunächst noch nicht. Er wirft vielmehr einen Blick zurück und erzählt darüber, wie diese Verordnung zustande gekommen ist, zeigt die Arbeit in der Kommission und im Parlament, zeigt "Shadow Meetings“, informelle Treffen auf Fluren und mühsame Textkorrekturen, bei denen um Formulierungen und die richtigen Worte gerungen wird.
Ein Film über einen politischen Entscheidungsprozess, über Aushandlungen und Anhörungen, klingt nicht besonders aufregend. Was Bernet jedoch aus seinem Thema macht, ist ebenso aktuelles wie spannendes politisches Kino. Dabei kommt ihm zweierlei zugute: dass er mit Jan Philipp Albrecht einen charismatischen Protagonisten gefunden hat, der das Publikum – auch unterstützt durch die Inszenierung von Bernet – leicht für sich gewinnt. Und dass das Themenfeld Privatsphäre seit den Enthüllungen von Edward Snowden und der folgenden Interner Link: NSA-Affäre im Juni 2013 enorm populär geworden ist.
Das neue Öl
Daten, so sagt man es in Wirtschaftskreisen, sind das Öl des 21. Jahrhunderts. Sie würden unser Leben verändern, wie es früher das Öl getan hat. Jan Philipp Albrecht wird diesen Vergleich im Film aufgreifen und kritisch weiterführen: "Wenn Daten das neue Öl sind, dann ist Datenschutz der neue Umweltschutz.“ Rückhalt findet er mit dieser Sichtweise bei der damaligen EU-Kommissarin für Justiz, Bürgerschaft und Grundrechte Viviane Reding aus der EVP-Fraktion, die den Schutz der persönlichen Daten als Bürgerrecht begreift und auch die Interessen der Wirtschaft in ihre Argumentation mit einbezieht. Denn wer das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger stärkt, indem er den Wunsch nach informationeller Selbstbestimmung und Privatsphäre respektiert und schützt, der stärkt nach Reding auch die digitale Wirtschaft. International arbeitende Unternehmen wiederum fürchten die Restriktionen, die mit einer derartig ausgelegten Verordnung in Verbindung stehen.
Nachdem Albrecht im Frühjahr 2012 vom Interner Link: Europäischen Parlament als "Berichterstatter“ nominiert wird, der den Gesetzestext mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Fraktionen prüfen und dem Plenum schließlich einen überarbeiteten Vorschlag zur Abstimmung vorlegen soll, beginnt "Democracy“ mit seinem Einblick hinter die Kulissen des Politikbetriebs.
„Ring frei für die Lobbyisten“
Ohne zu tief in die organisatorische Struktur der Europapolitik einzudringen, gelingt es Bernet, mit wenigen knappen Texteinblendungen und gut gewählten Erläuterungen seiner Protagonisten, die Zusammenhänge, Aufgabenverteilung und Arbeitsabläufe zwischen Kommission, Rat und Parlament begreifbar zu machen. Dabei gestatten ihm die Politikerinnen und Politiker, auch an informellen Gesprächen und Telefonaten, an kleinen Besprechungen sowie fraktionsübergreifenden "Shadow Meetings“ teilzunehmen und so das Bild der politischen Arbeit überaus differenziert und intim darzustellen. Den üblichen bekannten Aufnahmen großer öffentlicher Sitzungen und Anhörungen stellt der schweizerische Regisseur all das gegenüber, was ansonsten hinter verschlossenen Türen stattfindet – wo jedoch, das wird hier besonders deutlich, wichtige politische Entscheidungen gefällt und die Weichen gestellt werden. Besonders interessant wird dies, wenn die Lobbyistinnen und Lobbyisten auf den Plan treten.
Selten zuvor hat ein Dokumentarfilm gezeigt, wie weit deren politischer Einfluss reicht und wie in diesem Bereich gearbeitet wird. Der Streit um die Datenschutzverordnung dient in dieser Hinsicht als besonders gutes Beispiel, war dieser doch so stark von Lobbygruppen umkämpft wie noch keine Verordnung zuvor. Nach der Nominierung von Albrecht sucht jeder seine Nähe, von Vertreterinnen und Vertretern internationaler IT-Unternehmen und Banken bis hin zu NGOs, die jeweils ihre Bedenken äußern und ihre Anliegen auf die Agenda bringen wollen. Auch hier profitiert Bernet von den pointierten Kommentaren von Albrecht und seinem Mitarbeiter Ralf Bendrath, der nach Vorlage des ersten Berichts trocken bemerkt, man befinde sich nun "im Kriegsmodus“.
David gegen Goliath im 21. Jahrhundert
Nur ein halbes Jahr habe es gedauert, betont Viviane Reding einmal bei einer Anhörung, bis eine Lockerung der Privatsphäre in Brüssel politisch durchgesetzt worden sei. Eine Erweiterung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger hingegen dauere nach zwei Jahren noch an. "Wir sind halt eher so die Bürgerrechtler, die halt hier im Europäischen Parlament nicht unbedingt die Mehrheit haben“, formuliert es Albrecht selbst. Man könnte auch sagen: Albrecht und Bendrath werden als Underdogs des Brüsseler Politikbetriebs inszeniert.
Weder Albrecht noch Bendrath tragen normalerweise Krawatten, Bendrath liebt nerdige T-Shirts und mit ihrem IT-Wissen repräsentieren sie ganz eindeutig als Vertreter einer jungen Generation, die um den Wert der digitalen Freiheit wissen und das Internet nicht nur als Geschäftsmodell und lukrativen Datenschatz für Unternehmen sehen wollen. Damit hat "Democracy“ durchaus etwas Rebellisches an sich und greift auf ein bewährtes dramaturgisches Muster des Hollywoodkinos zurück. Die Sympathien liegen auf der Seite der Benachteiligten, die jedoch moralisch und idealistisch über den anderen stehen und wie David einen Kampf gegen Goliath führen müssen, der zunächst nicht gerade erfolgversprechend erscheint.
Treffende Bilder für schwierige Prozesse
Wenngleich Bernet auch Interviewpartner zu Wort kommen lässt, die sich für eine Lockerung der Privatsphäre aussprechen und erklären, inwiefern der Zugriff und die Verknüpfung von Datensätzen einen Nutzen für Einzelpersonen wie die Allgemeinheit darstellen kann, stehen diese argumentativ meist auf keinem festen Grund. Der Film macht keinen Hehl daraus, dass er die Datensammelwut mancher Konzerne skeptisch sieht. Einen Kommentar muss David Bernet dazu nicht einsprechen. Sein Film lebt von seinen Protagonisten, einem starken visuellen Konzept und vielen klugen Beobachtungen.
Geradezu anekdotenhaft wirkt es, wenn sich Reding und Albrecht auf die Suche nach einem Besprechungsraum im Parlament machen und scheinbar selbst nicht sicher sind, ob sie nun eine Etage nach oben oder unten müssen. All dies sind schöne Bilder, die die Größe des Brüsseler Politikbetriebs, der von außen oft wie eine Black Box wirkt, auf eine ganz andere Art anschaulich werden lassen. Zugleich ergänzen solche Szenen die sehr künstlerisch wirkenden Aufnahmen der Gebäude von Innen und Außen, die auf ihre ausdrucksstarken Formen hin kadriert wurden und durch die Schwarzweiß-Ästhetik besonders streng wirken. Den alltäglichen Bildern aus Nachrichtensendungen setzt "Democracy“ so eine andere Sicht entgegen, die Brüssel und die Europapolitik auch visuell interessant und ungewöhnlich werden lässt.
Aber auch sonst findet Bernet treffende Bilder, um den schwierigen Prozess der Entscheidungs- und Kompromissfindung darzustellen. Denn selbstverständlich ist Albrecht und Bendrath klar, dass ihr mit viel Herzblut erstellter erster Entwurf, der einige innovative Ideen enthält, nie in dieser Form verabschiedet werden kann. Danach beginnt die zermürbende und zähe Phase der Verhandlungen und Kompromissfindungen, im Laufe derer es für jeden darum geht, sein Gesicht zu wahren, aber auch Zugeständnisse zu machen. Die Zuschauenden sehen Baustellen, eine lange Brücke, Wasser, das sich in Schlangenlinien einen Weg durch den Sand bahnt. Oder aber eine Gruppe Jugendlicher, die gemeinsam und etwas umständlich versucht, einen Ball, der beim Spielen im Fluss gelandet ist, wieder herauszufischen.
Und wenn Bernet am Ende noch einmal nach Athen zurückkehrt, findet er in der von Baumaschinen umstellten Akropolis ein stimmiges Schlussbild: Nicht nur das Leben, auch die Demokratie und die Politik ist eine Baustelle. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-26T00:00:00 | 2017-09-08T00:00:00 | 2022-01-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/daten/democracy/255786/politik-als-prozess-und-baustelle-eine-filmbesprechung/ | Ein Film über einen politischen Entscheidungsprozess - klingt nicht besonders aufregend. Doch der Film "Democracy" überrascht und macht aus einem Gesetzesprozess politisches Kino. Das liegt an seinen Protagonisten und daran, dass das Thema Datenschut | [
"Filmbesprechung Europäische Union Datenschutz Politikprozesse"
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Kommentar: Perspektiven des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine. Ist eine Friedenstruppe realistisch? | Ukraine-Analysen | bpb.de | Einleitung
Dieses Frühjahr geht der Krieg in der Ostukraine in sein fünftes Jahr, doch eine Lösung des Konflikts, in dem bereits mehr als 10.000 Menschen gestorben sind, ist nicht in Sicht.
Die Umsetzung des Minsker Abkommens von 2014 (Protokoll und Memorandum) und 2015 (Maßnahmenpaket) steckt in einer Sackgasse, aus der es derzeit keinen realistischen Ausweg gibt. Denn der politische Teil des Abkommens enthält Bedingungen, die sowohl für Russland als auch die Ukraine unannehmbar sind.
In Kiew befürchtet man, dass der "Sonderstatus" die Separatisten mit einem "Staat im Staat" belohnt, der weiterhin pro-russische (anti-ukrainische) Politik macht. Auf der anderen Seite befürchtet Moskau, nach einer Demilitarisierung und freien Wahlen die Kontrolle über die jetzigen "Volksrepubliken" zu verlieren – und die separatistischen Eliten selbst haben keine Sicherheit, dass sie in den Genuss der von Minsk vorgesehenen Amnestie kommen.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass führende Akteure in Politik und Diplomatie zunehmend optimistisch über einen Vorschlag sprechen, dem bislang eigentlich gar keine Chancen eingeräumt wurden – eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen.
Dies hat die ukrainische Regierung schon lange gefordert, was jedoch von Russland (und den Separatisten) vehement abgelehnt wurde. Im September erklärte der russische Präsident Wladimir Putin dann plötzlich, dass er sich eine solche Truppe vorstellen könne – allerdings nur zum Schutz der bestehenden OSZE-Beobachtermission und nur entlang der "Kontaktlinie" genannten Front zwischen Separatisten und der ukrainischen Armee.
Diese beiden Einschränkungen sind so stark, dass sie eigentlich jeglichen Sinn einer Friedenstruppe in Frage stellen. Die ausländischen Blauhelmsoldaten wären sozusagen "Polizisten" für die unbewaffneten Zivilisten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), und das auch nur in einem ganz kleinen Teil ihres Einsatzgebietes.
Verständlicherweise haben die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten den Vorschlag zunächst abgelehnt. Aber der geschäftsführende Außenminister Sigmar Gabriel hat erklärt, dass er mit Russland über die Bedingungen einer Mission verhandeln will. Bei seinem Ukraine-Besuch Anfang Januar kündigte er an, dass er ein UN-Mandat für eine Friedenstruppe noch vor der russischen Präsidentschaftswahl am 18. März erzielen will.
Als Gegenleistung will Gabriel Moskau eine scheibchenweise Rücknahme der Sanktionen anbieten. "Die Vorstellung, erst 100 Prozent Umsetzung des Minsker Abkommens und dann auf einen Schlag 100 Prozent Aufhebung der Sanktionen, halte ich für weltfremd", sagte er.
Ist eine Friedenstruppe realistisch?
Theoretisch könnten UN-Blauhelme während der schwierigen Übergangsphase die "Volksrepubliken" stabilisieren. Doch die praktischen Hürden sind riesig:
Um die Separatistengebiete vollständig zu kontrollieren, sind mindestens 20.000 Soldaten nötig. Um deren Neutralität zu gewährleisten, dürften die Entsendestaaten weder NATO-Staaten noch enge Verbündete Russlands sein. Der logistische und finanzielle Aufwand wäre enorm.
Alle bestehenden bewaffneten Verbände müssten aufgelöst werden, damit die UN-Truppe das Gewaltmonopol erhält: Zum einen müsste also Russland seine Soldaten und Freiwilligen abziehen, die es ja nach Moskaus eigenem Bekunden gar nicht gibt. Zum anderen müssten beide "Volksrepubliken" ihre Armeen entwaffnen, ohne sich auf das im Minsker "Maßnahmenpaket" (Punkt 11) verbriefte Recht auf eine "Volksmiliz" zur Einhaltung der öffentlichen Ordnung zu berufen. Die Luhansker Separatisten nennen aber – wohl in weiser Voraussicht – ihre Armee bereits seit 2014 ausschließlich "Volksmiliz".
Schließlich müssten die "Volksrepubliken" aufgelöst werden, die zwar laut Minsker Abkommen gar nicht existieren, sehr wohl aber in den Köpfen zahlreicher Separatisten – sie haben sich nicht nur für unabhängig erklärt, sondern in ihrem Namen sind bereits tausende Kämpfer gestorben.
Ob Russland und die Separatisten zu derlei Zugeständnissen bereit sind, noch dazu vor der erwarteten Wiederwahl Wladimir Putins zu seiner vierten Amtszeit als Präsident, ist, gelinde gesagt, fraglich.
Dazu kommt, dass längst nicht alle Akteure in Donezk und Luhansk gehorsam auf jeden Fingerzeig aus Moskau reagieren. Der Sturz des Luhansker Separatistenführers Igor Plotnizki durch den örtlichen Geheimdienstchef Leonid Passetschnik im November hat gezeigt, dass der Kreml seine vermeintlich eigenen Leute nicht unter Kontrolle hat.
In Donezk gilt zwar Alexander Sachartschenko als weniger gefährdet, aber auch hier sind in der Vergangenheit Feldkommandeure bei mysteriösen Anschlägen getötet worden, für die wahlweise Moskau oder Kiew verantwortlich gemacht werden.
Gegen eine baldige Rückkehr zur Ukraine spricht auch, dass nicht nur die Herrschenden in beiden "Volksrepubliken", sondern eine große Zahl der Bevölkerung von mindestens drei Millionen prorussisch eingestellt ist. Laut einer viel beachteten Studie des Berliner Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOIS) vom vergangenen Mai sprachen sich 44,5 Prozent der dort (telefonisch) Befragten für einen Anschluss an Russland aus [siehe dazu auch den Interner Link: Beitrag von Gwendolyn Sasse].
Dazu passt der herrschende Tenor in den russischen Staatsmedien, wo die Ukraine weiterhin als Feindbild und nicht als Nachbar dargestellt wird.
Die von ukrainischer Seite initiierte Wirtschaftsblockade, die im Frühjahr 2017 zur Beschlagnahmung der bislang von ukrainischen Firmen kontrollierten Industrie seitens der Separatisten führte, hat die Aussichten auf eine Reintegration weiter getrübt. Angesichts der desolaten Wirtschaftslage bleibt als größte Hoffnung, dass die auf mindestens eine Milliarde Euro pro Jahr geschätzten Subventionen für die russisch kontrollierten Gebiete für Moskau irgendwann zu teuer werden.
Aber auch wenn Russland die Zahlungen gezwungenermaßen einstellt, dürfte eine erfolgreiche Wiedereingliederung der Separatistengebiete in die ukrainische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht einfacher werden. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2018-01-29T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/263711/kommentar-perspektiven-des-bewaffneten-konflikts-in-der-ostukraine-ist-eine-friedenstruppe-realistisch/ | Selbst wenn eine UN-Friedensmission zustande käme, würde diese noch nicht das Ende des Ukraine-Konflikts bedeuten. Neben einem großen prorussisch eingestellten Bevölkerungsanteil, aber auch bewaffneten Separatisten sähe die Friedenstruppe sich mit ei | [
"Ukraine-Analyse"
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Dezember 2018. Thema: Die DDR im Unterricht | Schulnewsletter | bpb.de | Sehr geehrte Lehrerin, sehr geehrter Lehrer,
in diesem Schulnewsletter möchten wir im sehr umfangreichen Themengebiet DDR den Fokus auf Aspekte und Materialien legen, die besonders schülernah sind, sowohl thematisch als auch in Bezug auf das ausgesuchte bpb- Material. Neben Hintergrundwissen und Rückblicken, stellen wir Ihnen Unterrichtsmaterial vor, welches sowohl für den Elementarbereich, als auch für die Sekundarstufe I und II interessant sind. Ein Schwerpunkt liegt auf Material, welches insbesondere auf Fotos, Film und Audiodateien basiert. Ergänzend dazu beachten Sie bitte den Schulnewsletter »Deutsche Teilung - deutsche Einheit« von 2014: Interner Link: http://www.bpb.de/201924/.
Schriftenreihe (Bd. 1299): Alltag - DDR. Geschichten - Fotos - Objekte
Wie sah es aus in der DDR? Neugierige und Nachgeborene können sich in diesem reich illustrierten Band buchstäblich ein Bild davon machen. http://www.bpb.de/153302/
Deutschland Archiv
In dieser Rubrik erscheinen aktuelle Beiträge zum politischen Zeitgeschehen und zu Debatten über die Geschichts- und Erinnerungskultur in Deutschland. Es werden Themen wie 1968, Berlin, Deutsche Einheit, Un-Rechts-Staat DDR, Regimebehauptung und Widerstand und vieles mehr behandelt. Interner Link: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/164135/schwerpunkte
Unterrichtsthema: Deutsch-deutsche Geschichte
Umfangreiche Materialsammlung zu den Ereignissen des 17. Juni 1953, zum Mauerbau 1961 bis hin zur Wiedervereinigung 1989: in Texten, Bildern und originalen Film- und Tondokumenten. http://www.bpb.de/lernen/themen-im-unterricht/deutsch-deutsche-geschichte/
Jugendopposition.de
Jugendopposition.de entstand in Kooperation der bpb und der Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. Es ist ein multimediales Internetangebot über die Auflehnung von Jugendlichen in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR bis 1990. Kernstück sind 24 Biografien junger Menschen, die aktiv gegen die politischen Verhältnisse in der DDR protestiert haben. Zu allen Themen gibt es zahlreiche Video- und Audiosequenzen, Zeitzeugeninterviews, Texte, Fotos und Originaldokumente. Außerdem werden ergänzende Unterrichtsmaterialien angeboten. (Ausgezeichnet mit dem Grimme-Online-Award) Externer Link: https://www.jugendopposition.de
Wir waren so frei.de: Unterrichtsmaterialien
Auf »Wir waren so frei ... im Unterricht« finden Sie Unterrichtsmaterialien zu privaten Filmen, Fotos und Erinnerungen zur Umbruchszeit 1989/1990. Die persönlichen Erfahrungen der Fotografen und Filmemacher bieten unterschiedlichste Perspektiven auf die deutsch-deutsche Geschichte und verdeutlichen die Auswirkungen auf den Alltag in Ost und West. Zu sieben Themen gibt es umfangreiche Arbeits- und Informationsmaterialien für den Online-Unterricht, zusätzlich werden Sonderformate für Projekttage oder Klassenfahrten angeboten. Alle Materialien lassen sich auch herunterladen. Externer Link: http://www.unterricht.wir-waren-so-frei.de/
Chronik der Mauer.de
Die Webseite Chronik der Mauer stellt das derzeit umfangreichste multimediale Informationsangebot zur Berliner Mauer dar. Neben der App "Die Berliner Mauer", werden Arbeitsblätter zu Verfügung gestellt, um die Inhalte der Seite auch im Unterricht an den Schulen nutzbar zu machen. Mit dem Projekt "Auf der Mauer, auf der Lauer" wird ein Modell vorgestellt, durch das Grundschüler Wissen über die Berliner Mauer erlangen können. Das Hörspiel "Rolli und die Rockonauten" erzählt die Geschichte von Jugendlichen aus der DDR vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse des Jahres 1961. Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/lernen/
Dossier: Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur
In der DDR gab es niemals freie Medien. Was, wie und worüber öffentlich berichtet und diskutiert werden durfte, entschied die SED-Führung. Auch deshalb dienten die westdeutschen Radio- und Fernsehsender der DDR-Bevölkerung als Informations- und Unterhaltungskanäle. Von den politischen Magazinen zählte die am 18. Januar 1968 erstmals vom Sender Freies Berlin (heute Rundfunk Berlin-Brandenburg) in der ARD ausgestrahlte Sendung "Kontraste" zu den wichtigsten. Mehr als 30 Magazinbeiträge aus den Jahren 1987-2001 dokumentieren die Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur und der deutsch-deutschen Geschichte - zeitgeschichtliche Dokumente, die den Prozess der deutschen Einheit begleiteten. Externer Link: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/kontraste/
TV Projekt: Schule in der DDR
Was macht man eigentlich bei einem Fahnenappell und warum schmeckt das Jägerschnitzel anders als gewohnt? 22 Schüler*innen aus Niedersachsen tauschen ihre Smartphones gegen FDJ-Hemden ein und verbringen eine Woche in einem DDR-Schullandheim. Begleitet von einem Fernsehteam erleben sie Schulalltag in der DDR im Jahr 1989. Interner Link: http://www.bpb.de/193997/
Kinofenster. Hintergrund: DDR im Film
Als ein gewisser Oscar® ins Spiel kam, da wurde die Aufarbeitung der DDR wieder Chefsache. Es war Anfang März 2007 als Florian Henckel von Donnersmarck zurück in der Heimat begrüßt wurde. Der Regisseur hatte gerade in Hollywood den Academy Award für den besten fremdsprachigen Film des Jahres 2006 überreicht bekommen. Presse, Publikum, Politik, ja sogar die Bundeskanzlerin zeigte sich begeistert. Das Leben der Anderen (D 2006), ließ Angela Merkel verlauten, sei "ein eindrucksvoller Film mit einer authentischen Erzählung". Externer Link: https://www.kinofenster.de/themen-dossiers/alle-themendossiers/dossier_ddr_10_2009/ddr_im_film/
Deutschland Archiv: Vom Suchen und Finden - Stasi-Razzia in der Umweltbibliothek
Die Aktion "Falle" am 24./25. November 1987 war eine schwere Niederlage für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Es begann mit einem Bücherschrank für alle, ohne Zensur: Unter dem Dach der Kirche fand die Umweltbibliothek Schutz vor dem Zugriff der Stasi. Unter dem Vermerk "nur für den innerkirchlichen Gebrauch" wurde dort im Selbstverlag eine systemkritische Zeitung, die Umweltblätter, herausgegeben. Um die Oppositionsbewegung zu zerschlagen, stürmte die Stasi mitten in der Nacht die Bibliothek. Alle Druckerzeugnisse wurden beschlagnahmt, sieben Menschen verhaftet, darunter ein 14-Jähriger. Interner Link: http://www.bpb.de/281016/
Dossier Prag 1968: Vor 50 Jahren - "Breschnew-Doktrin" von der eingeschränkten Souveränität sozialistischer Bruderstaaten
Am 12. November 1968 fand die Hoffnung auf Demokratisierung in Osteuropa ein vorläufiges Ende. Der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew verkündete, dass sich die Sowjetunion generell das Recht vorbehalte, Oppositionsbewegungen in sozialistischen Ländern notfalls mit Gewalt niederzuschlagen. Interner Link: http://www.bpb.de/279720/
Spezial: "This Ain't California"
Ein Film über Skateboarder in der DDR? Gab's die den überhaupt im ehemalige Arbeiter- und Bauernstaat? Sehr wohl, wie der Film von Marten Persiel zeigt. Interner Link: http://www.bpb.de/142313/
Dossier: Ostzeit
Die Fotografen der Agentur Ostkreuz erzählen in ihren Bildern Geschichten aus einem vergangenen Land - authentisch und ungeschönt. Sie zeigen den Alltag, die Arbeit und die Menschen hinter der DDR. http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ostzeit/
Kinderfernsehen in der DDR
Innerhalb der Fernsehgeschichte der DDR nimmt das Kinderfernsehen schon deshalb eine besondere Rolle ein, weil es seit den Anfängen des Deutschen Fernsehfunks einen kontinuierlichen Anteil am Programm hatte. Es zeichnete sich zudem durch eine große Kontinuität seiner Sendereihen aus, welche auch im Ausland begehrt waren. bis 1969: Interner Link: http://www.bpb.de/245910/ ab 1970: Interner Link: http://www.bpb.de/245913/ ab1980: Interner Link: http://www.bpb.de/245914/
fluter (Nr.30): DDR
Das Beste an der DDR war ihr Ende. Geschichten aus den Zeiten vor dem Mauerfall und danach. Interner Link: http://www.bpb.de/34545/
HanisauLand Spezial: Ende der Teilung Deutschlands - die Deutsche Einheit
In diesem Spezial gibt es verschiedene Angebote: Berlin-Touren, ein Quiz und ein Memospiel sowie spannende Forumsbeiträge. Externer Link: https://www.hanisauland.de/spezial/deutsche-einheit/
HanisauLand Spezial: Die Berliner Mauer
Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Mauer, inklusive Mauertouren und einem "Was geht mich das an?"-Forum. Externer Link: https://www.hanisauland.de/spezial/mauerfall-2009/
Im Praxistest: Momentaufnahmen 1989/90 im Unterricht - Wir waren so frei ...
