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Alternative für Deutschland (AfD) | Landtagswahl Sachsen 2019 | bpb.de |
Gründungsjahr Landesverband 2013* Mitgliederzahl in Sachsen 2.600* Landesvorsitz Jörg Urban* Wahlergebnis 2014 9,7 Prozent *nach Angaben der Partei
Die "Alternative für Deutschland" (AfD) wurde 2013 aus Protest gegen die Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung ins Leben gerufen. Scheiterte die Partei um den Hamburger Volkswirtschaftsprofessor Bernd Lucke im selben Jahr bei der Bundestagswahl noch knapp an der Fünfprozenthürde, änderte sich dies im darauffolgenden Jahr bei drei Landtagswahlen im Osten, u. a. in Sachsen, wo sie aus dem Stand 9,7 Prozent der Zweitstimmen erhielt. Der Freistaat zählt seitdem zu den Hochburgen der AfD – bei der Bundestagswahl 2017 und bei der Europawahl 2019 wurde sie vor der CDU stimmenstärkste Partei, was auch das erklärte Ziel der AfD für die Landtagswahl ist. Als Spitzenkandidat tritt der seit 2018 amtierende Landesvorsitzende Jörg Urban an.
Am 5. Juli gab der sächsische Landeswahlausschuss bekannt, nur die Landesliste der AfD mit den Listenplätzen 1 bis 18 zuzulassen, nicht aber die Plätze 19 bis 61. Begründet wurde die Entscheidung mit formalen Fehlern: Da die AfD ihre Liste in zwei Versammlungen im Februar und im März 2019 mit jeweils unterschiedlichen Wahlverfahren (Einzel- und Blockwahlverfahren) verabschiedet habe, sei die notwendige Chancengleichheit bei der Kandidatenaufstellung nicht gegeben gewesen. Die AfD legte gegen die Entscheidung Beschwerde beim sächsischen Verfassungsgerichtshof ein.
In den vergangenen fünf Jahren hat sich die AfD personell und programmatisch stark gewandelt. Zunächst verlor Bernd Lucke im Jahr 2015 den Machtkampf gegen das Duo Frauke Petry und Jörg Meuthen: Der Gründer der AfD wollte die Entwicklung von einer eurokritischen zu einer zuwanderungsfeindlichen Partei nicht mittragen und verließ die Partei. 2017 unterlag dann die Sächsin Petry selbst im innerparteilichen Konflikt gegen Jörg Meuthen und Alexander Gauland, die seither die Partei gemeinsam führen.
Wurde die AfD ursprünglich dem liberal-konservativen Spektrum zugerechnet, gilt sie Politikwissenschaftlern und Extremismusforschern mittlerweile mehrheitlich als rechtspopulistisch bzw. als in Teilen rechtsextremistisch. Die interne Heterogenität der AfD macht eine eindeutige Einordnung schwierig. So werden seit 2019 die Jugendorganisation "Junge Alternative" und die Teilorganisation "Der Flügel" als Verdachtsfälle vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Die ostdeutschen Landesverbände, so auch der sächsische, gelten ideologisch und personell als radikaler gegenüber den gemäßigten Kräften im Westen.
Programmtische Schwerpunkte der Landes-AfD bilden die Themen innere Sicherheit, Migration und Islam. Die Partei will die Ausländerkriminalität und die "ungeordnete Zuwanderung in die Sozialsysteme" bekämpfen und "Sachsen zum Drehkreuz für Abschiebungen in Deutschland machen." Gesellschaftspolitisch vertritt die AfD konservative Positionen. Sie plädiert für ein traditionelles Familienbild und lehnt gleichgeschlechtliche Ehen ab. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen der AfD sind zum Teil widersprüchlich. Einerseits verlangt sie Entlastungen für Mittelstand und Unternehmer, andererseits mehr wohlfahrtstaatliche Leistungen für Familien. Zu den zentralen Forderungen der Partei gehört außerdem die verstärkte Nutzung von Volksabstimmungen, um zentrale Fragen der Migration und der Europolitik direkt von der Bevölkerung entscheiden zu lassen.
Gründungsjahr Landesverband 2013* Mitgliederzahl in Sachsen 2.600* Landesvorsitz Jörg Urban* Wahlergebnis 2014 9,7 Prozent *nach Angaben der Partei
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2019-08-05T00:00:00 | 2019-07-12T00:00:00 | 2019-08-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/sachsen-2019/293834/alternative-fuer-deutschland-afd/ | Von zentraler Bedeutung für die Gründung der AfD 2013 war die Kritik an der Eurorettungspolitik. Später nahm die Partei verstärkt die Themen Asyl und Zuwanderung in den Fokus. Programmatische Schwerpunkte der sächsischen AfD zur Landtagswahl bilden d | [
"Alternative für Deutschland",
"AfD",
"Sachsen",
"Landtagswahl"
] | 800 |
Fachbeiträge für Schule und Pädagogik im Kontext Islamismus und Prävention | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de | Die Fachbeiträge im Überblick
Details zu den Fachbeiträgen finden Sie, indem Sie auf den jeweiligen Titel klicken.
Konflikte um Religion
Interner Link: Religiosität in der Schule: Adoleszenz und ZugehörigkeitHeinrich-Böll-Stiftung: Interview mit Canan Korucu (ufuq.de), 2021
Interner Link: Religiöse Normen in der Schule: Eine organisationssoziologische Kritik am Konzept der „konfrontativen Religionsbekundung“ufuq.de: Annika Koch, 2022
Interner Link: Umgang mit Konflikten rund um Religion in der Schuleufuq.de: Maria Sommerhoff, 2021
Interner Link: Zum Umgang mit Bestrafungsängsten und religiöser Angstpädagogik in der BildungsarbeitRise: Götz Nordbruch, 2020
Islamismus, Radikalisierung, Extremismus & Prävention
Interner Link: Abwägung von Verschwiegenheits- und Meldepflichten bei Verdacht auf Radikalisierung im schulischen Kontextufuq.de: Interview mit Kaja Deller und Konstantin Welker, 2020
Interner Link: Zunehmender Islamismus an Schulen?ufuq.de: Jochen Müller, 2020
Interner Link: Empfehlungen zum Umgang mit Kindern aus religiös-extremistischen Familienufuq.de: Interview mit Michael Gerland, 2021
Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Diversität & Toleranz
Interner Link: Kinder und Jugendliche stärken – Materialien zur Resilienzförderung im Schulalltag im Kontext rassismuskritischer Bildungsarbeitufuq.de, 2021
Weitere Themen für die Schule
Interner Link: „Wenn wir von Schulfrieden sprechen, ist die Pädagogik gescheitert“ – ein Interview zum Begriff des „Schulfriedens“ufuq.de: Interview mit Tobias Schieder, 2022
Konflikte um Religion
Religiosität in der Schule: Adoleszenz und Zugehörigkeit
Heinrich-Böll-Stiftung: Interview mit Canan Korucu (ufuq.de), 2021
Canan Korucu spricht im Interview über typische Provokationen von Jugendlichen und macht Vorschläge, wie man mit religiös konnotierten Konflikten im schulischen Umfeld umgehen kann. Sie nennt notwendige Veränderungen, die es im schulischen Kontext braucht, um positive Effekte zu erzielen – wie Zugehörigkeitsgefühl, Akzeptanz und konstruktiver Diskurs.
Externer Link: Zum Interview auf heimatkunde.boell.de
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Religiöse Normen in der Schule: Eine organisationssoziologische Kritik am Konzept der „konfrontativen Religionsbekundung“
ufuq.de: Annika Koch, 2022
Wie lassen sich religionsbezogene Konflikte in der Schule verstehen und lösen? Im Beitrag erklärt Annika Koch, warum Diskussionen über Religion ein normales Phänomen in Schulen pluralistischer Gesellschaften sind. Daran anknüpfend kritisiert sie Ansätze, die Konflikte um Religion als „konfrontative Religionsbekundung“ einordnen und plädiert für eine stärkere Unterstützung von Lehrkräften.
Externer Link: Zum Beitrag auf ufuq.de
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Umgang mit Konflikten rund um Religion in der Schule
ufuq.de: Maria Sommerhoff, 2021
Wie gelingt der Umgang mit Konflikten rund um das Thema Religion in der Schule? Mara Sommerhoff vom Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg beleuchtet in einem Fachbeitrag auf ufuq.de relevante rechtliche sowie pädagogische Perspektiven. Für die Praxis sei es zentral, durch feste Regelungen die Freiheit und Grenzen von Religionsausübung im Schulalltag zu bestimmen. Ebenso wichtig sei ein stets offener Dialog mit Schülerinnen und Schülern, um Werte innerhalb der Schulgemeinschaft zu verhandeln.
Externer Link: Zum Beitrag auf ufuq.de
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Zum Umgang mit Bestrafungsängsten und religiöser Angstpädagogik in der Bildungsarbeit
Rise: Götz Nordbruch, 2020
Religiöse Angstpädagogik instrumentalisiert Unsicherheiten und Ängste. Auch online werden obskure Bestrafungsängste geschürt. Götz Nordbruch beschreibt, wie YouTube-Kanäle aus verschiedenen religiösen Spektren versuchen, ihr Publikum durch emotionale Ansprachen auf eine rigide religiöse Praxis einzuschwören. Er erklärt, wie pädagogische Fachkräfte damit umgehen können.
Externer Link: Zum Beitrag auf rise-jugendkultur.de
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Islamismus, Radikalisierung, Extremismus & Prävention
Abwägung von Verschwiegenheits- und Meldepflichten bei Verdacht auf Radikalisierung im schulischen Kontext
ufuq.de: Interview mit Kaja Deller und Konstantin Welker, 2020
Im Gespräch beschreiben Kaja Deller und Konstantin Welker die Rechte und Pflichten, die bei der Weitergabe von Informationen über Schülerinnen und Schüler zu beachten sind, wenn der Verdacht auf Radikalisierung besteht. Unter anderem geht es um die Abwägung von Verschwiegenheits- und Offenbarungspflichten.
Externer Link: Zum Interview auf ufuq.de
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Zunehmender Islamismus an Schulen?
ufuq.de: Jochen Müller, 2020
Viele Lehrkräfte haben Angst vor islamistischer Gewalt in der Schule und vor sich radikalisierenden Jugendlichen. ufuq.de-Co-Geschäftsführer Dr. Jochen Müller schildert in dem Kommentar aus seiner Sicht, was – vermeintlich islamistisch begründete – Konflikte im Klassenzimmer tatsächlich mit Radikalisierung zu tun haben, und er macht Mut, dass diese häufig pädagogisch bearbeitet werden können.
Externer Link: Zum Beitrag auf ufuq.de
Interner Link: Nach oben zu "Die Fachbeiträge im Überblick"
Empfehlungen zum Umgang mit Kindern aus religiös-extremistischen Familien
ufuq.de: Interview mit Michael Gerland, 2021
Welchen Einfluss hat die Ideologie in religiös-extremistischen Familien auf das Aufwachsen von Kindern? Welche Konflikte ergeben sich in der Schule? Was können Pädagoginnen und Pädagogen tun, um Kinder und Eltern dabei zu unterstützen, mit diesen Konflikten umzugehen? Michael Gerland von der Hamburger Fach- und Beratungsstelle Legato informiert im Interview über Ansätze, die sich im Umgang mit religiös-extremistischen Familien bewährt haben.
Externer Link: Zum Interview und zur Handreichung auf ufuq.de
Interner Link: Nach oben zu "Die Fachbeiträge im Überblick"
Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Diversität & Toleranz
Kinder und Jugendliche stärken – Materialien zur Resilienzförderung im Schulalltag im Kontext rassismuskritischer Bildungsarbeit
ufuq.de, 2021
Eine Fachtagung befasste sich mit Lebensrealitäten von Kindern, die Rassismus erfahren haben und sozial benachteiligt sind und mit der Frage, wie Resilienz in der Schule gefördert werden kann. Die Präsentationen, Literaturhinweise und Aufzeichnungen von Vorträgen, Podcasts und Diskussionen werden hier zusammengestellt, um Lehrkräfte und Schulleitungen bei der Resilienzförderung zu unterstützen.
Externer Link: Zur Materialsammlung auf ufuq.de
Interner Link: Nach oben zu "Die Fachbeiträge im Überblick"
Weitere Themen für die Schule
„Wenn wir von Schulfrieden sprechen, ist die Pädagogik gescheitert“ – ein Interview zum Begriff des „Schulfriedens“
ufuq.de: Interview mit Tobias Schieder, 2022
Was steckt hinter dem Begriff des „Schulfriedens"? Woher stammt er und wie wird er heute gebraucht? Diese und weitere Fragen klärt Rechtsanwalt Tobias Schieder im Interview mit ufuq.de. Anhand von Beispielen erläutert er, wann eine Störung des Schulfriedens vorliegt und warum der Begriff seiner Meinung nach nicht hilfreich ist, um über Konflikte im pädagogischen Raum zu sprechen.
Externer Link: Zum Interview auf ufuq.de
Interner Link: Nach oben zu "Die Fachbeiträge im Überblick"
Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-08-03T00:00:00 | 2023-07-24T00:00:00 | 2023-08-03T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/523406/fachbeitraege-fuer-schule-und-paedagogik-im-kontext-islamismus-und-praevention/ | Interviews, Fachartikel und Kommentare zum Umgang mit Islamismus und Prävention in der pädagogischen Praxis. Weitere Themen sind Diskriminierung und Konflikte um Religion. | [
"Islamismus",
"Radikalisierungsprävention",
"Hintergrundwissen",
"Didaktik ",
"Prävention",
"Pädagogische Praxis"
] | 801 |
Wessen Gedenken? Wessen gedenken? | 27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus | bpb.de | "Der 27. Januar soll dem Gedenken an die Opfer der Ideologie vom 'nordischen Herrenmenschen' und von den 'Untermenschen' und ihrem fehlenden Existenzrecht dienen." So hat Bundespräsident Roman Herzog die Intention jenes Gedenktages gekennzeichnet, den er am 3. Januar 1996 begründet hat, und zwar als "Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus" (Bundesgesetzblatt 1996, Teil I, S. 17). Als Datum für diesen Tag wurde der 27. Januar gewählt, der Tag der Befreiung des Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen im Jahre 1945. Der Bundespräsident bezog das Gedenken auf all jene Menschen, die "einer willkürlich definierten Rasse angehörten oder sonst wie vom willkürlich festgelegten Menschenbild abwichen" und die den rassistischen Kategorien unentrinnbar ausgeliefert gewesen seien. Als Beispiele nannte Roman Herzog, wobei er die Unvollständigkeit ausdrücklich betonte: Juden, Sinti und Roma, Schwerstbehinderte, Homosexuelle. Seither wird am 27. Januar an vielen Orten und Stätten in Deutschland dieser Opfergruppen gedacht und an sie erinnert. Besondere Bedeutung hat die alljährlich stattfindende Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag. In der medialen Darstellung wird der Gedenktag häufig als "Holocaust-Gedenktag" bezeichnet. Diese Formulierung hat der Bundespräsident 1996 noch als "zu enge(n) Begriff" zurückgewiesen, weil er das Wort allein für das NS-Verbrechen an den europäischen Juden gebraucht wissen wollte. In dieser Bedeutung gelangte das Wort auch nach Deutschland, nämlich im Januar 1979 als Titel eines vierteiligen US-amerikanischen Fernsehfilms, der das Schicksal der deutschen Juden während der NS-Zeit am Beispiel der Arztfamilie Weiß zum Thema hat. Der Film wurde zu einem Meilenstein für die Erinnerung an die Vernichtung der Juden. In den Folgejahren ersetzte der Begriff "Holocaust" zunehmend den der "Endlösung". Letzterer entstammte dem NS-Amtsdeutsch und hatte den Nationalsozialisten zur Verschleierung für den Judenmord gedient. Wer der Geschichte des Wortes "Holocaust" nachgeht, wird feststellen, dass in der Antike die Wörter "holocau(s)tos" (griech.) und "holocaustum" (lat.) ein "Brandopfer" bezeichneten und "holocaust" also ursprünglich ein religiöser Begriff ist, dass in der frühen Neuzeit in der englischen Literatur das Wort "holocaust" zudem im Sinne der Vernichtung einer Vielzahl von Menschen oder großer Sachwerte durch Feuer, beispielsweise im Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen, oder als Synonym für "Massaker" gebraucht wird. Im Judentum, namentlich in Israel, hatte sich bereits in den frühen 1950er-Jahren der Begriff "Schoah" (Katastrophe, Vernichtung) durchgesetzt, um den Mord an den europäischen Juden begrifflich zu fassen. Insbesondere die mit "Holocaust" verknüpfte religiöse Konnotation − "Brandopfer"− erscheint Juden als fragwürdig. Am 1. November 2005 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar zum internationalen "Holocaust Remembrance Day". In der entsprechenden Resolution (A/RES/60/7) findet sich, eher indirekt, an einer Stelle eine Erläuterung zu "Holocaust". So wird die Hoffnung ausgesprochen, "dass der Holocaust, bei dem ein Drittel des jüdischen Volkes sowie zahllose Angehörige anderer Minderheiten ermordet wurden, auf alle Zeiten allen Menschen als Warnung vor den Gefahren von Hass, Intoleranz, Rassismus und Vorurteil dienen wird". Mit der Wendung "Angehörige anderer Minderheiten" sind vermutlich eher ethnische Gruppen als Opfer im Sinne eines "sozialen Rassismus" gemeint. Möglicherweise hat diese UN-Resolution dazu beigetragen, dass – unabhängig von der dargelegten Unklarheit − die rassistischen Großverbrechen der NS-Regimes zunehmend zusammenfassend als "Holocaust" bezeichnet werden. Im Folgenden werden Opfergruppen des NS-Rassismus vorgestellt – jene, die von Roman Herzog benannt wurden, ergänzt um Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie um nicht angepasste Jugendliche. Dabei sollen Beispiele für "Gegen-Monumente", also für Denk- oder Mahnzeichen, die bewusst den Opfern geschichtlicher Ereignisse gewidmet sind, einbezogen werden. | Article | Gernot Jochheim | 2021-12-07T00:00:00 | 2016-12-21T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/info-aktuell/239452/wessen-gedenken-wessen-gedenken/ | 1996 rief Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar als Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus ins Leben. Oft als Holocaust-Gedenktag bezeichnet, soll dieses Datum aber nicht nur an Juden, sondern auch an die vielen weiteren Opfergruppen er | [
"Gedenken",
"Erinnerung",
"Geschichte",
"Nationalsozialismus",
"Befreiung"
] | 802 |
Die Zukunft der Stromerzeugung | 20 Jahre Tschernobyl | bpb.de | Einleitung
Die Stromerzeugung in Deutschland steht vor einschneidenden Veränderungen und einer deutlichen Strombedarfsdeckungslücke. Die Abbildung der PDF-Version zeigt die Entwicklung des Kraftwerksparks in den vergangenen Jahren. Einem Rückgang bei Anlagen auf der Basis fossiler Energieträger und der Atomenergie steht eine Steigerung insbesondere bei Windkraftwerken gegenüber.
Eine Projektion auf der Basis der Altersstruktur der Anlagen zeigt, dass in den kommenden 15 bis 20 Jahren eine Leistung in Höhe von rund 40 Gigawatt (GW) von neuen Kraftwerken aufgebracht werden muss. Wesentlicher Grund hierfür ist die altersbedingte Stilllegung von Kohle- und Gaskraftwerken sowie die gesetzlich geregelte Stilllegung von Atomkraftwerken und der Ersatzbedarf bei Windkraftwerken mit ihrer wesentlich kürzeren Lebensdauer.
Bei diesen Neubaunotwendigkeiten, die immerhin ein Investitionsvolumen von rund 50 Milliarden Euro repräsentieren, sind die Auswirkungen des Verbrauchswachstums noch nicht berücksichtigt. Steigender individueller Komfort produziert steigenden Stromverbrauch: So hat sich etwa die Wohnfläche in Quadratmetern pro Bundesbürger seit 1960 glatt verdoppelt, die Zahl der Single-Haushalte verdreifacht, der Gerätebestand vervielfacht - mit entsprechenden Auswirkungen auf den durchschnittlichen Stromverbrauch pro Bürger.
Dieser Verbrauchsentwicklung stehen steigende Anforderungen an Klimaschutz und Ressourcenschonung gegenüber. In den vergangenen 100 Jahren betrug die globale Erderwärmung rund 0,7°C, der Kohlendioxid (CO2)-Anteil in der Erdatmosphäre erhöhte sich von 280 auf 380 ppm (parts per million). Betrachtet man eine Zunahme der Erderwärmung um etwa zwei Grad als klimapolitisch maximal akzeptable Obergrenze, dann sind bestenfalls noch 70 ppm an Anteilserhöhung "frei".
Auch hinsichtlich der Beschaffungsseite der Primärenergie steigt der Handlungsdruck. In Anbetracht der geophysikalischen Verteilung von Energierohstoffen sieht sich Deutschland einer steigenden Importabhängigkeit bei fossilen Primärenergieträgern (Gas, Öl und Kohle) ausgesetzt; die Braunkohle ist nur eine begrenzt beruhigende Ausnahme. Handlungsbedarf besteht also im Sinne einer zunehmend wichtiger werdenden geostrategischen Diversifikation der deutschen Primärenergiebezüge - "Energie-Außenpolitik" wird zum neuen Politikfeld.
Schließlich hat der veränderte Ordnungsrahmen (die grenzüberschreitende Öffnung der Märkte bei damit einhergehender Regulierung der Übertragungs- und Verteilnetze als natürliche Monopole) ökonomische Auswirkungen. Die Zielsetzung eines europäischen Binnenmarktes für Energie, die sich in eine weltweite Deregulierung der großen Infrastruktursektoren einordnen lässt, verändert paradigmatisch die Spielregeln von Stromerzeugung und -versorgung. Nicht an die Stelle, wohl aber an die Seite der Sicherheit und Zuverlässigkeit des "Strom-Wirtschaftens" tritt als wesentlicher Erfolgsfaktor die Markteffizienz. "Markt" ist dabei keineswegs eine singuläre Erscheinung, sondern durchgängiges Prinzip: (Primärenergie-)Beschaffungsmärkte sind ebenso relevant wie Kapital-, Absatz-, Technologie- und Knowhow-Märkte.
Welchen Anforderungen muss die Stromerzeugung der Zukunft genügen? Grundsätzlich muss sich diese Frage am dreifachen energiepolitischen Ziel einer sicheren, preisgünstigen und umweltverträglichen Stromversorgung ausrichten. Dabei müssen die Interessen einer nachhaltigen Entwicklung einerseits, einer kurz- und mittelfristig wirksamen Standortentwicklung andererseits und schließlich einer Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ausbalanciert werden - mit eindeutigen Antworten ist dies kaum möglich.
Vor allem sechs Herausforderungen spielen eine Rolle. 1. Die Stromerzeugung der Zukunft als Teil der Angebotsgestaltung muss Ziele, Potenziale und Optionen zur Gestaltung der Nachfrageseite (unter Effizienz- wie unter Volatilitätsgesichtspunkten) stärker ins Kalkül ziehen. 2. Sie muss die im Rahmen internationaler Vereinbarungen normierten Klimaschutzanforderungen technisch und wirtschaftlich umsetzen und deren Weiterentwicklung strategisch antizipieren. 3. Sie muss durch einen stärkeren Einsatz Erneuerbarer Energien (renewables) einen expansiven Beitrag zur längerfristigen Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur Ressourcenschonung leisten. 4. Sie muss sowohl ihre Kosten als auch ihre Preise den Erfordernissen der jeweiligen Märkte entsprechend einstellen können und damit auch zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft beitragen. 5. Sie muss auch unabhängig von Marktkalkülen insgesamt sozialverträgliche Preise bieten können. 6. Sie muss schließlich sehr viel stärker als in der Vergangenheit Strategien und Instrumente zum "Hedging" (Abmilderung) der Brennstoffpreisrisiken entwickeln und zum Einsatz bringen. Systementscheidung für Wettbewerb
2006 jährt sich nicht nur zum 20. Mal der Jahrestag des Reaktorunfalls von Tschernobyl - es ist auch fast 20 Jahre her, seitdem der damalige EU-Energiekommissar Cardoso e Cunha erste Entwürfe einer "Durchleitungsrichtlinie Strom" vorlegte. Und vor weniger als 20 Jahren sprach ein Vorstandsmitglied eines großen deutschen Stromversorgungsunternehmens vor dem Hintergrund der Diskussion um die Erleichterung des grenzüberschreitenden Stromhandels davon, dass Strom nun einmal "weder eine Ware noch eine Dienstleistung, sondern ein Gut besonderer Art" sei.
In der Zwischenzeit ist die Entscheidung gefallen: Aus der in den meisten europäischen Ländern und über die längsten Phasen der Entwicklung hinweg zumeist öffentlichen (staatlich oder kommunal verfassten) Aufgabe der Stromversorgung wurde als Ergebnis eines politischen Willensbildungsprozesses eine wirtschaftliche Betätigung - und dies im Wettbewerb.
Historisch und politisch standen die Ideen der "Daseinsvorsorge" bzw. in Frankreich des "Service publique" Pate für die jahrzehntelange öffentliche Ausgestaltung der Stromversorgung. Volkswirtschaftliche Überlegungen (die enorme Kapitalintensität der Infrastruktur-Investitionen, die den Gedanken eines "natürlichen Monopols" für die gesamte vertikal integrierte Stromversorgung nahe legten), aber auch industriepolitische Interessen unterstützten diese Form der Ausgestaltung. Erst im Zuge der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung, des Verbrauchswachstums und auch der Erkenntnis, dass "Strom-Wirtschaften" nicht nur infrastruktureller Erfordernis, sondern eben auch unternehmerischem Gewinnstreben entspricht, entwickelten sich privatwirtschaftliche Betätigungen und "gemischt-wirtschaftliche" Organisationsformen.
Die politische Entscheidung für die Ausgestaltung der Stromversorgung als wirtschaftliche Betätigung im Wettbewerb war keine "graduelle", sondern eine Systementscheidung, und kam einem Paradigmenwechsel gleich. Diese in der Erkenntnis höherer volkswirtschaftlicher Effizienz begründete Systementscheidung erfordert nach Jahrzehnten des technisch-wirtschaftlich, politisch, rechtlich und auch kulturell völlig anders orientierten "Strom-Wirtschaftens" Zeit - nicht nur für die Umsetzung, sondern vor allem auch für deren Wirksamwerden. Diese entwicklungsnotwendige und durch keine Willensakte welcher Eindringlichkeit auch immer substituierbare Zeit ist notwendig für den kulturellen Wandel in den Unternehmen, für die Anpassung technischer Systeme und unternehmerischer Geschäftsmodelle, für die Ausgestaltung der Austauschbeziehungen zwischen den Unternehmen der Stromwirtschaft und ihren Kunden - und auch für die Ausgestaltung der Beziehung zwischen "freier" wirtschaftlicher Betätigung und politischer Ziel- und Rahmensetzung.
Dieses Wirkungsverständnis von Politik und Wirtschaft spielt bei der Beantwortung der Frage, ob und inwieweit die Systementscheidung für den Wettbewerb die gewünschte Wirkung entfalten wird, eine entscheidende Rolle. Die wesentliche Herausforderung der Politik (auf allen Ebenen) ist es, eine ausreichende Qualität der Rahmenbedingungen und Zielsetzungen zu liefern. "Qualität" meint nicht in erster Linie die inhaltliche Dimension, sondern "bescheidet" sich mit eher formalen Ansprüchen. Die entscheidenden Qualitätsindikatoren sind Klarheit, Konsistenz und Kalkulierbarkeit.
Relevant in diesem Zusammenhang ist auch die Weiterentwicklung des wettbewerbspolitischen und insbesondere des kartellrechtlichen Verständnisses. Der europäische Binnenmarkt entsteht durch Handel ebenso wie durch länderübergreifend tätige "europäische" Unternehmen. In erster Linie entscheidend ist die Frage nach der Abgrenzung des relevanten Marktes. Bei einer konsequenten Orientierung am europäischen Binnenmarkt für Energie stellen sich sehr viele Fragen angesichts der trotz spektakulärer Übernahme- und Beteiligungsmeldungen nach wie vor stark fragmentierten europäischen Unternehmenslandschaft gar nicht mehr oder nur noch deutlich entschärft. Eine zweite Frage ist die des grundlegenden kartellrechtlichen Ansatzes: eine stärkere Fokussierung auf eine in ihrer Durchschlagskraft gestärkte Missbrauchsaufsicht und eine deutlich zurückhaltendere Fusionskontrolle würde dem Grundverständnis politisch "gelieferter" Ziel- und Rahmensetzungen und unternehmerisch ausgefüllter Handlungsspielräume sehr viel mehr Rechnung tragen als interventionistische Ad-hoc-Übungen.
Für die Zukunft der Stromerzeugung ist dieser Zusammenhang evident. Denn: Preiszyklen sind marktnotwendig und konstitutives Element funktionierender Märkte. Diese Preiszyklen durch politisch motiviertes staatliches Handeln zu kappen käme dem Versuch gleich, die Wirkungsmechanismen von Märkten zu suspendieren. Die Monopolwirtschaft des Stromsektors der Vergangenheit wies eher hohe Preise und niedrige Preisrisiken auf. Die Wettbewerbswirtschaft (eines Teils des Stromsektors der Zukunft) zeichnet sich dagegen eher durch niedrigere Preise und höhere Preisschwankungen aus. Die Politik darf angesichts dieser fundamentalen Wirkungsmechanismen von Wettbewerbs-Wirtschaften ihre Systementscheidung für den Stromsektor nicht ad absurdum führen. Sie darf nicht den Versuch machen, das Beste beider Welten zusammenzuführen in der Illusion, das niedrigere Preisniveau des Marktes und gleichzeitig die höhere Preisstabilität des Monopols erreichen zu können. Die Systementscheidung "Wettbewerb" für den Stromsektor darf in Anbetracht der langfristigen Wirkung von Investitionsentscheidungen nicht als kurzfristige "Preisminimierungs-Veranstaltung" missverstanden werden.
In unmittelbarem Zusammenhang mit der Systementscheidung für den Wettbewerb steht die grundlegend höhere Bedeutung der Kapitalmärkte für die Zukunft der Stromerzeugung. Sie bewerten Renditeaussichten vor dem Hintergrund der sektor-, länder- und unternehmensspezifischen Risiken. In der "alten" Welt der Monopolwirtschaft konnten diese Risiken naturgemäß geringer veranschlagt werden als in der "neuen" einer wettbewerblich orientierten Stromwirtschaft. Dabei sind aus Sicht der Kapitalmarktpartner aber nicht nur das generell gestiegene Risiko und die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Kosten der Kapitalbeschaffung zu sehen. Fast noch entscheidender sind die Relationen der Chancen-/Risikoprofile der verschiedenen Nachfrager. Wie steht das einzelne Unternehmen, das eine Investition in Stromerzeugungsanlagen plant und sich zu dessen Finanzierung des Kapitalmarktes bedienen will, da, bezogen etwa auf Effizienz und Diversifikation seiner Stromerzeugungsanlagen?
Für den Investor stellt sich sehr viel stärker als in der Vergangenheit die Frage, wie er sein Erzeugungsportfolio nach Technologien, Primärenergien sowie regionaler und zeitlicher Verteilung der Anlageninvestitionen gestalten kann, um dem Kapitalmarkt ein attraktives Chancen-/Risikenprofil anbieten zu können. In der Konsequenz wird diese Erfordernis der Effizienz und Diversifikation dazu beitragen, den Konzentrationsgrad in der Stromerzeugung zu erhöhen. In einem größeren Portfolio fällt es grundsätzlich leichter, ein vom Kapitalmarkt honoriertes, gut diversifiziertes Erzeugungsportfolio zu entwickeln. Politische Instrumente
Zur notwendigen Klarheit, Konsistenz und Kalkulierbarkeit bezüglich Ziel- und Rahmensetzung gehören ganz wesentlich auch die auf die Strommärkte einwirkenden politischen Instrumente wie beispielsweise die Zertifikatssysteme des europäischen Emissionshandels. Der grundsätzlich außerordentlich positiv zu bewertende Weg, mit der Einführung des Europäischen CO2-Zertifikatshandelssystems dem knappen Gut "Klima" durch Preise einen Wert zu geben, muss konsequent weiter beschritten werden. Die Notwendigkeit einer effizienteren Abstimmung der Allokationspläne innerhalb der EU, die Einbeziehung aller Sektoren in den CO2-Handel, die verstärkte Einbeziehung der Nachfrageseite ("weiße" Zertifikate, z.B. im Gebäudebereich) und die Überprüfung der Emissionshandelspflicht von Kleinanlagen sind dabei generelle Zukunftsforderungen.
Wichtig, gerade auch im Sinne der Kalkulierbarkeit von Ziel- und Rahmensetzungen, erscheint die Beibehaltung der Reduktionsziele zur Erfüllung der Kyoto-Verpflichtungen und auch die Verfahrensvereinfachung für internationale Klimaschutzprojekte. Bei der Ausgestaltung der Zuteilungsregeln erscheint die Idee einer Auktionierung (von gesetzlich maximal zulässigen zehn Prozent der Emissionsberechtigungen) in Anbetracht des damit einhergehenden administrativen Aufwandes und der wahrscheinlich sehr geringen Steuerungswirkung kaum zielführend. Stattdessen sollten hier konsequent die ökonomischen Mechanismen des Systems durch die Streichung einer Vielzahl von Sonder- und Übertragungsregelungen gestärkt werden.
Derzeit werden Zertifikate zunächst kostenlos verteilt. Aufgrund der Preisbildung am Markt werden diese Preise in den Strompreis eingerechnet und durch die Lieferkette an die Verbraucher weitergegeben. Weil Energie auch besteuert wird, kommt es für die Verbraucher zu einer Doppelbelastung. Auf Dauer wirken aber Zertifikate nur dann, wenn ihr Preis die Vermeidungskosten der Akteure richtig wiedergibt - dazu ist es notwendig, dass alle Zertifikate durch eine Auktion in den Markt eingespeist werden und der Staat die damit verbundenen Einnahmen zur Senkung der Energiesteuern einsetzt.
So positiv der "Zertifikatsweg" auch zu sehen ist, so wichtig ist es auch, die derzeit geltenden und mitunter bunt nebeneinander stehenden und gegeneinander wirkenden Instrumente ("Ökosteuer", Förderung über das Erneuerbare Energien-Gesetz/EEG, Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung/KWK und der Emissionszertifikatehandel) zu sichten, zu bewerten und neu zu ordnen. Diese Neuordnung des Nebeneinanders von Steuer-, Förder- und Zertifikatssystemen ist umso dringender, als mit diesem "politischen Allerlei" die Steuerwirkungen begrenzt, Fehlallokationen provoziert und letzten Endes die Standortentwicklung und die internationale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt werden. Für alle wirtschaftlich tätigen Akteure sind die Belastungen der Energiepreise durch staatliche Instrumente wettbewerbsverzerrend, soweit sie im internationalen Wettbewerb stehen. Dies gilt insbesondere für energieintensive Unternehmen. Unter Allokationsgesichtspunkten ist dies für die Volkswirtschaft schädlich. In der Politik dominieren aber häufig Verteilungsgesichtspunkte.
Fast schon die "Hohe Schule" (angesichts des vorstehend beschriebenen Kleinen Einmaleins der für die Zukunft der Stromerzeugung relevanten Klimaschutzinstrumente) ist es, ein "einheitliches Währungssystem" der gängigen und denkbaren Zertifikate zu entwickeln: Zertifikatssysteme für CO2-Emissionen, für regenerative Energien und für Energieeffizienzmaßnahmen brauchen eher über kurz als über lang klare "Umtauschparitäten" - auch im Sinne der Kalkulierbarkeit künftiger Erzeugungsinvestitionen.
Für die Stromerzeugung der Zukunft von essenzieller Bedeutung ist eine klimaschutz- und ressourcenpolitisch motivierte "Transformationslogik", die sich an den eingangs diskutierten Zielen und Anforderungen orientiert. Geht man von der Strombedarfsdeckungslücke aus und betrachtet dabei sowohl die nachfrage- wie die angebotsseitigen Maßnahmen, müssen nachfrageseitige Maßnahmen Vorrang genießen. Nach Lage der Dinge kann aber ihr Beitrag kaum über die Mehrbedarfsdeckung hinausgehen: Die Verbrauchszuwächse können über Energieeffizienzmaßnahmen gedeckt werden, vielleicht auch noch ein bisschen mehr - keinesfalls aber die durch die Stillegung bestehender Kraftwerkskapazitäten entstehende Lücke.
Auf der Angebotsseite stellt sich (insbesondere auf der Grundlage des bestehenden Atomausstiegsgesetzes) grundsätzlich eine "Weggabel" dar: dem Kosten- resp. Preiskriterium folgend stellt der Einsatz von Kohle angesichts deren sicherer und relativ preisstabiler und ausreichend diversifizierter Verfügbarkeit die erste Wahl dar. Nicht so aber beim Anlegen des Klimaschutzkriteriums: Dieses korrespondiert grundsätzlich mit einer Minimierung des Einsatzes fossiler Brennstoffe. Hier sind Erneuerbare Energien erste, dem Kostenkriterium folgend aber teurere Wahl.
Mit der bisher überwiegend national ausgerichteten Förderpolitik werden mögliche Kostenvorteile durch verstärkte internationale Arbeitsteilung im Bereich der Erzeugung aus Erneuerbaren Energien nicht wirksam. Es erscheint merkwürdig, dass ausgerechnet in dem Bereich, in dem naturbedingte Kostenunterschiede eine große Rolle spielen, der europäische Markt kaum wirksam wird. Europa hat sich für die Ausweitung des Beitrags Erneuerbarer Energien hohe Ziele gesetzt. Damit diese wirtschaftsverträglich umgesetzt werden können, ist eine europaweite Arbeitsteilung eine wesentliche Voraussetzung. Dies erfordert auch eine Harmonisierung der Förderinstrumente.
An zweiter Stelle rangiert das Erdgas. Für dessen relative Umweltverträglichkeit muss aber in gleich zweifacher Bedeutung ein hoher Preis gezahlt werden: Bei der künftigen Preisentwicklung muss zum einen von hohen Preisvolatilitäten ausgegangen werden, zum zweiten sind die weltweit verfügbaren und absehbaren Vorkommen begrenzt und sollten möglichst ressourcenschonend eingesetzt werden. Schließung der Bedarfslücke
Versucht man diese Erkenntnisse in ein pauschales "Basis-Ranking" umzusetzen, ergibt sich zur Deckung der durch die Stillegung bestehender Kraftwerkskapazitäten entstehenden Bedarfslücke folgendes Bild: Zunächst sollten (nachfrageseitig) alle Potenziale der Energieeffizienz ausgeschöpft werden. Auf der Angebotsseite sollten dann die Potenziale der Erneuerbaren Energien, gefolgt von einem Mix aus Kohle und Erdgas, eingesetzt werden. Der in Deutschland seit 2001 bestehenden gesetzlichen Regelung zum Ausstieg aus der Atomenergie folgend, wird in diesem "Basis-Ranking" kein weiterer Beitrag dieser Energie zur künftigen Strombedarfsdeckung unterstellt.
Große Bedeutung für die "Transformationslogik" kommt der Frage der zeitlichen Ausgestaltung zu. "Je später - umso mehr Spielraum" lautet die Faustregel. Je länger bestehende Anlagen bzw. getätigte Investitionen genutzt werden können, umso niedriger sind die durchschnittlichen Kapitalkosten pro erzeugter Kilowattstunde, und umso größer sind die preispolitischen Spielräume. Je später Neuinvestitionen notwendig werden, umso mehr Zeit steht für die technologische Entwicklung der Anlagen und Systeme und zu deren optimiertem Einsatz zur Verfügung. Je "reifer" Anlagen und Systeme eingesetzt werden, umso größer ist der Beitrag zum Klimaschutz und zur Ressourcenschonung.
Diskutiert man vor dem Hintergrund dieser Transformationslogik die nachfrageseitigen Optionen (als Beitrag zur Vermeidung bzw. Verminderung zukünftiger Stromerzeugungsinvestitionen), lohnt sich eine Fokussierung auf die Energieeffizienzpotenziale bei der Energieanwendung und -nutzung in Haushalten, Industrie und öffentlichen Einrichtungen. Vorhandene Potenziale sind noch nicht ausgeschöpft. Durch den Einsatz von dezentralen KWK-Anlagen besteht ein zusätzliches Potenzial im Gebäudebereich, sofern die Weiterentwicklung der dezentralen Techniken im Hinblick auf Investitionskosten und technische Zuverlässigkeit gelingt. Auch angebotsseitig sind wesentliche Energieeffizienzpotenziale, besonders bei der Umwandlung von Primärenergieträgern (Verbesserung der Brennstoffausnutzung und Erhöhung der Anlagenwirkungsgrade), zu sehen.
Bei den Erneuerbaren Energien (gemeint ist hier nicht die Wasserkraftnutzung in Österreich, der Schweiz oder den skandinavischen Ländern) klaffen große Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen zugeschriebener Attraktivität und tatsächlichem Beitrag, zwischen empfundenem Bedürfnis und artikuliertem Bedarf. Trotzdem: Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung der verstärkten Nutzung der Erneuerbaren Energien ist eine der großen Herausforderungen für die Stromerzeugung der Zukunft. Jenseits der technologiespezifischen Entwicklungsaufgaben, die hier nicht weiter diskutiert werden können, besteht die Herausforderung vor allem in der Integration der "Erneuerbaren" in die stromwirtschaftlichen Systeme (Stichworte: Einspeisemanagement, Weiterentwicklung der Transportfunktion der Übertragungsnetze, Konzeption bidirektionaler Netze), aber auch in weitergehenden Systemfragen der Integration von Strom etwa aus fluktuierender Einspeisung ("Schattenkraftwerke" zur Leistungssicherung, Regelenergiebedarf, Weiterentwicklung der Speichersysteme). Längerfristig kann die Wasserstofftechnologie durchaus eine Option zur Optimierung der Integration regenerativ erzeugten Stroms in die Versorgungssysteme darstellen. Noch klafft jedoch eine große Lücke zwischen Marktfähigkeit und Kosten bei vielen Erneuerbaren Energien.
Betrachtet man die Perspektiven der fossil gefeuerten Kraftwerke der Zukunft, darf - bei allen ökologischen Schatten - das Licht am Ende des Tunnels nicht übersehen werden. Natürlich stellt die Verbrennung fossiler Brennstoffe in Kohle- und Gaskraftwerken eine physikalisch unvermeidbare Freisetzung von Treibhausgasen dar. Die bereits erreichte Verbesserung der Brennstoffausnutzung und die damit einhergehenden Wirkungsgraderhöhung hat erhebliche Beiträge zur Reduktion der spezifischen CO2-Emissionen pro Kilowattstunde erzeugten Stroms geleistet. Die absehbaren weiteren Effizienzsteigerungsmöglichkeiten (etwa durch Optimierung der Dampfparameter) lassen einen Wirkungsgrad von 55 Prozent als realistisch erscheinen. Trotz dieser Maßnahmen bleibt das CO2-Thema die wesentliche Herausforderung einer kohle- (und, in geringerem Umfang, auch gas-) basierten Stromerzeugung der Zukunft.
Drei Lösungswege sind als Entwicklungspfade zu sehen: die CO-Sequestrierung, d.h. die Abscheidung des CO2 aus dem Rauchgas und dessen Einlagerung; die integrierte Kohlevergasung; die Verbrennung fossiler Brennstoffe unter reinem Sauerstoff. Insbesondere die CO2-Sequestrierung wird technologisch (Corretec-Programm der Bundesregierung) und in ersten Pilotanwendungen (Projekt der Vattenfall Europe AG) derzeit weiterentwickelt - ein großtechnischer Einsatz ist etwa ab 2020 denkbar.
Bei allen Ansätzen zur Effizienzsteigerung der Endenergiebereitstellung mit dem Ziel einer weitestgehenden CO2-freien Stromerzeugung besteht die grundlegende Herausforderung darin, die Verfahren an den "normalen" Kraftwerksbetrieb anzupassen und in geschlossene, ökonomisch und ökologisch optimierte Prozessketten zu überführen. Diese zwar herausfordernden, gleichwohl aber keineswegs illusionären Perspektiven erfahren durch die strategischen und ökonomischen Bedingungen des Einsatzes fossiler Brennstoffe, jedenfalls der Stein- und Braunkohle, noch eine zusätzliche Attraktivitätssteigerung. Die weltweiten Kohlevorkommenhaben nach derzeitigem Erkenntnisstand eine Reichweite von mindestens 400 Jahren, die Vorkommen sind geophysikalisch breit diversifiziert, insbesondere auch in Ländern mit geringem "Länderrisiko", die absehbaren Preisvolatilitäten stellen keine besondere Herausforderung dar, die Basistechnologie des Kohleeinsatzes in der Stromerzeugung ist ausgereift. Bis auf diesen letzten Punkt sind alle anderen Aspekte beim Erdgaseinsatz eher als Risikopunkte zu betrachten: Die Vorkommen sind begrenzt, die Förderung eher oligopolisiert, die Volatilitäten ausgesprochen risikoinvers - ein großflächiger Einsatz von Gas zur Stromerzeugung kann deshalb kaum eine Basisstrategie für die Zukunft sein.
Eine durchaus denkbare Nische für den Gaseinsatz stellen demgegenüber dezentrale Anlagen zur Stromerzeugung dar. Mit solchen Gasmotoren- oder -turbinenanlagen und in Zukunft auch Brennstoffzellen können verbrauchsnah Strom-, Wärme- und auch Dampf- und Kältebedarfe mit hoher Brennstoffausnutzung gedeckt werden. Zukunft der Atomenergie
Energiewirtschaft muss, auch in liberalisierten Märkten, grundsätzlich den Primat der Politik akzeptieren - mehr noch, ihn im Sinne klarer, konsistenter und kalkulierbarer Ziel- und Rahmensetzungen sogar einfordern. Dies gilt auch für das von der rot-grünen Bundesregierung beschlossene Atomenergieausstiegsgesetz. Nicht übersehen werden darf die breite gesellschaftliche Distanzierung von der Atomenergie - und häufig auch deren dezidierte Ablehnung. Wirtschaft insgesamt muss - jenseits von Argumenten und Interessen - solche Voten grundsätzlich akzeptieren, und jedes Unternehmen muss aus wirtschaftlichem Kalkül gesellschaftliche Akzeptanz auch in seinen Businessplänen einrechnen.
Problematisch wird es jedoch, wenn in der Diskussion um die Stromerzeugung der Zukunft politische Ziel- und Rahmensetzungen das "Spielfeld" der Energiewirtschaft definieren, die vielleicht klar, möglicherweise sogar kalkulierbar, aber alles andere als konsistent sind. Bislang ist eine schlüssige Antwort offen, wie der Ausstieg aus der Atomenergienutzung zu den definierten klimaschutzpolitischen Zielsetzungen (Kyoto), den getroffenen Primärenergie- und Technologiepräferenzen und -sanktionierungen, den standortpolitischen Zielsetzungen und nicht zuletzt zur im Rahmen internationalen "Strom-Wirtschaftens" erforderlichen Wettbewerbsfähigkeit passen soll.
Es ist eine Tatsache, dass die gesetzlich geregelte und zwischen Bund und Kraftwerksbetreibern vertraglich vereinbarte Laufzeitverkürzung deutscher Atomkraftwerke eine Form der Kapitalvernichtung (und damit eine volkswirtschaftliche wie unternehmensbezogene Belastung) darstellt, der keine entsprechende Veränderung der Sicherheitsparameter gegenübersteht. Fakt ist weiter, dass die durch die Laufzeitverkürzung erforderlichen Neubauinvestitionen nicht nur das "billige Ende" der vorzeitig abgeschalteten Kraftwerke ungenutzt, sondern durch die zuwachsenden Kosten neuer Anlagen die durchschnittlichen Stromgestehungskosten ansteigen lassen. Zudem können durch den Zeitpunkt der Neubauerfordernisse die bei einem längerfristigen Ersatz nutzbaren Effekte in der Entwicklung einzelner Technologien wie auch der Optimierung der Systemintegration (Erzeugung und Netz) nicht in dem möglichen Maße genutzt werden. Und nicht zuletzt: Nach Lage der Dinge wird der Ausstieg aus der Atomenergienutzung mit einem unvermeidlichen Anstieg der Treibhausgasemissionen einhergehen.
Damit sollen weder die gesellschaftliche Willensbildung, noch die bislang ungelöste Problematik der Endlagerung des Atommülls, noch unterschiedliche Sicherheitsbedürfnisse, noch die Problematik der Veränderung der internationalen Sicherheitslage bezüglich kerntechnischer Anlagen als ernsthaft zu berücksichtigende Argumente negiert werden. Aber genauso wenig dürfen klimaschutzpolitische Ziele und volkswirtschaftliche Erfordernisse aus dem Blick geraten. Es ist unvermeidlich, dass ein erheblicher Teil der wegfallenden Kapazität von Atomkraftwerken durch Anlagen auf fossiler Basis ersetzt werden wird. Angesichts der langen Lebensdauer solcher Anlagen (bis etwa 2060) lädt sich die deutsche Volkswirtschaft hier eine Hypothek auf, die zukünftig den verstärkten Einsatz dann verfügbarer neuer Technologien (z.B. Brennstoffzellen) erschwert und verzögert.
Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung ist dies nicht. Die ehrliche Infragestellung der politisch motivierten Laufzeitverkürzung der bestehenden deutschen Atomkraftwerke unter Heranziehung höchster Sicherheitsstandards wäre vor diesem Hintergrund ein verantwortliches Gebot der Stunde. | Article | , Gerhard Jochum / Pfaffenberger, Wolfgang | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29835/die-zukunft-der-stromerzeugung/ | Für die Gestaltung der "Stromzukunft" muss die Entscheidung für eine Marktöffnung konsequent durchgehalten werden. Die Erneuerbaren Energien bedürfen einer europäischen Dimension. Der Ausstieg aus der Atomenergie könnte sich als Bumerang erweisen. | [
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Polizei, Politik und Wissenschaft | Polizei | bpb.de | Einleitung
In der langen Reihe der Themenhefte von "Aus Politik und Zeitgeschichte" ist eine Vielzahl politischer, sozialer und historischer Themen aufgegriffen worden. Auch Fragen der Sicherheit wurden immer wieder behandelt oder es wurde aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive die Rolle und Funktion verschiedener Akteure der Legislative, Exekutive und Judikative diskutiert. Die Polizei war bislang kein Thema. Aber nicht nur in APuZ, auch in den anderen politikwissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern ist die Analyse der Polizei und ihres Handelns allenfalls als randständig einzustufen. Zwar hat in den vergangenen 15 Jahren die sozialwissenschaftliche Betrachtung dieses Sujets zugenommen, aber etabliert hat sich die Fragestellung innerhalb der scientific community bislang nicht.
Dies mag verwundern, wenn bedacht wird, dass Polizei und Politik gemeinsame etymologische Wurzeln haben und das griechische Wort polis für die Stadt und im Weiteren für Stadtverwaltung bzw. Regelung von Gemeinwesen steht. Auch wissenschaftsgeschichtlich wäre in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die Staatswissenschaft mit ihrem Teilelement der Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert als "Policeywissenschaft" firmierte - aus der sich dann unter anderem die Staatsökonomie respektive Volkswirtschaftslehre und die Politikwissenschaft entwickelten.
Weiterhin gibt zu denken, dass die Polizei mit circa 310 000 Beschäftigten nach dem Bildungswesen den zweitgrößten Fachanteil beim Personal des öffentlichen Dienstes in Deutschland stellt und in der Exekutive eine herausgehobene Position inne hat. Polizei ist zudem eine besonders öffentliche und stets präsente Form von Staatlichkeit. Kaum ein Tag vergeht, an dem sie nicht von jeder Bürgerin oder jedem Bürger im Streifenwagen gesehen wird, an dem diese nicht das Martinshorn hören, eine Geschwindigkeitskontrolle fürchten, sich in der Tageszeitung über Aktivitäten der Polizei informieren oder dieser bei der abendlichen Unterhaltung vor dem Fernsehgerät oder im Kriminalroman begegnen.
Und dennoch hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Organisation "keine Konjunktur" - vielleicht sogar weil die Polizei so alltäglich ist? Die Organisation Polizei
Grundsätzlich gilt in der Bundesrepublik Deutschland die Aussage: "Polizei ist Ländersache". Das Grundgesetz beschränkt die polizeiliche Kompetenz des Bundes in Art. 73 (5) GG auf den Grenzschutz (der vom Bundesgrenzschutz wahrgenommen wurde, der seit 2005 Bundespolizei heißt), sowie auf die "Zusammenarbeit des Bundes und der Länder (...) in der Kriminalpolizei (...) sowie (auf) die Errichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes und die internationale Verbrechensbekämpfung" (Art. 73 (10) GG). Auf der Bundesebene sind somit die beiden Polizeien - Bundespolizei (BPol) und Bundeskriminalamt (BKA) - aktiv, die jedoch gemäß der organisationsbezogenen Gesetze nur in spezifischen Fällen Kompetenzen besitzen und den Länderpolizeien nicht allgemein übergeordnet sind.
Die Hauptlast der polizeilichen Aktivität liegt bei den Ländern. Diese sind zuständig für die vielfältigen Aufgaben in den Bereichen der Gefahrenabwehr, der Kriminalitätskontrolle und -prävention sowie für die Verkehrssicherheitsarbeit. Dabei verfügen die Länderpolizeien über eine große Palette polizeilicher Einheiten und Dienstarten: Einsatz- und Streifendienste, Kriminalkommissariate für den Ermittlungsdienst, Verkehrsdienste und Verkehrskommissariate, Bezirksdienste mit dem ortsnahen und ortsverbundenen Ansprechpartner, Präventionseinrichtungen für Kriminalität und Verkehr (z.B. die Verkehrspuppenbühne, die in Schulen und Kindergärten aktiv ist), Hubschrauberstaffel, Mobile Einsatzkommandos, Spezialeinsatzkommandos, Hundertschaften, Hundestaffeln, Autobahnpolizei, Wasserschutzpolizei - um nur die wichtigsten zu nennen.
Die Behördenorganisation innerhalb der Polizeien ist in keiner Form einheitlich. Gönnt sich etwa Nordrhein-Westfalen zurzeit noch 50 Behörden in Form von Polizeipräsidien, Landratsbehörden und drei spezialisierten Landesämtern, die direkt dem Innenministerium unterstehen, so verfügt Hessen über drei zentrale Polizeibehörden und sieben Flächenpräsidien unter dem Landespolizeipräsidium.
Während manche dieser Organisationsvarianten historisch beeinflusst sind, sind andere das Resultat von Reformprozessen, die mit ihren jeweiligen Ergebnissen auch die polizeipolitischen Überlegungen der Länderregierungen und ihrer Innenministerien widerspiegeln. Hier zeigt sich vor allem in den letzten zehn Jahren eine intensivere Orientierung an Effektivitäts- und Effizienzüberlegungen, an der Einführung betriebswirtschaftlich motivierter Steuerungsmodelle sowie an einer Programmdiskussion, die sich vor allem an der Bestimmung von "polizeilichen Kernaufgaben" orientiert. Letztlich wird so eine Neubestimmung des polizeilichen Auftrags im Spektrum von Gefahrenabwehr, Strafverfolgung und anderen Sicherheitsaufgaben zwischen Staat, Kommune, Gesellschaft und privaten Sicherheitsdiensten vorbereitet. Polizeipolitik
Die Polizei befindet sich als Organisation mit ihren Strukturen und Programmen beständig auf der politischen - wenngleich nicht unbedingt auf der (medien-) öffentlichen Agenda. Die Diskussionen über Aufbau, Organisation, Personal und Ausbildung, Eingriffs- und Kontrollkompetenzen, Polizeiaufsicht sowie hinsichtlich der Position der Polizei innerhalb der öffentlichen Verwaltung bewegen sich immer in einem Spannungsverhältnis von Stabilität und Veränderung. Die polizeipolitische Diskussion war in den vergangenen Jahren vor allem bestimmt durch Fragen - zum organisatorischen Aufbau der Polizei, wobei gerade die Flächenstaaten eine Reduktion der Behördenzahl anstrebten, die einerseits die polizeiliche Präsenz sichern, andererseits jedoch den Verwaltungsüberbau reduzieren und die Einsatzbelastungen zwischen den Behörden ausgleichen sollte; - zu Führungsstrukturen und Steuerungsfragenin der Polizei oder auch - zu einzelnen Kompetenzen der Polizeien, z.B. dem "finalen Rettungsschuss", der Videoüberwachung des öffentlichen Raumes, zur "Schleierfahndung" oder des "Unterbindungsgewahrsams".
Polizeipolitische Debatten wurden auch im Rahmen der übergreifenden sicherheitspolitischen Diskussionen geführt. Mit dem Ziel der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus sind beispielsweise die Fragen nach den Bedingungen der Kooperation von Polizei und Geheimdiensten oder auch des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren geprüft worden. Heftige Kontroversen löste 2007/08 Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mit seinen Anregungen aus, den Gefahrenabwehr- und Präventionsauftrag des Bundeskriminalamts auszuweiten und dem BKA hierfür neue Ermittlungsinstrumente zu bewilligen (Stichwort: Online-Untersuchung).
Angesichts des Maastricht-Vertrages und der Anforderungen des Schengen-Raumes wurde polizeipolitisch über die Europäisierung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit beraten, und mit den Behörden EUROPOL und EUROJUST sind neue Einrichtungen geschaffen worden, welche die Sicherheitsarchitektur und die Bedingungen der Bekämpfung schwerer Kriminalität verändert haben. Das hat sich auch auf die Arbeit der Länderpolizeien, von BKA und Bundespolizei ausgewirkt.
Bei der Betrachtung der parteipolitischen Prägung der Polizeipolitik wird deutlich, dass die Unterschiede zwischen den großen Parteien Union und SPD in vielerlei Hinsicht nicht sehr groß sind und dass auf diesem Feld bereits seit langem eine "Große Koalition" besteht. Ausschlaggebend dafür sind sowohl ideologische Berührungspunkte der Volksparteien als auch realpolitische Handlungsinterpretationen. Zudem wirkt die "Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder" mit dem Bundesminister als Gast stark harmonisierend auf die Politik. Empirische Polizeiforschung
Im Spektrum der wissenschaftlichen Analyse der Polizei hat die Rechtswissenschaft eine besondere Bedeutung, die sich zum Beispiel mit den Eingriffskompetenzen der deutschen Polizeien, mit Polizeirecht, Datenschutz, Fahndungsansätzen aus international vergleichender Perspektive oder der Position der Polizei im System der Strafverfolgung befasst.
Neben dieser normativen Betrachtung der Polizei hat sich seit Mitte der 1990er Jahre die empirische Polizeiforschung der Sozial- und Geisteswissenschaften entwickelt. Die verschiedenen disziplinären, theoretischen und methodischen Feldzugänge im Bereich der Forschung in, für und über die Polizei decken ein recht breites Feld ab, das hier nur in Ansätzen und mit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit skizziert werden soll:
Die Politikwissenschaften nähern sich dem Bereich im Rahmen der Politikfeldanalyse zur Inneren Sicherheit, wobei die Polizeipolitik hier neben der Kriminal- und der Justizpolitik steht. Innerhalb dieses Feldes werden unter dem Aspekt der Polizei als Objekt der Polizeipolitik unter anderem die Aufgabenstellung, die Ausstattung, die Ausbildung, das Leitbild und die Kompetenzen der Polizei betrachtet. Im Rahmen der Akteursanalyse steht aber auch die Betrachtung der Polizei als Subjekt der Polizeipolitik im Blickpunkt: Wie bewertet die Polizei - mit ihrer Führungselite oder auch über die Gewerkschaften und Standesorganisationen - ihre Stellung im Bereich der Sicherheitsproduktion, welche polizeirechtlichen und eingriffstechnischen Kompetenzen möchte sie erhalten, wie bewertet sie die eigene Handlungsfähigkeit und welche Schlussfolgerungen werden hieraus gezogen und in politische Forderungen umgewandelt? Schließlich wird die Polizei als Subjekt in der Kriminal- und Justizpolitik untersucht; so wird etwa analysiert, wie sie zu Strafen und Strafrahmen, Kriminalisierung bzw. Entkriminalisierung von Verhaltensweisen oder zur Strafverfolgung steht.
Die Geschichtswissenschaften widmen sich insbesondere im Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte der Polizei, wobei unter anderem die vom damaligen preußischen Innenminister Carl Severing initiierten Ansätze der Entmilitarisierung bzw. Zivilisierung der Polizei sowie die Rolle der Polizei in den Auseinandersetzungen zwischen den extremen Parteien am Ende der Weimarer Republik betrachtet werden. Aus nachvollziehbaren Gründen wird aber vor allem die Polizei im Nationalsozialismus erforscht. In jüngerer Zeit werden Forschungen zur eigenen Behördengeschichte von Polizeien in Auftrag gegeben, um den "braunen Wurzeln" nachzugehen. Zudem wird von Historikern der polizeiliche Wiederaufbau in beiden deutschen Staaten analysiert, wobei wiederum die Fragen der Entmilitarisierung, Zivilisierung und Demokratisierung im Zentrum stehen.
Die Soziologie greift vor allem die Binnenperspektive der Polizei auf. Jo Reichertz und Nobert Schröer widmen sich beispielsweise mit Ansätzen einer sich wissenssoziologisch verstehenden und strukturanalytisch arbeitenden qualitativen Sozialforschung dem Handeln von Polizistinnen und Polizisten. Kultursoziologisch analysiert Rafael Behr die Institution. Mit seiner Betrachtung der Cop Culture in Abgrenzung zur politisch formulierten und von den Polizeiführern als Credo vertretenen Police Culture hat er neue Deutungsmuster aufgezeigt, die dazu beitragen, Widersprüchlichkeiten in der polizeilichen Außendarstellung und dem polizeilichen Handeln zu verstehen. Andere soziologische Ansätze sind zum Beispiel der Integration von Frauen und Migranten und Migrantinnen in die Polizei gewidmet; es wird nach der Rekrutierung, Ausbildung und Sozialisation von Polizeibeamten gefragt oder es werden die Ursachen und Wirkungen von Polizeiskandalen in der Organisation analysiert.