Auf dieser Übersichtsseite finden Sie Unterrichtsmaterialien zu privaten Filmen, Fotos und Erinnerungen zum Alltag in der Umbruchszeit 1989/90. Mit den 26 verschiedenen Arbeitsblättern für den Elementarbereich, die Sekundarstufe I und II können Sie sich die Inhalte des Internet-Archivs www.wir-waren-so-frei.de erschließen und eine Stadtrallye in Berlin unternehmen. Eine Rezension von Maja Purrmann. Zur Rezension: Interner Link: http://www.bpb.de/281936 Zum Material: Interner Link: http://www.bpb.de/256069/
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Die Neustadt-Trilogie von Thomas Heise | DEFA & Dokumentarfilm im Zeichen der Wende | bpb.de | Thomas Heise hat in Halle an der Saale über einen Zeitraum von gut 15 Jahren drei Externer Link: Dokumentarfilme gedreht: Stau – Jetzt geht's los von 1992, acht Jahre später Neustadt (Stau – Stand der Dinge) und schließlich Kinder. Wie die Zeit vergeht. (2007). Von heute aus betrachtet erscheint diese Trilogie als Panorama ostdeutscher Zustände der Nachwende-Zeit – als eine kluge, reiche Chronik über die Ursachen von Fehlentwicklungen, die heute die Politik beschäftigen: die Morde des rechtsterroristischen NSU und das Versagen der Behörden, das Aufkommen der Partei Alternative für Deutschland (AfD) und der Pegida-Bewegung sowie – damit einhergehend – der kontroverse und zunehmend verschärfte Diskurs zum Thema Migration und Integration. Heises Trilogie zeigt, was diesen Entwicklungen vorausgeht. Und man könnte sogar sagen: Die Filme haben zur Zeit ihrer Entstehung einige Konflikte der Gegenwart bereits antizipiert.
Filme von Thomas Heise in der bpb-Mediathek:
Interner Link: Stau – Jetzt geht's los (1992) Interner Link: Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) (2000) Interner Link: Kinder. Wie die Zeit vergeht. (2007) Interner Link: Imbiss-Spezial (1990) Interner Link: Eisenzeit (1991) Interner Link: Heimat ist ein Raum aus Zeit (2019)
Rechtsextreme Ausschreitungen nach der Wende
Doch als Stau 1992 herauskam, wurde der Film missverstanden als einer, der Neonazis eine Bühne zur Selbstdarstellung bietet und menschenverachtende Ideologie unkommentiert lässt. Bei der Premiere in Halle kam es zu Krawallen, weil Autonome das Kino angriffen. In Berlin sollte Stau im Berliner Ensemble gezeigt werden; nachdem ein von Autonomen verbreitetes Flugblatt gegen den Film mobilisiert hatte, wurde die Veranstaltung abgesagt. Bei der Ersatz-Vorführung im Kino Babylon kam es wiederum zu Störungen und Auseinandersetzungen. Die antifaschistische Empörung hatte durchaus Gründe: Nach der Deutschen Einheit war es Anfang der 1990er-Jahre mehrfach zu rassistischen Ausschreitungen gekommen, etwa in Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992), wo hunderte Rechtsextreme unter dem Beifall der Nachbarschaft gewaltsam gegen Wohnungen von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern vorgingen. Bei den rassistischen Brandanschlägen in Mölln (1992) und Solingen (1993) wurden Frauen und Mädchen mit türkischer Migrationsgeschichte getötet. Die Darstellung in den Massenmedien war größtenteils problematisch. Statt rechtsextreme Strukturen und Verbindungen zu recherchieren und aufzuzeigen, begnügte sich die Investigation von Fernsehsendungen meist damit, Rechtsextremen Raum zu geben: Bilder von jungen Männern zu zeigen, die sich sichtbar wohl fühlten vor den Kameras, in die hinein sie Angst verbreiten konnten.
Verfallende Städte statt "blühender Landschaften"
Stau funktioniert als Gegenerzählung zu diesen Bildern. Weil Heise sich klar darüber ist, was er zeigen will und was nicht, mit wem er spricht und vor allem: wie. Dabei ist Stau in gewisser Weise ein Zufallsprodukt: Die Produktionsförderung dafür kam von der Ausländerbeauftragten von Sachsen-Anhalt und war gebunden an die Forderung, einen Film über rechtsextreme Jugendliche zu machen. Also fuhr Heise nach Halle, setzte sich in den Jugendclub "Roxy" und wartete, bis ihn jemand ansprach. Diese Herangehensweise ist einerseits typisch für den Filmemacher, der in seinen Filmen meist Begegnungen mit Menschen und Lebenswelten sucht, die er nicht kennt. Und sie ist andererseits das Gegenteil effekthascherischer Fernsehreportagen: Heise hat einmal erzählt, wie er bei der Ankunft im "Roxy" einen bekannten TV-Journalisten abreisen sah, in Mantel und mit teurem Wagen, der sich mal eben ein paar Bilder und O-Töne für einen Beitrag abgeholt hatte.
Interner Link: Stau – Jetzt geht's los (1992) Interner Link: Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) (2000) Interner Link: Kinder. Wie die Zeit vergeht. (2007) Interner Link: Imbiss-Spezial (1990) Interner Link: Eisenzeit (1991) Interner Link: Heimat ist ein Raum aus Zeit (2019)
Für Heises Stil ist dagegen das Warten wesentlich – die Zeit, die es braucht, um hinter die Selbstentwürfe von Personen zu kommen, die sie im ersten Moment für die Kamera inszenieren. Diese Ausdauer übersetzt sich in langsame Externer Link: Schwenks wie etwa zu Beginn, wenn ein Hallenser Panorama mit verfallenen Häusern und brennendem Auto vermessen wird. Seine Arbeit wird deshalb mit der des US-amerikanischen Dokumentaristen Frederick Wiseman verglichen, der für seine umfassenden und kommentarlosen Beobachtungen von Institutionen bekannt geworden ist. Wisemans Filme hat Heise erst nach 1990 kennengelernt; seine Erzählweise verdankt sich derweil auch technologischen Mängeln: der Schwere und Lichtempfindlichkeit von (Video-)Kameras, mit denen er zu Beginn seiner Karriere arbeitete und die nur unter vorsichtigen Bewegungen eine stabile Aufnahme garantierten.
Zuhören, bis Wahrhaftigkeit zutage kommt
Im "Roxy" lernte Heise sechs junge Männer kennen, die in Stau zu seinen Protagonisten werden. Der Film besteht zum Großteil aus Interviews, seine Bilder sind deswegen aber nicht weniger beredt. Heise filmt die Jugendlichen zwar oft als Externer Link: Talking Heads, zeigt sie aber auch bei Tätigkeiten, wie den einstigen Bäckerlehrling Konrad, der verzweifelt versucht, einen ordentlichen Marmorkuchen zu backen. Wenn Ronny, einer der Jugendlichen, am Ende des Films mit einer Pistole auf eine Uhr schießt, etabliert Heise ein zentrales Externer Link: Bild-Motiv: die Leere der Zeit; die Zeit, aus der eine Gesellschaft herausgefallen ist und die nun "totgeschlagen" werden muss. Dem Vater von Ronny stellt Heise eine merkwürdig anmutende Frage: "Was ist ein Tag?" Heinz Gleffe beginnt daraufhin, seine Routinen aufzuzählen, und kommt zu dem Schluss: "Ein langweiliges Dahinvegetieren … jeden Tag dasselbe Schema." Dabei hat Vater Gleffe Arbeit, anders als Roland, einer der porträtierten Jugendlichen, der auf einer Parkbank sitzend das Elend der Arbeitslosigkeit beschreibt: "Zu Hause sitzen, Fernsehen gucken, rumgammeln. Den ersten Monat war das vielleicht irgendwie nicht schön, aber entspannend, über längere Zeit aber bist du dankbar für alles, was du machen kannst, wo du anpacken kannst. Diese Monate in der Arbeitslosigkeit – ich wünsche es keinem." Gerade solch eine – in ihrer tiefen Verzweiflung und Wahrhaftigkeit seinem Sprecher vermutlich unbewusste – Auskunft ist ein Resultat, das Heises nüchterne Ausdauer immer wieder erzielt: dass sich das Gegenüber schließlich öffnet.
Erkennbare Position des Filmemachers
Rolands Erzählung ist eine, die hinter den Statistiken zur Arbeits- und Erwerbslosigkeit verschwindet. Heise leitet daraus keine monokausale Anklage ab, was mit seinem zurückhaltenden, distanzierten Stil zu tun hat. Der tritt deutlich in einer der schmerzhaftesten Externer Link: Szenen von Stau hervor: Die Neonazis fahren Parolen grölend zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Die Externer Link: Kamera des Films aber bleibt draußen, sie zeigt die Jugendlichen, wie sie hineingehen und wieder herauskommen, folgt ihnen dabei noch auf der Externer Link: Tonspur aus großer Distanz. Man darf diesen Stil nicht mit Ignoranz verwechseln – dass sich Heise hier etwa zurückzöge auf eine scheinbare Neutralität. Später konfrontiert der Filmemacher Ronny mit diesem Besuch – hart, insistierend, dabei aber nie belehrend. Er kann es tun, weil er Vertrauen aufgebaut hat, die Jugendlichen ihn als jemanden wahrnehmen, der nicht von oben herab zu ihnen spricht. Ronny erklärt die Fahrt dann ambivalent als "Spaß", den es ihm gemacht habe, und um das Schreckliche zu beschönigen – spricht aber auch von Scham.
Das ist das Gegenteil von "etwas unkommentiert lassen", wie der Vorwurf auf dem Autonomen-Flugblatt lautete: Heise will etwas verstehen, und mehr noch ermöglichen seine Fragen und Einwürfe den Jugendlichen, in denen sich unreflektierter Frust mit angelernten Phrasen über "nationale Stärke" verbindet, sich selbst verständlich zu werden. Es ist nicht so, dass Heise mit seinem Film die Neonazis bekehren, von ihrem Irrweg abbringen könnte. Aber es gelingt ihm, seinen Gegenstand so genau zu sezieren, dass der Film etwas über die Sozialpsychologie des Rechtsextremismus verständlich macht. Etwas, das weit über die konkreten (und immer konkret erzählten) Geschichten der Hallenser Jugendlichen hinausgeht. Einmal sagt Ronny aus Hilflosigkeit – er kann seine rechtsextremen Ideen nicht erklären, ohne deren Falschheit eingestehen zu müssen – einen Satz von fast philosophischer Schönheit: "Wenn man für alles Worte hätte, dann wären wir doch perfekt, oder?"
Eine Satellitenstadt im vereinigten Deutschland
Heise will nicht "mit Rechten reden" – so ein Buchtitel von Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn von 2017 – wie gegenwärtig zahlreiche deutsche Medien, die Wortführer/-innen der "Neuen Rechten" mit der Hoffnung einladen, sie im Interview entlarven zu können. Stau und die Externer Link: Folgefilme schauen hingegen dorthin, wo die Ideologien der Rechtsextremen auf fruchtbaren Boden fallen – sie zeigen vaterlose Kinder ohne Zukunft und Mütter, die mit dem Ende der DDR ihren Lebenssinn verloren haben. Einen unausgesprochenen Generationenkonflikt, der in einem brisanten Moment aufblitzt, wenn Vater Gleffe sagen muss, dass er weniger verdient als sein Sohn. Die Zurücksetzung als "Ossis", gegen die sich die Jugendlichen durch Stärke zu wappnen versuchen. Die Ghettoisierung des einst stolzen Neubauviertels Halle-Neustadt, in dem nur noch die wohnen, die sich das Wegziehen nicht leisten können und in dem sich folglich die Probleme ballen, für die Neonazis den Einwanderinnen und Einwanderern die Schuld geben: Drogen, Kriminalität, Vereinsamung. In Neustadt und Kinder. Wie die Zeit vergeht. widmet sich Heise vor allem der Familie Gleffe – die überzeugten Neonazis aus Stau veranstalten mittlerweile "Kameradschaftsabende", bei denen die Kamera nur dabei sein kann, wenn über unproblematische Themen geredet wird. Das erfahren die Zuschauenden durch die Tonspur: Die Kamera steht in weiter Ferne, aber das Gespräch der Männer darüber, was sie sagen können und was nicht, ist zu hören. Ein subversiver Akt, der sich auch in anderen Filmen von Heise findet und etwas mit seiner Sozialisation in der DDR zu tun hat, wo es schwierig war, der Wirklichkeit die Bilder "abzuluchsen", die der Staat von sich nicht zeigen wollte.
Dokumentarisches Material, das die Gegenwart verständlich macht
Die späteren Neustadt-Filme beobachten das Gesellschaftliche folglich im Familiären – etwa bei der einzigen Tochter der Gleffes, Jeanette, die ihren älteren (ebenfalls neonazistisch sozialisierten) Sohn schon aufgegeben hat, den jüngeren aber noch "hinkriegen" will. Im Privaten will die Mutter versuchen, woran die Gesellschaft bei den Jugendlichen aus Stau gescheitert ist. Protagonistinnen wie Jeannette, die in Heises Filmen Auskunft geben, sind im Reden nicht geübt und würden in anderen Zusammenhängen vielleicht lächerlich gemacht oder gar nicht beachtet. Aber hier reden sie über Entwicklungen, deren Folgen heute noch spürbar sind. So scheinen sich Heises Filme vor dem Hintergrund der Zeit, in der sie gesehen werden, neu zu aktualisieren. Dokumentarisches Material im besten Sinne: Die Filme bewahren Vergangenheit, damit wir unsere Gegenwart besser verstehen können.
Dieser Artikel erschien erstmals am 2.8.2018 auf kinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung der Bundeszentrale für politische Bildung. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-04-12T00:00:00 | 2019-10-24T00:00:00 | 2022-04-12T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/299349/die-neustadt-trilogie-von-thomas-heise/ | Zwischen 1992 und 2007 hat Thomas Heise drei Dokumentarfilme über Familien aus Halle-Neustadt gedreht. Entstanden ist eine Chronik der Nachwendezeit, die auch Ursachen für heutige Konflikte aufzeigt. | [
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"Da ist ein Gang, wo man reinging und nicht rauskam. Wir hörten die Schüsse." | Ravensbrück – Überlebende erzählen | bpb.de |
Zofia Pocilowska (© privat)
Zofia Pocilowska
Geboren am 3. März 1920, in Charkow (Polen)
Ich komme aus einer armen Familie: Mein Vater war Arbeiter, aber dennoch ein gebildeter Mann. Er war ein wunderbarer Mensch und ich liebte ihn, ebenso wie meine Mutter. Ich hatte noch zwei Halbbrüder. Ich wurde 1920 im Osten Polens geboren, in Charkow. Schließlich kamen wir nach Warschau, es waren damals schwere Zeiten: Weltwirtschaftskrise, Armut und Elend. Ich beendete eine sehr gute Grundschule in Warschau, und da ich eine gute Schülerin war, bekam ich ein Stipendium und besuchte anschließend ein privates Gymnasium. Anschließend kam ich auf die Universität und belegte dort Polonistik.
Dann brach der Krieg aus. Ich absolvierte einen Sanitätskurs und wollte an der Verteidigung Warschaus teilnehmen. Aber es war schon zu spät, Warschau war von den Deutschen umzingelt. Als man sich wieder etwas freier bewegen konnte, meldete ich mich für konspirative Arbeiten bei der Organisation "Walka Zbrojna", "Bewaffneter Widerstand". Wir waren eine Gruppe von fünf Frauen und legten gemeinsam einen Eid ab. Ich wurde Kurier für Warschau, sogar für ganz Polen. Ich bekam bestimmte Treffpunkte und Adressen genannt, ohne die Namen der Menschen zu kennen, und lieferte dann die entsprechenden Informationen ab. So sah meine konspirative Arbeit aus.
Durch einen Hinweis wusste ich, dass mich die Gestapo suchte. Ich versteckte mich an verschiedenen Orten. Dann aber kam der Namenstag meiner Mutter, das war im März 1941, und ich wollte meine Eltern so gerne wiedersehen. Ich übernachtete bei meinen Eltern. Wir ahnten nicht, dass die Gestapo den Besitzer des Hauses verpflichtet hatte, Meldung zu erstatten, sobald ich dort erscheinen würde. Abends kamen Offiziere und Soldaten der Gestapo und verhafteten mich.
Selektion für medizinische Versuche
Ich saß zuerst im Gefängnis Pawiak ein, wo ich schwer an Flecktyphus erkrankte, doch ich überstand es. Dann kam ich nach Lublin in das Untersuchungsgefängnis "Pod Zegarem", was soviel heißt wie "unter der Uhr". Im September 1941 kam ich mit einem Sondertransport nach Ravensbrück. Das war ein Transport von jungen Frauen, die ohne ihr Wissen zum Tode verurteilt worden waren und später für die medizinischen Experimente selektiert wurden. In Ravensbrück blieb ich bis April 1945, bis zur Evakuierung des Lagers.
Wir wurden von der Sowjetarmee befreit. Das war alles sehr dramatisch, es passierten schreckliche Dinge. Aber wir hatten Glück und uns geschah nichts. Ich betrat das Elternhaus und meine Mutter sowie ihre Schwester waren zu Hause: Beide waren schrecklich traurig und abgemagert. Meine Mutter freute sich natürlich sehr über meine Rückkehr. Ich fragte sofort nach meinem Vater: Er war schon ein Jahr nach meiner Verhaftung gestorben und lag schon längst auf dem Friedhof. Meine Eltern liebten mich sehr. Das war so traurig.
Nach dem Krieg begann für mich ein neues Leben und das war wichtig für mich. Warschau war zerstört. Ich studierte Bildhauerei und rekonstruierte viele Skulpturen, die beschädigt worden waren. Ich studierte, arbeitete und hatte Kinder. Jetzt fällt mir das Leben schwerer und zwar aufgrund der ökonomischen und sozialen Situation. Ich habe mehrere Jahrzehnte schwer gearbeitet. Von der gesellschaftlichen Stellung, die ich erreicht hatte – ich war doch jemand – und der Zufriedenheit durch meine Arbeit ist heute nur noch wenig geblieben. Ich habe mehrere Denkmäler geschaffen, unter anderem im Pawiak-Museum in Warschau, in Inowroclaw und in Wlodawa. Ich nahm an einem Plain-Air-Projekt in Walbrzych teil, einem Skulpturenpark, und schuf eine große Arbeit aus Keramik, aus zwölf Teilen bestehend. Ich verdiente zwar nicht viel dabei, aber immerhin war es eine Auftragsarbeit. Und jetzt muss ich zusehen, wie ich den nächsten Tag überstehe: Das macht den Menschen mürbe.
Aus einem Interview mit Ebba Rohweder, Januar 2003
Zofia Pocilowska (© privat)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-01-29T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/holocaust/ravensbrueck/60661/da-ist-ein-gang-wo-man-reinging-und-nicht-rauskam-wir-hoerten-die-schuesse/ | Zofia wird 1920 in Charkow geboren, später geht die Familie nach Warschau. 1939, bei Kriegsausbruch, studiert Zofia Polonistik – sie ist 19 Jahre alt. Zofia geht in den politischen Widerstand. Doch durch einen Hinweis wird sie im März 1941 von der Ge | [
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NEIN, ein Gesetz gegen Hass im Netz kann nicht helfen | Debatte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) | bpb.de | Dieser Beitrag ist zuerst bei Externer Link: fluter.de erschienen.
Man kann seine Filterblase noch so fein justiert haben, die Freundes-, Follow- und Blocklisten auf Facebook und Twitter noch so genau austarieren – manchmal erreicht es einen doch. Dann schwappt der ganze Hass, der in einigen Ecken des Internets zu finden ist, über Umwege in die eigene Online-Welt, und man möchte sich schütteln. Weil da Leute jubeln, wenn Flüchtlingsboote untergehen, weil Menschen anderen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, für dieses Engagement Vergewaltigung und Tod an den Hals wünschen, weil da "Witze" gerissen werden von einer Abgestumpftheit und Grausamkeit, dass es einem den Atem verschlägt. Man muss kein Justizminister sein und auch nicht besonders zart besaitet, um sich zu wünschen, dass so etwas aus sozialen Netzwerken verschwindet. All dies ist ekelhaft und menschenverachtend. Einiges ist außerdem sicherlich rechtswidrig.
Aber wo verläuft die Grenze? Was ist noch Meinung, was schon Straftat?
Diese Fragen sind zu wichtig: Sie dürfen nicht an Twitter, Facebook und Konsorten delegiert werden. Aber genau das tut das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Laut dem Gesetz, das seit dem 1. Januar vollumfänglich gilt, müssen soziale Netzwerke rechtswidrige Beiträge auf ihren Seiten innerhalb von sieben Tagen löschen, nachdem sie ihnen gemeldet wurden. Es sei denn, die Beiträge sind "offensichtlich rechtswidrig", dann muss das sogar innerhalb von 24 Stunden geschehen. Was unterscheidet diese Kategorien? Und wer trifft letztendlich die Entscheidung, was gelöscht wird und was nicht? Muss dieser Mensch juristisch qualifiziert sein? Muss das überhaupt ein Mensch sein?
Das Gesetz legt sich da nicht fest. Nur "wirksam und transparent" müsse das Verfahren sein, heißt es im Text. Das ist nicht nur unpräzise, sondern legt auch sehr viel Verantwortung in die Hände von Unternehmen, die sich bisher nicht gerade mit Transparenz einen Namen gemacht haben – oder damit, dass sie sich für konstruktive politische Auseinandersetzung interessieren.
Zu viel zu löschen ist für die Plattformen besser als zu wenig zu löschen
Die Netzwerke werden deswegen auch kein Problem damit haben, im Zweifel lieber zu viel zu löschen als zu wenig. Schließlich drohen ihnen hohe Geldbußen, wenn sie systematisch gegen das Gesetz verstoßen. Dass vor diesem Hintergrund auch Beiträge verschwinden können, die offensichtlich Satire waren, wie vom "Titanic"-Magazin oder von Komikerin Sophie Passmann, haben die ersten Tage unter dem NetzDG gezeigt.
Nun sind ein paar Witze, die auf Twitter nicht mehr zu lesen sind, noch nicht das Ende der Debattenkultur in Deutschland. Aber die Fehlschläge in der Regulierung durch das NetzDG sind Wasser auf die Mühlen derjenigen, die ohnehin nie wollten, dass Straftaten wie Volksverhetzung und Beleidigung online verfolgt werden. Die AfD redet von Zensur, die sozialen Netzwerke freuen sich über eine breite Opposition gegen ein Gesetz, das sie sowieso nie wollten. Und Bundesjustizminister Heiko Maas? Verteidigt sein Projekt und tut, als gäbe es die Probleme nicht, die die Kritiker ansprechen, vom Deutschen Journalisten-Verband bis zum Digital-Branchenverband Bitkom.
Ein Gesetz, das es de facto Konzernen überlässt, die Grenzen der Meinungsfreiheit zu definieren, ist ein schlechtes Gesetz – egal wie gut es gemeint war. Dabei brauchen wir dringend eine Lösung gegen den Hass und die Hetze, die sich online so viel schneller verbreiten als über klassische Medien. Doch mit dem NetzDG sind wir davon weiter entfernt als zuvor: Jede Debatte, die in Zukunft darüber geführt wird, welche Regeln im Netz für freie Rede gelten sollen, wird davon geprägt sein, wie unzulänglich dieser Versuch war. Dieser Schaden ist schwer wiedergutzumachen.
Wir können selber aktiv gegen Hass im Netz anschreiben
Und als wäre das alles nicht genug, sieht es aus, als würde das NetzDG nicht einmal seine ursprüngliche Aufgabe erfüllen. Das legt jedenfalls ein Test des Bayerischen Rundfunks nahe. Von der Redaktion gemeldete Kommentare wurden von Twitter gar nicht und von Facebook nur teilweise gelöscht, obwohl sie laut BR gewaltverherrlichende Inhalte zeigen, die nach deutschem Recht womöglich strafbar sind.
Bis es eine sinnvolle, funktionierende gesetzliche Regelung für den Umgang mit Hasskommentaren gibt, müssen Nutzer selbst aktiver werden. Denn dass Hasskommentare nicht verschwinden, nur weil man sich das wünscht, heißt nicht, dass man sie einfach aushalten muss. Wir können dagegen mit eigenen Kommentaren anschreiben, Menschenverachtung nicht einfach unwidersprochen stehen lassen und solidarisch sein mit Opfern von Hetzkampagnen. Wir können klarmachen, dass Hass nicht erwünscht ist – ob nun gerade noch von der Meinungsfreiheit gedeckt oder nicht. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-07T00:00:00 | 2018-03-16T00:00:00 | 2022-02-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/265196/nein-ein-gesetz-gegen-hass-im-netz-kann-nicht-helfen/ | Das NetzDG hat eine wichtige Aufgabe schlecht erledigt, entgegnet Theresa Martus. | [
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Vortrag: "Das sokratische Gespräch" | Fachtagung "Philosophie für Kinder und Jugendliche als Zukunftsaufgabe für die demokratische Gesellschaft" | bpb.de |
Prof. Dr. Dieter Birnbacher (© Ast/Jürgens)
Dieter Birnbacher stellte das sokratische Gespräch als praktische Methode zum Philosophieren mit Kindern vor. Dieser ‚Klassiker‘ der Philosophie fördere das eigenständige Nachdenken und Reflektieren. Als Mittel diene ihm die Provokation. Des Weiteren überprüfe das Gespräch Selbstverständlichkeiten, die aus dem Zeitgeist und den persönlichen Überzeugungen entstammen. Sokrates betont insbesondere den moralischen Aspekt der Philosophie: Seine Ethik ist bestimmt durch das Streben nach der Eudaimonia (Glückseligkeit). Diese ließe sich nur durch das ‚gute Leben‘ erreichen, welches durch Selbsterforschung und das Hinterfragen des eigenen Selbst geprägt sei. Offensichtlich steht diese Methodik in einer alten Tradition. Allerding wurde sie, im Verlauf der Zeit, von verschiedensten Pädagog/innen und Autor/innen weiterentwickelt. Doch trotz der dadurch entstandenen Diversität an Theorien, seien drei Gemeinsamkeiten zentral. Als erstes, nennt Birnbacher die Aufforderung des Gegenübers zur selbstständigen Beantwortung bzw. Bearbeitung von philosophischen Fragen, durch die eigene Anschauung. Zweitens stünden auch die Bemühungen, die zur Klärung von Gedanken und Fragen führen sollen, im Mittelpunkt. Als drittes führt er die Beschränkung der Aufgabe des Gesprächsleitenden auf die sog. Hebammenkunst an. Der durch Sokrates geprägte Begriff der Hebammenkunst beschreibt eine Tätigkeit, die Gedanken und Einsichten zur Geburt, als vorläufige Wahrheit, verhilft. Die Analogie erschließt sich in Gänze, wenn aufgezeigt wird, dass eine Geburt nicht ganz schmerzfrei, möglicherweise langwierig und mühsam ist, jedoch bei allen Beteiligten erhebliche Befriedigung über das Resultat auslöst. Die Besonderheit der sokratischen Methode liegt darin, dass sie vom Einzelnen ausgeht und sich nicht in Abstraktionen bewegt. Ziel ist es, das Allgemeine aus dem Einzelnen zu erschließen. Die Kunst daran sei, nicht Philosophie zu lehren, sondern Schüler/innen zu Philosoph/innen zu machen und sie das Philosophieren zu lehren. Vor allem die neo-sokratische Methode lege die Hebammenaufgabe nicht mehr alleine dem Lehrer, oder der Lehrerin, auf. Diese moderne Theorie sucht diese erforderliche Qualität bei jedem Einzelnen und bezieht sie auf alle. Das Gespräch ist also ein Polilog und kein Dialog. Diese Demokratisierung des sokratischen Gesprächs sei gegensätzlich zu Sokrates (wie Platon ihn schildert) zu verorten. Schließlich wird er in den platonischen Dialogen als jemand beschrieben, der Anderen über den Mund fährt und ohnehin alles ‚besser weiß‘. Im modernen sokratischen Gespräch allerdings, sollen alle gleichberechtigt sein und sich partnerschaftlich und kooperativ beteiligen. Der Gesprächsleitende hat dabei die Aufgabe, ein Gleichgewicht zwischen den Teilnehmenden herzustellen, also auch die Langsameren mitzunehmen und nicht zu verschrecken.
Prof. Dr. Dieter Birnbacher
Dieter Birnbacher, Prof. Dr. Dr. h. c., Studium der Philosophie, Anglistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Düsseldorf, Cambridge und Hamburg; Promotion 1973, Habilitation 1988. Von 1993 bis 1996 Professor für Philosophie an der Universität Dortmund, von 1996 bis 2012 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte Ethik, Angewandte Ethik, Anthropologie. Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, Vizepräsident der Schopenhauer-Gesellschaft e. V., Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e. V., Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina/Nationale Akademie der Wissenschaften. Buchveröffentlichungen: Die Logik der Kriterien. Analysen zur Spätphilosophie Wittgensteins. Hamburg 1974. Verantwortung für zukünftige Generationen. Stuttgart 1988 (frz. 1994, poln. 1999). Tun und Unterlassen. Stuttgart 1995 (Neuaufl. 2015). Analytische Einführung in die Ethik. Berlin 2003 (3. Aufl. 2013). Bioethik zwischen Natur und Interesse. Frankfurt am Main 2006. Natürlichkeit. Berlin 2006 (engl. 2014). Schopenhauer. Stuttgart 2009 (niederl. 2010). Negative Kausalität (zus. mit David Hommen). Berlin 2012.
Als letztes weist Birnbacher auf drei zentrale Regeln hin: Erstens die Nichtdirektivität der Gesprächsleitung: Die Leitung soll so wenig wie möglich eigene Impulse/Gedanken einbringen. Denn das Gespräch soll einen passenden (?) Rahmen bilden, sowie eine offene Atmosphäre schaffen, der die Gruppe ermuntern und anreizen soll, sich dem Thema mit der gebotenen Konsequenz zu widmen. Als zweite Regel nennt er die verbindliche Einführung der Praxis eines Meta-Gespräches: In diesem ‚Gespräch über das Gespräch‘ sollen zum Beispiel Verlauf und Gesprächsführung diskutiert sowie Kritik und Lösungsansätze formuliert werden. Drittens solle die Themenauswahl in der Gruppe geschehen und nicht vorgegeben werden. Denn dadurch würde eine emotionale/affektive Dynamik gefördert. In der Praxis werden Gespräche allerdings häufig mit Thema angekündigt. Darüber hinaus betonte er, dass für sokratische Gespräche außerhalb der Schule eine Mischung der Altersgruppen durchaus empfehlenswert sei, da so verschiedene Lebenserfahrungen vorliegen und das Gespräch bereichern. Diese Form des Gesprächs zeige auf, dass Philosophie lebendig sein könne und nichts von ‚Begriffsklauberei‘ an sich hätte. Lina Averhoff
Prof. Dr. Dieter Birnbacher (© Ast/Jürgens)
Dieter Birnbacher, Prof. Dr. Dr. h. c., Studium der Philosophie, Anglistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Düsseldorf, Cambridge und Hamburg; Promotion 1973, Habilitation 1988. Von 1993 bis 1996 Professor für Philosophie an der Universität Dortmund, von 1996 bis 2012 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte Ethik, Angewandte Ethik, Anthropologie. Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, Vizepräsident der Schopenhauer-Gesellschaft e. V., Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e. V., Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina/Nationale Akademie der Wissenschaften. Buchveröffentlichungen: Die Logik der Kriterien. Analysen zur Spätphilosophie Wittgensteins. Hamburg 1974. Verantwortung für zukünftige Generationen. Stuttgart 1988 (frz. 1994, poln. 1999). Tun und Unterlassen. Stuttgart 1995 (Neuaufl. 2015). Analytische Einführung in die Ethik. Berlin 2003 (3. Aufl. 2013). Bioethik zwischen Natur und Interesse. Frankfurt am Main 2006. Natürlichkeit. Berlin 2006 (engl. 2014). Schopenhauer. Stuttgart 2009 (niederl. 2010). Negative Kausalität (zus. mit David Hommen). Berlin 2012.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2016-11-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/237875/vortrag-das-sokratische-gespraech/ | [
"Vortrag:"
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Unterstützung mit geringer Wirkung | Haben die Corona-Soforthilfen gewirkt? | bpb.de |
Die Corona-Hilfsmaßnahmen im Überblick
Ausgangslage: Die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie stürzte die Wirtschaft in Deutschland und Europa im Frühjahr 2020 in eine tiefe Krise. Besonders von "Lockdowns" und anderen Gesetzen zur Eindämmung der Pandemie betroffen waren Selbständige, Kleinunternehmer und Kleinunternehmerinnen. Von ihnen gibt es über vier Millionen allein in Deutschland. Auswirkungen: Unternehmerinnen waren von den Auswirkungen der Corona-Pandemie häufiger betroffen als Unternehmer. Die Sorge um ihre Existenz belastete viele der Betroffenen, auch mit Anzeichen von Angst- und Depressionssymptomen. Hilfsmaßnahmen: Die Bundesregierung reagierte schnell mit Hilfsmaßnahmen, da die Schockwellen der Krise viele der betroffenen Unternehmen in den Ruin zu treiben drohten. Im Verlauf der Corona-Pandemie wurden immer wieder neue, Milliarden Euro schwere Hilfsprogramme aufgelegt. Dabei ging es auch um ordnungspolitische Fragen: So wollte die Bundesregierung bei der Gestaltung der Hilfen Mitnahmeeffekte vermeiden. Da die Krise nicht selbstgemacht war und auch gesunde Firmen in der Existenz bedrohte, ergaben die Hilfen aber auch aus wirtschaftspolitischer Sicht für die Bundesregierung Sinn. Bewertung: Kritiker bemängelten, dass der bürokratische Aufwand, um an die Gelder zu gelangen, immer höher wurde. Die Bundesregierung wollte mit den sich verändernden Bedingungen für die Gewährung der Hilfsleistungen auch sicherstellen, dass die Gelder zielgenau an die Bedürftigen verteilt werden – so wiederum die Befürworter. Erste Beobachtungen: Laut einer Untersuchung hat die Soforthilfe, die erste Hilfsmaßnahme der Bundesregierung, im Schnitt die Wahrscheinlichkeit, trotz Pandemie selbstständig zu bleiben, nur moderat um 6,5 Prozentpunkte erhöht. Allerdings scheinen die Hilfen insgesamt gewirkt zu haben: Im Jahr 2021 nahm die deutsche Wirtschaftsleistung wieder um 2,7 Prozent zu, nachdem sie im Jahr zuvor um 4,9 Prozent eingebrochen war.
Sie waren wohl so betroffen wie kaum eine andere Gruppe Erwerbstätiger: Der Schock infolge der Covid-19-Pandemie hat seit dem Jahr 2020 gleich in mehreren Wellen die vier Millionen Selbstständigen in Deutschland einschließlich der Inhaberinnen und Inhaber von kleinsten Unternehmen besonders stark in Mitleidenschaft gezogen. Mehr als die Hälfte aller Selbstständigen verzeichnete ab dem Frühjahr 2020 starke Umsatz- und Einkommensverluste. Frauen, die etwas mehr als ein Drittel aller Selbständigen ausmachen, traf es dabei mit 63 Prozent aller selbständigen Frauen weitaus häufiger als selbstständige Männer (47 Prozent): Sie sind häufiger in Branchen tätig, die besonders stark von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie betroffen waren. Auch die Psyche dieser Menschen wurde belastet: Entsprechend häuften sich unter den selbstständigen Frauen, vor allem bei denjenigen mit Mehrfachbelastungen wie Einkommensverlusten, "Home-Schooling" sowie "Home-Office" während der Pandemie Anzeichen von Angst- und Depressionssymptomen.
Ausgangslage: Die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie stürzte die Wirtschaft in Deutschland und Europa im Frühjahr 2020 in eine tiefe Krise. Besonders von "Lockdowns" und anderen Gesetzen zur Eindämmung der Pandemie betroffen waren Selbständige, Kleinunternehmer und Kleinunternehmerinnen. Von ihnen gibt es über vier Millionen allein in Deutschland. Auswirkungen: Unternehmerinnen waren von den Auswirkungen der Corona-Pandemie häufiger betroffen als Unternehmer. Die Sorge um ihre Existenz belastete viele der Betroffenen, auch mit Anzeichen von Angst- und Depressionssymptomen. Hilfsmaßnahmen: Die Bundesregierung reagierte schnell mit Hilfsmaßnahmen, da die Schockwellen der Krise viele der betroffenen Unternehmen in den Ruin zu treiben drohten. Im Verlauf der Corona-Pandemie wurden immer wieder neue, Milliarden Euro schwere Hilfsprogramme aufgelegt. Dabei ging es auch um ordnungspolitische Fragen: So wollte die Bundesregierung bei der Gestaltung der Hilfen Mitnahmeeffekte vermeiden. Da die Krise nicht selbstgemacht war und auch gesunde Firmen in der Existenz bedrohte, ergaben die Hilfen aber auch aus wirtschaftspolitischer Sicht für die Bundesregierung Sinn. Bewertung: Kritiker bemängelten, dass der bürokratische Aufwand, um an die Gelder zu gelangen, immer höher wurde. Die Bundesregierung wollte mit den sich verändernden Bedingungen für die Gewährung der Hilfsleistungen auch sicherstellen, dass die Gelder zielgenau an die Bedürftigen verteilt werden – so wiederum die Befürworter. Erste Beobachtungen: Laut einer Untersuchung hat die Soforthilfe, die erste Hilfsmaßnahme der Bundesregierung, im Schnitt die Wahrscheinlichkeit, trotz Pandemie selbstständig zu bleiben, nur moderat um 6,5 Prozentpunkte erhöht. Allerdings scheinen die Hilfen insgesamt gewirkt zu haben: Im Jahr 2021 nahm die deutsche Wirtschaftsleistung wieder um 2,7 Prozent zu, nachdem sie im Jahr zuvor um 4,9 Prozent eingebrochen war.
Aufgrund der Regulierung der Öffnungszeiten und der Abstandsregelungen konnten viele Betroffene ihre Unternehmungen nicht betreiben. Entsprechend bedrohten die vielfältigen Folgen der Pandemie ihre Existenzen. Während in dieser Situation die abhängig Beschäftigten durch das Kurzarbeitergeld vor größeren Einkommensverlusten geschützt waren, gab es für Selbstständige kein ähnliches Instrument, um diese existenziellen Bedrohungen abzufedern.
EU-Monitor COVID-19
Die Ausbreitung des Coronavirus und die damit verbundenen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben gravierende wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen. Das Statistische Bundesamt (Destatis) hat auf seiner Website umfangreiche interaktive Grafiken und Statistiken zu den Folgen der Pandemie in den EU-Staaten bereitgestellt. Der Externer Link: EU-Monitor COVID-19 verfolgt die Entwicklung in den EU-Staaten anhand ausgewählter Indikatoren wie Wirtschaftsleistung und -klima, Produktions-, Export- und Umsatzindizes oder Daten zum Arbeitsmarkt.
Zunehmende Hürden bei Überbrückungshilfen
Relativ rasch führte die Bundesregierung ad-hoc die sogenannte Soforthilfe ein: Ein erstes Programm hatte einen Umfang von bis zu 50 Milliarden Euro und das Ziel, Selbstständige und Kleinstunternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten mit Liquiditätszuschüssen zu unterstützen und so Engpässe einzudämmen. Im weiteren Verlauf der Pandemie wurden mit den Überbrückungshilfen I, II, III, III Plus und IV, den November- und Dezemberhilfen 2020 sowie verschiedenen Formen der "Neustarthilfen für Soloselbstständige" weitere Unterstützungsleistungen für diese Erwerbsform aufgelegt. Die einzelnen Hilfen unterschieden sich in mehrfacher Hinsicht voneinander. Während die Soforthilfe unkompliziert innerhalb weniger Tage bewilligt und ausgezahlt wurde, stiegen die Zugangshürden und der Aufwand zur Beantragung für die Überbrückungshilfen substanziell an. So musste eine Steuerberatung hinzugezogen werden, die Auszahlungen verzögerten sich zum Teil um mehrere Monate. Abhilfe für die teils monatelangen Wartezeiten sollten Abschlagszahlungen leisten. Darüber hinaus erlaubten diese Hilfen nur die Deckung fixer Betriebskosten wie Mieten oder Versicherungen. Selbstständige, die nur wenige fixe Betriebskosten hatten, profitierten kaum, selbst wenn sie hohe Verluste aushalten mussten. Zur Abdeckung ihrer Lebenshaltungskosten wurden sie zunächst auf die dafür weniger geeignete Grundsicherung verwiesen. Erst ab Anfang 2021 durften Selbständige die neu eingeführten "Neustarthilfen" in Höhe von bis zu 1.500 Euro pro Monat auch implizit zur Abdeckung ihres Lebensunterhalts nutzen. Ganz anders verliefen die Unterstützungsmaßnahmen für Kapitalgesellschaften wie das Luftfahrtunternehmen Lufthansa und den Reisekonzern TUI, die von der Pandemie stark betroffen waren. Dort stieg der Bund über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds direkt ein und stützte solche Konzerne durch Eigenkapitalbeteiligungen effektiv. Immerhin hatte der Bund hier aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, denn er erwarb Aktien zum Nennwert und veräußerte diese dann später für die Steuerzahlenden gewinnbringend zum Marktwert. Auch hier gilt es jedoch, für die Zukunft andere Maßstäbe an solche Hilfen anzulegen. Großkonzerne agieren im internationalen Kontext und sehen sich dem Wettbewerb unter anderem aus dem Raum der Europäischen Union (EU) ausgesetzt. Um zumindest innerhalb der EU wettbewerbsverzerrende Hilfen auszuschließen, wäre es besser gewesen, wenn solche Hilfen auf europäischer und nicht auf nationaler Ebene gewährt würden und alle Fluggesellschaften innerhalb der EU entsprechende Hilfen von der EU im Verhältnis zu ihrer Unternehmensgröße erhalten hätten. Fundierte Untersuchungen zur Wirkung der Soforthilfen fehlen
Bis heute fehlt es an einer fundierten Einschätzung, wie die Hilfsprogramme für Selbständige wirkten. In bislang einer Untersuchung wurde der Effekt des ersten Programms, der Soforthilfe, analysiert. Danach hat sie die subjektive Wahrscheinlichkeit, trotz Pandemie selbstständig zu bleiben, moderat um 6,5 Prozentpunkte erhöht. Eine höhere Wirkung von zehn Prozentpunkten fand sich in den stark von der Pandemie betroffenen Branchen wie Gastronomie und Beherbergung sowie in den Bereichen Kunst, Kultur und Erholung. In den weniger betroffenen Branchen war kein signifikanter Effekt festzustellen. In der seit Beginn der Pandemie öffentlich geführten Debatte über die Wirkung der Hilfen wurde auch die teils um Monate verzögerte Gewährung von Hilfen diskutiert. Vor diesem Hintergrund ging die Untersuchung der Frage nach, inwieweit die Wirksamkeit der Soforthilfe von der Geschwindigkeit der Auszahlungen abhing. Die Schätzungen verdeutlichen, dass nur bei rascher Gewährung innerhalb von fünf Tagen die Wahrscheinlichkeit, selbstständig zu bleiben, signifikant anstieg. Aus diesen ersten Erkenntnissen zu den Soforthilfen, insbesondere zur eingeschränkten Verwendbarkeit solcher Hilfen, der vielen Wechsel bei den Zugangsvoraussetzungen zu den Hilfen und der gleichzeitig beobachteten hohen psychischen Belastung bei Selbstständigen, lassen sich folgende sechs Schlüsse ableiten:
Verbindlichkeit. Bei jedem neuen Programm wurde nachjustiert, welche Zugangsvoraussetzungen gelten. Die damit verbundenen Unsicherheiten haben dazu geführt, dass viele Selbstständige die Hilfen nicht beantragt haben, obwohl sie mit diesen wahrscheinlich besser durch die Krise gekommen wären. Zahl der Hilfen. Während der Pandemie wurden über zehn verschiedene Hilfsinstrumente entwickelt. Das ist weit weniger verlässlich als eine eindeutig angelegte Unterstützung aus einem einzigen klar definierten Hilfsprogramm. Geschwindigkeit der Gewährung. Ein großer Vorteil der Soforthilfe gegenüber den späteren Maßnahmen war die rasche Gewährung innerhalb weniger Tage. Dies hat sich offensichtlich positiv auf das Überstehen der Krise ausgewirkt. Verwendbarkeit der Hilfen. Im Fokus der Diskussion stand während der gesamten Pandemie die Frage, inwieweit mit den Hilfen auch der Lebensunterhalt der Selbstständigen abgedeckt werden kann. Angesichts vieler Änderungen und der erst spät erfolgten Einführung einer entsprechenden Neustarthilfe wurde so bei den Selbstständigen viel Unsicherheit erzeugt. Umfang der Bürokratie. Ein Förderregime aufzubauen, das zunehmend bürokratischer wird, ist wenig hilfreich. Gleichzeitig sollten Institutionen mit solchen Hilfen betraut werden, die über die für die Vergabe notwendigen Informationen und Fertigkeiten verfügen. Bisher wurden die Hilfen über das Wirtschaftsministerium und vom Ministerium betraute Behörden abgewickelt, die dafür weder über eingespielte Abläufe oder Prozesse noch über eine geeignete Software verfügten. Um Betrug vorzubeugen, wurden zusätzlich Steuerberater zwischengeschaltet. Fortan waren sie das Nadelöhr bei der Antragstellung, kamen jedoch angesichts der sich häufig ändernden Regeln kaum hinterher. Gleichzeitig mussten die betroffenen Selbstständigen die Kosten für die Antragstellung vorschießen, die sie dann auch noch zusätzlich zu den entstandenen Verlusten selbst tragen mussten, wenn die Hilfen nicht gewährt wurden. Zielgruppen. Solche Hilfen sollten sich auf Branchen beschränken, die tatsächlich von den Folgen einer Krise wie der Pandemie getroffen werden. Es sollten folglich Schwellenwerte bei den Umsatzverlusten definiert werden, ab denen Hilfen greifen.
Vieles spräche also dafür, bei einer etwaigen Neuauflage solcher Programme für Selbstständige ein einziges fortlaufendes Hilfsinstrument zu entwickeln, das in Monaten mit großen Umsatzverlusten plan- und vorhersehbar, zielgenau und rasch finanzielle Unterstützung gewährt und das über die fixen Betriebskosten hinaus in begrenztem Umfang die Kosten des Lebensunterhalts deckt. Für eine solche Form der Unterstützung könnte der Bund dem Beispiel anderer Länder in Europa, etwa in Großbritannien, folgen und die Finanzämter monatlich anteilig die Umsatzverluste der Selbstständigen ersetzen lassen, die diese während der Pandemie erleiden. Die Finanzämter haben alle Informationen, um solche Hilfen zielgenau und weit weniger betrugsanfällig auszugeben. Hier liegen schließlich alle wichtigen Daten zu Umsatz, Mitarbeitern, fixen und variablen Kosten schon vor. Für die Zukunft wäre in jedem Fall ein verlässliches und in seinem Umfang vorhersehbares Programm für solche Notsituationen erstrebenswert. Dieses sollte nicht erst ad-hoc entwickelt werden müssen, sondern wie beim Kurzarbeitergeld als Hilfsinstrument bereits etabliert sein. Gleichzeitig wird es für Selbstständige zukünftig unerlässlich werden, sich selbst mehr mit der Resilienz ihrer Unternehmungen auseinanderzusetzen, um krisenfester zu werden.
Die Ausbreitung des Coronavirus und die damit verbundenen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben gravierende wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen. Das Statistische Bundesamt (Destatis) hat auf seiner Website umfangreiche interaktive Grafiken und Statistiken zu den Folgen der Pandemie in den EU-Staaten bereitgestellt. Der Externer Link: EU-Monitor COVID-19 verfolgt die Entwicklung in den EU-Staaten anhand ausgewählter Indikatoren wie Wirtschaftsleistung und -klima, Produktions-, Export- und Umsatzindizes oder Daten zum Arbeitsmarkt.
Kritikos, A.S., D. Graeber, J. Seebauer (2020): Corona-Pandemie wird zur Krise für Selbständige. In: DIW aktuell 47. Online unter: Externer Link: https://www.diw.de/de/diw_01.c.791714.de/publikationen/diw_aktuell/2020_0047/corona-pandemie_wird_zur_krise_fuer_selbstaendige.html (Stand: 17.10.2022)
Caliendo, M., Graeber, D., Kritikos, A.S., Seebauer, J. (2022b): Pandemic depression: Covid-19 and the mental health of the self-employed, IZA DP No. 15260. Online unter: Externer Link: https://docs.iza.org/dp15260.pdf (Stand: 17.10.2022)
Block, J., Kritikos, A.S., Priem, M., Stiel, C.: Emergency-aid for self-employed in the Covid-19 pandemic: A flash in the pan? In: Journal of Economic Psychology, Vol. 93, Dezember 2022, 102567. Online unter: Externer Link: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0167487022000782 (Stand: 17.10.2022)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-05-26T00:00:00 | 2022-10-12T00:00:00 | 2023-05-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/europa-wirtschaft/514245/unterstuetzung-mit-geringer-wirkung/ | Kaum eine Gruppe Erwerbstätiger bekam die Pandemie härter zu spüren als Selbstständige und Kleinunternehmer. Die Staatshilfen hätten ihnen nicht durchgängig geholfen, kritisiert Alexander S. Kritikos. | [
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"Corona-Hilfen",
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"Solo-Selbstständige",
"Corona-Pandemie",
"Überbrückungshilfen"
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Sportpolitik und Olympia | China | bpb.de | In diesem Olympiajahr ist ein uralter Streit in aller Schärfe neu entbrannt: Ist Sport politisch? Sport ist ein Feld kulturell-schöpferischen Handelns, ein enger Verwandter der Künste. Sportliches Handeln inszeniert dramatische Geschichten. In ihnen wirken in einem künstlich entfachten Streit mehrere Parteien, welche sich gegenseitig in ihrem Streben nach Selbstvervollkommnung benötigen, an der Hervorbringung von Sportereignissen als ästhetischen Werken zusammen. Olympische Spiele sind vor allem anderen ein globales Sportereignis, ein sportdominiertes Gesamtkunstwerk und als solches Teil des Weltkulturerbes. Bei einem solchen Blick auf den Eigensinn der Olympischen Spiele ist offensichtlich, dass ihre Sinnstruktur denkbar weit entfernt ist von der Sinnstruktur politischen Handelns.
Darüber hinaus ist der olympische Sport wie jede kulturell-schöpferische Tätigkeit hochgradig verletzlich und reagiert besonders empfindlich auf rücksichtslose Übergriffe politischer Mächte. Deshalb ist für die Sportorganisationen politische Zurückhaltung geboten, der Verzicht darauf, sich heroisch in eskalierende tagespolitische Getümmel zu stürzen, wie es manche gern sehen würden.