Die Psychologie hat auf die Polizei bezogene Schwerpunkte bei der Verbesserung und Erweiterung von deren Handlungskompetenz. Beispielhaft zu nennen sind das psychologisch adäquate und zielführende Verhalten in Krisensituationen wie Geiselnahmen und Entführungen, bei der Deeskalation von gewaltträchtigen Lagen oder im Umgang mit Menschenmassen sowie die psychologisch geschulte Vernehmungstechnik. Ferner greift die Psychologie die Problematik der Belastungsstörungen von Polizisten auf. Das betrifft etwa die Nachsorge nach schweren Unfällen, grausamen Verbrechen oder eigenem Schusswaffeneinsatz. Polizeiwissenschaft(en)?
Innerhalb des relativ kleinen Zirkels, der sich mit der Polizei und dem Polizieren befassenden Wissenschaftler wird kontrovers diskutiert, ob die Forschungen in, für und über die Polizei als sich gegebenenfalls ergänzende disziplinäre Analysen stünden, ob es möglich sei, diese als "Polizeiwissenschaften" zu betrachten, oder ob es sogar sinnvoll sei, von einer inter- oder gar transdisziplinären Polizeiwissenschaft (im Singular) zu sprechen. In einer grundlegenden Darstellung zeigt Hans-Jürgen Lange, welche spezifischen Möglichkeiten und Grenzen der Konzeption fachdisziplinärer bzw. interdisziplinärer Polizeiforschung bzw. einer transdiziplinären oder integrativen Polizeiwissenschaft bestehen, welche Voraussetzungen bei der Feldbestimmung zu bedenken und welche akademischen Konsequenzen mit den jeweiligen Sichtweisen verbunden sind. Im Ergebnis steht er der Herausbildung einer Polizeiwissenschaft aus wissenschaftssoziologischen Überlegungen skeptisch gegenüber. Da die methodischen Zugänge zu disparat seien, sei eine eigenständige Theoriebildung kaum zu erwarten, ebensowenig eine Institutionalisierung in der Wissenschaftslandschaft.
Thomas Feltes hat die Diskussion 2007 noch einmal aufgegriffen und die verschiedenen Interpretationen der Polizeiwissenschaft bzw. der Polizeiwissenschaften systematisiert. Wie Hans-Jürgen Lange kommt er jedoch zu einem relativ ernüchternden Ergebnis und sieht diverse Schwierigkeiten bei der Herausbildung einer Polizeiwissenschaft, wenn diese nicht "einen übergreifenden, interdisziplinären und transnationalen Ansatz zur Analyse Innerer Sicherheit" verfolge. Etablierung der Polizeiforschung und Polizeiwissenschaft?
Unabhängig von dem oben angesprochenen Disput über Polizeiforschung versus Polizeiwissenschaft gibt es seit Mitte bzw. Ende der 1990er Jahre Zeichen einer Etablierung einer Polizeiforschung und -wissenschaft. Diese findet in verschiedenen Bereichen statt, die für die wissenschaftliche Stabilisierung des Feldes - bzw. jedes akademischen Feldes - unabdingbar sind.
Die Anbindung erfolgt an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen. Dabei käme eigentlich den Polizei ausbildenden Fachhochschulen eine Schlüsselfunktion bei der Institutionalisierung der Polizeiforschung zu. Diese bzw. die Fachbereiche Polizei an den Fachhochschulen des öffentlichen Dienstes sowie die 2007 in Niedersachsen gegründete Polizeiakademie bilden den Nachwuchs des gehobenen Polizeivollzugsdienstes aus. Zu dieser Ausbildung gehört neben den polizeifachlichen Kenntnissen auch die wissenschaftliche bzw. wissenschaftsfundierte Lehre in den Rechts-, Sozial- und Kriminalwissenschaften. So wäre es nur konsequent, wenn die hier lehrenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihren thematischen Bezügen sowie dem privilegierten Feldzugang zur Organisation Polizei auch die Etablierung einer Polizeiwissenschaft forcieren würden.
Zwar kommen von diesen Wissenschaftlern und aus diesen Fachhochschulen wichtige Impulse und das personelle Fundament, aber die institutionellen Bedingungen sind nicht hinreichend, um eine Polizeiforschung tragen zu können. So verweist etwa Clemens Lorei nach einer Studie über die Forschungsbedingungen auf teilweise erhebliche Beschränkungen, beispielsweise bei der Bibliotheksausstattung, den Forschungsetats und der Freistellung der Lehrenden für Forschungsaufgaben, sowie auf die geringe Wertigkeit wissenschaftlicher Aktivitäten bei Beförderungen und Berufungen. Auch Hans-Gerd Jaschke konstatierte bereits im Jahr 2000 entsprechende institutionelle Grenzen. Um es bildhaft zu formulieren: An den Polizei ausbildenden Fachhochschulen wachsen einige durchaus schön anzusehende Polizeiforschungsblümchen, jedoch besteht kein stabiles Wurzelwerk, das ihr dauerhaftes Gedeihen sichern könnte.
Allerdings ist eine Veränderung möglich, das policy-window ist zurzeit geöffnet. Mit dem Bologna-Prozess geraten auch die Fachhochschulen des öffentlichen Dienstes unter den Druck, ihre Studiengänge von den bisherigen Diplomen auf den Bachelor-Grad umstellen zu müssen. Hiermit verbunden sind verstärkte Anforderungen, die Wissenschaftlichkeit der Studien zu sichern, mit Forschung zu verknüpfen und auch mehr wissenschaftlich qualifiziertes, statt vorrangig polizeilich sozialisiertes Personal einzusetzen. Die Professoren werden ebenso wie an anderen Hochschulen bezahlt; die im Besoldungssystem vorgesehene Leistungsabhängigkeit des Gehaltes initiiert (voraussichtlich) bei den Stelleninhabern auch Forschungsaktivitäten. Ferner forciert die durch die "Bachelorisierung" erstmals ernsthaft geforderte Angleichung der Qualität der Studienergebnisse an die Bachelorabschlüsse von Universitäten und allgemeinen Fachhochschulen auch die Einforderung von wissenschaftlichen Ergebnissen. Mit dem Bologna-Prozess wurden so direkt und mittelbar drei wichtige Voraussetzungen für erhöhte Forschungsaktivitäten geschaffen.
Die Ausbildung des gehobenen Polizeivollzugsdienstes an den Fachhochschulen wird ergänzt durch jene für den höheren Dienst. Diese wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst am "Polizei-Institut Hiltrup" (bei Münster) geleistet, das 1973 in "Polizei-Führungsakademie" umbenannt wurde. Diese, im Polizeijargon immer nur PFA genannte Einrichtung, war für die Aus- und Fortbildung des höheren Polizeidienstes des Bundes und der Länder zuständig. Im Jahr 1998 beschloss die Innenministerkonferenz die PFA zur Deutschen Hochschule der Polizei umzuwandeln. Mit dem 2005 erlassenen "Gesetz über die Deutsche Hochschule der Polizei" (DHPolG) begann die Transformation von der PFA zur DHPol, die sich sowohl im Institutsnamen als auch in einem neuen Master-Studiengang sowie in Veränderungen in der Personalstruktur zeigt. Paragraf 4 Abs. 2 des DHPolG legt fest, dass über die Bildungsarbeit hinaus "die Hochschule die Aufgabe (hat), die Polizeiwissenschaft durch Forschung, Lehre, Studium und Weiterbildung zu pflegen und zu entwickeln." Mit diesem Auftrag knüpft die DHPol einerseits an die aktuellen Diskussionen zu Polizeiforschung und Polizeiwissenschaft an, andererseits wird damit an die dem Polizei-Institut bereits 1947 zugewiesene Rolle als "Pflegestätte für die Polizeiwissenschaft" erinnert.
Im Herbst 2007 wurde an der DHPol mit Joachim Kersten die erste Professur für Polizeiwissenschaft besetzt. Es ist zu erwarten, dass die Denomination der Professur auch an den Polizeifachhochschulen - wie schon 2008 in Nordrhein-Westfalen - zur Ausweisung entsprechender Stellen führen wird, so dass der Diskurs sich innerhalb dieser Hochschulszene verstärken dürfte.
Jenseits der Polizeihochschulen findet sich bundesweit bislang nur eine explizite Professur für Polizeiwissenschaft. Thomas Feltes, vormals Rektor der baden-württembergischen Hochschule für Polizei, hat an der Ruhr-Universität Bochum den "Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft" inne. Dort, aber auch an den anderen kriminologischen Universitätslehrstühlen und -instituten, sind polizeiwissenschaftliche Fragestellungen und Polizeiforschung neben anderen Kriminologiethemen angesiedelt und eher als "unter Anderem" einzustufen.
Der bisherige Mangel an Professuren kann auch als Indiz für die noch nicht erfolgte Etablierung der Polizeiwissenschaft gewertet werden, während sich die Polizeiforschung durchaus als Themengebiet an mehreren juristischen und sozialwissenschaftlichen Lehrstühlen etabliert. Aber auch an diesen Lehrstühlen und Instituten sowie an außeruniversitären Forschungseinrichtungen (beispielhaft seien das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover, das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg oder die Forschungsgruppe Polikon am Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung RISP in Duisburg genannt) ist die Polizeiforschung nur ein Thema neben anderen.
Dies verweist auf die Notwendigkeit, die Forschungsgemeinschaft in übergreifenden Arbeitskreisen zusammenzuführen und den Austausch zu fördern, gemeinsame Projekte zu initiieren und die Repräsentanz des Arbeitsgebiets durch Publikationen zu sichern. Im Jahr 1995 gründete sich der interdisziplinäre "Arbeitskreis Innere Sicherheit" (AKIS), dem inzwischen über 240 Forschende aus Geschichtswissenschaft, Kriminologie, Politikwissenschaft, Soziologie und Rechtswissenschaft angehören. Der AKIS ist mit den politologischen Mitgliedern auch als Arbeitskreis Politikfeldanalyse Innere Sicherheit in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) vertreten und hat mit den eher soziologisch orientierten Mitgliedern bereits mehrfach Ad-hoc-Gruppen bei den Soziologie-Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) organisiert.
Neben dem AKIS ist vor allem noch der 1999 entstandene Arbeitskreis "Empirische Polizeiforschung" zu nennen. Dieser Arbeitskreis spricht vor allem sozialwissenschaftliche Polizeiforscher aus dem Umfeld der Polizeifachhochschulen an, aber auch Wissenschaftler aus Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen, und führt diese auf jährlich stattfindenden Fachtagungen zur Diskussion mit der Polizeipraxis zusammen.
Weitere Netzwerke sind die Deutsche Gesellschaft für Polizeigeschichte sowie der Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP) für die Historiker und die Juristen, die im Feld der Polizeiforschung aktiv sind.
Essentiell für die weitere wissenschaftliche Etablierung der Polizeiforschung sind neben den Verankerungen an Hochschulen und der Vernetzung in Arbeitskreisen vor allem auch fachliche Publikationen. Der AKIS-Vorsitzenden Hans-Jürgen Lange betreut die Schriftenreihe "Studien zur Inneren Sicherheit", in der strukturierte Sammelbände und Monografien erscheinen; der Arbeitskreis Empirische Polizeiforschung publiziert Tagungsdokumentationen sowie Einzelbände - um hier nur zwei Beispiele zu nennen. Zudem wird in "Polizei und Wissenschaft" und anderen Zeitschriften mit den Themengebieten etwa der Kriminologie oder Kriminalistik auch Polizeiforschung behandelt, ist aber dort eher verstreut als konzentriert. Gesamtbewertung: Die Disziplin ist ausbaufähig
Angesichts der Bedeutung der Polizei für Staat und Gesellschaft ist deren wissenschaftliche Analyse bislang allenfalls als rudimentär zu bezeichnen. Anders als etwa in den USA, Großbritannien oder auch den Niederlanden, in denen sich die police science entwickeln und etablieren konnte, erfreuen sich Polizeiforschung und Polizeiwissenschaft in Deutschland erst seit Mitte der 1990er Jahre eines langsam wachsenden akademischen Interesses. Die Verankerung an Universitäten und Hochschulen sowie die Vernetzung über Arbeitskreise und Publikationen hat zwar begonnen. Um die weitere Etablierung zu forcieren, fehlt dem Feld aber häufig die Akzeptanz und Unterstützung aus den Innenministerien und den Polizeien (die hinter der Polizeiforschung noch teilweise "Scharlatanerie" vermuten). So sehr und so gern die Polizei etwas über die Bürgerinnen und Bürger erfahren möchte, so sehr fremdelt sie selbst gegenüber der Wissenschaft, die mehr über sie wissen möchte und ihr vielleicht Unangenehmes sagen könnte. Und solange die Polizei sich der Kritik nicht stellen will, wird auch die Wissenschaft nur schwer den Feldzugang bekommen, der für die Forschung unabdingbar ist. So kann sich die Annäherung der beiden Welten wohl nur langsam ergeben.
Vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 19802.
Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Personal des öffentlichen Dienstes, Fachserie 14, Reihe 6 (2006), Wiesbaden 2007.
Vgl. http://www.bundestag.de/parlament/verwalt/polizei/index.html.
Vgl. hierzu den Beitrag von Martin H. W. Möllers und Robert Chr. van Ooyen in diesem Heft.
Vgl. den Beitrag von Hermann Groß in diesem Heft.
Die Polizeien der Länder bezeichnen die einzelnen Einheiten sehr unterschiedlich, so dass die gewählten Begrifflichkeiten ggf. von dem regional gewohnten Vokabular abweichen.
Eine Beschreibung der Aufbauorganisationen der verschiedenen Länderpolizeien findet sich in: Hermann Groß/Bernhard Frevel/Casten Dams (Hrsg.), Handbuch der Polizeien Deutschlands, Wiesbaden 2008.
Vgl. hierzu etwa Henning van den Brink/André Kaiser, Kommunale Sicherheitspolitik zwischen Expansion, Delegation und Kooperation, in APuZ, (2007) 12, S. 4 - 11; Peter Stegmaier/Thomas Feltes, ,Vernetzung` als neuer Effektivitätsmythos für die ,innere Sicherheit`, in: ebd., S. 18 - 25 (Themenheft "Innere Sicherheit im Wandel").
In dem von Jochen Christe-Zeyse herausgegeben Sammelband "Die Polizei zwischen Stabilität und Veränderung. Ansichten einer Organisation", Frankfurt/M. 2006, werden verschiedene Perspektiven zu diesem Spannungsverhältnis der "Polizei (als) Organisation ganz eigener Art" aufgezeigt.
Vgl. exemplarisch für diese Überlegungen den so genannten Scheu-Bericht "Neuorganisation der Polizeibehörden. Bericht der Kommission" für Nordrhein-Westfalen, in: www.spd-fraktion. landtag.nrw.de/spdinternet/www/startseite/Dokumentenspeich er/Dokumente/AK_08/scheugutachten.pdf (2.7. 2008).
Vgl. Hans-Jürgen Lange/Jean-Claude Schenck, Polizei im kooperativen Staat. Verwaltungsreform und Neue Steuerung in der Sicherheitsverwaltung, Wiesbaden 2004.
Vgl. den Beitrag von Wilhelm Knelangen in dieser Ausgabe.
Vgl. Hermann Groß/Bernhard Frevel/Carsten Dams, Die Polizeien in Deutschland, in: dies. (Anm. 7), S. 33ff.
Vgl. etwa Hans Lisken/Erhard Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, München 2007.
Vgl. den Beitrag von Michael Bäuerle in diesem Heft.
Vgl. Thomas Ohlemacher/Karlhans Liebl, Empirische Polizeiforschung: Forschung in, für und über die Polizei, in: dies. (Hrsg.), Empirische Polizeiforschung: Interdisziplinäre Perspektiven in einem sich entwickelnden Forschungsfeld, Herbolzheim 2000, S. 7.
Vgl. Bernhard Frevel, Politikfeldanalyse Innere Sicherheit, in: ders. u.a., Politikwissenschaft. Studienbuch für die Polizei, Hilden 2006, S. 103.
Die Aufarbeitung der Polizeigeschichte wird auch an den Polizei-Fachhochschulen intensiviert. So besteht z.B. an der FH öffentliche Verwaltung NRW eine "Dokumentations- und Forschungsstelle für Polizei- und Verwaltungsgeschichte" und verfügt die FH der Polizei Brandenburg über ein "Zentrum der Zeitgeschichte der Polizei".
In Anlehnung an das Buch von Dieter Schenk, Die braunen Wurzeln des BKA, Frankfurt/M. 2003. Das BKA begann im Herbst 2007 mit einer kleinen Tagungsreihe die historische Aufarbeitung. Andere Polizeipräsidien, z.B. Köln, Bonn und Düsseldorf analysierten ihre lokalen Verstrickungen.
Vgl. den Beitrag von Carsten Dams in diesem Heft.
Vgl. Jo Reichertz/Norbert Schröer (Hrsg.), Hermeneutische Polizeiforschung, Opladen 2003.
Rafael Behr, Cop Culture - Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, Opladen 2000; sowie ders., Polizeikultur. Routinen - Rituale - Reflexionen. Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei, Wiesbaden 2006.
Beachtenswert ist zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit in der Polizei von Manfred Murck u.a. (Hrsg.), Immer dazwischen - Fremdenfeindliche Gewalt und die Rolle der Polizei, Hilden 1993.
Einen Überblick über polizeipsychologische Fragestellungen vermitteln z.B. Max Hermanutz/Christiane Ludwig/Peter Schmalzl, Moderne Polizeipsychologie in Schlüsselbegriffen, Stuttgart 2001; Clemens Lorei (Hrsg.), Polizei und Psychologie, Frankfurt/M. 2007.
Vgl. Hans-Jürgen Lange, Polizeiforschung, Polizeiwissenschaft oder Forschung zur Inneren Sicherheit? - Über die Etablierung eines schwierigen Gegenstandes als Wissenschaftsdisziplin, in: ders. (Hrsg.), Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, Opladen 2003, S. 427 - 453.
Vgl. Thomas Feltes, Polizeiwissenschaft in Deutschland. Überlegungen zum Profil einer (neuen) Wissenschaftsdisziplin, in: Polizei & Wissenschaft, (2007) 4, S. 2 - 21.
Vgl. Clemens Lorei, Polizei - Zwischen Erfahrungsberuf und Wissenschaftsbedarf, in: Bernhard Frevel/Karlhans Liebl (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Polizeiausbildung, Frankfurt/M. 2007.
Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Zum Reformbedarf der Polizeiausbildung, in: FHVR - Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin (Hrsg.), Modernisierung durch Ausbildung - Innovationsdruck und Innovation in Studiengängen für den öffentlichen Sektor. Beiträge der Hochschule, Nr. 16, Berlin 2000, S. 73 - 83.
Vgl. Hans-Joachim Heuer, Prozesse der Elitenformierung bei der Polizei. Zur Soziologie der Polizei-Führungsakademie, in: Hans-Jürgen Lange (Hrsg.), Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, Opladen 2003, S. 157 - 175.
Vgl. www.ak-innere-sicherheit.de (2.7. 2008).
Vgl. www.empirische-polizeiforschung.de (2.7. 2008).
Vgl. Alexander Pick, Polizeiforschung zwischen Wissenschaft und Scharlatanerie, in: Kriminalistik, (1995) 11, S. 697 - 703.
| Article | Frevel, Bernhard | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30820/polizei-politik-und-wissenschaft/ | Nach einer kurzen Darstellung der Organisation Polizei werden wissenschaftliche Fragestellungen zur Polizei und zum Polizieren skizziert. Es wird über den aktuellen Stand von Polizeiforschung und -wissenschaft mit seinen institutionellen Bedingungen | [
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Eröffnung: SHOAH, Filme und Zeugen - 50 Filme aus über 75 Jahren (Berlin, 16. September 2018) | Presse | bpb.de | Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich zum Auftakt der Shoah-Filmtage hier im Babylon-Kino. In den kommenden zwei Wochen werden 45 internationale Filme gezeigt.
Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Wirken Claude Lanzmanns, dessen großer Film gegen das Vergessen, SHOAH aus dem Jahr 1985, als zentrales filmisches Werk über die systematische Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten gilt. Mit einer Produktionsdauer von elf Jahren und einer Laufzeit von neuneinhalb Stunden gehört der Film zu den umfangreichsten Arbeiten der Dokumentarfilmgeschichte. Auch wenn er selbst einmal bestritt, dass es sich um einen Dokumentarfilm handelt, denn „[…] ein Dokumentarfilm zeigt Dinge, die da sind. Aber in diesem Falle gab es nichts mehr, das abzufilmen gewesen wäre".
Der Regisseur wählte einen sehr speziellen Zugang zur Thematik, eine Herangehensweise, die die Sehgewohnheiten von Zuschauenden allein schon durch ihre Langsamkeit extrem herausfordert. Nachdem sie den Film gesehen hatte, stellte Lanzmanns Wegbereiterin Simone de Beauvoir seinerzeit fest:
„Weder Fiktion noch Dokumentation, gelingt SHOAH diese Verlebendigung der Vergangenheit mit erstaunlich sparsamen Mitteln: durch Orte, Stimmen, Gesichter. Die große Kunst von Claude Lanzmann vermag die Orte zum Sprechen zu bringen, sie mittels der Stimmen wiederzuerwecken und jenseits aller Worte das Unaussprechliche, Unsägliche durch Gesichter auszudrücken.“ (Simone de Beauvoir, 1985, Das Gedächtnis des Grauens)
Die Bundeszentrale für politische Bildung war bereits einmal daran beteiligt, als der Film hier in Berlin auf großer Leinwand gezeigt wurde. Damals in vier Teilen im Februar und März 2017 gemeinsam mit der Stiftung Toporaphie des Terrors. Hoffentlich noch in diesem Jahr wird es auch eine DVD-Edition des Films im Angebot der bpb geben.
Während der Shoah-Filmtage haben Sie gleich zwei Möglichkeiten diesen unschätzbar wichtigen Film hier auf Leinwand zu sehen.
Meine Damen und Herren,
Sie werden sich in den kommenden Tagen davon überzeugen können, dass es noch viele weitere und sehr unterschiedliche filmische Zugänge gibt, um an den Holocaust zu erinnern, ihn darzustellen, von ihm zu erzählen. Diese Versuche, das Unfassbare irgendwie fassbar zu machen, haben ihre jeweils eigenen Stärken und Schwächen, sie stammen erkennbar aus unterschiedlichen Zeitkontexten und Ländern. So lassen sich an den deutschen Produktionen im Programm die Unterschiede der Erinnerungskultur in der DDR, in der „Bonner“ und der „Berliner Republik“ sehr gut ablesen. Für alle Produktionen gilt, dass sie uns stets aufs Neue dazu einladen ins Gespräch zu kommen und über Erinnerung, über politisches Verantwortungsbewusstsein und letztlich auch über filmische Repräsentationsmodi zu reflektieren und zu diskutieren.
Filme vermitteln viel, können bestenfalls wie Simone de Beauvoir es sagte, das Unaussprechliche und Unsägliche durch Gesichter ausdrücken. Umso bedeutsamer ist es also heute noch die Gesichter, die Menschen und ihre individuellen Geschichten filmisch festzuhalten, für die Gegenwart und für die Zukunft. Sie können die persönlichen Begegnungen nicht ersetzen, sie können dennoch berühren. Es ist eine politische und gesellschaftliche Aufgabe hier anzusetzen.
Eine auch nur ansatzweise Wiederholung des Holocausts unbedingt zu verhindern und Antisemitismus in jeglicher Form entschieden entgegenzutreten ist integraler Bestandteil des Selbstverständnisses der postnationalsozialistischen deutschen Gesellschaft. Die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Auseinandersetzung mit ihnen gehören deshalb immer noch zu den vordringlichsten Aufgaben politischer Bildungsarbeit. Dabei sind aber nicht alle Mittel recht. Stets sollte die Würde der Betroffenen geachtet werden. Lanzmann ist auch hier ein hervorragendes Beispiel. Er verzichtete auf alles Plakative und jegliche Effekthascherei. Er nutzte aus ethischen Gründen keine Archivbilder von Menschen in Häftlingskleidung und aus den Konzentrationslagern, keinen Voice-Over-Kommentar und keine Filmmusik, die das Gesagte stärker einordnen würden. Er verknüpfte Aufnahmen der historischen Orten des Holocaust in Ostmitteleuropa in ruhiger Montage mit Zeitzeugen-Intreviews und anti-dramatisch inszenierten Reenactments. Er führte Gespräche mit Überlebenden, mit Zeugen, aber auch ehemaligen NS-Funktionären und SS-Angehörigen.
Claude Lanzmann ist im Juli dieses Jahres gestorben.
Sein Tod verdeutlicht einmal mehr, vor welchen Herausforderungen die Holocaust-Erinnerung in Zukunft steht. Die persönliche Begegnung mit ihm, der während der Shoah-Filmtage mit einer Retrospektive all seiner Filme geehrt wird, ist nicht mehr möglich. Lassen Sie mich deshalb einen aktuellen Star unter den deutschen Dokumentarfilmern, zitieren, um deutlich zu machen, welche Relevanz er und sein Filmschaffen weiterhin besitzen. Angesprochen auf SHOAH sagte BEUYS-Regisseur Andres Veiel, dass dies ein Film sei, der „[…] wie kein anderer zeigt, dass die deutsche Vergangenheit schmerzlich gegenwärtig ist. Es hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. SHOAH muss gezeigt – und diskutiert werden.“ In Anbetracht des unmittelbar bevorstehenden Endes der Zeitzeugenschaft dieser Verbrechen ist es umso wichtiger, verschiedene Möglichkeiten zu schaffen, um ihr Andenken und ihre persönlichen Zeugnisse zu bewahren und zu reflektieren. Als Bundeszentrale für politische Bildung haben wir uns dieser Aufgabe verschrieben und tragen unseren Teil dazu bei, die filmische Dokumentation und Aufarbeitung zu unterstützen und zugänglich zu machen. Für uns gibt es ein wichtiges Grundprinzip. Egal in welcher Darreichungsform politische Bildung stattfindet – sei es ein einfacher Flyer, ein ganzes Buch, sei es im Rahmen eines Seminars oder in einem Clip auf YouTube: Es ist ganz besonders wichtig, nicht bei der reinen Vermittlung von Informationen stehen zu bleiben. Es muss die Gelegenheit geben, die Informationen zu verarbeiten, sich eine Meinung zu bilden und in einen Diskurs einzusteigen. Dieses Grundprinzip politischer Bildung lässt sich auch auf die Shoah-Filmtage übertragen.
Denn auch hier soll es nicht beim Screening der Filme bleiben! Die Filmtage bieten Ihnen die Möglichkeit, nicht bloß konsumierende Kinogänger zu sein, sondern in den Dialog zu gehen, das Gesehene gemeinsam zu verarbeiten und sich weiter damit auseinanderzusetzen. Nutzen Sie diese Gelegenheit! Hervorheben möchte ich an dieser Stelle die erstmalige Kinovorführung der Serie in Deutschland aufgenommener Videointerviews mit Überlebenden des Holocausts am kommenden Mittwoch. Am Projekt beteiligte Wissenschaftler, Interviewer und sogar Angehörige der Überlebenden werden anwesend sein, um ins Gespräch zu kommen.
Das wollen wir in den kommenden Tagen tun. Wir wollen über Claude Lanzmanns Werke und die zahlreichen weiteren Filme im Programm diskutieren. Ich persönlich freue mich über die Gelegenheit, im Anschluss an Frank Beyers „Jakob der Lügner“ von 1974 mit Ihnen, sehr geehrte Herren Schoeps, Baranowski und Siegele hier auf dem Podium zu diskutieren.
Ich wünsche den Veranstaltern der Filmtage gutes Gelingen. Und Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, wünsche ich interessante Perspektiven und anregende Gespräche.
- Es gilt das gesprochene Wort. - | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2018-09-17T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/276045/eroeffnung-shoah-filme-und-zeugen-50-filme-aus-ueber-75-jahren-berlin-16-september-2018/ | Zur Eröffnung der Filmtage "SHOAH, Filme und Zeugen - 50 Filme aus über 75 Jahren" im Babylon-Kino Berlin begrüßte Schirmherr Thomas Krüger die Besucherinnen und Besucher der Auftaktveranstaltung am 16. September 2018. Im Grußwort sprach er über die | [
"Rede Grußwort Krüger Shoah Holocaust Film Kino"
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Weltbevölkerungstag (Audio) | bpb.de |
Mehr als 7,9 Mrd. Menschen leben aktuell auf der Welt – und jede Sekunde werden es mehr. Wie hat sich die Weltbevölkerung bis heute entwickelt und wie wird es weitergehen? Heute ist der ideale Tag, um sich das mal anzuschauen, denn heute ist Weltbevölkerungstag.
Die Menschen sind recht unterschiedlich auf der Erde verteilt: In Asien leben fast 60 Prozent der kompletten Weltbevölkerung. Danach kommt Afrika mit 17 einhalb Prozent, gefolgt von Europa, Süd- und Nordamerika und schließlich Ozeanien, deren Bewohner:innen 0,5 % aller Menschen auf der Erde ausmachen.
7,9 Milliarden. Kaum zu glauben, dass wir erst ungefähr Mitte des 18. Jahrhunderts die erste Milliardenmarke geknackt haben. Dann begannen die Zahlen schneller anzusteigen. Das lag u.a. an der immer höheren Lebenserwartung – bedingt durch eine Verbesserung des Lebensstandards, also mehr Zeit und Geld für Erholung und Ernährung, die Einführung breiterer medizinischer Versorgung sowie die allgemeine Verbesserung der Hygiene. Die Wachstumsrate der Weltbevölkerung – der jährliche prozentuale Zuwachs – hat im Zeitraum 1965 bis 1970 mit zwei Prozent ein Maximum erreicht und nimmt seitdem stetig ab, 2010 betrug sie noch 1,1 Prozent und hat nach wie vor eine fallende Tendenz. Wir werden also immer noch mehr, nur eben langsamer.
Dieser Trend wird sich wohl fortsetzen. Doch wie genau – dafür gibt es sehr unterschiedliche Prognosen. Die UN sieht die Weltbevölkerung im Jahre 2100 ungefähr bei über 10 Milliarden Menschen. Diese Zahl wird danach voraussichtlich wieder sinken. Andere Modelle sagen schon einen früheren Beginn des Bevölkerungsrückgangs voraus. Je weiter man in die Zukunft schaut, umso schwieriger wird die Berechnung der Bevölkerungsentwicklung.
Was ziemlich sicher ist, die Entwicklung wird nicht in allen Teilen der Welt gleich ablaufen. Während zum Beispiel die Bevölkerung Europas ohne Zuwanderung aus anderen Weltregionen schon längst schrumpfen würde, weisen die Länder der afrikanischen Subsahara wie Niger und Somalia weiter eine hohe Geburtenrate und damit ein starkes Wachstum auf. Einfluss darauf, wie viele Kinder eine Frau bekommt, haben vor allem die Kindersterblichkeitsrate, der sozioökonomische Status und die Möglichkeit zur sexuellen Selbstbestimmung – das meint z.B. inwieweit Paare Zugang zu sexueller Aufklärung und modernen Verhütungsmethoden haben.
Dass die Weltbevölkerung wächst, ist ja erstmal ein gutes Zeichen: Die Lebensbedingungen auf der Erde verbessern sich, sodass immer weniger Kinder sterben und die Menschen generell älter werden. Doch das anhaltende Wachstum bringt auch Herausforderungen mit sich: Mehr Menschen verbrauchen mehr Ressourcen. Auch deshalb ist die Frage der Bevölkerungsentwicklung eine Frage der Zukunft: Wie lässt sich die Entwicklung der Weltbevölkerung nachhaltig und im Einklang mit Umwelt und Klima gestalten? Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hat schonmal eine klare Botschaft: Es braucht mehr Bildung. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-01-30T00:00:00 | 2022-07-11T00:00:00 | 2023-01-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/510480/weltbevoelkerungstag-audio/ | Mehr als 7,9 Mrd. Menschen leben aktuell auf der Welt – und jede Sekunde werden es mehr. Wie hat sich die Weltbevölkerung bis heute entwickelt und wie wird es weitergehen? | [
"Weltbevölkerung",
"Bevölkerungsentwicklung",
"Ernährungsunsicherheit "
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Ausgewählt.org | Jugenddemokratiepreis | bpb.de | Wir haben eine Internetseite geschaffen, auf der sich die 6 Parteien, die eine Chance auf den Einzug in den Bundestag haben, in 280 Zeichen zu den 9 größten Themen der Bundestagswahl 2017 erklärt haben. Damit wollten wir vor allem jungen Wähler*innen die Möglichkeit geben sich schnell, unkompliziert und ohne Filter über die Ziele der Parteien zu informieren. Letztendlich haben zu über 57% Nutzer*innen zwischen 18-24 Jahren unsere Facebook Inhalte aufgerufen und 31% der Nutzer*innen waren zwischen 25-34 Jahre alt. Unser Ziel war es die Parteien dazu zu bringen, so konkret wie möglich auf die gestellten Fragen zu antworten. Einige Parteien waren sehr konkret, andere sind vage geblieben. Wir haben insgesamt 46.600 Klicks auf www.ausgewählt.org gehabt, was ungefähr 10.000 Unique Visitors entspricht. Mit unseren Facebook Beiträgen (in denen wir u.a die Ziele der Parteien nochmal gegenübergestellt haben) haben wir circa 40.000 "Impressionen" erreicht.
Wir haben engen Kontakt mit informiert-wählen.de gehalten, wir haben mit dem Projekt Denkende Gesellschaft freundlichen Kontakt gehalten. Zeit Campus hat einen Beitrag von uns auf Facebook geteilt, bento.de und die Bergedorfer Zeitung haben einen Artikel über uns geschrieben. Die 6 größten Parteien haben uns die Texte zur Verfügung gestellt.
Das Projekt hat sich insbesondere an Erstwähler*innen gerichtet. Das Ziel war es einen schnellen und einfachen Überblick über die politischen Forderungen der Parteien zu ermöglichen. Die Nutzer*innen der Seite waren zu fast 90% zwischen 18 und 34. Die Rückmeldungen waren durchweg positiv. Auch viele politisch Interessierte konnten die genauen Forderungen der Parteien mit ihren eigenen Vorstellungen abgleichen. Viele Nutzer*innen haben zurückgemeldet, dass sie neben dem Wahl-O-Mat unsere Seite genutzt haben, um das im Wahl-O-Mat erzielte Ergebnis "abzugleichen". Einige (so circa 10 Kommentare haben wir dazu bekommen) haben angemerkt, dass wir durch die Darstellung der Positionen der 6 größten Parteien den kleinen Parteien nicht gerecht werden würden. Darüber werden wir in Zukunft nachdenken. Besonders positiv wurde hervorgehoben, dass man durch die Seite auch die Argumente der Parteien nachvollziehen konnte.
Wir sind hellauf begeistert. Am 31.08.2017 sind wir mit der Seite online gegangen und es kannten uns circa 50 Personen aus unserem Bekanntenkreis. Innerhalb von 3 Wochen haben wir es geschafft mehr als 10.000 auf unsere Seite zu bringen. Im Schnitt hat jede*r Nutzer*in 5 Minuten auf der Seite verbracht und sich dabei 6 Seiten angeschaut. Das heißt, auf ausgewählt.org haben sich Menschen 50.000 Minuten lang Gedanken über ihre Wahlentscheidung gemacht. Das freut uns wahnsinnig. Wir nehmen vor allem mit, dass man innerhalb kurzer Zeit ein Projekt auf die Beine stellen kann, das Menschen sinnvoll finden. Wir haben mitgenommen, dass man manchmal hartnäckig sein muss (wir haben alle Parteien im Juli angeschrieben. Bei der AfD haben wir 5 unterschiedliche Anfragen gestellt und wurden vier Mal abgelehnt. Am 09.09. haben wir über einen Kontakt von einem Freund zu einem Bundesvorstandsmitglied die Texte bekommen). Wir haben gelernt, dass man mit einem kleinen Budget viel erreichen kann und bedanken uns für diese Möglichkeit von Herzen bei Ihnen allen, insbesondere Frau Heddergott, die es uns – ohne übermäßigen Aufwand – möglich gemacht hat dieses Projekt umzusetzen. Vielen Dank!
Interner Link: Der Bericht als PDF zum Download | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2017-09-12T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/jugenddemokratiepreis/255951/ausgewaehlt-org/ | Wir haben eine Internetseite geschaffen, auf der sich die 6 Parteien, die eine Chance auf den Einzug in den Bundestag haben, in 280 Zeichen zu den 9 größten Themen der Bundestagswahl 2017 erklärt haben. Damit wollten wir vor allem jungen Wähler*innen | [
"Jugenddemokratiepreis",
"Polittalk"
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Impressum | Baden-Württemberg 2021 | bpb.de | Der Wahl-O-Mat zur Landtagswahl Baden-Württemberg 2021 ist ein Produkt der Externer Link: Bundeszentrale für politische Bildung und der Externer Link: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
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"bpb Wahl-O-Mat",
"Landtagswahl Baden-Württemberg 2021"
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Wie der Haushalt Gesetz wird | Hintergrund aktuell | bpb.de | Es ist eine der aufwendigsten und kompliziertesten Aufgaben, denen sich Ministerialbeamte und Bundestagsabgeordnete stellen müssen: der jährliche Bundeshaushalt. Tausende Seiten Papier mit Plänen, Posten und Zahlen bilden die Grundlage der Entscheidungen über Ausgaben und Einnahmen des Bundes. In dieser Woche stehen die zweite und dritte Interner Link: Lesung des Haushaltsentwurfs 2014 im Bundestag an.
"Königsrecht des Parlaments"
Wegen der Bundestagswahl im vergangenen Herbst hat sich der gewöhnliche Zeitplan für die Haushaltsberatungen verschoben. Normalerweise wird im Dezember der Bundeshaushalt für das folgende Jahr verabschiedet und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Derzeit aber gilt - wegen der Verzögerungen durch die Bundestagswahl im September 2013 - eine vorläufige Haushaltsführung. Das gesetzliche Fundament für Einnahmen und Ausgaben des Bundes im laufenden Jahr 2014 verabschieden die Parlamentarier erst in dieser Woche.
Sie nehmen damit das "Königsrecht des Parlaments" wahr: das in Interner Link: Artikel 110 des Grundgesetzes beschriebene Budgetrecht, das Interner Link: klassische Recht des Parlaments. Nur wenn das Parlament zustimmt, kann der Haushaltsentwurf Gesetz werden.
Der Externer Link: Haushaltsplan der Regierung kann als "Regierungsprogramm in Zahlen" interpretiert werden. Die Opposition nutzt deshalb die abschließende Beratung des Haushalts im Plenum häufig dazu, die Regierung zu kritisieren.
Der Weg zum Haushalt
Das Bundesfinanzministerium spielt bei der Aufstellung des Bundeshaushalts eine zentrale Rolle: Es beschließt in Abstimmung mit den anderen Ressorts zunächst Eckwerte, die die wesentlichen Elemente enthalten. Darauf basiert der Regierungsentwurf zum Haushalt und Finanzplan, den die Regierung beschließt. Der Haushaltsentwurf der Regierung geht zeitgleich an Bundestag und Bundesrat. Letzterer gibt innerhalb von sechs Wochen eine Stellungnahme dazu ab, auf die die Bundesregierung mit einer Gegenäußerung reagiert und dem Bundestag übermittelt. Danach beschäftigt sich der Bundestag in Interner Link: erster Lesung mit dem Entwurf. Sind die mehrere Tage dauernden Beratungen abgeschlossen, wird der Haushaltsentwurf an den Haushaltsausschuss des Bundestages verwiesen. Hier beginnt die eigentliche Arbeit: Der Ausschuss prüft die mehreren tausend Einnahme- und Ausgabepositionen und macht Änderungsvorschläge.
Der Entwurf geht dann wieder zurück ins Plenum und in der dritten Lesung entscheiden die Abgeordneten darüber. Anschließend kann der Bundesrat, wenn er mit dem Haushaltsgesetz nicht einverstanden ist, noch den Vermittlungsausschuss anrufen. Ändert dieser etwas an dem Entwurf, muss der Bundestag entscheiden, ob er diese Änderungen übernimmt. Lehnt die Mehrheit des Bundestags die Änderungen ab, kann der Bundesrat Einspruch einlegen. Diesen Einspruch kann der Bundestag abschließend überstimmen. Schließlich wird das Haushaltsgesetz festgestellt und offiziell verkündet.
In öffentlichen Haushaltsplänen müssen die Summe der Ausgaben und die Summe der Einnahmen ausgeglichen sein. Dieser Ausgleich kann auch über Kredite finanziert werden. Zwischen 1950 und 2012 sind sowohl die Ausgaben als auch die Einnahmen der öffentlichen Haushalte deutlich gestiegen. Allein zwischen 1992 und 2012 erhöhten sich die Ausgaben bzw. Einnahmen um 42,5 bzw. 53,1 Prozent. In fast allen Jahren seit 1950 übertrafen die Ausgaben der öffentlichen Haushalte die Einnahmen. Die hieraus resultierenden Finanzierungsdefizite wurden vor allem über eine Interner Link: Ausweitung der Verschuldung finanziert.
Grundlegend für die Kalkulation der Einnahmen, in erster Linie Steuern und Abgaben, sind die beiden Prognosen des Externer Link: Arbeitskreises Steuerschätzung im Frühling und im Herbst. Dem Arbeitskreis gehören Vertreter der Finanzministerien in Bund und Ländern, des Bundeswirtschaftsministeriums sowie Experten aus fünf Wirtschaftsforschungsinstituten, Statistischem Bundesamt, Bundesbank, Bundesvereinigung kommunaler Spitzenverbände und des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an.
Ende der Neuverschuldung geplant
Das Bundeskabinett hat im März den Externer Link: zweiten Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2014, die Eckwerte des Bundeshaushalts 2015 und des Finanzplans bis zum Jahr 2018 beschlossen. Externer Link: Am 6. Juni verabschiedete der Haushaltsausschuss den Etat. Im Jahr 2014 betragen die Ausgaben des Bundes demnach insgesamt 296,5 Milliarden Euro. Die Interner Link: Nettoneuverschuldung beläuft sich auf 6,5 Milliarden Euro.
Im kommenden Jahr will die Bundesregierung dann keine neuen Schulden aufnehmen: Laut Finanzplan ist 2015 ein Haushaltsausgleich ohne Neuverschuldung vorgesehen. Damit soll der seit 2011 im Interner Link: Artikel 109 Grundgesetz verankerten Interner Link: Schuldenbremse Rechnung getragen werden. Sie begrenzt die Neuverschuldung des Bundes ab 2016 verpflichtend auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; Ausnahmen gelten nur in Notsituationen, bei Naturkatastrophen und Konjunkturkrisen.
Ein Haushaltsplan ist grundsätzlich eine Prognose für einen bestimmten Zeitraum, daraus ergeben sich die Ziele für Einnahmen und Ausgaben. Es kann aber dennoch zu Haushaltslöchern kommen, beispielsweise durch unvorhergesehene Ausgaben, die nicht durch Einsparungen ausgeglichen werden können, oder durch geringere Steuereinnahmen. Interner Link: Dann muss ein Nachtragshaushalt eingebracht werden.
Mehr zum Thema:
Interner Link: Hacke, Constanze: Regieren nach Zahlen: Haushalt und Kontrolle Interner Link: Kastrop, Christian et al.: Konzept und Herausforderungen der Schuldenbremse Interner Link: Stratenschulte, Eckart D.: Europäischer Haushalt
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-02T00:00:00 | 2014-06-25T00:00:00 | 2021-11-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/187076/wie-der-haushalt-gesetz-wird/ | Am Freitag (27. Juni 2014) entscheiden die Abgeordneten des Bundestags über den Haushaltsentwurf für das Jahr 2014. Ein Überblick über die Stationen des Entwurfs der Regierung auf dem Weg zum Gesetz. | [
"Haushalt",
"Haushaltsplan",
"Haushaltsausschuss",
"Gesetzesentwurf",
"Haushaltskontrolle",
"Neuverschuldung",
"Bundeshaushalt",
"Ausgaben",
"Bundestag",
"Wolfgang Schäuble",
"Deutschland"
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Ein aktueller Vorschlag zur Verschärfung von Arbeitgebersanktionen | bpb.de | Im Mai 2007 hat die Europäische Kommission einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der eine europaweite Regelung zur Bestrafung von Arbeitgebern beinhaltet, die irreguläre Migranten aus Drittstaaten nicht angemeldet beschäftigen. Der Vorschlag wurde dem Rat und dem Parlament vorgelegt und wird nun in einem gewohnt langwierigen Verfahren geprüft und beraten. Ziel des Richtlinienvorschlags ist es, Beschäftigungsmöglichkeiten für irreguläre Migranten einzuschränken und dadurch irreguläre Einwanderung einzudämmen.
Einflussfaktoren bei der illegalen Beschäftigung von Angehörigen von Drittstaaten (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de
Dass der Richtlinienvorschlag illegale Beschäftigung und deren Bekämpfung in den Vordergrund stellt, ist dadurch zu erklären, dass reale und vermutete Verdienstmöglichkeiten als wichtiger Anreiz für eine illegale Einreise identifiziert worden sind. Aber auch irreguläre Zuwanderer, die hauptsächlich aus anderen Motiven kommen, müssen in der Regel ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit sichern. Der Bekämpfung illegaler Beschäftigung wird daher ein zentraler Stellenwert in der Eindämmung irregulärer Migration zugeschrieben. Wenn inländische Arbeitgeber aus Angst vor Kontrollen und Strafen keine Zuwanderer ohne Arbeitserlaubnis einstellen, dann sinkt wegen der fehlenden Verdienstmöglichkeiten auch die Zahl der irregulären Migranten. Dieser Logik folgend, betrachtet die Kommission Sanktionen gegen Arbeitgeber als ein zentrales Instrument der Migrationskontrolle im Landesinneren.
Die wichtigsten Vorschriften des Richtlinienvorschlags lassen sich in drei recht unterschiedlichen Maßnahmenkomplexen zusammenfassen:
Erweiterte und harmonisierte Arbeitgeberpflichten
Arbeitgeber – Privathaushalte und Unternehmen – sollen verpflichtet werden, den Aufenthaltsstatus von Zuwanderern zu überprüfen. Als Nachweis sollen sie Kopien der Aufenthaltsdokumente bereithalten können. Unternehmen sollen zur Meldung an Kontrollbehörden verpflichtet werden. Wer diesen Pflichten nicht nachkommt, soll zu Geldbußen, Nachzahlungen von Löhnen und Abgaben sowie zur Zahlung von Rückführungskosten herangezogen werden. Schwerwiegende Arbeitgeberverstöße sollen strafrechtlich verfolgt werden.
Erweiterte Kontrollen
Die Mitgliedstaaten sollen dafür sorgen, dass jedes Jahr rund 10 % aller im Land etablierten Unternehmen daraufhin kontrolliert werden, ob sie Ausländer aus Nicht-EU-Staaten ohne regulären Status beschäftigen. Nach einer Umfrage unter allen Mitgliedstaaten werden derzeit schätzungsweise jährlich ca. 2 % aller Unternehmen überprüft, sodass dies auf eine deutliche Erhöhung der Kontrollfrequenz hinausläuft, die zur Abschreckung von Arbeitgebern dienen soll.
Erweiterte Arbeitnehmerrechte
Der Richtlinienvorschlag ist auf die Vereinheitlichung und Durchsetzung von Arbeitgebersanktionen ausgerichtet, weist aber in der Einleitung darauf hin, dass im Zuge der Kontrollen aufgefallene Drittstaatler ohne Aufenthaltsstatus zwingend ausgewiesen und rückgeführt werden sollen. Darüber hinaus enthält der Entwurf aber einige Vorschriften, die auf eine Anerkennung solcher Arbeitnehmerrechte abzielen, deren Durchsetzung den Anreiz für eine Beschäftigung von irregulären Migranten verringern könnte. Die Mitgliedstaaten sollen sicherstellen, dass Arbeitnehmer ausstehende Löhne einklagen können, auch wenn sie sich nicht mehr in der EU aufhalten. In Zweifelsfällen soll ein sechsmonatiges Beschäftigungsverhältnis unterstellt werden, wobei der Arbeitgeber dann nachweisen muss, dass tatsächlich ein kürzeres Beschäftigungsverhältnis bestand (Beweislastumkehr). Kooperationswillige Arbeitnehmer sollen Beschwerdemöglichkeiten erhalten (direkt oder z. B. über Gewerkschaften) und im Fall von besonders ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ein befristetes Aufenthaltsrecht für die Dauer eines Strafverfahrens erhalten, sodass die Betroffenen als Zeugen fungieren können.
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Die Richtlinie sowie alle beiliegenden Dokumente findet man über das Externer Link: PreLex-Portal der Kommission. (Com (2007) 249 final).
| Article | Dita Vogel und Norbert Cyrus | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-01-25T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/57358/ein-aktueller-vorschlag-zur-verschaerfung-von-arbeitgebersanktionen/ | Im Mai 2007 hat die Europäische Kommission einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der eine Regelung zur Bestrafung von Arbeitgebern beinhaltet, die irreguläre Migranten nicht angemeldet beschäftigen. Ziel des Richtlinienvorschlags ist es, Beschäftigun | [
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Architektur + Soziologie = Architektursoziologie | Architektur der Gesellschaft | bpb.de | Einleitung
Es ist und bleibt ein Paradox: Die Architektur ist die unentrinnbare, stets vor Augen stehende, nicht wegzustoßende, dauerhafte und überdimensionale Gestalt der Gesellschaft. Zudem ist insbesondere die moderne Architektur für ihren Anspruch, ein "neues Leben" herbeizuführen und die ganze Gesellschaft zu verändern, ebenso bekannt wie umstritten. Trotz der faktischen Brisanz und Allgegenwart der Architektur in einer artifiziellen, städtischen Gesellschaft hat sich die Soziologie der Architektur bisher nicht systematisch zugewandt. Die Stadtsoziologie fragt jenseits des gebauten Raumes nach den Interaktionen in der Stadt; die Raumsoziologie stellt sich den Raum als lediglich in der Interaktion geschaffen vor; die Kultursoziologie hat Kunst und Religion im Blick: für sie ist die Architektur zu "technisch"; für die Techniksoziologie wiederum ist sie zu "ästhetisch". Kurz, die Architektur fiel bisher durch die Ritzen der soziologischen Beobachtung. Vor allem hat die allgemeine Soziologie, das heißt die soziologische Theorie, die Architektur nicht ernst genommen: weder in der Frage nach der Vergesellschaftung überhaupt noch in der nach der Eigenart der Moderne. Und implizit hat die Soziologie den Anspruch der Architektur in dieser Moderne wohl entweder als Hybris verstanden - als zum Scheitern verurteilte Utopie - oder sie hat die architektonische Bevormundung der Nutzer kritisiert. Vor allem diese Kritik war bisher der Punkt, an dem sich die Soziologie explizit für die Architektur interessierte. Architektur als Sozialtechnologie
Was die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts zeitgleich mit der Etablierung der Wissenschaft Soziologie wollte, war in der Tat nichts weniger als die "Ordnung" des Sozialen. Le Corbusier hat es 1923 formuliert: Worum es der modernen Architektur geht, ist die Entscheidung zwischen "Baukunst" und "Revolution". Der historische Kontext ist bekannt: Das frühe 20. Jahrhundert ist in Frankreich und Deutschland verbunden mit der Erfahrung einer neuen Gesellschaftsstruktur (dem Aufkommen der Angestellten); einer neuen Wirtschafts- und Produktionsweise (Taylorismus, Fordismus); dem Wachstum der Städte; und zugleich der Erfindung neuer Baufunktionen, Bauweisen, Baumaterialien (Stahl, Stahlbeton, Glas). Die Architektur zeigt sich dabei zutiefst abgestoßen vom Bisherigen: nicht nur vom ästhetischen, sondern vor allem auch vom sozialen "Chaos". In dieser Situation nannte Adolf Loos das Ornament das "Verbrechen": nicht nur, weil es den Stillstand der Architektur bedeutete, sondern tiefergehend noch, weil es die Gesellschaft in vergangenen Lebenswelten - im Barock, im Mittelalter, in der Antike - "gefangen hielt". In ihrer neuen Architektur hat sich die Gesellschaft durch ihre Architekten gewissermaßen selbst ein neues Gesicht "gewählt": artifizielle, serielle Formen, die sich von den regionalen Bautraditionen und der Erde gleichermaßen ablösten, in neuen Materialien und Farben. Zugleich hat sie sich neue Lebensräume geschaffen: entleerte Räume mit transportablen Möbeln aus Glas; Dachterrassen zum Sporttreiben; minimalisierte Küchen mit Anweisungen zur Rationalisierung der Hausarbeit. Es ging dabei nicht nur um ein schnörkelloses Funktionieren, nicht nur um die "Maschine zum Wohnen" (Le Corbusier): sondern es ging auch um ein Management der Affekte und Gefühle, um die Lösung von Vergangenem zugunsten einer vorwärtsblickenden Haltung. Soziologie ohne Architektur
Spätestens diese Architektur hätte die Soziologie auf die Frage bringen müssen, was Architektur hinsichtlich des Sozialen vermag. "Reform" statt "Revolution": Das war das Motto auch der Soziologie. Auch sie zielt(e) neben der Diagnose der modernen Gesellschaft stets auf deren Bändigung: auf Integration, Ordnung, die Schaffung neuer sozialer Bindungen. Dass es keine systematische Architektursoziologie gab, wird vielleicht daran gelegen haben, dass sich die Soziologie (wie der Freiburger Soziologe Wolfgang Eßbach es ausdrückt) von Kunst und Technik in die "Klemme" genommen sah: und damit wesentlich auch von der modernen Architektur. Diese war mit ihrem sozialen Anspruch die vielleicht übermächtige Konkurrenz der Soziologie. Für Eßbach ist dies der Grund einer weitreichenden Weichenstellung der Soziologie, in der alle "Dinge" aus dem Bereich des Sozialen und dem Blick der Soziologie verbannt sind. Die Soziologie gibt sich ihre Grundbegriffe in einer "antiästhetischen und antitechnischen Haltung". Sie reinigt das eigentliche Soziale von den Dingen (und damit auch von der Architektur), indem sie es als pure Interaktion, Wechselwirkung, Kommunikation fasst. Alles andere ist allenfalls Instrument oder Ausdruck dieses "eigentlichen" Sozialen. Die soziologischen Klassiker interessieren sich für die Motive der Einzelnen, aus denen sich der Kapitalismus erklären lässt; für die Eigendynamik übergreifender Komplexe wie Religion und Wirtschaft. Und ihre Grundbeobachtung ist, dass die moderne Gesellschaft auseinanderzufallen droht, indem sie die traditionalen und religiösen Bindungen durch Verträge ersetzt. Das soziale Band, das vinculum sociale, ist brüchig geworden.
Dass sich diese moderne Gesellschaft in den Großstädten entfaltet, haben wenige angesprochen. Vor allem Georg Simmel hat diese neue Lebenswelt analysiert: eine Lebenswelt, die neue Umgangsformen notwendig macht, weil sich in ihr die Menschen und Dinge explosionsartig vermehren. Simmel schlug der Soziologie vor, von der sichtbaren Oberfläche der Gesellschaft ein "Senkblei" zu ziehen, gleichsam am Körper der Gesellschaft ihre "Seele" zu erkennen. Und dieser Körper ist faktisch sicher nicht zuletzt die Architektur. Architektursoziologie
Der gesellschaftlichen Bedeutung der Architektur angemessen, entsteht derzeit eine explizite Architektursoziologie. Dieser geht es weniger um eine Belehrung der Architektur als um deren soziale Brisanz: um die Relation von Architektur und Gesellschaft. Es interessiert dabei vor allem das Gebaute selbst; daneben natürlich auch die sozialen Beziehungen im Bausektor und die Profession des Architekten. Und es bedarf einer begrifflichen Anstrengung: Die Architektursoziologie kann nicht einfach mit den alten Begriffen der Soziologie operieren, insofern in der Fassung des "eigentlichen" Sozialen als Interaktion oder Kommunikation die Architektur stets nur als "Ausdruck" oder "Spiegel" der Gesellschaft begreifbar ist.
Diese Denkweise findet sich nicht nur in der Soziologie, sondern auch in Architekturtheorie, Kunstgeschichte, Politologie, Ethnologie, Archäologie. Soziologisch wäre die Architektur damit aber zu kurz gefasst, schon wegen ihrer Ausrichtung auf das Neue, aber auch ganz grundlegend: Die Architektur jeder Gesellschaft (auch der Nomaden) umgibt die Einzelnen ständig: ist unentrinnbar, sozialisiert immer schon und bleibt dabei zumeist unbewusst. Sie verleiht der Gesellschaft zugleich stets eine bestimmte, sicht- und greifbare Gestalt: gliedert sie, affiziert die Einzelnen, verschafft den Institutionen Ausstrahlungskraft. Und nicht zuletzt sind es die Architekten, die - um es mit Gilles Deleuze zu sagen - "neue Falten im sozialen Stoff" bilden. Sie sind schließlich diejenigen, denen systematisch "beigebracht wird, Pläne zu machen" (Frank L. Wright).
Aktuell sieht man es am "Dekonstruktivismus", der soziologisch nicht nur eine Spektakelarchitektur ist, sondern auch etwas verändert: die "Haut" der Gesellschaft und vermutlich auch unsere Bewegungs- und Kommunikationsweisen. Die Frage ist daher, bis zu welchem Punkt die Architektur adäquat als "Ausdruck" der Gesellschaft beschreibbar ist und mit welchen Begriffen ihr aktiver Part zu fassen wäre.
Die Architektur ist überaus komplex: mehrfach sozial brisant. Auf einer makroskopischen Ebene stellt sich die Frage, welche gebaute Gestalt sich die Gesellschaft "wählt": damit auch, wie die Einordnung und Hierarchisierung der Einzelnen geschieht. In jeder Gesellschaft, die sich in Klassen, Schichten, Geschlechter, Generationen teilt, bedarf dies einer anschaulichen Form. Dasselbe gilt für die funktionale Teilung in die Sphären des Rechts, der Ökonomie, der Politik, der Erziehung, der Religion usw. Und auf einer eher mikroskopischen Ebene wäre zu beobachten, welche Bewegungs-, Blick- und Handlungsweisen das Gebaute nahelegt. Es gibt viele verschiedene Bautypen, die in je verschiedenen Gesellschaften die Einzelnen mit je verschiedenen Objekten zu soziotechnischen Konglomeraten zusammen schalten. Im Gerichtssaal etwa gibt es stets Ebenendifferenzen und damit Blickhierarchien sowie klare räumliche Zuweisungen. Und auch, wer "morgens in seine Werkstatt oder an seinen Schreibtisch tritt, erlebt von da her aktualisiert und schon über die Entscheidungsschwelle gehoben die Kontinuität seines spezialisierten Verhaltens." Architektur und Innenarchitektur haben eine Auslöserwirkung "Hiervon ist die gesamte Kooperation jeder Gesellschaft abhängig".
Die Architektur affiziert in all dem, im Unterschied zu vielen anderen Artefakten: Sie erhebt oder stößt ab. Zumindest die Architektur der "Hochkulturen" kultiviert ihre Affektivität, während etwa die Architektur der Eskimo - Erd- und Schneehäuser, Lederzelte - eher nichtssagend ist und sich Völker wie die Troglodyten gar eine negative Architektur schaffen, sich in die Erde eingraben. Auch diese Nicht-Affektivität hat Effekte: mit ihr wird die sichtbare Teilung der Gesellschaft (in "oben" und "unten") verhindert. Dass die Architektur sozial brisant ist, gilt also keineswegs nur für die Moderne. Es gilt für jede Gesellschaft, nicht zuletzt für die "anonyme" Architektur nichtmoderner Gesellschaften. So bringt auch die Architektur der Nomaden (Zelte, Hütten, Jurten) eine je bestimmte Gestalt der Gesellschaft und je bestimmte Lebensräume hervor, die Bewegungen und Blicke und damit die Interaktionen beeinflussen. Im Fall der Nomaden handelt es sich um eine bewegliche, kaum auf Augenhöhe reichende, weiche "Gestalt" der Gesellschaft aus Haar, Wolle und aus Häuten, die ganz für den Weg gemacht ist. In ihren fehlenden Trennungen und ihrer Mobilität lässt das Zelt kaum Privaträume zu, fördert ein symbiotisches Naturverhältnis, erschwert Bodeneigentum. Feste Gebäude schaffen (im Fall sesshafter Gesellschaften) wiederum erst die Dauer, an die sich die sozialen Einrichtungen anlehnen. So besteht die christliche Kirche wesentlich dadurch, dass sie neben den Schriften und Riten ihre heiligen Stätten pflegt und die Einzelnen in affektiven Gebäuden versammelt. Neben der Pflege vergangener Architekturen als Substrat des "kollektiven Gedächtnisses" gibt es andererseits auch das gezielte Vergessen - weshalb der Abriss des Berliner Palastes der Republik ein Politikum ist, eine Entscheidung über die Art und Weise der Verteilung der Macht, die Regierungsweise, das Selbstverständnis der Subjekte, das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit.