Wie weit dabei der autonome kulturelle Eigensinn des Sports respektiert, befolgt, gefördert, zumindest geduldet wird: Das ist die Messlatte zur Beurteilung jeglichen sportlichen, pädagogischen, ökonomischen oder politischen Handelns in diesem Sinnbezirk. Diese Befunde zusammengenommen ergeben die erste These: Der olympische Sport ist nicht politisch. Ist der olympische Sport politisch?
Die genannte These aber fordert direkt zum Widerspruch heraus. Die Tagespresse ist doch voll von Meldungen über sportpolitische Verwicklungen! Dazu eine kleine Auslese aus der stürmischen Geschichte der Sportpolitik: Als "Mutter" der politischen Instrumentalisierung gelten die Olympischen Spiele von Berlin 1936. NS-Deutschland nutzte sie als Ausrichter zum Aufbau potemkinscher Dörfer. Das Regime stand außenpolitisch bereits Gewehr bei Fuß zur Intervention in den Spanischen Bürgerkrieg. Es lockerte für das Intermezzo der Spiele seine innenpolitischen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Juden, die politische Opposition, die freie Presse. Dadurch konnte es den Boykott durch andere Länder und den Entzug des Ausrichtungsauftrags durch das Internationale Olympische Komitee (IOC) abwenden. Beides wäre begründet gewesen. Spätestens seit den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 verstieß Nazi-Deutschland gegen das Diskriminierungsverbot der olympischen Regeln. Sein Ausschluss aus der olympischen Bewegung wäre so zwingend gewesen wie später der von Südafrika wegen seiner Apartheidpolitik.
1952 in Helsinki nahm die Sowjetunion erstmals an Olympischen Spielen teil. Ihr Fernbleiben wie ihr Erscheinen waren primär nicht sportlich, sondern aus der Staatsräson motiviert. Das Land sah die Chance, dort die vermeintliche Überlegenheit im ideologischen Systemwettbewerb zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu demonstrieren. Dies führte zu einem sportlichen Wettrüsten, das den kulturellen Eigensinn des Sports überdehnte. Es mündete in sportwidrige Manipulationspraktiken wie in permanente politisch motivierte Boykottdrohungen gegen internationale Sportereignisse. Als gelehrige Schülerin folgte die DDR ihrer politischen Vormacht. Bis zu ihrer allgemeinen völkerrechtlichen Anerkennung durch die Aufnahme in die Vereinten Nationen nutzte die den Erfolg ihrer "Diplomaten im Trainingsanzug" zur Durchbrechung ihrer internationalen Isolation. 1968 in Mexico City erstmals mit einer eigenständigen Mannschaft vertreten, begann sie frühzeitig ein Regime systematischer sportsinnwidriger Leistungsmanipulation aufzubauen. Es machte sie zum weltweiten Vorreiter eines staatlich geleiteten Dopingsystems, und das bisherige Duell der sportlichen Weltmächte geriet zu einem Dreikampf. Die Anerkennungsfähigkeit von durchaus sportgerechten Innovationen des Sportfördersystems, welche die DDR in der Trainingsforschung, Trainerausbildung, Talentsuche und -förderung entwickelte, wurde dadurch überlagert und aufgehoben. Bei der Beurteilung des außerordentlichen Sporterfolges der DDR kann der Anteil dieser divergenten Faktoren nicht sauber voneinander getrennt werden, was nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 einen konstruktiv-vertrauensvollen Weg in die Integration der beiden Sportsysteme verhinderte.
Bei den Spielen von München 1972 nahm ein palästinensisches Terrorkommando die israelische Olympiamannschaft als Geisel, um vor der Weltöffentlichkeit auf das Schicksal der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten aufmerksam zu machen. Die Aktion endete in einem Blutbad. Diese Erfahrung zog ein gewaltiges Anwachsen des Sicherheitsaufwandes bei allen künftigen sportlichen Großereignissen nach sich - was nur schwer mit dem Klima friedlicher kultureller Begegnung vereinbar ist, von dem solche Ereignisse eigentlich geprägt sein sollten. 1980 zwang die US-Administration ihr eigenes Nationales Olympisches Komitee (NOK) sowie die Mehrheit seiner Partnerstaaten zu einem Boykott gegen die Olympischen Spiele von Moskau. Begründet wurde dieser mit der militärischen Intervention des Ausrichterlandes in Afghanistan. Die Antwort der sozialistischen Staatenwelt war ein Gegenboykott der Spiele von Los Angeles 1984. Einziger Effekt war jeweils die Opferung der olympischen Chancen einer ganzen Sportlergeneration.
Die Spiele von Athen 2004 waren der Musterfall für die allgegenwärtige Kluft zwischen olympiapolitischer Rhetorik und Praxis. Als Griechenland für die Ausrichtung der Jahrhundert-Spiele von 1996 Atlanta vorgezogen wurde, reagierte das Land beleidigt und beleidigend. Weil 1896 die ersten Spiele der Neuzeit in Athen stattgefunden hatten, sprach sich die Stadt ein natürliches Vorrecht auf die Ausrichtung der Jubiläumsspiele zu. Dem IOC wurde unterstellt, es habe sich dieses Jubiläum von einem in Atlanta residierenden Weltkonzern abkaufen und die Spiele zu "Coca-Cola-Spielen" verkommen lassen. Athen erhielt seine Chance 2004 - und hat sie nicht nutzen können. Griechenland reklamiert für sich, die kulturhistorische Geburtsstätte und damit zugleich der geborene Garant der olympischen Idee zu sein. Beide Ansprüche halten dem Realitätstest nicht stand.
Über ein Jahrtausend lang, von 776 v Chr. bis 393 n. Chr., fanden die antiken Spiele in Olympia statt. Das Ende wurde ihnen mit einem Edikt von Kaiser Theodosius durch das gerade christlich gewordene, hellenistisch geprägte spätantike Römische Reich bereitet. Also durch einen Staat, der politikgeschichtlich dem heutigen Griechenland näher stand als die griechische Welt der Hochantike. Als 1896 die ersten Spiele der Neuzeit in Athen stattfanden, hatte ihr Begründer Pierre de Coubertin sein Konzept des globalen Zugangs gegen griechischen Widerstand durchsetzen müssen. Griechenland selbst wollte an seiner Idee einer Wiederbelebung von panhellenischen Spielen festhalten. Die Spiele von Athen 2004 wurden nachhaltig überschattet durch Dopingskandale griechischer Athleten und durch befremdliche Reaktionen des griechischen Publikums auf entsprechende Sanktionen des IOC. Jetzt rächte sich, dass man den Sportstandort Griechenland durch jahrelange Nachlässigkeit zu einer der führenden Doping-Hochburgen hatte verkommen lassen. Dort war eine zentrale Botschaft offenbar noch immer nicht angekommen: Verantwortliche Sportpolitik geht nicht in der rhetorischen Beschwörung einer glorreichen Vergangenheit auf, sondern besteht in dem energischen praktischen Engagement für die Gewährleistung eines sinngerechten Sports.
Im laufenden Olympiajahr schließlich hat eine tibetische Protestbewegung die bevorstehenden Spiele von Peking zum Anlass genommen, gegen die Minderheitenpolitik des Ausrichterlandes zu demonstrieren. Die drakonischen Reaktionen der chinesischen Regierung führten zu einer Solidarisierungswelle mit der tibetischen Opposition, die sich in einigen westlichen Ländern in Aktionen gegen den olympischen Fackellauf entlud. In allen Fällen wurden Sportereignisse ohne Rücksicht auf deren autonomen kulturellen Eigensinn zur Durchsetzung allgemeinpolitischer Ziele instrumentalisiert. Diese waren oder sind zwar heterogen und je für sich unterschiedlich legitim. Aber unabhängig davon waren oder sind sie wegen der sportwidrigen Instrumentalisierung des Sportanlasses durchweg verwerflich. Boykotte sind nicht deshalb abzulehnen, weil sie faktisch meist wirkungslos, sondern weil sie prinzipiell als politisches Mittel illegitim sind (es sei denn für die Selbstverteidigung des olympischen Regelwerks). Zusammengenommen, ergeben diese Befunde die zweite These: Der olympische Sport ist politisch. Aber in zahlreichen Fällen in einer illegitimen Weise.
Auch das ist noch nicht das letzte Wort. Denn es wird häufig übersehen, dass sich hier verschiedene Politikkonzepte gegenüberstehen. In den Beispielfällen ging es um politische Stellvertreterkriege bei großen Sportereignissen. Daneben aber gibt es politisches Handeln für den Sport. Schon die Gründung und Stabilisierung der olympischen Bewegung durch de Coubertin seit 1894 erforderte ein hohes Maß an politischer Kunst, die sich bisweilen mit Machiavelli'scher Verschlagenheit, bisweilen mit Schwejk'scher Listigkeit mischte, da die internationale Lage alles andere als günstig war. Nationalistische Hysterie und imperialistische Konkurrenz der Großmächte, am Horizont bereits die Vorzeichen des Ersten Weltkrieges, erschwerten Interesse und Respekt für diese zunächst nur spleenig erscheinende olympische Idee. Zur Gewährleistung ihrer politischen Autonomie gründete de Coubertin als institutionellen Träger sein Internationales Olympisches Komitee, ähnlich wie Henri Dunant das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, auf der Selbstrekrutierung durch ein Kooptationsprinzip. Dies hat zwar seit jeher Anstoß bei den Verfechtern der reinen Demokratielehre hervorgerufen und zahlreiche Korruptionsanfechtungen bei IOC-Mitgliedern zugelassen. Gleichwohl hat es sich letztlich als das kleinere Übel gegenüber einem Delegationsprinzip erwiesen, nach dem jedes Mitgliedsland seine Vertreter in das IOC entsendet, aber so deren olympisches Mandat leicht mit allgemeinpolitischen Interessen kontaminiert.
Politisches Handeln, das auf die praktische Umsetzung des olympischen Eigensinns gerichtet ist, blieb maßgebliche Voraussetzung der weiteren Entwicklung. Dies gilt sowohl für die "innere Diplomatie" zur Durchsetzung von weltweit geltenden Regelwerken in der olympischen Bewegung als auch für die "äußere Diplomatie" zur Schaffung der politisch-rechtlich-ökonomischen Voraussetzungen für eine nachhaltige Gewährleistung der Olympischen Spiele. Zu den sinngerechten politischen Maßnahmen können hier durchaus auch Ausschluss und Boykott gehören. Nämlich dann, wenn Mitwirkende oder Ausrichter der Spiele fundamental gegen das geltende olympische Regelwerk verstoßen und wenn nur durch solche Sanktionen als sportpolitische Ultima Ratio die Geltung dieses Regelwerkes garantiert werden kann. Die dritte These lautet daher: Der olympische Sport ist politisch. Vielfach in einer legitimen, für die Unabhängigkeit, Gestaltung und Zukunftsfähigkeit der olympischen Bewegung unverzichtbaren Weise. Fünf Ebenen, auf denen Olympische Spiele politisch werden
Es wurde gezeigt, dass die Olympischen Spiele von Beginn an im Fokus der Politik standen. "Die Politik" ist dabei ein Sammelbegriff für unterschiedlichste Arten von politischer Intervention einschließlich deren unterschiedlicher Legtimität. Die gängigen, vermeintlich gegensätzlichen Redensarten "Sport ist politisch" und "Man soll Sport und Politik nicht miteinander vermischen" verwischen diese Unterschiede bis zur Unkenntlichkeit und sind gleichermaßen irreführend. Die maßgeblich beteiligten Ebenen sind nachfolgend aufgeführt.
Erste Ebene: Olympische Spiele sind im Kern ein Sportereignis. Sportliches Handeln ist im Kern kulturelles und nicht direkt politisches Handeln. Es kann durch politische Interventionen in seinen kulturellen Zielen gefördert oder beeinträchtigt werden.
Zweite Ebene: Das IOC trägt gemeinsam mit den Weltfachverbänden und den verschiedenen NOKs sowie dem Organisationskomitee der jeweiligen Ausrichterstadt insoweit politische Verantwortung für das sinngerechte Gelingen der Olympischen Spiele, als es über das dort geltende Regelwerk entscheidet und mit diplomatischen Mitteln unter Einsatz seiner symbolischen Macht die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen zu gewährleisten versucht.
Dritte Ebene: Maßgeblicher Mitakteur der jeweiligen Ausrichterstadt von Olympischen Spielen ist der Staat, dem sie zugehört. Diese Staaten verbinden mit dem Ausrichtungsrecht eigene, ihrer Staatsräson folgende politische Ziele, die mehr oder weniger verträglich sein können mit den Zielen der ersten beiden Ebenen.
Vierte Ebene: Die Olympischen Spiele als eines der größten globalen Kulturereignisse haben von Beginn an die Aufmerksamkeit unterschiedlichster politischer Akteure auf sich gezogen und deren Interesse geweckt, die Spiele in den Dienst eigener außerolympischer politischer Ziele zu stellen. Diese waren selten problemlos mit den olympiaeigenen Zielen vereinbar. Sie haben oft durch den rücksichtslosen Einsatz ihrer Machtmittel die olympische Bewegung in existentielle Krisen gestürzt.
Fünfte Ebene: Sportliches Handeln als kultureller Kern des olympischen Geschehens wird in der Wissenschaft bisweilen als Modell politisch-strategischen Handelns interpretiert. Beispiel für eine beliebte, aber abwegige Methode: Man nimmt einzelne Strukturelemente, die den olympischen Sport mit anderen Sinnfeldern verbinden, und erklärt ihn damit zum idealtypischen Modell für wirtschaftlichen Wettbewerb, moralpädagogische Persönlichkeitsbildung, politische und militärische Strategien, in letzter Abstraktion zur "Mimesis der Gesellschaft". Dabei wird übersehen, dass das Unterscheidende wichtiger ist als die Gemeinsamkeiten. Diese Analogisierungsmethode führt zu dem beliebten Muster "Alles hängt mit allem zusammen", mit dem aber keine gehaltvollen Sinnunterscheidungen zu treffen sind. Plädoyer für eine Umkehrung der Blickrichtung
In der bisherigen Argumentation steckt implizit ein Plädoyer dafür, die herkömmliche Blickrichtung auf olympiapolitische Probleme umzukehren. Um zu gehaltvollen Einsichten zu kommen, kann die leitende Frage nicht lauten: Wer hatte was mit welchen Zielen mit Olympia vor? Sie muss vielmehr lauten: Was war in Entscheidungssituationen politisch geboten, um das Kulturereignis Olympische Spiele aktuell und dauerhaft sinngerecht gelingen zu lassen? Und was stand dagegen?
Dass diese Blickrichtung sich bisher nicht durchsetzen konnte, lag keineswegs nur daran, dass die Spiele notorisch von außen politisch instrumentalisiert wurden. Die oft irreführende Selbstbeschreibung der olympischen Idee durch ihre eigenen institutionellen Träger hat vielmehr wesentlich dazu beigetragen. Die IOC-Entscheidung für den Olympiaausrichter Peking stand folglich von vornherein in einer selbstverschuldeten Glaubwürdigkeitsfalle. Selbstverschuldet insoweit, als Sportorganisationen seit jeher ihre Ereignisse mit einer ungenauen, überschießenden Rhetorik begründen. Sie erwecken bzw. verstärken dann im konkreten Einzelfall den Eindruck, sie pickten sich aus ihrem buntgemischten rhetorischen Arsenal jeweils opportunistisch dasjenige Argument heraus, welches gerade am besten passt, um dahinterliegende, weniger hehre Motive verbergen zu können. Wichtiges Instrument in diesem Arsenal ist ein undurchsichtiges Spiel mit zwei schon diskutierten Topoi. Entweder: Der Sport lebe nicht auf der Insel der Seligen, er könne sich folglich der Politik nicht entziehen. Oder: Er sei untauglich als Knüppel der Politik und dürfe sich daher nicht mit ihr vermengen. Beide sind zwar irgendwie richtig. Sie sind aber solange untauglich zur überzeugenden Begründung einer sportpolitischen Entscheidung, wie sie nicht präzisiert sind.
Weiterhin wiegt schwer, dass die Sportorganisationen für sich selbst scheinbar unkontroverse allgemeine politische Ziele reklamieren. Dieses "Mehr" aber ist die Lebenslüge der olympischen Bewegung. Es hat ihr zwar jahrzehntelang Pluspunkte bei den kulturellen Eliten eingetragen, die mit "Nur-Sport" nichts anfangen konnten. Aber dieser vermeintliche Mehrwert muss nun, wie jede unseriöse Spekulation, teuer bezahlt werden. So wurde die olympische Idee zum Füllhorn leerer Versprechungen. Es wird jeweils herausgestellt bzw. unter Verschluss gehalten, was gerade passend bzw. unpassend erscheint. Die Institutionen der olympischen Bewegung haben versäumt, rechtzeitig argumentative Daseinsvorsorge zu treffen. Deshalb leben sie in der Begründung ihres Handelns stets von der Hand in den Mund. Die problematischen Seiten des olympiapolitischen Prozesses ergeben sich folglich aus einer Doppelbewegung: politische Instrumentalisierungs- und Übermächtigungsversuche von außerolympischen Mächten bei gleichzeitiger politischer Selbstüberhebung der olympischen Institutionen durch diese selbst.
Der Vorwurf der selbstverschuldeten Glaubwürdigkeitslücke soll an einem Beispiel veranschaulicht werden: Seit jeher wird behauptet, die Olympischen Spiele leisteten substantielle Beiträge zur globalen Friedensförderung durch und über das sportliche Ereignis selbst hinaus. Der damit erhobene Anspruch wird durch jeden ernsthaften Realitätstest widerlegt. Olympische Friedenspolitik über den Schutz des eigenen Ereignisses hinaus ist nach außen hin ein leeres Versprechen. Und zwar nicht als irgendeine Art von Politikversagen. Es kann gar nicht anders sein. Schon bei den internationalen Friedensmissionen der Vereinten Nationen wird zu Recht davor gewarnt, zu viel von zu geringen Mitteln zu erwarten. Der unbeirrbare Glaube an diesen Fetisch beruht auf einem Fehlverständnis der Reichweite der eigenen politischen Handlungsmacht. Der Nimbus von Olympia wurde zwar ursprünglich, und zwar bereits bei den antiken Spielen, in ähnlicher Weise gestiftet wie jener der Kaaba in Mekka: Es wurde zu einem Sakrileg erklärt, den Frieden an diesem heiligen Ort zu brechen. Der olympische Friede, das heißt der Schutz des Ereignisses selbst, war für dessen Dauerhaftigkeit lebenswichtig in einer antiken griechischen Welt, in der die poleis in permanenter selbstzerstörerischer Fehde miteinander lagen. Diese Friedenspflicht am heiligen, heute am profan-kulturellen Ort aber wird überdehnt, ja sogar direkt gefährdet, wenn sie zu einer globalen Friedensmission umgedeutet und ausgeweitet wird.
Die olympische Bewegung ist daher viel weniger Erzeuger als Nutznießer der friedenspolitischen Vorleistungen, die andere Mächte erbringen. Die aktuelle vorolympische Krise zeigt gerade wieder, dass das IOC aus eigener Kraft nicht einmal Frieden im Ausrichterland sowie während des weltweiten olympischen Fackellaufes, also im unmittelbaren Umfeld der Spiele verbürgen kann. Die olympische Friedensrhetorik war zwar am Beginn durch das aufrichtige idealistische Pathos des Gründungsvaters de Coubertin getragen. Aber sie konnte nie konstituierendes Element einer wohlbegründeten olympischen Idee sein.
Doch die Folgerungen aus dieser These zeigen in eine andere Richtung, als man vermuten könnte. Die Tatsache, dass im Olympiajahr ein zum Teil blutiger innenpolitischer Konflikt um Tibet aufgebrochen ist, disqualifiziert die Volksrepublik China noch keineswegs automatisch als Ausrichterland der Spiele. Der Zuschlag für die Ausrichtung wäre völlig missverstanden als Belohnung für politische Mustergültigkeit. Denn ein solches Verständnis würde den Kreis der potentiellen Olympiakandidaten auf eine weltweit winzig kleine Minderheit von politisch gänzlich unbescholtenen und wirtschaftlich hinreichend potenten Staaten einschränken. Ausrichtungsentscheidungen sind vielmehr grundsätzlich Ausdruck eines Kernelements der olympischen Idee: ihre Spiele weltweit wandern und Fuß fassen zu lassen. Freilich innerhalb von politisch-rechtlichen sowie organisatorisch-sicherheitsmäßigen Mindeststandards, welche der Ausrichter zu gewährleisten hat. Aber eben auch nicht mehr als das. Andernfalls würden die Spiele erpressbar durch jede Art von Demagogie, welche das Ereignis für beliebige außersportliche Zwecke als Geisel nehmen möchte. Solche Zwecke mögen für sich genommen legitim sein oder nicht: Olympische Legitimität könnten sie keinesfalls für sich reklamieren. Aber sie könnten jedes olympische Ereignis und damit die Kontinuität des olympischen Geschehens insgesamt paralysieren.
Militärisch ausgedrückt, hat es die olympische Bewegung bis heute versäumt, mit konsistenten Begründungen die weit vorgeschobenen Stellungen zurückzunehmen. Die Argumentation gegen die Boykottrufe des Frühjahrs 2008 klang deshalb so sehr nach verlegener Ausrede, weil eine Frontbegradigung nun eben "im Feuer" der Kritik und nicht in souveräner Vorausschau erfolgte und somit eher einem Rückzugsgefecht glich. Der Sport muss sich keineswegs mehr durch Moralpredigten von innen und außen in eine rhetorische Überdehnung seiner tatsächlichen Wirkungspotentiale drängen lassen. Er ist, systemtheoretisch gesprochen, aus guten Gründen spezialisiert auf die kulturell-ästhetische Funktion, für die er gesellschaftlich ausdifferenziert ist. Es führt zu einer prinzipiellen Fremd- wie Selbstüberforderung, "nebenbei" Funktionen des politischen Systems miterfüllen zu wollen. Gelänge es, bedeutete das nicht mehr und nicht weniger als eine Bankrotterklärung des gewaltigen institutionellen Apparats des globalen politischen Systems. Denn dieses vermag ja trotz gewaltigen Aufwands oft nur minimale Erfolge zu erzielen. Die aktuelle Kritik am IOC wegen dessen Haltung zur Tibet-Frage verwechselt einmal mehr Politik mit einem spontanen Erweckungserlebnis. Politik muss in einem langwierigen Transformationsprozess versuchen, Bedingungen in die erwünschte Richtung zu ändern. Ein Erweckungserlebnis hofft auf die plötzliche Verwandlung eines moralisch verwerflichen Zustandes in einen moralischen. Und dieses Wunder soll ausgerechnet durch eine machtarme Organisation vollbracht werden, welcher plötzlich übermächtige Kräfte wachsen sollen!
Hinter dieser Art von IOC-Kritik steht also ein gleichermaßen einfältiges Sport- wie Politikbild: Der Sport wird als allmächtige Wunscherfüllungsmaschine imaginiert, die Politik als Zauberkunststück. Das bislang dominierende Verständnis von "olympischer Außenpolitik" ist idyllisch und romantisch und pickt sich nur die Rosinen aus dem Kuchen. Es verkündet von den Höhen des Olymp aus diffuse Verheißungen: globalen Frieden, soziale Egalität, physische Gesundheit, moralische Vervollkommnung. Aber es meidet die Mühen der Ebene, der politischen Kärrnerarbeit. Diese aber müsste sich anschließen und könnte erst dadurch jene hehren Ziele praktisch beglaubigen. Weder Sport noch Politik bieten einen solchen Ort des Idylls, in welchem sich alles von selbst zum Besseren wendet. Sie sind vielmehr Orte des harten und beharrlichen Ringens um tragfähige Konfliktlösungen und Orte der Gestaltung einer menschengerechten Zukunft. "Das IOC hätte ...", so war in der Krise des Frühjahrs 2008 ständig zu hören. Dabei wird leicht übersehen, dass es über keinerlei wirksames Instrumentarium zur Umsetzung, ja auch nur zur Beurteilung und Entscheidung dessen, was allgemeinpolitisch richtig ist, verfügt. Und es könnte bei zu weiter Auslegung seines "außenpolitischen" Handlungsspielraums schnell an seine "innenpolitischen" Grenzen stoßen. Denn es müsste beim Olympiaausrichter politische Gegebenheiten attackieren, welche auch bei zahlreichen anderen Mitgliedern der olympischen Bewegung gang und gäbe und durch die olympische Charta gar nicht ausgeschlossen sind. Das IOC könnte also allenfalls durch Willkürentscheidung und Druck kurzfristige potemkinsche Effekte zu erzwingen versuchen. Wer aber will ein solches unwürdiges Spiel nach Berlin 1936 bei heutigen und künftigen Spielen wiederholt sehen? Gesellschaftliche Mitverantwortung der olympischen Bewegung
Seine gesellschaftliche Mitverantwortung und die für ihn tatsächlich leistbare begrenzte politische Aufgabe übernimmt der Sport vor allem dadurch, dass er sein eigenes Feld sinngerecht und kompetent gestaltet und gegen Gefährdungen von innen und außen verteidigt. Die Generallinie kann künftig nur lauten: An die Begründung und die Durchsetzung der olympischen Ziele nach innen die höchsten Ansprüche stellen und die hergebrachten anmaßenden Ansprüche nach außen auf das Maß des gut Begründbaren zurücknehmen. Andernfalls - und die jüngsten Ereignisse lehren dies erneut - kehren die überzogenen Versprechungen umgehend als implizite oder explizite Forderung zurück: Man möge doch gleich das ganze olympische Projekt abblasen, wenn man denn jene Versprechungen oder Erwartungen auf allgemeine Weltverbesserung nicht einlösen könne. Ein solches destruktives Echo ebenso wie sein hypertrophes Gegenbild eines angeblich allkompetenten Sports verkörpern die zwei Seiten derselben Medaille eines Kulturbanausentums: Werden die Ziele des Projekts zu weit hochgeschraubt, muss ihr Verfehlen im Umkehrschluss ein Aufgeben des Projekts zur Folge haben. Die Welt ist stets in irgendeiner ihrer Regionen unfriedlich. Kulturereignisse wie die Olympischen Spiele können dies nicht verhindern. Sie sind aber auch gar nicht darauf angewiesen, dass zuvor aller globaler Unfriede beigelegt ist. Im Gegenteil: Sie dürfen sich überhaupt nicht von diesen Bedingungen abhängig machen. Andernfalls würden sie aufgrund von deren Unerfüllbarkeit ihr eigenes Ende besiegeln.