Eine solche Architektursoziologie ist für die Soziologie selbst eine neue Information. Sie übt einen kognitiven Druck aus. Sie nötigt erstens die allgemeine Soziologie, die "Mechanismen" des sozialen Lebens auf neue Weise zu buchstabieren. Wenn das Soziale in der reinen Interaktion besteht oder in sozialen Strukturen, sind Artefakte und auch die Architektur (als artifizielle Umwelt) ausgeschlossen. Damit bleibt auch die Affektivität, das Beeindruckungspotential der Architektur unberücksichtigt, das sie den sozialen Einrichtungen leiht, ebenso wie ihr kreatives Potential. Zweitens erlaubt der Blick auf die Architektur eine andere Diagnose der gegenwärtigen Gesellschaft: Die Frage, in welcher Gesellschaft wir "eigentlich" leben, wird dann nicht mehr ausschließlich mit der Medienvermitteltheit oder der Individualisierung beantwortet. Im aktuellen Begehren der Rekonstruktion historischer Gebäude ebenso wie in der aktuellen Avantgarde-Architektur zeigen sich Momente der Gesellschaft, die in den Diagnosen der "Medien-" oder "Wissensgesellschaft" nicht benannt sind. Zu beachten ist auch aktuell die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigkeiten: die Anwesenheit vergangener Generationen und Gesellschaften. Auch die Frage, mit welcher Subjektform, welcher Denkweise, welchen Begehren man es gegenwärtig zu tun hat, wird sich angesichts der Körperlichkeit des Menschen nicht jenseits der Architektur stellen lassen, die unseren Körper nahezu ständig umgibt. Drittens wirft das Interesse an der Architektur neues Licht auf die klassische Soziologie. Diese hat keine systematische Architektursoziologie entfaltet; aber sie enthält wichtige Fallstudien: veritable Klassiker der Architektursoziologie, die Hinweise für eigene Forschungsprojekte geben, Antworten auf die Frage, wie und mit welchen Begriffen man den Effekten der Architektur auf die Schliche kommt. Dies ist der Forschung nicht äußerlich; sie bedarf stets der Theorie.
Klassiker der Architektursoziologie: In all diesen Aspekten der Relation von Architektur und Gesellschaft ist eine historische Soziologie interessant, die die Frage stellt, wie wir zu dem geworden sind, was wir sind. Von den Klassikern der Architektursoziologie haben einige genau diese Frage gestellt. Die Antworten sind alle aktuell, insofern man sich vergegenwärtigt, dass die Soziologie ein "multiparadigmatisches" Fach ist, viele gleichberechtigte Theorien kennt, die je andere Facetten fokussieren, andere Erklärungen bieten.
Trotz der genannten Hemmnisse ist der Soziologie zunächst die zeitgleiche Architektur nicht ganz entgangen. Siegfried Kracauer (selbst Architekt) erkennt in der Weißenhofsiedlung das "anonyme Sein des der kapitalistischen Wirtschaft verpflichteten Massenmenschen", will der Architektur allerdings einen emanzipativen Effekt nicht absprechen; die Öffnung der Wände zeige "eine noch ungegebene Struktur der Gesellschaft". Ernst Bloch ist ebenfalls berührt von der Moderne, versteht sie aber als "verfrüht": in den Schiffsmetaphern der Gebäude, der Leichtigkeit drücke sich die Flucht vor dem Faschismus aus. Und in ihrer Serialität erzeuge diese Architektur nur die "normierten Termiten", die der Kapitalismus brauche. Durch die Bauhaus-Stadt Dessau gehend, erkennt Helmuth Plessner optimistischer eine Gesellschaft, die sich durchgreifend technisiert, nicht ohne sich ihre "unendlichen Möglichkeiten" klar zu machen: Im internationalen Stil sind es nicht zuletzt die Möglichkeiten einer Weltgesellschaft. Interessant sind darüber hinaus konzeptionelle Texte, aus denen sich etwas für Theorie und Methode der Architektursoziologie lernen lässt. Werner Sombart analysiert den Anteil des "Wohnluxus" an der Entfaltung des modernen Kapitalismus, die mit Kostbarkeiten gefüllten Palais und Villen, mit denen der Luxuskonsum in die Gesamtgesellschaft dringt. Das Palais ist der "Sieg des Weibchens", das im luxuriösen "Nest" das "Männchen" an sich fesselt: "Kurtisanenwerk!" Für Sombart zeugte somit der Bau-Luxus, der ein "legitimes Kind der illegitimen Liebe war, den Kapitalismus". Umfassender ist die "Architektursoziologie" Georg Simmels, nämlich sowohl diagnostisch als auch elementar angelegt. Jede dauernde Vergesellschaftung basiert auf einer baulichen "Fixierung": Architekturen sind "Drehpunkte" der sozialen Beziehungen, verstetigen etwa eine religiöse Gemeinschaft. Ebenso bedürfen soziale Über- und Unterordnungen nach Simmel grundlegend der Architektur. Simmels zweite, diagnostische Perspektive kann man als Soziologie der gebauten "Haut" der Gesellschaft fassen: An der Architekturform lässt sich die spezifische Art der Vergesellschaftung erkennen, etwa der Rationalismus der Moderne an den geraden Straßen und Häusern.
Während Simmel die Großstadt Berlin um 1900 im Blick hat, richtet Norbert Elias den Blick zurück auf Versailles: um den Anfangspunkt der Zivilisierung der Sitten zu erkennen. In seiner Analyse des Schlosses interessiert er sich weniger für den Prunk als für die Funktion und Lage der Räume für 10 000 Menschen: Dieses "Haus des Königs" erscheint ihm als das "Spitzenphänomen" einer absolut hierarchischen Gesellschaft, deren Verhaltenscodex sich zunächst (mittels der Palais) im Adel, dann (mittels der Villen) im Bürgertum verbreitet. Den Blick noch weiter zurück richtet Ernst Bloch, der in den Stilen je spezifische Begehren erkennt: die "Überstarre" der ägyptischen und "Überfülle" der gotischen Architektur zeigen eine je spezifische Kosmologie, einen Lebenswillen. Im Blick nach vorn ist für ihn die Architektur dann die Kunst, der eine soziale Kraft zukommt: architektonische Entwürfe sind "konkrete", vorwärts treibende Utopien.
Auch die "Konsumgesellschaft" ist nicht ohne eine bestimmte, Begehren weckende Architektur denkbar. Das hat bereits Walter Benjamin gezeigt. Für ihn ist die Architektur das "wichtigste Zeugnis der latenten Mythologie" der Gesellschaft, ihres Begehrens. Und da die "wichtigste Architektur des 19. Jahrhunderts" die Passage ist, kann man an ihr den Ursprung des modernen Subjekts entdecken. Wie prähistorische Gesteine "den Abdruck von Ungeheuern aus diesen Erdperioden tragen, so liegen die Passagen heute in den großen Städten wie Höhlen mit den Fossilien eines verschollenen Untiers: der Konsumenten aus der vorimperialen Epoche des Kapitalismus". Die Passagen bieten den Raum für Bewegungen und Blicke des Flaneurs, der im Tempo einer Schildkröte durch den Warendschungel spaziert. Gabriel Tarde und später Georges Bataille richten ihren Blick auf den Bauaufwand: Dieser ist ein konstitutives soziales Phänomen (schafft soziales Prestige) und für Tarde gar der "Grund für das Dasein alles übrigen". Daher ist die (Pracht-)Architektur nicht nur eines der sichtbarsten, sondern auch der "tiefgründigsten Merkmale" der Gesellschaft.
Die französische Soziologie interessiert sich zudem vor allem für den Vergleich nicht-moderner und moderner Gesellschaften. Marcel Mauss hat die Art und Weise, in der sich die Eskimo-Gesellschaft architektonisch am Boden fixiert, beobachtet: Es ist eine Gesellschaft, die sich im Sommer in kleinen Zelten zerstreut; im Winter "wandeln sich die morphologische Gestalt der Gesellschaft, die Technik ihrer Wohnbauten und die Struktur der darin Schutz suchenden Gruppe ganz und gar". Die Eskimo ziehen in feste, kollektive Häuser und führen darin ein intensives soziales und religiöses Leben in Güter- und Frauengemeinschaft. Sie entfalten also einen absoluten Rhythmus des sozialen Lebens, der nicht ohne den Wechsel der Architektur denkbar ist. Maurice Halbwachs hat demgegenüber die "Standsicherheit" betont, welche die gebaute Gestalt dem Sozialen schafft: nicht zuletzt für das Christentum, einer immerhin 2000-jährigen Institution. Es gibt keine Institution ohne Architektur; denn weit entfernt, ein bloßes "Gedankengebilde" zu sein, muss sich jede soziale Einrichtung mit "unbelebtem Stoff", mit "Bauwerken, Häusern, Plätzen ... beschweren". Und Claude Lévi-Strauss veranschaulicht sich die überaus komplexe Struktur der nicht modernen Gesellschaften der Bororo anhand ihrer Hütten, von denen jede eine Familie beherbergt und die kreisförmig um einen Platz angeordnet sind, in dessen Mitte das Männerhaus steht. In dieser Anordnung klassifiziert, teilt, hierarchisiert sich die Gesellschaft. Auch für Pierre Bourdieu basiert die "Beharrungskraft" sozialer Strukturen auf ihrer "Einschreibung in den Raum": in der sich die Macht unbemerkt "behauptet", sofern sie sich direkt an den Körper wendet.
Der Architektursoziologe avant le lettre aber ist Michel Foucault: Er beschreibt die Architektur des Gefängnisses und zeigt, wie das disziplinierte und arbeitsame Subjekt - also wir - im 19. Jahrhundert durch eine spezifische Architektur (des Panoptismus) erzeugt wird. Es sind die Steine, welche die Individuen "gelehrig" machen, indem sie an die Stelle der totalen Einschließung Durchblicke treten lassen, die aus den Einzelnen "Objekte einer Information" machen. Foucault spürt auch an weiteren Stellen eine Architektur auf, die als "Auge der Macht" einer Gesellschaft fungiert, deren Ökonomie es erforderlich macht, die Macht in alle Bereiche der Gesellschaft eindringen zu lassen. Im 18. Jahrhundert enthält jede Abhandlung über Politik "Kapitel über Städtebau, den Bau kollektiver Einrichtungen, Hygiene und den Bau von Privathäusern", während Schlösser und "Zwangshäuser" Orte des Misstrauens werden, so dass sich die neue Gesellschaft "ohne ihre Auslöschung nicht errichten" lässt. Es geht nicht um einzelne Gebäude, sondern um architektonische Denkweisen, um ein je spezifisches sozio-technisches Konglomerat. Die Antike wäre in diesem Blick weniger eine "Demokratie" (ein viel zu weites Wort) als eine "Zivilisation des Schauspiels": Tempel und Theater erzeugen eine öffentliche Lebensweise in einer uns unbekannten sinnlichen Intensität. Sofern wir nicht mehr "auf den Rängen" sind, sind wir "weit weniger Griechen, als wir glauben". Einiges wäre noch anzuführen, etwa Marc Augés Beobachtung der Flughäfen (Nicht-Orte) oder Roland Barthes Analyse der Bedeutung des Eiffelturmes sowie neuere, noch nicht "klassische" Studien. Was die Architektur vermag ...
... das hat, soviel ich weiß, noch niemand festgestellt". So könnte man es mit Spinoza trotz der veritablen Klassiker sagen. Denn diese haben implizite Architektursoziologien entfaltet, die ohne begriffliche Klärungen auskommen. Spinoza hatte im 17. Jahrhundert konstatiert, es habe noch niemand genau erkundet, was der menschliche Körper allein vermag, welcher aktive Anteil dem Körper im Zusammenspiel mit dem "Geist" zukomme, auf welche Weise er andere Körper affiziere und von ihnen selbst affiziert werde. Für Spinoza ist etwa die Frage offen, ob der Körper Kirchen bauen kann: Es hat eben noch niemand systematisch festgestellt, woher die Energien kommen, was genau die antreibende Kraft ist. Bisher hat auch noch keine Soziologie systematisch festgestellt, was die Architektur hinsichtlich des Sozialen vermag: welche Motivationen, Einteilungen, Hierarchien, Gesellschaften mit ihr eher geschaffen als nur noch ausgedrückt werden. Das ist die Aufgabe der aktuell sich entfaltenden Architektursoziologie, auf deren Fallstudien man gespannt sein darf - ebenso wie man gespannt sein darf, worauf die Architektur demnächst kommt.
Wolfgang Eßbach, Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie, in: Andreas Lösch u.a. (Hrsg.), Technologien als Diskurse, Heidelberg 2001, S. 123 - 136.
Zu einer Korrektur des Kommunikationsbegriffs in Richtung der Architektursoziologie siehe den Beitrag von Joachim Fischer in diesem Heft.
Vgl. Joachim Fischer/Heike Delitz (Hrsg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009.
Vgl. Ernst Seidl (Hrsg.), Lexikon der Bautypen, Stuttgart 2006.
Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur (1956), Frankfurt/M. 2004, S. 25.
Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis (1939), Stuttgart 1967.
Siegfried Kracauer, Das neue Bauen, in: Frankfurter Zeitung vom 31.7. 1927.
Helmuth Plessner, Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter (1932), in: ders., Politik - Anthropologie - Philosophie, München 2001, S. 71 - 86.
Werner Sombart, Luxus und Kapitalismus, München 1912.
Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Berlin 19685, S. 472.
Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, Luchterhand/Neuwied 1969.
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt/M. 1959.
Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (1927 - 1939), Frankfurt/M. 1991, S. 670.
Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung (1890), Frankfurt/M. 2009, S. 77.
Marcel Mauss, Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften (1905), in: ders., Soziologie und Anthropologie 1, Frankfurt/M. 1989, S. 182 - 270.
Maurice Halbwachs, Was heißt soziale Morphologie? (1938), in: ders., Soziale Morphologie, Konstanz 2002, S. 11 - 22, hier: S. 15.
Claude Lévi-Strauss, Bororo, in: Ders., Traurige Tropen (1955), Frankfurt/M. 1978, S. 190 - 237.
Michel Foucault, Raum, Wissen und Macht (1982), in: Ders., Schriften 4, Frankfurt/M. 2005, S. 324 - 341, hier: S. 325.
Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976, S. 278.
Baruch de Spinoza, Die Ethik (1677), Hamburg 1999, III, Vorwort; Ein Theorievorschlag vgl. Heike Delitz, Architektur als Medium des Sozialen, Diss. TU Dresden 2009.
| Article | Delitz, Heike | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31936/architektur-soziologie-architektursoziologie/ | Angesichts der unzweifelhaften Bedeutung der Architektur für die Gesellschaft etabliert sich derzeit die Architektursoziologie. Ihre Perspektiven, ihre Fragen und Antworten werden in Gestalt der (impliziten) Klassiker der Architektursoziologie vorges | [
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Kommentar: Zur aktuellen Lage von Memorial International | Russland-Analysen | bpb.de | Als im November 2021 bekannt wurde, dass der russländische Staat den internationalen Dachverband des Memorial-Netzwerks sowie dessen Mitglied, das Menschenrechtszentrum Memorial, gerichtlich zu liquidieren sucht, war die Aufregung in Kreisen der mit Russland befassten Wissenschaftscommunity und zivilgesellschaftlichen Akteure groß. Wurde doch die Eröffnung der betreffenden staatsanwaltlichen Verfahren gegen beide Organisationen als weiterer bedeutender Schritt in der Entwicklung Russlands zum autoritären Staat gewertet.
Inzwischen ist es neun Monate her, dass Russland – fußend auf absurden Begründungen – die Ukraine überfallen hat und bis heute dort einen unmenschlichen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führt. Es liegt zwei Monate zurück, dass die russische Führung Teile der eigenen Zivilbevölkerung für diesen Krieg mobilisiert hat.
Wie geht es unter dieser weiter verschärften Lage den Mitarbeitenden von den inzwischen liquidierten Organisationen und den anderen russländischen Mitgliedsverbänden des Memorial-Netzwerks?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ereignisse der letzten zwölf Monate das seit über dreißig Jahren im postsozialistischen Raum bestehende Netzwerk zu einer tiefgreifenden Neuorientierung zwingen.
In der Zeit von November 2021 bis zum Februar 2022 ging man im Moskauer Hauptquartier des Netzwerks noch relativ gelassen mit Anklage und dem Urteil zur Zwangsauflösung vom 28. Dezember 2021 um, auch wenn man sich über die Chancen des Erfolgs des Revisionsverfahrens keine Illusionen machte. Da die Zwangsauflösung erstmal "nur" den internationalen Dachverband und das Menschenrechtszentrum betraf, schien es zunächst möglich, die Arbeit der beiden Organisationen auf andere juristische Personen im Memorialnetzwerk zu verlegen. Die Räumlichkeiten wurden auf die Mitgliedsorganisation "Informations- und Aufklärungszentrum NIPC Memorial" und die Aufgabe der Koordination des Netzwerks innerhalb Russlands auf den russländischen Dachverband übertragen. Die im Rahmen des Menschenrechtszentrums aktiven Juristen und Menschenrechtler verlagerten ihre Tätigkeit in ein neu ins Leben gerufenes informelles Netzwerk. Man war sich allerdings klar, dass man das Risiko minimieren müsse, dass auch Memorial Russland gezwungen würde, sich als "ausländischer Agent" zu registrieren. Auch verbrachte man vorsorglich die Archive an einen sicheren Ort und begann deren Digitalisierung voranzutreiben.
Als kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine jedoch die Moskauer Räumlichkeiten einer Razzia durch OMON-Truppen und den FSB unterzogen wurden, wurde deutlich, dass die Verlagerung der Arbeit auf andere juristische Personen im Netzwerk keine Lösung darstellt. Aus der Tatsache, dass dabei sämtliche Büros und alle Computer konfisziert wurden – ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu noch existierenden Memorial-Organisationen, wie NIPC oder Memorial Moskau – wurde geschlossen, dass es dem gesamten Netzwerk an den Kragen gehen sollte.
Die Befürchtung, dass auch die lokalen Machthaber in den Regionen die örtlichen Memorial-Organisationen zur Schließung zwingen würden, bewahrheitete sich glücklicherweise nur teilweise. So wurde bisher lediglich der Permer Memorialverband gerichtlich aufgelöst, der sich aber unter neuem Namen schnell reformieren konnte. Zurzeit wird jedoch gegen die Memorial-Organisation in Komi vorgegangen. Viele regionale Verbände blieben aber glücklicherweise bisher einigermaßen unbehelligt, was wohl auch damit zusammenhängt, dass die Mehrheit der lokalen Organisationen aufgrund ihrer sehr begrenzten finanziellen Mittel von den regionalen Behörden nicht als "gefährlich" in ihrer Wirkung auf die örtliche Bevölkerung eingeschätzt wird.
Sowohl der internationale Dachverband als auch das Menschenrechtszentrum hatten nämlich jeweils beträchtlich Summen an Fördergeldern aus dem Ausland akquirieren können, was ihre Unabhängigkeit gegenüber der Finanzierung aus russländischen und damit staatlich regulierbaren Quellen garantiert hatte. Damit waren sie – trotz ständiger Versuche seitens des Staates, sie über das Agentengesetz zu disziplinieren – staatlicherseits schwer kontrollierbare zivilgesellschaftliche Player gewesen – ein Status, der in einem durch die Putinsche Machtvertikale kontrollierten Russland weder auf der regionalen noch föderalen Ebene goutiert wird.
Wenn auch die regionalen Mitgliedsverbände als juristische Personen im vergangenen Jahr erstmal nicht im Fokus der behördlichen Verfolgung standen, sahen sich aber eine große Anzahl der Aktiven im russländischen Memorial-Netzwerk nach Kriegsbeginn persönlich in Gefahr: Viele hatten in Artikeln und sozialen Netzwerken ein Verständnis der russländischen Geschichte und Gegenwart offenbart, das mit den neuen, mit Kriegsbeginn verabschiedeten Fake-News-Gesetzen im Widerspruch stand. Die Sorge, deshalb persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden, führte dazu, dass viele Mitarbeitende von Memorial-Organisationen im Verlauf des Frühjahrs das Land verließen und im Baltikum, Polen, Tschechien, Frankreich, Deutschland und weiteren EU-Ländern Zuflucht suchten.
Somit steht den in Russland verbliebenen Angehörigen des Memorial-Netzwerks seit über einem halben Jahr eine erhebliche Anzahl von "Memorialzy" gegenüber, die versuchen, ihre Arbeit in der Emigration fortzusetzen und in den betreffenden Aufnahmeländern – wenn überhaupt – auf eher kleine, hauptsächlich ehrenamtlich getragene Memorialverbände treffen.
Da sich die Flucht vieler Aktiver überaus kurzfristig und auf der Grundlage von Schengen-Visa vollzog, stellte sich in den Ankunftsländern die Frage nach Aufenthalt und Lebensunterhalt. Während einige mittelosteuropäische Länder relativ unkompliziert humanitäre Visa und damit auch Arbeitserlaubnisse ausstellten, gestaltet sich die Situation in Deutschland weitaus schwieriger. Im Zusammenwirken der Stiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, der Russland-Co-Gruppe von amnesty international und Memorial Deutschlands konnte ein Auffangnetzwerk ins Leben gerufen werden, mit Hilfe dessen die ausgereisten Mitarbeitenden von russländischen Memorial-Verbänden mit Stipendien versorgt und auf verschiedene Einsatzorte in Museen, Gedenkstätten, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen der Geschichtsaufarbeitung verteilt werden konnten. Jedoch verfügen nach wie vor die meisten Betroffenen weder über einen gesicherten Aufenthalt noch eine Arbeitserlaubnis. Die Stipendien, an denen der gegenwärtige Aufenthaltstitel nach § 18 d des Aufenthaltsgesetzes hängt, laufen zeitnah aus, eine Anschlussfinanzierung ist in vielen Fällen ungewiss. Trotzdem tut sich das Innenministerium – trotz gegenteiliger Verlautbarungen von Vertretern der Bundesregierung – mit der Erarbeitung einer Empfehlung für den Umgang mit der betroffenen Personengruppe, die den Ländern und damit auch den lokalen Ausländerämtern als Orientierung dienen könnte, schwer.
Diese unklare Zukunftsperspektive der zahlreichen in Deutschland befindlichen Aktiven wirkt sich natürlich auf den Zustand des Gesamtnetzwerks auf, der ja auch in Russland nicht als gesichert erscheint.
Im Vorstand von Memorial International, der unbeeindruckt von der rechtlichen Auflösung des Dachverbands weiter regelmäßig seine Vorstandssitzungen abhielt und über die Zukunft des Netzwerks beriet, war man sich schnell einig, dass das Hauptquartier des Netzwerks perspektivisch nicht in Moskau bleiben könne, sondern dass es einen neuen internationalen Dachverband mit Sitz in Europa geben müsse. Der ursprünglich ins Auge gefasste Standort Berlin schied einmal aus Gründen der deutschen Gesetzgebung für internationale Organisationen, aber auch wegen der Visa-Politik der Bundesregierung schnell aus und andere Städte wie Wien, Brüssel und Genf rückten in den Fokus. Neben der Entscheidung für einen geeigneten Standort erwies sich der Prozess der Ausarbeitung einer neuen Satzung, bei dem möglichst eine von Vielfalt gekennzeichnete Gruppe von Aktiven (Vertreter russländischer und europäischer, hauptstädtischer und regionaler Verbände, der jungen und der älteren Generation) miteinbezogen werden sollte, als langwierig.
Während eines weiteren Gerichtsprozesses zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Übertragung der Räumlichkeiten von Memorial International an das NIPC Memorial ging die Nachricht über die bevorstehende Verleihung des Friedens-Nobelpreises durch die Medien. Der Preis stellt vor dem Hintergrund dieser Situation zwar einen enormen Ausdruck von internationaler Wertschätzung und moralischer Unterstützung dar, kann aber dem Netzwerk leider auch keine nachhaltige Perspektive bieten.
Ob das Netzwerk, seine Menschenrechtsarbeit und seine Bemühungen zur Aufarbeitung der sowjetischen Staatverbrechen noch eine Zukunft haben, wird davon abhängen, inwieweit diese Tätigkeiten in größerem Maßstab in Russland überhaupt noch weiter möglich sein werden und die emigrierten "Memorialzy" im Ausland Bedingungen vorfinden, die ihnen nachhaltig erlauben, ihre historische Forschung, Aufklärungs- und Menschenrechtsarbeit weiter fortzuführen. Hilfreich wäre hier z. B. die Gründung einer gesamteuropäischen Stiftung, die – ähnlich der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur – Projektgelder und institutionelle Förderung für die Fortsetzung der Forschung zu den sowjetischen Staatsverbrechen und deren Folgen in den Staaten des postsozialistischen Raums sowie für die historischen Aufarbeitung und politische Bildung zur Verfügung stellen könnte.
Zudem ist von Wichtigkeit, ob der Umzug des Hauptquartiers des Memorial-Netzwerks nach Europa sowohl institutionell als auch mental gelingt. Memorial hat seine Identität immer aus dem Selbstverständnis der sowjetischen Bürgerrechtsbewegung hergeleitet, ein Zugang, der schon in der Vergangenheit bereits den Verbänden in Italien, Tschechien, Frankreich und Deutschland nicht in der gleichen Selbstverständlichkeit offenstand. Mit der Verlegung des Schwerpunkts des Netzwerks nach Europa wird sich Memorial ein Stück neu erfinden müssen und seine in der Sowjetunion bzw. Russland sozialisierten Angehörigen werden lernen müssen, eine weniger sowjetspezifische bzw. russländische Perspektive einzunehmen, sondern werden stärker gesamteuropäische Herangehensweisen entwickeln müssen. In diesem Prozess werden die nichtrussländischen Verbände (auch die in der Ukraine!) eine möglicherweise wichtigere Rolle einnehmen als bisher. Der jungen Generation wird diese Umstellung zweifellos gelingen, aber für diejenigen, die die Entwicklung Memorials seit den späten achtziger Jahren mitvollzogen haben, wird dieser Prozess auch mit emotionalen Verlusten und Fragen an die eigene Identität einhergehen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-06-30T00:00:00 | 2022-12-12T00:00:00 | 2023-06-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-427/516268/kommentar-zur-aktuellen-lage-von-memorial-international/ | Aus Russland vertrieben, wird sich Memorial mit der Verlegung des Schwerpunkts des Netzwerks nach Europa ein Stück neu erfinden müssen. | [
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Integration und interkulturelle Konzepte in Kommunen | Integration | bpb.de | Einleitung
Kommunen galten noch bis vor wenigen Jahren als Schreibstuben des deutschen Wohlfahrtsstaates. Dort wurde ausgeführt, registriert und kontrolliert, was im Bund und in den Ländern entschieden worden ist. Bis heute sind Kommunen damit beschäftigt, 80 Prozent aller Bundes- und Landesgesetze auszuführen und zwei Drittel aller staatlichen Investitionen zu tätigen. Bindung an Rechtsvorschriften und Abhängigkeit von Finanzzuweisungen stehen jedoch der zunehmenden Autonomie der Kommunen gegenüber.
Im Artikel 28 des Grundgesetzes wurden Kommunen befähigt, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln. Während der Existenz eines proaktiven, voll ausgebauten Wohlfahrtsstaates der 1960er und 1970er Jahre umfassten die kommunalen Angelegenheiten wenige Handlungsfelder. Mit der Zunahme der Strukturprobleme des deutschen Wohlfahrtstaates nahm jedoch die Eigenzuständigkeit der Kommunen und damit zugleich ihre politische Bedeutung zu. Städte und Gemeinden begannen Probleme zu thematisieren und nach Lösungen zu suchen, die von schrumpfenden Programmen des Bundes und der Länder nicht mehr erfasst wurden. Sie sahen sich auch mit den neuen Problemen konfrontiert, welche sich aus zurückgegangenen staatlichen Interventionen ergaben. Heute agieren Kommunen gleichzeitig als Ausführungsorgane des Staates und als autonome politische Akteure. Einerseits implementieren sie nationale politische Entscheidungen auf lokaler Ebene; andererseits entdecken sie neue Handlungsfelder und entwickeln eigene Problemlösungen. Kurz, sie sind die Moderatoren und Experimentierer des modernen Wohlfahrtsstaats.
Auch in Fragen der Integrationspolitik bewegen sich Kommunen heute zwischen den Vorgaben des Staates und eigenen Bedürfnissen. Sie sind beauftragt, landes- und bundespolitische Integrationsangebote zu moderieren. Gleichzeitig suchen sie aber auch nach Lösungen für spezifische lokale Probleme. Im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Abhängigkeit entstehen in Kommunen vielfältige Integrationsprojekte, Initiativen und Programme. Wie unterschiedlich diese auch sein mögen - sie werden meist als "Interkulturelle Konzepte" bezeichnet. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie sich das interkulturelle Paradigma in der lokalen Integrationspolitik etabliert hat. Welches sind die zentralen Eigenschaften der kommunalen Integrationsangebote, welche Unterschiede bestehen zwischen ihnen, welche Stärken und Schwächen weisen sie auf? Umgangsstrategien mit Zuwanderern in den Kommunen
Beim Umgang mit internationaler Zuwanderung standen den Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland üblicherweise zwei politische Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung: entweder die Zuständigkeit für die unerwünschten Zuwanderer abzuwehren oder sich um deren Integration zu kümmern. Die Entwicklung der lokalen politischen Migrationsdebatte war über Jahre hinweg durch die Konkurrenz dieser beiden Grundstrategien bestimmt. Wenn bis in die 1990er Jahre hinein die Abwehrstrategie überwog, scheint heute die Integrationsstrategie an Gewicht zu gewinnen. Will man den Stellenwert der interkulturellen Konzepte in den Kommunen verstehen, ist es notwendig, die unlängst erfolgte Umstellung von der Abwehr- zur Integrationsstrategie zu skizzieren.
Bis zum Ende der 1970er Jahre gab es auf kommunaler Ebene kaum jemanden, der sich für Fragen der Integration von Zuwanderern interessierte. Zuwanderer, ob sie als ausländische Arbeitnehmer, deutsche Aussiedler oder politische Flüchtlinge in die Kommunen kamen, waren selten ein Thema der Verwaltung oder der politischen Gremien; ausländische wurden durch die arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung mit den deutschen Arbeitnehmern in die zentralen sozialen Sicherungssysteme eingeschlossen und waren aus der Sicht der Kommunen so ausreichend versorgt. Außerdem war die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer als temporäre Zuwanderung konzipiert und wurde auch politisch so wahrgenommen. Auf temporäre Zuwanderung reagieren Staaten üblicherweise mit "Nicht-Politik" (non-policy). Das galt auch für die Politik der deutschen Kommunen im Hinblick auf die Gastarbeiter. Deutsche Aussiedler und als Flüchtlinge anerkannte Zuwanderer wurden den Deutschen sozialstaatlich gleichgestellt und durch verschiedene Eingliederungsprogramme des Bundes unterstützt. Auch sie gehörten in den Kommunen nicht zu den Gruppen, die politischer Aufmerksamkeit bedurften. Kommunalverwaltungen unterhielten zwar Aussiedler- und Ausländerabteilungen. Diese waren jedoch hauptsächlich mit aufenthaltsrechtlicher Einzelfallbearbeitung beschäftigt.
Erst Ende der 1970er Jahre, vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Rückganges und mit steigender Niederlassungsquote der angeworbenen Ausländer, die ihre Familien nachziehen ließen, hatte man bemerkt, dass "Gastarbeiter" Einwohner deutscher Städte mit eigenen Bedürfnissen und Problemen sind. Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse und Schulschwierigkeiten der Kinder waren die ersten Warnzeichen dafür, dass Ausländer eine neue soziale Problemgruppe bilden könnten. Man fürchtete Ghettobildung, soziale Deklassierung und darauf folgende interethnische Konflikte. Allerdings hatten Kommunen kaum Instrumente zur Verfügung, mit denen sie den neuen Problemen begegnen konnten. Sozialpolitischen Interventionen der Kommunen sind prinzipiell enge Grenzen gesetzt, da der Zugang zu zentralen Lebensbereichen (zum Arbeitsmarkt und zur Bildung) ihrer Steuerung entzogen ist. In Bezug auf Ausländer war es noch schwieriger, eine sozialpolitische Strategie zu entwickeln, da es in Deutschland an jeglichen integrationspolitischen Konzepten fehlte. Der kommunale Umgang mit Ausländern in Deutschland zeichnete sich deshalb bis in die 1990er Jahre hinein durch pragmatisches Durchwursteln und interparteiliches Aushandeln aus.
In der kommunalen Praxis fiel die Bearbeitung der anfallenden "Ausländerprobleme" in den Aufgabenbereich so genannter besonderer sozialer Dienste. Deren Trägerschaft lag bei der Kommune, den freien Wohlfahrtsverbänden und weiteren privaten Akteuren der lokalen Sozialarbeit. Sie beschäftigten sich primär mit besonders benachteiligten sozialen Gruppen und waren professionell durch Sozialpädagogen dominiert. In diesem Netzwerk der kommunalen Sozialarbeit entwickelten sich erste Vorstellungen darüber, wie eine angemessene Integration von Zuwanderern bewerkstelligt werden könnte. Entsprechend der professionellen Weltanschauung der Sozialpädagogik waren diese Vorstellungen auf den Schutz- und Hilfegedanken, auf das Verstehen und sich Verständigen ausgerichtet. Der pädagogische Hilfe- und Verständigungsdiskurs stellte das erste Integrationsparadigma in den deutschen Kommunen dar. Politisch blieb er verhältnismäßig bedeutungslos.
In den 1990er Jahren änderte sich die Situation in den Kommunen. Einerseits stiegen mit dem Fall des Eisernen Vorhangs die Zuwanderungszahlen der deutschen Aussiedler und der politischen Flüchtlinge dramatisch an. Die Kommunen wurden vor allem durch Kosten für deren Unterbringung und Sozialhilfeausgaben erheblich belastet. Andererseits reduzierten sich die Aufwendungen des Bundes und der Länder für die soziale Betreuung der Ausländer. Die während der 1980er Jahre ausdifferenzierten Strukturen und Angebote der sozialen Arbeit mussten wegen Geldmangels erheblich zurückgefahren werden. Im Laufe der 1990er Jahre wurde also immer stärker sichtbar, dass die Kosten und Risiken der Zuwanderung vom Bund und von den Ländern schrittweise auf die Kommunen verschoben wurden. Diese Entwicklung beschrieb man in der wissenschaftlichen Diskussion treffend als Kommunalisierung des Migrationsproblems.
Die Kommunen reagierten auf den zunehmenden Handlungsdruck, indem sie Migrations- und Integrationsfragen politisierten. Sie appellierten an den Bund und die Länder, ihre Zuständigkeit für die Lösung der Migrationsprobleme anzuerkennen. Zum einen wurde gefordert, Zuwanderung durch neue nationale Regelungen zu kontrollieren und die Zuwanderungskosten auf Länder und Kommunen gleichmäßig zu verteilen. Zum anderen sollten der Bund und die Länder die Notwendigkeit der Integration von zugewanderter Bevölkerung anerkennen, umfassende Integrationsprogramme entwickeln und finanzieren. Während der 1990er Jahre fungierten Kommunen als politische Akteure, die Zuwanderung abwehrten, sich gleichzeitig aber für die Integration der Zuwanderer einsetzten. Politische Bedeutung der interkulturellen Integrationskonzepte
Politikprogramme, die auf die Verbesserung der Lebenssituation von Zuwanderern zielen, sind in Deutschland, wie in vielen anderen westlichen Demokratien, grundsätzlich schwer durchsetzbar. Parteien und ihre Programme orientieren sich primär an der eigenen Wählerschaft. Zuwanderer gehören meist nicht dazu, weshalb ihre Interessen systematisch vernachlässigt werden. In entwickelten Demokratien sind Zuwanderer dennoch durch interessierte Dritte vertreten. Dabei haben ihre Stellvertreter dann Erfolg, wenn sie es schaffen, Migrationsprobleme als allgemeingültige gesellschaftliche Fragen zu reformulieren. Mitte der 1990er Jahre waren es unter anderem die Kommunen, die sich dafür eingesetzt haben, das Thema "Integration" der politischen Marginalität zu entreißen und daraus ein hochrelevantes soziales Problem zu konstruieren.
Mit der Politisierung der Migrationsfragen in den Kommunen etablierten sich in den Stadtverwaltungen Organisationsstrukturen, die primär für die Integration der Zuwanderer zuständig waren. Sie wurden in der Tradition der Querschnittspolitik (wie etwa der Frauenförderungspolitik) als ressortübergreifende Verwaltungsstellen angelegt. Mit der organisatorischen Verankerung des Themas ging auch seine konzeptionelle Reformulierung einher. Der Adressat war dabei die Mehrheitsgesellschaft. So stellte sich etwa das Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten selbst keinesfalls als "eine Lobby für Ausländer" dar. Vielmehr wolle man dort versuchen, das Zusammenleben aller in Frankfurt lebenden Menschen, inklusive der Deutschen, möglichst gleichberechtigt zu gestalten, hieß es.
Ähnlich wie in Frankfurt - einer Vorreiterstadt in Fragen der Integrationspolitik - behaupteten viele andere kommunale Integrationsstellen, dass es an der Zeit sei, von einer defizitären Ausländerpolitik zu einer Integrationspolitik als Querschnittsaufgabe der Kommunen überzugehen. Bei der Integration gehe es vor allem um das Zusammenleben der Zuwanderer und der autochthonen Bevölkerung. Deshalb sei Integration eine multi- oder interkulturelle Angelegenheit. Die Titel "Multi- oder Interkulturell" verwiesen darauf, dass auch die einheimische Bevölkerung von den Integrationsmaßnahmen profitieren sollte, sei es in Form von Teilnahme an den Begegnungs- oder Stadtteilprojekten, oder allein dadurch, dass sie von den Folgen der Desintegration verschont blieb: Die Integrationsprobleme seien wichtige gesamtstädtische Probleme, da Kriminalität, Verwahrlosung der Stadtteile, ethnische Konflikte und andere Erscheinungsformen der Desintegration nicht nur Zuwanderer, sondern alle Einwohner der Städte und Gemeinden tangierten. Mit dieser Argumentation hielt das interkulturelle Paradigma Einzug in die lokale Integrationspolitik. Da Integrationsprobleme der Zuwanderer dort als gesamtstädtische soziale Probleme formuliert wurden, gewann lokale Integrationspolitik an Gewicht und wurde somit zum ersten Mal mehrheitsfähig und gesellschaftstauglich.
Während der 1990er Jahre schien sich in den deutschen Kommunen ein Paradigmenwechsel zu vollziehen. Vom Hilfe- und Verständigungsdiskurs der Sozialpädagogik stellten Kommunen auf interkulturelle Integrationskonzepte um. Der Wechsel beinhaltete allerdings nicht in jedem Fall eine praktische oder organisatorische Umstellung der lokalen Integrationsarbeit, denn die Kommunen hatten zu wenige Ressourcen, um schon laufende Angebote umzugestalten bzw. neue Projekte einzuführen. Bereits etablierte Netzwerke der Sozialarbeit blieben oft zentrale Träger der lokalen Integrationsangebote. Ihre Leitprinzipien bestimmten weiterhin die tagtägliche Integrationspraxis. Die interkulturellen Stellen der Stadtverwaltungen fungierten lediglich als Koordinatoren verschiedener sozialpädagogischer Integrationsmaßnahmen. Bis heute ist die Koordination der vorhandenen Integrationsmaßnahmen eine der zentralen Aufgaben multi- oder interkultureller Ämter.
Heute findet man in den Kommunen eine große Spannbreite an Angeboten, die sich dem interkulturellen Integrationsparadigma verschrieben haben. Sie werden von verschiedenen Trägern konzipiert und ausgeführt, unterschiedlich finanziert und haben voneinander abweichende Grundeinstellungen hinsichtlich der Integrationsprobleme und der Ziele, die sie erreichen möchten. Frühkindliche Sprachförderung, Elternarbeit, Jugendhilfe, Drogen- und Kriminalitätsprävention, berufliche Qualifizierung, Beschäftigungsförderung, Begegnungs- und Stadtteilarbeit, Mädchen und Frauenförderung - all das sind Beispiele für interkulturelle Integrationsarbeit in den Kommunen.
Das interkulturelle Integrationsparadigma stellt sich heute als mehrdeutig dar. Es ist ein Konzept, das kommunale Integrationsangebote kaum inhaltlich bestimmt, ihnen lediglich eine gemeinsame politische Ausrichtung verleiht. Damit begründet es ein lokalpolitisches Handlungsfeld, in welchem verschiedene Akteure ihren Platz finden. Will man Ähnlichkeiten und Unterschiede der lokalen Integrationsangebote genauer analysieren, ist es aufschlussreich, ein besonderes Augenmerk auf ihre Wirkungsweisen zu richten. Dabei ist zwischen kompensatorischen und aktivierenden Angeboten zu unterscheiden.
Kompensatorische Integrationsangebote: Die wenigen Integrationsmaßnahmen, welche die Ausländerpolitik in den 1970er und 1980er Jahren hervorgebracht hat, waren vom kompensatorischen Ansatz bestimmt. Damit ist gemeint, dass die Förderinstrumente auf den Ausgleich der Defizite von Migrantinnen und Migranten gerichtet waren. Man nahm an, dass Zuwanderer erhebliche sprachliche, qualifikatorische und soziale Defizite aufweisen und diese auch an ihre Kinder weitergeben würden. Daher wurde angestrebt, insbesondere arbeitsmarktrelevante Defizite der Zuwanderer und ihrer Kinder etwa durch gesonderte Sprach-, Qualifizierungs- oder Arbeitsförderungsmaßnahmen zu eliminieren. Heute ist der kompensatorische Ansatz in der Integrationsarbeit aus der Mode geraten. Es wird ihm nachgesagt, er fokussiere allzu sehr auf Defizite und verliere dabei Potenziale der Zuwanderer aus den Augen. Auch wenn diese Kritik berechtigt scheint, darf nicht vergessen werden, dass der kompensatorische Ansatz bei konsequenter und umfassender Durchführung in der Geschichte des deutschen Wohlfahrtsstaates zahlreiche Erfolge vorweisen konnte. Einer davon ist die vorbildliche Integration der deutschen Aussiedler. Bis zu den migrationspolitischen Veränderungen in den 1990er Jahren waren deutsche Aussiedler eine privilegierte Zuwanderergruppe. Wohlfahrtsstaatliche Stützen glichen strukturelle Nachteile der Aussiedler so aus, dass sie kaum als besondere Zuwanderergruppe wahrgenommen wurden und sich hinsichtlich ihrer strukturellen Charakteristika der deutschen Bevölkerung anglichen.
Der kompensatorische Förderansatz war traditionell keine kommunale Angelegenheit. Spezifische Eingliederungsprogramme für Ausländer oder Aussiedler wurden meist durch den Bund und die Länder finanziert. Auch heute gibt es Integrationsangebote, die prinzipiell auf die Kompensation der Defizite gerichtet sind. Die meisten von ihnen sind Bundes- oder Länderförderprogramme, wie etwa bundesweite Integrationskurse oder von den Ländern mitfinanzierte Programme zur Verbesserung der Bildungsbeteiligung von Zuwandererkindern. In den Kommunen existieren wenige kompensatorische Integrationsangebote. Die meisten sind auf den Ausgleich der Sprachdefizite, insbesondere im Vorschulalter, und auf den Ausgleich der Qualifikationsdefizite der Zuwanderer gerichtet. Insgesamt ist heute jedoch die Zahl der kompensatorischen Integrationsangebote in den Kommunen, verglichen mit der Vielzahl anderer Initiativen, recht gering.
Der Vorteil der kompensatorischen Integrationsangebote besteht darin, dass sie tatsächliche Defizite der Zuwanderer zu reduzieren suchen und ihnen somit den Zugang zu wichtigen Lebensbereichen (wie dem Arbeitsmarkt oder der Bildung) erleichtern. In den vergangenen Jahren wiesen Praktiker und Wissenschaftler jedoch immer mehr darauf hin, dass kompensatorische Integrationsangebote an erhebliche Grenzen stoßen. Denn die Partizipationschancen der Zuwanderer werden nicht allein von ihren eigenen Qualifikationen und Fähigkeiten, sondern auch von "institutionellen Hindernissen" - gesellschaftlichen Vorurteilen, sozialen Zuschreibungsprozessen, institutionellen Zugangsbarrieren und Diskriminierung - bestimmt. Nur auf Kompensation von Defiziten gerichtete Integrationsangebote, so die allgemeine Kritik, verfehlten ihre Wirkung und verkämen zu Maßnahmen, welche die Migranten nicht fit für die Gesellschaft machten, sondern lediglich ihren Ausschluss aus der Gesellschaft abmilderten.
Aktivierende Integrationsangebote: Mit aktivierenden Integrationsangeboten versuchte man gerade dort anzusetzen, wo sich der kompensatorische Ansatz als blind erwies. Es ging vor allem darum, nicht allein auf Defizite der Zuwanderer zu fokussieren, sondern ihre Potenziale zu erkennen und zu stärken. Durch spezifische Sprach- und Bewerbungstrainings, Kompetenzfeststellungsverfahren, von Migranten selbst initiierte Integrationsprojekte, emanzipatorische Bildungsarbeit und andere Maßnahmen beabsichtigte man, den gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen entgegenzuwirken und Migranten zur aktiven Teilnahme an der Gesellschaft zu motivieren. Ein weiteres Ziel der aktivierenden Integrationsansätze bestand darin, eine Öffnung verschiedener Institutionen (wie etwa den Verwaltungen, Gesundheitsorganisationen etc.) zu erreichen. Diese sollten auch lernen, mit der Heterogenität ihrer Klienten umzugehen, Potenziale der Zuwanderer zu erkennen und zu nutzen. Einige Kommunen etablierten Programme zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung oder entwickelten Ziele für eine kultursensible öffentliche Gesundheitsförderung. Andere gründeten Netzwerke der lokalen Bildungs- oder Beschäftigungsförderung, in denen auch Unternehmen ermutigt werden sollten, Zuwanderer mit ihren spezifischen Fähigkeiten einzustellen. Darüber hinaus wurde eine Kooperation mit Unternehmern angestrebt, die selbst einen Migrationshintergrund haben, um sie in die lokale Bildungs- und Beschäftigungsförderung einzubeziehen etc.
Aktivierende Integrationsangebote sind eine Erfindung der jüngsten Zeit und haben gegenwärtig Konjunktur. Sowohl durch die Bundespolitik als auch durch verschiedene europäische Programme werden Projekte gefördert, die einen so genannten ressourcenorientierten Ansatz verfolgen bzw. Migration als Potenzial für die Aufnahmegesellschaft verstehen. Insbesondere vor dem Hintergrund des immer schwächer werdenden Wohlfahrtsstaates, der von seiner traditionellen Selbstbeschreibung als Institution, die den Statuserhalt garantiert, abrückt und aufs Fördern und Fordern setzt, scheint auch die aktivierende Integrationsarbeit ein willkommenes sozialpolitisches Steuerungsinstrument zu sein. Tatsächlich gehört heute das Reden von Potenzialen gewissermaßen zum Allgemeinplatz in der lokalen Integrationsrethorik.
Bei genauerer Betrachtung der Arbeitsschwerpunkte von aktivierenden Integrationsangeboten in den Kommunen zeigt sich jedoch, dass Projekte überwiegen, die sich ausschließlich auf Migranten konzentrieren, wie schon "in den guten alten Zeiten" des Defizitansatzes. Viel seltener sind dagegen Maßnahmen, die auf die Institutionen der Aufnahmegesellschaft gerichtet sind. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit aktivierende Migrantenarbeit ohne entsprechende strukturelle Veränderungen in den zentralen Institutionen der Aufnahmegesellschaft Aussicht auf Erfolg hat. Die Integrationsangebote, die sich nur mit der Aktivierung der Zuwandererpotenziale beschäftigen, müssen über kurz oder lang mit Kritik an ihrer Effizienz rechnen. Möglichkeiten und Grenzen lokaler Integrationspolitik
Die vorangegangenen Kapitel zeigen, dass Integrationspolitik in den Kommunen an Bedeutung gewonnen hat und dass sich auf der kommunalen Ebene verschiedene Integrationsangebote etablieren konnten. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, was die lokale Integrationspolitik erreichen kann und wo ihre Grenzen liegen. Die Forschungsliteratur ist darauf bedacht, Grenzen der lokalen Integrationspolitik aufzuzeigen. Dies geschieht nicht ganz zufällig. Die Einschränkungen, denen Kommunen unterliegen, scheinen tatsächlich bedeutsam zu sein.
Vor dem Hintergrund des schrumpfenden Wohlfahrtsstaates sind kommunale Integrationsmaßnahmen vor allem von Finanzzuweisungen heterogener Akteure (etwa des Bundes, der Länder, der Europäischen Union) abhängig. Als Folge müssen sich kommunale Integrationsakteure weniger mit den Lösungen lokaler Probleme als vielmehr mit den politischen Vorgaben der Geldgeber auseinandersetzen. Die Finanzierung ist zudem oft zeitlich begrenzt. Ihr Auslaufen stellt eine ständige Bedrohung für das Fortbestehen der Strukturen lokaler Integrationsarbeit dar.
In vielen Fällen reagieren Kommunen auf diese Unsicherheiten mit organisationaler Vernetzung. Die wichtigsten Träger der Integrationsarbeit bauen enge Kooperationsbeziehungen auf. Der Vorteil organisationaler Netzwerke besteht darin, dass sie sich schnell politischen Veränderungen anpassen und knappe Ressourcen kooperativ verteilen. Folge einer solchen Vernetzung ist allerdings, dass die knappen Ressourcen nur den bereits etablierten Integrationsnetzwerken zur Verfügung stehen und den anderen Integrationsakteuren unzugänglich bleiben. Die zentrale Stellung der etablierten Netzwerke, ihre Sichtweisen auf Probleme und ihre Problemlösungen können von den schlecht vernetzten, neuen, schwächeren Akteuren kaum in Frage gestellt werden. Einmal eingeschlagene Politikrichtungen bestimmen somit den weiteren Verlauf der Integrationsarbeit unabhängig davon, wie schnell sich lokale Problemlagen wandeln. Die Integrationsarbeit in den Kommunen ist dann nicht so sehr von den lokalen Problemstellungen oder politischen Überzeugungen, sondern von der jeweiligen organisationalen Landschaft, ihrer professionellen und praktischen Ausrichtung abhängig.
Auf die Kurzfristigkeit der Finanzmittel und die Heterogenität der politischen Vorgaben reagieren kommunale Integrationsakteure nicht nur mit organisationaler Vernetzung. Sie entwickeln auch Strategien "organisierter Heuchelei". Organisierte Heuchelei ist ein organisationssoziologischer Begriff, der beschreibt, wie politische Organisationen mit widersprüchlichen Anforderungen umgehen. Es ist anhand von Fallstudien aufgezeigt worden, dass sich Kommunen politischen Vorgaben der verschiedenen Geldgeber bzw. Vorgaben, die sich schnell ändern, zwar formell anpassen. In der Praxis verfolgen sie jedoch eigene, lokal definierte Ziele. Mit anderen Worten: Sie erledigen ihre Arbeit, indem sie politische Vorgaben kreativ nutzen.
Eine kreative Auslegung der Politikvorgaben kann positive Effekte haben. Kommunen werden zu potenziellen Experimentierern und Querdenkern. Sie reagieren auf Probleme eher pragmatisch und nicht ideologiegeleitet, wie es oft in der nationalen Politik der Fall ist. Sie können neue Probleme erkennen und zu ihrer Lösung politisch nicht opportune Mittel anwenden, ohne sofort die normativen Grundlagen der vorherrschenden Migrations- und Integrationspolitik in Frage zu stellen. Unter dem Schirm etablierter Politiken entwickeln Kommunen somit eigene, neue Lösungen.
Kommunale Integrationspolitik muss sich heute finanziellen Unsicherheiten und heterogenen politischen Anforderungen stellen. Das interkulturelle Integrationsparadigma, so wie es derzeit konzipiert und angewandt wird, ist dabei eine angemessene Antwort auf diese Herausforderungen. Es ist ein mehrheitsfähiges ideologisches Konstrukt; kommunale Integrationsakteure gewinnen damit an Handlungsfähigkeit. Es ist zudem ein politisches Projekt, das bei den Aufsichtsbehörden und Geldgebern Anklang findet. Dies verspricht der lokalen Integrationsarbeit eine gewisse Erwartungskontinuität. Gleichzeitig ist das Paradigma hinreichend mehrdeutig. Es lässt Unterschiede und Experimente in der kommunalen Integrationspraxis zu.
Vgl. Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2003.
Vgl. Michael Alexander, Local policies toward migrants as an expression of host-stranger relations: a proposed typology, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, 29 (2003) 3, S. 411-430.
Vgl. Hans Mahnig, The politics of minority-majority relations: How immigrant policies developed in Paris, Berlin and Zurich, in: Rinus Penninx/Karen Kraal/Marco Martiniello/Steven Vertovec (Hrsg.), Citizenship in European cities. Immigrants, local politics and integration policies, Aldershot 2004.
Vgl. Dieter Filsinger, Ausländer im kommunalen Handlungskontext. Eine empirische Fallstudie zur Bearbeitung des "Ausländerproblems", Berlin 1992.
Vgl. Michael Bommes, Migration, Nationalstaat und Wohlfahrtsstaat - kommunale Probleme in föderalen Systemen, in: Klaus J. Bade (Hrsg.), Migration - Ethnizität - Konflikt, Osnabrück 1996.
Vgl. Hartmut Häßermann/Ingrid Oswald, Zuwanderung und Stadtentwicklung, in: Leviathan, (1997) 17, S. 9 - 30.
Vgl. R. Penninx/K. Kraal/M. Martiniello/S. Vertovec (Anm. 3).
Vgl. Rosi Wolf-Almanasreh, Die multikulturelle Gesellschaft als kommunale Gestaltungsaufgabe, in: http.//library.fes.de/fulltext/asfo/01009toc.htm (10.3. 2007).
Die Veränderungen waren des Öfteren so vage, dass kritische Stimmen in der Umstellung der kommunalen Integrationsarbeit bloß einen Etikettenwechsel befürchteten. Vgl. Dieter Filsinger, Kommunale Gesamtkonzepte zur Integration ausländischer Kinder und Jugendlicher, München 1998.
Vgl. Michael Bommes, Migration und Lebenslauf. Aussiedler im nationalen Wohlfahrtsstaat, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis, 23 (2000) 1, S. 9 - 29.
Vgl. Projektatlas, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2005; Bertelsmann Stiftung/Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Erfolgreiche Integration ist kein Zufall. Strategien kommunaler Integrationspolitik, Gütersloh 2005; Heidede Becker/Rolf-Peter Löhr, Strategien für die soziale Stadt. Evaluationsbericht, Wiesbaden 2003.
Vgl. Michael Bommes, Die politische ,Verwaltung` von Migration in Gemeinden, in: Jochen Oltmer (Hrsg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003.
Vgl. Tatjana Baraulina, Staatsbürgerschaft als Ressource. Eine Fallstudie zur kommunalen Integrationspolitik, in: Sabina De Carlo/Margarete Menz/Anne Walter (Hrsg.), Grenzen der Gesellschaft. Migration und sozialstruktureller Wandel in der Zuwanderungsregion Europa, Osnabrück 2006.
| Article | Baraulina, Tatjana | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30455/integration-und-interkulturelle-konzepte-in-kommunen/ | Seit dem Kommunen die Integrationsprobleme von Zuwanderern als interkulturelle Probleme definieren, haben diese eine gesamtstädtische politische Bedeutung erlangt. Damit konnte Integration als kommunales Handlungsfeld etabliert werden. Eine Vielfalt | [
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Antisemitismus im Internet | Antisemitismus | bpb.de | Das Internet ist heutzutage für viele der wichtigste Ort für Informationsbeschaffung und Meinungsaustausch. Durch die bidirektionalen und interaktionalen Dimensionen des Internets kann sich der Wissenstransfer in verschiedenen Richtungen vollziehen. Das ist vergleichsweise neu und bedeutet, dass Impulse – egal, von wem sie kommen – ein gesellschafts- und realitätsprägendes Potenzial entfalten können, sofern sie prominent platziert und von der Online-"Community" wohlwollend rezipiert werden. Aus dieser Demokratisierung der Medienproduktion resultiert ein partieller Bedeutungsverlust prominenter, unidirektional funktionierender Institutionen der Meinungsbildung wie den Printmedien, dem Fernsehen und dem Radio. Dies hat wiederum zur Folge, dass vielfach weder eine Qualitätssicherung der rezipierten Informationen noch eine (bisher mehr oder weniger erfolgreiche) Distanzierung von Hassrede und Fake News noch gewährleistet werden können.
Kulturell gewachsene, gesellschaftlich etablierte Normen kommen im Internet nur eingeschränkt zur Geltung. Ein kurzer Blick in Facebook-Threads oder in die Kommentarbereiche von Onlinemedien genügt: Viele Web-User*innen folgen in ihrem Kommunikationsverhalten keiner Netiquette, sondern scheinen es auf einen konfrontativen Umgang abgesehen zu haben. Falls es aufgrund einer Missachtung von Verhaltensregeln zu Sanktionen kommt, bewegen sich diese im Spielraum zwischen der Löschung eines Kommentars und der Deaktivierung eines ganzen Profils – nur in seltenen Fällen kommt es auch zu Strafanzeigen. Im Verhältnis zu Sanktionen in nicht-digitalen Kontexten, etwa der Konfrontation mit einer Person oder der öffentlichen Ächtung, wirken diese Schritte weitaus weniger bedrohlich. Insofern kann das Internet als eine Grauzone verstanden werden, in der Normen des respektvollen Umgangs in den Hintergrund treten.
Diese Beobachtungen sind nicht überraschend. Immer wieder wurden sie in den vergangenen Jahren diskutiert – sei es in Bezug auf Cybermobbing an Schulen 2015, die #MeToo-Bewegung oder die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016. Sprachliche Verrohung und deren Akzeptanz wird jedoch zu einer manifesten Gefahr, wenn sie sich vor dem Hintergrund einer Hassideologie abzeichnet – sei es in Bezug auf Rassismus im Kontext der Ankunft von Geflüchteten in 2015, sei es hinsichtlich Antisemitismus, der in Deutschland mehrheitsfähig war und den viele für überwunden hielten.
Hatten zuvor vor allem Stiftungen und Sicherheitsbehörden auf Radikalisierungstendenzen und eine Zunahme von antisemitischer und weiterer Hassrede im World Wide Web hingewiesen, erfuhren diese Entwicklungen in den vergangenen Jahren auch erhöhte Aufmerksamkeit vonseiten der Antisemitismusforschung. Die Forderung, diese Trends und ihre Auswirkungen zur Kenntnis zu nehmen und ihnen mit adäquaten Methoden zu begegnen, wurde jedoch wissenschaftlich, politisch und medial relativ spät formuliert. Dies kann als Versäumnis mit Demokratie und Pluralismus gefährdenden, teils tödlichen Folgen gesehen werden. Umso wichtiger ist es nun, mit den digitalen Entwicklungen Schritt zu halten. Nur unter Berücksichtigung der Diskurse im Internet lassen sich jene Debatten der Gegenwart verstehen und einordnen, die das politische und gesellschaftliche Leben von morgen prägen können.
Kommunikationsbedingungen
Zu den Kommunikationsbedingungen im Internet gehören eine mehr oder weniger garantierte Anonymität und der Wegfall sozialer Kontrolle. User*innen können sich relativ frei und ungezügelt bewegen. Dies kann, begünstigt durch die Geschwindigkeit bei der Meinungsäußerung, zu Beiträgen führen, die den Tatbestand der Volksverhetzung (§130 Strafgesetzbuch) erfüllen. Durch anonymisierte beziehungsweise pseudonymisierte und beschleunigte Interaktion sowie durch die Konkurrenzsituation bei der tabubrechenden Verwendung von verbalen und visuellen Mitteln kommt es zu einer kommunikativen Entgrenzung, die vieles sagbar werden lässt. Im Web herrscht also eine potenziell permanente Zugänglichkeit von Hassrede – und zwar auch auf Seiten, deren Provider sich klar von Antisemitismus distanzieren.
Diese Bedingungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Hervorbringung antisemitischer Weltbilder – seien es Dämonisierungen von jüdischen Menschen oder Formen der Holocaustrelativierung oder -leugnung. Für den deutschen Kommunikationskontext bedeutet dies, dass die "Kommunikationslatenz", also die nach 1945 einsetzende Verlagerung von Antisemitismus vom öffentlichen in den privaten Diskurs, online erodieren kann, weil die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem verschwimmt. Die Anonymität des Internets trägt auch dazu bei, dass antisemitische Äußerungen zunehmend explizit geäußert werden. Der öffentliche Diskurs des 20. Jahrhunderts führt vor Augen, dass sich Antisemitismus wie ein Chamäleon dem jeweiligen Kontext anzupassen vermag. Dies gilt auch für das Internet. Gewissermaßen "im geschützten Raum" können User*innen über eine Vielzahl an alten und neuen, elaborierten und drastischen Sprachgebrauchs- und Bildmustern ihren Hass rezipient*innenwirksam kommunizieren. Die Grauzone des Internets ist daher ein Katalysator für einen wiedererstarkenden Antisemitismus.
Die Vernetzung hat zweifelsohne positive Seiten, doch führt sie auch dazu, dass jene, die antisemitische Haltungen vertreten, sich gegenseitig leichter bestätigen und Allianzen formen können. Auf diese Weise entstehen Bewegungen, die ohne die Online-Vernetzung in dieser Form nicht aufgetaucht wären. Radikalisierungstrends, wie sie sich in den vergangenen Jahren bei White-supremacy-Gruppen ("weiße Vorherrschaft") in den USA abzeichneten, fußen auf sich viral ausbreitenden Feindbildern. So integrierte beispielsweise die anfangs "nur" frauenfeindliche und homophobe Incel-Bewegung durch Online-Interaktionen zusätzlich rassistische und antisemitische Stereotype in ihr Weltbild. Diese Tendenzen lassen sich nicht mehr vom Medium losgelöst betrachten. Das World Wide Web, wie es heute vorliegt, ermöglicht nicht nur den Hass, der unterschiedliche Gruppen miteinander verbindet, sondern es erzeugt ihn.
Andere User*innen können auf diese Weise in ihrem Denken beeinflusst werden, zumal Untersuchungen zeigen, dass die in einer Online-Debatte zur Schau gestellten Meinungen nicht selten als Spiegelbild der öffentlichen Meinung (miss)verstanden werden. So kann das Internet auch gesellschaftlich randständigen Meinungen zu einer hegemonialen Rolle im Diskurs verhelfen. Das Internet vereinfacht somit – trotz der Existenz von Echokammern und Filterblasen – eine Ausdehnung radikalisierten Denkens über seine Grenzen hinaus.
Hate Speech und Hate Crime
Es ließen sich in den vergangenen Jahren diverse Vorfälle physischer Gewalt in der analogen Welt ausmachen, die im Internet sprachlich vorgeebnet wurden. In Bezug auf den Anschlag auf die Tree-of-Life-Synagoge im US-amerikanischen Pittsburgh im Oktober 2018 veröffentlichte beispielsweise der britische "Guardian" zahlreiche Nachweise für vorherige Aktivitäten des Täters Robert Bowers auf einer rechtsextremen Social-Media-Plattform. Auch im Kontext des Anschlags auf die Synagoge in Halle an der Saale im Oktober 2019 war der Täter Stephan Balliet zuvor im Web aktiv, leugnete auf Amazons Streamingplattform Twitch die Shoah und unterstellte, dass "der Jude" hinter Masseneinwanderungen stecken würde. Hier besteht auch die Gefahr eines Nachahmungseffektes.
Diese Korrelationen führen vor Augen, was in der geschichtswissenschaftlichen Antisemitismusforschung mehrfach unterstrichen wurde: Über Jahrhunderte eingeübte und gepflegte antisemitische Stereotype, die "die Juden" als die Repräsentant*innen des Bösen, des "minderwertigen" Lebens und zugleich als Zentrum gefährlicher Macht inszenieren, sind Teil des kulturellen Gedächtnisses. Im Falle einer institutionalisierten Rechtfertigung dieser Hassideologie durch entsprechende politische Machtentfaltung oder durch einen Rückgang staatlicher Kontrolle kann Hassrede physische antisemitische Gewalt bis hin zur Vernichtung folgen, wie sie die NS-Verbrechen (als Klimax eines über Jahrhunderte hinweg tradierten Hasses) waren.
Diese Mechanismen walten ebenso in der Gegenwart: Sobald "den Juden" digital von vielen, sich gegenseitig bestärkenden User*innen kontinuierlich die Rolle der Schuldigen zugewiesen wird – sei es hinsichtlich der Terroranschläge vom 11. September 2001, der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007, der Klimaerwärmung oder der Ankunft von Geflüchteten ab 2015 – kann dies fatale Folgen für den Umgang mit ihnen haben. Die Attraktivität antisemitischer Weltbilder nimmt dabei insbesondere in Zeiten von Krisen zu, in denen kollektive Ängste und Gefühle der Ohnmacht Bedürfnisse nach einfachen Erklärungsmustern und Sündenböcken (re)aktivieren.
Covid-19-Pandemie
Dies gilt auch mit Blick auf die Covid-19-Pandemie, die zu einer rapiden Zunahme von Verschwörungsmythen führt. Ein altbekannter antisemitischer Topos, der in der Moderne stets einen zentralen Platz innehatte und nun reaktiviert wird, ist die Vorstellung von einer jüdischen Elite, die sich auch diese Krise zunutze mache – sei es durch die Monopolisierung des Marktes, die bis ins Extreme gesteigerte Präsenz eines Überwachungsapparates oder eine durch Medien und Politik geschürte omnipräsente Angst. Letztere könne schließlich in eine kollektive Lethargie münden, durch die eine klandestine Lenkung der Welt, die man der jüdischen Elite unterstellt, noch erleichtert werden würde. Die Frage nach dem "Cui bono?", also nach den Gewinnern der Krise führt allzu schnell zur oft in Wortspiele wie "Plannedemic" verpackten Frage nach den Urhebern derselben. Und da Jüdinnen und Juden ein Gewinn an der Krise unterstellt wird, haben sie das Virus vielleicht sogar selbst erfunden? Wie kam es, dass israelische Forschungszentren bereits frühzeitig an einem Impfstoff arbeiten konnten? Welche Verbindungen mögen vorliegen zwischen dem Investor George Soros, der aus einer jüdischen Familie stammt, und dem Forschungslabor in Wuhan? Das Ausbleiben einer medialen Debatte über solche "Fragen" wird in Threads bereits als "Beweis" für die Richtigkeit dieser Unterstellungen gehandelt, da eine Medienkontrolle vermutet wird. Dabei wird nicht nur über den Mangel an Belegen hinweggegangen. Antisemitische Verschwörungsmythen sind auch kompatibel mit anderen Hassideologien. So wurde von der britischen Nichtregierungsorganisation Community Security Trust nachgewiesen, dass in den vergangenen Wochen antichinesischer Rassismus und Antisemitismus oftmals miteinander verzahnt auftraten. Gegenwärtig sind es insbesondere rechte Akteur*innen, die die Unsicherheit in der Gesellschaft instrumentalisieren, um ihre Ideologien rezipient*innenwirksam zu platzieren. Im Kontext der Pandemie haben antisemitische Hassrede und Fake News auch auf Social-Media-Plattformen des Mainstream Konjunktur. Auch finden sich zahlreiche Formen der Dämonisierung und Dehumanisierung, indem jüdische Menschen als primäre Überträger*innen ("Jew flu") oder gar als die Krankheit selbst dargestellt werden. Ebenso finden sich auch sarkastische "Witze", Verwünschungen und Holocaust-Relativierungen, in denen ihnen der Tod durch Corona gewünscht wird etwa durch Wortspiele wie "Holocough" oder – im Zuge einer Meldung über drei an Corona erkrankte Israelis – Anspielungen auf die Shoah: "3 down, 5,999,997 to go!".
Dürfte es auch jungen Menschen beizeiten schwerfallen, zwischen seriösen Quellen und emotionalisierenden, die aktuelle Lage und deren Hintergründe verzerrenden Inhalten zu unterscheiden, lässt sich jedoch beispielsweise in Anbetracht der deutschlandweit stattfindenden "Hygiene-Demos" stark vermuten, dass ältere Generationen für Fantasien hinsichtlich eines "geheimen Plans" ebenso anfällig sind. Kritik an Überwachungsmaßnahmen, an wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen oder an der Globalisierung – all dies sind Einfallstore, um legitime kritische Rede zu instrumentalisieren und Abwertung und Ausgrenzung salonfähig zu verpacken.
Handlungsimperative
Dieser Exkurs zu antisemitischen Web-Diskursen vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie führt vor Augen, wie relevant die Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Internet für ein Verständnis hinsichtlich des aktuellen und zukünftigen politischen Klimas in unserer Gesellschaft ist. Fokussierte die Antisemitismusforschung bisher vor allem nicht-digitale Kontexte, formte sich mit der Etablierung von internetbezogenen Zugängen Uneinigkeit hinsichtlich eines adäquaten Untersuchungsdesigns: Einerseits muss die Komplexität des Mediums sowie der untersuchten Muster, andererseits der extreme Umfang von Daten berücksichtigt werden. In den Disziplinen der angewandten Linguistik und kritischen Diskursanalyse nähert man sich Web-Diskursen häufig über qualitative Detailanalysen an. Der Vorteil solcher Studien liegt in deren Detailschärfe: Um die Vielfalt von Antisemitismus einzuordnen, braucht es Sprach-, Kontext- und Weltwissen. Allerdings können qualitative Untersuchungen aufgrund des zeit- und arbeitsintensiven Vorgehens nur kleine Datensätze beleuchten. Bei einem Medium, in dem jede Stunde Tausende Texte produziert werden, können sie daher keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben – und somit auch nicht Auskunft darüber geben, wie sich Antisemitismus im Internet über einen längeren Zeitraum formt. Bei quantitativen Analysen hingegen wird innerhalb gewaltiger repräsentativer Datensätze über Suchbegriffe die Präsenz von Schimpfwörtern und/oder Stereotypen erfasst. Beispielsweise wird ein Diskursraum nach "Rothschild" oder der ethnischen Beleidigung "Kike" durchsucht. Zwar wird hier die Breite des Diskurses in den Blick genommen, allerdings beruht der Zugang auf einem extrem limitierten Sprachverständnis. So machen explizit geäußerte Stereotype in Mainstream-Diskursen weniger als fünf Prozent der Debatten aus. Auch wenn quantitative Analysen faszinierende Ergebnisse zutage fördern, berücksichtigen sie nicht die zahlreichen sprachlichen Muster, die den Sprachgebrauch des Alltags zu einem Großteil determinieren – beispielsweise Metaphern, indirekte Sprechakte, Ironie und Sarkasmus. Dadurch verzerren sie das Bild darüber, wie präsent Antisemitismus im Internet tatsächlich ist.
Dieser Blick auf die Forschungslandschaft führt vor allem zu einer Einsicht: Wenn es um die Stellung von Antisemitismus im Internet geht, muss eingeräumt werden, dass genauere Antworten noch nicht gegeben werden können. Antisemitismus ist – wie jede Hassideologie, die unter anderem aufgrund ihrer Brisanz sprachlich komplexe Muster auslöst – online eine Unbekannte. Wir können gegenwärtig weder den aktuellen Stand bestimmen noch sagen, wie sich Judenfeindschaft in den nächsten Jahren entwickelt. In den Studien der vergangenen Jahre zeigt sich, dass Antisemitismus im Internet in einem bestimmten Ausschnitt zunimmt. Insofern ist es wahrscheinlich, dass das Problem wächst. Diese Einzelbeobachtungen kann man allerdings (noch) nicht mit validen Daten generalisieren, da die zahlreichen unterschiedlichen Diskursauslöser und deren Folgen bisher nicht flächendeckend in ihrer Komplexität untersucht werden konnten. Der Mangel an zuverlässigen Zahlen wirkt allerdings noch besorgniserregender als eine Konfrontation mit Zahlen, die einen schnellen Anstieg nahelegen. Umso wichtiger ist es, neue Zugänge zu etablieren, die nicht nur auf wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern auch auf der Einsicht über die aktuelle Bedrohungslage für jüdische Menschen sowie für unsere demokratische Grundordnung fußen.
Ein vielversprechender Zugang wird sein, über Mixed-Methods-Analysen die Vorteile qualitativer und quantitativer Untersuchungsdesigns zusammenzuführen. Wenn in einem ersten Schritt über Detailanalysen das Repertoire von antisemitischer Hassrede bestimmt wird, so kann anschließend über quantitative Zugänge die Frequenz dieser Muster flächendeckend erfasst werden. Die Brücke zwischen diesen beiden Methoden kann über eine sprachwissenschaftlich fundierte Künstliche-Intelligenz-Forschung geschlagen werden, die in den nächsten Jahren auch von der Antisemitismusforschung berücksichtigt werden sollte. Denn neben der Stärkung und Diversifizierung von Hassrede macht das Internet individuelle und/oder gruppenbezogene Trends auch transparent. Wenn sich beispielsweise eine Person einer bestimmten Hassideologie zuwendet, sie reproduziert und letztlich gar zur Waffe greift, kann dieser Radikalisierungsprozess im Zuge von Web-Analysen nachvollzogen werden. Das Internet hat also nicht nur fatale Trends ausgelöst, es macht sie auch verfolg- und somit potenziell kontrollierbar. Mit adäquaten Analysemethoden kann es als Tool verwendet werden, um auch jene Umschlagpunkte hin zu antisemitischer, rassistischer, sexistischer und anderer Gewalt zu erkennen, die nicht mehr von klar definierten Gruppen, sondern von Personen ausgeht, die in nicht-digitalen Kontexten gegebenenfalls nicht auffallen und sich weder digital noch analog in Gruppen organisieren.
Sobald es verlässliches Wissen über die Natur von Antisemitismus im Internet gibt, kann dieses zudem in präventive Maßnahmen überführt werden. Junge Menschen im Schulalter werden weniger von Karikaturen im "Stürmer"-Stil mitgerissen als von aktuellen Verschwörungsmythen zum 11. September 2001, zur sogenannten Flüchtlingskrise oder zur Covid–19-Pandemie. Lehrkräfte sollten insofern die Spannweite gegenwärtiger Hassrede kennen, um Schüler*innen dort abzuholen, wo sie stehen, und pädagogisch überzeugende Angebote formulieren zu können. Einheiten der Medienkompetenz, die sich dezidiert gegen Hassrede, Verschwörungsmythen und Fake News richten, sind von fundamentaler Bedeutung, um einer online beförderten Radikalisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.
Vgl. Wolfgang Seufert, Medienkonzentration und Medienvielfalt, in: APuZ 40–41/2018, S. 11–16. Zur Internetznutzung von Kindern und Jugendlichen siehe Externer Link: https://de.statista.com/themen/3207/internetnutzung-durch-kinder-und-jugendliche.
Vgl. "Glauben Sie nicht jedem, der einen Doktortitel hat", Interview mit Michael Butter, 1.4.2020, Externer Link: http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/coronavirus-verschwoerungstheorien-entstehung-angst-ungewissheit.
Vgl. u.a. Angela Nagle, Kill All Normies. Online Culture Wars from 4Chan and Tumblr to Trump and the Alt-Right, Winchester 2017; Mike Wendling, Alt-Right. From 4Chan to the White House, London 2018; Julia Ebner, Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren, Berlin 2019.
Zur Definition von Hassrede vgl. Jörg Meibauer (Hrsg.), Hassrede/Hate Speech. Interdisziplinäre Beiträge zu einer aktuellen Diskussion, Gießen 2013.
Vgl. u.a. Juliane Wetzel, Die "Protokolle der Weisen von Zion" im World Wide Web, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 14., Berlin 2005, S. 179–194; Monika Schwarz-Friesel, Judenhass im Internet, Berlin 2019; Anti-Defamation League (ADL), Gab and 8chan. Home to Terrorist Plots Hiding in Plain Sight, 2019, Externer Link: http://www.adl.org/resources/reports/gab-and-8chan-home-to-terrorist-plots-hiding-in-plain-sight#_ftn1; Daniel Allington, "Hitler Had a Valid Argument Against some Jews". Repertoires for the Denial of Antisemitism in Online Responses to a Survey of Attitudes to Jews and Israel, 2018, Externer Link: http://www.danielallington.net/wp-content/uploads/2018/03/allington_2018_accepted_manuscript_new_title.pdf; Matthias J. Becker, Antisemitism on the Internet, in: Justice. The Legal Magazine of the International Association of Jewish Lawyers and Jurists 64/2020; Community Security Trust (CST), Antisemitic Content on Twitter, London 2018, Externer Link: https://cst.org.uk/public/data/file/4/2/Antisemitic%20Content%20on%20Twitter.pdf; Richard Rogers, Deplatforming. Following Extreme Internet Celebrities to Telegram and Alternative Social Media, in: European Journal of Communication, 6.5.2020, Externer Link: https://doi.org/10.1177/0267323120922066. Siehe auch Externer Link: http://www.splcenter.org/hate-map.
Vgl. Hagen Troschke/Matthias J. Becker, Antisemitismus im Internet. Erscheinungsformen, Spezifika, Bekämpfung, in: Günther Jikeli/Olaf Glöckner (Hrsg.), Das neue Unbehagen. Antisemitismus in Deutschland und Europa heute, Hildesheim 2019, S. 151–172; Monika Schwarz-Friesel, "Juden sind zum Töten da" (studivz.net, 2008). Hass via Internet – Zugänglichkeit und Verbreitung von Antisemitismen im World Wide Web, in: dies./Konstanze Marx (Hrsg.), Sprache und Kommunikation im technischen Zeitalter. Wieviel Internet (v)erträgt unsere Gesellschaft?, Berlin–New York 2013, S. 213–236.
Vgl. Werner Bergmann/Rainer Erb, Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 2/1986, S. 223–246.
Vgl. Matthias J. Becker, Analogien der "Vergangenheitsbewältigung". Antiisraelische Projektionen in Leserkommentaren der Zeit und des Guardian, Baden-Baden 2018.
Vgl. ders., Antisemitischer Sprachgebrauch in Zuschriften an den Zentralrat der Juden und an die Israelische Botschaft, in: Literarischer Antisemitismus. Der Deutschunterricht 2/2015, S. 72–80.
Vgl. Nagle (Anm. 3).
Vgl. Thomas N. Friemel/Mareike Dötsch, Online Reader Comments as Indicator for Perceived Public Opinion, in: Martin Emmer/Christian Strippel (Hrsg.), Kommunikationspolitik für die digitale Gesellschaft, Berlin 2015, S. 151–172.
Vgl. Nagle (Anm. 3); Ebner (Anm. 3).
Vgl. Lois Beckett, Pittsburgh Shooting: Suspect Railed Against Jews and Muslims on Site Used by "Alt-Right", 27.10.2018, Externer Link: http://www.theguardian.com/us-news/2018/oct/27/pittsburgh-shooting-suspect-antisemitism.
Vgl. Kai Biermann et al., Attentäter mordete aus Judenhass, 9.10.2019, Externer Link: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-10/anschlag-halle-helmkamera-stream-einzeltaeter/komplettansicht; Andre Oboler/William Allington/Patrick Scolyer-Gray, Hate and Violent Extremism from an Online Sub-Culture, 2019, Externer Link: http://www.gedenkstaettenforum.de/fileadmin/forum/2019-4_Report_on_Halle.pdf.
Vgl. Matthew L. Williams et al., Hate in the Machine. Anti-black and Anti-Muslim Social Media Posts as Predictors of Offline Racially and Religiously Aggravated Crime, in: British Journal of Criminology 1/2020, S. 93–117.
Vgl. Michael Butter, "Nichts ist, wie es scheint". Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018
Vgl. Joseph Röhmel/Sabina Wolf, Alte Feindbilder zurechtgebogen, 9.4.2020, Externer Link: http://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/corona-antisemitismus-101.html; Dirk Banse/Uwe Müller, In Deutschland verbreiten sich antisemitische Corona-Verschwörungstheorien, 7.5.2020, Externer Link: http://www.welt.de/207814673; Christian Böhme, "Krudester Antisemitismus bricht sich Bahn", 25.3.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/25681332.html; Frank Jansen, Protest mit Judenstern gegen den Staat, 6.5.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/25806326.html; Sebastian Kempkens, Das große Komplott, 14.5.2020, Externer Link: http://www.zeit.de/2020/21/verschwoerungstheorien-corona-angst-kontollverlust-misstrauen; Soll man mit denen noch reden?, Interview mit Karl Lauterbach und Franziska Schubert, 15.5.2020, Externer Link: http://www.zeit.de/2020/21/corona-demonstrationen-franziska-schubert-karl-lauterbach-gruene-spd.
Vgl. u.a. Bill Black, The Anatomy of a Coronavirus Conspiracy Theory, 25.4.2020, Externer Link: https://theweek.com/articles/910028.
Vgl. ADL, Coronavirus Crisis Elevates Antisemitic, Racist Tropes, 17.5.2020, Externer Link: https://www.adl.org/blog/coronavirus-crisis-elevates-antisemitic-racist-tropes.
Vgl. CST, Coronavirus and the Plague of Antisemitism, Research Briefing, London 2020, Externer Link: https://cst.org.uk/data/file/d/9/Coronavirus%20and%20the%20plague%20of%20antisemitism.1586276450.pdf.
Vgl. Jürgen Vogl, Rechte Propaganda im Corona-Podcast, 7.5.2020, Externer Link: https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2020/05/07/rechte-propaganda-im-corona-podcast_29754.
Vgl. CST (Anm. 20); Flora Cassen, "Jews Control Chinese Labs That Created Coronavirus": White Supremacists’ Dangerous New Conspiracy Theory, 3.5.2020, Externer Link: http://www.haaretz.com/jewish/.premium-the-jews-control-the-chinese-labs-that-created-coronavirus-1.8809635; ADL (Anm. 19). Im deutschen Kontext fallen darunter insbesondere Instagram-Beiträge des britischen Holocaustleugners David Icke, der gezielt Verschwörungsfantasien verbreitet.
Zit. nach ADL, Extremists Use Coronavirus to Advance Racist, Conspiratorial Agendas, 10.3.2020, Externer Link: http://www.adl.org/blog/extremists-use-coronavirus-to-advance-racist-conspiratorial-agendas.
Vgl. z.B. David Römer/Sören Stumpf, "Der Große Austausch ist kein Mythos, er ist bittere Realität." Populismus und Verschwörungstheorien aus linguistischer Perspektive, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 95/2019, S. 129–158.
Vgl. z.B. Becker (Anm. 8).
Vgl. z.B. ADL, Quantifying Hate: A Year of Anti-Semitism on Twitter, 2019, Externer Link: http://www.adl.org/resources/reports/quantifying-hate-a-year-of-anti-semitism-on-twitter#detailed-findings-anti-semitic-themes.
Vgl. u.a. Schwarz-Friesel (Anm. 5).
Vgl. u.a. Becker (Anm. 5); Schwarz-Friesel (Anm. 5).
Vgl. Becker (Anm. 5); Michael Kiefer et al., "Lasset uns in sha’a Allah ein Plan machen". Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-Gruppe, Wiesbaden 2017; Maik Fielitz/Nick Thurston (Hrsg.), Post-Digital Cultures of the Far Right: Online Actions and Offline Consequences in Europe and the US, Bielefeld 2018; Williams et al. (Anm. 15).
| Article | , Matthias J. Becker | 2021-12-07T00:00:00 | 2020-06-17T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/311632/antisemitismus-im-internet/ | So wie das World Wide Web heute beschaffen ist, ermöglicht es nicht nur antisemitischen Hass, es erzeugt ihn. Das Internet hat aber nicht nur fatale Trends ausgelöst, es macht sie auch wissenschaftlich besser greifbar. | [
"Antisemitismus",
"Bildung",
"Rechtspopulismus",
"Rechtsextremismus",
"Demokratie",
"Grundgesetz",
"Nationalsozialismus",
"Holocaust",
"Erinnerungskultur",
"Einstellungsforschung",
"Internet",
"Israel",
"Verschwörungstheorien"
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Editorial | USA | bpb.de | Die Eiszeit in den deutsch-amerikanischen Beziehungen ist seit dem Treffen zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und US-Präsident George W. Bush am Rande der UN-Vollversammlung am 24.September offiziell für beendet erklärt worden. Von einer Harmonie wie in früheren Zeiten kann jedoch keine Rede sein. Zu tief sitzt die Verärgerung der US-Administration über Äußerungen deutscher Politiker über Präsident Bush und über die Weigerung der Schröder-Regierung, sich am umstrittenen Irakkrieg zu beteiligen. Anstatt die unterschiedlichen politischen Positionen aufzuarbeiten, wurden sie diplomatisch unter den Teppich gekehrt. Dies dürfte den bilateralen Beziehungen auf Dauer nicht förderlich sein. Neben den außenpolitischen Verwerfungen gibt es einige inneramerikanische Entwicklungen, die zu tiefer Besorgnis Anlass geben, etwa der große Einfluss einer kleinen Gruppe radikaler "Neokonservativer" auf den politischen Entscheidungsprozess, die Machtzunahme christlicher Fundamentalisten auf die Bush-Regierung sowie die enge Kooperation mit dem neuen Militärisch-Industriellen Komplex. Das heutige internationale System wird von einer Vielzahl von Akteuren bestimmt; es ist multipolar. Den Vereinten Nationen kommt in dieser Staatenwelt eine dominante Rolle zu. Sie wird jedoch von der Bush-Administration in Frage gestellt; der UNO wurde im Falle abweichenden Verhaltens im Irakkonflikt mit dem Verdikt der "Irrelevanz" gedroht. Die Weltorganisation ging jedoch gestärkt aus diesem Konflikt hervor. Die Vereinten Nationen sind und bleiben unverzichtbar, wie Karsten D. Voigt, Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, in seinem Essay betont. Angesichts der Herausforderung durch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und den internationalen Terrorismus müsse nicht nur die Weltorganisation, sondern auch die NATO und die EU im Rahmen des Völkerrechts einbezogen werden. Die so genannte Bush-Doktrin präventiver und präemptiver Kriegsführung steht in Gegensatz zum Völkerrecht. Schon bei ihrer ersten Anwendung offenbarte sie ihre rechtliche und politische Unzulänglichkeit. Sie erwies sich als ungeeignet zur Lösung der real existierenden Probleme, wie Ernst-Otto Czempiel betont. Das Konzept der Neokonservativen, das Herrschaftssystem der Demokratie zusammen mit dem damit verbundenen Wertekanon notfalls auch mit Gewalt in die arabische Welt zu tragen, sei bereits im Irak gescheitert. Die Machtverteilung zwischen den USA und den Staaten Europas sei derart asymmetrisch, dass sich die USA geradezu zu einer imperialen Politik eingeladen fühlten. Umso intensiver müsse Europa seine Emanzipation von dieser amerikanischen Führung betreiben. Innenpolitisch ist in den USA innerhalb der letzten zehn Jahre ein Rechtsruck erfolgt. Christliche Fundamentalisten haben die Republikanische Partei unterwandert und sind zu einem festen Bestandteil amerikanischer Innenpolitik geworden, wie Michael Minkenberg feststellt. Diese Bewegung hat in George W. Bush einen ihr besonders nahe stehenden Präsidenten. Diese enge Verbindung zur politischen Macht habe aber auch negative Auswirkungen auf die Integrität der Bewegung. Die Ideologie der christlichen Rechten findet ihre Entsprechung auf politischer Ebene in den so genannten Think Tanks. Alexandra Homolar-Riechmann beschreibt nicht nur die Verbindungen zwischen den zahlreichen "Denkfabriken", sondern legt auch die "Ideenströme" offen, welche die amerikanische Außenpolitik zurzeit im Wesentlichen bestimmen. | Article | Ludwig Watzal | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27277/editorial/ | Von einer neuen Harmonie zwischen Deutschland und den USA kann nur oberflächlich gesprochen werden. Zu verschieden bleiben die politischen Ansichten. | [
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Sieger des 46. Schülerwettbewerbs zur politischen Bildung kommen aus Unterschleißheim | Presse | bpb.de | Einer der Hauptgewinner des 46. Schülerwettbewerbs der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb ist die 10. Klasse der Therese-Giehse-Realschule in Unterschleißheim. Zur erstmals gemeinsam mit dem Jugendwettbewerb myDigitalWorld erstellten Aufgabe „Hallo, ich bin dein Digitales Ich“ stellte sie ihr Wissen rund um digitale Identität und Datenspuren unter Beweis.
Das eingereichte E-Book hatte die Jury sofort überzeugt und setzte sich gegen knapp 340 andere Beiträge durch. Die Schüler kombinierten Datenschutz-Tipps mit Erfahrungen ihres persönlichen Nutzungsverhaltens im Internet und bereiteten die Inhalte ästhetisch ansprechen und übersichtlich auf. Hans-Georg Lambertz, Leiter des Schülerwettbewerbs, und Martin Meingast, Leiter des Jugendwettbewerbs myDigitalWorld überreichten den Hauptpreis, eine Klassenreise nach Berlin, am 6.Februar in Unterschleißheim an die Klasse und die betreuende Lehrerin Susanne Deiml.
Die Aufgabenstellung „Hallo, ich bin dein Digitales Ich“ ist das Ergebnis einer Kooperation des Schülerwettbewerb zur politischen Bildung der bpb und dem Jugendwettbewerb myDigitalWorld, den der Verein Deutschland sicher im Netz seit 2014 veranstaltet, um junge Menschen für IT-Sicherheit zu sensibilisieren.
Bereits zum 46. Mal hatten alle deutschsprachigen Schulen der Welt die Chance, für den Schülerwettbewerb zur politischen Bildung ein Projekt einzureichen und einen der über 350 Preise zu gewinnen, darunter elf Klassenreisen. Fast 2.600 Klassen arbeiteten eines der zwölf Themen auf kreative Weise auf. Ziel des Schülerwettbewerbs ist es, einen Anreiz zu schaffen, Felder der politischen Bildung auch außerhalb des klassischen Lehrplanes kennenzulernen. Die Projektarbeit fördert Eigeninitiative und Kreativität der Schüler.
Fünf der 13 Hauptgewinne gehen in diesem Jahr nach Bayern. Mit über 370 Einsendungen nimmt Bayern, nach Nordrhein-Westfalen, den zweiten Platz im bundesweiten Vergleich ein.
Ein druckfähiges Foto von der Übergabe des Hauptreises unter: Interner Link: www.bpb.de/schuelerwettbewerb
Weitere Fotos von der Preisverleihung können unter E-Mail Link: sw@bpb.de angefordert werden.
Pressemitteilung als Interner Link: PDF.
Pressekontakt:
Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2017-02-06T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/241981/sieger-des-46-schuelerwettbewerbs-zur-politischen-bildung-kommen-aus-unterschleissheim/ | Einer der Hauptgewinner des 46. Schülerwettbewerbs der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb ist die 10. Klasse der Therese-Giehse-Realschule in Unterschleißheim. Zur erstmals gemeinsam mit dem Jugendwettbewerb myDigitalWorld erstellten Aufgabe „ | [
"PM Schülerwettbewerb Sieger Unterschleißheim"
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Wie "ZiVI-Extremismus" Beratungsstellen für Deradikalisierung unterstützen kann | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de |
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Aufgaben und Ziele von Fachberatungsstellen für Deradikalisierung
Fachberatungsstellen für eine sogenannte "Deradikalisierung" sind bedeutsame Anlaufstellen für Personen mit extremistischer Einstellung und, häufiger noch, für Angehörige oder das soziale Umfeld – wie Lehrkräfte, Ausbilderinnen und Ausbilder, Freunde und Bekannte (Uhlmann 2017; Rau et al. 2021; Kargl 2021, S. 165). Die Beratungsstellen können sich in zivilgesellschaftlicher oder staatlicher Trägerschaft befinden und übernehmen beispielweise in sogenannten Aussteigerprojekten Aufgaben der indizierten Prävention, bei der extremistische Straftaten verhindert oder Radikalisierungsprozesse gestoppt werden sollen (Allroggen et al. 2020, S. 506).
Mit dem Begriff "Deradikalisierung" wird dabei ein Prozess beschrieben, bei dem eine Person von extremistischen Denk- und Handlungsweisen Abstand gewinnt und/oder sich von Gewaltanwendungen beziehungsweise terroristischen Aktivitäten distanziert. Liegt der Schwerpunkt darauf, Gewaltstraftaten oder Straftaten im Kontext einer Radikalisierung zu verhindern oder ist dies primäres Ziel der Intervention, wird häufig auch der Begriff der "Distanzierung" verwendet. Damit gemeint ist, dass sich Personen beispielweise von der Anwendung von Gewalt distanzieren sollen, unabhängig davon, ob sie ihre ideologischen Vorstellungen verändern und unabhängig davon, ob sie eine freiheitlich-demokratische Einstellung annehmen. Für eine differenzierte Darstellung definitorischer Ansätze wird auf die Arbeit von Sold (2020) verwiesen.
Fachkräfte von Beratungsstellen für Deradikalisierung gaben in einer Befragung an, dass es in fast allen Fällen um folgende Themenkomplexe geht:
Identifikation und Bewältigung krisenhafter Situationen familiärer, sozialer, schulischer/beruflicher Art, religiöse und/oder ideologische Vorstellungen, ein Verständnis von Demokratie sowie die finanzielle Situation, Wohnsituation oder psychische Belastungen (Rau et al. 2021).
Ziele der Beratung seien insbesondere:
die Entwicklung von Lebensperspektiven und der eigenen Identität sowie die (Re-)Integration in die Gesellschaft und (Re-)Sozialisation in ein stabiles soziales Umfeld (Rau et al. 2021; Kargl 2021, S. 165).
Aus der Befragung der Fachkräfte ging hervor, dass der Fokus der Intervention bei radikalisierten Personen in den Beratungsstellen nicht immer identisch ist. So geben zwar die befragten Fachkräfte übereinstimmend als Ziel die "Deradikalisierung" von Personen mit extremistischer Einstellung an; die Ausgestaltung dieses Zieles umfasse jedoch ein breites Spektrum von Ansätzen und Schwerpunkten. Diese orientierten sich vor allem an der jeweiligen Trägerschaft der Beratungsstellen, die entweder zivilgesellschaftlich oder staatlich organisiert sind. Bei der konkreten Ausgestaltung der Beratungstätigkeit spielen jedoch auch die Aus- und Weiterbildungen der jeweiligen Fachkräfte eine Rolle.
Im Rahmen der Befragung zeigte sich, dass vor allem Islamwissenschaftlerinnen und Islamwissenschaftler beziehungsweise islamische Theologinnen und Theologen, Fachkräfte der Polizei und der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in den Fachberatungsstellen tätig sind, deren beruflichen Hintergründe in die Beratungstätigkeit einfließen (Rau et al. 2021).
Das "Violence Prevention Network" (VPN) – als einer der größten Träger zivilgesellschaftlicher Fachberatungsstellen in Deutschland – setzt in der klientenzentrierten Fallarbeit im Rahmen einer Deradikalisierung zentrale Schwerpunkte, die teilweise aufeinander aufbauen:
Aufbau einer Arbeitsbeziehung, Vermeidung von Selbst- und Fremdgefährdung, Entwicklung von Dialogfähigkeit und Toleranz, Identifikation von Bedürfnissen, Zukunftsplanung, Integration und Aufbau von sozialen Kontakten (Mücke & Walkenhorst 2021).
Für den teilweise lang andauernden Prozess der Deradikalisierung sind Beratungsfachkräfte dabei verlässliche und authentische Ansprechpersonen – sowohl für Betroffene selbst als auch für deren soziales Umfeld (Mücke & Walkenhorst 2021).
Standardisierung und Dokumentation von Beratungsprozessen
Um die Komplexität von Beratungsfällen zu erfassen und gezielt Maßnahmen einleiten zu können, erheben die Beratungsstellen Faktoren, die im Zusammenhang mit der Entwicklung extremistischer Einstellungen stehen. In vielen Fällen werden dabei Informationen über Dritte erhoben, zum Beispiel über die Eltern, Geschwister oder das soziale Umfeld einer radikalisierten Person (Kargl 2021, S. 165). Auf diesen Informationen aufbauend werden Ziele für die Beratung identifiziert, deren methodische Umsetzung sich an den Konzepten der Beratungsstellen und an der jeweiligen Trägerschaft orientieren (Rau et al. 2021).
Sowohl staatliche als auch zivilgesellschaftliche Akteure verfolgen das Ziel einer Deradikalisierung beziehungsweise Distanzierung und kooperieren miteinander. Dies setzt ein gemeinsames Zielverständnis voraus, was die Festlegung von Standards für die Beratung sowie die Entwicklung von Arbeitsbegriffen und Definitionen erforderlich macht (Kargl 2021, S. 165).
Expertinnen und Experten konstatieren, dass es in der Praxis an einer Systematisierung und an Instrumenten fehle, welche helfen, die Ausgangsbedingungen und Fortschritte von Arbeitsprozessen in der Beratung zu identifizieren (Möller et al. 2019; Allroggen et al. 2020, S. 513). Dabei mangle es vor allem an nachvollziehbaren theoretischen Überlegungen, die auf wissenschaftlich begründbaren Erkenntnissen aufbauen (Möller et al. 2019). Dies ist insbesondere deshalb kritisch, weil es in der Arbeit mit radikalisierten Personen und ihrem sozialen Umfeld auch zu Situationen der Selbst- und Fremdgefährdung kommen kann – beispielsweise, wenn sich Ratsuchende an Gewalttaten oder staatsfeindlichen Aktionen beteiligen. In solchen Fällen muss nachvollziehbar sein, welche Möglichkeiten der Gefahrenabwendung im Rahmen der Beratung erfolgt sind und welche Informationsgrundlage dem Handeln der Beratungsfachkraft zugrunde lag.
Aufzeichnungen, die eine Abwägung verschiedener Aspekte in der Fallarbeit dokumentieren, bilden nicht zuletzt auch eine Grundlage für die Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden – spätestens dann, wenn sich im Rahmen der Fallarbeit Gefährdungslagen abzeichnen und es aufgrund sicherheitsrelevanter Fragen notwendig erscheint abzuwägen, ob Informationen an die Sicherheitsbehörden weitergegeben werden sollten.
Instrumente für den Beratungskontext
Es gibt Instrumente, die unterschiedliche Funktionen für die Beratungsarbeit erfüllen können. Sie können etwa der Systematisierung und Standardisierung methodischer Ansätze dienen, bei der Einschätzung von Fällen und etwaiger Gefährdungen helfen oder Aussagen über Entwicklungen treffen.
Um eine Grundlage für ein gemeinsames Arbeitsverständnis in den Beratungsstellen für Deradikalisierung zu schaffen, wurden in zwei aufeinanderfolgenden Entwicklungsprojekten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sogenannte "Standards in der Beratung des sozialen Umfelds (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen" erarbeitet (Violence Prevention Network 2020). Die daraus entstandene Handreichung enthält eine Sammlung an methodischen Ansätzen der Deradikalisierungs- und Distanzierungsarbeit von zivilgesellschaftlichen und staatlichen Trägern (Kargl 2021, S. 165). Anhand von Beschreibungen, die auf einer idealtypischen Darstellung von Beratungsprozessen basieren, lassen sich die Beratungsprozesse in den Beratungsstellen im BAMF-Netzwerk besser einordnen und reflektieren.
Weitere Instrumente wie VERA/VERA-2R (Violent Extremism Risk Assessment) und RADAR-iTE (Regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – islamistischer Terrorismus) beschäftigen sich speziell mit der Einschätzung von Gefährdungsrisiken und werden vor allem von Fachkräften der Sicherheitsbehörden verwendet (für eine Übersicht siehe von Berg 2019, S. 4; zum Infodienst-Beitrag "Interner Link: Risk Assessment im Phänomenbereich gewaltbereiter Extremismus"). Für die Deradikalisierungsarbeit liegen nach den Recherchen der Autorinnen und Autoren dieses Beitrags für den deutschsprachigen Raum bislang zwei veröffentlichte Instrumente vor, die ermitteln, ob die Ziele der Beratungstätigkeit im Bereich des islamistischen Extremismus auf der Ebene von Einzelpersonen oder von Gruppen erreicht wurden:
Evaluationskriterien für die Islamismusprävention (EvIs)
Das Instrument "EvIs" (Evaluationskriterien für die Islamismusprävention) entstand im Jahr 2019 im Rahmen des Projekts "Entwicklung von Evaluationskriterien in der Extremismusprävention" des Nationalen Zentrums für Kriminalprävention (NZK). Es umfasst einen Katalog von 38 "Evaluationskriterien", die anhand wissenschaftlicher Literatur und Expertenmeinungen mittels qualitativer Methoden ermittelt wurden.
Die Kriterien/Indikatoren sollen dazu dienen, eine Hinwendung zum islamistischen Extremismus sowie erste Anzeichen islamistischer Radikalisierung anhand von konkreten Merkmalen zu erkennen und einzuschätzen. Die Kriterien sollen daher von einer Fachkraft auf einer fünfstufigen Skala von "nicht vorhanden" bis "sehr stark vorhanden" bewertet und mit Beispielen aus dem Erleben und Verhalten der Person versehen werden – beispielsweise die detaillierte Beschreibung einer akuten Krise oder die Dokumentation von Aussagen zur Einstellung gegenüber "Andersgläubigen". Darüber hinaus soll auf einer dreistufigen Skala von "nicht relevant" bis "hoch relevant" bewertet werden, ob eine Veränderung des jeweiligen Kriteriums zu einer positiven Entwicklung bei der bewerteten Person beziehungsweise Personengruppe im Hinblick auf den Radikalisierungsprozess beitragen kann. Beispielsweise kann eine Distanzierung vom extremistischen Milieu wesentlich dazu beitragen, dass sich eine Person deradikalisiert. In einem anderen Fall besteht kein Kontakt zu entsprechenden Gruppierungen, so dass andere Faktoren als relevant betrachtet werden müssen.
Beispiele für die Kriterien sind: mangelnde Sicherheit, schwierige soziale Verhältnisse, psychische Auffälligkeiten, religiöses Überlegenheitsgefühl, antisemitische Äußerungen sowie jugendliche Provokation durch religiöses/islamistisches Verhalten. Ziel ist, die Kriterien/Indikatoren durch entsprechende Präventionsmaßnahmen zu verändern, was das Instrument unter der Voraussetzung eines mehrmaligen Einsatzes zum Evaluationsinstrument werden lässt.
Es ist vor allem für den Einsatz im Bereich der sekundär-selektiven Präventionsarbeit oder im Bereich tertiär-indizierter Maßnahmen gedacht – also dann, wenn mit "radikalisierten" oder "radikalisierungsgefährdeten" einzelnen Personen oder Personengruppen gearbeitet werden soll, beispielweise im Rahmen von Projekten in Schulen mit ausgewählten Schülergruppen oder im Beratungskontext. Das Instrument dient dabei als Orientierung für die Zielformulierung in Präventionsprojekten und zur Evaluation. Es beinhaltet keine Gefährdungseinschätzung (Ullrich et al. 2019).
Soziale Diagnostik
Einen anderen Ansatz zur Falleinschätzung, Dokumentation und Bewertung der Deradikalisierungsarbeit verfolgt die sogenannte "Soziale Diagnostik" im Zusammenhang mit Radikalisierungsverläufen. Sie baut auf Erklärungsmodellen für eine Radikalisierung auf und berücksichtigt biografische Faktoren, Umfeldfaktoren wie die soziale Situation und Integration, individuelle Bedürfnisse sowie individuelle Risiko- und Schutzfaktoren im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung.
Im Rahmen der "Sozialen Diagnostik" soll ein umfassender und langfristig angesetzter Verstehensprozess für Bedingungsfaktoren von Radikalisierung bei den Beratungsfachkräften erfolgen. Dieser schließt nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Einfluss biografischer Erfahrungen mit ein, sondern auch das Verständnis über deren Funktion in der Bewältigung der individuellen Lebensgeschichte. Dies geschieht vor allem in Form einer vordergründigen Wahrnehmung der Perspektive von Betroffenen und durch das Verstehen ihrer sozialen Situation und sozialen Integration aus ihrer individuellen Wahrnehmung heraus.
Die "Soziale Diagnostik" umfasst eine soziale Anamnese mit einem Dokumentationsbogen zur Fallgenese, eine sogenannte "Biografiematrix (De-)Radikalisierung", ein aus der sozialpädagogischen Praxis bekanntes "Genogramm" und eine Netzwerkanalyse anhand einer sogenannten "Netzwerkkarte". Die Biografiematrix soll biografische Ereignisse in relevanten Dimensionen dokumentieren und durch eine farbliche Kennzeichnung Faktoren als "radikalisierungsförderlich" (rot) beziehungsweise als potenziell "deradikalisierend" (grün) visualisieren. Daraus können Ziele für Präventionsmaßnahmen festgelegt werden, die den Betroffenen abseits der extremistischen Szene positive Entwicklungen ermöglichen sollen.
Bei regelmäßiger Dokumentation im Rahmen der Fallbearbeitung lassen sich Veränderungen im Verhalten von Betroffenen qualitativ festhalten. Auf der Grundlage dieser Dokumentation kann die Wirksamkeit der durchgeführten Maßnahmen reflektiert werden. Das Besondere dabei ist, dass Ratsuchende dialogisch-kooperativ in den Veränderungs- und Hilfeprozess und in die Erreichung angestrebter und vereinbarter Ziele eingebunden werden. Der Hilfeprozess wird mithilfe von Fallkonferenzen im Team angeführt und im Rahmen eines sogenannten Hilfeplans festgehalten (Möller et al. 2019; Kohler et al. 2019).
Bei der "Sozialen Diagnostik" handelt es sich um ein Vorgehen, dessen Ursprung in der Sozialen Arbeit liegt. Es ist ein für den Arbeitsbereich der Beratungsstellen modifiziertes komplexes Zielerreichungsinstrument, wie es in ähnlicher Form im Rahmen von Hilfeplanverfahren der Kinder- und Jugendhilfe bei Jugendämtern Verwendung findet.
Instrument "ZiVI-Extremismus"
Entstehungsprozess von "ZiVI-Extremismus"
Als Ergänzung zu den bestehenden Instrumenten wurde im Rahmen eines dreijährigen, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten, Kooperationsprojekts das Instrument "ZiVI-Extremismus" entwickelt. Titel des Projekts war "Einschätzung des Handlungs- und Interventionsbedarfs bei islamistisch begründeter Radikalisierung in der Beratungspraxis – Zielerreichungs- und Verlaufsbewertungs-Instrument Extremismus". Kooperationspartner waren die Universitätskliniken Ulm und Hamburg-Eppendorf. Beteiligt waren Fachärztinnen und ein Facharzt für Erwachsenen- und Kinderpsychiatrie sowie Psychotherapie sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachrichtungen (unter anderem der Psychologie, Kriminologie, Islamwissenschaft, Religionswissenschaft, Theologie, Politikwissenschaft und Sozialen Arbeit). Ziele des Instrumentes sind es, Beratungsverläufe in Fachberatungsstellen für Deradikalisierung standardisiert zu dokumentieren und zu evaluieren sowie Ansätze für Interventionen im Bereich der indizierten Prävention und Fallbetreuung systematisch zu ermitteln.
Am Anfang des Entwicklungsprozesses zu "ZiVI-Extremismus" erfolgte eine umfangreiche Literaturrecherche zu relevanten Faktoren für die Entwicklung von extremistischen Einstellungen und von extremistischer Gewalt. Die recherchierten Faktoren wurden als Grundlage für die Entwicklung des Instrumentes verwendet. Gemäß dem Fokus des Instrumentes wurden sie weitestgehend auf den Phänomenbereich des religiös begründeten Extremismus eingegrenzt. Anschließend wurde der geplante Aufbau des Instrumentes unter anderem mit den beiden in Abschnitt 3 beschriebenen Instrumenten verglichen.
In mehreren Überarbeitungsschleifen wurde der Aufbau diskutiert mit Fachkräften aus Landeskoordinierungs- und Beratungsstellen für Deradikalisierung und so verbessert. Die Stellen befinden sich in staatlicher und zivilgesellschaftlicher Trägerschaft und stammen aus dem Beratungsnetzwerk des BAMF.
Gespräche mit Expertinnen und Experten des Bundeskriminalamts bildeten die Grundlage für die Zusammenstellung von Faktoren, die für eine Gefährdungsbeurteilung relevant erschienen, vor allem im Hinblick auf Fremdgefährdungssituationen – die sogenannte Gefährdungseinschätzungsgrundlage. Das Instrument "ZiVI-Extremismus" baut somit nicht nur auf einer wissenschaftlichen Basis auf, sondern auch auf praktischen Erfahrungen zu sicherheitsrelevanten Fragen.
Aktuell liegt eine Arbeitsversion des ausgearbeiteten Instrumentes mit der Kurzbezeichnung "ZiVI-Extremismus" vor. Es wird im ersten Halbjahr 2022 in einem Pilotversuch in ausgewählten Beratungsstellen des BAMF-Netzwerks in der Fallbetreuung im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus erprobt, bevor es nach einer finalen Überarbeitung Ende des Jahres vollständig der Beratungspraxis zur Anwendung zur Verfügung gestellt werden kann. Um das Instrument im Folgenden mit einem Blick auf die Anwendung zu beschreiben, wird zunächst ein fiktives Fallbeispiel skizziert, welches eine mögliche Ausgangslage für die Arbeit mit "ZiVI-Extremismus" in den Beratungsstellen aufzeigen soll.
Beratungsfall A. und die Anwendung von "ZiVI-Extremismus"
Der 17-jährige A., der in Deutschland als Sohn von Zugewanderten geboren wurde, äußert sich im Rahmen des Schulunterrichtes über sein Verständnis vom Islam, das die Tötung von "Ungläubigen" einschließt. Nachdem der Lehrer ihn zurechtgewiesen hat, verlässt A. uneinsichtig den Unterricht. Die Eltern werden zur Information über das Geschehen in die Schule einbestellt. Dabei stellt sich heraus, dass A. in den vergangenen Monaten häufiger mit neuen Freunden Umgang hatte, sich neuerdings auch für politische Themen interessiert und in die Koranschule geht, was die wenig religiös geprägte Familie überrascht. Auch der Umgang mit einigen jungen Männern und das Verhalten von A. zu Hause beunruhigen sie.
Den Rat der Schulleitung, sich für ein Gespräch an eine Beratungsstelle für Deradikalisierung zu wenden, nehmen sie gerne an. Zu Hause sprechen die Eltern mit ihrem ältesten Sohn, der mit A. die Beratungsstelle aufsuchen soll. Der Bruder vereinbart einen Termin, bei dem nur wenige Informationen über A., wie Alter, Wohnort, grobe Schilderung des Konflikts in der Schule, weitergegeben werden.
Herr Zinn von der Beratungsstelle begrüßt an dem Termin die beiden jungen Männer und fragt zunächst detailliert, was sie zu der Terminanfrage veranlasst habe. Während A. keinen Anlass sieht, schildert der ältere Bruder die Situation im Unterricht. Herr Zinn versucht behutsam Hintergrundinformationen von A. zur Situation zu gewinnen und fragt interessiert nach seiner Alltagsgestaltung und seinen sozialen Bezügen. Daneben fragt er Faktoren ab, die eine Relevanz für Radikalisierungsprozesse zeigen und die möglicherweise dazu geführt haben, dass A. sich entsprechend in der Schule und Familie verhalten hat. Die Inhalte des Gesprächs dokumentiert er anschließend in "ZiVI-Extremismus".
Das Instrument "ZiVI-Extremismus", das Beratungsfälle wie den Fall von A. strukturiert erfassen soll, umfasst drei Ebenen: Es ist auf einer ersten Ebene als Instrument zur gezielten Planung von Interventionen in Beratungsstellen gedacht. Auf der zweiten Ebene begleitet es bei mehrfachem Ausfüllen den Beratungsprozess im Sinne einer Evaluation. Es ermöglicht zudem auf einer dritten Ebene Beratungsfachkräften anhand konkreter Kriterien das Risiko für akute Selbst- und Fremdgefährdungssituationen einzuschätzen – unabhängig von ihrer fachlichen Ausbildung. Weiterhin ermöglicht es Fachkräften zu erkennen, wann zusätzliche fachliche Expertise hinzugezogen werden muss – beispielweise bei sicherheitsrelevanten Fragen, psychischen Auffälligkeiten oder Themen, die über den eigenen Beratungsschwerpunkt hinaus gehen, wie Hilfen zur Wohnraumsicherung oder zur finanziellen Unterstützung.
Die Anwendung des Instrumentes kann während oder nach einem Beratungsgespräch erfolgen. Es enthält Vorschläge für Fachkräfte zur Befragung von Ratsuchenden und zur Befragung von Kontaktpersonen, zum Beispiel von Angehörigen, Lehrkräften, Freundinnen und Freunden. Das Instrument umfasst einen Dokumentationsbogen, einen Fragebogen zur Bewertung von Risiko- und Schutzfaktoren, einen Bewertungsbogen für Gefährdungslagen sowie ein umfassendes Handbuch zur Anwendung des Instrumentes. Die einzelnen Bestandteile werden im Folgenden kurz vorgestellt.
Dokumentationsbogen
In einem Dokumentationsbogen werden grundlegende Informationen erfasst. Dazu gehören soziodemografische Informationen sowie weitere Informationen über die soziale Situation und die beteiligten Personen. Erfasst wird zum Beispiel, ob eine Person Mitglied einer islamistisch orientierten extremistischen Gruppierung ist oder Kontakte ins islamistische extremistische Milieu pflegt, ob sich sonstige Problemlagen zeigen, wie beispielsweise eine fehlende Tagesstruktur oder finanzielle Schwierigkeiten, und auch, ob soziale Kontakte bestehen und welcher Art diese sind, zum Beispiel über virtuelle soziale Netzwerke. Bereits im Erstgespräch sollten möglichst gezielt Inhalte erfragt werden, um die Person und ihr Umfeld besser kennen zu lernen.
Im Dokumentationsbogen werden auch grundlegende positive Aspekte einer Lebensgestaltung festgehalten. Diese können eine wichtige Ressource für die Beratung und den Zugang zu Personen bilden, wie das Fallbeispiel zeigen wird. Neben standardisierten Abfragemöglichkeiten enthält die Dokumentation auch Möglichkeiten, differenzierte Angaben frei zu ergänzen – zum Beispiel, ob nur vereinzelt Kontakt zu islamistisch radikalisierten Personen besteht oder ob sich die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung abzeichnet.
Fragebogen zur Bewertung von Risiko- und Schutzfaktoren
Weiterhin werden mit "ZiVI-Extremismus" umfangreich Risiko- und Schutzfaktoren für die Fallbetreuung im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus abgefragt. Das Instrument umfasst aktuell 45 Faktoren, die auf der Grundlage empirisch begründeter Zusammenhänge ausgearbeitet wurden. Die Faktoren können mittels einer fünfstufigen Likert-Skala von der Beratungsfachkraft bewertet werden und sollen so umfassend wie möglich die betroffene Person, ihr Verhalten und ihre (soziale) Situation beschreiben.
Von den 45 Faktoren sind 34 Risikofaktoren (zum Beispiel der Grad der Freiwilligkeit für den Zugang zur Beratung, Kontakt mit dem extremistischen Milieu, Kopplung von Sinn und Bedeutung der eigenen Existenz an die extremistische Einstellung) und 11 sind Schutzfaktoren (zum Beispiel familiäre Unterstützung, schulisches/berufliches Engagement, gelungene Resozialisierung nach Haft).
Zudem gibt es die Möglichkeit anzugeben, dass keine Informationen zu bestimmten Schutz- beziehungsweise Risikofaktoren vorliegen oder erhoben werden können, was bei der Bewertung der Gesamtsituation auf der Grundlage aller gesammelten Informationen zu berücksichtigen ist.
Die Faktoren sind sechs Entwicklungsbereichen zugeordnet:
allgemeine Faktoren, soziale Faktoren, Einstellungen, belastende Faktoren, Delinquenz, religiöse und ideologische Faktoren.
Auszug aus dem Fragebogen zur Erfassung von Risikofaktoren mit "ZiVI-Extremismus". (© Projekt "ZiVI-Extremismus")
Aufbauend auf diesen Faktoren können Schwerpunkte für die Beratung abgeleitet werden und es kann eine Interventionsplanung erfolgen. Dies geschieht zum Beispiel durch die Auswahl von zentralen Risikofaktoren, die minimiert werden sollen – beispielweise eine fehlende Perspektive für die eigene Lebensgestaltung oder fehlende Freundschaften außerhalb der extremistischen Szene.
Daneben können gezielt Maßnahmen erfolgen, die die identifizierten Schutzfaktoren stärken, wie beispielsweise ein guter Kontakt zu einzelnen Familienangehörigen. So kann die gezielte Einbindung von Eltern, Geschwistern oder von Freunden in die Beratung Beziehungen stärken und dabei helfen, konkrete Hilfen im Alltag der Betroffenen zu verankern. Einen Eindruck des Fragebogens vermittelt die folgende Abbildung (die Abbildungen sind ein Zuschnitt des Instruments für diese Arbeit und nicht deckungsgleich mit dem Layout von "ZiVI-Extremismus".).
Wiederholung der Dokumentation und Bewertung der Entwicklung
In regelmäßigen Zeitabständen lassen sich die Dokumentation und die Bewertung der Risiko- und Schutzfaktoren wiederholen. So können mögliche Einstellungs- oder Verhaltensänderungen festgehalten und der bisherige Beratungsverlauf veranschaulicht werden. Es können auch Verhaltensweisen in die Bewertung einfließen, die Dritte im Laufe des Beratungsprozesses angeben, zum Beispiel die Eltern oder Geschwister.
Beratungsfachkräfte profitieren davon, dass sie das eigene Handeln beziehungsweise den Beratungsprozess durch die mehrmalige Verwendung des Instrumentes reflektieren und die Entwicklungen verfolgen können. Bei Bedarf und im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten können auf dieser Grundlage auch Fallbesprechungen im Team der Fachberatungskräfte stattfinden, um sich beispielweise zum weiteren Vorgehen zu besprechen oder den Fall aus unterschiedlichen Perspektiven multiprofessionell zu beleuchten.
Herr Zinn von der Beratungsstelle gewinnt nach einigen weiteren Terminen mit A. dessen Vertrauen. Inzwischen sucht A. die Beratungsstelle ohne seinen Bruder auf. A. erzählt Herrn Zinn, dass er sich vor einiger Zeit einer Gruppe junger Männer angeschlossen hat. Weitere Berichte von A. lassen darauf schließen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine extremistische Gruppe aus dem islamistischen Milieu handelt. Inzwischen fühlt A. sich von der Gruppe unter Druck gesetzt, seiner Familie zu schaden, da diese zu den "Ungläubigen" zählen würde. Das schlechte Gewissen plagt ihn, denn, wenn er diesem Druck nachgeben würde, wäre vor allem seine Mutter betroffen, die er sehr liebt und die er gerne unterstützen möchte, zum Beispiel, wenn sie Sprachbarrieren im Alltag im Umgang mit Behörden erlebt.
Es zeigt sich, dass die Einstellung von A. zur Gruppe und den ideologischen Vorstellungen zwiegespalten ist. Herr Zinn erfährt zudem, dass A. sich häufiger als Ballast für die Familie sieht, die viele Probleme beim Zurechtkommen in Deutschland erlebt, und dass A. auch Suizidgedanken hat. Herr Zinn schafft es durch einfühlsame Gespräche, A. von einer vermeintlichen Problemlösung durch Selbstgefährdung abzubringen. Außerdem bittet er ihn, am nächsten Tag wieder zu kommen und nimmt auf der Grundlage von "ZiVI-Extremismus" eine Einschätzung der Gefährdungslage im Hinblick auf einen Suizid vor. Dazu berät er sich in einem Team von Beratungskräften innerhalb der Beratungsstelle anhand der durch das Instrument vorgegebenen Risikofaktoren und der sogenannten Gefährdungseinschätzungsgrundlage.
Es stellt sich heraus, dass A. zwar Gedanken an eine Selbsttötung beschäftigen, er sich davon aber glaubhaft distanzieren kann und keine konkreten Pläne zur Selbsttötung weiterverfolgen möchte. Das Team entscheidet, A. eine regelmäßige sozialpädagogische Beratung anzubieten. Mithilfe dieser Unterstützung und durch den Aufbau von Freundschaften in der Schule, gelingt A. eine Distanzierung vom extremistischen Milieu. Er entwickelt neue Lebensperspektiven und erkennt seine wichtige Rolle in der Familie als Vermittler für seine Eltern bei Sprachproblemen und dem Versuch von Integration. Dies steht seiner empfundenen "Nutzlosigkeit" für die Familie entgegen und kann ein wichtiger Schutzfaktor im Rahmen seiner weiteren Entwicklung sein.
Gefährdungseinschätzungsgrundlage: Einschätzung möglicher Selbst- und Fremdgefährdungssituationen
Zur Einschätzung möglicher Gefährdungssituationen enthält "ZiVI-Extremismus" des Weiteren empirisch ermittelte Faktoren, die mit einem erhöhten Risiko für eine akute Selbst- und/oder Fremdgefährdungssituation verbunden sind. Sie sind in der sogenannten Gefährdungseinschätzungsgrundlage (GEG) zusammengefasst. Dabei handelt es sich um grundlegende kritische Aspekte wie eine gewaltbereite und gewaltbefürwortende Einstellung, akute Belastungen (zum Beispiel familiäre, finanzielle Probleme oder der Verlust des Arbeitsplatzes), Substanzkonsum sowie Suizidalität. Daneben finden sich Aspekte, die die Fähigkeit zur Ausübung von Gewalt abbilden, wie zum Beispiel der Zugang zu Waffen und militärische Kenntnisse, sowie Aspekte zur Erfassung möglicher Auslöser für terroristische Straftaten oder konkreter Vorbereitungshandlungen auf eine Gewaltstraftat.
Die Bewertung dieser Faktoren kann dabei helfen, akute Gefährdungslagen in der Beratungspraxis abzuwenden und damit auch zur Prävention von schweren Gewaltstraftaten beitragen. Aufgrund der differenzierten Erfassung der relevanten Faktoren kann die Gefährdungseinschätzungsgrundlage auch zur Dokumentation herangezogen werden, wenn ein Bruch der Schweigepflicht von Beratungsfachkräften notwendig wird aufgrund eines sogenannten Rechtfertigenden Notstandes im Rahmen einer sogenannten Güterabwägung. Diese sollte den hohen Stellenwert von Vertrauensschutz und Schweigepflicht erkennen lassen und die Gründe für eine Anzeige bei der Polizei transparent machen.
Auszug aus dem Fragebogen zur Einschätzung von Gefährdungssituationen mit "ZiVI-Extremismus". (© Projekt "ZiVI-Extremismus")
Folge der Bewertung der Situation anhand von "ZiVI-Extremismus" kann also eine Anzeige bei den Sicherheitsbehörden sein, aber auch die Kontaktaufnahme mit anderen Stellen, zum Beispiel mit psychiatrischen Kliniken bei Hinweisen auf akute Gefährdungslagen durch psychische Erkrankungen. Bei der Einschätzung soll es sich nicht um eine Prognose (künftiger möglicher Entwicklungen) handeln, sondern um eine Beschreibung der aktuellen Situation. Die Beurteilung findet anhand standardisierter Ausprägungsgrade von "nicht vorhanden" bis "sehr stark vorhanden" statt. Es wird empfohlen, in die Bewertung ein Team multiprofessioneller Fachkräfte einzubinden beziehungsweise die Situation innerhalb einer Fallkonferenz aus verschiedenen Blickwinkeln zu diskutieren.
Einige der kritischen Aspekte der Gefährdungseinschätzungsgrundlage – die sogenannten Akut-Faktoren – erfordern bei einer hohen Ausprägung ein unmittelbares weiteres Abklären. Dazu gehören Äußerungen zu suizidalen Gedanken und/oder konkrete Hinweise auf einen Plan zur Durchführung eines Suizids, die bereits sehr konkret auf Vorbereitungshandlungen hinweisen können. In diesen Fällen ist eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit einer psychiatrischen Klinik erforderlich, unter Umständen unter Hinzuziehung der Polizei und des Rettungsdienstes, wenn die betroffene Person einer psychiatrischen Abklärung trotz akuter Selbstgefährdung nicht zustimmt. Einen Eindruck des Fragebogens vermittelt die folgende Abbildung (die Abbildungen sind ein Zuschnitt des Instruments für diese Arbeit und nicht deckungsgleich mit dem Layout von "ZiVI-Extremismus".).