In olympiapolitischen Fragen, sollen sie wohlbegründete Antworten in Theorie und Praxis finden, muss sich alles um diese Kernfrage drehen: Der zentrale Sinnimperativ des Sports lautet "to play the game and to play it well". Bedeutet dies aber, dass allgemeinmoralische Grundsätze hier strikter oder weniger strikt einzufordern sind, als in der Sphäre des allgemeinen Rechts und der Allgemeinpolitik? Es gilt, Prinzipien und Kriterien der Urteilsbildung herauszuarbeiten, anhand derer die "Olympiatauglichkeit" eines Ausrichterlandes bewertet werden kann. Man muss ferner nach begründeten Antworten auf die folgende Frage suchen: Kann und muss das IOC als Veranstalter aufgrund der in seiner Charta kodifizierten Normen und Regeln einem Ausrichterland bestimmte Höchststandards der politischen Kultur abverlangen? Oder kann es sich einerseits auf die Mindestanforderungen organisatorisch-administrative Effizienz, Verlässlichkeit, Sicherheit, hinreichende Umweltqualität am Olympiaort und Vorreiterrolle der Olympiamannschaft des Ausrichters im Anti-Doping-Kampf sowie andererseits auf die allgemeine Anerkennung des Ausrichterlandes durch die Staatengemeinschaft beschränken? Die innere Logik der olympischen Idee weist eher in Richtung der zweiten Variante: Für das politische Umfeld von Olympischen Spielen gelten gegenüber den Prinzipien einer elaborierten Staatsphilosophie und Demokratietheorie - so erstrebenswert diese allgemeinpolitisch selbstverständlich sind - nicht höhere, sondern niedrigere Mindeststandards der dort herrschenden politisch-rechtlichen Kultur. Diese Beurteilung mag weder den Kritikern noch den Apologeten des olympischen Projekts sympathisch oder auch nur einleuchtend erscheinen. Aber die verbreitete gegenteilige Auffassung geht auf ein irrtümliches hypermoralisches Bild von Sport zurück. Ein solches ist nicht nur realitätsfremd, insofern es täglich tausendfach Lügen gestraft wird - es ist vor allem schlecht begründet.
Denn das IOC als institutioneller Hauptträger der olympischen Idee folgt - wie übrigens ähnlich auch die Vereinten Nationen und das Internationale Rote Kreuz - einem Primat der Universalität vor der politischen Moralität. Sprich: Die Universalität seines Sachprojekts Olympische Spiele steht vor der Moralität innenpolitischer Systemverhältnisse seiner Mitglieder. Die praktischen Konsequenzen dieser Prioritätensetzung mögen zwar zynisch anmuten. Aber diese internationalen Akteure haben sich mit gleichwohl guten Gründen für dieses Primat entschieden: Um sachlich begrenzte partikulare Projekte - Ernährungsprogramme, Flüchtlingshilfe, Verwundetenhilfe auf Schlachtfeldern, ein Weltsportereignis - weltweit tatsächlich und verlässlich verwirklichen zu können, müssen sie an den meisten darüber hinausgehenden politischen Streitfragen vorsätzlich vorbeisehen. Aus weiser Selbstbeschränkung hat das IOC keine normierenden Aussagen über innenpolitische Systemverhältnisse innerhalb der Mitgliedsstaaten der olympischen Bewegung in seine Charta aufgenommen.
Olympiapolitischer Opportunismus besteht folglich nicht etwa darin, dass das IOC sich nicht zu kritischen Äußerungen vor mächtigen Thronen traut. Er bestünde vielmehr gerade darin, dass es sich durch eine bestimmte weltöffentliche Stimmung zu solchen kritischen Äußerungen drängen ließe, obwohl es zu ihnen durch seine Satzung und das Mandat seiner Mitglieder nicht ermächtigt ist. Es legitimiert damit nicht automatisch undemokratische politische Systeme. Es verhält sich vielmehr neutral dazu. Das IOC muss seinem Ziel, der olympischen Idee weltweit Geltung zu verschaffen, Vorrang einräumen, um es nicht zu verfehlen. Anders als in der Hochzeit der antiolympischen Boykottbewegungen von 1976 bis 1984 scheinen im Jahr 2008 alle staatlichen und olympischen Verantwortungsträger einig, die Spiele nicht durch außerolympische politische Forderungen infrage stellen zu lassen. Aus Sicht der olympischen Idee ist dies als Fortschritt zu werten.
Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (Interner Link: APuZ 29-30/2008) | Article | Sven Güldenpfennig | 2022-02-08T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2022-02-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/asien/china/44328/sportpolitik-und-olympia/ | Sport ist ein Feld kulturell-schöpferischen Handelns, ein enger Verwandter der Künste. Sportliches Handeln inszeniert dramatische Geschichten. Gerade deshalb ist für die Sportorganisationen politische Zurückhaltung geboten, der Verzicht darauf, sich | [
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Mit dem Stift gegen den Krieg | Presse | bpb.de | Am Freitag, den 11. Dezember 2015, um 19 Uhr eröffnete im Medienzentrum der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Bonn die Ausstellung "Karikaturen aus Syrien – Zeichnungen von Hussam Sara". Die Zeichnungen des syrischen Karikaturisten Hussam Sara berichten von der politischen Situation in seinem Heimatland, vom Krieg, der Unterdrückung durch den syrischen Diktator Bashir al-Assad und von der syrischen Zivilbevölkerung, die zwischen die Fronten gerät und fliehen muss.
In der ersten Präsentation seiner Werke in Deutschland zeigt Sara 16 aktuelle Karikaturen sowie eine Auswahl früherer Arbeiten. Nach einer Begrüßung durch Daniel Kraft, Leiter Stabsstelle Kommunikation der bpb und einem kurzen Überblick über die aktuelle politische Situation in Syrien von Abbas Al-Khashali, Redakteur der arabischen Redaktion der Deutschen Welle, führte Hussam Sara die rund 50 Besucher durch die Ausstellung. Für Daniel Kraft sind Hussam Saras in Karikaturen gefassten Ansichten der Blickwinkel des Betroffenen: "Verdichtet zu Bildern, bei denen einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Sie erzählen von den politischen Zuständen in Syrien, vom Krieg, der immer die Falschen trifft, von der Zivilbevölkerung, die zwischen die Fronten der Konfliktparteien gerät und immer wieder von Bashir al-Assad, seiner Grausamkeit und seinem Machterhaltungstrieb auf Kosten der Bevölkerung."
Musikalisch begleitet wurde das Programm von dem syrischen Sänger und Oud-Spieler Khater Dawa. Der Musiker flüchtete zu Beginn des Konflikts in Syrien 2011 über Ägypten nach Deutschland. In seinen Liedern verarbeitet er die Veränderungen in der arabischen Welt und seine Hoffnung auf eine friedliche Lösung.
Der 1973 in Syrien geborene Hussam Sara begann seine Laufbahn als Karikaturist vor 25 Jahren. Er studierte am "Adham Ismail Institut" für Bildende Kunst in Damaskus und arbeitete seitdem für zahlreiche syrische und arabische Tageszeitungen als freischaffender Karikaturist. 2002 wird er in Damaskus inhaftiert, geht dann nach Bahrain, wo er bei der bei der Tageszeitung "Al-Waqt" arbeitet. Nachdem er auch dort bedroht und angegriffen wurde, weil er den syrischen Präsidenten Bashir al-Assad in Karikaturen dargestellt hatte, floh er über die Türkei nach Deutschland. Seit 2014 lebt er in der Nähe von Frankfurt im Exil. Über seine Arbeit sagt er: "Wer kein Risiko eingehen will, sollte kein Cartoonist werden. Cartoonisten stehen ganz vorne in der Front gegen Diktatoren."
Die Ausstellung „Karikaturen aus Syrien – Zeichnungen von Hussam Sara“ ist noch bis zum 11. Februar 2016 montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr in der Adenauerallee 86 in Bonn zu sehen. Zwischen den Feiertagen (28. bis 30.12.2015) ist die Ausstellung jeweils von 9 bis 16 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Nähere Informationen zur Ausstellung unter: www.bpb.de/karikaturen-aus-syrien
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Die Natur kehrt zurück | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de | Friedlich grast an diesem frühen Sommermorgen die Herde Wildpferde auf dem rauen, von vielen Trampelpfaden durchzogenem Terrain. Fohlen ruhen ausgestreckt auf der würzig riechenden Wiese, Stuten rupfen Gräser, der Leithengst nimmt ein Sandbad. Ausgiebig rollt er seinen wohlgenährten, kräftigen Körper hin und her. Anschließend schüttelt er den Staub energisch aus der langen, zottigen Mähne. Sechs junge Hengste weiden abseits der Herde, der Leithengst hat sie aus dem Familienverband verdrängt. Und er behält seine Konkurrenten im Blick. Den Stuten des Harems dürfen sie nicht zu nahe kommen.
Das Terrain der Wildpferde ist eine raue Landschaft entlang der Waal, dem Hauptarm des Rheins in den Niederlanden. Weiden krallen sich an den hohen Ufern fest, der Boden ist uneben mit Senken und Tümpeln, das Gestrüpp aus Weißdorn und Brombeeren ist undurchdringlich. In der Ferne begrenzt der massive Deich der Waal dieses Stück Wildnis. Die Wildpferde stehen in einem Blütenmeer aus Sonnengelb und Weiß, in dem sattgrünen Futter der Aue, die in der Millingerwaard das Ufer der Waal säumt.
Ehemalige Industrielandschaft
Wo heute Wildpferde herumstreifen, waren früher landwirtschaftlich genutzte Flächen und eine Backsteinfabrik. Der verbliebene Schornstein des Brennofens am Horizont erinnert noch an die Phase intensiver Nutzung des Schwemmlandes. Aus diesem Gebiet hinter dem Deich haben sich die Niederländer seit 1995 weitestgehend zurückgezogen. Sie gaben dem Fluss Schwemmland zurück. Und schauen seither zu, was geschieht, wenn die Natur zu Werke geht und ein großer Strom seine Ufer wieder selber gestaltet.
Wer durch die 700 Hektar große Milllingerwaard streift, 400 davon sind Grasland, und einem der unzähligen Trampelpfade oder den markierten Wanderwegen folgt, bewegt sich durch eine Landschaft mit kleinen Mosaiken aus Auenwald, Busch, Grasland, Tümpeln und Seen. Und sieht, was ein Fluss herstellt in 16 Jahren.
Wie Perlen aufgezogen liegen heute im Osten der Niederlande solche kleinen Areale Wildnis, so genannte "neue Natur" wie in der Millingerwaard, entlang der Flüsse Waal und Nederrijn. Dort, wo der Rhein ins Land strömt, gleich hinter der deutsch-niederländischen Grenze, und sich bald teilt in Waal, Nederrijn und IJssel, in der Region Nijmegen und Arnhem. "Gelderse Poort" nennt sich das Renaturierungsprojekt. 3.000 Hektar neue Natur sollen es werden bis zum Jahr 2015. 11.000 Hektar Naturraum gehören insgesamt dazu in den Niederlanden. Auf deutscher Seite bei Kleve und Emmerich gehören 10.000 Hektar dazu, in denen Landwirtschaft und Naturschutz kombiniert werden.
Pferde als Rasenmäher
Gerrit van Scherrenburg ist Ranger im Gebiet. Er erklärt, warum die Wildpferde in der neuen Natur ausgesetzt wurden. "Die Pferde sind zusammen mit einer Rinderherde die Rasenmäher in der Gelderse Poort", erzählt Van Scherrenburg. "Die beiden Herden sorgen dafür, dass die Landschaft offen bleibt. Etwa 300 Tiere bevölkern die Gelderse Poort." Damit das Schwemmland nicht verbuscht, hat man Konik-Pferde aus Polen geholt. Die Rasse gleicht dem Tarpan, dem ausgestorbenen europäischen Wildpferd. Die kleinen Pferde mit dem mattgrauen, bisweilen auch dunkelbraunen Fell sind robust und zäh. Sie können Hungerperioden und kalte Winter überstehen. Weil die Tiere außerdem gute Schwimmer sind, eignen sie sich gut für die Flusslandschaft mit den regelmäßig wiederkehrenden Hochwassern. Außerdem sind Konik-Pferde autark. "Die Wildpferde und die schottischen Hochlandrinder, die hier laufen, sorgen weitestgehend für sich selbst. Nur wenn es notwendig ist, beispielsweise, bei Hochwasser, wenn die Tiere auf einer Insel im Fluss stehen, füttern wir Heu", sagt Gerrit van Scherrenburg.
Vision von "lebendigen Flüssen“
Dem großen Strom Rhein wieder mehr Raum zu geben und Schwemmland zu renaturieren, ist eine Kehrtwende. Die Vorgeschichte: Durch intensive Nutzen des Schwemmlandes, wie Tonabbau, waren die Flussauen stark zerstört und für die Flussanrainer unattraktiv geworden. Auch war das Wasser des Rheins bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Interner Link: stark verschmutzt. Die Menschen hatten den Flüssen den Rücken zugekehrt. Weil es mit dem Flussmanagement so nicht weitergehen sollte, begann die Renaturierung in der Gelderse Poort 1992 mit einem Pilotprojekt in der Stadt Arnhem. Dort zog man sich aus der Aue Meinerswijk zurück, ein 70 Hektar großes und durch den Betrieb einer Backsteinfabrik verwüstetes Areal. Die Natur konnte ans Werk gehen.
Dann lösten verheerende Rhein-Hochwasser in den Jahren 1993 und 1995 einen Notstand aus an Waal, Nederrijn und IJssel. 200.000 Menschen und Millionen Tiere mussten evakuiert werden. Die Maas, die in Frankreich entspringt und südlich der Waal fließt, verließ 1993 ihr Bett. Sie überschwemmte riesige Flächen in den Provinzen Limburg und Gelderland. Einmal mehr hatte das Wasser die Niederländer daran erinnert, dass große Teile der Landesfläche in dem künstlich trocken gehaltenen Delta großer Ströme liegen.
Den Hochwassern sei mit höheren Deichen allein nicht beizukommen, lautete die Analyse. Diese Einsicht paarte sich mit der Vision von "neuer Natur" und "lebendigen Flüssen“, die Naturschützer bereits in einem Plan "Ooievaar" ausgearbeitet hatten. Diese Pläne für Renaturierung wurden bereits seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt, weil die Flüsse verschmutzt und unattraktiv waren. Nach den beiden Jahrhunderthochwassern wurden die Deiche erneut ausgebaut; gleichzeitig sollten Waal und Nederrijn wieder Land gewinnen mit ursprünglicher Flussnatur und wertvollem Strömungsraum bei Hochwasser.
Die Natur hat sich den Rhein in den Niederlanden zurückgeholt (© Gunda Schwantje)
Wie sich die "neue Natur" in der Gelderse Poort entwickelt hat, ist dokumentiert in einem Film des World Wide Fund For Nature (WWF), den Besucher des Naturgebiets im Informationszentrum in Millingen aan de Rijn anschauen können. Hier erfährt man, dass zunächst die Lehmschicht, die der Rhein herangeschwemmt und abgelagert hat, bis auf den Sand abgegraben wird. Dabei kommt das Relief aus Wasserrinnen und Inseln zum Vorschein. Auf dem Pionierboden Sand bildet sich bereits im ersten Jahr ein Pflanzensee mit 200 Sorten und viele Brennesseln und Disteln. Der Fluss bringt die Samen mit, legt Bäume an, Auenwälder wachsen. Auch der Wind ist beteiligt, er verweht den Sand der breiten, langen Sandstrände am Flussufer zu Dünen. In der Millingerwaard sind diese Flussdünen bis zu zehn Meter hoch. Und bei den periodischen Hochwassern wütet der Strom in seinen Auen. Spült Sand weg, nimmt Bäume mit, jagt die Tiere auf, die am Fluss leben. Manche kommen um. Durch die Dynamik des Stroms ist mit den Jahren wieder eine abwechslungsreiche und robuste Flusslandschaft entstanden.
Positive Bilanz
"Wir wussten nicht, was geschehen würde, als wir mit dem Projekt begannen. Heute können wir feststellen, es ist ein Erfolg", sagt Ranger Van Scherrenburg. "Seltene Pflanzen sind in die Auen zurückgekehrt, beispielsweise der Ehrenpreis, die kleine Wiesenraute, die blaue Ochsenzunge." Pflanzen, Vögel, Fische, Frösche, Schmetterlinge, Insekten siedelten sich an, von denen manche seit Jahrzehnten nicht mehr gesichtet wurden. Insbesondere eine große Vielfalt an Wasser-, Wald- und Wiesenvögeln sind nun in der Gelderse Poort heimisch. Wer in dieser neuen Wildnis herumstreunt, hat die Chance Trauerseeschwalben, Blaukehlchen, Schilfrohrsänger, Rohrdommeln, Löffler, Silberreiher, den Wachtelkönig anzutreffen. Jüngst wurden schwarze Störche in der Millingerwaard gesichtet.
Auch der Biber ist zurück in den Niederlanden. Dabei hat der Mensch tatkräftig Schützenhilfe geleistet. Die putzigen Nager tummeln sich nun wieder in den Flüssen und Gewässern. In der Millingerwaard stößt man beim Streifzug auf ihre Spuren: auf abgenagte Weiden, die in einen See gesunken sind. Bei Kerkerdom ist vom Deich aus eine Biberburg zu sehen. Wer die scheuen Holzfäller beobachten will, muss Glück und Geduld haben und wissen, in welchem Domizil aus aufgeschichteten Ästen und Zweigen sie gerade wohnen. Dass Biber wieder am Fluss leben, freut Gerrit van Scherrenburg besonders. "Wie viele Biber mittlerweile in der Gelderse Poort leben, wissen wir nicht genau. So an die Hundert", vermutet er. Die emsigen Nager mit dem wertvollen Pelz waren Ende des 19. Jahrhunderts in den Niederlanden ausgerottet. Genau wie in vielen anderen Ländern Europas. An der Elbe, im Osten Deutschlands, hatte eine kleine Population den Raubzug des Menschen überlebt. Von dort kommen die Biber, die in der neuen Natur, in den flachen Seen, an den Ufern mit Wildwuchs, in den jungen Weidenwäldern und dem rauen Grasland ein prima Biotop vorgefunden haben. "Inzwischen sind unsere Biber auch weitergewandert", weiß der Ranger, "den Nederrijn und die IJssel hoch."
Erholungsraum Fluss
Die erfolgreiche Naturentwicklung und die verbesserte Wasserqualität hat die Flüsse für die Menschen wieder attraktiv gemacht. Die Gelderse Poort ist ein Publikumsmagnet. "Besucher können frei herumstreifen", so der Ranger. "So können sie die lebendige Flussnatur unmittelbar erleben und haben Freude daran. Dadurch, dass die Auen immer wieder überflutet sind, ist die Landschaft sehr dynamisch, ist sie permanent in Bewegung.“ Das zieht viele Besucher an. 600.000 kommen inzwischen pro Jahr in die Gelderse Poort. Damit ist Renaturierung nicht nur ökologisch interessant, sondern auch wirtschaftlich. Gastronomie hat sich angesiedelt in den umliegenden Orten. Landwirte betreiben Naturcampings und bieten Bed & Breakfast an. "So haben die Landwirte auch was davon", sagt Gerrit van Scherrenburg. Schließlich hätten sie für die Gelderse Poort fruchtbares Land abgegeben.
Insgesamt sieht die Planung "Raum für die Flüsse" vor, den Flüssen Waal, Nederrijn und IJssel im Rhein-Delta an mehr als 30 Stellen mehr Raum zu geben. Es werden Rinnen gegraben, Hindernisse beseitigt, Deiche zurückverlegt und mancherorts Menschen umgesiedelt. So sollen die etwa vier Millionen Niederländer, die an den Flüssen leben, sicherer sein hinter den Deichen.
In die Herde Wildpferde ist inzwischen Bewegung gekommen. Zwei Hengste messen ihre Kräfte. Sie haben sich auf die Hinterbeine gestellt und wirbeln mit den Vorderhufen. Die Herde zieht weiter übers Grasland, in Richtung natürlicher Tränke, zum Fluss. Am gegenüberliegenden Ufer sind die Wildpferde, die in der kleinen Wildnis Klompenwaard laufen, am Strand zu sehen.
Wie so oft ist auf der Waal reger Betrieb. Kähne pflügen sich durchs Wasser, manchmal mehrere nebeneinander, als seien sie auf einer vierspurigen Autobahn unterwegs. Die kleine Fähre, die seit acht Jahren in der warmen Jahreszeit in Betrieb ist, setzt Radfahrer und Fußgänger über. Der alte Fährmann schippert erfahren zwischen den großen Booten über den breiten Strom. Ein Trampelpfad verliert sich schließlich am Strand eines Sees. Silberreiher staksen am Ufer. Eine Idylle, die Ruhe nahelegt. Aber vom Fluss her erklingt leise der tiefe Brummton der Dieselmotoren.
Die Natur hat sich den Rhein in den Niederlanden zurückgeholt (© Gunda Schwantje)
| Article | Gunda Schwantje (D) | 2021-12-13T00:00:00 | 2012-05-11T00:00:00 | 2021-12-13T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/135704/die-natur-kehrt-zurueck/ | Der Rhein in den Niederlanden war lange Zeit von der Industrie geprägt. Doch seit 1995 können Waal und Nederrijn bei Nijmegen und Arnhem wieder die Ufer überschwemmen. Nicht nur die Wildnis kehrt seitdem wieder zurück. Die "neue Natur" entwickelt sic | [
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"Journalisten müssen wie Dirigenten sein" | Presse | bpb.de | Professionell, topaktuell, unterhaltsam, zuverlässig – und das auf allen Kanälen. Die Tageszeitung kann nur überleben, wenn sie sich wandelt, wenn sie die Herausforderungen einer multimedialen Welt annimmt. Beim 16. Forum Lokaljournalismus diskutierten rund 160 Chefredakteure und leitende Redakteure deutscher Lokal- und Regionalzeitungen in Konstanz über die Journalisten der Zukunft, Anforderungen an die Tageszeitung von morgen und erfolgreiche Geschäftsmodelle in der crossmedialen Welt. "Lesen, hören, sehen – Die Zukunft des Lokaljournalismus ist crossmedial" lautete der Titel des Branchentreffens, das von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Kooperation mit dem SÜDKURIER ausgerichtet wird. "Informationsmonopole fallen, Menschen publizieren im Internet, wollen nicht länger nur Konsumenten sein", sagte Thomas Krüger, Präsident der bpb. "Das bedeutet für Tageszeitungen, dass die Bürger eine höhere Qualität einfordern werden, sie erwarten von professionellen Journalisten professionelle Informationen." "Der Journalist der Zukunft muss wie ein Dirigent sein. Er kennt die Verarbeitungsschritte und instruiert die Kollegen", sagte Medienberater Steffen Büffel beim Forum Lokaljournalismus. Er postuliert ein Umdenken in den Zeitungsredaktionen: "Es darf keine Anfeindungen zwischen Print und Online geben. In Zukunft muss es Standard sein, dass jeder sich mit der Netzkultur auskennt. In den Köpfen muss sich einiges grundlegend ändern." Thomas Satinsky, Chefredakteur des SÜDKURIER Medienhauses, forderte Leidenschaft ein: "Wir brauchen professionelle Journalisten, die neugierig und kommunikationsfreudig sind, die recherchieren können, die ihren Lesern täglich eine zuverlässige Überraschung liefern. Dabei müssen wir auf jeden Fall multimedial denken lernen und ein breites crossmediales Angebot bieten." Das Forum Lokaljournalismus ist das Netzwerktreffen für Redakteure lokaler und regionaler Tageszeitungen im Rahmen des Lokaljournalisten-Programms der bpb. Einmal im Jahr lädt die bpb in Zusammenarbeit mit dem "Projektteam Lokaljournalisten" interessierte Redakteure ein, um über lokaljournalistische Themen und Umsetzungsstrategien zu diskutieren. Weitere Informationen unter Externer Link: www.bpb.de/veranstaltungen Die Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (81 KB) Weitere Informationen
Bundeszentrale für politische Bildung Berthold L. Flöper Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-558 Fax +49 (0)228 99515-498 E-Mail Link: Berthold.Floeper@bpb.bund.de Interner Link: www.bpb.de/lokaljournalistenprogramm Pressekontakt
Bundeszentrale für politische Bildung Raul Gersson Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-284 Fax +49 (0)228 99515-293 presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50461/journalisten-muessen-wie-dirigenten-sein/ | Rund 160 Chefredakteure und leitende Redakteure deutscher Lokal- und Regionalzeitungen diskutierten über die Journalisten und die Tageszeitung der Zukunft sowie über erfolgreiche Geschäftsmodelle in der crossmedialen Welt. | [
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Migrationspolitik – September 2021 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de |
Interner Link: Zahl der Asylanträge im September auf Jahreshöchstwert
Interner Link: Nach der Wahl: Mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund im neuen Bundestag
Interner Link: Zahl der Abschiebungen gestiegen
Interner Link: EU-Parlament beschließt Reform der Blauen Karte EU
Interner Link: Flüchtlinge sterben in Grenzregion zwischen Polen und Belarus
Interner Link: Vereinigtes Königreich will Flüchtlingsboote im Ärmelkanal abweisen
Interner Link: Neues Flüchtlingslager auf Samos eröffnet
Interner Link: Humanitäre Krise an der Grenze zwischen Mexiko und den USA
Interner Link: Was vom Monat übrig blieb...