In den Gesprächen mit Herrn Zinn stellt sich heraus, dass die einmalige Äußerung in der Schule zur Tötung von "Ungläubigen" von A. impulsiv in einer aufgebrachten Situation erfolgt ist und kein tiefgründiges ideologisches Fundament aufweist. Dadurch können sowohl die Schule als auch die Eltern beruhigt werden. A. entschuldigt sich zudem in der Schule für seine Äußerungen. Um A. die soziale Integration in die Gruppe der über seine Äußerungen empörten Mitschülerinnen und Mitschüler zu erleichtern, findet im Rahmen des Unterrichts nochmals ein Gespräch zu Religionen und zur Abgrenzung von extremistischen Strömungen mit allen Schülerinnen und Schülern der Klasse statt.
Da A. regelmäßig in die Beratung kommt, lassen sich seine Entwicklungen über mehrere Monate anhand von "ZiVI-Extremismus" nachvollziehen. Zunächst distanziert sich A. von menschengefährdenden Äußerungen, später verändert sich auch seine Einstellung in Hinblick auf unterschiedliche religiöse Vorstellungen und er erkennt ihre Vielfalt. Den Kontakt zu der Gruppe junger Männer aus dem extremistischen Milieu bricht er vollständig ab.
Mithilfe von Herrn Zinn gewinnt A. Selbstvertrauen, seine Zukunft positiv ausrichten zu können; Suizidgedanken treten nicht mehr auf. Für seine weiterhin, zumindest zeitweise vorhandenen, depressiven Verstimmungen, die für das Jugendalter nicht untypisch sind, vermittelt Herr Zinn nach Rücksprache mit den Eltern den Kontakt zu einer psychosozialen Beratungsstelle, die A. diesbezüglich fachlich besser betreuen kann.
Schlussfolgerung und kritische Reflexion
"ZiVI-Extremismus" wurde für den Bereich der islamistisch begründeten Radikalisierung konzipiert, insbesondere für Fachkräfte des über alle Bundesländer verteilten Netzwerks der Beratungsstellen "Radikalisierung" des BAMF. Diese arbeiten nach einheitlichen Standards (Violence Prevention Network 2020), welche die Basis für die Anwendung von "ZiVI-Extremismus" bilden, und haben sich mit ihren praktischen Erfahrungen in die Entwicklung des Instrumentes eingebracht.
Im Gegensatz zu den in Abschnitt 3 skizzierten Instrumenten basiert "ZiVI-Extremismus" vor allem auf wissenschaftlicher Literatur, punktuell ergänzt durch Erfahrungswissen. Die Dokumentation und Beurteilungen sind zudem nicht (nur) auf ein Gewaltrisiko hin reduziert, was "ZiVI-Extremismus" deutlich von sicherheitsbehördlichen Instrumenten zur Risikoeinschätzung unterscheidet und zu einem wertvollen Instrument für die Evaluation von Beratungsprozessen werden lässt.
Bei der Arbeit mit dem Instrument ist insbesondere von Vorteil, dass durch die konkreten Fragenvorschläge zur Abklärung von einzelnen Risiko- und Schutzfaktoren – wie beispielweise zum Vorliegen psychischer Auffälligkeiten oder einer gewaltbereiten Einstellung ¬– die unterschiedlichen Ausbildungsrichtungen der Fachkräfte in den Beratungsstellen nicht so stark ins Gewicht fallen. So können mithilfe des Instrumentes unterschiedliche Berufsgruppen mit einheitlichen Materialien arbeiten und in einen Austausch miteinander gehen.
Voraussetzungen für die Arbeit mit "ZiVI-Extremismus" sind jedoch das Erlernen von Techniken zur Gesprächsführung und der Umgang mit psychosozialen Krisensituationen. Zudem benötigt die Arbeit mit dem Instrument eine umfassende Einführung und Qualifizierung durch das Entwicklungsteam – zum Beispiel in Form von Schulungen oder dem gemeinsamen Bearbeiten von fiktiven Fallbeispielen. So werden die Voraussetzungen für valide Informationen im Instrument geschaffen und ein sachgemäßer Umgang damit gewährleistet.
Die größte Herausforderung bei der Konzeption des Instrumentes war die aktuell dünne und wenig differenzierte (nationale sowie internationale) Forschungslage zum Thema, denn es existieren nur wenige Studien, die tatsächlich Aussagen zu Radikalisierungsverläufen treffen können. Daraus ergibt sich eine teilweise eingeschränkte Empirie von "ZiVI-Extremismus", das überwiegend auf methodisch gut nachvollziehbaren Studien aufbaut. Die Autorinnen und Autoren empfehlen daher eine Weiterentwicklung und Evaluation des Instrumentes in gewissen zeitlichen Abständen auf der Grundlage aktueller Forschungsergebnisse und praktischer Anwendung. Dies sollte bei der Implementierung in die Beratungspraxis Ende 2022 mitbedacht werden.
Aktuell wird das Instrument mit realen Beratungsfällen deutschlandweit erprobt. Unter der Voraussetzung der Zurverfügungstellung entsprechender Haushaltsmittel ist das BAMF von der Absicht getragen, das Instrument – nach einer letzten Überarbeitung – schließlich digital und mit integrierten digitalen Auswertungsmöglichkeiten umsetzbar zu machen. Für die Anwendung des Instruments wird es zudem voraussichtlich auch Schulungsmöglichkeiten geben. Weiterhin ist eine Erweiterung des Instrumentes auf die Phänomenbereiche des Links- und Rechtsextremismus grundsätzlich denkbar. In der umfangreichen Literaturrecherche hat sich gezeigt, dass die Entwicklungsfaktoren in verschiedenen Formen von Extremismus ähnlich sind.
Hinweis und Danksagung
Die Arbeit entstand im Rahmen des vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Projekts "Einschätzung des Handlungs- und Interventionsbedarfs bei islamistisch begründeter Radikalisierung in der Beratungspraxis – Entwicklung eines Zielerreichungs- und Verlaufsbewertungsinstruments (ZiVI-Extremismus)", an dem alle Autorinnen und Autoren beteiligt sind.
Ein Dank geht an dieser Stelle an alle weiteren am Projekt beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Anna Heimgartner, Aleksandra Spasojevic, Felix Brandes, Rashid Bajwa und Kaser Ahmed sowie an die Co-Projektleiterin Prof. Dr. Anne Karow des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
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Auszug aus dem Fragebogen zur Erfassung von Risikofaktoren mit "ZiVI-Extremismus". (© Projekt "ZiVI-Extremismus")
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Quellen / Literatur
Allroggen, Marc/Rau, Thea/Schmidt, Holger & Fegert, Jörg M. (2020): Externer Link: Handlungsfeld "Indizierte Extremismusprävention". In Brahim Ben Slama & Uwe Kemmesies (Hrsg.): Handbuch Extremismusprävention – Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend (S. 505–522). Wiesbaden: Bundeskriminalamt. Auf: handbuch-extremismuspraevention.de, Abruf am 18.5.2022.
Albrecht, R. (2017). Beratungskompetenz in der Sozialen Arbeit: Auf die Haltung kommt es an! Kontext, 48(1), S. 45-64.
Kargl, Gloriett (2021): Externer Link: Die Entwicklung bundesweiter Standards in der Beratung des sozialen Umfelds (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen. In Corinna Emser, Axel Kreienbrink, Nelia Miguel Müller, Teresa Rupp & Alexandra Wielopolski-Kasaku (Hrsg.): SCHNITT:STELLEN – Erkenntnisse aus Forschung und Beratungspraxis im Phänomenbereich islamistischer Extremismus. Beiträge zu Migration und Integration 8 (S. 165–171). Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Auf: bamf.de, Abruf am 18.5.2022.
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Mücke, Thomas & Walkenhorst, Dennis (2021): Externer Link: Klient*innenzentrierte Intervention im Rahmen ganzheitlicher Fallarbeit: Möglichkeiten und Herausforderungen der Deradikalisierung. Zeitschrift für Verantwortungspädagogik, 15: 18–21. Auf: violence-prevention-network.de, Abruf am 18.5.2022.
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Sold, Manjana (2020): Externer Link: Radikalisierung und Deradikalisierung. Bundeszentrale für politische Bildung. Auf: bpb.de, Abruf am 18.5.2022.
Uhlmann, Milena (2017): Externer Link: Evaluation der Beratungsstelle "Radikalisierung" – Abschlussbericht. Forschungsbericht 31. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Auf: bamf.de, Abruf am 18.5.2022.
Ullrich, Simone, Nehlsen, Inga & Armborst, Andreas (2019): Externer Link: Evaluationskriterien für die Islamismusprävention (EvIs). Wie lassen sich Effekte von Präventionsmaßnahmen im Bereich des islamistischen Extremismus erfassen? Forum Kriminalprävention, 3: 3-7. Auf: forum-kriminalpraevention.de, Abruf am 18.5.2022.
Violence Prevention Network (2020): Externer Link: Standards in der Beratung des sozialen Umfelds (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen. Handreichung des Beratungsstellen-Netzwerks der Beratungsstelle "Radikalisierung" des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). 2., überarb. Aufl. Berlin: Violence Prevention Network. Auf: bamf.de, Abruf am 18.5.2022.
Von Berg, Annika (2019): Externer Link: Risk Assessment im Phänomenbereich gewaltbereiter Extremismus – State of the Art. Zeitschrift für Verantwortungspädagogik, 13: 4-15. Auf: violence-prevention-network.de, Abruf am 18.5.2022.
Ein sogenanntes Genogramm visualisiert eine mehrgenerationale Perspektive auf Klientinnen und Klienten. Dadurch können Probleme im familiären Gefüge besser überblickt werden (Albrecht 2017). Ähnliche Ziele verfolgt das Erstellen sogenannter Netzwerkkarten, mit der soziale Bezüge über die Familie hinaus dargestellt werden können.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-11-14T00:00:00 | 2022-05-19T00:00:00 | 2022-11-14T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/508516/wie-zivi-extremismus-beratungsstellen-fuer-deradikalisierung-unterstuetzen-kann/ | Anhand eines Fallbeispiels wird die Arbeit mit "ZiVI-Extremismus" vorgestellt. Das Instrument unterstützt bei der strukturierten Beratung, der Dokumentation und der Gefährdungseinschätzung. | [
"Beratung",
"Extremismus",
"Beratungsstellen",
"Deradikalisierung",
"Ausstiegsarbeit",
"ZiVI",
"Islamismus",
"Ausstieg"
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Alternative für Deutschland (AfD) | Europawahl 2019 | bpb.de |
Gründungsjahr 2013* Mitgliederzahl 33.000* Vorsitz Dr. Alexander Gauland, Prof. Dr. Jörg Meuthen* Wahlergebnis 2014 7,1 Prozent *nach Angaben der Partei
Die "Alternative für Deutschland" (AfD) wurde im Februar 2013 gegründet. Sie verfehlte bei der Bundestagswahl vom September 2013 mit 4,7 Prozent der Stimmen knapp den Einzug in den Bundestag, zog aber bei der Europawahl 2014 mit 7,1 Prozent in das Europäische Parlament und 2017 mit 12,6 Prozent als drittstärkste Partei in den Bundestag ein.
Spitzenkandidat der AfD ist ihr Co-Vorsitzender Jörg Meuthen. Meuthen, der seit Anfang 2018 als Nachrücker im Europäischen Parlament sitzt, ist das einzige verbliebene AfD-Mitglied unter den ursprünglich sieben Abgeordneten und gehört der Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie an.
Im Mittelpunkt ihrer Politik stand nach der Gründung der Partei zunächst die Kritik an der Eurorettungspolitik der Bundesregierung. Nicht zuletzt nach einem Führungswechsel übt sie seit dem Herbst 2015 vor allem scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik. Die AfD wird in der öffentlichen Diskussion meist als rechtspopulistische Partei bezeichnet. Dadurch wird aber die Bandbreite von inhaltlichen Positionen nicht deutlich, die in der AfD vertreten wird.
Die AfD tritt mit einer gemeinsamen Liste für alle Bundesländer an. (© TUBS/bpb)
Im wirtschaftspolitischen Bereich war die Partei ursprünglich sehr stark marktliberal ausgerichtet. Später kam eine spezifische soziale Komponente hinzu, die den Fokus auf Verteilungskonflikte zwischen Einheimischen und Migranten richtet. Gesellschaftspolitisch finden sich Positionen, die von nationalkonservativen bis hin zu völkisch-nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Argumentationen reichen, die als Bestandteil eines rechtsextremistischen Weltbildes anzusehen sind. Zudem grenzen sich Teile der Partei nicht von Organisationen des rechtsextremen Spektrums ab. Im Januar hat das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD insgesamt zum Prüffall und ihre Jugendorganisation "Junge Alternative" und die innerparteiliche Bewegung "Der Flügel" wegen hinreichend gewichtiger Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen zum Verdachtsfall erklärt. Gegen die öffentliche Benennung der gesamten Partei als Prüffall ging die AfD gerichtlich vor und bekam vom Verwaltungsgericht Köln Recht.
In ihrem Europawahlprogramm tritt die AfD für ein Europa der Nationen, also für eine Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten ein. Sie will das in ihren Augen undemokratische EU-Parlament abschaffen, den Behördenapparat schrumpfen und unter Wahrung des Einstimmigkeitsprinzips die Gesetzgebungskompetenz ausschließlich auf die Nationalstaaten und ihre zwischenstaatliche Zusammenarbeit verlagern. Zudem fordert sie Volksabstimmungen in europäischen Angelegenheiten. Sie lehnt die Vergemeinschaftung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ab, ist gegen eine europäische Armee und den EU-Beitritt der Türkei.
In der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik wendet sie sich gegen jegliche Vergemeinschaftungen, die in ihren Augen zu einer Haftungs- und Transferunion führen, und plädiert für die Wiedereinführung nationaler Währungen, gegebenenfalls unter paralleler Beibehaltung des Euro. Die Asyl- und Zuwanderungspolitik soll wieder in nationale Zuständigkeit zurückgegeben werden, wobei Deutschland möglichst niemanden mehr neu aufnehmen, abgelehnte Asylbewerber konsequent abschieben und anerkannten Asylbewerbern keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus einräumen soll. Sollten sich diese weitreichenden Vorstellungen nicht in angemessener Zeit verwirklichen lassen, hält die Partei den Austritt Deutschlands aus der EU für notwendig und möchte ihn über einen Volksentscheid herbeiführen.
Gründungsjahr 2013* Mitgliederzahl 33.000* Vorsitz Dr. Alexander Gauland, Prof. Dr. Jörg Meuthen* Wahlergebnis 2014 7,1 Prozent *nach Angaben der Partei
Die AfD tritt mit einer gemeinsamen Liste für alle Bundesländer an. (© TUBS/bpb)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2019-05-07T00:00:00 | 2019-04-10T00:00:00 | 2019-05-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/europawahl-2019/289146/alternative-fuer-deutschland-afd/ | Die AfD wendet sich gegen die aktuelle Europapolitik und nimmt verstärkt die Themen Asyl und Zuwanderung in den Fokus. In ihrem Wahlprogramm fordert sie ein Europa der Nationen, plädiert für die Wiedereinführung nationaler Währungen und sieht die Asy | [
"Alternative für Deutschland (AfD)"
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Einer der Anfänge vom Ende der DDR: Die Biermann-Ausbürgerung 1976 | Deutschland Archiv | bpb.de | Am Dienstag, den 16. November 1976 fällt das SED-Politbüro einen folgenschweren Beschluss. Es nutzt eine Konzertreise des populären Ost-Berliner DDR-Liedermachers Wolf Biermann nach Westdeutschland, um ihn aus der DDR auszubürgern wegen "grober Verletzungen der staatsbürgerlichen Pflichten". Ein erfundener Tatbestand, denn loswerden wollte die SED-Spitze Biermann bereits länger, aufgrund seiner politischen Texte und Zeitkritik am autoritären Stil der SED. Deren jetzt amtierender Parteichef Erich Honecker hatte Biermann bereits 1965 auf einem Kulturplenum der SED geächtet: "Biermann verrät heute mit seinen Liedern und Gedichten sozialistische Grundpositionen". Infolge erhielt der überzeugte Kommunist Auftrittsverbote und wurde intensivst Interner Link: von der DDR-Geheimpolizei Stasi überwacht.
Die Ausbürgerung, ein lang gehegter Stasi-Plan
1971 hatte Wolf Biermann erwogen, eine Einladung zu einem Konzert in Göteborg anzunehmen. Schon damals erwägen Partei- und SED-Spitze, Biermanns Rückkehr "zu unterbinden". (© RHG)
Das "Schild und Schwert der Partei", die DDR-Geheimpolizei Staatssicherheit, hatte den Plan einer Ausbürgerung Biermanns schon fünf Jahre zuvor konzipiert und auf eine passende Gelegenheit gewartet, es fehlte nur noch ein Durchführungsbeschluss des SED-Politbüros. Dazu kam es an jenem 16. November. Umgehend wurden alle Grenzübergänge der DDR angewiesen, weder Biermann noch Freunde von ihm, wie die Schriftsteller Heinrich Böll oder Günter Wallraff aus Köln in die DDR einreisen zu lassen.
Sogar der Wortlaut, wie Biermann im Falle eines Wiedereinreiseversuchs abzuweisen wäre, wurde allen Grenzern vorgeschrieben. Die Entscheidung über seine Ausbürgerung verkündeten die staatlich gesteuerten Medien der DDR am Abend des 16. November wie folgt in der Nachrichtensendung AKTUELLE KAMERA:
"Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen."
Staatsoffensive gegen die Kultur
Nicht nur Biermann fühlte sich "wie in die Tonne getreten", mied die Presse und sagte umgehend ein für den Abend geplantes Konzert in Bochum ab.
Die Petition von KüstlerkollegInnen Biermanns 1976, die die SED sehr übel nahm. (© RHG)
Die gesamte Kulturszene der DDR war erschüttert, einige prominente Künstler und Künstlerinnen trafen sich beunruhigt am 17. November in Niederschönhausen im Haus des Schriftstellers Stephan Hermlin, sie formulierten dort eine Protestpetition und baten die Staatsführung "die beschlossenen Maßnahme zu überdenken". Vergebens. Stattdessen erhielten einige von ihnen selber Auftrittverbote, wurden in den nachfolgenden Tagen und Wochen inhaftiert, schikaniert und genötigt, ebenfalls die DDR zu verlassen. Auch viele junge Leute, die eigene Protesterklärungen verfassten, wurden bestraft.
Das deutsch-deutsche Fernsehmagazin "Interner Link: Kennzeichen D" des ZDF, das von 1971 bis 2001 bestand und vierzehntägig mit zeitkritischen Berichten aus Ost und West in die DDR und Bundesrepublik ausstrahlte, hatte Biermann in den Jahren zuvor mehrfach heimlich in seiner Wohnung in der Berliner Chausssestraße gefilmt, weil er öffentlich nirgends auftreten durfte. Sein Konzert in Köln hatten die Journalisten ebenfalls mit der Kamera begleitet. Am 17.11.1976 zeigte Kennzeichen D daraus folgenden Ausschnitt in der Länge von 13 Minuten:
1971 hatte Wolf Biermann erwogen, eine Einladung zu einem Konzert in Göteborg anzunehmen. Schon damals erwägen Partei- und SED-Spitze, Biermanns Rückkehr "zu unterbinden". (© RHG)
Die Petition von KüstlerkollegInnen Biermanns 1976, die die SED sehr übel nahm. (© RHG)
In der Nacht vom 19. auf den 20. November wurde das Konzert in Gänze vom Westfernsehen ausgestrahlt und in der DDR intensiv gesehen. Nun war Biermann noch populärer, als zuvor. Er selbst gab am 19. November nur eine kurze Erklärung ab. Seine Ausbürgerung sei "der panische Schwächeanfall des Politbüros, eine konterrevolutionäre Tollheit", schließlich habe er nichts anderes gesungen "als kritische Solidarität mit der DDR, mit den Menschen, die dort leben." Zwei Wochen später fasste die Kennzeichen D-Redaktion die bitteren Folgen der Ausbürgerung für Künstlerinnen und Künstler, die sich mit Biermann solidarisierten, in einer Schwerpunktsendung zusammen, und zeigte die hilflose Propaganda der SED, die vergeblich versuchte, Biermanns Ausbürgerung zu rechtfertigen und dadurch noch mehr Ansehen verlor:
Sechs Jahre später kam es zu einer kuriosen Ausnahmeregegelung der strengen Aussperrung. Nach einem Bittbrief Biermanns an Erich Honecker durfte der Liedermacher unter Stasi-Bewachung vom Grenzübergang Friedrichstraße über Rahnsdorf nach Erkner fahren, in der S-Bahn von zahlreichen MfS-Mitarbeitenden in Zivil bewacht. Biermanns Ziel war es, ein letztes Mal den todkranken Regimekritiker Robert Havemann drei Tage lang in dessen Haus in Grünheide zu besuchen, wo der prominente Chemiker unter strenger Überwachung der DDR-Geheimpolizei lebte, und in den ersten zwei Jahren nach der Biermann-Ausbürgerung sogar unter Hausarrest stand. Die beiden überzeugten Kommunisten verband eine fast familiäre Freundschaft.
Katja Havemann erstellte dabei ein Video, das Tagesschau und Kennzeichen D drei Tage später ausstrahlen konnten. Es glich einem politischen Vermächtnis des Regimekritikers Havemann, der am 9. April 1982 verstarb. Das Video war gleich nach der Aufnahme auf Schleichwegen außer Landes geschmuggelt worden:
Diese Besuchsmöglichkeit in Grünheide blieb eine Ausnahme und war für Biermann auch kein Anlass, seine kritische Haltung gegenüber der DDR-Führung abzulegen, die er als engstirnige Bonzen und devote Apparatschiks betrachtete, und schon früh in seinem Lied "An die alten Genossen" aufgefordert hatte: "Setzt eurem Werk ein gutes Ende / Indem ihr uns / Den neuen Anfang lasst!". Doch auch in der Bundesrepubik sah (und sieht er) nach wie vor vieles kritisch: Im August 1986, zum 25. Jahrestag des Mauerbaus, führte er für Kennzeichen D in Hamburg eine eindrucksvolle Umfrage über die Perspektiven einer Wiedervereinigung durch:
Weitere sechs Jahre später machte eine neun Künstergeneration in der DDR auf sich aufmerksam. Auch sie bekam umgehend ihre Grenzen von der SED- und Stasi-Führung aufgezeigt, die seit 1976 eine Urangst an den Tag legte, dass ein neuer Biermann heranwachsen könnte. Sie ließ die DDR-Kulturszene gezielt von Spitzeln der Staatssicherheit überwachen, entsolidarisieren und entpolitisieren. Unnachgiebig kritischen Künstlerinnen und Künstlern drohten erneut Zensur, Auftrittsverbote, Verhaftungen und Ausbürgerung, wie Anfang 1988 dem Liedermacher Stephan Krawczyk, dessen Verhaftung am 18. Januar 1988 Wolf Biermann in Kennzeichen D kommentierte:
War die Ausbürgerung von Wolf Biermann der Anfang vom Ende der DDR? Nachzulesen in seiner 2016 veröffentlichten Autobiografie hat das Biermann folgendermaßen beantwortet:
"...Das ist gut getroffen, aber ebenso falsch. Keine DDR konnte kippen, weil sie irgendeinen jungen Mann mit Gitarre ins deutsch-deutsche Exil jagt. Was Deutschland damals erschüttert hat, am meisten die DDR selbst, war nicht die Ausbürgerung, sondern der unerwartete Protest gegen sie...".
Auf "den wütenden Medienkrach im Westen" seien die DDR-Oberen gefasst gewesen, nicht aber auf die spontane Solidarisierung mit ihm durch andere Kulturschaffende und weite Teile der Bevölkerung, was den anfänglichen Aufbruchsgeist in der DDR unter Erich Honecker nachhaltig zum Erliegen brachte. Aussichten auf Liberalisierung gab es nun keine mehr.
Ausgesperrt auch noch am 4. November 1989
Allerdings sollten noch 13 Jahre vergehen, bis der SED-Vorsitzende und Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, im Zuge der Friedlichen Revolution am 17. Oktober 1989 in der DDR abdanken musste. Doch zur ersten genehmigten Großdemonstration für Demokratie und Reformen in Ostberlin am 4. November 1989 durfte auch Biermann trotz Einladung durch die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, dort eine Rede zu halten, nicht einreisen. Erst am 1. Dezember 1989 änderte sich das nach bitteren Interner Link: Beschwerdebriefen Bärbel Bohleys. Wolf Biermann durfte nun bei einem Konzert in Leipzig auftreten, das die Bürgerbewegung NEUES FORUM in einer Messehalle für ihn organisiert hatte. Sie war überfüllt. ERGÄNZEND:
Nachwort: Wolf Biermann im Interview
Nachwort: Wolf Biermann im Interview
FEINDBILDER - Kapitel 13
Interner Link: "Dass die Wahrheit auf den Tisch des Hauses Deutschland kommt". Ein Interview der bpb mit Wolf Biermann über seine Stasiakten, geführt 2006. Mit zahlreichen Fotos und Dokumenten. Darunter ist (bei Minute 37'40) auch ein von Erich Honecker und Erich Mielke abgezeichneter MfS-Vermerk, der bereits 1971 eine Ausbürgerung Biermanns aus der DDR vorsah. Er ist im Archiv der Berliner Havemann-Gesellschaft archiviert. Länge: 50'
Außerdem: Externer Link: "Wolf Biermann über Putin: Am ersten Tag des Dritten Weltkriegs", Deutschland Archiv vom 25.3.2022.
Zitierweise: Holger Kulick, "Einer der Anfänge vom Ende der DDR: Die Biermann-Ausbürgerung 1976", in: Deutschland Archiv, 15.11.2021, Link: Interner Link: www.bpb.de/343310.
Zur Erläuterung der Video-Quelle "Kennzeichen D":
- Joachim Jauer, Interner Link: "D wie Dialog". Die Geschichte von Kennzeichen D. Deutschland Archiv vom 7.9.2021
Zur Vertiefung: Rechtsstaatlickeit als Ziel der Bürgerbewegung in der DDR
- Gerd Poppe, Interner Link: Unrecht, Recht, Gerechtigkeit. Deutschland Archiv vom 12.11.2021
- Stefan Wolle, Interner Link: "Wir waren eine verschwindende Minderheit". Ein Nachruf auf den Bürgerrechtler Reinhard Schult. Deutschland Archiv vom 1.10.2021.
Nachwort: Wolf Biermann im Interview
Nachwort: Wolf Biermann im Interview
FEINDBILDER - Kapitel 13
Vgl. Wolf Biermann, Warte nicht auf bessere Zeiten, Berlin 2016, S. 332
ebd., S. 339/340
ebd., S. 362
ebd., S. 333
| Article | Holger Kulick | 2023-05-19T00:00:00 | 2021-11-10T00:00:00 | 2023-05-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/343310/einer-der-anfaenge-vom-ende-der-ddr-die-biermann-ausbuergerung-1976/ | Wie es am 16. November 1976 zur Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR kam und welche Folgen dies hatte. Fünf historische Filmbeiträge. | [
"Wolf Biermann",
"Ausbürgerung",
"DDR",
"Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat",
"Peter Huchel",
"EAPC",
"Eurocontrol",
"Joachim Jauer",
"Stephan Krawczyk",
"Kennzeichen D",
"DDR"
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IT-Sicherheit im US-Wahlkampf | USA | bpb.de | Wahlen werden weltweit immer digitaler. Das bietet neben vielen Vorteilen auch neue Herausforderungen: Am Beispiel der US-Präsidentschaftswahl 2016 lässt sich gut nachvollziehen, wie mit Interner Link: Desinformation und Interner Link: Cyberoperationen versucht wurde, Einfluss auf die Wahl zu nehmen. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 haben die USA sowohl auf Regierungsebene als auch auf zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Ebene Maßnahmen ergriffen, um sich gegen die Wirksamkeit von Cyberoperationen und Interner Link: Desinformation zu schützen.
Cyberoperationen und Desinformation im US-Präsidentschafts-wahlkampf 2016
Im Vorfeld der letzten US-Präsidentschaftswahlen 2016 mischte sich Russland mittels Cyberangriffen in den Wahlkampf ein: Russland griff 2015 und 2016 mittels solcher Cyberangriffe die Demokratische Partei auf Bundesebene (Democratic National Committee, DNC) an. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DNC schickte der russische Geheimdienst innerhalb von fünf Tagen dutzende Interner Link: Spear-Phishing-E-Mails an die Arbeits- und persönlichen Konten. Auch betroffen waren freiwillige Unterstützerinnen und Unterstützer der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton. Ziel war es, in deren Computersysteme einzudringen, um mithilfe der gestohlenen Informationen, unter anderem Passwörter, in die Netzwerke des DNC einzudringen. So erhielt der russische Geheimdienst auch Zugriff auf die E-Mails von Clintons Wahlkampfchef, John Podesta. Interner Link: [1] Dort gewonnene Informationen wurden veröffentlicht, was für die Demokraten hochbrisant war. Denn die E-Mails heizten bestehende Zweifel darüber an, wie neutral das DNC bei der Wahl zwischen der Präsidentschafts-Anwärterin Clinton und Anwärter Bernie Sanders war. Die Vorsitzende des DNC trat in der Folge zurück. Interner Link: [2]
Ausspähung: Datenbanken der Wählerinnen und Wähler
Cyberoperationen dienen außerdem dazu, Schwachstellen von IT-Systemen auszunützen, um an laufende Kommunikation oder gespeicherte Daten zu kommen. Interner Link: [3]
Dieselbe russische Geheimdiensteinheit, die für die Cyberangriffe auf das DNC verantwortlich war, zielte auch auf US-Wahlbüros sowie US-amerikanische Hersteller von Wahlgeräten ab. Etwa im Juni 2016 kompromittierte der russische Militärnachrichtendienst GRU das Computernetz des Staates Illinois und erhielt – durch eine Sicherheitslücke auf der Webseite – Zugriff auf eine Datenbank mit Informationen zu Millionen registrierter Wählerinnen und Wähler in Illinois. Interner Link: [4] Zudem gab der Gouverneur in Florida an, dass auch zwei Bezirke in seinem Staat betroffen waren und auch dort ein Zugriff auf jene Daten möglich war. Interner Link: [5] Verzeichnisse über Stimmberechtigte sind wichtig für die Wahl, weil eine Veränderung der Daten dazu führen kann, dass Wählerinnen und Wähler daran gehindert werden, ihre Stimme abzugeben oder dies erst nach einer erneuten Verifizierung tun können. In diesem Fall wurden allerdings keine Änderung der Daten oder Abstimmungen belegt. Allein der Versuch des Eindringens kann jedoch schon problematisch sein, da dadurch die Legitimation der Ergebnisse der Wahlen angezweifelt werden könnte. Interner Link: [6]
Soziale Medien: Hetzerische Inhalte und gefälschte Accounts
Ein Dreh- und Angelpunkt russischer Aktivitäten in den sozialen Medien in den USA war die Interner Link: Internet Research Agency (IRA). Dieses Unternehmen steuerte laut US-Regierungsermittlungen gefälschte Social-Media-Accounts auf Facebook, YouTube, Twitter, Instagram und Tumblr, um unter anderem hetzerische Botschaften zu gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen zu verbreiten. Interner Link: [7] Oftmals gaben sich IRA-Mitarbeitende dabei als US-amerikanische Bürgerinnen und Bürger oder gemeinnützige Vereine aus.
Welche Auswirkungen diese Aktivitäten auf die Wahl hatten, ist umstritten. Einige Analysen sprechen von einer amateurhaften Kampagne Interner Link: [8] und verweisen darauf, dass Ausmaß und Auswirkungen von (russischer) Desinformation nicht klar erfasst sind Interner Link: [9a]. Andere betonen, dass Millionen US-Amerikanerinnen und Amerikaner mit IRA-Inhalten in Kontakt gekommen sind, die oft dazu dienen sollten, etwa Minderheiten von der Wahl abzuhalten oder Streit unter den Unterstützerinnern und Unterstützern der Demokraten anzustacheln Interner Link: [9b]. Es lässt sich in jedem Fall sagen, dass es der IRA gelang, ihre Inhalte über kleine Gruppen im Netz zu streuen. Auch das durch die Berichterstattung vermittelte Gefühl einer "Bedrohung von außen" durch die IRA könnte letztendlich dazu beigetragen haben, Misstrauen in den Wahlprozess zu streuen.
Reaktionen und Schutzmaßnahmen in den USA, 2016-2020
Die Einmischung in die US-Wahlen 2016 war ein Wendepunkt in einer langjährigen Diskussion um die Sicherheit von Wahlen. In der Folge wurden in den USA diverse Maßnahmen getroffen. Diese zeigen, dass der Schutz von Wahlen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, denn sie umfassen Maßnahmen des Staates, der Wirtschaft, der Wissenschaft sowie der Zivilgesellschaft.
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 zeichnete sich ab, wie schwierig es ist, Desinformation und Cyberoperationen in den Griff zu bekommen. Interner Link: [10] Ein Faktor ist, dass sich der Wahlkampf aufgrund der Covid-19-Pandemie noch stärker ins Internet verlagert hat. Das bietet weitere Angriffsflächen: Einerseits werden Kampagnen online geplant und umgesetzt. Andererseits werden aber auch weitaus mehr Menschen als üblich von der Briefwahl Gebrauch machen. Gerade zur Briefwahl und den Wahlmodalitäten in der Pandemie kursierte bereits Monate vor der Wahl Desinformation – diese stammte allerdings nicht vornehmlich von ausländischen Akteurinnen und Akteuren, sondern aus dem Weißen Haus selbst. Hierbei ist die Gefahr vor allem, dass Bürgerinnen und Bürger, das Vertrauen in den Wahlprozess oder das Endergebnis verlieren.
Die zentrale Frage ist, wie die Widerstandsfähigkeit von Parteien, sozialen Medien, Bürgerinnen und Bürgern und auch der IT-Infrastruktur so verbessert werden kann, dass die Wirkung von Desinformation und Cyberoperationen abgeschwächt wird. Einige Maßnahmen werden im Folgenden beispielhaft aufgezeigt. Wie gut die Schutzmaßnahmen und Reaktionen wirken und ob sie ausreichen, wird sich erst nach der Wahl zeigen.
Konsequenzen russischer Einflussnahme auf den US-Wahlkampf
Staat
Legislative
Gesetze zur Finanzierung von IT-Sicherheitsmaßnahmen
Der Kongress stellte insgesamt 805 Millionen US-Dollar für Verbesserungen der Infrastruktur der Wahlsicherheit bereit. Die US-Bundesstaaten entscheiden darüber, wie das Geld verwendet wird. Interner Link: [11] Expertinnen und Experten warnen jedoch davor, dass das Geld nicht ausreiche, um die IT-Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten. Ein akutes Problem stellen beispielsweise Wahlgeräte dar, die keine unabhängige Überprüfung der Wahlergebnisse zulassen und die erwiesenermaßen gehackt werden können. Interner Link: [12]
Anhörungen
Es gab mehrere Anhörungen in parlamentarischen Ausschüssen, etwa zur Sicherung der US-Wahlinfrastruktur oder zum "Schutz des politischen Diskurses" Interner Link: [13] und der Integrität der Wahl Interner Link: [14], um die Problematik nachvollziehbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu identifizieren.
Beauftragung von Studien
Der Kongress gab Studien zur Wahlsicherheit in Auftrag. Hier sticht insbesondere die überparteiliche Untersuchung des Geheimdienstausschusses des US-Senats hervor, die in fünf Bänden detailliert die Einflussnahme Russlands aufarbeitet. Interner Link: [15] Auch Studien speziell zu Desinformation in sozialen Netzwerken wurden veröffentlicht. Interner Link: [16]
Exekutive
Sonderermittlung
Zwischen Mai 2017 und März 2019 untersuchte der Sonderermittler Robert Mueller die Einflussnahme Russlands im US-Wahlkampf 2016. Diese Ermittlung wurde vom US-Justizministerium beauftragt, nachdem hunderte Abgeordnete eine solche Untersuchung gefordert hatten. Interner Link: [17] Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass es eindeutige und nachweisliche Versuche Russlands gab, Einfluss auf die Wahl und den Meinungsbildungsprozess in den USA zu nehmen.
IT-Sicherheitschecks und Öffentlichkeitsarbeit
Durch Tests von staatlichen und lokalen Wahlsystemen, die durch das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) durchgeführt wurden, konnten verschiedene Schwachstellen aufgedeckt werden, insbesondere auf lokaler Ebene. Einige Regierungsangestellte teilten zum Beispiel immer noch Passwörter und andere Anmeldeinformationen miteinander oder nutzten Standardkennwörter. Um auf die Gefahr von Cyberangriffen aufmerksam zu machen, warnt das DHS u.a. auf Twitter vor Angreiferinnen und Angreifer und weist auf Möglichkeiten hin, sich davor zu schützen Interner Link: [18].
Verordnungen
Einige Verordnungen befassen sich mit Wahlbeeinflussung, beispielsweise die von Präsident Donald J. Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung (executive order), welche Sanktionen gegen jede Nation oder Einzelperson vorsieht, die Einmischungen in US-Wahlen autorisiert, leitet oder unterstützt. Interner Link: [19]
Cyberoperationen des US-Militärs
Das US-Militär (US Cyber Command) nutzte 2018 Cyberoperationen, um den Internetzugang der IRA zu blockieren und so die Verbreitung von Desinformation zu stoppen. Interner Link: [20]
Außenpolitische Sanktionen
Seit 2015 können auch auf diplomatischer Ebene Sanktionen erfolgen und beispielsweise Personal ausländischer Botschaften oder Organisationen ausgewiesen werden. Interner Link: [21] Das US-Finanzministerium (Department of the Treasury) hat zudem Sanktionen gegen russische Staatsangehörige verhängt, denen vorgeworfen wird, für die IRA zu arbeiten. Interner Link: [22]
Judikative
Anklagen
Das US-Justizministerium hat zwölf russische Geheimdienstoffiziere angeklagt, bei den US-Wahlen 2016 Daten von Beamtinnen und Beamten der Demokratischen Partei gehackt zu haben. Interner Link: [23] Zudem wurden die IRA und einige mutmaßliche Mitarbeitende angeklagt. Interner Link: [24]
Parteien
IT-Sicherheitsexpertise
Das DNC setzte einen vierköpfigen Beirat für Cybersicherheit ein Interner Link: [25], schaffte Stellen für IT-Sicherheitsbeauftragte Interner Link: [26] und führte Trainings und Simulationen Interner Link: [27] durch. Außerdem wurde eine Checkliste mit Sicherheitshinweisen Interner Link: [28] entwickelt. Wahlkampagnen beschäftigen nun interne Spezialistinnen und Spezialisten für Cybersicherheit, so auch die Kampagnen von Joe Biden und Donald Trump im Wahlkampf 2020. Interner Link: [29] Im Vorhinein waren sie auf externe Beraterinnen und Berater angewiesen. Interner Link: [30]
Privatsektor
Einschränkungen von Werbeanzeigen und Einführung von Werbearchiven
In den USA können Werbeanzeigen nicht mehr in ausländischen Währungen bezahlt werden. Es gibt zudem ein öffentlich einsehbares Archiv aller politischen Werbeanzeigen. Interner Link: [31]
Zusatzinformationen sichtbar machen
Auch große Tech-Konzerne haben in den letzten Jahren personell und technologisch investiert, um gefälschte Social-Media-Accounts rascher zu entdecken. Facebook und Twitter ergänzen außerdem einige politische Posts mit eigenen Informationen, Links und weiterführenden Quellen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, wie strikt die Plattformen ihre eigenen Regeln gegen Desinformation und Hetze durchsetzen, gibt es noch nicht.
Analyse und Warnungen vor versuchten Angriffen
Private Firmen, z. B. Microsoft und Crowdstrike, analysieren Angriffe und warnen während des Wahlkampfes vor versuchten Angriffen. Außerdem geben sie Empfehlungen für IT-Sicherheitsmaßnahmen ab. Interner Link: [32]
Wissenschaft
Studien und Trainings zur IT-Sicherheit
Das parteiübergreifende Defending Digital Democracy Project (D3P) des Belfer Centers der Harvard Universität arbeitet seit 2017 mit Wahlbeamtinnen und Beamten im ganzen Land zusammen, um sie beim Aufbau von Schutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Cyber- und Desinformationsangriffe zu unterstützen. Interner Link: [33]
Zivilgesellschaft
Analysen und Empfehlungen zur Wahlsicherheit
Einige zivilgesellschaftliche Organisationen haben Nachforschungen angestellt und zentrale Personen in der Wahlverwaltung befragt, um die Bedrohungen der Cybersicherheit besser zu verstehen. Danach wurden Maßnahmen entwickelt, die von Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten und anderen bei künftigen Wahlen implementiert werden können Interner Link: [34]. Außerdem wurden Studien veröffentlicht, die Angriffstaktiken und Schutzmaßnahmen evaluieren Interner Link: [35].
Glossar
Cyberoperation
Eine Cyberoperation ist der gezielte Einsatz und die Veränderung von digitalem Code durch Individuen, Gruppen, Organisationen oder Staaten unter Nutzung von digitalen Netzwerken, Systemen und verbundenen Geräten [...] um Informationen zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Ziel ist es, konkrete Akteurinnen und Akteure zu schwächen oder zu beschädigen. Interner Link: [36]
Desinformation
Desinformation meint Inhalte, die nachweislich falsch oder irreführend sind und eingesetzt werden, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen und/oder anderen zu schaden. Interner Link: [37]
Internet Research Agency (IRA)
Dieses Unternehmen sitzt in Sankt Petersburg und steht laut US-Sicherheitsdiensten in Verbindung mit der russischen Regierung. Interner Link: [38]
IRA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden beschuldigt, im US-Wahlkampf gefälschte Social-Media-Konten betrieben zu haben. Das US-Justizministerium klagte das Unternehmen deshalb 2018 an. Interner Link: [39]
Spear-Phishing
Spear-Phishing ist ein Betrugsversuch, bei dem die/der Angreifer/-in die Opfer davon zu überzeugen versucht, dass die Kommunikation von einer vertrauenswürdigen Quelle kommt. Ziel ist es, so an bestimmte Daten zu kommen. Interner Link: [40]
Leaken
Leaken ist eine Taktik, bei der vertrauliche Informationen über eine Zielperson herausgefunden und veröffentlicht werden und zielt vor allem auf die Vertraulichkeit von Daten ab. Ziel ist es, an schädigende Informationen über eine Person zu gelangen und diese dann zu veröffentlichen. Interner Link: [41]
Fußnoten
1 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 2 Edward-Isaac Dovere and Gabriel Debenedetti. (2016). Externer Link: Heads roll at the DNC. Politico. 3 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 4 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election p.36. 5 Makena Kelly. (2019). Externer Link: Russians hacked voting databases in two Florida counties in 2016 governor says. 6 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 7 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 8 Thomas Rid. (2018). Active Measures: The Secret History of Disinformation and Political Warfare. Kapitel 30. Farrar, Straus and Giroux.; Aaron Maté. New Studies Show Pundits Are Wrong About Russian Social-Media Involvement in US Politics. 9a Gabrielle Lim. (2020). Externer Link: The Risks of Exaggerating Foreign Influence Operations and Disinformation. 9b Philip N. Howard et al. (2018). Externer Link: "The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012-2018"; Renee DiResta et al. (2018). Externer Link: "The Disinformation Report: The Tactics & Tropes of the Internet Research Agency". 10 Süddeutsche. (2020). Externer Link: Zahlreiche Hackerangriffe auf US-Wahlkampfteams. 11 Miles Parks. (2019). Externer Link: Congress Allocates $425 Million For Election Security In New Legislation. 12 Eric Geller et al (2019). Externer Link: The scramble to secure America’s voting machines. Politico. 13 Subcommittees National Security (116th Congress). (2019). Externer Link: Securing U.S. Election Infrastructure and Protecting Political Discourse. The Committee on Oversight and Reform. 14 Subcommittee of Cybersecurity Infrastructure Protection, & Innovation (116th Congress). (2020). Externer Link: Secure, Safe, and Auditable: Potecting the integrity of the 2020 elections. 15 Select Committee on Intelligence United States Senate. (2019). Externer Link: Report of the Select of Committee on Intelligence United States Senate On Russian Active Measures Campaigns and Interference in the 2016 U.S. Election. 16 Renee DiResta u. a.(2019). Externer Link: The Tactics & Tropes of the Internet Research Agency; Howard u. a. 2018). Externer Link: The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012-2018. 17 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 18 Chris Krebs. (2020). Externer Link: Tweet. 19 Executive Office of the President. (2018). Externer Link: Imposing Certain Sanctions in the Event of Foreign Interference in a United States Election. 20 Ellen Nakashima. (2019). Externer Link: U.S. Cyber Command operation disrupted Internet access of Russian troll factory on day of 2018 midterms. 21 U.S. Department of State. (2020). Externer Link: Cyber Sanctions. 22 U.S. Department of the Treasury. (2019). Externer Link: Treasury Targets Assets of Russian Financier who Attempted to Influence 2018 U.S. Elections. 23 Justice Departement. (2018). Externer Link: Case 1:18-cr-00215-ABJ Document 1 Filed 07/13/18. 24 Dan Mangan und Mike Calia. (2018). Externer Link: Special counsel Mueller: Russians conducted ‘information warfare’ against US during election to help Donald Trump win. 25 Noland D. McCaskill. (2016). Externer Link: DNC creates cybersecurity advisory board following hack. 26 Joe Perticone. (2018). Externer Link: The Democratic National Committee hired a Yahoo executive to beef up its cyber security. 27 Tim Starks. (2020). Externer Link: DNC ramps up 2020 cyber protections, NRCC falls victim to hackers. 28 Sean Lyngaas. (2019). Externer Link: DNC updates cybersecurity advice to protect candidates from hackers in 2020. 29 Eric Geller. (2020). Externer Link: Biden campaign taps Obama administration alum to lead cybersecurity team. 30 Michael Riley. (2016). Externer Link: DNC Ignored Cybersecurity Advice that May Have Prevented Recent Breach. 31 Für Kritik hieran, siehe u.a. Mozilla. (2019). Externer Link: Facebook and Google: This is What an Effective Ad Archive API Looks Like. 32 New York Times. (2020). Externer Link: Russian Intelligence Hackers Are Back, Microsoft Warns, Aiming at Officials of Both Parties. 33 Belfer Center. (2020). Externer Link: Defending Digital Democracy Project Advances Election Security. 34 Center for Democracy and Technology. (2020). Externer Link: Election Security Ressources. 35 U.a. von German Marshall Fund. (2020). Externer Link: Alliance For Securing Democracy.; Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 36 Sven Herpig. (2016). Externer Link: Anti-War and the Cyber Triangle: Strategic Implications of Cyber Operations and Cyber Security for the State. 37 European Commission, COM. (2018). 794 final: Report on the implementation of the Communication ‚Externer Link: Tackling online disinformation: a European Approach, 2–3.; zur Definition siehe auch Alexander Sängerlaub, Miriam Meier, und Wolf-Dieter Rühl. (2018). Externer Link: Fakten statt Fakes. Verursacher, Verbreitungswege und Wirkungen von Fake News im Bundestagswahlkampf 2017. 10–13.; Alexandre Alaphilippe. (2020). Externer Link: Adding a ‚D‘ to the ABC Disinformation Framework. 38 National Intelligence Council. (2017). Externer Link: Background to Assessing Russian Activities and Intentions in Recent US Elections: The Analytic Process and Cyber Incident Attribution. 39 Dan Mangan und Mike Calia. (2018). Externer Link: Special counsel Mueller: Russians conducted ‘information warfare’ against US during election to help Donald Trump win. 40 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 41 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften.
Staat
Legislative
Gesetze zur Finanzierung von IT-Sicherheitsmaßnahmen
Der Kongress stellte insgesamt 805 Millionen US-Dollar für Verbesserungen der Infrastruktur der Wahlsicherheit bereit. Die US-Bundesstaaten entscheiden darüber, wie das Geld verwendet wird. Interner Link: [11] Expertinnen und Experten warnen jedoch davor, dass das Geld nicht ausreiche, um die IT-Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten. Ein akutes Problem stellen beispielsweise Wahlgeräte dar, die keine unabhängige Überprüfung der Wahlergebnisse zulassen und die erwiesenermaßen gehackt werden können. Interner Link: [12]
Anhörungen
Es gab mehrere Anhörungen in parlamentarischen Ausschüssen, etwa zur Sicherung der US-Wahlinfrastruktur oder zum "Schutz des politischen Diskurses" Interner Link: [13] und der Integrität der Wahl Interner Link: [14], um die Problematik nachvollziehbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu identifizieren.
Beauftragung von Studien
Der Kongress gab Studien zur Wahlsicherheit in Auftrag. Hier sticht insbesondere die überparteiliche Untersuchung des Geheimdienstausschusses des US-Senats hervor, die in fünf Bänden detailliert die Einflussnahme Russlands aufarbeitet. Interner Link: [15] Auch Studien speziell zu Desinformation in sozialen Netzwerken wurden veröffentlicht. Interner Link: [16]
Exekutive
Sonderermittlung
Zwischen Mai 2017 und März 2019 untersuchte der Sonderermittler Robert Mueller die Einflussnahme Russlands im US-Wahlkampf 2016. Diese Ermittlung wurde vom US-Justizministerium beauftragt, nachdem hunderte Abgeordnete eine solche Untersuchung gefordert hatten. Interner Link: [17] Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass es eindeutige und nachweisliche Versuche Russlands gab, Einfluss auf die Wahl und den Meinungsbildungsprozess in den USA zu nehmen.
IT-Sicherheitschecks und Öffentlichkeitsarbeit
Durch Tests von staatlichen und lokalen Wahlsystemen, die durch das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) durchgeführt wurden, konnten verschiedene Schwachstellen aufgedeckt werden, insbesondere auf lokaler Ebene. Einige Regierungsangestellte teilten zum Beispiel immer noch Passwörter und andere Anmeldeinformationen miteinander oder nutzten Standardkennwörter. Um auf die Gefahr von Cyberangriffen aufmerksam zu machen, warnt das DHS u.a. auf Twitter vor Angreiferinnen und Angreifer und weist auf Möglichkeiten hin, sich davor zu schützen Interner Link: [18].
Verordnungen
Einige Verordnungen befassen sich mit Wahlbeeinflussung, beispielsweise die von Präsident Donald J. Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung (executive order), welche Sanktionen gegen jede Nation oder Einzelperson vorsieht, die Einmischungen in US-Wahlen autorisiert, leitet oder unterstützt. Interner Link: [19]
Cyberoperationen des US-Militärs
Das US-Militär (US Cyber Command) nutzte 2018 Cyberoperationen, um den Internetzugang der IRA zu blockieren und so die Verbreitung von Desinformation zu stoppen. Interner Link: [20]
Außenpolitische Sanktionen
Seit 2015 können auch auf diplomatischer Ebene Sanktionen erfolgen und beispielsweise Personal ausländischer Botschaften oder Organisationen ausgewiesen werden. Interner Link: [21] Das US-Finanzministerium (Department of the Treasury) hat zudem Sanktionen gegen russische Staatsangehörige verhängt, denen vorgeworfen wird, für die IRA zu arbeiten. Interner Link: [22]
Judikative
Anklagen
Das US-Justizministerium hat zwölf russische Geheimdienstoffiziere angeklagt, bei den US-Wahlen 2016 Daten von Beamtinnen und Beamten der Demokratischen Partei gehackt zu haben. Interner Link: [23] Zudem wurden die IRA und einige mutmaßliche Mitarbeitende angeklagt. Interner Link: [24]
Parteien
IT-Sicherheitsexpertise
Das DNC setzte einen vierköpfigen Beirat für Cybersicherheit ein Interner Link: [25], schaffte Stellen für IT-Sicherheitsbeauftragte Interner Link: [26] und führte Trainings und Simulationen Interner Link: [27] durch. Außerdem wurde eine Checkliste mit Sicherheitshinweisen Interner Link: [28] entwickelt. Wahlkampagnen beschäftigen nun interne Spezialistinnen und Spezialisten für Cybersicherheit, so auch die Kampagnen von Joe Biden und Donald Trump im Wahlkampf 2020. Interner Link: [29] Im Vorhinein waren sie auf externe Beraterinnen und Berater angewiesen. Interner Link: [30]
Privatsektor
Einschränkungen von Werbeanzeigen und Einführung von Werbearchiven
In den USA können Werbeanzeigen nicht mehr in ausländischen Währungen bezahlt werden. Es gibt zudem ein öffentlich einsehbares Archiv aller politischen Werbeanzeigen. Interner Link: [31]
Zusatzinformationen sichtbar machen
Auch große Tech-Konzerne haben in den letzten Jahren personell und technologisch investiert, um gefälschte Social-Media-Accounts rascher zu entdecken. Facebook und Twitter ergänzen außerdem einige politische Posts mit eigenen Informationen, Links und weiterführenden Quellen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, wie strikt die Plattformen ihre eigenen Regeln gegen Desinformation und Hetze durchsetzen, gibt es noch nicht.
Analyse und Warnungen vor versuchten Angriffen
Private Firmen, z. B. Microsoft und Crowdstrike, analysieren Angriffe und warnen während des Wahlkampfes vor versuchten Angriffen. Außerdem geben sie Empfehlungen für IT-Sicherheitsmaßnahmen ab. Interner Link: [32]
Wissenschaft
Studien und Trainings zur IT-Sicherheit
Das parteiübergreifende Defending Digital Democracy Project (D3P) des Belfer Centers der Harvard Universität arbeitet seit 2017 mit Wahlbeamtinnen und Beamten im ganzen Land zusammen, um sie beim Aufbau von Schutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Cyber- und Desinformationsangriffe zu unterstützen. Interner Link: [33]
Zivilgesellschaft
Analysen und Empfehlungen zur Wahlsicherheit
Einige zivilgesellschaftliche Organisationen haben Nachforschungen angestellt und zentrale Personen in der Wahlverwaltung befragt, um die Bedrohungen der Cybersicherheit besser zu verstehen. Danach wurden Maßnahmen entwickelt, die von Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten und anderen bei künftigen Wahlen implementiert werden können Interner Link: [34]. Außerdem wurden Studien veröffentlicht, die Angriffstaktiken und Schutzmaßnahmen evaluieren Interner Link: [35].
Eine Cyberoperation ist der gezielte Einsatz und die Veränderung von digitalem Code durch Individuen, Gruppen, Organisationen oder Staaten unter Nutzung von digitalen Netzwerken, Systemen und verbundenen Geräten [...] um Informationen zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Ziel ist es, konkrete Akteurinnen und Akteure zu schwächen oder zu beschädigen. Interner Link: [36]
Desinformation meint Inhalte, die nachweislich falsch oder irreführend sind und eingesetzt werden, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen und/oder anderen zu schaden. Interner Link: [37]
Dieses Unternehmen sitzt in Sankt Petersburg und steht laut US-Sicherheitsdiensten in Verbindung mit der russischen Regierung. Interner Link: [38]
IRA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden beschuldigt, im US-Wahlkampf gefälschte Social-Media-Konten betrieben zu haben. Das US-Justizministerium klagte das Unternehmen deshalb 2018 an. Interner Link: [39]
Spear-Phishing ist ein Betrugsversuch, bei dem die/der Angreifer/-in die Opfer davon zu überzeugen versucht, dass die Kommunikation von einer vertrauenswürdigen Quelle kommt. Ziel ist es, so an bestimmte Daten zu kommen. Interner Link: [40]
Leaken ist eine Taktik, bei der vertrauliche Informationen über eine Zielperson herausgefunden und veröffentlicht werden und zielt vor allem auf die Vertraulichkeit von Daten ab. Ziel ist es, an schädigende Informationen über eine Person zu gelangen und diese dann zu veröffentlichen. Interner Link: [41]
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-05T00:00:00 | 2020-10-15T00:00:00 | 2022-02-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/317184/it-sicherheit-im-us-wahlkampf/ | Wie rüsten sich die USA gegen Desinformation und Cyberoperationen im Wahlkampf? Ein Überblick über die Lektionen aus der russischen Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahlen 2016. | [
"US-Wahlkampf",
"US-Präsidentschaftswahl",
"USA",
"Wahlkampf"
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Rücküberweisungen und ihr Beitrag zur Entwicklung in den Herkunftsländern | Migration und Entwicklung | bpb.de | Die weltweit beobachteten Rücküberweisungen (Englisch: remittances) betrugen 2015 etwa 600 Milliarden US-Dollar. Hinzu kommen erhebliche Zahlungen mittels informeller Kanäle wie dem Hawala-System, die nur schwer messbar und daher nicht genau zu quantifizieren sind. Mindestens 440 Milliarden US-Dollar an Rücküberweisungen flossen in Entwicklungsländer.
Die größten Summen wurden nach Indien, China, in die Philippinen, Interner Link: Mexiko und geschickt. Dies liegt unter anderem daran, dass diese Länder eine hohe absolute Zahl von Emigranten haben, Indien und Mexiko jeweils geschätzte 13 Millionen. Anteilig an der Wirtschaftsleistung spielen Interner Link: Rücküberweisungen jedoch in kleineren Ländern, aus denen ein großer Anteil der Erwachsenenbevölkerung emigriert, eine entscheidendere Rolle. In Tadschikistan, Kirgistan, Nepal, Tonga und Moldawien machen Rücküberweisungen sogar mehr als 25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus.
Die umfangreichsten Rücküberweisungen erfolgen zumeist aus großen oder besonders wohlhabenden Volkswirtschaften, in denen viele Arbeitsmigranten leben. So liegen die USA deutlich vor den darauf folgenden Ländern Russland, Schweiz, Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Warum Rücküberweisungen?
Ein zentrales Motiv für Rücküberweisungen ist die Verbesserung der Einkommenssituation der eigenen Familie in Höhe und Stabilität. Letzteres gilt insbesondere für ländliche Haushalte in agrarisch geprägten Entwicklungsländern, die sowohl von an die Erntezeit gekoppelten Einkommen als auch von jährlichen Einkommensschwankungen (z.B. durch Dürren) abhängig sind. Um höhere Einkommen oder finanzielle Sicherheit zu erzielen, kann schon eine Migration innerhalb des eigenen Landes, zum Beispiel in die nächste Stadt, ausreichen. Solche internen Rücküberweisungen sind in den oben genannten Zahlen nicht enthalten. Der stete Zufluss von Einkommen aus Rücküberweisungen sorgt dafür, dass der Konsum essenzieller Güter wie Nahrung oder Kleidung, aber auch Bildungsausgaben nicht mehr an Unwägbarkeiten, wie den Ernteerfolg, geknüpft ist. Dies kommt einer Versicherung gleich und lässt sich beispielhaft nach Naturkatastrophen beobachten, wenn die an den betroffenen Ort gesendeten Rücküberweisungen typischerweise ansteigen.
Migranten sind dabei vor allem am Wohl der Empfänger ihrer Transfers interessiert. Es gibt aber auch weitere Motive für Rücküberweisungen: Beispielsweise können Migranten damit ein Familienmitglied, das zur Pflege der Eltern am Herkunftsort zurückbleibt, für seine Tätigkeit entlohnen.
Sind Haushalte nicht in der Lage, die Migration mehrerer Familienmitglieder zu finanzieren, so wird oft in den Weggang des am besten geeignet erscheinenden Familienmitglieds investiert. Rücküberweisungen stellen dann einen Investitionsertrag dar und Zahlungen werden unter anderem genutzt, um Schulden abzubezahlen, die zur Finanzierung der Migration aufgenommen wurden.
Effekte von Rücküberweisungen
Nicht nur die Motive finanzieller Rücküberweisungen sind vielfältig, sondern auch ihre Wirkungen. Rücküberweisungen reduzieren Armut und ermöglichen so beispielsweise Kindern einen längeren Schulbesuch. Sie können das fehlende Startkapital für eine unternehmerische Tätigkeit im Herkunftsland bilden und dann im Idealfall sogar zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. Rücküberweisungen verbessern somit in erster Linie die Situation der Familien der Migranten, vor allem im Vergleich zu Familien, die keine Geldtransfers aus dem Ausland erhalten. Rücküberweisungen können daher dazu beitragen, dass die Ungleichheit innerhalb der Gemeinschaft wächst, vor allem dann, wenn nicht hauptsächlich die ärmeren Teile der Bevölkerung migrieren (die eine Abwanderung häufig erst gar nicht finanzieren können und dementsprechend auch nicht von Rücküberweisungen profitieren). Global gesehen nimmt Ungleichheit zwischen Ländern aber durch Rücküberweisungen ab.
In vielen Entwicklungsländern, in denen finanzielle Mittel der öffentlichen Hand extrem knapp sind, gibt es Gruppen von Migranten, die gemeinsam und oft sogar in Vereinigungen organisiert für bestimmte Zwecke Zahlungen in ihre Herkunftsorte oder -regionen leisten. Derartige kollektive Rücküberweisungen dienen üblicherweise der Verbesserung lokaler öffentlicher Güter, insbesondere lokaler Infrastruktur, wie z.B. Schulen oder auch religiöser Gebäude. So kann neben den Familien der Migranten ein breiterer Kreis potenzieller Begünstigter auch direkt von Rücküberweisungen profitieren. Ungleichheit im Zugang zu einigen öffentlichen Gütern kann so reduziert werden, doch die Nachhaltigkeit einer Finanzierung durch kollektive Rücküberweisungen ist nicht immer gegeben.
Neben finanziellen Rücküberweisungen gibt es auch sogenannte soziale Rücküberweisungen, die sich auf die Herkunftsländer auswirken. Durch neue Erfahrungen im Ausland können sich Informationen, Wissen, Ansichten und Werte von Migranten verändern. Bei einer Rückkehr ins Herkunftsland oder auch durch den Kontakt mit Familie und Freunden ist es möglich, dass dies einen politischen und sozialen Wandel in den Heimatgemeinden von Migranten auslöst. So kann Migration beispielsweise Korruption verringern, die politische Teilhabe fördern oder politischen Wandel begünstigen. Auch das Familienbild, das Bild der Frau und die erwünschte Kinderzahl werden so in manchen Fällen beeinflusst. Studien zeigen, dass Migration und Rücküberweisungen so zu einem langfristigen gesellschaftlichen Wandel beitragen.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration und Entwicklung. Mehr zum Thema
Interner Link: Rücküberweisungen – Brückenschlag zwischen Migration und Entwicklung? Interner Link: Flucht, Migration und Entwicklung: Wege zu einer kohärenten Politik Interner Link: Rücküberweisungen und ihr Beitrag zur Entwicklung in den Herkunftsländern Interner Link: Interview mit Stefan Rother: "Migration ist ein globales Thema, auf das es auch globale Antworten geben sollte." Interner Link: Landgrabbing: Wie der Hunger nach Boden die Welternährung bedroht Interner Link: Interview mit Roman Herre: "Viele Menschen verlassen den ländlichen Raum, weil sie dort ihrer Zukunft beraubt werden."
Quellen / Literatur
Barsbai, T./Rapoport, H./Steinmayr, A./Trebesch, C. (2017): The Effect of Labor Migration on the Diffusion of Democracy: Evidence from a Former Soviet Republic. American Economic Journal: Applied Economics, Jg. 9, Nr. 3, S.36-69.
Beine, M./Docquier, F./Schiff, M. (2013): International Migration, Transfer of Norms, and Home Country Fertility. Canadian Journal of Economics, Jg. 46, Nr. 4, S. 1406-1430.
Chauvet, L./Gubert, F./Mercier, M./Mesplé-Somps, S. (2015): Migrants' Home Town Associations and Local Development in Mali. Scandinavian Journal of Economics, Jg. 117, S. 686–722.
Gröger, A./Zylberberg, Y. (2016): Internal Labor Migration as a Shock Coping Strategy: Evidence from a Typhoon. American Economic Journal: Applied Economics, Jg. 8, Nr. 2, S. 123-153.
Höckel, L./Santos Silva, M./Stöhr, T. (im Erscheinen): Can Parental Migration Reduce Petty Corruption in Education? World Bank Economic Review.
World Bank Group (2016): Migration and Remittances Factbook 2016, Third Edition. Washington, DC: World Bank. Abrufbar unter: Externer Link: https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/23743 (Zugriff: 3.7.2017).
Yang, D. (2008): International Migration, Remittances and Household Investment: Evidence from Philippine Migrants’ Exchange Rate Shocks. The Economic Journal, Jg. 118, S. 591–630.
Barsbai, T./Rapoport, H./Steinmayr, A./Trebesch, C. (2017): The Effect of Labor Migration on the Diffusion of Democracy: Evidence from a Former Soviet Republic. American Economic Journal: Applied Economics, Jg. 9, Nr. 3, S.36-69.
Beine, M./Docquier, F./Schiff, M. (2013): International Migration, Transfer of Norms, and Home Country Fertility. Canadian Journal of Economics, Jg. 46, Nr. 4, S. 1406-1430.
Chauvet, L./Gubert, F./Mercier, M./Mesplé-Somps, S. (2015): Migrants' Home Town Associations and Local Development in Mali. Scandinavian Journal of Economics, Jg. 117, S. 686–722.
Gröger, A./Zylberberg, Y. (2016): Internal Labor Migration as a Shock Coping Strategy: Evidence from a Typhoon. American Economic Journal: Applied Economics, Jg. 8, Nr. 2, S. 123-153.
Höckel, L./Santos Silva, M./Stöhr, T. (im Erscheinen): Can Parental Migration Reduce Petty Corruption in Education? World Bank Economic Review.
World Bank Group (2016): Migration and Remittances Factbook 2016, Third Edition. Washington, DC: World Bank. Abrufbar unter: Externer Link: https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/23743 (Zugriff: 3.7.2017).
Yang, D. (2008): International Migration, Remittances and Household Investment: Evidence from Philippine Migrants’ Exchange Rate Shocks. The Economic Journal, Jg. 118, S. 591–630.
Das Hawala-System ist ein auf Vertrauen basierendes, sehr altes Verfahren zur Geldüberweisung. Statt physisch oder elektronisch Geld über Grenzen hinweg zu senden, wird aus Land A eine Nachricht an einen Mittelsmann in Land B übermittelt, der in Erwartung zukünftiger Geschäfte in Gegenrichtung eine Auszahlung an beispielsweise die Familie eines Migranten macht.
Alle hier genannten Statistiken aus dem Migration and Remittances Factbook 2016.
Siehe beispielsweise Gröger/Zylberberg (2016).
Siehe beispielsweise Yang (2008).
Siehe beispielsweise Woodruff/Zenteno (2007).
Für den Fall Malis untersucht von Chauvet et al. (2015).
Siehe beispielsweise Höckel et al. (im Erscheinen) und Barsbai et al. (2017).
Siehe beispielsweise Beine et al. (2013).
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-26T00:00:00 | 2017-12-08T00:00:00 | 2021-11-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-und-entwicklung/261339/rueckueberweisungen-und-ihr-beitrag-zur-entwicklung-in-den-herkunftslaendern/ | Den Vereinten Nationen zufolge gibt es im Jahr 2017 weltweit über 250 Millionen internationale Migranten. Viele von ihnen zieht es aus wirtschaftlichen Motiven in andere Länder. Internationale Migration ist meist der effektivste Weg für Menschen aus | [
"Remittances",
"Rücküberweisungen",
"Entwicklungshilfe"
] | 821 |
Die Sowjetunion ist nicht überall zerfallen | The Years of Change 1989-1991 | bpb.de | Mit neun Jahren wurde ich feierlich in die Pionierorganisation aufgenommen. Ich musste das Gelöbnis auswendig lernen ("Ich gelobe zu leben, zu lernen und zu kämpfen, wie es Lenin lehrt") und ein rotes Halstuch kaufen. Die Feierstunde war so pathetisch, dass mein Klassenkamerad Sascha prompt in Ohnmacht fiel.
Jeder von uns hatte einen klaren und vorgezeichneten Weg in die Zukunft.
Das Erwachsenwerden schien einfach und ungefährlich.
Es waren noch drei Jahre bis zum Zerfall der Sowjetunion.
Die Perestroika war, glaube ich, die erfreulichste aller Katastrophen, die Europa heimgesucht haben.
Mein Vater war Ingenieur; nach 1991 lebte er mehrere Jahre von einem Gehalt, das umgerechnet sieben Dollar betrug.
Später fuhr er, der einen Hochschulabschluss hatte, als fliegender Händler nach Polen und verkaufte dort Töpfe, Wodka, Schmalzfleisch und andere Relikte der erloschenen Epoche, für die im Ausland noch Nachfrage bestand. Mit Wasser benetztes und mit Zucker bestreutes Schwarzbrot avancierte angesichts des Mangels für mich zu einer Köstlichkeit. Wenn irgendjemand Buchweizen aufgetrieben hatte, war das für unsere Familie ein Fest.
Doch außer Essen und Klamotten war da auch noch etwas anderes. Den Wind of change gab es tatsächlich, und an seinen betörenden Duft kann ich mich noch sehr gut erinnern. Die große Musik der Neunziger. Die großen Bücher und selbst die großen, epochalen Fernsehsendungen. Ich brühte den sowjetischen Tee ("schwarz, lose") ein zweites Mal auf, legte Musik von Viktor Zoj, Boris Grebentschikow oder Sergej Kurjochin ein und wusste, dass Millionen Menschen um mich herum gleich dachten und atmeten.
Damals, als ich jung war, wollte es mir nicht in den Kopf, dass ich tatsächlich in der "sowjetischsten aller Republiken" zur Welt gekommen sein sollte, in der "weißrussischen Vendée", wie der belarussische Dissident und Autor Ales Adamowitsch das Land nannte, wo mit er auf das westfranzösische Département Vendée anspielte, das seinerzeit die Errungenschaften der Französischen Revolution abgelehnt hatte. Damals wusste ich noch nicht, dass ein paar Jahre später alles zurückkommen sollte: die Pionierorganisation, die "Exekutivkomitees", die Zensur, die Angst, die fehlende Luft zum Atmen.
Es fällt mir schwer zu sagen, was genau in Belarus schiefgelaufen ist und worin die Ursachen liegen. Warum die sterbende Sowjetunion ausgerechnet in Minsk wieder neu keimen konnte. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass uns die Unabhängigkeit 1989 buchstäblich in den Schoß gefallen ist. Die Belarussen haben sie nicht erkämpft, anders als in Litauen. Es wurde einfach irgendwann im Fernsehen verkündet, es gäbe jetzt eine neue Währung, eine neue Schule, neue Grenzen und ein neues Land. Wer nichts geopfert hat, gibt eine Sache leicht fertig preis.
Weil sie ihm ja eigentlich auch nicht gehört.
Vielleicht war es aber auch einfach nur so, dass in Belarus keine positive ideelle Alternative zur Sowjethymne und zum Sowjetmythos entwickelt worden ist. Während in den Nachbar ländern die gewendete Parteinomenklatur ihren Mitbürgern leidenschaftlich von den Vorzügen eines Nationalstaates vorschwärmte, distanzierte sich der belarussische Führer Wjatsches law Kebitsch von der Belarussischen Volksfront (BNF) und versuchte, die Linie durchzusetzen, die noch unter Stalin entwickelt worden war. Als 1994 sein junger Opponent Alexandr Lukaschenko auftauchte, wurde er als Alternative zur Parteinomenklatur gewählt. In der Hoffnung, er würde Reformen durchführen und die Kommunisten zurückdrängen. Wer konnte ahnen, dass er in der Restaurierung der Sowjetunion die anderen noch weit übertreffen würde? Und dass die sowjetische Ideologie, die Sprache der "Fünfjahrpläne" und "Telefonkonferenzen", noch jahrzehntelangdominieren würde?
Es gibt noch eine weitere Version, warum die Belarussen nicht „Good bye, Lenin" gesagt haben. Während nämlich in Moskau noch offen und ausführlich über die Verbrechen des Sowjetregimes, über die Gulags, Stalin und den Personenkult gesprochen wurde, während in den Nachbarländern Filme über den NKWD gedreht und Untersuchungen über die Ereignisse 1937 veröffentlich wurden, gab es in Belarus nicht den kleinsten Hauch einer Aufarbeitung der Vergangenheit.
Kuropaty, der Ort, an dem die Opfer der Stalinschen Säuberungen zu Tausenden verscharrt wurden und den der BNF-Gründer Sjanon Pasnjak entdeckt hat, ist bis heute kein offizieller Gedenkort. Trotz der Schutzzone tobt um Kuropaty noch immer ein "Erinnerungskrieg". Nachdem sie die Hoffnung aufgeben mussten, dort einen allgemein anerkannten Gedenkort zu schaffen, stellten die Aktivisten, denen Kuropaty am Herzen liegt, dort mehr als 70 Kreuze auf — ihre Umrisse waren von der Ringautobahn aus gut zu sehen und bildeten eine schweigende Mahnung daran, welche Spuren die Sowjetunion in Minsk hinterlassen hat. 2019 wurden die Kreuze mit Bulldozern entfernt, was nicht allein gläubige Christen schockiert hat.
Ich bin mir sicher, dass die Massenproteste vom Sommer und Herbst 2020 sich nicht nur aus der Unzufriedenheit der meisten Belarussen mit den verkündeten Ergebnissen der Präsidentschaftswahl speisten. Die Menschen sind auf die Straße gegangen, weil sie es satt hatten, in Angst zu leben. Weil sie diese Angst, die das System mit der Sprache des verschwundenen Imperiums übernommen hat, nicht länger er trugen.
Die Arbeit, die nicht abgeschlossen wurde, muss jetzt von Neuem in Angriff genommen werden.
2020 haben sich jene einer Entsowjetisierung unterzogen, deren Eltern 1991 auf halbem Weg stehengeblieben waren. Und es entsteht der Eindruck, als müssten trotz der unzähligen gebrochenen Schicksale, der riesigen Emigrationswelle, der Hunderten politischen Gefangenen die Kinder jener, die 2020 inhaftiert worden sind, in zwanzig Jahren die Aufgaben von 1991 wieder neu in Angriff nehmen.
Weil die Perestroika in Belarus immer noch nicht Wirklichkeit geworden ist.
Aus dem Russischen von Claudia Dathe
| Article | Viktor Martinowitsch | 2022-01-26T00:00:00 | 2021-10-21T00:00:00 | 2022-01-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/years-of-change/342358/die-sowjetunion-ist-nicht-ueberall-zerfallen/ | Mit neun Jahren wurde ich feierlich in die Pionierorganisation aufgenommen. Ich musste das Gelöbnis auswendig lernen ("Ich gelobe zu leben, zu lernen und zu kämpfen, wie es Lenin lehrt") und ein rotes Halstuch kaufen. Die Feierstunde war so patheti | [
"The Years of Change"
] | 822 |
Baustein 1: Wie siehst du das? - Umfrage zu Vorurteilen | Rechtsextremistische Einstellungen im Alltag | bpb.de | Lernziele
Inhaltlich
Die Schülerinnen und Schüler…
werten die Ergebnisse der Klassenbefragung zielgerichtet aus und vergleichen diese mit Ergebnissen aus repräsentativen Studien (u.a. offizielles Wahlergebnis der Bundestagswahl 2013, Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung) .
reflektieren ihre eigenen Einstellungen bzgl. vorurteilsgeladener bzw. (rechts-)extremer Aussagen und ordnen diese mithilfe der Vergleichsstudien ein.
erschließen die Definition von "Vorurteilen" und deren Funktion sowie ihre Abgrenzung zu "Stereotypen".
wenden das Gelernte an, indem sie die zu bewertenden Aussagen des Fragebogens hinsichtlich darin enthaltener Vorurteile beurteilen und diskutieren.
Methodisch
Die Schülerinnen und Schüler…
erschließen fragegeleitet aus sozialwissenschaftlich relevanten Textsorten zentrale Aussagen.
ermitteln Daten und Zusammenhänge durch die Durchführung einer Befragung mithilfe der Software Externer Link: GrafStat.
werten die Daten fragegeleitet im Hinblick auf Aussage- und Geltungsbereiche, Darstellungsarten, Trends, Korrelationen und Gesetzmäßigkeiten aus.
vergleichen Daten der eigenen Erhebung mit Daten anderer Erhebungen, um eine Einordnung vorzunehmen zu können.
stellen selbst erarbeitete Sachverhalte korrekt und verständlich mithilfe verschiedener Präsentationsformen dar.
Einstieg
Zu Beginn des Bausteins wird eine Befragung durchgeführt, um die Meinungen und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zu verschiedenen Aspekten des Themas Rechtsextremismus in Erfahrung zu bringen. Für die Befragung kann der Musterfragebogen (Interner Link: M 01.01) genutzt und ggf. noch angepasst werden. (Hinweise zur Durchführung einer Befragung mit GrafStat finden Sie im Bereich Interner Link: Einführung in GrafStat unter Interner Link: "Befragung durchführen".) Dabei soll vor der Befragung zunächst kein dezidierter Hinweis auf das Thema "Rechtsextremismus" erfolgen, um die Beantwortung der Fragen nicht zu beeinflussen (Vermeidung von sozial erwünschten Antworten).
Nach der Durchführung der Befragung wird der Fragebogen (Interner Link: M 01.01) besprochen: Gibt es Fragen zum Fragebogen? Wie haben sich die Schülerinnen und Schüler beim Beantworten der Fragen gefühlt? Gab es Probleme oder Unsicherheiten? Hier werden einige Schülerinnen und Schüler vermutlich anmerken, dass die Aussagen, die man zu bewerten hatte, recht einseitig und zudem extrem formuliert waren. Eventuell werden von den Schülerinnen und Schülern hier schon Begriffe wie "rassistisch", "antisemitisch", "islamfeindlich", "(rechts-)extremistisch", "Vorurteile" etc. genannt, die im weiteren Verlauf wieder aufgegriffen werden sollen. Die Lehrkraft kann an dieser Stelle darauf hinweisen, dass dies später nochmal intensiver untersucht werden wird, und zunächst zur Datenauswertung überleiten.
Zur Vorbereitung der Datenauswertung können die Schülerinnen und Schüler gefragt werden, welche inhaltlichen Schwerpunkte ihnen bei der Auswertung wichtig erscheinen. In Klassen, die schon Erfahrungen mit der Datenauswertung haben, kann man die Auswertung auch komplett gemeinsam planen und einen konkreten Auswertungsplan erstellen.
Erarbeitung I
In der ersten Erarbeitungsphase geht es darum, die erhobenen Daten gemeinsam auszuwerten. Im Vordergrund stehen dabei die im Fragebogen zu beurteilenden Aussagen (Fragen 12-25). Die Schülerinnen und Schüler werten die Daten dabei arbeitsteilig in Kleingruppen oder Partnerarbeit aus. Jede Gruppe wertet Fragen zu einem bestimmten Aspekt aus. Für den Musterfragebogen (Interner Link: M 01.01) bieten sich als Untersuchungsaspekte Rassismus/Ausländerfeindlichkeit (Fragen 12-16), Antisemitismus (Fragen 20-21), Islamfeindlichkeit (Frage 18), Antiziganismus (Frage19), Sozialdarwinismus/Chauvinismus (Fragen 22-23) sowie weitere einzelne Fragen des Fragebogens an, z. B. zur eigenen Parteipräferenz (Frage 11), was mit Rechtsextremismus verbunden wird (Frage 26) oder für wie gefährlich man rechtsextremistische Gruppen hält (Frage 27).
Diese können zunächst als einfache Häufigkeitsauszählungen der einzelnen Merkmale ausgewertet werden. Für einen Vergleich können die Einzelfragen aber auch in Form einer Kopplung (Auswertungsfunktion in GrafStat, s. Interner Link: M 01.02) dargestellt werden. Geübtere Schülerinnen und Schüler können zudem Kreuztabellen erstellen, um Zusammenhänge zu überprüfen, beispielsweise ob Menschen, die ihre wirtschaftliche Lage schlechter beurteilen, ausländerfeindlichen Aussagen eher zustimmen als Menschen, die ihre wirtschaftliche Lage besser beurteilen, oder ob je nach eigener Religionszugehörigkeit die islamfeindlichen Aussagen im Fragebogen unterschiedlich beurteilt werden.
Zur Unterstützung der Auswertung können die Schülerinnen und Schüler sowohl Hinweise zur Auswertung von offenen und geschlossenen Fragen im Hinblick auf die einzelnen Auswertungsfunktionen von GrafStat (Interner Link: M 01.02 Auswertungshilfen) sowie ein Arbeitsblatt für die Datenauswertung (Interner Link: M 01.03 Arbeitsblatt) nutzen. Die Auswertungen werden von den Gruppen im Plenum vorgestellt und gemeinsam besprochen.
Erarbeitung II
Vorschau M 01.08
Für eine empirische Einordnung sollen die Ergebnisse anschließend mit Ergebnissen aus anderen repräsentativen Studien verglichen werden. Diese Phase kann die Lehrkraft mit der Frage einleiten, ob die eigenen Ergebnisse typisch, z. B. für die Bevölkerung in Deutschland insgesamt, sind und wie man das überprüfen könnte.
Die Schülerinnen und Schüler äußern hierzu ihre Vermutungen und schlagen verschiedene Möglichkeiten der Überprüfung vor. Darunter wird vermutlich auch das Heranziehen von Ergebnissen aus anderen Studien für einen Vergleich genannt werden, ansonsten kann dies von der Lehrkraft ergänzend vorgeschlagen werden. Für die Einordnung werden die Ergebnisse aus den Vergleichsstudien (Interner Link: M 01.04 – Interner Link: M 01.08, u.a. aus der Studie Externer Link: "Die Mitte im Umbruch - Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012" der Friedrich-Ebert Stiftung) fragegeleitet ausgewertet (Methode: Statistiken und Tabellen auswerten) sowie mit den Ergebnissen der eigenen Befragung verglichen.
Die Analyseergebnisse werden im Plenum z. B. mithilfe der Software GrafStat direkt über einen Beamer oder aber mithilfe einer anderen Präsentationsform vorgestellt und diskutiert. (Hinweise zu Möglichkeiten der Ergebnispräsentation finden Sie in der Interner Link: Methodenkiste der bpb: Methoden 20 und 47.)
Erarbeitung III und Vertiefung
Neben der empirischen Einordnung der eigenen Ergebnisse, soll auch eine inhaltliche Einordnung erfolgen. Fokus liegt auch hierbei auf den zu bewertenden Aussagen im Fragebogen, welche rassistische, antisemitische, sozialdarwinistische etc. Vorurteile beinhalten, die auch häufig in rechtsextremen Kreisen anzutreffen sind.
Karikatur "Faul" (© Klaus Stuttmann)
Um den Themenaspekt des Vorurteils einzuleiten wird zunächst eine Karika-Tour (Methodenhinweis finden Sie in der Interner Link: Methodenkiste der bpb: Methoden 16-17.) mithilfe einer Karikaturensammlung zum Thema (Interner Link: M 01.09) durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler schauen sich dazu gruppenweise die einzelnen Karikaturen an und erarbeiten fragegeleitet, worum es geht. Alternativ kann, wenn wenig Zeit zur Verfügung steht, auch lediglich die Karikatur "Faul" von Klaus Stuttmann als Impuls verwendet werden, die gleich eine Reihe von Vorurteilen sowie deren Wirkung thematisiert. In der Auswertungsphase der Karika-Tour soll im Unterrichtsgespräch herausgearbeitet werden, dass hier Vorurteile thematisiert werden, und ggf. auch schon, wie damit umgegangen wird.
Mithilfe eines Texts des Vorurteilsforschers Andreas Zick (Interner Link: M 01.10) wird anschließend auf wissenschaftlicher Ebene erarbeitet, was Vorurteile sind, welche Funktion sie haben sowie wie sie sich von Stereotypen unterscheiden. (Weiterführende Informationen zur Interner Link: Vorurteilsthematik bei der bpb.) Die Ergebnisse werden im Unterrichtsgespräch zusammengetragen und gesichert.
Anschließend wenden die Schülerinnen und Schüler das Gelernte an, indem sie überprüfen, welche der Aussagen im Fragebogen auf Vorurteilen basieren bzw. einen Bezug zu Vorurteilen haben und welcher dies ist. Die Schülerinnen und Schüler werden dabei herausfinden, dass die Aussagen im Fragebogen u. a. rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische, sozialdarwinistische Vorurteile enthalten – Dimensionen, die auch im Rechtsextremismus zu finden sind. Die Ergebnisse werden gesammelt und inhaltlich diskutiert.
Überleitung zu Baustein 2
Die Vorurteile, die im Fragebogen aufgeführt sind, findet man häufig bei Menschen mit rechtsextremen Einstellungen. Im folgenden Interner Link: Baustein 2 soll genauer betrachtet werden, was Rechtsextremismus ist und in welchen Phänomenen er auftritt.
Vorschau M 01.08
Karikatur "Faul" (© Klaus Stuttmann)
Die Aussagen, die im Fragebogen zu bewerten sind, orientieren sich an erprobten und bewährten Items aus den Mitte-Studien der Friedrich Ebert Stiftung, deren Ergebnisse in der Auswertungsphase für eine bessere Einordnung auch als Vergleichsdaten genutzt werden.
Hintergrund zur Karikatur: Im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 hatte sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) abfällig über die Arbeitsmoral von Rumänen geäußert. Nach öffentlichem Druck entschuldigte er sich.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-03T00:00:00 | 2013-11-18T00:00:00 | 2022-02-03T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/rechtsextremismus/172865/baustein-1-wie-siehst-du-das-umfrage-zu-vorurteilen/ | Rechtsextreme Einstellungen gehen mit Vorurteilen einher. Gibt es Vorurteile in der eigenen Klasse bzw. Schule? Welche Einstellungen haben die Deutschen gegenüber Minderheiten wie Muslimen, Juden und Migranten? Was sind die Ursachen von Vorurteilen? | [
"GrafStat",
"Rechtsextremismus"
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Andreas Wüste | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de |
Andreas Wüste.
Andreas Wüste ist Studiendirektor an einem Gymnasium und Fachleiter für Sozialwissenschaften und Politik/Wirtschaft sowie Redakteur der Zeitschrift "Politisches Lernen", herausgegeben von der Externer Link: Deutschen Vereinigung für Politische Bildung, Landesverband Nordrhein-Westfalen (DVPB NW).
Er ist Schulbuchautor und veröffentlicht zur Beiträge zur sozioökonomischen und sozialwissenschaftlichen Bildung.
Andreas Wüste.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-01-30T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/284881/andreas-wueste/ | [
"14. Bundeskongress Politische Bildung",
"BuKo 2019",
"Workshopleitung"
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Fachbücher | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de |
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1. Radikalisierung und Prävention
Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen.
Interner Link: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und PerspektivenJens Ostwaldt, 2020 Interner Link: Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte StudienForschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention, 2020
Interner Link: Handbuch ExtremismuspräventionHrsg.: Brahim Ben Slama, Uwe E. Kemmesies, 2020
Interner Link: Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissenHrsg.: Christopher Daase, Nicole Deitelhoff, Julian Junk, 2019
Interner Link: Gewalt und RadikalitätHrsg.: Erich Marks, Helmut Fünfsinn, 2019
Interner Link: "Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen". Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-GruppeMichael Kiefer, Jörg Hüttermann, Bacem Dziri, Rauf Ceylan, Viktoria Roth, Fabian Srowig, Andreas Zick, 2018
Interner Link: "Sie haben keinen Plan B". Radikalisierung, Ausreise, Rückkehr – zwischen Prävention und InterventionHrsg.: Jana Kärgel, 2017
Interner Link: Radikalisierungsprävention in der Praxis. Antworten der Zivilgesellschaft auf den gewaltbereiten NeosalafismusRauf Ceylan und Michael Kiefer, 2017
Interner Link: Jihadismus. Ideologie, Prävention und DeradikalisierungThomas Schmidinger, 2016
Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven
Jens Ostwaldt
Islamische und migrantische Vereine gelten als mögliche Akteure in der Extremismusprävention. Sie befinden sich dabei in einem Spannungsfeld von gesellschaftlicher Erwartung auf der einen Seite und der Verantwortung gegenüber der eigenen Community auf der anderen Seite. Der Band bietet auf Grundlage einer bundesweiten qualitativen Interviewstudie konkrete Handlungsempfehlungen für die präventive Praxis und die politische Bildung. 5/2020 | Wochenschau Verlag | 384 Seiten | Broschur: 39,90 Euro | PDF: 31,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte Studien
Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention
Im ersten Teil des Sammelbandes werden die Begriffe Religion und Radikalisierung kritisch erörtert. Im zweiten Teil werden empirische Fallstudien zu den Social Media-Kanälen einer Gruppe jugendlicher Salafisten vorgestellt. Der dritte Teil schließt mit Vergleichsstudien zur Rolle islamistischer Bildmedien auf Facebook sowie zur Radikalisierungsprävention in Justizvollzugsanstalten. Das "Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention" vereinigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Bielefeld und Osnabrück und betrachtet das Themenfeld aus islamwissenschaftlicher, soziologischer und theologischer Perspektive. 1/2020 | Institut für islamische Theologie | 220 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Externer Link: repositorium.ub-uni-osnabruek.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Handbuch Extremismusprävention
Hrsg.: Brahim Ben Slama, Uwe E. Kemmesies
Das Handbuch Extremismusprävention informiert im ersten Teil über die Grundlagen verschiedener Phänomenbereiche, über Radikalisierungsprozesse sowie über unterschiedliche Ansätze der Evaluation. In einem Praxisteil werden verschiedene Aspekte der Umsetzung von Prävention aufgezeigt. Im dritten Teil geht es um gesamtgesellschaftliche Ansätze, wie zum Beispiel die Rolle von Moscheen oder der politischen Bildung in der Extremismusprävention. 2020 | Bundeskriminalamt | 755 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Externer Link: bka.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen
Hrsg.: Christopher Daase, Nicole Deitelhoff, Julian Junk Auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums, aber auch in religiösen Milieus radikalisieren sich Personen und stellen demokratische Werte und Institutionen infrage. Der Band gibt einen Überblick über die zentralen Aspekte dieses Phänomens: die Radikalisierung von Individuen, von Gruppen und von Gesellschaften, Deradikalisierung, Online- Radikalisierung und Präventionsmaßnahmen. Es werden zahlreiche Handlungsempfehlungen für Politik und Zivilgesellschaft formuliert. 8/2019 | campus Verlag | 295 Seiten | Kartoniert: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: campus.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Gewalt und Radikalität
Hrsg.: Erich Marks, Helmut Fünfsinn Der Deutsche Präventionstag hat einen Band mit Beiträgen zum 23. Deutschen Präventionstag veröffentlicht, der im Mai 2018 in Dresden stattfand. Darunter unter anderem folgende Themen: "Prävention im Bereich des religiös begründeten Extremismus", "Prävention von Radikalisierung in NRW-Justizvollzugsanstalten" sowie "Psychotherapeutische Beiträge zur Extremismus-Prävention". 8/2019 | Forum Verlag Godesberg | 420 Seiten | Paperback: 29,00 Euro | E-Book: 17,99 Euro | Download einzelner Beiträge: kostenfrei Zum kostenfreien Download der einzelnen Beiträge auf Externer Link: praeventionstag.de Zur Bestellung auf Externer Link: hugendubel.info
Interner Link: Zum Anfang der Seite "Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen". Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-Gruppe
Michael Kiefer, Jörg Hüttermann, Bacem Dziri, Rauf Ceylan, Viktoria Roth, Fabian Srowig, Andreas Zick Die Forscherinnen und Forscher haben WhatsApp-Chat-Protokolle einer militanten, salafistischen Jugendgruppe ausgewertet. Diese bieten einen Einblick in die gruppeninterne Dynamik junger Salafisten und ermöglichen es, Radikalisierungsprozesse zu rekonstruieren. Ziel der Studie war es, die Protokolle aus einer interdisziplinären Perspektive zu analysieren und Handlungsempfehlungen zu formulieren. 6/2018 | Springer VS | 396 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite "Sie haben keinen Plan B". Radikalisierung, Ausreise, Rückkehr – zwischen Prävention und Intervention
Hrsg.: Jana Kärgel Warum radikalisieren sich junge Menschen? Was macht islamistische Ideologien so attraktiv? Was kann man ihnen entgegensetzen? Fachleute aus der Präventionspraxis, der Wissenschaft und den Sicherheitsbehörden leuchten in dem Sammelband Möglichkeiten und Grenzen der Radikalisierungsprävention aus. 11/2017 | Bundeszentrale für politische Bildung | 412 Seiten | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierungsprävention in der Praxis. Antworten der Zivilgesellschaft auf den gewaltbereiten Neosalafismus
Rauf Ceylan und Michael Kiefer Rauf Ceylan und Michael Kiefer analysieren in ihrem Praxishandbuch die vorhandenen Probleme und zeigen auf, welche Voraussetzungen für eine funktionierende Radikalisierungsprävention erfüllt sein müssen. Darüber hinaus bieten sie einen Überblick über die westeuropäische Präventionslandschaft und stellen wegweisende Konzepte und Initiativen vor. 8/2017 | Springer VS | 160 Seiten | Softcover: 49,99 Euro | PDF: 39,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Jihadismus. Ideologie, Prävention und Deradikalisierung
Thomas Schmidinger Das kompakte Buch ist als Einführung ins Thema gedacht. Es soll praktische Hinweise vermitteln für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in Schule und Sozialarbeit sowie für Eltern, deren Kinder sich dschihadistischen Gruppen zuwenden. Das Buch basiert nicht nur auf einer politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema, sondern auch auf der Beratungspraxis mit zahlreichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. 8/2016 | Mandelbaum Verlag | 126 Seiten | Broschur: 14,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: mandelbaum.at
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2. Radikalisierung und Prävention im Internet
Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen.
Interner Link: Die Attraktion des Extremen. Radikalisierungsprävention im NetzHrsg.: Andrea Keller, Andreas Büsch, Sandra Bischoff, Gunter Geiger, 2021
Interner Link: Radikalisierung im Cyberspace. Die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen InternetDr. Mahmud El-Wereny, 2020
Interner Link: Propaganda und Prävention Hrsg.: Josephine B. Schmitt, Julian Ernst, Diana Rieger. Hans-Joachim Roth, 2020
Interner Link: Digitale Medien und politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter. Erkenntnisse aus Wissenschaft und PraxisHrsg.: Sally Hohnstein, Maruta Herding, 2017
Die Attraktion des Extremen. Radikalisierungsprävention im Netz
Hrsg.: Andrea Keller, Andreas Büsch, Sandra Bischoff, Gunter Geiger Wie kann Bildungsarbeit auf die Anziehungskraft extremistischer Propaganda reagieren? Im Fokus des Bandes stehen Strategien zur Erregung von Aufmerksamkeit im Internet. Fachleute aus Praxis und Wissenschaft zeigen, wie Jugendhilfe, Polizei, Schule, Sozialarbeit und Medienpädagogik auf die daraus resultierenden Herausforderungen reagieren können. 2021 | Wochenschau Verlag | 96 Seiten | Print: 14,99 Euro | PDF: 13,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierung im Cyberspace. Die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen Internet
Dr. Mahmud El-Wereny Islamwissenschaftler Mahmud El-Wereny möchte mit seiner Forschung die Frage beantworten, ob die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen Raum zur islamistischen Radikalisierung beiträgt. Er regt dazu an, Jugendliche für kritische Mediennutzung zu sensibilisieren sowie Alternativangebote zur salafistischen Propaganda zu schaffen. 10/2020 | transcript Verlag | 280 Seiten | Print: 60,00 Euro | PDF: 59,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: transcript-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Propaganda und Prävention
Hrsg.: Josephine B. Schmitt, Julian Ernst, Diana Rieger. Hans-Joachim Roth Der Sammelband stellt Fachkräften der Bildungsarbeit Unterrichtsmaterialien sowie Hintergrundinformationen zur Verfügung. Damit soll Medienkritikfähigkeit gefördert werden. Darüber hinaus möchte das Buch einen Beitrag leisten zum wissenschaftlichen Diskurs über Online-Propaganda, ihre Strategien, ihre Verbreitung und ihre Rezeption sowie über Gegenstrategien und -maßnahmen. Für das Buch arbeiteten unter anderem Fachleute aus der Wissenschaft sowie des Bundeskriminalamts, der Bundeszentrale für politische Bildung, von ufuq.de und von jugendschutz.net zusammen. 2020 | Springer VS | 655 Seiten | Softcover: 49,99 Euro | PDF: 39,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Digitale Medien und politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter. Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis
Hrsg.: Sally Hohnstein, Maruta Herding Im Sammelband werden Befunde zu derzeitigen Erscheinungsformen von Rechtsextremismus und (gewaltorientiertem) Islamismus im Kontext digitaler Medien vorgestellt. Außerdem bieten Praktikerinnen und Praktiker Einblicke in ihre Arbeit, Sie reflektieren, welche Anforderungen aus den rechtsextremen und islamistischen Aktivitäten im Netz für pädagogische Akteure entstehen. Und sie beschreiben, welche pädagogischen Gegenstrategien bislang erprobt werden. 2017 | DJI | 290 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite
3. Salafismus, Dschihadismus und Terrorismus
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Interner Link: Zusammengehörigkeit, Genderaspekte und Jugendkultur im SalafismusUmut Akkus, Ahmet Toprak, Deniz Yilmaz, Vera Götting, 2020
Interner Link: Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – TaktikStefan Goertz, 2019
Interner Link: Dschihadistinnen. Faszination MärtyrertodHassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman, 2018
Interner Link: Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, HandlungsempfehlungenHrsg.: Janusz Biene, Christopher Daase, Julian Junk, Harald Müller, 2016
Interner Link: Salafismus und Dschihadismus in DeutschlandHrsg.: Janusz Biene, Julian Junk, 2016
Interner Link: Hymnen des Jihads. Naschids im Kontext jihadistischer MobilisierungBehnam T. Said, 2016
Interner Link: Der Dschihad und der Nihilismus des WestensJürgen Manemann, 2015
Interner Link: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und RadikalisierungspräventionRauf Ceylan, Michael Kiefer, 2013
Zusammengehörigkeit, Genderaspekte und Jugendkultur im Salafismus
Umut Akkus, Ahmet Toprak, Deniz Yilmaz, Vera Götting Warum fühlen sich Mädchen und junge Frauen einer restriktiven Ideologie zugehörig, die eine strenge Geschlechtertrennung praktiziert? Das Forschungsprojekt „Die jugendkulturelle Dimension des Salafismus aus der Genderperspektive" ist dieser Frage nachgegangen. Für das Projekt wurden Einzel- sowie Gruppeninterviews mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 27 Jahren aus unterschiedlichen Städten in NRW durchgeführt. 2020 | Springer VS | 170 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik
Stefan Goertz Stefan Goertz analysiert die sicherheitspolitischen Bedrohungen Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus und stellt diese anhand aktueller Beispiele dar. 6/2019 | C. F. Müller | 223 Seiten | Softcover: 27,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: otto-schmidt.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod
Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman Zahlreiche junge Frauen im Westen und in muslimischen Ländern gaben ihr bisheriges Leben auf, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Wie, wo und von wem wurden diese jungen Frauen rekrutiert? Welche psychologischen, kulturellen und sozialen Faktoren treiben sie an, sich dem Gedankengut einer dschihadistischen Organisation zu unterwerfen? Die Studie der jordanischen Islamismusexperten Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman basiert auf einer Analyse der „IS“-Ideologie und seines Frauenbildes sowie auf Statistiken und Quellen, die Auskunft über die Anzahl und den Werdegang von Dschihadistinnen geben. 8/2018 | Dietz Verlag | 304 Seiten | Broschur: 22,00 Euro | E-Book: 17,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: dietz-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, Handlungsempfehlungen
Hrsg.: Janusz Biene, Christopher Daase, Julian Junk, Harald Müller Der Band beleuchtet die organisatorischen Strukturen der salafistischen Bewegung in Deutschland sowie ihre transnationale Vernetzung. Wie rekrutieren die Bewegungen ihre Mitglieder? Und wie rechtfertigen sich insbesondere Dschihadisten? Die Autorinnen und Autoren bewerten laufende Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen und schlagen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis. Dabei betrachten sie nicht nur sicherheitspolitische Fragen, sondern nehmen in interdisziplinärer Perspektive Salafismus und Dschihadismus auch als gesellschaftliche Herausforderung ernst. 12/2016 | campus Verlag | 301 Seiten | Kartoniert: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: campus.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus und Dschihadismus in Deutschland
Hrsg.: Janusz Biene, Julian Junk Der Sammelband enthält rund zwanzig Beiträge zu verschiedenen Aspekten des Phänomens, verfasst von Fachleuten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien. Neben ideologischen Grundlagen der Bewegung werden unter anderem salafistische Narrative und anti-salafistische Gegennarrative thematisiert. Zudem geht es darum, aus welchen Gründen sich Individuen und Gruppen radikalisieren sowie um die Bedingungen erfolgreicher Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Die Beiträge sind im Dezember 2015 und Januar 2016 im Sicherheitspolitik-Blog erschienen. 2/2016 | Sicherheitspolitik-Blog | 164 Seiten | Softcover: 9,99 Euro | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien PDF-Download auf Externer Link: publikationen.ub.uni-frankfurt.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Hymnen des Jihads. Naschids im Kontext jihadistischer Mobilisierung
Behnam T. Said Aus Sicht von Behnam Said stellt ein enormer Korpus kriegstreiberischer Lieder den vielleicht bemerkenswertesten Ausdruck einer dschihadistischen Kultur dar. Diese wurden bislang so gut wie kaum erforscht, so dass viele Fragen zu den „Naschid" genannten Gesängen bislang offen blieben. Wo liegen die Anfänge dieser islamistisch-militanten Hymnen? Wie sind sie vor dem Hintergrund einer grundsätzlich kritischen bis ablehnenden Haltung der islamischen Gelehrsamkeit zur Musik zu verstehen? Welchen Beitrag leisten diese Lieder für den Dschihadismus und was erzählen sie uns über die Bewegung? 2016 | Ergon | 361 Seiten | Softcover: 48,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: nomos-shop.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Dschihad und der Nihilismus des Westens
Jürgen Manemann Warum übt der Dschihadismus auf junge Menschen in der westlichen Welt eine so große Faszination aus? Jürgen Manemann geht den Ursachen für diese Anziehungskraft auf den Grund, indem er den Blick auf die kulturellen Krisen westlicher Gesellschaften richtet: auf Gefühle der Leere, der Sinn- und Hoffnungslosigkeit und ihre Folgen – in Form von Resignation, Ressentiment und Zynismus. Der Dschihadismus präsentiert sich als Gegenmittel. Er wirkt jedoch krisenverschärfend, da er die Unfähigkeit verstärkt, das Leben zu bejahen. Er produziert Empathieunfähigkeit, Hass und blinde Gewalt. Aus Sicht des Autors müssen die westlichen Gesellschaften Gegenkräfte entwickeln, indem sie eine konsequente Politik der Anerkennung und der Leidempfindlichkeit verfolgen und so den Sinn für eine Kultur der Humanität wieder stärken. 10/2015 | transcript Verlag | 136 Seiten | Taschenbuch: 14,99 Euro | PDF: 12,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: transcript-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention
Rauf Ceylan, Michael Kiefer Der Band möchte einen kompakten Überblick über die historischen Wurzeln und die politisch-theologischen Ideologien des Neo-Salafismus geben. Als zweiter Themenschwerpunkt werden spezifische Präventionsmaßnahmen für den islamischen Religionsunterricht, für die Jugend- und Gemeindearbeit vorgestellt und kritisch eingeordnet sowie auf die Defizite in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Präventionsarbeit hingewiesen. 2013 | Springer VS | 168 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | E-Book: 13,48 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
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4. Soziale Arbeit, Kinder- & Jugendarbeit, Pädagogik
Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen.
Interner Link: Offene Kinder- und Jugendarbeit im Kontext des Salafismus. Soziale Arbeit und RadikalisierungspräventionDavid Yuzva Clement, 2020
Interner Link: Konflikte, Radikalisierung, Gewalt. Hintergründe, Entwicklungen und Handlungsstrategien in Schule und Sozialer ArbeitRainer Kilb, 2020
Interner Link: Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem ExtremismusHrsg.: Joachim Langner, Maruta Herding, Sally Honstein, Björn Milbradt, 2020
Interner Link: Jugendextremismus als Herausforderung der Sozialen Arbeit. Eine vergleichende Analyse vom jugendlichen Rechtsextremismus und IslamismusMehmet Koc, 2019
Interner Link: Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Perspektiven aus Jugendforschung und JugendhilfeHrsg.: Michaela Glaser, Anja Frank, Maruta Herding, 2018
Interner Link: Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher GemeinschaftenAnja Gollan, Sabine Riede, Stefan Schlang, 2018
Interner Link: Islamismus als pädagogische HerausforderungKurt Edler, 2017
Interner Link: Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische PerspektivenHrsg.: Ahmet Toprak, Gerrit Weitzel, 2017
Interner Link: Demokratische ResilienzKurt Edler, 2017
Interner Link: Radikaler Islam im JugendalterHrsg.: Maruta Herding, 2013
Offene Kinder- und Jugendarbeit im Kontext des Salafismus. Soziale Arbeit und Radikalisierungsprävention
David Yuzva Clement In dem Band geht es darum, wie pädagogische Fachkräfte Jugendlichen helfen können, konstruierte Unterschiedlichkeitsbilder zu hinterfragen. Weiterhin geht es darum, wie sich pädagogische Fachkräfte in der offenen Kinder- und Jugendarbeit mit Hinwendungsprozessen von Jugendlichen zum Salafismus auseinandersetzen können. 6/2020 | Springer VS | 488 Seiten | Softcover: 54,99 Euro | PDF: 42,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Konflikte, Radikalisierung, Gewalt. Hintergründe, Entwicklungen und Handlungsstrategien in Schule und Sozialer Arbeit
Rainer Kilb Rainer Kilb betrachtet Konflikte, Radikalisierung und Gewalt zunächst getrennt, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten abzugrenzen. Anschießend setzt er sie in Beziehung zueinander, um ausgewählte Handlungsansätze und Strategien im Umgang mit ihnen zu analysieren. Daraus leitet Kilb Ansätze zur Beilegung von Konflikten sowie zur Prävention von Radikalisierung und Gewalt ab. 05/2020 | Beltz Verlag | 339 Seiten | Broschur: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus
Hrsg.: Joachim Langner, Maruta Herding, Sally Honstein, Björn Milbradt Die Autorinnen und Autoren diskutieren, welche Rolle Religion in Hinwendungs- und Radikalisierungsprozessen spielt und wie Religion in der Prävention und in der Distanzierungsarbeit eingesetzt werden kann. Dazu werden Forschungsergebnisse dargestellt, die das Deutsche Jugendinstitut in den Projekten „Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention“ (AFS) und „Programmevaluation Demokratie Leben!“ gewonnen hat. 2020 | DJI | 176 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Jugendextremismus als Herausforderung der Sozialen Arbeit. Eine vergleichende Analyse vom jugendlichen Rechtsextremismus und Islamismus
Mehmet Koc Mehmet Koc führt eine vergleichende Analyse von jugendlichem Rechtsextremismus und Islamismus durch. Er zeigt auf, welchen Herausforderungen die Soziale Arbeit ausgesetzt ist und wie diese fachlich bearbeitet werden können. 2019 | Tectum Verlag | 114 Seiten | Broschur: 32,00 Euro | E-Book: 25,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: nomos-shop.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Perspektiven aus Jugendforschung und Jugendhilfe
Hrsg.: Michaela Glaser, Anja Frank, Maruta Herding Der Sammelband kombiniert Erkenntnisse aus der Jugendforschung mit Erfahrungen der sozialen und pädagogischen Praxis. Aus jugend- und jugendhilfeorientierter Perspektive werden Forschungsbefunde zu Hintergründen und Motiven von Jugendlichen diskutiert, die sich islamistisch-extremistischen Angeboten zuwenden. Zudem werden die Erfahrungen und Herausforderungen der sozialen und pädagogischen Arbeit mit diesen Jugendlichen aufgezeigt. Die Beiträge konzentrieren sich auf praxisrelevante Erklärungsansätze zum Phänomen sowie auf Ansatzpunkte für fachliches Handeln. 9/2018 | Beltz Verlag | 168 Seiten | Print: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften
Anja Gollan, Sabine Riede, Stefan Schlang Die Publikation greift das Thema „Glaubensfreiheit versus Kindeswohl“ aus zwei Perspektiven auf: der juristischen und der pädagogischen. Im ersten Teil werden die rechtlichen Grundlagen dargestellt und anhand konkreter Gerichtsentscheidungen erläutert. Der zweite Teil behandelt religiös-weltanschaulich geprägte Erziehungskonzepte und -praktiken, die zu einer Kindeswohlgefährdung führen können. 2018 | AJS NRW & Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V. | 128 Seiten | Print: 14,50 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: ajs.nrw
Interner Link: Zum Anfang der Seite Islamismus als pädagogische Herausforderung
Kurt Edler Was kann die Schule tun, wie können Eltern und Lehrkräfte reagieren, wenn sich Schülerinnen und Schüler radikal gegen unsere Gesellschaft und Verfassung bekennen? Wenn sie Sympathie für den Terrorkrieg des „Islamischen Staats" äußern? Kurt Edler bietet Fallbeispiele, praktische Tipps und Erfahrungswissen aus seiner Zusammenarbeit mit Schulleitungen, Verfassungsschutz, polizeilichem Staatsschutz, Jugendarbeit, muslimischen Verbänden sowie Fachkräften der interkulturellen Bildung und Gewaltprävention. 2017 | Kohlhammer Verlag | 114 Seiten | Kartoniert: 24,00 Euro | PDF: 21,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: kohlhammer.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven
Hrsg.: Ahmet Toprak, Gerrit Weitzel In den Texten des Sammelbandes wird Salafismus als Phänomen einer Jugendkultur untersucht. Zunächst werden die theologisch-historischen Hintergründe des Salafismus beschrieben. Die Texte im zweiten Teil befassen sich mit der Attraktivität dieser Jugendkultur sowie ihren medialen und subkulturellen Mustern. Im dritten Abschnitt werden schließlich Prävention und Deradikalisierung in den Fokus genommen. Das Buch wendet sich an Fachkräfte aus der Religions- und Sozialpädagogik, Jugendforscher und -forscherinnen sowie Personen, die in der Jugendhilfe tätig sind. 2017 | Springer VS | 194 Seiten | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Demokratische Resilienz
Kurt Edler Kann sich schon beim Kind eine Widerstandsfähigkeit gegen Radikalisierung entwickeln? Diese Frage beantwortet der frühere Pädagoge und Lehrerfortbildner Kurt Edler vor dem Hintergrund der Bedrohung von Menschenrechten und Demokratie. Er skizziert in aller Kürze die vorpolitischen Formen der Beeinflussung und greift auf seine langjährigen Erfahrungen in der Extremismusprävention zurück, um daraus Handlungsempfehlungen für eine grundrechtsklare pädagogische Praxis abzuleiten. 2017 | Wochenschau Verlag | 48 Seiten | Print: 9,80 Euro | PDF: 9,80 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikaler Islam im Jugendalter
Hrsg.: Maruta Herding Der Sammelband dokumentiert die Ergebnisse eines Expertenhearings, das das Deutsche Jugendinstitut im Jahr 2012 veranstaltet hat. Die Autorinnen und Autoren gehen auf Erscheinungsformen und ursächliche Erklärungsmuster für radikalen Islam bei Jugendlichen ein oder befassen sich mit dem gesellschaftlichen Kontext von Radikalisierungsprozessen. Zudem wird das Phänomen in wissenschaftliche und öffentliche Debatten eingeordnet. Konkret geht es in den einzelnen Beiträgen um den Stand der Forschung im Themenfeld, Migrationshintergrund und biografische Belastungen, die Bedeutung der Jugendphase, Frauen in dschihadistischen Strukturen, das niederländische Hofstad-Netzwerk, britische Identitätspolitik, Auswirkungen von Terrorismusverdacht und um den Gesichtsschleier in Europa. 2013 | DJI | 176 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de
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5. Politische Bildung & Anti-Diskriminierungsarbeit
Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen.
Interner Link: Politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Angebote, Bedarfe und LeerstellenJens Borchert, Maren Jütz, Diana Beyer, 2020
Interner Link: Politische Bildung im Kontext von Islam und IslamismusHrsg.: Stefan E. Hößl, Lobna Jamal, Frank Schellenberg, 2020
Interner Link: Das Religiöse ist politisch: Plädoyer für eine religionssensible politische BildungHrsg.: Siegfried Grillmeyer, Karl Weber, 2019
Politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Angebote, Bedarfe und Leerstellen
Jens Borchert, Maren Jütz, Diana Beyer Die Studie untersucht Chancen, Voraussetzungen und Herausforderungen für politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Sie nimmt sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden in den Blick und geht der Frage nach, wie politische Bildung im Strafvollzug dazu beitragen kann, dass das Leben nach der Haft gelingt. 09/2020 | Beltz Verlag | 220 Seiten | Broschiert: 29,95 Euro | PDF: 27,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de Auch erhältlich in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus
Hrsg.: Stefan E. Hößl, Lobna Jamal, Frank Schellenberg Der Sammelband beschäftigt sich mit kontrovers diskutierten Fragen zu politischer Bildung im Kontext von Islam und Islamismus sowie antimuslimischem Rassismus. Auch die Vielfalt muslimischer Lebenswelten und identitätsbezogener Entwürfe sowie die Gefahren von Stigmatisierungen werden beleuchtet. 8/2020 | Bundeszentrale für politische Bildung | 432 Seiten | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Das Religiöse ist politisch: Plädoyer für eine religionssensible politische Bildung
Hrsg.: Siegfried Grillmeyer, Karl Weber Religiöse Vielfalt wird in der öffentlichen Diskussion immer wieder als Erklärung für gesellschaftliche Konflikte instrumentalisiert. Religiöse Einstellungen und der Umgang mit religiöser Vielfalt sind auch für junge Menschen Thema. Der Sammelband, der von Siegfried Grillmeyer und Karl Weber herausgegeben wurde, nimmt Bezug auf aktuelle Studien, begründet die Notwendigkeit einer religionssensiblen politischen Bildung und erörtert konkrete Perspektiven für die politische Bildungspraxis. 2/2019 | Echter Verlag | 120 Seiten | Broschur: 5,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: echter.de
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Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
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Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-07-19T00:00:00 | 2021-08-04T00:00:00 | 2023-07-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/337739/fachbuecher/ | Für Fachleute: Was wissen wir über Radikalisierungsprozesse? Wie kann Präventionsarbeit gelingen? Welche Rolle spielt das Internet? Was kennzeichnet Islamismus, Salafismus und Dschihadismus? | [
"Radikalisierung",
"Literatur",
"Islamismus",
"Extremismus",
"Salafismus",
"Dschihadismus",
"Fachliteratur Extremismus",
"Fachbücher",
"Präventionsarbeit",
"Prävention"
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Die Chinapolitik der USA | Außenpolitik der USA | bpb.de | Einleitung
China akzeptiert mittlerweile, dass die USA die einzige Supermacht der Welt sind, und es kann damit umgehen, aber die USA sind sich noch unschlüssig, wie sich Chinas Rolle entwickeln wird, so Lu Yiyi vom Royal Institute of International Affairs in London. Kurz vor einem Chinabesuch appellierte US-Präsident Bush im November 2005 im japanischen Kyoto an die Volksrepublik, sich politisch zu öffnen und sich dabei an Taiwan ein Beispiel zu nehmen. Zuvor hatte der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld Pekings Aufrüstung als Bedrohung nicht nur für Taiwan, sondern für das pazifische Asien und "viele Weltregionen" bezeichnet, während republikanische und demokratische Kongressabgeordnete angesichts eines dramatisch anwachsenden Defizits im Handel mit China nach Sanktionen riefen. Mit den Handels- und Demokratieproblemen, der Taiwanfrage und der chinesischen Sicherheitspolitik sind vier Themen angerissen, welche die Beziehungen zwischen den USA und ihrem "Partner für Diplomatie" seit dem Beginn der wirtschaftlichen Öffnung der Volksrepublik und seit Ende des Kalten Krieges zunehmend negativ geprägt haben. Auf amerikanischer Seite hatte das Verhältnis seit dem Amtsantritt von George W. Bush vier Phasen durchlaufen: halbherzige Konfrontation, halbherzige Kooperation, Vernachlässigung und drohender Orientierungsverlust. Für den letzteren sind einander widersprechende Chinabilder in den USA verantwortlich, für die wiederum Widersprüche des "Aufstiegs" der Volksrepublik reichlich Munition liefern. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Bush das Verhältnis als "strategischen Wettbewerb" charakterisiert und sich damit von der "strategischen Partnerschaft" distanziert, die sein Vorgänger, US-Präsident Bill Clinton, 1997 gemeinsam mit dem damaligen chinesischen Staats- und Parteichef Jiang Zemin ausgerufen hatte. Tatsächlich hätte Peking dieses Etikett eher von Bush verdient als von Clinton, denn erst nach dem 11.September 2001 initiierten beide Seiten im Kampf gegen den Terror und in den diplomatischen Bemühungen um eine Lösung des nordkoreanischen Atomproblems eine weitreichende Kooperation.
Ebenfalls 2001 verpflichtete sich China mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) auf eine verifizierbare Fortsetzung ihrer Politik der wirtschaftlichen Öffnung und erfüllte damit ein amerikanisches Anliegen. Angesichts dieser Entwicklungen sprach Bushs damaliger Außenminister Colin Powell 2003 vom "besten Stand der Beziehungen seit 1972". Daneben hat sich Bush anders als Clinton nie ausdrücklich zu einer "Einbindung" (engagement) Chinas bekannt, den Druck auf Peking in strittigen Fragen erhöht und es konsequent abgelehnt, etwa die Militärbeziehungen der USA zu Taiwan bilateral zur Debatte zu stellen. Wenn beide Seiten ihre Beziehungen mittlerweile mit den Adjektiven "offen, konstruktiv und kooperativ" beschreiben, ist das auch Ausdruck ihrer anhaltenden Ungewissheit über die Motive des anderen. Aus chinesischer Sicht stand die Taiwanfrage spätestens im Zentrum dieser Beziehungen, seit US-Präsident Richard Nixon anlässlich seines Besuchs in Shanghai am 27. Februar 1972 offiziell zur Kenntnis genommen hatte, "dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße davon ausgehen, dass es nur ein China gibt und dass Taiwan ein Teil Chinas ist". Sieben Jahre später hatte die Carter-Administration Peking als "einzig legitime Regierung Chinas" anerkannt und alle amtlichen Beziehungen zu Taiwan abgebrochen. Gleichzeitig legte man mit dem Taiwan Relations Act inneramerikanische Rechtsgrundlagen für die anhaltende Belieferung Taiwans mit "Defensivwaffen" und militärische Hilfen im Krisenfall, was seit 2001 auch die Möglichkeit atomarer Präventivschläge einschließt. Wie alle seine Vorgänger seit Dwight D. Eisenhower musste auch Bush Jr. erkennen, dass sich die USA wegen Taiwan ständig am Rande eines bewaffneten Konflikts mit der Volksrepublik bewegten. Anders als Eisenhower hatte Bush allerdings mit einem China zu tun, das nach Auffassung vieler Beobachter selbst auf dem Weg zur "Weltmacht" war, und dies zu einer Zeit, als Washingtons militärische Kräfte weitgehend im Irak gebunden waren. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer erfolgreichen internationalen Imagekampagne Pekings ist Vernachlässigung für die USA heute keine Option mehr. Weil man aber noch nicht weiß, was die Option ist, gelingt es inneramerikanischen Interessengruppen immer wieder, den auch unter Bush aufrechterhaltenen Grundkonsens über die Notwendigkeit eines positiven Verhältnisses ins Wanken zu bringen. Handel mit China
Der amerikanische Chinahandel ist von 5Mrd. (1980) auf 231 Mrd. US-Dollar (2004) angewachsen. Die Volksrepublik ist heute der drittwichtigste Handelspartner der USA, und der Austausch mit China wächst schneller als mit jedem vergleichbaren Land. Gleichzeitig ist das amerikanische Handelsbilanzdefizit nach eigenen Angaben von 6Mrd. (1985) auf 161,9 Mrd. US-Dollar (2004) angewachsen und beläuft sich damit auf etwa ein Viertel des weltweiten Defizits der USA. Hatte Washington dieses Ungleichgewicht lange in Kauf genommen, weil man in Peking von den Exporterlösen amerikanische Staatsanleihen kaufte und so das Haushaltsdefizit der Administration finanzieren half, so klagen mittlerweile nicht nur amerikanische Unternehmer in den USA, sondern auch amerikanische Investoren in China über die Wirtschaftspolitik der Volksrepublik, während Sicherheitspolitiker die Motive der chinesischen Devisenpolitik hinterfragen bzw. darauf verweisen, dass China seine spektakulär wachsenden Einnahmen u.a. in die Modernisierung der Volksbefreiungsarmee (VBA) investiert. Dabei verwischt sich die früher gelegentlich zu beobachtende Rollenverteilung zwischen dem "Bad Cop"-Kongress und der "Good Cop"-Administration.
Die Handelsprobleme der vergangenen Jahre beziehen sich auf Umfang und Zunahme des Defizits, Pekings Währungspolitik, die von vielen Kongressmitgliedern für den unausgewogenen Handel und den Verlust amerikanischer Arbeitsplätze verantwortlich gemacht wird, eine unzulängliche Implementierung des WTO-Abkommens durch die Volksrepublik und diffuse Ängste vor Chinas "Aufstieg" zur Weltwirtschaftsmacht. Versuche, diese Probleme bilateral zu lösen, haben bisher nur zu sektoralen und provisorischen Ergebnissen geführt.
Während viele amerikanische Politiker und Wirtschaftsvertreter die chinesische Währung auch nach Einführung eines "managed float" im Juli 2005 für bis zu 40 Prozent unterbewertet halten, hat die Bush-Administration bisher darauf verzichtet, von einer "Manipulation" zu sprechen, und sich stattdessen in ihren bilateralen Kontakten für eine weitere Flexibilisierung eingesetzt. Demgegenüberbeharrt China auf einem graduellen Prozess, legte aber auch anlässlich des Bush-Besuchs keinen Zeitplan vor. Im Dezember 2004 veröffentlichte der Handelsbeauftragte der Administration einen dritten Bericht über Chinas Implementierung der WTO-Verpflichtungen. Darin wurden der Volksrepublik zwar "eindrucksvolle Bemühungen" bescheinigt, gleichzeitig betonte man aber, dass diese "in keiner Weise ausreichend und nicht immer zufriedenstellend" ausgefallen waren. Dabei wurden unsichtbare Handelshemmnisse auf Gebieten wie Landwirtschaft, Dienstleistungen und Direktvertrieb angeführt. Im Oktober 2005 machte Washington bei der WTO ein Verfahren wegen Produktpiraterie gegen Peking anhängig. Nimmt man sensationalistische Berichte über Chinas Energie-, Technologie- und Devisenpolitik sowie diplomatische Bodengewinne der Volksrepublik in "Amerikas (lateinamerikanischem) Hinterhof" hinzu, so ergibt sich eine Gemengelage aus ökonomischen und sicherheitspolitischen Erwägungen, bei der die Verfechter einer "Einbindung" Pekings in die Defensive geraten. Dabei deutet sich insofern ein Teufelskreis an, als die USA sowohl durch eine Auslagerung eigener Produktionssegmente nach China als auch durch ihre Beschränkung von Hochtechnologieexporten selbst zu der handelspolitischen Schieflage beitragen. Menschenrechte und Demokratie
Bushs Kyoto-Appell für eine politische Öffnung Chinas war eine rhetorische Konzession an eine heimische "Menschenrechtsallianz" aus Nichtregierungsorganisationen und der religiösen Rechten, welche die unentschlossene Chinapolitik der Administration und die ideologischen Präferenzen des Präsidenten genutzt hat, um ihren Einfluss auszubauen. Peking hatte einer Demokratisierung in Erwartung steigenden Drucks kurz vor Bushs Besuch eine amtliche Absage erteilt, und Staats- und Parteichef Hu Jintao ließ sich diesbezüglich mit seinem Gast auf keine längere Debatte ein. Bush selbst hatte kurz vor seiner Reise den Dalai Lama empfangen und besuchte in Peking den Gottesdienst einer anerkannten protestantischen Gemeinde.