Zahl der Asylanträge im September auf Jahreshöchstwert
Im September sind beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mehr Interner Link: Asylanträge eingereicht worden Externer Link: als in jedem anderen Monat seit Jahresbeginn. Das BAMF nahm im September 18.206 Asylanträge entgegen, davon waren 13.849 Erstanträge und 4.357 Folgeanträge. Insgesamt wurden in Deutschland seit Januar 131.732 Asylanträge gestellt (100.278 Erstanträge und 31.454 Folgeanträge). Damit ist die Zahl der Asylanträge gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 52,9 Prozent gestiegen (Jan.-Sept. 2020: 86.158 Asylanträge). Interner Link: Syrien führt weiterhin die Liste der Hauptherkunftsländer Asylantragstellender an (55.358), gefolgt von Interner Link: Afghanistan (18.644) und Interner Link: Irak (9.428). Insgesamt entschied das BAMF in den ersten neun Monaten des Jahres über 113.223 Asylanträge. In 43.857 Fällen wurde ein Interner Link: Schutzstatus gewährt. Damit belief sich die Gesamtschutzquote auf 38,7 Prozent und lag 3,1 Prozentpunkte niedriger als im Vorjahreszeitraum.
Nach der Wahl: Mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund im neuen Bundestag
Am 26. September war Interner Link: Bundestagswahl. Während die Parteien noch mit Sondierungsgesprächen zur Regierungsbildung befasst sind, steht schon jetzt fest, dass im 20. Bundestag acht verschiedene Parteien vertreten sein werden. Die Zusammensetzung wird jünger, (etwas) weiblicher und diverser sein als in der 19. Legislaturperiode. Mindestens Externer Link: 83 der künftig insgesamt 735 Bundestagsabgeordneten haben einen Interner Link: Migrationshintergrund, d.h. sie selbst oder mindestens ein Elternteil wurde nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren. Damit ist der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund im Bundestag seit 2013 von 5,9 auf 11,3 Prozent gestiegen. Gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung (Externer Link: 26,7 Prozent) sind Menschen mit Migrationshintergrund im Parlament unterrepräsentiert. Bundestagsabgeordnete können nur volljährige deutsche Staatsangehörige werden. Von den 21,9 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund wären theoretisch 7,9 Millionen (36 Prozent) dazu berechtigt gewesen. Diese 7,9 Millionen Wahlberechtigten wiederum entsprechen 13 Prozent der insgesamt 59,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland.
Zahl der Abschiebungen gestiegen
Nach einem coronabedingten Rückgang ist die Zahl der Interner Link: Abschiebungen im ersten Halbjahr 2021 wieder gestiegen. Das geht aus einer Externer Link: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag hervor. Demnach wurden in den ersten sechs Monaten des Jahres 5.688 Menschen aus Deutschland abgeschoben, im selben Zeitraum im Jahr 2020 waren es 4.616 Menschen (erstes Halbjahr 2019: 11.496). Die meisten Menschen wurden 2021 nach Georgien (541), Albanien (456), Serbien (300) und Pakistan (241) abgeschoben. 140 Menschen wurden im ersten Halbjahr nach Afghanistan zurückgeführt. Unter allen Abgeschobenen waren 760 weibliche Personen und 904 Minderjährige. Die meisten Menschen wurden über den Luftweg abgeschoben (4.889), größtenteils von den Flughäfen Frankfurt am Main (1.546) und Düsseldorf (1.165). 1.171 Personen wurden im Rahmen der Interner Link: Dublin-III-Verordnung von Deutschland aus in ein anderes europäisches Land überstellt; die meisten nach Frankreich (216), Schweden (169) und in die Niederlande (168). Darüber hinaus nahmen in den ersten sechs Monaten des Jahres 3.079 Personen die geförderte Ausreise über das Programm Externer Link: REAG/GARP in Anspruch, um Interner Link: freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückzukehren.
EU-Parlament beschließt Reform der Blauen Karte EU
Das EU-Parlament hat eine Reform der 2009 verabschiedeten Richtlinie zur Migration von Hochqualifizierten Externer Link: beschlossen. Dadurch sollen die Hürden für die Zuwanderung weiter gesenkt werden. Mussten hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Nicht-EU-Ausland bislang einen Arbeitsvertrag von mindestens einem Jahr Laufzeit vorweisen, reicht zukünftig eine Vertragslaufzeit von sechs Monaten aus, um eine Interner Link: Blaue Karte (EU Blue Card) zu erhalten, die zum Aufenthalt in einem EU-Mitgliedsland berechtigt. Darüber hinaus wird das für die Zuwanderung vorausgesetzte Mindestgehalt abgesenkt. Zukünftig besteht zudem das Recht, nach einem Jahr Aufenthalt in dem EU-Land, in dem die Blaue Karte beantragt wurde, in ein anderes EU-Mitgliedsland umzuziehen. Familienangehörige sind hier inbegriffen. Schließlich ermöglicht die Reform es Flüchtlingen und Asylsuchenden, eine Blaue Karte nicht nur in dem EU-Land zu beantragen, in dem sie derzeit leben, sondern auch in jedem anderen Mitgliedsland. Auf die Reform hatten sich Parlament und Mitgliedstaaten bereits im Interner Link: Mai geeinigt. Der Rat hat der Reform Anfang Oktober Externer Link: zugestimmt. Die EU-Staaten haben nun zwei Jahre Zeit, um die neuen Regelungen in nationales Recht zu übertragen.
Seit der Einführung der Blauen Karte EU in Deutschland im Jahr 2012 ist die Zahl der Hochqualifizierten aus Drittstaaten, die diesen Aufenthaltstitel beantragen, kontinuierlich gestiegen. Während 2013 insgesamt 4.651 Blaue Karten ausgestellt wurden, waren es 2019 schon 13.137. Insgesamt hielten sich Ende 2019 61.710 Personen mit diesem Aufenthaltstitel in Deutschland auf.
Flüchtlinge sterben in Grenzregion zwischen Polen und Belarus
Im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus sind in den vergangenen Wochen mehrere Geflüchtete aus Kriegs- und Krisenregionen ums Leben gekommen. Weitere harren bei Kälte im Grenzgebiet aus, polnische Grenzschützer blockieren ihre Weiterreise. Die EU-Staaten Polen, Litauen und Lettland werfen dem belarusischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, in organisierter Form Schutzsuchende an ihre Grenzen zu bringen, um die EU unter Druck zu setzen. Diese hatte nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl 2020 Sanktionen gegen Belarus verhängt. Aufgrund der zunehmenden Anzahl Schutzsuchender auf seinem Staatsgebiet, hatte Polen im Interner Link: August in einem drei Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zu Belarus den Ausnahmezustand verhängt, mit dem Bau eines Grenzzauns begonnen und Sicherheitskräfte von Militär, Grenzschutz und Polizei ins Grenzgebiet verlegt. Journalist:innen und Mitarbeitende von Hilfsorganisationen haben keinen Zutritt zum Sperrgebiet. Externer Link: Staatssekretär Maciej Wąsik zufolge seien zwischen Anfang August und Mitte September 5.760 versuchte illegale Grenzübertritte registriert worden, vor allem von Menschen aus Irak, Syrien und Afghanistan. 1.481 illegal nach Polen eingereiste Personen seien seit Jahresbeginn festgenommen worden. Ein Rückübernahmeabkommen mit Belarus erlaube es, diese Menschen zurück in Polens Nachbarland zu bringen. Zivilgesellschaftliche Organisationen warnen unterdessen wegen der sinkenden Temperaturen vor einer humanitären Krise im Grenzgebiet. Sie werfen der polnischen Regierung vor, Schutzsuchende daran zu hindern, Asylanträge zu stellen, und damit gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Das polnische Parlament stimmte derweil Ende September einer Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere 60 Tage zu.
Vereinigtes Königreich will Flüchtlingsboote im Ärmelkanal abweisen
Immer mehr Schutzsuchende gelangen über den Ärmelkanal aufs britische Festland. Seit Jahresbeginn sind Berichten britischer Medien zufolge mehr als 16.000 Menschen über den Ärmelkanal aufs britische Festland gelangt – fast doppelt so viele wie im gesamten Vorjahr, als rund Externer Link: 8.500 Menschen auf diesem Weg illegal ins Vereinigte Königreich einreisten. Die britische Innenministerin Priti Patel bereitet daher eine Strategie vor, um Boote mit Migrant:innen und Asylsuchenden an Bord umgehend nach Frankreich zurückschicken zu können. Ihr französischer Amtskollege Gérald Darmanin kritisierte den Vorstoß, der Plan verstoße gegen internationales Seerecht; auf See habe der Schutz von Menschenleben Vorrang vor migrationspolitischen Überlegungen. Der Ärmelkanal ist eine der am meisten befahrenen Schiffsrouten der Welt – ein Grund, warum die Überfahrt in kleinen Booten so gefährlich ist. Bereits seit Herbst 2019 existiert zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich ein Abkommen zur Sicherung der Grenzregion. Es sieht auch vor, dass die britische Regierung die französische Grenzschutzpolizei finanziell unterstützt. Im Interner Link: Juli 2021 hatte die britische Regierung Frankreich 54,2 Millionen britische Pfund (umgerechnet ca. 63 Millionen Euro) in Aussicht gestellt, wenn das Land seine Anstrengungen verstärke, die Migration über den Ärmelkanal zu unterbinden. Da das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen hat, kann es sich nicht mehr auf die Dublin-Verordnung berufen, um ankommende Asylsuchende nach Frankreich oder in andere EU-Staaten abzuschieben. Rücknahmen müssen daher individuell mit den Regierungen dieser Staaten ausgehandelt werden.
Neues Flüchtlingslager auf Samos eröffnet
Auf der Insel Samos hat Griechenlands Regierung ein neues Flüchtlingslager eröffnet. In diesem sogenannten "geschlossenen Zentrum mit kontrolliertem Ausgang" sollen 3.000 Menschen untergebracht werden. Sie dürfen griechischen Medien zufolge das mit Stacheldraht umzäunte Lager nur zwischen 8 und 20 Uhr verlassen. Das gilt allerdings nur für jene, deren Asylgesuch nicht abgelehnt wurde. Das Lager dient als Pilotprojekt für geplante Flüchtlingslager auf den anderen griechischen Inseln in der Ägäis: Leros, Lesbos, Kos und Chios. Die EU hat sich mit 276 Millionen Euro am Bau der Anlage beteiligt. Menschenrechtsgruppen kritisieren die geschlossenen Einrichtungen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen Externer Link: erklärte, dass sie ihren Patient:innen nur noch helfen könne, das Camp zu überleben. Die griechische Regierung wies die Kritik ab: Das neue Lager verfüge über eine bessere Ausstattung, etwa fließendes Wasser, Toiletten und separate Bereiche für Familien. Die Zahl der auf den Inseln lebenden Schutzsuchenden sei zudem deutlich zurückgegangen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) lebten im August 2021 rund 6.650 Flüchtlinge und Asylsuchende auf den ägäischen Inseln. Ein Jahr zuvor waren es Externer Link: 27.600. Der Rückgang ist einerseits auf Umsiedlungen auf das griechische Festland und andererseits auf eine sinkende Zahl an Neuankünften zurückzuführen. Gelangten 2019 Externer Link: 59.726 Menschen über den Seeweg nach Griechenland, so waren es ein Jahr später 9.714. Seit Jahresbeginn sind mehr als 2.000 Ankünfte über den Seeweg registriert worden (Stand: 03. Oktober 2021). Griechenland hat schärfere Kontrollen an seinen Seegrenzen eingeführt. Gleichzeitig steht der Grenzschutz wegen völkerrechtswidriger Zurückweisungen von Asylsuchenden (sogenannte Interner Link: Pushbacks) in der Kritik. Die griechische Regierung bestreitet die Vorwürfe.
In Deutschland kommen derweil immer mehr Menschen an, die häufig bereits in Griechenland als Flüchtlinge anerkannt wurden (sogenannte Sekundärmigration). Medienberichten zufolge waren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Ende August 27.500 Asylanträge von Personen anhängig, denen möglicherweise bereits in Griechenland ein Schutzstatus zuerkannt worden war. Seit Dezember 2019 werden diese Fälle allerdings nicht bearbeitet. Mehrere Oberverwaltungsgerichte haben Rückführungen nach Griechenland Interner Link: untersagt, da Geflüchtete dort ihre elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") nicht befriedigen könnten.
Humanitäre Krise an der Grenze zwischen Mexiko und den USA
14.000 bis 15.000 Migrant:innen – überwiegend aus Haiti – kampierten laut Medienberichten im September unter einer Brücke an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Viele von ihnen sollen infolge des verheerenden Erdbebens 2010 aus Haiti geflüchtet sein und seitdem in Ländern Mittel- und Südamerikas gelebt haben. Die US-Regierung kündigte schnelle Abschiebungen an und hat bereits mehrere tausend Menschen per Flugzeug nach Haiti zurückgebracht. Dies wird ermöglicht durch eine Bestimmung, die Ex-Präsident Donald Trump zu Beginn der Corona-Pandemie eingeführt hatte. Sie erlaubt es den Grenzbehörden, Migrant:innen und Asylsuchende mit Hinweis auf den Gesundheitsschutz abzuweisen. Der nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 eingesetzte Sondergesandte der US-Regierung für Haiti, Daniel Foote, trat aus Protest gegen die "inhumanen Abschiebungen" aus den USA von seinem Amt zurück. Haiti habe nicht die Ressourcen, um die Grundversorgung und den Schutz der Geflüchteten sicherzustellen. Das Land befindet sich seit Jahren in einer Interner Link: tiefen Krise aus politischer Instabilität, Armut, Gewalt und Naturkatastrophen. Erst im August hatte es erneut ein schweres Erdbeben gegeben, bei dem mehr als 2.000 Menschen ihr Leben verloren hatten und 30.000 Familien obdachlos geworden waren.
Die Situation an der Südgrenze der USA setzt die Biden-Administration unter Druck. In den ersten acht Monaten des Jahres 2021 hat die US-Grenzpolizei Customs and Border Protection (CBP) rund 1.3 Millionen Menschen Externer Link: aufgegriffen, die die Grenze unerlaubt passiert hatten. Im Vorjahreszeitraum waren es rund 272.000. Empörung lösten Bilder berittener US-Grenzpolizisten aus, die zeigen, wie Menschen aus Haiti im Grenzgebiet gewaltsam zusammengetrieben werden. Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas kündigte eine Untersuchung an. Unterdessen erklärte US-Präsident Joe Biden, die Obergrenze für die Aufnahme von Resettlement-Flüchtlingen im kommenden Jahr von 62.500 auf 125.000 anheben zu wollen. Sein Amtsvorgänger Donald Trump hatte die jährliche Obergrenze zur Flüchtlingsaufnahme auf 15.000 abgesenkt.
Was vom Monat übrig blieb...
Mehr als 700 Migrant:innen sind Ende September in einer einzigen Nacht auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa angekommen. Sie waren von der libyschen Küste gestartet. Nach Externer Link: Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit Jahresbeginn rund 39.900 Menschen über das zentrale Mittelmeer irregulär nach Europa gelangt. Mehr als 1.100 Menschen kamen bei dem Versuch der Überfahrt ums Leben oder werden seither vermisst (Stand: 15.10.2021).
Die EU-Kommission hat einen erneuerten Externer Link: Aktionsplan gegen den Schmuggel von Migrantinnen und Migranten für den Zeitraum 2021-2025 vorgelegt. Er baut auf den Maßnahmen auf, die die EU im Rahmen des Aktionsplans 2015-2020 gegen Schleuseraktivitäten ins Leben gerufen hat, und soll die Umsetzung des im Interner Link: September 2020 vorgeschlagenen Neuen Migrations- und Asylpakets flankieren. Neben einer verstärkten Zusammenarbeit mit Partnerländern sieht der Plan unter anderem eine bessere Koordination der Strafverfolgungs- und Justizbehörden sowie den Ausbau von Kenntnissen über Schleuseraktivitäten vor.
Viele Flüchtlingskinder sind vom Bildungssystem ausgeschlossen. Weltweit besuchen nur 68 Prozent der Flüchtlingskinder eine Grundschule, nur rund ein Drittel erhält Unterricht in einer weiterführenden Schule und nur fünf Prozent besuchen anschließend eine Universität (Erhebungszeitraum: März 2019 bis März 2020). Das geht aus einem Externer Link: aktuellen Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) hervor. Von 2018 bis 2020 sind zwischen 290.000 und 340.000 Kinder in ein Flüchtlingsleben hineingeboren worden. 42 Prozent aller vertriebenen Menschen sind minderjährig. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-08T00:00:00 | 2021-10-18T00:00:00 | 2021-11-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/342135/migrationspolitik-september-2021/ | Das EU-Parlament beschließt Erleichterungen für die Zuwanderung von Hochqualifizierten, in der Grenzregion zwischen Polen und Belarus sterben Schutzsuchende und auf Samos ist ein neues Flüchtlingslager eröffnet worden. Der Monatsrückblick. | [
"Migration",
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"Vereinigte Staaten von Amerika"
] | 693 |
III. Der Bundestag | Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland | bpb.de | Artikel 38[Wahl]
(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. (2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt. (3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.
Artikel 39[Wahlperiode – Zusammentritt – Einberufung]
(1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt. (2) Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen. (3) Der Bundestag bestimmt den Schluß und den Wiederbeginn seiner Sitzungen. Der Präsident des Bundestages kann ihn früher einberufen. Er ist hierzu verpflichtet, wenn ein Drittel der Mitglieder, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler es verlangen.
Artikel 40[Präsidium – Geschäftsordnung]
(1) Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. (2) Der Präsident übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Gebäude des Bundestages aus. Ohne seine Genehmigung darf in den Räumen des Bundestages keine Durchsuchung oder Beschlagnahme stattfinden.
Artikel 41[Wahlprüfung]
(1) Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft verloren hat. (2) Gegen die Entscheidung des Bundestages ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig. (3) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
Artikel 42[Öffentliche Sitzungen – Mehrheitsbeschlüsse]
(1) Der Bundestag verhandelt öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Über den Antrag wird in nichtöffentlicher Sitzung entschieden. (2) Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Für die vom Bundestage vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. (3) Wahrheitsgetreue Berichte über die öffentlichen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei.
Artikel 43[Zitier-, Zutritts- und Anhörungsrecht]
(1) Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. (2) Die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten haben zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt. Sie müssen jederzeit gehört werden.
Artikel 44[Untersuchungsausschüsse]
(1) Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden. (2) Auf Beweiserhebungen finden die Vorschriften über den Strafprozeß sinngemäß Anwendung. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bleibt unberührt. (3) Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet. (4) Die Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse sind der richterlichen Erörterung entzogen. In der Würdigung und Beurteilung des der Untersuchung zugrunde liegenden Sachverhaltes sind die Gerichte frei.
Artikel 45[Ausschuß „Europäische Union“]
Der Bundestag bestellt einen Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Er kann ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen. Er kann ihn auch ermächtigen, die Rechte wahrzunehmen, die dem Bundestag in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind.
Artikel 45a[Ausschüsse für Auswärtiges und für Verteidigung]
(1) Der Bundestag bestellt einen Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und einen Ausschuß für Verteidigung. (2) Der Ausschuß für Verteidigung hat auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder hat er die Pflicht, eine Angelegenheit zum Gegenstand seiner Untersuchung zu machen. (3) Artikel 44 Abs. 1 findet auf dem Gebiet der Verteidigung keine Anwendung.
Artikel 45b[Wehrbeauftragter]
Zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle wird ein Wehrbeauftragter des Bundestages berufen. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
Artikel 45c[Petitionsausschuß]
(1) Der Bundestag bestellt einen Petitionsausschuß, dem die Behandlung der nach Artikel 17 an den Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt. (2) Die Befugnisse des Ausschusses zur Überprüfung von Beschwerden regelt ein Bundesgesetz.
Artikel 45d[Parlamentarisches Kontrollgremium]
(1) Der Bundestag bestellt ein Gremium zur Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes. (2) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
Artikel 46[Indemnität und Immunität der Abgeordneten]
(1) Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen. (2) Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird. (3) Die Genehmigung des Bundestages ist ferner bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten oder zur Einleitung eines Verfahrens gegen einen Abgeordneten gemäß Artikel 18 erforderlich. (4) Jedes Strafverfahren und jedes Verfahren gemäß Artikel 18 gegen einen Abgeordneten, jede Haft und jede sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit sind auf Verlangen des Bundestages auszusetzen.
Artikel 47[Zeugnisverweigerungsrecht]
Die Abgeordneten sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig.
Artikel 48[Kandidatur – Mandatsschutz – Entschädigung]
(1) Wer sich um einen Sitz im Bundestage bewirbt, hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub. (2) Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben. Eine Kündigung oder Entlassung aus diesem Grunde ist unzulässig. (3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Sie haben das Recht der freien Benutzung aller staatlichen Verkehrsmittel. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
Artikel 49[aufgehoben]
Quelle: Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz, juris GmbH, www.gesetze-im-internet.de, 2020. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-04T00:00:00 | 2011-11-30T00:00:00 | 2022-02-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/menschenrechte/grundgesetz/44189/iii-der-bundestag/ | Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. | [
"Gesetz",
"Grundgesetz",
"Bundesrepublik",
"Verfassung",
"Deutschland"
] | 694 |
Zeitleiste: Die Termine bis zur Wahl | Themen | bpb.de |
Quelle: zusammengestellt nach Angaben des Bundeswahlleiters. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-03-18T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europawahlen/europawahlblog-2014/178708/zeitleiste-die-termine-bis-zur-wahl/ | Am 25. Mai findet in Deutschland die Europawahl statt. Bis dahin passiert noch einiges. Was der Bundeswahlausschuss entscheidet oder der Bundeswahlleiter verkündet: Ein Überblick über die wichtigsten Termine. | [
"Europa",
"Europawahl",
"Europaparlament",
"Bundeswahlleiter"
] | 695 |
Vergleich von Entwicklungsländern | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de | Von internationalen Organisationen liegen unterschiedlich lange Listen von Entwicklungsländern vor. So geht z. B. der Internationale Währungsfonds von 152 Entwicklungsländern aus, in diesen Ländern leben mehr als 6,5 Milliarden Menschen, also rund 85 Prozent der Weltbevölkerung. Zu den Entwicklungsländern gehören aus Sicht des IWF sogar einige europäische Staaten (wie z. B. Albanien oder Polen), ganz Mittel- und Südamerika sowie ganz Afrika. Ein Großteil der asiatischen Länder und die meisten Inselstaaten gehören laut IWF ebenfalls zu den Entwicklungsländern.
Nachfolgend wird aus dieser Liste von 152 Ländern eine Auswahl von zehn Ländern als Entwicklungsländer etwas näher betrachtet. Dabei wird die Verteilung auf drei der fünf Erdteile berücksichtigt.
Länderauswahl
EuropaAsienAfrikaOzeanienAmerika -AfghanistanJemenPhilippinenÄthiopienMozambikRuandaSüdafrikaZentralafrik. Republik-HaitiPanama
Zu einigen Verteilungskennziffern fehlen in allen diesen Ländern die Daten. Mit der Liste der in diesem Themenspecial vertieft betrachteten 10 Schwellenländern bestehen zwei Überschneidungen: Philippinen und Südafrika.
In den zehn zum Vergleich herangezogenen Entwicklungsländern aus Asien, Afrika und Amerika beläuft sich das jährliche Pro-Kopf-Einkommen wie der Tabelle "Pro-Kopf-Einkommen in ausgewählten Entwicklungsländern" zu entnehmen ist, auf sehr unterschiedliche Beträge. Diese reichen von 429 Euro/Jahr bis zu 13.354 Euro/Jahr in Panama. Bei Heranziehung der Zahlen aus allen 152 Entwicklungsländern laut IWF wird die Spanne – vor allem nach oben – noch größer: 339 Euro in Malawi und 56.641 Euro in Katar.
Pro-Kopf-Einkommen in ausgewählten Entwicklungsländern
in Euro/Jahr
Land Pro-Kopf-Einkommen Asien Afghanistan 482 Jemen 796 Philippinen 3.439 Afrika Äthiopien 759 Mozambik 429 Ruanda 732 Südafrika 5.395 Zentralafrikanische Republik 464 Amerika Haiti 706 Panama 13.354
Quelle: Eigene Darstellung nach Angaben des IWF (jeweils aktuellstes verfügbares Jahr).
Ein weiterer wichtiger Indikator ist der von den Vereinten Nationen, spezifisch dem UN-Development Program, entwickelte Human-Development Index. Dieser stuft die einzelnen Länder auf der Basis ihrer Werte bei drei Komponenten
Lebenserwartung Bildung (mit zwei Subindikatoren) und Einkommen ein (vgl. Kasten).