Washington hatte das Menschenrechtsthema nach dem 11. September 2001 heruntergespielt und China für seine Mitwirkung an der internationalen Antiterror-Koalition mit der Kategorisierung einer islamistisch-separatistischen Gruppe in der Unruheprovinz Sinkiang als "terroristisch" belohnt. Allerdings verzeichnete das State Department seither Versuche der chinesischen Regierung, Antiterrorismus als Vorwand für eine verschärfte Unterdrückung ethnischer Minderheiten zu nutzen und bescheinigte Peking insgesamt eine mangelnde Beachtung der Menschenrechte. 2002 bzw. 2004 setzte China seinen bilateralen Menschenrechtsdialog mit den USA aus, weil diese in der Menschenrechtskommission der VN kritische Resolutionsentwürfe eingebracht hatten. 2003 und 2005 verzichtete Washington unter Hinweis auf "einige Verbesserungen" bzw. "bedeutsame Schritte" auf die Einbringung eines Entwurfs. 2005 erfüllte China die langjährige amerikanische Forderung nach Einladung des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen für Folter, reagierte aber nicht nur nicht auf eine von der Administration überreichte Liste politischer Gefangener, sondern ließ noch kurz vor Bushs Besuch weitere Dissidenten festnehmen. Gleichzeitig präsentierten Menschenrechtsorganisationen in den USA neue Belege für Zwangsabtreibungen in China. Hu Jintao erklärte sich während des Bush-Besuchs zu einem neuen Dialog über Menschenrechte und Demokratie bereit.
In Washington geht unterdessen das Gespenst vom "Aufstieg" eines nichtdemokratischen China um. Diese Sorge schlug sich vor dem Kyoto-Appell des Präsidenten zweimal (im März 2005 durch Condoleezza Rice und im Oktober 2005 durch Donald Rumsfeld) in direkten Aufforderungen an die chinesische Führung nieder, eine politische Öffnung einzuleiten. Indem Bush seinen Appell außerhalb der Volksrepublik lancierte, signalisierte er eine gewisse Flexibilität, die allerdings an Fortschritte auf seiner sonstigen Agenda geknüpft war. Sicherheitspolitische Beziehungen
Chinas Mitwirkung an Bushs internationaler Koalition gegen den Terrorismus hat zwar zu einer polizeilichen und nachrichtendienstlichen, nicht aber zu einer militärischen Zusammenarbeit mit den USA geführt. Die USA haben China seit dem 11. September 2001 mit einem faktischen Ring aus Allianzen und militärischen Partnerschaften umgeben, und wenn sich Peking seither von Zentralasien bis Lateinamerika um eine Stärkung seiner diplomatischen Präsenz bemüht hat, dann auch, um aus dieser Umzingelung auszubrechen. Gleichzeitig wurde Chinas anfängliche Hoffnung enttäuscht, Washington könne sein implizites Containment der Volksrepublik mittels geplanter Raketenabwehrsysteme oder intensivierter Militärbeziehungen zu Taiwan oder Japan im Interesse des gemeinsamen antiterroristischen Kampfs zurückfahren. Anders als Clinton ließ sich Bush in dieser Hinsicht auf keine Diskussion mit Peking ein. Ähnlich wie Clinton musste Bush aber erkennen, dass die Koreanische Halbinsel und die Taiwan-Straße nur mit chinesischer Hilfe zu stabilisieren waren.
China drohte den USA für den Fall einer Dislozierung amerikanischer Raketenabwehrsysteme mit einem weiteren Ausbau der eigenen Raketenwaffe und im Falle einer Einbeziehung oder Abdeckung Taiwans anscheinend sogar mit anhaltender eigener Raketenproliferation. Washington verhängte zwischen 2001 und 2004 dreizehnmal Sanktionen gegen chinesische Firmen und Organisationen, die ballistische Raketen, Lenkraketen oder Chemiewaffen an Pakistan, den Iran und andere Staaten geliefert hatten. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte die Volksrepublik 2002 Richtlinien für den Export von Raketentechnologien und biologischen Komponenten und arbeitete mit der Bush-Administration in begrenztem Umfang bei der Verhinderung des Exports chemischer Komponenten nach Nordkorea zusammen.
Ende 2002 nahm das Pentagon die verteidigungspolitischen Konsultationen mit der Volksbefreiungsarmee (VBA) wieder auf, die nach dem sogenannten "EP-3-Zwischenfall" vom 1. April 2001 abgebrochen worden waren, bei dem es über die Notlandung eines amerikanischen Aufklärungsflugzeuges auf der chinesischen Insel Hainan zu Spannungen gekommen war. Allerdings behielt sich Rumsfeld die Genehmigung hochrangiger Kontakte weiterhin vor. Im Oktober 2005 besuchte Rumsfeld selbst China.
Republikanische Kritik an den von der Clinton-Administration 1997 initiierten Konsultationen hatte vor allem einer mangelnden Bereitschaft der VBA zu Transparenz und Gegenseitigkeit gegolten (Rumsfeld erhielt in China Gelegenheit zu einem Besuch im Hauptquartier der strategischen Raketenwaffe. Gleichzeitig blieb ihm der Zugang zum nationalen Kommando-Hauptquartier in der Nähe von Peking versagt). Der amerikanische Verteidigungsminister verlangte deshalb eine Offenlegung aller Militärausgaben der Volksrepublik; ein Ansinnen, das seine Gesprächspartner von sich wiesen. Darüber hinaus forderte Rumsfeld China auf, sich stärker für eine friedliche Welt zu engagieren - ein Motiv, das Präsident Bush im November selbst aufgreifen sollte.
Schließlich äußerte sich die amerikanische Seite irritiert über Chinas Interesse an regionalen Organisationen, welche die USA ausschließen, Chinas Weigerung, amerikanische Beobachter zu Manövern mit Dritten zuzulassen und Pekings teils erfolgreiche Versuche, zentralasiatische Staaten zur Schließung von Stützpunkten zu bewegen, die Washington dort im Gefolge des 11. September 2001 eröffnet hatte. In keiner dieser Fragen kam es zu einer Annäherung der Standpunkte.
Wenn die Volksrepublik es ablehnte, ihre regionalen Militärbeziehungen mit der Bush-Administration zu erörtern, dann nicht zuletzt, weil diese umgekehrt ebenso verfuhr. Ähnlich wie sein Mentor George Shultz 1982, engagiert sich auch Rumsfeld selbst für eine Stärkung der amerikanisch-japanischen Allianz und bezieht diese ausdrücklich auf eine "destabilisierende Aufrüstung" durch Dritte. In der weiteren Region haben die USA Militärbeziehungen zu Australien, Indien, Indonesien und Vietnam aus- bzw. aufgebaut. 2005 sprach Außenministerin Rice von einer "Gemeinschaft der Demokratien" mit einer Kerngruppe bestehend aus Tokyo, Canberra, Delhi und Washington. Derlei Gedankenspiele waren nicht zuletzt Reaktionen auf eine neue chinesische Regionaldiplomatie. Während die Bush-Administration am Golf abgelenkt war, hatte Peking Südkoreas Entspannungspolitik gegenüber Nordkorea unterstützt und mit der Gemeinschaft Südostasiatischer Staaten (ASEAN) ein Freihandelsabkommen geschlossen. 2004 engagierte sich China gemeinsam mit Südkorea und der ASEAN für die Gründung einer Ostasiatischen Gemeinschaft (EAC) unter Ausschluss der USA, und erst in letzter Minute gelang es dem amerikanischen Verbündeten Australien, seine Einbeziehung sicherzustellen und so eine drohende Isolierung Japans zu verhindern.
Gewissermaßen auf halbem Weg zwischen EAC und "Gemeinschaft der Demokratien" verständigten sich Washington, Peking, Tokyo, Moskau, Pyöngyang und Seoul im Kontext der Sechsparteiengespräche um das nordkoreanische Atomproblem im September 2005 auf die langfristige Schaffung eines nordostasiatischen Sicherheitsforums, mit dessen Hilfe "China und Russland in eine regionale Sicherheitsordnung integriert werden (könnten), ohne (dabei) die Sicherheit Japans, Südkoreas und der USA zu opfern". Voraussetzungen für diese neue Verankerung der amerikanischen Militärpräsenz im Pazifik sind allerdings eine Lösung des Nordkoreaproblems und eine Stabilisierung des Status quo in der Taiwan-Straße. Die USA-Taiwan-Beziehungen
Die amerikanisch-taiwanesischen Beziehungen haben sich unter Bush zu einer de facto-Allianz entwickelt, wobei nur noch gemeinsame Manöver fehlen. Die USA bleiben nicht nur Taiwans wichtigster Waffenlieferant; sie haben auch die bilateralen Militärbeziehungen ausgebaut und die Interoperabilität der beiden Streitkräfte verbessert. Dabei muss sich Washington gleichzeitig mit Chinas wachsendem wirtschaftlichen und militärischen Potenzial und einer demokratisch gewählten taiwanesischen Führung auseinander setzen, die sich angesichts dieses Potenzials zu einer Bekräftigung der separaten Existenz der Inselrepublik genötigt sieht.
Die USA haben auf das Dilemma in den vergangenen Jahren auf viererlei Weise reagiert: Bekräftigung ihrer traditionellen "ein-China-Politik" (bei der Taiwans Rolle offen bleibt), Bekräftigung ihrer de facto-Sicherheitsgarantie nach Maßgabe des Taiwan Relations Act, Unterstützung taiwanesischer Bemühungen um Beobachterstatus in der Weltgesundheitsorganisation sowie Einwirken auf Taipei mit dem Ziel, Provokationen gegenüber Peking zu vermeiden. Letzteres führte dazu, dass Bush seinen taiwanesischen Kollegen Chen Shuibian 2003 öffentlich im Beisein des chinesischen Premierministers kritisierte, weil dieser Verfassungsänderungen mittels Volksabstimmungen angekündigt hatte. Colin Powell wies 2004 zusätzlich darauf hin, dass Taiwan kein souveräner Staat sei. Als die Volksrepublik im März 2005 ein "Anti-Sezessionsgesetz" verabschiedete, in dem sie eine Gewaltdrohung gegen Taiwan bekräftigte und rechtlich verbindlich machte, fiel die Reaktion der USA relativ zurückhaltend aus. Gleichzeitig wies das Pentagon darauf hin, dass sich "das Gleichgewicht der Kräfte in der Taiwan-Straße angesichts von Chinas anhaltendem Wirtschaftswachstum, zunehmenden diplomatischen Einflusses und Verbesserungen der militärischen Fähigkeiten der VBA verschiebt". Während die Volksrepublik weiterhin nicht erwarten kann, die USA in einem großangelegten Konflikt zu besiegen und auch nach Pentagon-Meinung weiter nicht über hinreichende Kapazitäten für eine Invasion der Insel verfügt, konzentriert sie ihre Aufrüstung auf technologische Nischen, in denen man der Siebten Flotte größtmöglichen Schaden zufügen will. Die letzte Beinahe-Konfrontation liegt zehn Jahre zurück und erbrachte Belege für die Fähigkeit der VBA, eine partielle Seeblockade über Taiwan zu verhängen. Seither hat Peking die Zahl seiner auf taiwanesische Ziele programmierten Kurzstreckenraketen von 50 auf über 700 erhöht. Sowohl die Raketenabwehrprogramme der Bush-Administration als auch ihre Pläne für eine Umstrukturierung vorwärts stationierter amerikanischer Streitkräfte haben eindeutige Taiwan-Bezüge. Den USA ist es bisher gelungen, eine Aufhebung des EU-Embargos auf Rüstungsexporte nach China zu verhindern und Japan zu einer Identifizierung der Taiwanfrage als "gemeinsames strategisches Anliegen" zu bewegen, aber weder in Asien noch in Europa könnten die USA im Falle einer Eskalation auf nennenswerten Rückhalt zählen. Sie haben deshalb Interesse signalisiert, auf einen Vorschlag der Clinton-Administration aus dem Jahr 1999 zurückzukommen, demzufolge sich Peking und Taipei in sogenannten "Interimsabkommen" auf einen Gewaltverzicht im chinesischen und auf einen Verzicht auf eine Formalisierung der Unabhängigkeit im taiwanesischen Fall verständigen sollten. Es bleibt abzuwarten, wie aktiv sich die amerikanische Diplomatie dieses Anliegen zu Eigen macht; man kann aber wohl davon ausgehen, dass weder China noch Taiwan größere Einwände gegen diese Art der Vermittlung hätten. Anteilseigner oder Mitbieter?
Wie andere außenpolitische Strategien auch, endete Clintons "Einbindungs"-Politik mit seiner Administration. Republikanische Kreise (wie auch konservative politische Kreise in China) hatten diese für unverbindlich und unausgewogen befunden und liebäugelten 2001 vorübergehend mit einer Strategie der "Eindämmung" (containment), bevor sie auch diese angesichts der einhergehenden Risiken aufgaben. Seither haben Washington und Peking improvisiert, ihr Verhältnis zwar als "wichtigstes auf der Welt" bezeichnet, aber anstatt daraus gemeinsame Folgerungen zu ziehen, einander weiter wie zwei Boxer mit mangelnder Übersicht über den Ring umkreist. Dabei verlagerte sich der Wettbewerb zwischen Supermacht und Herausforderer zunehmend auf die Beziehungen beider zu Dritten. So hat etwa die weitgehende Kontrolle der Golfregion und der Seewege zum Golf durch die USA die chinesische Führung veranlasst, die Beziehungen zu afrikanischen, lateinamerikanischen und anderen Ölproduzenten auszubauen.
In den USA (und vermutlich auch in China) nutzten innenpolitische Interessengruppen die Phase des amerikanischen Desinteresses zu einer verstärkten Einflussnahme auf die Politik. Um sich nicht weiter in die Ecke drängen zu lassen, skizzierte der stellvertretende Außenminister der Bush-Administration Robert Zoellick im September 2005 eine neue Chinastrategie. In Anknüpfung an den früheren Außenminister Colin Powell forderte Zoellick Peking auf, sich bei der Gestaltung des künftigen internationalen Systems als "Anteilseigner" (stakeholder) zu sehen. Dabei erwähnte er die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit bei der Lösung der nordkoreanischen und iranischen Atomprobleme, der Bekämpfung des Terrorismus, der humanitären Krise im Sudan, innerhalb der transpazifischen Dialograhmen Asian Regional Forum (ARF) und Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC) sowie bei der "friedlichen Lösung von Differenzen mit Taiwan" und der Aufarbeitung historischer Probleme mit Japan. Bei derselben Gelegenheit betonte auch er die Notwendigkeit einer politischen Öffnung der Volksrepublik. Zoellick knüpfte damit nicht nur an Powell an, sondern implizit auch an Empfehlungen der Rand-Corporation aus dem Jahr 1999, China so lange mit Hilfe einer congagement- (bzw. hedging-) Strategie daran zu hindern, in Ostasien nach Hegemonie zu streben "und die Regeln des internationalen Systems zu seinem Vorteil zu verändern", bis für die Kooperations- oder Konfrontationswilligkeit der Volksrepublik eindeutige Indizien vorlägen. Bush hat die "stakeholder"-Terminologie übernommen und will dabei anscheinend die Komplexe Syrien, Sudan, Iran und Birma zu Testfällen machen. Um die Kooperationsmöglichkeiten auszuloten, haben die USA und China 2005 einen halbjährlichen strategischen Dialog auf der Ebene stellvertretender Außenminister aufgenommen.
Allerdings ist "congagement" weniger ein Mittelweg zwischen "Einbindung" und "Eindämmung" als eine Aufforderung zum Einreihen, wobei eine unausgesprochene containment-Drohung für den Fall des Scheiterns aufrechterhalten bleibt. Dieses "Einreihen" fällt China traditionell schwerer als anderen. Um aus chinesischer Sicht attraktiv zu sein, müsste die Aufforderung um materielle Anreize angereichert werden, wozu man im State Department grundsätzlich bereit ist. Das Problem ist, dass solche Anreize in der Vergangenheit häufig aus Technologietransfers bestanden, zu denen die Bush-Administration insgesamt nur in Maßen bereit ist. Insofern sich hier etwa im Bereich der Energiepolitik neue Bündnisse ankündigen, dürfte Washington auf einer strikten Gegenseitigkeit beharren. Dabei könnte sich Europa nach schlechten Erfahrungen auf den Gebieten der internationalen Umwelt- und Strafrechtspolitik sowie angesichts einer chinesisch-amerikanischen de facto-Kooperation bei der Reform bzw. Nichtreform der Vereinten Nationen selbst als globaler "stakeholder" ausgegrenzt fühlen. Weil allerdings die Motive Chinas und der USA in diesen Fragen selten deckungsgleich sind und einander häufig latent widersprechen, ist kaum damit zu rechnen, dass Zbigniew Brzenzinskis "östlicher Anker" demnächst eine heimliche Renaissance erlebt. Mit einer solchen Entwicklung ist auch deshalb nicht zu rechnen, weil die Chinapolitik der USA seit dem Ende des Kalten Krieges so weitgehend Teil des innenpolitischen Diskurses geworden ist, dass eine substanzielle "strategische Partnerschaft" weiterhin ausgeschlossen scheint. Dabei ist es wechselnden Administrationen zwar immer wieder gelungen, größere Ausschläge in den bilateralen Beziehungen aufzufangen, aber nur als Ergebnis schwieriger interner Kompromisse, und die Frequenz der Ausschläge hat zwischen dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 und dem "EP-3-Zwischenfall" 2001 ständig zugenommen.
Momentan ist eine solche Entwicklung angesichts anhaltender amerikanischer Dominanz und der Bedeutung des amerikanischen Markts für Chinas Wirtschaftswachstum, anhaltender Probleme der USA am Golf und wachsender Widersprüche des chinesischen Entwicklungsweges eher unwahrscheinlich. Robert Zoellick hat darauf hingewiesen, dass Peking vor dem Hintergrund neuer Interdependenzen und heimischer Probleme seine Position gegenüber Washington, der weltweiten Demokratie und dem weltweiten Kapitalismus noch nicht abschließend festgelegt, aber seine Entwicklungsstrategie an die "Vernetzung mit der modernen Welt" geknüpft hat. Gleichzeitig sind sich State Department und Pentagon dahingehend einig, dass der Kampf der Kommunistischen Partei um den Machterhalt Risiken mit sich bringt und dass sich China insgesamt an einem "strategischen Scheideweg" befindet. Das Risiko besteht folglich eher in den jeweiligen internen Dynamiken als in den Schwierigkeiten beider Seiten, dem bilateralen Verhältnis einen tragfähigen Rahmen zu geben. Dabei bleibt ein nichtdemokratisches China schwerer berechenbar als die demokratischen USA. Sollte es in der Volksrepublik infolge eskalierender innerer Konflikte zu nationalistischen Ausbrüchen kommen, müsste Washington mangels multilateraler Alternativen wohl militärisch intervenieren. Das Dilemma besteht in dem Umstand, dass Nationalismus erfahrungsgemäß auch ein Ergebnis von Demokratisierung sein kann. Weil es aber seit dem Ende des Kalten Krieges ebenso erfahrungsgemäß früher oder später zu Demokratisierungsprozessen kommt, würde es hier einer multilateralen Einbettung bedürfen. Dafür wäre mangels Alternativen wiederum die transatlantische Wertegemeinschaft die einzige tragfähige Grundlage. Insofern bliebe diese und nicht das unruhige amerikanisch-chinesische Paar die "wichtigste Beziehung" auf der Welt.
Vgl. Patrick Goodenough, Citing Taiwan as a Model, Bush Prods China on Democracy, in: CNS News vom 16. 11. 2005.
Rumsfeld Questions China's Military Buildup, Washington (Usinfo), 4. 6. 2005. Dabei bezog sich Rumsfeld vornehmlich auf die Modernisierung der chinesischen Raketenwaffe.
Bush Calls US, China, "Partners in Diplomacy", Washington (State Department), 9. 12. 2003.
Vgl. Jianwei Wang, China Reconsidered: America's Changing Perceptions, in: E-Notes (Washington: Foreign Policy Research Institute), 16. 7. 2003.
US-China Ties in Best Shape since 1972, Powell Says, in: Kyodo vom 9. 9. 2003.
Bush Visit to China Reaffirms Constructive Ties: US Official, in: People's Daily Online vom 28. 2. 2002.
Shanghai-Kommuniqué, Washington (State Department), 27. 2. 1972.
Joint Communiqué on the Establishment of Diplomatic Relations between the United States of America and the People's Republic of China, 1. 1. 1979.
Special Briefing on Nuclear Posture Review, Washington (Department of Defence), 9. 1. 2002.
Vgl. Christopher Swann, The Clock Ticks in Washington as Friends Drift away, in: Financial Times vom 14. 4. 2005, S. 13.
Vgl. William Mathews, Congress Worries that West Arms China, in: Defense News vom 18. 4. 2005, S. 1/6.
Vgl. Caroline Daniel, Bush Sings from Different Song Sheet to China, in: Financial Times vom 21. 11. 2005, S. 3.
Bush Adopts New Strategy on China, in: Oxford Analytica vom 18. 11. 2005.
Vgl. David E. Sanger, China Yields Little to Bush in Beijing, in: International Herald Tribune vom 21. 11. 2005, S. 1/4.
China: Uighur Prisoner Released, Critical Resolution Abandoned, in: Human Rights News vom 18. 3. 2005; Rice Discusses North Korea, Arms Sales, and Democracy, in: Taipei Times vom 22. 3. 2004, S. 1.
Vgl. China Labels Stanford Researcher "International Spy" for Exposing Forced Abortion Policy, in: Lifesite vom 26. 8. 2005.
Vgl. Shirley A. Kan, China and Proliferation of Weapons of Mass Destruction and Missiles: Policy Issues, Washington (Congressional Research Service), 9.12. 2004, S. 25.
Vgl. Kurt Campbell/Richard Weitz, The Limits of US-China Military Cooperation: Lessons from 1995 - 1999,in: The Washington Quarterly, 29 (Winter 2005/6) 1, S. 183.
Vgl. USA besorgt über Aufrüstung in China, in: Handelsblatt vom 19. 10. 2005, S. 9.
Jay Solomon, US Takes China Policy in Two Directions, in: Wall Street Journal vom 17. 11. 2005, S. 2.
Ellen Bork, Asia Awaits America's Vision for Cooperation, in: Financial Times vom 29. 7. 2005, S. 13.
New Frontier for US-Japan Security Relations, Washington (Atlantic Council/Mansfield Centre/Research Institute for Peace and Security), February 2002, S. 4.
State Department Briefing, Washington (Usinfo), 8.3. 2005.
The Military Power of the People's Republic of China, Washington (Department of Defence), 2005, S. 6.
Vgl. Edward Cody, US Forces Realign in Pacific to Counter China's New Might, in: Wall Street Journal vom 19. 9. 2005, S. 3.
James Brooke, Japan's Ties to China: Strong Trade, Shaky Policies, in: New York Times vom 22. 2. 2005 (online).
Wen: US-China Relations Most Important in World, in: Cable News Network vom 12. 12. 2003.
Vgl. Danny Gittings, General Zhu Goes Ballistic, in: Wall Street Journal vom 18. 7. 2005, S. 9.
Vgl. Robert B. Zoellick, Whither China: From Membership to Responsibility? Remarks to National Committee on US-China Relations, New York, 21. 9. 2005, www.state.gov/s/d/rem/53682.htm (16.3. 2006).
Zalmay Khalizad et al., The United States and a Rising China, Santa Monica (Rand Corporation) 1999.
So der Asiendirektor im Nationalen Sicherheitsrat, Michael Green. Bush in China for Talks on Security, Trade, Bird Flu, in: Agence France-Presse vom 19. 11. 2005.
Vgl. Ian Bremmer, The Panda Hedgers, in: International Herald Tribune vom 5. 10. 2005, S. 6.
Zbigniew Brzezinski, A Geostrategy for Eurasia, in: Foreign Affairs, 76 (September/October 1997) 5.
R. Zoellick (Anm. 29).
| Article | Möller, Kay | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29817/die-chinapolitik-der-usa/ | Die Chinapolitik der USA hat seit 2001 vier Phasen durchlaufen: halbherzige Konfrontation, halbherzige Kooperation, Vernachlässigung und drohender Orientierungsverlust. Wenn die US-Administration keine praktikable Strategie entwickelt, könnten Lobbyg | [
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Der Kracher von Moskau | Presse | bpb.de | Der Autor und Filmemacher Thomas Grimm präsentierte am gestrigen Mittwochabend im Stadion des 1. FC Union Berlin das Buch und den Film „Der Kracher von Moskau“. Das Medienpaket wird von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb mit Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben und ist online unter Externer Link: www.bpb.de/219976 bestellbar. Am 21. August 1955 spielten die Fußballnationalmannschaften der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland erstmals gegeneinander. Das Spiel wurde von der Bundesregierung zuerst skeptisch gesehen, später aber genutzt, um ein freundliches Klima zwischen den beiden Staaten mitten im Kalten Krieg zu schaffen. „Das Buch und der Film lassen das Spiel noch einmal ablaufen und beleuchten dabei den Zeitgeist in beiden Teilen Deutschlands rund um die politisch aufgeladene Begegnung“, sagt Grimm.
Denn erst kurz darauf startete die „Moskaureise“ von Bundeskanzler Konrad Adenauer – sein erster Staatsbesuch in der Sowjetunion, der dann auch erfolgreich war: Die Bundesrepublik und die Sowjetunion nahmen diplomatische Beziehungen auf, und Ende 1955 kehrten die letzten deutschen Kriegsgefangenen in ihre Heimat zurück. In Buch und Film „Der Kracher von Moskau“ werden die Geschehnisse durch erhaltenes Original-Film- und -Audiomaterial, Presseberichte sowie Zeitzeugeninterviews eingefangen.
„Politik und Sport sind nur selten so eng verwoben wie bei diesem ganz besonderen Fußballspiel. Aber es ist heute nur noch wenigen bekannt. Ich freue mich, dass die bpb dazu beitragen kann, den ‚Kracher von Moskau‘, und darum handelte es sich damals, wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken“, so Thomas Krüger, Präsident der bpb.
Produktinformation: „Der Kracher von Moskau“ (Buch + DVD) Erscheinungsort: Bonn Bestellnummer: 1566 Bereitstellungspauschale: 4,50 Euro Bestellbar unter Externer Link: www.bpb.de/219976 Weitere Informationen zur Präsentation des Buches online unter: www.bpb.de/krachervonmoskau Eine druckfähige Version des Covers kann unter E-Mail Link: presse@bpb.de angefragt werden. Pressemitteilung alsInterner Link: PDF. Pressekontakt:
Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2016-02-04T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/220170/der-kracher-von-moskau/ | Der Autor und Filmemacher Thomas Grimm präsentierte am gestrigen Mittwochabend im Stadion des 1. FC Union Berlin das Buch und den Film „Der Kracher von Moskau“. Das Medienpaket wird von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb mit Unterstützung | [
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AR und VR in der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus und Holocaust - (Interaktives) Lernen oder emotionale Überwältigung? | Vernetztes Erinnern | bpb.de | Die Technologien Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) finden vermehrt Einsatz im Bildungsbereich. Ihre Möglichkeiten der Immersion und Interaktion und belegte positive Auswirkung auf die Lernerfahrung machen sie auch für die historisch-politische Bildung interessant. So gibt es inzwischen vermehrt VR und AR-Angebote für den Schulunterricht und auch Museen und Gedenkstätten erproben ihren Einsatz. Besonders beim Themenfeld Nationalsozialismus (NS) und Holocaust muss jedoch kritisch hinterfragt werden, welchen fachspezifischen und didaktischen Nutzen die technischen Mittel haben. Das gilt insbesondere für VR und AR-Anwendungen, deren Ziel es ist, virtuelle Darstellungen möglichst immersiv zu gestalten, also künstliche Welten möglichst real zu präsentieren.
Historische Spuren im Raumbild durch AR
Verena Nägel (© privat)
AR bezeichnet die Erweiterung (Augmentation) der physischen Welt durch digitale Elemente wie Animationen, Texte, Daten oder Audio, sowohl in 2D als auch 3D. Zumeist können diese Erweiterungen mithilfe von Geolocation (Positionsbestimmung) in Echtzeit synchronisiert werden, so dass die Nutzerinnen und Nutzer ihre Erfahrung durch Smartphones, spezielle Brillen, Headsets oder andere Displays aktiv mitgestalten können.
Ein Beispiel für die Nutzung von AR in der historisch-politischen Bildung ist eine von der Universität Pompeu Fabra in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen entwickelte AR-Tablet-Anwendung, die Besucherinnen und Besuchern die eigenständige Erkundung der Gedenkstätte ermöglicht. Im Sinne einer als "realism" bezeichneten Herangehensweise, die auf sehr nüchterne Grafikelemente setzt, wird der topografische Ort mittels Geolocation um historische Elemente, zum Beispiel nicht mehr vorhandene Baracken, ergänzt. Aussagen von Zeitzeuginnen und -zeugen werden in Form von Video- und Audio-Ausschnitten präsentiert und nicht als virtuelle Figuren eingebettet. Auch wenn die technische Umsetzung nicht perfekt ist, erscheint diese Verwendung von Augmented Reality insbesondere für historische Lernorte von Relevanz, deren topografische Geschichte nur noch schwer erkennbar ist. Das didaktische Konzept umfasst eine Vor- und Nachbereitung des Gedenkstättenbesuchs in der Gruppe. Dies verdeutlicht, dass hier nicht eine immersive oder emotive, sondern eine analytische und medienpädagogische Auseinandersetzung mit Geschichte im Vordergrund steht, die sehr darauf achtet, dass es nicht zu einer emotionalen Überwältigung kommt. In der Auswertung wird auch die Benutzung der Tablet-App selbst thematisiert und über mediale Repräsentation von Geschichte diskutiert.
Es ist davon auszugehen, dass solche AR-Apps für Tablets oder Smartphones im Museums- und Gedenkstättenbereich in Zukunft verstärkt für die Wissensvermittlung und die Führung von Besucherinnen und Besuchern eingesetzt werden. Damit diese Anwendungen einen Mehrwert darstellen ist die Umsetzung einer technisch hochwertigen Navigation im Raum und eine inhaltliche und pädagogische Kuratierung von hoher Qualität entscheidend.
Virtuelle Museums- und Gedenkstättenbesuche mit 360°-Videos
Als VR wird eine computergenerierte, artifizielle Wirklichkeit bezeichnet, die entweder vollständig imaginär oder eine 3D-Reproduktion der physischen Welt ist. VR wird über Großbildleinwände, in speziellen Räumen oder über ein Head-Mounted-Display (Virtual-Reality Headset oder ähnliches) projiziert. Die Nutzerinnen und Nutzer tauchen komplett in die virtuelle Realität ein (Immersion), die physische Welt tritt in den Hintergrund.
Die derzeit verbreitetste Form der VR in der Bildungsarbeit sind 360°-Videos, mittels derer Museen und Gedenkstätten virtuell besucht werden können. Die 360°-Erfahrung erlaubt eine interaktive Erkundung der zuvor gefilmten Orte, die Nutzerinnen und Nutzer bleiben dabei an den Standpunkt der Kamera gebunden und können nicht mit der physischen Welt interagieren. Ein Beispiel ist die 2017 vom WDR produzierte 9-minütige 360°-Dokumentation Inside Auschwitz, die als weltweit erste Dokumentation dieser Art Ausschnitte aus Zeugnissen überlebender Frauen des Konzentrationslagers einbindet. Eine VR-Version der Dokumentation ermöglicht Nutzerinnen und Nutzer mithilfe einer VR-Brille auch eine virtuelle Tour durch das KZ in Echtzeit-Synchronisation. Diese ermöglicht einen besonders flüssigen Abgleich zwischen eigener Bewegung und Übertragung der VR-Daten und damit das Gefühl der Immersion. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen bewusst keine distanzierte Position einnehmen, sondern die Gedenkstätte erkunden, als besuchten sie diese zu Fuß.
Ein weiteres Beispiel ist die App Anne Frank House VR, die von der Firma Force Field für das Anne Frank Haus entwickelt wurde. Im Unterschied zu dem Museum im Hinterhaus in Amsterdam, in dem auf Wunsch des Vaters von Anne Frank nur leere Zimmer besichtigt werden können, ist das virtuelle Hinterhaus in der VR-App im Stil der 1940er Jahre eingerichtet. Die Anwendung ist also keine fotorealistische Reproduktion der physischen Welt, sondern integriert fiktive Elemente. Sie wird in der Bildungsarbeit zahlreicher Partnerinstitutionen des Anne Frank House eingesetzt, kann aber auch individuell im Oculus VR Store heruntergeladen werden.
Eine Antwort auf das Ende der Zeitzeugenschaft?
Derzeit findet neben einer radikalen digitalen Transformation der Gesellschaft auch ein erinnerungskultureller Wandel statt. Dabei rückt für die historisch-politische Bildung die Frage in den Vordergrund, wie eine Erziehung über Auschwitz ohne direkte Begegnungen mit Überlebenden aussehen kann und wie der Sorge, dass nachfolgende Generationen das Interesse an dem Thema verlieren, begegnet werden kann. Entsprechend werden große Hoffnungen auf die Attraktivität digitaler Technologien gesetzt.
Ein interaktives, digitales Zeitzeugengespräch mit Anita Lasker-Wallfisch (© USC Shoa Foundation)
Seit Jahren wird dem Ende der "Era of Witnesses" (Ära der Zeitzeugenschaft) mit großangelegten Interview-Projekten begegnet und digitale/Online-Bildungsangebote werden für die Nutzung im Schulunterricht entwickelt. Für viel Aufmerksamkeit und Kritik hat dabei das interaktive Dimensions in Testimony-Projekt (DiT) der USC Shoah Foundation (USC SF) gesorgt, das mithilfe aufwendiger Technologie eine Gesprächssituation mit Überlebenden des Holocaust simuliert. Dafür wurden seit 2010 22 Zeitzeuginnen und -zeugen für drei bis fünf Tage beim Beantworten von jeweils zirka 1.000 Fragen gefilmt.Die Interviews wurden mit einer Technologie gefilmt, die in Zukunft eine holografische Darstellung der Interviews ermöglichen kann. Obwohl aktuell der interaktive Aspekt des Projekts im Vordergrund steht und bislang keine Hologramme existieren, sorgte diese Entscheidung für Bewertungen des Projekts als ‚Erinnerungscyborg‘, der Projektionen als ‚Gespenster’, und ‘Auto-Ikonen’. Mithilfe einer Spracherkennungssoftware (ASR) ermittelt das System die passenden Antworten auf die Fragen der Nutzerinnen und Nutzer und ermöglicht so eine interaktive Auseinandersetzung mit den Zeugnissen Überlebender. Die DiT-Anwendung ist derzeit in ausgewählten Museen zugänglich, in Zukunft sind laptopbasierte Einsätze im Schulunterricht geplant. Entscheidend für ein erfolgreiches interaktives Lernen im musealen Bereich ist eine quellenkritische und historische Kontextualisierung der Interviews.
Einen Schritt weiter geht die USC SF mit dem 17-minütigen VR-Film The Last Goodbye (2017), der Nutzerinnen und Nutzer als komplett immersive Erfahrung unter Führung des virtuell projizierten Überlebenden Pinchas Gutter durch das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek führt. Gutter wurde bei einem Rundgang durch das ehemalige KZ vor einem Greenscreen gefilmt und im Nachhinein als 3D-Augmentation mit der unmittelbar im Anschluss an seinen Rundgang als VR gefilmten Gedenkstätte verknüpft. Dies ermöglicht den Nutzerinnen und Nutzern, die Gedenkstätte eigenständig zu erkunden und dabei Gutters Erzählungen zu folgen. The Last Goodbye ist derzeit in mehreren US-amerikanischen Museen zugänglich. Ähnlich wie Inside Auschwitz ist The Last Goodbye nicht ortsgebunden. Als Ziel wird formuliert, geografisch weit entfernten Nutzerinnen und Nutzern einen virtuellen Eindruck von der Gedenkstätte zu bieten.
(Interaktives) Lernen oder emotionale Überwältigung?
Sanna Stegmaier (© privat)
Es ist wichtig, sich die gesellschaftliche Bedeutung von Überlebenden und historischen Orten vor Augen zu führen, will man die vorgestellten Projekte als technologische Antworten auf das Ende der "Era of Witnesses" analysieren. Aufgrund ihres jahrzehntelangen Ringens um Anerkennung und Entschädigung, aber auch durch ihre Rolle als Mahnende gegen die Gefahr des Leugnens, des Vergessens und des Verdrängens sind Überlebende vor allem in Deutschland ein wichtiges politisches Korrektiv. Direkte Begegnungen mit ihnen gelten als besonders eindrückliche Bildungserfahrungen. KZ-Gedenkstätten erinnern als historische Orte sowohl an die Leiden der Opfer als auch an die NS-Verbrechen und haben eine wichtige Bedeutung für das Lernen über den NS und Holocaust. In vielen Fällen wurden sie von Überlebenden gegründet und sind daher eng mit ihrer Zeugenschaft verbunden. Die Besonderheit des Lernens an diesen Orten des Terrors ist die Verbindung ihrer historischen Topografie mit der Vermittlung historischen Wissens. Diese Besonderheiten sind an die realen Personen und Orte geknüpft und können nicht in einer virtuellen Realität nachgestellt werden. Gleichzeitig verdeutlichen die vorgestellten AR- und VR-Projekte, dass pauschale Urteile über ihre Verwendbarkeit in der historisch-politischen Bildung wenig sinnvoll sind. Vielmehr sind sie nach ihrem fachspezifischen und didaktischen Nutzen für das jeweils angedachte Zielpublikum zu bewerten.
Die hier genannten Beispiele zeigen, dass Einsatzszenarien von AR/VR-Technologie den Nutzerinnen und Nutzern die Chance für eine selbstbestimmte und dennoch kuratierte Geschichtsvermittlung eröffnen. Voraussetzung hierfür ist eine enge Zusammenarbeit von Historikerinnen und Historikern, Kuratorinnen und Kuratoren, Pädagoginnen und Pädagogen sowie App-Entwicklerinnen und -Entwicklern bei der Konzeption und Umsetzung von digitalen Angeboten, die die Erkundung der historischen Orte unterstützen, diese aber nicht auf das Digitale reduzieren. Alle hier vorgestellten Angebote – besonders jene, die auf komplett immersive Lernerfahrungen setzen, bedürfen didaktischer Kontextualisierung. Besonders im musealen Bereich, wo sie hauptsächlich von Einzelbesucherinnen und -besuchern genutzt werden, ist unklar, wie diese praktisch gewährleistet werden soll.
Besonders herausfordernd ist der Zusammenhang von Immersion und Empathie in Bezug auf die Darstellung von Überlebenden des Holocaust. Angebote der historisch-politischen Bildung sollten nicht allein eine emotionale Identifikation mit den Opfern zum Ziel haben. Entsprechend sind Distanz und Klärung der eigenen physischen und auch emotionalen Verortung zentral für eine kritische Reflexion des Erfahrenen. Bei VR-Anwendungen wird dies dadurch erschwert, dass der eigene physische Körper selten reproduziert wird. So zeigt der Blick nach unten z.B. nicht den eigenen Körper, sondern den künstlichen VR-Boden. Die Erfahrung der eigenen physischen Verortung im Raum, die insbesondere bei dem Besuch von historischen Orten, wie einer Gedenkstätte entscheidend sind, wird damit zumeist ausgeschlossen.
Insgesamt wird deutlich, dass AR/VR-Angebote in verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen unterschiedlich verhandelt werden und daher lokal adaptiert bzw. ergänzt werden müssen. In den USA, wo Empathie als identifikationsstiftendes Element ein zentraler Bestandteil der "Holocaust Education" ist, gibt es weniger Vorbehalte gegenüber dem Einsatz immersiver und affektiver Anwendungen. In Deutschland hingegen müssen sich die Anwendungen am so genannten Interner Link: "Überwältigungsverbot" des Beutelsbacher Konsens messen.
Festzuhalten bleibt, dass vor allem die Vor- und Nachbereitung entscheidend sind, um kognitive und affektive Elemente zu verknüpfen. Gerade der Einsatz von immersiven Technologien bietet ein großes medienpädagogisches Potenzial, solange auch hier die Erfahrung der Nutzerinnen und Nutzer entsprechend aufbereitet wird.
Verena Nägel (© privat)
Ein interaktives, digitales Zeitzeugengespräch mit Anita Lasker-Wallfisch (© USC Shoa Foundation)
Sanna Stegmaier (© privat)
Vgl. Noureddine Elmqaddem: Augmented Reality and Virtual Reality in Education. Myth or Reality?’ in International Journal of Emerging Technologies in Learning (IJET), 14.3 (2019), S. 234–242 (235), Externer Link: https://doi.org/10.3991/ijet.v14i03.9289: [Datum des Zugriffs: 14.08.2019.]
Studien haben dabei Vorteile dieser Lernerfahrungen belegt, so z.B. Steigerung des Erinnerungsvermögens, der Aufmerksamkeit um 100 Prozent und anschließender Testergebnisse um 30 Prozent, vgl. Elmqaddem, S. 237.
Anm: Am bekanntesten sind die Projekte "Virtuelle Klassenreisen mit Google Expeditions" der Google Zukunftswerkstatt und der Stiftung Lesen, vgl: Externer Link: https://www.derlehrerclub.de/projekte/sekundarstufe/expeditions, [Datum des Zugriffs: 14.08.2019], sowie das ZDF-Projekt History360°, vgl.: Hubert Krech: Virtual Reality im Unterricht. Über dir der Rosinenbomber.‘ ZDF.de. 20.05.2019, Externer Link: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/auf-zeitreise-schueler-testen-zdf-history360-grad-100.html?sfns=mo. [Datum des Zugriffs: 14.08.2019].
Anm.: In diesem Zusammenhang ist auch Ronald T. Azumas Studie zu AR interessant, die 1997 erste Definitionen der AR entwickelte, die bis heute gelten. Vgl. Azuma, Ronald T.: A Survey of Augmented Reality. In: Presence. Teleoperators and Virtual Environments. 6.4 (1997), S. 355-385.
Anm.: Die wohl bekannteste AR Anwendung ist das 2016 veröffentlichte Mobilgeräte-Spiel Pokémon GO, bei dem die Nutzerinnen und Nutzer virtuelle Fantasiewesen in der realen Umgebung angezeigt bekommen und "fangen" können.
Vgl. Verschure, Paul et al.: Spatializing Experience: A Framework for the Geolocalization, Visualization and Exploration of Historical Data Using VR/AR Technologies, Proceedings of the 2014 Virtual Reality International Conference, New York 2014; Externer Link: https://repositori.upf.edu/bitstream/handle/10230/35717/verschure_vric2014_spat.pdf?sequence=1&isAllowed=y, [Datum des Zugriffs: 14.08.2019].
Sheehy, K., R. Ferguson, G. Clough: Augmented Education: Bringing Real and Virtual Learning Together. New York: Palgrave Macmillan, 2015, S. 14.
Inside Auschwitz - Das ehemalige Konzentrationslager in 360°, WDR, Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=QwC5d75iTcA&feature=youtu.be, [Datum des Zugriffs: 14.08.2019].
Vgl. Anne Frank House: Das Anne Frank Haus in Virtual Reality, Externer Link: https://www.annefrank.org/de/uber-uns/was-wir-tun/unsere-publikationen/das-anne-frank-haus-virtual-reality/ [Zugriff am 14.08.2019].
Hier könnten weitere VR-Projekte genannt werden, z.B. das von der University of Connecticut initiierte Projekt Courtroom 600, das sich noch in der Entwicklungsphase befindet und das eine immersive Erfahrung der Nürnberger Prozesse 1945/46 ermöglichen soll.
Wiewiorka, Annette: The Era of the Witness, Ithaca, 2006.
Vgl. z.B. Lernen mit Interviews: Externer Link: https://lernen-miot-interviews.de, Zeugen der Shoah: Externer Link: https://www.zeugendershoah.de/, Sprechen trotz allem: Externer Link: https://www.sprechentrotzallem.de, weiter_erzählen: Externer Link: https://www.weitererzaehlen.at/, [Datum des Zugriffs: 14.08.2019].
Vgl. z.B.: Brumlik, Micha: Hologramm und Holocaust. Wie die Opfer der Shoah zu Untoten werden, in: Baader, Meike Sophia/Freytag, Tatjana (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Eine pädagogische und bildungspolitische Herausforderung, Köln/Weimar/Wien 29015, S. 19-30; De Jong, Steffi: Von Hologrammen und sprechenden Füchsen – Holocausterinnerung 3.0, in Tagung #erinnern_kontrovers, Externer Link: https://erinnern.hypotheses.org/465 [letzter Zugriff am 10. September 2019].
Anm.: Ein erstes deutschsprachige DiT-Interview wurde im März 2019 mit Anita Lasker Wallfisch in London aufgenommen
Vgl. z.B.: Brumlik, Micha: Hologramm und Holocaust. Wie die Opfer der Shoah zu Untoten werden, in: Baader, Meike Sophia/Freytag, Tatjana (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Eine pädagogische und bildungspolitische Herausforderung, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 19-30; Jeffrey Shandler, Holocaust Memory in the Digital Age : Survivors’ Stories and New Media Practices, Stanford, 2017; , Steffi de Jong, ‘"Von Hologrammen und sprechenden Füchsen – Holocausterinnerung 3.0"’, in Tagung #erinnern_kontrovers <Externer Link: https://erinnern.hypotheses.org/465> [accessed 10 July 2018].
The Last Goodbye’. The USC Shoah Foundation. Externer Link: https://sfi.usc.edu/lastgoodbye/film. [Zugriff am 14.08.2019].
Vgl. z.B. Jureit, Ulrike; Schneider, Christian: Gefühlte Opfer: Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart: Klett-Cotta, 2010.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-10T00:00:00 | 2019-10-13T00:00:00 | 2022-01-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/298168/ar-und-vr-in-der-historisch-politischen-bildung-zum-nationalsozialismus-und-holocaust-interaktives-lernen-oder-emotionale-ueberwaeltigung/ | Welche Rolle können VR und AR in der Bildungsarbeit zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust spielen? Können diese Technologien eine Antwort auf das Ende der Zeitzeugenschaft sein? Ein Beitrag von Verena Nägel und Sanna Stegmaier. | [
"VR",
"AR",
"Virtual Reality",
"Augmented Reality",
"Gedenkstätte",
"Nationalsozialismus",
"Holocaust",
"historische Bildungsarbeit"
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Deutsche Kunst-Geschichten 20 Jahre nach der "Wende" | Deutschland Archiv | bpb.de | Sammelrezension zu:
Anke Kuhrmann, Doris Liebermann, Annette Dorgerloh: Die Berliner Mauer in der Kunst. Bildende Kunst, Literatur und Film (Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht. Herausgegeben von der Stiftung Berliner Mauer), Berlin: Ch. Links 2011, 423 S., € 34,90, ISBN: 9783861536529. Kunst in Ost und West seit 1989. Rückblicke und Ausblicke, Hg. Präsident und Direktorium der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Göttingen: Wallstein 2010, 196 S., € 19,–, ISBN: 9783835307681. Franziska Dittert: Mail Art in der DDR. Eine intermediale Subkultur im Kontext der Avantgarde, Berlin: Logos 2010, 743 S., € 69,–, ISBN: 9783832526184. Gundula Schulze Eldowy: Berlin in einer Hundenacht/Berlin on a Dog's Night. Fotografien/Photographs 1977–1990, Leipzig: Lehmstedt 2011, 248 S., € 29,90, ISBN: 9783942473156. Gundula Schulze Eldowy: Am fortgewehten Ort. Berliner Geschichten, Leipzig: Lehmstedt 2011, 248 S., € 24,90, ISBN: 9783942473118. Der 20-jährige Abstand zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschland hat die kulturhistorische Forschung motiviert, Bilanz zu ziehen, wie weit in den Künsten die mentalen Unterschiede beseitigt sind und heute einer differenzierten Würdigung der Weg gebahnt werden konnte. Ein offener Blick und kritische Reflexion zur Entwicklung in den verschiedenen Kunstgenres haben inzwischen die von Vorurteilen belastete Konfliktaustragung verdrängt, auch wenn 2009 die ignorante Ausgrenzung von ostdeutscher Kunst in der offiziösen Berliner Ausstellung "60 Jahre 60 Werke – Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2009" noch einmal aufflackern konnte. Erfreulicherweise hat eine weitere Ausstellung im gleichen Jahr, "Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945–89", die in Los Angeles, Nürnberg und Berlin gezeigt wurde und aus einer gemeinschaftlichen Forschungsarbeit amerikanischer und deutscher Kunstwissenschaftler hervorging, die zuvor grassierenden polemischen Bewertungen ostdeutscher Nachkriegskunst korrigieren können und die Teilungsgeschichte einer multiperspektivischen Betrachtung unterzogen. Die Berliner Mauer in der Kunst
Die Berliner Mauer in der Kunst (© Chr. Links Verlag)
In der Fortsetzung solcher Initiativen führt ein umfangreicher Dokumentationsband die Ergebnisse zusammen, die drei Autorinnen zum Erscheinungsbild der Berliner Mauer in der Kunst gesammelt haben. Die einzelnen Beiträge zu den Gattungen Bildende Kunst, Literatur und Film filtern repräsentative Beispiele aus Ost und West heraus und untersuchen die interpretativen Absichten, die das jeweilige künstlerische Werk hinterfangen. Sowohl im Westen als auch im Osten herrschte lange Zeit die Meinung vor, die Mauer sei als Sperranlage kaum ein Thema der Bildenden Kunst gewesen. Dass dieser Eindruck täuscht, belegen die Ausführungen von Anke Kuhrmann, die eine Vielzahl von Mauer-Sujets in der deutsch-deutschen Kunst vor und nach der "Wende" auflisten kann. Dabei klammert sie auch die Auftragskunst nicht aus, mit der die SED die Errichtung der Mauer ihrer seit dem 13. August 1961 eingesperrten Bevölkerung als "antifaschistischen Schutzwall" ideologisch zu rechtfertigen suchte. Im Fokus dieser Bilder standen jedoch nicht die Grenzanlagen, denn diese waren mit einem generellen Darstellungsverbot belegt. Die verordnete Bildikonografie beschränkte sich vielmehr auf den als friedenssstiftend apostrophierten Dienst der Grenzsoldaten. Dennoch wagten es einige kritisch eingestellte Künstler – Anke Kuhrmann nennt unter anderen Konrad Knebel, Manfred Butzmann, Peter Herrmann,
Martin Hoffmann, Die Mauer (1980). Sepia-Aquarell, 102 x 73 cm. (© Martin Hoffmann)
Martin Hoffmann und Robert Rehfeldt – den bedrohlichen und inhumanen Charakter der Grenzanlagen darzustellen. Stacheldraht war die Metapher, mit der Roger Loewig in apokalyptischen Bildern die Grausamkeit des Grenzregimes offen brandmarkte. Dafür nahm er 1963/64 Verhaftung und Verurteilung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe in Kauf und musste nach seinem 1967 gestellten Antrag bis 1972 auf seine Ausreisegenehmigung warten. Angekommen in der Bundesrepublik prägten sein uvre weiterhin die Alpträume in der SED-Diktatur, die er in eindringlichen Szenarien protokollierte. Im Westen lebende Künstler näherten sich dem Mauerthema vor allem über die Vergegenwärtigung der geteilten Stadt und des leeren Niemandslandes, das Berlin – aus der Vogelperspektive gesehen – weithin sichtbar durchschnitt. Signifikant ist in diesem Kontext das Berlin-Panorama, das der 80-jährige Oskar Kokoschka im Auftrag des Verlegers Axel Springer von dessen neu errichtetem Verlagshaus an der Kochstraße aus am fünften Jahrestag des Mauerbaus ins Bild setzte. Auf die Brutalität des Grenzregimes und die menschlichen Tragödien reagierten in der Bundesrepublik zumeist nur Künstler, die aus der DDR emigriert waren, sieht man ab von der aufrüttelnden Collage aus Pressefotos, die Wolf Vostell dem tödlich geendeten Fluchtversuch von Peter Fechter drei Jahre nach dem schrecklichen Grenzgeschehen gewidmet hat. Nach der "Wende" stellte sich die Mauer selbst für eine kurze Phase bis zu ihrer Demontage und Teilmusealisierung als ein mit Graffiti ästhetisiertes, von Mauerspechten dekonstruiertes Gesamtkunstwerk dar. Prominenter Mauerkunstort wurde die später als East Side Gallery titulierte "Hinterland-sicherungsmauer" zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, deren gerahmte Betonfelder 1990 in- und ausländische Künstler mit 106 großformatigen Bildern bemalten. Bereits 1986 hatte der amerikanische Graffitikünstler Keith Haring ein Mauersegment am Checkpoint Charly mit einer Folge seiner schwarz-roten Strichfiguren versehen. Im Jahre 2000 mussten die Mauerbemalungen nach starker Verwitterung einer Restaurierung unterzogen werden, die bis 2010 die Fachhochschule Potsdam im Rahmen eines Studienprojektes durchgeführt hat. Zu den wenigen Gemälden, die den bejubelten Mauerfall ins Bild setzen, gehört Matthias Koeppels "Ex Oriente Lux" von 1989. In der Nachwendezeit erscheinen die Mauertrümmer, die gestürzten Wachtürme und der rasch voranschreitende Mauerabbruch als Bildmotiv, so bei Manfred Butzmann und Roger Loewig.