Der Human-Development Index
In den Human-Development-Index bzw. seine Komponenten gehen eine ganz Reihe von einzelnen Kennziffern ein (vgl. UNDP 2019; Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen 2019). Beispiele, die nachfolgend für die zehn ausgewählten Entwicklungsländer präsentiert werden sind neben den HDI-Indexwerten selbst:
der Gini-Koeffizient, der Anteil der einkommensschwächsten 40 Prozent der Bevölkerung an den gesamten Einkommen, der Einkommensanteil des obersten Dezils der Bevölkerung, die Lebenserwartung bei der Geburt, die durchschnittliche Schulbesuchsdauer.
Von den in der Tabelle "Human-Development Index in ausgewählten Entwicklungsländern" näher betrachteten Ländern weisen Panama und die Philippinen mit einem Indexwert von 0, 795 bzw. 0,712 die besten Werte auf. Mit 0,381 bzw. 0,446 Indexpunkten sind die Werte in der Zentralafrikanischen Republik und in Mozambik, beides Staaten aus Afrika, am schlechtesten.
Human-Development Index in ausgewählten Entwicklungsländern
in Indexpunkten
Land HDI Asien Afghanistan 0,496 Jemen 0,463 Philippinen 0,712 Afrika Äthiopien 0,470 Mozambik 0,446 Ruanda 0,536 Südafrika 0,705 Zentralafrikanische Republik 0,381 Amerika Haiti 0,503 Panama 0,795
Quelle: Eigene Darstellung nach UNDP 2019, S. 36 ff.
Die Tabelle "Gini-Koeffizienten in ausgewählten Entwicklungsländern" zeigt, dass die Einkommenskonzentration im Jemen und in Äthiopien am geringsten ist (Gini-Koeffizienten von 36,7 und 39,1 %). Am stärksten ist die Einkommensungleichheit dagegen in Südafrika (63,0 %) und in der Zentralafrikanischen Republik (56,2 %) ausgeprägt.
Gini-Koeffizienten in ausgewählten Entwicklungsländern
in Prozent
- Wert nicht verfügbar. LandGini-Koeffizient Asien Afghanistan - Jemen 36,7 Philippinen 40,1 Afrika Äthiopien 39,1 Mozambik 54,0 Ruanda 43,7 Südafrika 63,0 Zentralafrikanische Republik 56,2 Amerika Haiti 41,1 Panama 49,9
Quelle: Eigene Darstellung nach UNDP 2019, S. 36 ff.
Die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung verfügen, worin sich die Ungleichverteilung der Einkommen laut Gini-Koeffizienten in vorstehender Tabelle wiederspiegelt, in Südafrika und der Zentralafrikanischen Republik über die geringsten Anteile an den gesamten Einkommen (7,2 bzw. 10,3 %). Deutlich höher ist dieser Einkommensanteil mit 18,8 bzw. 17,6 Prozent im Jemen und in Äthiopien (vgl. "Einkommensanteil der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung in ausgewählten Entwicklungsländern").
Einkommensanteil der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung in ausgewählten Entwicklungsländern
in Prozent
LandAnteil unterste 40 Prozent Asien Afghanistan - Jemen 18,8 Philippinen 16,8 Afrika Äthiopien 17,6 Mozambik 11,8 Ruanda 15,8 Südafrika 7,2 Zentralafrikanische Republik 10,3 Amerika Haiti 15,8 Panama 11,5
Tabellenbeschreibung
- Wert nicht verfügbar.
Quelle: Eigene Darstellung nach UNDP 2019, S. 36 ff.
Auf der anderen Seite betrachten wir in der Tabelle "Einkommensanteil der reichsten 10 Prozent der Bevölkerung in ausgewählten Entwicklungsländern" den Anteil des einkommensstärksten Dezils an den gesamten Einkommen. Auch hier sind die Prozentwerte – passend zu den Ergebnissen in den beiden vorherigen Tabellen – in Südafrika mit 63,9 Prozent und in der Zentralafrikanischen Republik mit 52,8 Prozent am höchsten. Die "niedrigsten" Einkommensanteile des obersten Dezils haben der Jemen und Haiti (29,4 bzw. 31,2 %).
Einkommensanteil der reichsten 10 Prozent der Bevölkerung in ausgewählten Entwicklungsländern
in Prozent
- Wert nicht verfügbar. LandAnteil oberstes Dezil Asien Afghanistan - Jemen 29,4 Philippinen 31,3 Afrika Äthiopien 31,4 Mozambik 45,5 Ruanda 35,6 Südafrika 50,5 Zentralafrikanische Republik 46,2 Amerika Haiti 31,2 Panama 37,7
Quelle: Eigene Darstellung nach UNDP 2019, S. 36 ff.
In den Human-Development Index der Vereinten Nationen gehen unter anderen auch zwei Indikatoren mit ein, die sich nicht auf die monetäre Ebene, sondern auf andere Lebenslagenaspekte beziehen: Die Lebenserwartung bei Geburt und die Durchschnittliche Schulbesuchsdauer.
Die Lebenserwartung bei Geburt ist – für die gleiche Auswahl von 10 Ländern betrachtet – in der Zentralafrikanischen Republik (52,8 Jahre) und in Mozambik (60,2 Jahre) am geringsten und in Panama sowie den Philippinen am höchsten (78,3 und 71,1 Jahre) (vgl. "Lebenserwartung bei der Geburt in ausgewählten Entwicklungsländern").
Lebenserwartung bei der Geburt in ausgewählten Entwicklungsländern
in Jahren
LandLebenserwartung bei der Geburt Asien Afghanistan 64,5 Jemen 66,1 Philippinen 71,1 Afrika Äthiopien 66,2 Mozambik 60,2 Ruanda 68,7 Südafrika 63,9 Zentralafrikanische Republik 52,8 Amerika Haiti 63,7 Panama 78,3
Quelle: Eigene Darstellung nach UNDP 2019, S. 32 ff.
Die "Durchschnittliche Schulbesuchsdauer in ausgewählten Entwicklungsländern" ist in den meisten Entwicklungsländern extrem kurz. Ausnahmen sind gemäß dieser Tabelle Südafrika und Panama (mit jeweils 10,2 Jahren) sowie die Philippinen (9,4 Jahre). Die geringste durchschnittliche Schulbesuchsdauer haben dagegen Äthiopien und der Jemen mit 2,8 bzw. 3,2 Jahren.
Durchschnittliche Schulbesuchsdauer in ausgewählten Entwicklungsländern
in Jahren
LandSchulbesuchsdauer Asien Afghanistan 3,9 Jemen 3,2 Philippinen 9,4 Afrika Äthiopien 2,8 Mozambik 3,5 Ruanda 4,4 Südafrika 10,2 Zentralafrikanische Republik 4,3 Amerika Haiti 5,4 Panama 10,2
Quelle: Eigene Darstellung nach UNDP 2019, S. 32 ff.
In den Human-Development-Index bzw. seine Komponenten gehen eine ganz Reihe von einzelnen Kennziffern ein (vgl. UNDP 2019; Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen 2019). Beispiele, die nachfolgend für die zehn ausgewählten Entwicklungsländer präsentiert werden sind neben den HDI-Indexwerten selbst:
der Gini-Koeffizient, der Anteil der einkommensschwächsten 40 Prozent der Bevölkerung an den gesamten Einkommen, der Einkommensanteil des obersten Dezils der Bevölkerung, die Lebenserwartung bei der Geburt, die durchschnittliche Schulbesuchsdauer.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-26T00:00:00 | 2021-01-21T00:00:00 | 2022-01-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/verteilung-von-armut-reichtum/325859/vergleich-von-entwicklungslaendern/ | Entwicklungsländer zeigen definitiv einen Gegensatz zwischen Arm und Reich. Extreme Armut und sogar Unterernährung/Hunger sind weit verbreitet. | [
"Verteilung Armut Reichtum",
"Entwicklungsländer",
"Armut",
"Hunger",
"Unterernährung"
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Im Praxistest: Ohrenkuss. Politisches einfach erklärt. | bpb.de | Einleitung
Inklusion – Eines der präsentesten bildungspolitischen Themen der letzten Jahre, und gleichzeitig eines der kontroversesten. Während der Begriff Integration die Aufnahme des Individuums in ein System bedeutet, meint Inklusion, dass alle zum System gehören. Dem zugrunde liegt das Prinzip, dass das System sich anpasst, und nicht die Mitglieder an das System. Dementsprechend sollte inklusiver Unterricht derart gestaltet sein, dass die Grundbedingungen für gemeinsames Lernen gegeben sind, dass jeder Schüler und jede Schülerin dort abgeholt wird, wo er oder sie sich befindet, und dass den individuellen Neigungen, Begabungen und Bedürfnissen Rechnung getragen wird.
Das Projekt Ohrenkuss eignet sich hervorragend, um Berührungsängste abzubauen und die Welt aus Sicht von Menschen mit Down-Syndrom kennenzulernen. Die Botschaft ist ganz klar: Der Weg in die inklusive Gesellschaft ist doch gar nicht so schwer!
Konzeption des Materials
Das Ohrenkuss-Team der Bonner Downtown-Werkstatt für Kultur und Wissenschaft besteht aus einer Gruppe von Redakteuren mit Down-Syndrom, welche sich mit den unterschiedlichsten Themen schriftlich auseinandersetzen. In regelmäßigen Abständen veröffentlichen sie ihre eigene Zeitung, den "Ohrenkuss".
Eine weitere Besonderheit aus dem Repertoire der Ohrenkuss-Redaktion sind die kreativen und informativen Videoclips, die unterschiedliche Schwerpunkte behandeln. Beispielsweise wird der eigene Standpunkt zum Thema Wählen gehen vertreten oder das Thema Mitbestimmen erörtert. Das Ganze findet in einfacher Sprache statt, die Protagonisten sind durchgängig zwei Ohrenkuss-Redakteurinnen mit Down-Syndrom. Die Clips sind alle sehr kurz gehalten, und außerdem bunt und kreativ gestaltet, sodass sie auch Schülerinnen und Schülern mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne einfach zugänglich gemacht werden können.
Einsatzmöglichkeiten im Unterricht
Zunächst einmal sei erwähnt, dass die Videoclips (Politik-)Unterricht und Inklusion direkt verbinden – Durch das selbstverständliche Zeigen von Videos, die ausschließlich von Menschen mit Down-Syndrom erstellt wurden, verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was "normal", und dem, was "besonders" ist. Den Schülerinnen und Schülern eröffnet sich eine ganz neue Sichtweise der Dinge, und sie erkennen, dass politische Themen alle etwas angehen, und dass zudem jeder in der Lage ist, sie einem anderen zu erklären.
Die Kurzvideos eröffnen vielfältige Möglichkeiten zum Einsatz im Schulunterricht, insbesondere im Fach Politik. Die einfache Konzeption und das fantasievolle Design der Videos ermöglichen ganz unterschiedliche Zugangsformen und den Einsatz bereits in der Unterstufe. Die einfache Sprache und das authentische Material macht es auch Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichem Förderbedarf möglich, die Videos zu verstehen und darüber zu sprechen. Die offenen und interessanten Themen regen zur Meinungsbildung und zum lebhaften Meinungsaustausch in der Lerngruppe an. Des Weiteren ermöglichen sie vielfältige Formen der Weiterarbeit, beispielsweise über Projekte – Die Schülerinnen und Schüler können nach Sichtung der Videos in gemischter Gruppenarbeit selbst Videos zu unterrichtsbezogenen Themen erstellen. Damit schulen sie zugleich auch ihre Medienkompetenz.
Anregungen
Die Videoclips können themenspezifisch insofern variabel eingesetzt werden, als dass sie sich nicht nur für den Umgang mit dem Thema Inklusion, sondern auch für die Behandlung der Themenbereiche Europa, Wahlen oder andere (politische) Themen im Unterricht eignen. Des Weiteren bieten die Videos Möglichkeiten und Ideen für fächerübergreifende Projekte in Zusammenarbeit mit inklusiven und nicht-inklusiven Lerngruppen. Auch internationale Zusammenarbeit, beispielsweise im Rahmen des Comenius-Projektes, heute Erasmus+, ist denkbar, da sich die Ohrenkuss-Redaktion auch mit dem Themenfeld Europa auseinandersetzt.
Zum Thema Inklusive Medienarbeit erweist sich auch ein Blick auf das nimm 2.0-Projekt als lohnenswert, in dessen Rahmen Möglichkeiten des Einsatzes moderner Medien in inklusiven Lerngruppen aufgezeigt werden. Informationen darüber finden sich auf der Webseite des Projekts: Externer Link: http://www.inklusive-medienarbeit.de/
Eine Auswahl der Ohrenkuss-Videoclips kann man sich hier ansehen: http://www.bpb.de/lernen/formate/bild-und-ton/204008/ohrenkuss-politisches-einfach-erklaert
Die Ohrenkuss-Redaktion stellt sich auf ihrer Homepage vor: Externer Link: http://ohrenkuss.de/ | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2015-06-25T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/rezensionen/208742/im-praxistest-ohrenkuss-politisches-einfach-erklaert/ | Inklusion – Eines der präsentesten bildungspolitischen Themen der letzten Jahre, und gleichzeitig eines der kontroversesten. Während der Begriff Integration die Aufnahme des Individuums in ein System bedeutet, meint Inklusion, dass alle zum System ge | [
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Zur Afrikastrategie der Europäischen Union | Entwicklungspolitik | bpb.de | Einleitung
Die Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union (EU) mit Afrika vollzieht sich immer noch überwiegend in der Form einer vor fünfzig Jahren begonnenen vertraglichen Zusammenarbeit mit der aus den ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika, der Karibik und im Pazifik gebildeten AKP-Staatengruppe. Sie wurde durch den Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) finanziert und als Sondervermögen nach eigenen Regeln verwaltet. Dies gilt weiterhin auch für den nach ausführlichen Evaluierungen und Beratungen für eine Laufzeit von 20 Jahren am 23. Juni 2000 in Cotonou, Hauptstadt von Benin, unterzeichneten neuen Vertrag. Er verpflichtet die AKP-Staaten zur Achtung der Menschenrechte, demokratischen Willensbildung, Wahrung des Rechts, Armutsbekämpfung und Beteiligung der Bevölkerung. Die EU sagte als Gegenleistung eine Erhöhung der Hilfe, einen flexibleren Beratungsprozess, eine Vereinfachung der Vergabeverfahren, insbesondere aber direkte Zahlungen an die Staatshaushalte zu. Über die vertraglichen Leistungen hinaus erhalten die afrikanischen Staaten auch Zuwendungen aus den durch den Haushalt der EU finanzierten weltweiten Programmen, wie die Nahrungsmittelhilfe, die humanitäre Hilfe, die Programme zur Stärkung der Menschenrechte und der Demokratie sowie die Mitfinanzierung der Entwicklungsarbeit der Nichtregierungsorganisationen.
Die im Cotonou-Vertrag erstmalig verankerte politische Konditionalität war allerdings nur teilweise wirksam, weil das Gewicht der EU-Hilfe und die Abhängigkeit von ihr nicht groß genug waren, um in schwerwiegenden Konflikten, in denen es um politische Macht oder Privilegien ging, die maßgeblichen Akteure zum Einlenken zu veranlassen. Trotz Verbesserungen in der Mittelverwendung und der Ausweitung der Budgethilfe auf 35 Prozent der Gesamtmittel erwies sich auch die Umsetzung des Vertrags im ersten Fünf-Jahres-Zyklus in Afrika schwierig. Der Vertrag entsprach auch nur noch teilweise dem neuen entwicklungspolitischen Konsens, der sich in den Millennium Development Goals der Vereinten Nationen, den Beschlüssen der G8-Treffen in Kananaskis 2002, Evian 2003, Gleneagles 2005 und Heiligendamm 2007, der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Monterrey 2002 und der Pariser Konferenz zur Effektivität der Entwicklungshilfe 2005 ausdrückt. Beziehungen zwischen Europa und Afrika
Auf diesem Hintergrund kündigte die EU mit ihrer Afrikastrategie 2005 einen "Quantensprung" in den Beziehungen mit Afrika an. Die Entwicklungshilfe der EU für Afrika südlich der Sahara, soweit sie von der Europäischen Kommission (EK) verwaltet wird, betrug im Jahr 2005 3,144 Millionen US-Dollar oder 9,9 Prozent der weltweiten Entwicklungshilfe für diese Region. Damit steht sie unter den Gebern zwar erst an fünfter Stelle, ihr Gewicht wird allerdings vergrößert durch ihre Bündelung mit der Förderung der Menschenrechte und Demokratie, der Handelspolitik und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Wenn es darüber hinaus gelänge, die bilaterale Entwicklungshilfe der Mitgliedsländer, die weitere 48,4 Prozent der weltweiten Entwicklungshilfe für Afrika südlich der Sahara aufbringen, mit der Gemeinschaftspolitik zu verbinden, würde die EU zum zentralen internationalen Akteur und Partner für die politische und wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Auf dieses Ziel hin erarbeitete die EK in den vergangenen Jahren wichtige Richtlinien, außer der bereits erwähnten Afrikastrategie die Europäische Sicherheitsstrategie, die Initiative für Governance und die Verhaltensregeln zur Komplementarität und Arbeitsteilung in der Entwicklungspolitik. Konzeptionelle Grundlage dafür ist die gemeinsame Erklärung des Rates, des Parlamentes und der Kommission zur Entwicklungspolitik der EU, die in bewusstem Gegensatz zum neoliberalen "Washington Consensus" "European Consensus" genannt wurde. Sie gilt als ein großer strategischer Erfolg, weil damit zum ersten Mal in der Geschichte der EU verbindlich die Werte, Prinzipien, Ziele und Mittel für die Entwicklungspolitik der Union und ihrer Mitgliedsländer formuliert wurden.
Die Afrikastrategie spezifiziert die Umsetzung des Europäischen Konsensus in der Region, die auch in Zukunft Schwerpunkt der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der EU bleiben soll. Ihre Zielsetzungen entsprechen dem heute allgemein anerkannten Katalog der internationalen Entwicklungspolitik. Hauptziel sind die Minderung extremer Armut, eine Grundschulausbildung für alle Kinder, die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rechte von Frauen, die Verringerung der Kindersterblichkeit und Verbesserung der Gesundheit der Mütter, die Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderer übertragbarer Krankheiten, die Sicherung der Umwelt und der Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft. Voraussetzung dafür ist Friede und Sicherheit. Die EU will Maßnahmen gegen entstehende oder bestehende Konflikte in allen Phasen, der Prävention, Intervention und Rehabilitation, unterstützen. Sie will die politische Stabilität in den Partnerländern stärken durch die Förderung effizienter zentralstaatlicher Institutionen, mit denen diese die notwendigen Reformen durchführen können, und durch Strukturen, die eine breite Streuung der Entwicklungsanstrengungen und eine Teilhabe der gesamten Bevölkerung ermöglichen. Die Beachtung von Menschenrechten und Demokratie soll verbessert, Korruption und organisierte Kriminalität sollen bekämpft werden. Sie hält dafür ein rasches, umfassendes und nachhaltiges, auf die Beseitigung der Armut ausgerichtetes Wirtschaftswachstum für erforderlich, das durch makro-ökonomische Stabilität, marktorientierte Wirtschaftspolitik, Schaffung regionaler Märkte, besseren Zugang zum Weltmarkt und Stimulierung der Privatwirtschaft erreicht werden könne. Ferner sollen die Nahrungsmittelsicherheit, die Landwirtschaft und das Fischereiwesen gefördert und Infrastrukturprojekte des Verkehrs, der Wasserversorgung und der Energiegewinnung unterstützt werden. Schließlich will sie zur Erhaltung der kulturellen Vielfalt Afrikas, zur Bewältigung der zunehmenden Verstädterung, zur Kontrolle der Wanderungsbewegungen, zur Erhaltung der natürlichen Umwelt und Biodiversität und zur Wüstenbekämpfung beitragen. Dies ist ein breit gefächerter Katalog von Tätigkeitsfeldern, von denen jedes für sich genommen begründet und sinnvoll sein kann, der aber das Potential an finanziellen und personellen Ressourcen der Kommission weit übersteigt.
Zur Umsetzung der Strategie erarbeitete die Kommission deshalb einen Vorschlag, der eine bessere Verzahnung der Gemeinschaftspolitik und der bilateralen Politik der Mitgliedsländer unter ihrer Führung bewirken sollte. Länder- und Regionalstrategien sollten in Zukunft gemeinsam erarbeitet und ihre Umsetzung arbeitsteilig vereinbart werden. Nach außen, gegenüber den Empfängerländern, aber auch gegenüber den internationalen Finanzinstitutionen, den regionalen Entwicklungsbanken und den Organisationen des UN-Systems sollte die EU nur noch mit einer Stimme sprechen. Diesem Vorschlag folgte allerdings der Ministerrat nur zum Teil. Er vertrat die Auffassung, dass die Gemeinschaftshilfe weiterhin die Programme der Einzelstaaten nur ergänzen solle. Die Kommission soll sich auf die Budgethilfe und die Koordination und Finanzierung von höchstens zwei weiteren Sektoren je Land konzentrieren. Der Rat entschied auch, den 10. EEF nur maßvoll zu erhöhen. Sein Volumen für die sechs Jahre zwischen 2008 und 2013 wurde auf 22,7 Mrd. Euro festgelegt, also pro Jahr 3,9 Mrd. Wegen der beschlossenen mehrjährigen Festschreibung des allgemeinen EU-Haushaltes und der von den EU-Mitgliedsländern zugesagten Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,59 Prozent ihres Bruttosozialprodukts dürfte dies zu einer Abnahme der Gemeinschaftshilfe im Verhältnis zur Gesamthilfe der EU-Mitgliedsländer führen. Die EK hofft deshalb auf einen Ausgleich durch eine verstärkte Beteiligung der Mitgliedsländer an Trustfonds wie dem Infrastrukturfonds oder der African Peace Facility sowie an den Budget- und Programmhilfen. Größere Effektivität der Hilfe
Durch die die Europäisierung der Hilfe bremsenden Entscheidungen des Ministerrats werden die Bemühungen um eine bessere Koordination der Hilfe erst recht vordringlich. Entsprechend der "Paris Declaration on Aid Effectiveness", an deren Erarbeitung die EK maßgeblich mitwirkte, soll es zu einer besseren Arbeitsteilung zwischen den europäischen und optional auch den außereuropäischen Gebern kommen. Die Hilfe für ein ganzes Land oder einzelne Sektoren soll von einem "lead"-Geber mit den anderen Gebern koordiniert oder von diesen gegebenenfalls mitfinanziert werden. Auch die bilaterale Hilfe der Mitgliedsländer soll sich deshalb an den EK-Länderstrategien orientieren. Deren Grundlage bilden in den meisten Fällen dieim Rahmen der Entschuldungsinitiative von der Weltbank eingeforderten Poverty Reduction Strategy Papers (PRSP).
Die Bemühungen der Kommission reichen aber über die Geberkoordination hinaus. Letztlich hängt die Wirkung der Hilfe von außen von der Beendigung der gewaltsamen Konflikte, von Fortschritten in der subregionalen Zusammenarbeit und von der Funktionsfähigkeit der Staaten und ihrer Bereitschaft zu einer zweckentsprechenden Reformpolitik ab. Nach den wenig ermutigenden Erfahrungen mit der Konditionalität kehrte die EU durch eine Revision des Cotonou-Vertrags zum Partnerschaftsprinzip zurück, allerdings mit der Erwartung, durch einen intensiven politischen Dialog die Partnerländer davon überzeugen zu können, sich selbst entschiedener für Frieden, good governance, für Wahrung der Menschenrechte und Demokratie sowie für eine nachdrückliche Armutsbekämpfung einzusetzen. Zur Unterstützung dieses Dialogs setzt die EU auf fünf Instrumente. Die 2004 bewilligte "Peace Facility for Africa", welche den Ausbau der afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur zum Ziel hat, soll in Verbindung mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsstrategie und in Abstimmung mit den Vereinten Nationen die Möglichkeiten der Vorbeugung, Eindämmung und Lösung von gewaltsamen Konflikten verbessern. Die Integration Afrikas in die Weltmärkte und die Stärkung des innerafrikanischen Handels sollen über die Regionalorganisationen und durch Economic Partnership Agreements (EPA) gefördert werden. Die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Staaten soll durch erhöhte und besser koordinierte Entwicklungshilfe beschleunigt werden. Bevorzugtes Instrument dafür ist die Budgethilfe, d.h. direkte Beiträge zum Haushalt des Partnerlandes für allgemeine oder sektorielle Zwecke. Damit sollen nicht nur die Eigenverantwortung, die Effektivität und mittelfristige Planbarkeit des Regierungshandelns des Partners gestärkt, sondern auch der Dialog über die Politik und die Verantwortung für die Ziele, Mittel und Regierungsweise unterfüttert werden. Die Kommission will dafür mittelfristig etwa die Hälfte der einem Land zugeteilten Mittel aufwenden. Gleichzeitig sollen die Finanzverwaltungen der Partnerländer so qualifiziert werden,dass sie ein Höchstmaß an Transparenz und Kontrolle, vor allem gegenüber den allgegenwärtigen Gefahren der Korruption und Fehlverwendung, garantieren. Die mit der Budgethilfe verbundene politische Absicht wird durch ein Anreizprogramm zur Governance verstärkt. Als "good governance" gilt eine Regierungspolitik, welche den Einfluss, die Fähigkeiten und den Entwicklungswillen der Bevölkerung stärkt und die wirtschaftlichen Ressourcen des Empfängerlandes optimal nutzt. Zwölf Prozent der Mittel des 10. EEF sollen nur dann an die Partnerländer ausgezahlt werden, wenn diese ehrgeizige und glaubwürdige Pläne mit konkreten Maßnahmen und Reformen beschlossen haben und entsprechend umsetzen. Zur Bemessung werden dafür von der Kommission Governance-Profile mit detaillierten Bewertungen erarbeitet. Mit dieser Initiative reagiert die Kommission auf die Abschwächung der Konditionalität des Cotonou-Vertrags und trägt dem Umstand Rechnung, dass sie sich vertraglich verpflichtet hat, alle AKP-Staaten ohne Rücksicht auf ihr politisches System zu unterstützen. Unterstützt werden soll der Dialog mit den einzelnen Ländern durch eine engere Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union. Die EU hofft, dass diese vor allem über die Peer Reviews, d.h. die gegenseitige Bewertung der Reformfortschritte im Rahmen der Neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (NEPAD), auf ihre Mitgliedsstaaten zugunsten einer besseren Governance einwirken wird. Die EK und die Kommission der Afrikanischen Union wollen dafür eng zusammen arbeiten, wobei die EK auch die entsprechenden Institutionen und Gremienarbeit aus dem EEF finanziert. Ziel ist, die Grundlagen der Zusammenarbeit in einem europäisch-afrikanischen Partnerschaftspakt, der auf dem für Dezember 2007 in Lissabon vorgesehenen europäisch-afrikanischen Treffen der Staatschefs verabschiedet werden soll, festzuschreiben. Zur Realisierung der neuen Strategie
Die Umsetzung der Strategie steht am Anfang. Die Kommission erarbeitet zurzeit die Strategien für die einzelnen Länder und Regionalorganisationen. Die EPAs sind noch nicht zu Ende verhandelt. Für die Zusammenarbeit mit schwierigen Partnerländern, wie die unstabilen oder vom Zerfall bedrohten Länder bezeichnet werden, bereitet die Kommission gerade erst Richtlinien vor.
Natürlich hat die Kommission Recht, dass nur durch die Bündelung aller Kräfte, vor allem durch die Einbeziehung der Entwicklungspolitiken ihrer Mitgliedsstaaten, widerstrebende Regierungen und Akteure motiviert und in die Lage versetzt werden können, Reformen zu beginnen. Die von der EK direkt verwalteten Mittel sind hierfür zu begrenzt und verteilen sich zudem auf alle Länder Afrikas südlich der Sahara. Die erforderliche enge Koordination hängt aber davon ab, ob die Mitgliedsländer wie etwa Frankreich, das die neue Strategie maßgeblich beeinflusst hat und deshalb auch für die EU-Afrikapolitik eine Führungsrolle beansprucht, ihre nationalen Sonderinteressen hintanstellen. Höchst fraglich ist auch, ob alle Mitgliedsländer - darunter auch Deutschland - ihre Zusagen zur Erhöhung der bilateralen Mittel im vorgegebenen Zeitraum erfüllen werden.
Die von der Kommission in den Vordergrund gestellte Forderung nach Koordination verliert allerdings an Bedeutung, wenn die Zweifel, ob der von der Kommission bevorzugte Weg geeignet ist, die großen politischen und wirtschaftlichen Hindernisse auf dem Weg Afrikas zu Frieden, Demokratie und wirtschaftlichem Wachstum zu überwinden, ernst genommen werden. Nur Benin, Botswana, Ghana, Lesotho, Madagaskar, Mali und Senegal mit einer Bevölkerung von gerade 52 Millionen weisen bisher gute oder befriedigende Werte der "Governance" auf. In vier Fünftel der Staaten Afrika südlich der Sahara sind die Governance-Probleme nach wie vor ungelöst. 84 Prozent der Bevölkerung Afrikas - ohne Südafrika - lebt in Staaten mit unbefriedigender oder schlechter Governance. Fortschritte fehlen vor allem bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung, der Effizienz der Regierung und Korruptionsbekämpfung. In den bevölkerungsreichen Ländern wie Nigeria, Sudan, Äthiopien und Demokratische Republik Kongo bestehen derzeit kaum Hoffnungen auf eine durchgreifende Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Lage. Für die schwierigen Partnerländer dürfte es kaum gelingen, eine überzeugende Strategie in einer allgemein gültigen Form vorzulegen, denn die Strukturen und Bedingungen dieser Staaten sind zu unterschiedlich. Es besteht auch die Gefahr, dass dort die EK zu Kompromissen gezwungen wird, die entwicklungspolitisch wenig verträglich sind, denn das Interesse der EU an einer Stabilisierung dieser Länder aus sicherheitspolitischen Gründen hat inzwischen erhebliches Gewicht.
Auf vielfältige Kritik stößt auch der technokratische Charakter der EU-Konzeption. Die EU gibt der Budgethilfe den Vorzug, weil diese dem Grundsatz der "ownership" und der Verantwortung des Empfängerlands für die Koordination der Hilfe am besten entspreche. Tatsächlich sind in Afrika aber im Unterschied zu den andern Kontinenten dazu nur wenige Regierungen willens oder in der Lage. Deshalb bleibt es eine Fiktion, dass die Geber sich darauf beschränken können, darüber zu wachen, dass die Regierung auf einem guten Weg ist, sich aber ansonsten deren Koordination und Vorstellungen zur Arbeitsteilung unterwerfen. In vielen Fällen müssen sie in Koordinationsgremien die Initiative ergreifen, um mit der Regierung zu entsprechenden Vereinbarungen zu gelangen. Ihre Umsetzung mittels des Instruments der Budgethilfe kann jedoch nicht nur die ihr zugeschriebenen positiven Wirkungen entfalten, sondern auch zur Schwächung demokratischer Institutionen führen, vor allem der Parlamente, deren Haushaltsbewilligungsrecht umgangen wird. Sie kann die Macht der zentralen Bürokratie gegenüber den lokalen und zivilgesellschaftlichen übermäßig stärken, sie kann Programme, welche die Vorlieben und Interessen der Geber reflektieren, begünstigen. Vor allem aber kann sie die Anstrengungen der Regierungen und dominierenden Eliten lähmen, sich selbst um Reformen, Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität und Staatseinnahmen, um eine Minderung der Hilfeabhängigkeit und um Exitstrategien zu kümmern. All diese Gefahren werden zwar in den entsprechenden Verlautbarungen der Kommission angesprochen. Die Kernfrage, ob damit nicht bürokratisch in komplexe politische und gesellschaftliche Prozesse und Macht- und Interessenstrukturen mit unkalkulierbaren Konsequenzen eingegriffen wird, stellt sich aber wohl dringlicher, als dies aus den Richtlinien der EU hervorgeht.
Erhebliche Zweifel werden auch an der Wirksamkeit des Dialogs zwischen der EU und der Afrikanische Union (AU) geäußert. Ob die AU auf die innere Entwicklung der afrikanischen Staaten Einfluss nehmen kann und will, ist fraglich. Die Bereitschaft ihrer Mitgliedsstaaten zur Einigung auf konkrete Maßnahmen endet, wo deren nationale Interessen in Konflikt mit den gesamtafrikanischen Interessen geraten. Deshalb fällt es der AU schwer, auf eklatante Verstöße ihrer Statuten durch ihre Mitglieder angemessen zu reagieren. Ihr jüngstes Verhalten gegenüber Sudan und Zimbabwe zeigt dafür deutlich die Grenzen. Auch ist die Relevanz der wenigen Peer Reviews, die NEPAD bisher erarbeitet hat, bescheiden.
Der schwerwiegendste Einwand gegen die Strategie ist jedoch ihr geringer Realitätssinn bezüglich der zukünftigen Entwicklung der afrikanischen Wirtschaft und Gesellschaft. Nur wenige Experten glauben noch daran, dass es mit einer massiven Erhöhung der Entwicklungshilfe in absehbarer Zeit möglich ist, den Anschluss Afrikas an die weltwirtschaftliche Entwicklung zu erreichen. Ohne einen kräftigen Zuwachs an Beschäftigungsmöglichkeiten für eine wachsende urbane Bevölkerung kann es kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum geben. Freier Handel und freie Märkte allein genügen dazu nicht, auf eine industrielle und intensivere landwirtschaftliche Produktion für die lokalen Märkte kann nicht verzichtet werden. Die mangelnde Produktivität und der wachsende Wettbewerb mit den asiatischen Schwellenländern erschweren das Aufholen immer mehr. Ohne Aussicht auf mittelfristige Erfolge dürfte es aber schwierig sein, die dominierenden politischen Eliten zu überzeugen, Machtbeschränkungen hinzunehmen und selbst Initiativen für die dringendsten politischen Reformen zu ergreifen. Meistens sind sie zu Zugeständnissen nur insoweit bereit, wie davon der Erhalt von Subsidien der Entwicklungshilfe und ihr politisches Überleben abhängen. Der zwischen Gebern und dominierenden Eliten mit der Budgethilfe gefundene Kompromiss blockiert die wirtschaftlichen Potentiale des Kontinents und droht die Marginalisierung Afrikas und seine Ausbeutung als bloßer Rohstofflieferant zu verewigen. Die Fähigkeiten seiner wirtschaftlichen und technischen Elite werden nicht ausreichend genutzt, das Arbeitskräftepotential eines Großteils der Bevölkerung liegt ohnehin brach. Mikrokreditprogramme, die in Asien großen Erfolg haben, werden bisher in Afrika nur wenig genutzt, obwohl sie wenigstens ansatzweise zur Lösung der Probleme beitragen könnten. Gelingt es nicht, die wachsende Ungleichheit zu verhindern und der jungen Generation - die Hälfte der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt - eine Perspektive zu geben, werden die weitere Demokratisierung und politische Stabilität schwer gefährdet.
Die Realisierung der anspruchsvollen Afrikastrategie der EU hängt von Einflüssen und Bedingungen ab, auf die die Kommission nur geringen Einfluss hat. Das ein Jahrzehnt alte Diktum Christopher Claphams, "the problems of African governance run by far too deep to be seriously affected by external tinkering", charakterisiert immer noch treffend die Probleme einer Strategie, die zwar die "ownership" der Partner betont, ihnen jedoch ein Politikkonzept aufdrängt, das tief in die gesellschaftlichen und politischen Strukturen eingreift, ohne dass es das Erreichen der gesetzten Ziele garantieren kann. Im Mittelpunkt der Beziehungen muss daher ein offener Dialog mit dazu fähigen und willigen afrikanischen Politikern, der Zivilgesellschaft, der Verwaltung, dem Militär und der Wirtschaft stehen, um gemeinsam realisierbare Konzeptionen zu erarbeiten. Die Frage, ob dafür die Brüsseler Behörde mit ihrer Bevorzugung formaler bürokratischer Prozesse, ihrem Hang zu "social and political engineering" und ihren komplexen Entscheidungsprozessen geeignet ist oder ob nicht gerade dafür einerseits eine Arbeitsteilung unter den Mitgliedsstaaten mit eindeutig vereinbarten Normen und andererseits die Unterstützung vielfältiger Partnerschaften auf allen staatlichen und zivilen Ebenen Erfolg versprechender wären, stellt sich immer dringlicher. Trotz aller Kritik und Zweifel am eingeschlagenen Weg ist jedoch die Intention der Afrikastrategie richtig: Europa hat elementare Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen in Afrika und kann sich, wegen der gemeinsamen Geschichte, seiner Verpflichtung zur Solidarität mit Afrika nicht entziehen.
Zur europäischen Afrikapolitik vgl. Sven Grimm, Die Afrikapolitik der Europäischen Union: Europas außenpolitische Rolle in einer randständigen Region, Hamburg 2003; Gisela Müller-Brandeck-Bocquet u.a. (Hrsg.), Die Afrikapolitik der Europäischen Union. Neue Ansätze und Perspektiven, Leverkusen 2007; Peter Molt, Africa - a political challenge for Europe, in: Ulf Engel/Robert Kappel (eds.), Germany's Africa Policy revisited. Interests, images and incrementalism, Münster 2002, S. 63 - 78.
Vgl. Commission of the European Communities, EU Strategy for Africa: Towards a Euro-African pact to accelerate Africa's development. Communication from the Commission to the Council, the European Parliament and the European Economic and Social Committee. Brussels, COM(2005) 489 Development {SEC(2005)1255}12.10. 2005.
Die betreffenden Dokumente sind auf der Webseite der Europäische Union (http://europa.eu/in dex_de.htm) veröffentlicht.
European Parliament, Council, Commission, Development Policy The European Consensus'. Joint statement by the Council and the representatives of the governments of the Member States meeting within the Council, the European Parliament and the Commission on European Union: Official Journal of the European Union C 46/1 24.2. 2006.
Vgl. European Commission DG Development, Consultation on the Future of EU Development Policy. Issues Paper, Brussels, 7. 1. 2005.
Vgl. Council of the European Union, Conclusions of the Council and of Representatives of the Governments of the member states meeting within the Council, Document Nr. 9558/07, 15.5. 2007.
Für den 9. EEF standen 23,4 Mrd. Euro zur Verfügung, 13,5 Mrd. Euro neue Mittel und 9,9 Mrd. Euro Restmittel aus den vorhergehenden Zyklen.
OECD/DAC, Paris Declaration on Aid Effectiveness, Paris, 2. 3. 2005.
Nach einer mündlichen Mitteilung aus der Kommission soll in 12 der 73 AKP-Länder die Kommission mit den Mitgliedsländern ihre Strategie für den 10.EEF von 2008 bis 2013 gemeinsam geplant haben.
Vgl. Council of the European Union, Agreement amending the Partnership Agreement between the AKP-Group of States and the European Union. Council Decision of 21 June 2005 European Union Official Journal L 209 , 11/08/2005 P. 0026 - 0059.
Sie sieht eine direkte Entsendung von EU-Streitkräften unter einem UN-Mandat vor.
Vgl. Denis M. Tull, Zeitenwende in der französischen Afrikapolitik, SWP-Aktuell 44, Berlin, Oktober 2005.
Vgl. Worldbank, A decade of Measuring the Quality of the Governance. Governance Matters 2007. Worldwide Governance Indicators, 1996-2006, Washington, D.C. 2007.
Vgl. Cord Jakobeit, Fünf Jahre NEPAD, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2006) 32 - 33, S. 21 - 24.
Gerade in den wirtschaftlich einigermaßen erfolgreichen Ländern wie in Namibia oder Uganda wächst die Kluft zwischen Armen und Reichen immer mehr.
Christopher Clapham, Discerning the New Africa, in: International Affairs, 74 (1998) 2.
| Article | Molt, Peter | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30091/zur-afrikastrategie-der-europaeischen-union/ | Die Entwicklungszusammenarbeit der EU mit Afrika bedarf einer Revision. Sie vollzieht sich immer noch im Rahmen der AKP-Staatengruppe. Trotz Kritik am eingeschlagenen Weg hat Europa nicht nur elementare Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen, sondern | [
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Internationale Gerichtsbarkeit | Globalisierung | bpb.de | Wenn Staaten Souveränität an eine übergeordnete Ebene abgeben, geht dem meistens ein langer politischer Prozess voran. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um die Schaffung von Institutionen geht, die auf Dauer angelegt sind und die mit politischer Macht ausgestattet werden. Im Bereich der Gerichtsbarkeit wurden bereits zahlreiche internationale Institutionen geschaffen. Das internationale Strafrecht weist dabei eine Besonderheit auf: Hier werden nicht Konflikte zwischen Staaten behandelt, sondern es wird über Personen gerichtet. Mit dem Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wurde eine auf Dauer angelegte, unabhängige Institution der Staatengemeinschaft geschaffen, vor der sich Individuen verantworten müssen. Bis Mitte 2017 wurde das Statut des IStGH von 124 Staaten ratifiziert.
Fakten
1899 trat auf Initiative von Zar Nikolaus II. die erste Haager Friedenskonferenz zusammen. Sie beschloss, einen "Ständigen Schiedsgerichtshof" in Den Haag zu errichten. Dieser setzte sich aus ernannten Sachverständigen des Völkerrechts zusammen und sollte Konflikte zwischen Staaten schlichten. 1922 wurde im Rahmen des Völkerbundes zusätzlich der Ständige Internationale Gerichtshof (The Permanent Court of International Justice – PCIJ) geschaffen. Nach der Gründung der Vereinten Nationen (United Nations – UN) und der Schaffung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) im Jahr 1945 wurde der PCIJ im April 1946 offiziell aufgelöst und der IGH nahm seine Arbeit auf. Der IGH urteilt ebenfalls über Streitigkeiten zwischen Staaten, die seine Zuständigkeit anerkennen.
Heute gibt es eine Vielzahl weiterer internationaler Gerichte wie zum Beispiel den Internationalen Seegerichtshof (ISGH), den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), den EFTA-Gerichtshof für die Europäische Freihandelsassoziation, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oder den Internationalen Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (MICT), der die Arbeit der beiden Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) sowie für Ruanda (ICTR) fortführt.
Zur neuen Generation von Strafgerichten gehören die sogenannten Hybridgerichte oder auch internationalisierten Gerichte, die nationale und internationale Elemente vereinen: Zum einen bestehen Senate und Anklagebehörde aus nationalen und internationalen Richtern beziehungsweise Staatsanwälten. Zum anderen enthält das anwendbare Recht neben den Tatbeständen des Völkerstrafrechts auch Bestimmungen des nationalen Strafrechts. Im Unterschied zu den Ad-hoc-Strafgerichtshöfen, die durch eine Resolution des Sicherheitsrats ins Leben gerufen wurden, beruhen die Hybridgerichte zumeist auf bilateralen Abkommen des Tatortstaats mit den UN.
Zu diesen internationalisierten Gerichten gehören beispielsweise die sogenannten Regulation 64 Panels in Kosovo, die Sonderkammern in Timor-Leste, der Sondergerichtshof für Sierra Leone, die Außerordentlichen Kammern in Kambodscha oder das Sondertribunal für Libanon.
Das Besondere am Bereich des internationalen Strafrechts ist, dass hier nicht Konflikte zwischen Staaten behandelt werden, sondern über natürliche Personen gerichtet wird. Ein einmal anerkanntes internationales Gericht kann ein Urteil unabhängig von den Überzeugungen einzelner Staatsvertreter fällen. Entsprechend lang war der Weg zur Errichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs: Bereits 1872 wurde unter dem Eindruck der Grausamkeiten im preußisch-französischen Krieg von 1870/71 der erste förmliche Vorschlag zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs unterbreitet. Vor allem wegen der während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen und der Tätigkeit der Internationalen Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio wurde die Idee auf UN-Ebene neu belebt. Die 1948 beschlossene Völkermordkonvention sah ein internationales Strafgericht vor, zu dessen Gründung es aber nicht kam. Auch spätere Bemühungen im Rahmen der UN blieben wegen des Kalten Kriegs ohne Erfolg.
1990 beauftragte die UN-Generalversammlung die Völkerrechtskommission, die Errichtung eines Strafgerichtshofs erneut zu prüfen. Die massiven Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda führten zur Einrichtung zweier Ad-hoc-Strafgerichtshöfe. Dies gab dem Vorhaben eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs weiteren Auftrieb. 1994 legte die UN-Völkerrechtskommission ihren ersten Entwurf für ein Statut eines Internationalen Strafgerichtshofs vor. Die von der Generalversammlung beschlossene Konferenz zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) endete mit der Verabschiedung des Römischen Statuts am 17. Juli 1998. Nachdem 60 Staaten das Römische Statut ratifiziert hatten, trat es am 1. Juli 2002 in Kraft.
Bis zum 19. Juli 2017 wurde das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 124 Staaten ratifiziert. Zuletzt im März 2016 von El Salvador und zuvor im Januar 2015 von Palästina, wobei sowohl die Anerkennung Palästinas als Staat als auch die exakte Bestimmung der Staatsgrenzen einen Sonderfall darstellen (siehe "Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen"). Weitere 27 Staaten haben das Römische Statut unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert. Acht Staaten lehnen das Statut gegenwärtig ab: China, Irak, Israel, Katar, Libyen, Russland, Sudan und die USA. Die USA, Israel, der Sudan und Russland hatten das Römische Statut zunächst unterzeichnet, später aber eine Ratifikation ausgeschlossen und ihre Unterschriften zurückgezogen (zuletzt Russland Ende 2016).
Im Jahr 2016 traten mit Südafrika, Burundi und Gambia erstmals Staaten von der Ratifizierung des Römischen Statuts zurück, wobei Südafrika im März 2017 und Gambia im Februar 2017 den Rücktritt widerriefen und der Rücktritt Burundis erst am 27.10.2017 wirksam wird. Gemeinsam ist den Staaten, dass sie dem IStGH anti-afrikanische Tendenzen vorwerfen.
Der IStGH soll weder die nationale Strafgerichtsbarkeit ersetzen noch nationale Verfahren überprüfen. Der Gerichtshof kann nur dann strafverfolgend tätig werden, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, eine bestimmte schwere Straftat ernsthaft zu verfolgen (Grundsatz der Komplementarität). Die Gerichtsbarkeit ist auf vier besonders schwere Verbrechen (Kernverbrechen) beschränkt: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und – nach Aktivierung der entsprechenden Bestimmungen – das Verbrechen der Aggression (siehe "Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen").
Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nicht nur ausüben, wenn sich ein Verbrechen in einem Staat ereignet, der die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt hat, sondern auch dann, wenn der mutmaßliche Täter die Staatsangehörigkeit eines dieser Staaten besitzt. Die völkerrechtspolitische Errungenschaft besteht darin, dass sich Individuen vor einer unabhängigen richterlichen Institution der Staatengemeinschaft verantworten müssen.
Der IStGH ist nicht Teil der UN, sondern eine eigenständige Internationale Organisation mit Völkerrechtspersönlichkeit. Sein Sitz ist in Den Haag/Niederlande. Der Gerichtshof wird entweder aufgrund einer Initiative eines Vertragsstaates, des UN-Sicherheitsrats oder aufgrund eigener Initiative des Anklägers ("proprio motu") tätig. Der Strafgerichtshof hat keine eigene Polizei, keine Soldaten, keine Vollzugsgewalt, also keine exekutiven Befugnisse auf dem Territorium von Staaten.
Mitte 2017 war der Gerichtshof mit der Frage von Kernverbrechen in neun Staaten/Regionen befasst (zehn sogenannte Situationen). Dabei wurde der IStGH in fünf Fällen auf Initiative eines Vertragsstaates tätig (Uganda, Demokratische Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik I und II, Mali), zweimal ging die Initiative vom UN-Sicherheitsrat aus (Sudan/Region Darfur und Libyen) und dreimal vom Ankläger (Kenia, Côte d'Ivoire und Georgien).
Vorbereitende Untersuchungen des IStGH – aus denen keine Ermittlungen folgen müssen – gab es Mitte 2017 für Afghanistan, Burundi, Gabun, Guinea, den Irak/das Vereinigte Königreich, Kolumbien, Nigeria, Palästina, die Ukraine sowie zu Vorfällen auf registrierten Schiffen der Komoren, Griechenlands und Kambodschas ("Konvoi nach Gaza").
Sein erstes Urteil sprach der IstGH am 14. März 2012 gegen den früheren kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga, der wegen der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten am 10. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt wurde. Ein weiteres Endurteil ist der Freispruch aus Mangel an Beweisen vom Dezember 2012 gegen den kongolesischen Milizenführer Mathieu Ngudjolo Chui. Im März 2014 wurde der Milizenführer Germain Katanga zu 12 Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Demokratischen Republik Kongo verurteilt.
Als erster Militärführer wurde im März 2016 Jean-Pierre Bemba schuldig gesprochen und im Juni 2016 zu einer 18-jährigen Haftstrafe verurteilt. Allerdings beschäftigt sich zurzeit die Berufungskammer mit dem Urteil. Schließlich wurde im September 2016 der Islamist Ahmad Al Faqi Al Mahdi wegen der Zerstörung von Kulturgütern in Timbuktu (Mali) zu neun Jahren Haft verurteilt.
Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen
Das Verbrechen der Aggression wurde auf der 1. Überprüfungskonferenz zum Römischen Statut in Kampala (Uganda) im Mai/Juni 2010 im Konsens von den Vertragsstaaten definiert. Hiernach ist ein Verbrechen der Aggression die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken. Eine Angriffshandlung liegt dann vor, wenn ein Staat Waffengewalt anwendet, die sich gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates richtet oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist.
Damit der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression ausüben kann, müssen nach dem 1. Januar 2017 zwei Drittel aller Vertragsstaaten die Aktivierung der neuen Bestimmungen beschließen und mindestens 30 Staaten müssen sie ratifizieren.
Bei der Staatlichkeit Palästinas orientiert sich der IStGH an dem Beschluss der UN-Generalversammlung vom 29. November 2012, nach dem Palästina ein beobachtender Nicht-Mitgliedstaat ist. Siehe hierzu auch: Interner Link: http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/150698/un-machen-palaestina-zum-beobachterstaat
Quellen / Literatur
International Criminal Court (ICC): www.icc-cpi.int; Auswärtiges Amt: www.auswaertiges-amt.de
International Criminal Court (ICC): www.icc-cpi.int; Auswärtiges Amt: www.auswaertiges-amt.de
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-14T00:00:00 | 2012-01-10T00:00:00 | 2022-01-14T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/globalisierung/52814/internationale-gerichtsbarkeit/ | Wenn Staaten Souveränität an eine übergeordnete Ebene abgeben, geht dem meistens ein langer politischer Prozess voran. Im Bereich der Gerichtsbarkeit wurden bereits zahlreiche internationale Institutionen geschaffen. Das internationale Strafrecht wei | [
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