Wolfgang Bittner, Die East Side Gallery nach der ersten abgeschlossenen Betonsanierung 2010. Die drei Wandbilder im Vordergrund (v.r.) stammen von Sabine Kunz (Die Tanzenden), Elisa Budzinski (Visualisiertes Gedicht von Erich Fried) und Peter Peinzger (Stadtmenschen). (© Wolfgang Bittner)
Mit ihrer umfassenden Dokumentation gelingt Anke Kuhrmann eine wichtige Spurensicherung, denn die Mauer- und Grenzbilder sind in ihrer unterschiedlichen Sicht Zeugnisse und Kommentare zur Zeitgeschichte der deutschen Zweistaatlichkeit, "sie erzählen davon, was die Menschen 28 Jahre lang diesseits und jenseits der Berliner Mauer bewegte und was es heißt, zusammenwachsen zu lassen, was zusammengehört – baulich wie menschlich" (186). Doris Liebermann untersucht bei ihrer Bestandsaufnahme literarischer Texte die jeweiligen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, welche die Existenz der Mauer in den verschiedenen Phasen der Teilungsgeschichte verursachte. Ähnlich wie in der Bildenden Kunst war die Mauer auch für ostdeutsche Autoren ein viel drängenderes Thema als für westdeutsche Kollegen. Liebermann macht in beispielhaften Textanalysen die besonderen physischen und psychischen Belastungen und politischen Reaktionen deutlich. So erleben jüngere Schriftsteller die Situation der Teilung Deutschlands anders als ihre älteren Kollegen. Lutz Rathenow, der 1952 geboren in ein geteiltes Land hineinwächst, hat keine Vorstellung mehr davon, wie das Leben in der westlichen Hälfte aussieht. Schicksalhaft verändert die Grenze jedoch sein Leben, als er 1972/73 seinen Wehrdienst als Grenzsoldat in Thüringen leisten muss (289). Nach der mauerbewehrten Abriegelung der DDR sahen sich die Literaten dazu herausgefordert, über Flucht oder Verbleiben in der DDR zu reflektieren. Christa Wolfs Erzählung "Der geteilte Himmel" (1963) und Uwe Johnsons Roman "Zwei Ansichten" (1965) handeln von existenziellen Entscheidungen, die noch vor dem Mauerbau getroffen worden sind. Während sich Johnsons Protagonisten für den Westen entschließen, hier aber mit unterschiedlichen Lebensansichten getrennte Wege gehen, stellt Christa Wolfs Heldin im Gegensatz zu ihrem Freund im Glauben an die Realisierung der sozialistischen Utopie die Treue zu ihrer Heimat und zu ihren Arbeitskollegen über ihr persönliches Glück. Später wird die Thematik des frei gewählten Weggehens aus der DDR, das auch Brigitte Reimann in ihrer Erzählung "Die Geschwister" gleichzeitig mit Christa Wolf aufgegriffen hatte, in dieser Form nicht mehr in Erscheinung treten können, denn "Republikflucht" ist inzwischen zur tödlichen Gefahr geworden. Wolf Biermann, der überzeugte Kommunist, schafft für diese Todesgrenze das treffliche Sprachbild des "versteinerten und verstacheldrahtesten Monsters" (236) und beklagt im denkwürdigen Jahr seiner Ausbürgerung 1976 die zementierte Teilung in der "Ballade vom preußischen Ikarus". Dieser Zwangsmaßnahme folgt der Exodus zahlreicher Schriftsteller. Den literarischen Texten, die aus diesen Erfahrungen hervorgegangen sind, widmet Liebermann eine pointierte Sichtung. Sie zitiert Gedichte wie "Trennung" und "The Last of November" von Sarah Kirsch, die selbst 1979 resigniert die DDR verlassen wird, sowie Textpassagen aus dem 1977 im West-Berliner Rotbuch Verlag erschienenen Prosaband von Thomas Brasch "Vor den Vätern sterben die Söhne". In den Biografien der vorgestellten Schriftsteller, die Liebermann kurz resümiert, bildet die Biermann-Ausbürgerung immer den Einschnitt, dem der Antrag auf Ausreise folgt. Die Liste reicht von Jurek Becker, Peter Huchel, Monika Maron bis zu Hans Joachim Schädlich, Klaus Schlesinger und weiteren Autoren. Zu den wenigen westdeutschen Schriftstellern, die auf Biermanns Ausbürgerung und die Ausreisewelle von Kollegen aus der DDR reagieren, gehört der in West-Berlin lebende Peter Schneider. In seiner Erzählung "Die Mauerspringer" (1982), die als Tragikomödie unter dem Titel "Der Mann auf der Mauer" noch im selben Jahr auch in die westdeutschen Kinos kam, beschreibt Schneider die Entfremdung, die sich mittlerweile auftut, wenn Ost- und Westdeutsche zusammentreffen (296). Eine bemerkenswerte Abrundung erhält die Bestandsaufnahme literarischer Texte zur Mauer-Thematik durch jene Textpassagen, in denen Susanne Schädlich, Tochter des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich, in ihrem autobiografischen Buch "Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich" (2009) ihre Selbstwahrnehmung als Zwölfjährige nach dem Grenzübertritt mit den Eltern beschreibt: "Die Schizophrenie der Stadt war wie ein Spiegel unserer selbst" (317). Den Weg in den Westen nahm Susanne Schädlich weniger als Gang in die Freiheit denn als Beginn eines unsteten Lebens mit Verlusten, Heimatlosigkeit und Entwurzelung wahr. Im dritten Teil des Sammelbandes analysiert Annette Dorgerloh den engen Zusammenhang zwischen der Politik des Kalten Krieges und der Filmproduktion zur Mauer-Thematik. Dabei untersucht sie die von ihr vorgestellten Filme nicht nur auf ihre Story, sondern auch auf ihre jeweilige szenografische Präsentation. Wie in der Literatur bildete auch in den frühen DEFA-Filmen zum Thema Republikflucht der Interessenkonflikt zwischen Weggehen und Dableiben das prägende Muster. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Mauerbau entstehen zu dieser Problematik Filme wie Heiner Carows "Das Leben beginnt" (1960) und Kurt Maetzigs "Septemberliebe" (1962). Da der Film im Osten – anders als im Westen – kein Wirtschaftsfaktor, sondern ein Propagandainstrument war (schon Lenin hatte den Film als "die wichtigste aller Künste" bezeichnet), bemühte sich die DEFA, die Grenzabriegelung mit anspruchsvollen Spielfilmen wie Heinz Thiels "Der Kinnhaken" (1962) zu verteidigen, an dessen Drehbuch zu einer konfliktreichen Paarbeziehung zwischen Ost- und West-Berlin auch der Hauptdarsteller Manfred Krug mitarbeitete. Generell tauchte die Mauer jedoch in den Filmen der 1960er- und 70er-Jahre nicht mehr auf. Eine Ausnahme bildete nur der Film "Die Flucht" (1979) von Roland Gräf, doch war es selbstverständlich, dass die Flucht nicht gelingen durfte und darauf abzielte, "die Bürger im Land zu behalten" (380). Auch im Westen wurden einige wenige Filme zur Fluchtproblematik nach dem Mauerbau produziert, doch sie blieben wie die Filme von Will Tremper trotz spannender Handlung ein Misserfolg. Ehemalige Flüchtlinge, auf deren Interesse der Regisseur hoffte, wollten nicht mehr an die Vergangenheit erinnert werden, und Bundesbürger ohne verwandtschaftliche Bindungen in die DDR ignorierten die Filme zur Ost-West-Problematik. Das galt auch für Billy Wilders Filmkomödie "Eins, zwei, drei" (1961), in deren Drehzeit der Mauerbau fiel. Da es danach nicht mehr möglich war, am Brandenburger Tor zu drehen, wurde ein kostspieliger Kulissenbau notwendig. In der Bundesrepublik stieß Wilders Film auf Unverständnis, weil nach dem 13. August niemand mehr über eine humorvolle Darstellung des Kalten Krieges lachen konnte. Erst in den 1990er-Jahren fand "Eins, zwei, drei" eine vielbeachtete Resonanz. Erfolgreich war dagegen das Genre des Spionage- und Agentenfilms, für den Mauer und Sperranlagen ein Spannung erzeugendes Motiv boten. So beginnt die englische Verfilmung von John Le Carrés "Der Spion, der aus der Kälte kam" "mit einem – nachgebauten – Berliner Checkpoint und endet mit einem tödlichen Showdown in einem Grenzabschnitt zwischen Potsdam und Berlin" (391). Ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer entstehen neben spannend rekonstruierten Flucht- und Tunnelbaugeschichten mit Filmen wie Leander Haußmanns "Sonnenallee" (1999) und Wolfgang Beckers "Good bye Lenin" (2003) Produktionen, die es schaffen, "die untergegangene DDR und ihre Grenze nachhaltig der Lächerlichkeit preiszugeben, ohne das gelebte Leben darin infrage zu stellen" (406). Heute sind die alten Spielfilme aus der Zeit des Kalten Krieges ein wertvolles Arsenal unserer Erinnerungskultur. Sie verfügbar zu halten, ist ein wesentliches Anliegen der Forschungsinitiativen zur Geschichte von Mauer und Flucht. Die drei Autorinnen stellen mit der Publikation ihrer Forschungsarbeit eine umfangreiche Materialsammlung zur Berliner Mauer in Bildender Kunst, Literatur und Film bereit, wobei das einzelne Werk nicht nur in seiner Thematik, sondern auch mit seinen zeit- und mentalitätsgeschichtlichen Kontexten greifbar wird. Mit Blick auf diese Leistung bedauert man als Benutzer des Sammelbandes umso mehr das Fehlen eines Namen- und Werkregisters, die ein rasches Auffinden des Einzelwerkes ermöglichen würden. Kunst in Ost und West seit 1989
Kunst in Ost und West (© Wallstein Verlag)
Im Oktober 2009 und Februar 2010 veranstaltete die Bayerische Akademie der Schönen Künste unter dem Titel "Kunst in Ost und West seit 1989. Rückblicke und Ausblicke" eine Gesprächsreihe, die der Frage nachging, ob und wie Kunst und Kultur aus den westlichen und östlichen Bundesländern in der Nachwendezeit zusammengefunden haben. Die wichtigsten Beiträge zu Bildender Kunst, Literatur, Musik, Architektur und Musiktheater sind in einem schmalen Sammelband ediert worden. Den Rückblick auf die Bildende Kunst unternahmen die Kunstkritiker Laszlo Glozer und Eduard Beaucamp. Denn beide hatten sich in ihrer langjährigen Praxis als Kunstkommentatoren – Glozer für die "Süddeutsche Zeitung", Beaucamp für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" – gegensätzlich positioniert. Während sich Beaucamp seit den 1970er-Jahren gleichermaßen für systemkonforme und unangepasste Künstler aus der DDR einsetzte und in zahlreichen Feuilletonbeiträgen deren Qualitäten offenzulegen suchte, profilierte sich Glozer 1981 als Kurator der Ausstellung "Westkunst", die als erste große Übersichtsschau der internationalen Moderne "namengebend für eine Abgrenzung der 'Westkunst' gegenüber dem Osten wurde" (20). Entsprechend unterschiedlich lesen sich die Stellungnahmen der beiden Diskutanten. Glozer führt in seinem Statement aus, dass für renommierte Künstlerpersönlichkeiten in Westdeutschland eine nationale Repräsentanz nachrangig blieb. Durch den Einfluss der amerikanischen Avantgarde in der alten Bundesrepublik war man stattdessen, wie Glozer es nennt, "nomadisch international fermentiert" (21). Auch die Entwicklungen der deutschen Kunst in den 20 Jahren nach der "Wende" sieht Glozer mehr von transatlantischen Veränderungen als von dem vielzitierten deutschen Bilderstreit geprägt. Dagegen hält Beaucamp eine Auseinandersetzung mit den Ursachen des immer wieder entflammenden Bilderstreits für unverzichtbar, um Vorurteile und Beschimpfungen endlich auszuräumen. Er rekapituliert die Einbindung der westdeutschen und der ostdeutschen Kunstszene in die beiden feindlichen Machtsphären des Kalten Krieges und verweist darauf, dass die Kunst "im Osten heftiger und länger als im freiheitlichen Westen als Waffe im Wettbewerb der Systeme" benutzt wurde (27). Indem er noch einmal die markanten Etappen der Polarisierung nachzeichnet, erinnert Beaucamp zugleich daran, dass solche antithetischen Spaltungen die deutsche Kultur seit der Romantik durchziehen und eine lange Geschichte der Missverständnisse, Demütigungen und Konfrontationen verursacht haben (30). Obwohl auch Beaucamp 20 Jahre nach der Wiedervereinigung eine gewisse Entspannung im Umgang von Künstlern aus Ost und West diagnostiziert und der Leipziger Maler Neo Rauch "zum Aushängeschild der gesamten Republik" avancieren konnte (26), steht für ihn "die Fusion beider deutscher Nachkriegskunstgeschichten" weiterhin aus (32). Die Gräben, die das Vereinigungsdrama in der Literatur aufgerissen hat, werden nicht aus der Distanz von neutraler Beobachtung, sondern aus dem emotionalen Erfahrungshorizont einer verletzten Biografie geschildert. Reiner Kunze, der nach Erscheinen seines Prosabandes "Die wunderbaren Jahre" in einem Westverlag (S. Fischer) 1976 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen worden war und 1977 in die Bundesrepublik übergesiedelt ist, berichtet von den Ausgrenzungen und Schikanen, die er, seine Familie und Freunde nach der nichtgenehmigten Westveröffentlichung des Buches erdulden mussten. In der Bundesrepublik blieb Kunze ein unangepasster Schriftsteller, der vor allem bei der intellektuellen Linken auf Ressentiments stieß. Nach der "Wende" rissen die in der DDR erlittenen Wunden erneut auf, als Kunze seiner Stasiakte (die er 1990 auszugsweise unter dem Titel "Deckname 'Lyrik'" veröffentlicht hat) die Namen vermeintlicher Weggefährten entnahm, die ihn ausgehorcht und mit ihren Denunziationen den Drangsalierungen der Staatssicherheit ausgesetzt hatten. So wichtig solche Zeitzeugenschaft für unsere Erinnerungskultur ist, sollte im Rückblick auf die Literatur der letzten 20 Jahre eine Reflexion darüber nicht fehlen, wie die jüngeren Autoren aus Ost und West das geteilte Deutschland in ihren Werken wahrgenommen haben. Man hätte sich wenigstens in Ansätzen eine ähnliche Sondierung von Gegenwartsliteratur gewünscht, wie dies Richard Kämmerlings in seinem 2011 erschienenen Buch "Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89" in seiner persönlichen Perspektive gelungen ist. Zwei weitere Gesprächsrunden beleuchten das Umfeld von Musik und Darstellender Kunst, wo die Kluft zwischen Ost und West weniger rigoros war als in der Bildenden Kunst. Opernregisseure, Orchester und Solisten hatten relativ große Reisefreiheiten für Gastspiele ins westliche Ausland und in die Bundesrepublik. So berichtet der Komponist Siegfried Matthus von dem Privileg, seine Kompositionen auf Orchestertourneen begleiten zu dürfen, und der Opernregisseur Joachim Herz zeichnet in seinen anekdotischen Ausführungen zum Musiktheater in der DDR ein breites Bild seiner freien Arbeitsmöglichkeiten, die jedoch – und das wird leider in dem Gespräch nicht deutlich – eher für diesen Bereich als für das Schauspiel zutreffend waren. Der Musikwissenschaftler Peter Gülke begründet die Freiräume damit, dass Musik "kaum ideologisch kontrollierbar" ist (87) und dass daher auch solche Kompositionen aufgeführt werden konnten, die nicht den Maßgaben des Sozialistischen Realismus entsprachen (83). Das interessanteste Kapitel des Sammelbandes resultiert aus der Gesprächsrunde zur Architektur, die von dem Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen" Dieter Bartetzko und dem Architekturpublizisten Wolfgang Kil bestritten wurde. Die beiden Kritiker richten ihr Augenmerk auf die "nachholenden" städtebaulichen Entwicklungen in den neuen Bundesländern und enthüllen angesichts eklatanter Entvölkerungsprozesse die alte Strategie eines "Wachstums um jeden Preis" als ebenso verfehlte Praxis wie die Abrissprogramme (126). Es gilt vielmehr, die im Osten noch vorhandenen intakten historischen Stadtkerne für "das Leben der Bürger" wieder funktionsfähig zu machen (149). Den im Buchtitel angekündigten "Ausblicken" auf die Entwicklungsperspektiven der wiedervereinigten Künste werden die Gespräche nur ansatzweise gerecht. Zu sehr stehen Rückblicke auf eigenes Handeln und Erleben im Vordergrund. So zeigt die Lektüre des schmalen Bandes, dass solche Gespräche für eine tiefergehende Analyse nur begrenzte Anstöße vermitteln können, weil sie eher Meinungen pointieren als Probleme ausloten. Mail Art in der DDR
Mail Art in der DDR (© Logos Verlag)
Kunstpraxis mit avantgardistischen Elementen war in der DDR offiziell ausgegrenzt. Wo sie dennoch betrieben wurde, gehörte sie zur Subkultur, die sich ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre herausbildete. In den 1980er-Jahren entwickelte dieses Milieu unter anderem mit Free Jazz, Diaprojektionen und performativen Dada-Festen ein breites Spektrum an Ausdrucksformen, die eine enge aktionistische Vernetzung eingingen. In dieser Atmosphäre etablierte sich auch die Mail Art als alternative Kunstszene für Künstler und Künstlergruppen, die ganz bewusst nach Kommunikationsmöglichkeiten außerhalb des von der SED gelenkten Kulturbetriebes suchten. Dieser intermedialen Subkultur hat Franziska Dittert ihre Forschungsarbeit und ihre 2010 veröffentlichte voluminöse Dissertation "Mail Art in der DDR" gewidmet. Mail Art, das Versenden von Künstlermitteilungen in Gestalt von Postkarten, Briefen, gefalteten Plakaten oder kleinen Objekten über den Postweg, stellte seit Mitte der 1960er-Jahre im Kontext von Neo-Dada ein international praktiziertes Verständigungsmittel dar. Am Netzwerk von Mail Art beteiligten sich zu einer Zeit, als es noch keine Fax- und Kopiergeräte gab, prominente Vertreter der amerikanischen und europäischen Fluxus-Bewegung. Sie nutzten die sogenannte "Flux-post" für ihre künstlerische Korrespondenz, in der sie sich wechselseitig über geplante Festivals und Konzerte informierten und Partituren, Notizen oder Einladungen austauschten. Solche Flux-post verschickte Joseph Beuys, versehen mit eigenen Stempeln, auch an von Klaus Staeck gesammelte Adressen in der DDR, wobei auf diesem Weg seine Ideen über direkte Demokratie nach Ostdeutschland einsickerten. In der alternativen Kunstszene der DDR erhält die Mail Art eine über den Kontext von Fluxus und Dada hinausgreifende gesellschaftspolitische Bedeutung in der Subkultur. Sie wird zum Medium persönlicher und gruppendynamischer Kontakte innerhalb der DDR sowie ins ost- und westeuropäische Ausland. Mail Art eröffnet künstlerisch die Teilhabe an den Strömungen der Avantgarde und überbrückt politisch subversiv die Schranken des Gefangenseins im eigenen Land nach dem Mauerbau. Dittert hat die Aktivitäten der ostdeutschen Mail Art, ihre besondere Prägung und ihr Funktionssystem einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Sie analysiert ihre intermedialen Merkmale und ihr Zusammenspiel von Bild- und Textelementen, wobei sie die Verwendung von Collage, Fotomontage, Stempeldruck, Visueller und Konkreter Poesie als Manifestation einer experimentierfreudigen Avantgarde in der DDR interpretiert. Darüber hinaus stellt die Autorin die Künstlerpersönlichkeiten vor, die sich – mit unterschiedlicher Ausdauer – der Mail-Art-Kommunikation gewidmet haben. Hauptinitiatoren der Mail Art in der DDR waren Robert Rehfeldt und
Joseph W. Huber, Mail Art (WAR), o.J. (© Joseph W. Huber)
Joseph W. Huber, sie betrieben als erste die Korrespondenz mit internationalen Partnern. Durch seine Freundschaft mit Rehfeldt erfuhr Oskar Manigk von der Mail Art. Ihn reizte an deren Teilnahme die Möglichkeit, "etwas zu tun gegen die andauernde Isolation", und es war für ihn einfach anregend, "Post von Unbekannten in unerreichbaren Orten zu erhalten" (662). Den intensivsten Zuwachs erfuhr die Mail-Art-Kommuikation der DDR in den Jahren 1978–1981, nachdem der Kunstvermittler Klaus Werner in der Ost-Berliner Galerie "Arkade" eine Ausstellung mit Katalog zum Thema "Postkarten und Künstlerkarten" veranstaltet hatte. In den 1980er-Jahren veränderte sich das Mail-Art-Netzwerk durch einen verstärkten Einsatz von Kopiergeräten. In diesem Kontext legt Dittert die subversiven Methoden offen, mit denen die ostdeutschen Mail-Artisten ihre Materialbeschaffung und die Vervielfältigung ihrer Produktionen betrieben. Unter anderem unterliefen sie das Verbot einer nichtgenehmigten Herstellung von Bild-Erzeugnissen mit Hilfe von Druckmaschinen, indem sie sich auf die "Honorarordnung Bildende Kunst" vom 31. August 1971 beriefen. Danach wurde erst bei einer Auflage von 100 oder mehr Exemplaren die Einholung einer Druckgenehmigung für druckgrafische Arbeiten verlangt. Mail-Artisten und Herausgeber inoffizieller Zeitschriften deduzierten aus dieser Honorarordnung den Umkehrschluss, dass eine Auflage von bis zu 99 Exemplaren nicht genehmigungspflichtig sei (237). Ein ausführliches Kapitel der Dissertation beleuchtet die Überwachung des Mail-Art-Netzwerkes durch die Postkontrolle und die Staatssicherheit. So informiert der Abdruck von Dokumenten darüber, auf welche Weise das Ministerium für Staatssicherheit Spitzel in die Mail-Art-Szene eingeschleust hat. Generell kommt Dittert jedoch zu dem Schluss, "dass die Staatssicherheit keinen Überblick über die gesamte Mail-Art-Szene in der DDR und deren internationale Vernetzung" hatte. Daraus erklärt sie die Tatsache, "dass die Mail-Artisten teilweise relativ unbehindert kritische Karten und Briefe verschicken und Ausstellungen durchführen" konnten (448). Letztlich war die weltweite Postvernetzung eine Art Rückversicherung für die Künstler, denn die DDR-Staatsführung wollte den wachsenden Anerkennungsprozess im Ausland und ihre Wirtschaftsbeziehungen möglichst wenig durch Proteste von ausländischen Künstlern gefährdet sehen. Im Unterschied zur breiten Behandlung der politischen Implikationen, die mit der ostdeutschen Mail Art verbunden sind, vermeidet Dittert in ihren Ausführungen eine klare Stellungnahme zu deren ästhetischem Stellenwert. Vielmehr trennt sie die Mail Art in Anlehnung an Geza Perneczky (The Magazine Network. The Trends of Alternative Art in the Light of their Periodicals 1968–1988, Köln 1993) von einer dem internationalen Kunstmarkt zuzuordnenden "Elitekunst", deren künstlerischer Wert sich angeblich an der Relation zu ihrem ökonomischen Wert bemesse. Stattdessen resultiere die ästhetische Qualität der Mail Art aus dem Umfang ihrer freien künstlerischen Entfaltung und aus ihrer Kommunikationskraft im raschen Vollzug von Mail-Art-Versand und -Weitergabe. Für Dittert hat die Mail Art somit eine gänzlich andere ästhetische Funktion als ein tradiertes Kunstwerk, denn nicht die individuelle Leistung des Produzenten ist für ihre Bedeutung wichtig, sondern die quantitative Breite ihrer Netzkommunikation, die allen, die an Mail-Art-Aktivitäten teilnehmen wollen, eine freie künstlerische Entwicklung ermögliche. Der Verzicht auf Qualitätskriterien für die Bewertung des einzelnen Produkts von Mail Art mag in der Tat Grund dafür sein, dass namhafte Künstler nur sporadisch an dieser subkulturellen Kunstform teilgenommen haben und die Praxis von Mail Art mit der "Wende" zu Ende gegangen ist. Anders als Dittert haben es die Mail-Artisten Lutz Wohlrab und Friedrich Winnes in der von ihnen herausgegebenen Publikation "Mail Art SZENE DDR 1975–1990" (Berlin 1994) nicht versäumt, neben dem kollektiven Kunstcharakter des "Kunstspiels mit der Post" auch die Einzelleistungen ihrer Künstlerkollegen hervorzuheben. Ihnen gelang diese differenzierte Sichtung nicht zuletzt durch ihre qualitativ überzeugende Auswahl von Werkabbildungen. Mit ihrer Dissertation liefert Franziska Dittert eine umfassende Dokumentation zur Mail Art aus der DDR und erschließt die Archive, in denen umfangreiche Sammlungen heute lagern. Doch eine kritische Aufarbeitung der literarischen und bildnerischen Sprachformen, derer sich die Mail Art bedient hat, bleibt sie schuldig. So kann sich der Leser nur schwer ein eigenes Urteil über den künstlerischen Stellenwert dieser per Postversand praktizierten Subkultur bilden. Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR und dem Historisierungsprozess der ostdeutschen Mail Art wäre jedoch eine genauere Würdigung der künstlerischen Komponenten dieser Kunstpraxis wünschenswert gewesen. Gundula Schulze Eldowys außergewöhnliche Autorenfotografie
Wie die Mail Art war auch eine Autorenfotografie ohne offiziellen Auftrag Teil einer subkulturellen Kunstszene aus der DDR, deren Stellenwert sich erst nach der "Wende" erschließen konnte. Denn anders als die diktierte Bildproduktion für die Parteipresse erreichte diese Fotografie eine ungeschminkte Nähe zum Alltag der Menschen. Wer vor der "Wende" Schwarzweißfotografien von Gundula Schulze Eldowy aus den Hinterhöfen des Ost-Berliner Scheunenviertels sehen konnte, war gleichermaßen fasziniert und schockiert von der rigorosen Direktheit, mit der die Kamera der Künstlerin eine von Verfall und Armut gezeichnete Lebenswelt am Rande der Gesellschaft ins Bild zu setzen wagte. Schulze Eldowys Arbeitsweise beruht auf zyklisch angelegten Langzeitprojekten, die sie über Jahre hinweg weiter verfolgt hat. 13 Jahre lang, von 1972 bis 1985, lebte die in Erfurt geborene Fotografin in der Berliner Mitte zwischen Volksbühne und Markthalle in der Nähe des Alexanderplatzes. Wie eine Archäologin drang sie – so hat sie es selbst bezeichnet – mit ihrer Kamera "in die Eingeweide der Stadt" ein, porträtierte die Menschen, die in den unwirtlichen Hausruinen lebten, mit behutsamer Präzision. Dabei legte sie Schicht für Schicht hinter der harten Tristesse des Lebenskampfes eine tabufreie Vitalität und Würde, vor allem aber eine dem Leben abgerungene unbedingte Authentizität offen. War es zunächst Neugier, die sie zu ihren Exkursionen antrieb, so wurde sie zunehmend von den Menschen angezogen, die sie hier traf und fotografierte. Sie "erlebte ihre Geschichten", denn sie "lebte an ihrer Seite, wurde eine von ihnen". Leider waren in den Jahren, als dieses eindrucksvolle Frühwerk entstand, in Ausstellungen und Publikationsbeiträgen zur Fotografie aus der DDR ausschließlich einzelne Aufnahmen zu sehen, die dem Werkkonzept der Fotografin nur unzureichend gerecht wurden. So zeigte 1982/83 die IX. Kunstausstellung der DDR in Dresden, auf der die offizielle Kulturpolitik dem Medium Fotografie erstmals eine von dem Gebrauchswert unabhängige Kunstwürdigkeit attestierte, unter dem Titel "Die Nachbarin" vier Aufnahmen von Gundula Schulze aus dem Jahr 1980. Doch der eindringliche Erzählhorizont, den die Langzeitzyklen erst in ihrer Gänze entfalteten, konnte in diesem schmalen Werkausschnitt nicht greifbar werden. Ein adäquates Bild über die Arbeitsweise und das Themenspektrum von Gundula Schulze Eldowy zeichnete erstmals 1988 die in West-Berlin vom Verlag Nishen herausgegebene "Zeitschrift zwischen den Kulturen – Niemandsland". Begleitet von einem Interview, in dem die Künstlerin ihre zyklische Arbeitsmethode begründete, vermittelte eine Auswahl von Schwarzweiß- und Farbfotografien einen Querschnitt durch das Werkkonvolut der Jahre 1984–1987. Doch das überraschend Neue war die von Gundula Schulze Eldowy selbst vollzogene enge Vernetzung des Aktporträts "Lothar" mit der von ihr aufgeschriebenen Geschichte jenes Mannes, der sie eines Tages mit dem für sie zunächst schockierenden Wunsch konfrontierte, ein Aktfoto von ihm abzulichten. Die Künstlerin selbst erzählt: "Darauf war ich nicht gefaßt. Von ihm konnte ich mir kein Aktfoto vorstellen. Ich zögerte. Lothar zog sich weiter aus, und ohne das geringste Schamgefühl stand er nackt vor mir. Er sah grauenvoll aus mit Pickeln und Furunkeln, als ob er die Masern hätte. Und so klapperdürr." Liest man die Bildsprache des Aktportäts "Lothar" vor der Folie dieser Erzählung, so impliziert es im Kontext mit den weiteren Fotos auf der Straße, die Gundula Schulze Eldowy von dem Boten der Ost-Berliner U-Bahn erstellte, das subkutane Psychogramm eines einsamen älteren Mannes, den die Verlorenheit seiner am Stadtrand gelegenen winzigen Wohnstätte dazu antrieb, täglich ruhelos durch das Stadtzentrum zu streifen.
Am fortgewehten Ort (© Lehmstedt Verlag)
Wie sehr sich die Fotografien und die Prosatexte gegenseitig vertiefen, lässt sich an einem opulenten, in Duotone gedruckten Bildband zum Frühwerk der Fotografin und an einer ersten Edition ihrer "Berliner Geschichten" mit dem poetischen Titel "Am fortgewehten Ort" ablesen, die beide im Leipziger Lehmstedt Verlag erschienen sind. Aus den Bildzyklen "In einer Hundenacht" (so auch der Titel des Fotobandes), "Arbeit", "Aktporträts", "Straßenbild", "Der Wind füllt sich mit Wasser", "Tamerlan" und den "Berliner Geschichten" des Prosabandes konturiert sich ein Stadtpanorama, das mit seinen heruntergekommenen Hinterhöfen und ruinösen Häuserzeilen an Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" erinnert. Man begreift, dass sich hier seit den ausgehenden 1970er-Jahren eine subkulturelle Mischszene aus Ost-Berliner Künstlerboheme, Arbeitermilieu und alt gewordenen Urbewohnern etablieren konnte, und die besaß für den, der in sie wie Gundula Schulze Eldowy einzudringen verstand, einen unerwarteten Zauber. Das ungleiche Paar Ulla und Horst, die von Ängsten geplagte Viola oder Kubiak der Schleimer – sie alle treten dem Rezipienten der Fotografien im Crossover von Bild und Wort unmittelbar gegenüber. Man spürt ihre Gefühle, erahnt hinter der Skurrilität die Wunden der Resignation und die Sehnsucht nach glücklichen Träumen, während ein Nebelschleier das trostlose Grau der Straßen und Stadtrandlandschaften für kurze Momente in eine Idylle zu verwandeln scheint.
Berlin in einer Hundenacht (© Lehmstedt Verlag)
Der mit 160 großformatigen Tafeln üppig ausgestattete Fotoband endet mit dem Abdruck der "Tamerlan"-Serie, die – allerdings nur auszugsweise – seit der "Wende" in vielen Ausstellungen gezeigt wurde und die Fotografin international bekannt gemacht hat. Seit Gundula Schulze Eldowy diese Frau, die eigentlich Elsbeth Kördel hieß, aber von ihrem verstorbenen Mann "Tamerlan" genannt worden war, 1979 auf einer Parkbank am Kollwitzplatz traf, hat sie die Rentnerin immer wieder bis zu ihrem Tod 1989 in einem Altenheim besucht und fotografiert. Die tiefe Freundschaft der beiden Frauen spiegelt sich im Begleittext der Künstlerin und in den Briefen an "Mein kleines Mädchen", die Tamerlan aus dem Krankenhaus geschrieben hat. Besonders anrührend ist das Aktporträt der beinamputierten Frau, das die Würde und den ungebrochenen Lebenswillen dieser vom Schicksal schwer gebeutelten Frau als eine besondere Form weiblicher Ausstrahlung zum Ausdruck bringt. Als sich der international renommierte amerikanische Fotograf Robert Frank am 8. Juni 1985 in Ost-Berlin aufhielt, um sich ein Bild von der dort entstehenden avancierten Fotokunst zu machen, waren es die kühnen Fotoarbeiten der jungen Kollegin von sozialen Außenseitern, Sterbenden und unbekannten Träumern wie Lothar, die ihn spontan in ihren Bann zogen. So wundert es auch nicht, dass solche Bilder schon bald nach der "Wende" weltweit gezeigt wurden und man ihnen eine Nähe zu den Arbeiten von Diane Arbus, Nan Goldin und Boris Mikhailov konstatiert hat. Wie die Fotos besitzen auch die Texte eine individuelle Sprachmagie. Manche Geschichten verselbstständigen sich gegenüber dem Medium Fotografie zu Literatur, die in der Art und Weise wie Worte Bilder entfesseln, an Tennessee Williams erinnert. Mehrere Erzählebenen vernetzen sich jenseits der konkreten Geschichten zu einem Gewebe, in das die Autorin historisches Geschehen wie Faschismus, Krieg und DDR-Kollektivismus ebenso einspinnt wie ihr nomadisches Schweifen durch die verschiedenen Ebenen ihres Bewusstseins: "Ich lebe im vollen Risiko, gehe aufs Ganze, höre auf meine innere Stimme (...) Es ist ein innerer Faden meiner Arbeit, der direkt aus dem Unbewussten kommt. Andere Künstler strengen sich an, eine Idee zu finden, um originell zu sein. Ich mache mir keine großen Gedanken, was aus meinem Unterbewusstsein kommt (...) Nur indem ich mich selbst erschaffe, erneuere ich mich (...) Das Kollektive hingegen mit seinen seltsamen Regeln liegt mir nicht. Im Kollektiven liegt meine Herausforderung" (104f). Eine der schönsten Geschichten des Prosabandes sind "Die Plaudereien des Scharfschützen". Ein Einzelgänger, den sie in dem kleinen Ort Braunsdorf den "Alten Schweden" nennen, entzieht sich der Gleichförmigkeit des DDR-Sozialismus, indem er als fabulierender Träumer sein radikales Anderssein lebt. "Sein Spiel ist das Abenteuer", diagnostiziert die Autorin, "nach dem ich mich sehne. Er drückt aus, was ich mir wünsche. (...) Fällt jemand aus der Reihe, verdammt ihn die Gemeinschaft. Das Anderssein ist geradezu verpönt, auch wenn die menschliche Natur aus dem Anderssein besteht." (145f) Angeregt von Robert Frank, mit dem sie seit der ersten Begegnung eine enge Freundschaft verbindet, nomadisiert Gundula Schulze Eldowy nach der "Wende" durch die Welt. Nach einem New York-Aufenthalt, der auf eine Einladung von Frank zurückgeht, lebt sie zwischen 1993 und 2000 vorwiegend in Ägypten am Rand von Kairo in Sichtweite der Pyramiden und legt sich den Künstlernamen Eldowy zu, der arabisch so viel wie 'das Licht' bedeutet. Das Licht ist für sie die Gegenkraft zu dem Dunkel im eingemauerten Ost-Berlin. Die "Berliner Geschichten" enden bezeichnenderweise mit der Erzählung "Schmetterlings Traum", in der die Künstlerin Einblicke in ihre eigene Psyche gibt. Sie ist wohl in Peru entstanden, wo Gundula Schulze Eldowy heute jeweils die Hälfte des Jahres mit ihrem Mann, einem indigenen Keramikkünstler, verbringt und den heiteren Zauber einer tropischen Natur in vollen Zügen genießt: "Die Sonne bringt die Erde zum Glühen. Die Glitzerstunden des Mittags beflügeln mein Gemüt. Der Tag verwandelt sich in einen Traum. Schmetterlinge fliegen nicht sie tanzen (...) ihre zarten Körper haben die inneren Farben des Lichts angenommen (...) Das Licht, wie ich es sehe, ist nichts Äußeres und auch keine Metapher. Es ist das Leben an sich." (223f)
Die Berliner Mauer in der Kunst (© Chr. Links Verlag)
Martin Hoffmann, Die Mauer (1980). Sepia-Aquarell, 102 x 73 cm. (© Martin Hoffmann)
Wolfgang Bittner, Die East Side Gallery nach der ersten abgeschlossenen Betonsanierung 2010. Die drei Wandbilder im Vordergrund (v.r.) stammen von Sabine Kunz (Die Tanzenden), Elisa Budzinski (Visualisiertes Gedicht von Erich Fried) und Peter Peinzger (Stadtmenschen). (© Wolfgang Bittner)
Kunst in Ost und West (© Wallstein Verlag)
Mail Art in der DDR (© Logos Verlag)
Joseph W. Huber, Mail Art (WAR), o.J. (© Joseph W. Huber)
Am fortgewehten Ort (© Lehmstedt Verlag)
Berlin in einer Hundenacht (© Lehmstedt Verlag)
Rezensiert in der vorliegenden Ausgabe: Externer Link: Rüdiger Thomas, Literatur-Mosaik.
Im Herbstlaub des Vergessens. Einführung zu: "Berlin in einer Hundenacht", Leipzig 2011, S. 17.
Ebd.
Peter Funken, "Ich achte mehr auf die Bewegung ...". Interview mit der Fotografin Gundula Schulze, in: Niemandsland, 8/1988, S. 77–80.
Gundula Schulze, Lothar, in: Niemandsland (Anm. 4), S. 89–92.
Bereits 1992 veranstalteten die Kunst-Werke Berlin eine Ausstellung, in der unter dem Titel "Getrennte Welten" ("Separate Worlds") Fotografien von Nan Goldin und Gundula Schulze nebeneinander gestellt wurden. Vom 9.12.2011 bis 26.2.2012 zeigt eine international beachtete Ausstellung des International Forum For Visual Dialogues Berlin das Frühwerk von Gundula Schulze Eldowy im C/O Postfuhramt Berlin.
| Article | Karin Thomas | 2013-11-20T00:00:00 | 2012-03-05T00:00:00 | 2013-11-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/74971/deutsche-kunst-geschichten-20-jahre-nach-der-wende/ | Neue Bücher über die Berliner Mauer in Bildender Kunst, Literatur und Film, über die Kunst in Ost- und Westdeutschland nach 1989, über Mail Art in der DDR und über Arbeiten der Fotografin Gundula Schulze Eldowy. | [
"Zeitgeschichte",
"Film",
"SED",
"Diktatur",
"Unterhaltung",
"Literatur",
"Deutschland",
"DDR"
] | 829 |
Arbeitsblatt 2: Filmsprache | Oray | bpb.de | Fächer: Politik, Sozialkunde/Gesellschaftskunde, Ethik/Religion/Philosophie, Deutsch empfohlen ab: 10. Klasse
"Oray" inszeniert eine fiktionale Geschichte, die im Deutschland der Gegenwart angesiedelt ist. Als Gegenbild zu vielen vereinfachenden bis klischeehaften medialen Darstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere von Muslim*innen, wählt der Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay bewusst Realismus als Herangehensweise, um möglichst differenziert zu erzählen (vgl. dazu auch "Das Islambild deutscher Medien – antimuslimische Diskurse im Nachrichtenjournalismus und Film"). Vor der Filmsichtung
Klärt den Begriff "Realismus" in Bezug auf Spielfilme mithilfe von Wörterbüchern bzw. einer kurzen Internetrecherche.
Definiert den Begriff "Realismus" in eigenen Worten. Sammelt im Plenum Kriterien, die eurer Ansicht nach für den Realismus eines Spielfilms ausschlaggebend sind. Ordnet eure Kriterien filmsprachlichen Gestaltungsmittel zu.
Wählt dafür die passenden Gestaltungsmittel aus der Übersicht aus. Teilt die Begriffe in der Klasse auf, falls ihr sie nachschlagen und klären müsst.
Filmische Gestaltungsmittel (Auswahl):
Handlung/Plot; Schauspiel; Kostüm und Maske; Dialoge Kameraführung: Kamerabewegungen, -perspektiven und Einstellungsgrößen Montage/Schnitt; Drehorte/Set; Ausstattung und Requisiten Tongestaltung; Musik; Lichtgestaltung; Farbgestaltung Erläuterungen zu den Begriffen findet ihr hier: Externer Link: www.kinofenster.de/glossar
Stellt im Plenum vor, wie einzelne Gestaltungsmittel dazu beitragen können, dass ein Spielfilm realistisch wirkt. Überlegt gemeinsam, aus welchen Gründen manche Spielfilme realistisch inszeniert sind und andere nicht (Thema, Handlung, Genre, Intention …).
Während der Filmsichtung
Inwiefern wirkt "Oray" auf euch realistisch bzw. unrealistisch? Beobachtet während der Filmsichtung, welche Gestaltungsmittel zu diesem Eindruck beitragen. Tipp: Ihr könnt die Gestaltungsmittel auch in der Klasse aufteilen. Jede Gruppe beobachtet ein Mittel. Notiert eure Eindrücke unmittelbar nach dem Film.
Nach der Filmsichtung
Inwiefern wirkt der Film "Oray" realistisch oder unrealistisch auf euch?
Macht eine Daumenprobe im Plenum und wertet das Ergebnis aus: Daumen hoch bedeutet "Der Film wirkt auf mich realistisch", Daumen nach unten bedeutet "Der Film wirkt auf mich unrealistisch". Tauscht euch kurz über eure Eindrücke aus und begründet diese anhand eurer Notizen aus c).
Überprüft eure Ergebnisse aus d) durch die Analyse eines Filmausschnitts.
Bildet Kleingruppen und teilt die Filmausschnitte auf. Sichtet einen Filmausschnitt pro Gruppe. Jedes Gruppenmitglied achtet auf ein bis zwei filmische Gestaltungsmittel. Diskutiert: Was wirkt besonders realistisch und was nicht? Wie wirkt der Filmausschnitt insgesamt?
Ankunft in Köln [00:20:00-00:25:05] Einleben in Köln [00:34:41-00:36:45] Opferfest in der Moschee [00:51:26-00:53:45] Opferfest-Essen [00:55:10-00:57:07] Oray bittet Burcu nach Köln zu ziehen [00:59:00-01:01:35] Präsentiert eure Ergebnisse im Plenum und wiederholt abschließend die Daumenprobe aus d): Inwiefern wirkt "Oray" realistisch oder unrealistisch auf euch? Hat sich das Ergebnis verändert? Wenn ja, warum? Lest den Auszug aus dem Interview mit dem Regisseur von "Oray", Mehmet Akif Büyükatalay. Nehmt zunächst in Kleingruppen zu folgenden Fragen Stellung, bevor ihr eure Ergebnisse im Plenum zusammentragt.
Inwiefern sind euch die im Interview beschriebenen filmischen Gestaltungsmittel aufgefallen? Wirkt "Oray" auf euch insgesamt wirklichkeitsnah, glaubwürdig und auch auf andere Milieus übertragbar, so wie vom Regisseur beabsichtigt? Zeichnet der Film euch bekannte oder euch unbekannte Bilder junger Männergruppen und/oder junger Muslim*innen in Deutschland? Wirken diese Bilder vereinfachend und klischeehaft auf euch oder vielschichtig? Warum ist Mehmet Akif Büyükatalay Realismus so wichtig, obwohl er mit "Oray" eine fiktive Geschichte erzählt? Überzeugt euch der Film insgesamt (Figuren, Handlung, Inszenierung)? …
Interview mit dem Regisseur von "Oray", Mehmet Akif Büyükatalay (Ausschnitt)
[…]
Was war bei der filmischen Umsetzung von "Oray" besonders wichtig?
Ich wollte das Lebensgefühl einer männlichen Gruppe möglichst authentisch herüberbringen. Deswegen musste ich naturalistisch erzählen. Gedreht habe ich zum Beispiel an Originalschauplätzen. Die Komparsen – die Gemeindemitglieder im Film – wurden von Familienmitgliedern gespielt. Wir haben auch bei meinen Eltern zuhause gedreht. So verbinden die Darsteller bereits bestimmte Emotionen mit den Orten. Oder die Predigtszene. Die hat Zejhun Demirov, der den Oray spielt, einfach performt, ohne dass die Komparsen darauf vorbereitet waren. Entsprechend waren sie von seinen Worten beeindruckt. Ihre Reaktionen sind echt. Das spürt der Zuschauer. Auch die Sprache musste sich real anhören. Sie hat eine wichtige Doppelfunktion: Einerseits ist sie integrativ. Aus der Mischung von Deutsch, Türkisch, Arabisch, Rumänisch und Romanes entsteht eine Art neue Sprache, die die Vielfalt der Herkünfte einbindet. Andererseits ist diese Sprache auch exklusiv. Wie eine Geheimsprache ist sie nur schwer verständlich, wenn man nicht Teil der Gruppe ist. Für die Jungs im Film bedeutet sie Heimat, aber zugleich auch Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft.
Aus welchen Gründen ist die Handlung von "Oray" kammerspielartig auf ein bestimmtes Milieu begrenzt und wird überwiegend von männlichen Figuren dominiert?
Schlicht und einfach, weil es der Realität entspricht. Der Begriff der sogenannten "Parallelgesellschaft" trifft hier zu – genauso wie, meiner Meinung nach, auf ganz andere Milieus, die nach ihren eigenen Codes und Regeln funktionieren, etwa die Rockerszene oder die Hooliganszene im Fußball. Auch mein Milieu, ein Künstlerkollektiv, ist eine in sich geschlossene Gruppe. All diese Welten haben miteinander nichts zu tun. Warum sollte dies bei muslimischen Jungs anders sein? In "Oray" geht es um eine Männergruppe, die im Männlichsein eine Heimat findet – ähnlich wie im Hip-Hop oder auch in DAX-Unternehmen.
[…]
Das vollständige Interview findet ihr Interner Link: hier.
Handlung/Plot; Schauspiel; Kostüm und Maske; Dialoge Kameraführung: Kamerabewegungen, -perspektiven und Einstellungsgrößen Montage/Schnitt; Drehorte/Set; Ausstattung und Requisiten Tongestaltung; Musik; Lichtgestaltung; Farbgestaltung Erläuterungen zu den Begriffen findet ihr hier: Externer Link: www.kinofenster.de/glossar
[…]
Was war bei der filmischen Umsetzung von "Oray" besonders wichtig?
Ich wollte das Lebensgefühl einer männlichen Gruppe möglichst authentisch herüberbringen. Deswegen musste ich naturalistisch erzählen. Gedreht habe ich zum Beispiel an Originalschauplätzen. Die Komparsen – die Gemeindemitglieder im Film – wurden von Familienmitgliedern gespielt. Wir haben auch bei meinen Eltern zuhause gedreht. So verbinden die Darsteller bereits bestimmte Emotionen mit den Orten. Oder die Predigtszene. Die hat Zejhun Demirov, der den Oray spielt, einfach performt, ohne dass die Komparsen darauf vorbereitet waren. Entsprechend waren sie von seinen Worten beeindruckt. Ihre Reaktionen sind echt. Das spürt der Zuschauer. Auch die Sprache musste sich real anhören. Sie hat eine wichtige Doppelfunktion: Einerseits ist sie integrativ. Aus der Mischung von Deutsch, Türkisch, Arabisch, Rumänisch und Romanes entsteht eine Art neue Sprache, die die Vielfalt der Herkünfte einbindet. Andererseits ist diese Sprache auch exklusiv. Wie eine Geheimsprache ist sie nur schwer verständlich, wenn man nicht Teil der Gruppe ist. Für die Jungs im Film bedeutet sie Heimat, aber zugleich auch Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft.
Aus welchen Gründen ist die Handlung von "Oray" kammerspielartig auf ein bestimmtes Milieu begrenzt und wird überwiegend von männlichen Figuren dominiert?
Schlicht und einfach, weil es der Realität entspricht. Der Begriff der sogenannten "Parallelgesellschaft" trifft hier zu – genauso wie, meiner Meinung nach, auf ganz andere Milieus, die nach ihren eigenen Codes und Regeln funktionieren, etwa die Rockerszene oder die Hooliganszene im Fußball. Auch mein Milieu, ein Künstlerkollektiv, ist eine in sich geschlossene Gruppe. All diese Welten haben miteinander nichts zu tun. Warum sollte dies bei muslimischen Jungs anders sein? In "Oray" geht es um eine Männergruppe, die im Männlichsein eine Heimat findet – ähnlich wie im Hip-Hop oder auch in DAX-Unternehmen.
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Das vollständige Interview findet ihr Interner Link: hier.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-03-02T00:00:00 | 2020-07-23T00:00:00 | 2022-03-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/themen-und-hintergruende/313244/arbeitsblatt-2-filmsprache/ | "Oray" inszeniert eine fiktionale Geschichte, die im Deutschland der Gegenwart angesiedelt ist. Als Gegenbild zu vielen vereinfachenden bis klischeehaften medialen Darstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere von Muslim*innen, w | [
"Oray",
"Filmbesprechung",
"Arbeitsblatt 2",
"Filmsprache",
"Realismus als Mittel gegen Vereinfachungen"
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Militärputsch in Myanmar | Hintergrund aktuell | bpb.de | Am 1. Februar sollte eigentlich die neue Legislaturperiode des Parlaments beginnen. Im November hatte die Nationale Liga für Demokratie (NLD) von Aung San Suu Kyi bei der Parlamentswahl 258 der 315 Sitze im Unterhaus und 138 der 161 Sitze im Oberhaus gewinnen können. Sie konnte damit ihren Wahlerfolg von 2015 wiederholen. Das Militär sprach von Wahlbetrug.
Universitäts-Dozentinnen und Dozenten demonstrieren am 26.2.2021 in Yangon gegen den Militärputsch. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited)
Bereits im Januar hatte es Gerüchte über einen möglicherweise bevorstehenden Putsch gegeben. Das Militär dementierte Meldungen über Pläne zur Aussetzung der Verfassung jedoch noch zwei Tage vor der Machtübernahme als "Missverständnis". 48 Stunden später wurden Aung San Suu Kyi, Staatspräsident Win Myint und weitere führende Politiker der NLD verhaftet. Das Militär rief einen zwölf Monate dauernden Ausnahmezustand aus. Der bisherige Vizepräsident Myint Swe wurde zum Übergangspräsidenten ernannt, de facto liegt die Macht jedoch bei Armeechef Min Aung Hlaing. Nach Angaben des Militärs soll es Neuwahlen geben.
Mehrere Tote bei Demonstrationen
Myanmar Interner Link: Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei (© Kämmer-Kartographie, Berlin 2012)
Tage später formierte sich eine Protestbewegung gegen die Machtergreifung des Militärs. Seit dem 6. Februar kommt es zu regelmäßigen Protesten für den Erhalt der Demokratie. Demonstriert wird nicht nur in der 2005 gegründeten Hauptstadt Naypyidaw, sondern auch in anderen großen Städten wie zum Beispiel Yangon, dem früheren Rangun.
Bei einer Demonstration am 9. Februar in Naypyidaw wurde eine19-jährige Demonstrantin durch eine Kugel verletzt, sie erlag zehn Tage nach dem Vorfall ihren Verletzungen. Neben ihr sind bislang zwei weitere Demonstranten bei den Protesten gegen die Militärs ums Leben gekommen.
Die Lage in Myanmar ist nicht nur wegen des jüngsten Militärputsches angespannt. Die Covid-19-Pandemie hat Myanmar schwerer als China oder Thailand getroffen. Das Gesundheitssystem ist in einem vergleichsweise schlechten Zustand.
Auch wirtschaftlich leidet das südostasiatische Land unter den Folgen der Pandemie. Eine Studie des amerikanischen Externer Link: International Food Policy Research Institutes kam im November zu dem Ergebnis, dass die Hälfte der Haushalte in Myanmar von staatlichen Transferleistungen abhängig ist. Tagelöhner haben ihre Arbeit verloren, was dazu führte, das vor allem die einkommensbasierte Armut stark angestiegen ist. Hinzu kommen die seit Jahrzehnten vorhandenen Interner Link: politischen und ethnischen Spannungen.
Mehr als 50 Jahre lang Militärregierungen
Myanmar, das bis 1989 "Birma" (Englisch: "Burma") hieß, erlangte 1948 staatliche Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft. Nach einigen Jahren mit demokratischen Regierungen herrschten ab 1962 verschiedene Militärregime in dem südostasiatischen Land. Ab den späten 1980er-Jahren wurde die Politikerin Aung San Suu Kyi zu einer wichtigen Symbolfigur der Oppositionsbewegung. Ihre Partei, die National League for Democracy (NLD), suchte mit Mitteln des gewaltlosen Widerstands die Herrschaft der Militärregierung zu beenden. Die NLD gewann bei den Wahlen 1990 insgesamt 59 Prozent der Stimmen, das Militär weigerte sich aber, die Macht abzugeben. Im Jahr 1991 wurde Aung San Suu Kyi mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die Politikerin stand bis 2010 insgesamt 15 Jahre unter Hausarrest.
Im Jahr 2003 verkündete das Militär einen Sieben-Stufen-Plan für einen Übergang zur Demokratie. Kritiker bemängelten, dass die Militärs weiterhin sämtliche Prozesse kontrollierten – von der Registrierung von Parteien über die Aufstellung der Kandidaten bis hin zum Wahlkampf.
Wahlsieg der NLD 2015
2010 wurden die ersten Wahlen nach 20 Jahren in Myanmar abgehalten. Die der Militärregierung nahestehende Partei, die Union Solidarity and Development Party (USDP), nahm für sich in Anspruch, über 75 Prozent der Stimmen bekommen zu haben. Die NLD boykottierte die Wahl. Im Februar 2011 wurde Thein Sein (USDP) zum Präsidenten von Myanmar gewählt. Der frühere General leitete eine vorsichtige und sehr langsame Öffnung des Landes ein. Im Jahr 2012 trat die NLD zu den Nachwahlen für das Parlament an, wo sie 43 der 45 zu vergebenden Sitze gewann.
3. Januar 2014: Demonstranten gehen in Yangon, der Hauptstadt Birmas, für Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi auf die Straße. (© picture-alliance/dpa)
Im November 2015 kam es bei den Parlamentswahlen zu einem demokratischen Regierungswechsel: Die NLD gewann die absolute Mehrheit der Sitze. Allerdings sind im Parlament ein Viertel der Sitze für das Militär reserviert, das so weiter über großen politischen Einfluss verfügt. Aung San Suu Kyi wurde "Superministerin" – unter anderem war sie Außenministerin und Leiterin des Präsidialamtes in Personalunion. Präsidentin durfte sie laut Verfassung nicht werden, weil das Staatsoberhaupt von Myanmar laut Verfassung keine Angehörigen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft haben darf. Ihre Kinder jedoch sind britische Staatsbürger. Präsident wurde stattdessen Aung San Suu Kyis enger Vertrauter Htin Kyaw.
Verfolgung der Rohingya
Im Jahr 2017 geriet das mehrheitlich buddhistische Myanmar international in die Schlagzeilen, als das Militär gegen Aufständische der muslimischen Rohingya im Norden des Landes vorging. Hunderttausende Menschen mussten sich vor der Gewalt in Sicherheit bringen oder wurden in verharmlosend genannten "Räumungsoperationen" brutal vertrieben. Dass ausgerechnet die Regierung von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi verantwortlich zeichnete, sorgte international für scharfe Kritik.
Bei den Wahlen im November 2020 konnte die NLD ihre Mehrheit leicht ausbauen. International gab es Kritik an der Durchführung der Wahlen. Die Externer Link: Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch kritisierte die Wahl als unfair und nicht frei. So wurden mehr als eine Million Menschen, vorwiegend muslimische Rohingya, von den Wahlen ausgeschlossen, die Meinungsfreiheit im Wahlkampf eingeschränkt und die Corona-Epidemie zugunsten der NLD ausgenutzt.
Unklare Rolle Chinas
Nach dem Militärputsch vom 1. Februar haben die USA angekündigt, ihre Sanktionen verstärken zu wollen. Unklar ist die Rolle Chinas bei dem jüngsten Putsch in Myanmar: Früher hatte Peking offen die verschiedenen Militärregime unterstützt, die in dem Land herrschten. Außerdem gilt China als wichtiger Waffenlieferant, auch schon in der Zeit, als bereits Aung San Suu Kyis NLD das Land regierte.
Der Widerstand der Demonstrantinnen und Demonstranten bricht indes nicht ab, die Bewegung bekommt immer noch Zulauf. Es sind vor allem junge Menschen, die auf die Straße gehen, trotz Ausgangssperren und Demonstrationsverboten. Sie kommen aus völlig unterschiedlichen Milieus, manche arbeiten als Lehrerinnen, andere als Künstler, auch Gewerkschafterinnen und LGBTQ-Aktivisten sind Teil der Bewegung. Was sie eint ist der Widerstand gegen das Militärregime.
Am 22. Februar folgten hunderttausende Menschen in Myanmar einem Aufruf zum Generalstreik. Ein Ende der Proteste gegen den Putsch ist aktuell nicht abzusehen.
Mehr zum Thema:
Interner Link: Mady Fox: Birma/Myanmar (Dossier Innerstaatliche Konflikte)
Interner Link: Nasir Uddin: Die Flüchtlingskrise der Rohingya
Externer Link: Putsch in Myanmar: Was sollte Europa jetzt tun? (eurotopics, 03.02.2021)
Universitäts-Dozentinnen und Dozenten demonstrieren am 26.2.2021 in Yangon gegen den Militärputsch. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited)
Myanmar Interner Link: Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei (© Kämmer-Kartographie, Berlin 2012)
3. Januar 2014: Demonstranten gehen in Yangon, der Hauptstadt Birmas, für Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi auf die Straße. (© picture-alliance/dpa)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-27T00:00:00 | 2021-02-26T00:00:00 | 2022-01-27T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/327681/militaerputsch-in-myanmar/ | Anfang Februar putschen sich in Myanmar die Militärs zurück an die Macht. Mit ihrer Machtübernahme endet eine Phase der Demokratisierung, die 2015 mit dem Wahlerfolg der Nationalen Liga für Demokratie von Aung von San Suu Kyi begann. | [
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M 01.04 Aussagen zu Klima und Energie | Umweltbewusstsein und Klimaschutz | bpb.de | 1. Wenn alle Menschen in Deutschland an allen Geräten auch Stand-by-Schalter ausschalten, dann könnte man auf den Strom von einem Atomkraftwerk verzichten. richtig: falsch:
2. Eine Stunde Fernsehen (kein Plasma) verbraucht mehr Strom als eine Stunde Bügeln. richtig: falsch:
3. Bei der Verbrennung von 1 Liter Benzin werden 2,5 Kilogramm des klimaschädlichen Gases CO2 frei. richtig: falsch:
4. Der Unterschied der mittleren globalen Erdtemperatur zwischen der letzten Eiszeit und der jetzigen Warmzeit beträgt 18°C. richtig: falsch:
5. Steigt die Temperatur bis zum Jahr 2100 um zwei Grad Celsius, so muss jeder Bürger jährlich bis zu 1500 Euro zusätzlich für die Folgen des Klimawandels zahlen. richtig: falsch:
6. Die weltweite Tierproduktion ist für 18% der Treibhausgase verantwortlich. richtig: falsch:
7. Bei der Produktion eines Autos wird fünfmal so viel an fossiler Energie verbraucht als bei der Herstellung eines Computers mit Monitor. richtig: falsch: | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-04-30T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/umweltbewusstsein/134866/m-01-04-aussagen-zu-klima-und-energie/ | Anhand dieser Folie sollen die Schülerinnen und Schüler beurteilen, ob die verschiedenen Aussagen falsch oder richtig sind. | [
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Studiengebühren oder Studium aus öffentlichen Mitteln? | Bildung | bpb.de | In Deutschland ist das Studium an staatlichen Universitäten traditionell gebührenfrei. Studierende zahlen zwar Semesterbeiträge für Studentenwerk, Studierendenschaft (AStA) und Semesterticket, der Besuch der Lehrveranstaltungen an sich ist jedoch kostenlos. Zwar hatten einige Bundesländer zwischenzeitlich Studiengebühren eingeführt, nachdem das Bundesverfassungsgericht 2005 das Verbot von Studiengebühren aufhob. Nach teils massiven Studentenprotesten wurden diese jedoch in den Folgejahren wieder abgeschafft, zuletzt in Niedersachsen zum Wintersemester 2014/15.
Die Diskussion um Studiengebühren ist damit aber noch lange nicht abgeschlossen. Angesichts der knappen Haushaltslage halten beispielsweise viele Hochschulrektoren die Einführung von Studiengebühren nach wie vor für geboten, damit die Hochschulen ihre Kapazitäten ausbauen sowie die Qualität von Studium und Lehre verbessern können. Angesichts der hohen individuellen Erträge eines Hochschulstudiums (etwa in Form späteren Einkommens) spricht sich auch so mancher Ökonom für eine Beteiligung der Studierenden an den Kosten des Studiums aus. Doch es gibt auch Befürchtungen, Studiengebühren könnten gerade Personen aus einkommensschwachen Schichten vom Studieren abhalten und damit die ohnehin schon starke soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems weiter verschärfen. Das gebührenfreie Studium, so die gerade auf der linken Seite des politischen Spektrums häufig geäußerte Überzeugung, sei ein zentraler Grundpfeiler der Bildungsgerechtigkeit und müsse daher auch in Zukunft erhalten bleiben.
Wie sind diese Positionen zu bewerten? Führen Studiengebühren notwendigerweise zu sozialen Zugangshürden beim Hochschulzugang oder gibt es auch sozialverträgliche Modelle? Der Blick in andere Länder hilft diese Fragen zu beantworten.
Steigende Erträge des Hochschulstudiums und steigende Hochschulbeteiligung
Abbildung 1: Welchen Einkommensvorteil haben Personen mit Abschluss im Tertiärbereich? (2012)Grafik als Interner Link: PDF-Datei (© bpb)
Nie zuvor haben Hochschulabsolventen in Deutschland derart gute Einkommens- und Lebenschancen gehabt wie heute. Seit die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit der Messung von entsprechenden Trends im Jahr 2000 begann, vergrößern sich die Einkommensunterschiede zwischen Arbeitskräften mit Hochschulabschluss und Arbeitskräften mit Abitur oder abgeschlossener beruflicher Ausbildung: Im Jahr 2000 verdienten Arbeitskräfte mit Abschluss im Tertiärbereich – dieser umfasst neben Hochschulen auch Fachhochschulen und berufliche Ausbildungsgänge auf Hochschulniveau – etwa 45 Prozent mehr als Personen ohne diesen Abschluss (OECD-Durchschnitt: 51 Prozent); 2012 betrug der Verdienstvorsprung nahezu drei Viertel (74 Prozent; OECD-Durchschnitt: 59 Prozent) (OECD 2014, S. 184). Abbildung 1 zeigt diese Einkommensunterschiede zwischen den Qualifikationsstufen im internationalen Vergleich.
Der monetäre Vorteil einer Hochschulausbildung ist dabei lediglich ein Aspekt. Eine OECD-Studie zu Erwachsenenkompetenzen zeigt zum Beispiel, dass Hochschulabsolventen seltener von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sich häufiger sozial engagieren und politisch beteiligen sowie generell ein höheres Vertrauen in die Gesellschaft aufweisen als Personen mit niedrigerem Bildungsstand (OECD 2013).
Die Vorteile einer akademischen Ausbildung treten heute klarer denn je zutage und machen sich im Bildungsverhalten der Bevölkerung deutlich bemerkbar: Die Zahl der Studierenden ist in Deutschland in den vergangenen Jahren stark gestiegen, allein zwischen 2000 und 2013 um etwa 45 Prozent, von knapp 1,8 auf 2,6 Millionen (siehe Abbildung 2). 2013 nahmen erstmals mehr junge Menschen ein Studium auf als eine berufliche Ausbildung. Schätzungen der OECD zufolge werden 31 Prozent der jungen Menschen in Deutschland im Verlauf ihres Lebens ein Hochschulstudium abschließen, gegenüber nur 18 Prozent im Jahr 2000. Im OECD-Durchschnitt stiegen die entsprechenden Abschlussquoten im Vergleichszeitraum von 28 auf 38 Prozent (OECD 2014, S. 106).
Abbildung 2: Entwicklung der Studierendenzahlen in Deutschland (Interner Link: Mehr dazu...) (© bpb)
Finanzierung in Zeiten der Hochschulexpansion: Steuergelder versus Studiengebühren
Um so dringlicher stellt sich für bildungspolitische Entscheidungsträger die Frage, wie das deutsche Hochschulwesen angesichts stetig steigender Studierendenzahlen nachhaltig finanziert werden kann. Denn ein Mehr an Studierenden erfordert von den Hochschulen auch zusätzliche Ausgaben. Viele der Hochschulen verfügen aber schon seit Jahren nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um im Zeitalter der Massenuniversität wirklich qualitativ hochwertige Studienbedingungen zu gewährleisten, geschweige denn eine die Nachfrage deckende Zahl von Studienplätzen zu schaffen. Vielerorts sind Lehrveranstaltungen chronisch überfüllt und Betreuungsrelationen zunehmend ungünstig, hat doch die Zahl des wissenschaftlichen Personals mit dem starken Anstieg der Studierendenzahlen nicht Schritt gehalten. Im Jahr 2013 kamen auf einen Hochschullehrer durchschnittlich 65 Studierende, 2000 waren es noch 56. Daran haben auch Milliardenprogramme wie Exzellenzinitiative und Hochschulpakt kaum etwas geändert.
Angesichts dieser Entwicklungen liegt die Notwendigkeit einer besseren Finanzierung der Hochschulen auf der Hand. Die Hochschulfinanzierung kann dabei grundsätzlich auf zwei Wegen erfolgen: Der Staat kann die Hochschulen entweder vollständig aus öffentlichen Mitteln (d.h. aus Steuergeldern) finanzieren, wie es in Deutschland traditionell der Fall ist. Oder aber er beteiligt die Studierenden über Gebühren an den Kosten ihrer universitären Ausbildung.
In vielen Staaten der Welt sind Studiengebühren ein wichtiges Instrument zur Hochschulfinanzierung geworden. Die in Deutschland regelmäßig geäußerte Befürchtung, dass Gebühren zu größeren sozialen Disparitäten beim Hochschulzugang führen, indem sie Personen aus einkommensschwachen Schichten vom Studieren abhalten, wird durch internationale Vergleiche nicht belegt. Im Gegenteil zeigt sich, dass eine Reihe von Staaten, die keine Studiengebühren erheben, sogar größere soziale Disparitäten in der Bildungsbeteiligung aufweisen als Länder mit Studiengebühren. Das ist insbesondere dort der Fall, wo die öffentlichen Mittel zur Finanzierung der Hochschulen nicht ausreichen, um die Nachfrage an Studienplätzen zu decken. Denn übersteigt die Nachfrage nach Studienplätzen das Angebot, so kommt es zu Engpässen beim Studienzugang, die in der Regel eher für Jugendliche aus ungünstigem sozialem Umfeld zur Barriere werden als für Jugendliche aus Akademikerfamilien. Bildungsnahe Eltern verfügen meist über bessere Kenntnisse und mehr Mittel, um ihre Kinder beim Übergang auf das Gymnasium zu unterstützen oder auf die entsprechenden Eingangsprüfungen vorzubereiten.
Das deutsche Modell der Hochschulfinanzierung und seine Probleme
International betrachtet gehört Deutschland – ebenso wie Norwegen, Finnland, Dänemark, Island, Belgien, Schweden, Österreich, Slowenien, Frankreich, Irland und Spanien – zu einer Gruppe von Ländern, die ihre Hochschulen weitgehend über öffentliche Mittel finanzieren. Dabei ist die Hochschulbeteiligung in Deutschland vergleichsweise gering und stark abhängig vom sozialen Hintergrund der Studierenden. Die 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks hat für das Jahr 2009 berechnet, dass Kinder aus Akademikerfamilien mehr als drei Mal häufiger ein Studium aufnahmen als Kinder aus einem nicht akademischen Elternhaus (77 Prozent versus 23 Prozent; Middendorff u.a. 2013, S. 111) (siehe Abbildung 3). Die soziale Selektion spiegelt sich dabei bereits in den Übergangsquoten von der Grundschule auf das Gymnasium wieder.
Abbildung 3: Wie das Elternhaus den Bildungsweg prägt (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Sind aber junge Menschen aus ökonomisch privilegierten Schichten unter den Studierenden deutlich überrepräsentiert, so birgt das gebührenfreie Studium zwangsläufig ein Gerechtigkeitsproblem: Eine Finanzierung der Hochschulen aus Steuergeldern führt dann nämlich dazu, dass das Studium der sozial begünstigten Studierenden wesentlich von Erwerbstätigen aus sozial weniger günstigem Umfeld mitfinanziert wird, die selber keinen Hochschulabschluss haben und deshalb im Mittel über deutlich geringere Einkommen verfügen. Kurzum: Am Ende zahlen so die Facharbeiter für das Studium der Kinder wohlhabenderer Eltern. Dies scheint umso ungerechter, als für den Besuch von Kindergärten und einigen vollzeitschulischen Berufsbildungsgängen – Bildungsangeboten also, die eher als Hochschulen von Personen aller sozialer Schichten wahrgenommen werden – Gebühren gezahlt werden müssen.
Außerdem führen begrenzte öffentliche Mittel in der Regel zu Zugangsbeschränkungen, denn wenn weniger Mittel verfügbar sind, muss man entweder die Ausgaben pro Studierenden kürzen oder die Zahl der Studienplätze reduzieren. Aus den oben genannten Gründen wirkt sich dies insbesondere negativ auf die Bildungsbeteiligung benachteiligter Schichten aus. Im Ergebnis ist das in Deutschland vorherrschende Finanzierungsmodell also sozial unausgewogen, was sich letztlich auch in einer vergleichsweise geringen sozialen Bildungsmobilität niederschlägt: Nur knapp ein Viertel der jungen Deutschen erreicht einen höheren Bildungsstand als seine Eltern, in Australien gilt dies für mehr als 40 Prozent, in Finnland sogar für mehr als die Hälfte (siehe Abbildung 5).
Natürlich könnten auch die öffentlichen Ausgaben für die Universitäten erhöht werden, wie dies in den nordischen Staaten der Fall ist. Die dazu notwendigen Mittel müsste der Staat dann aber durch eine stärkere Besteuerung höherer Einkommen wieder reinholen. Für Hochschulabsolventen (die ja, wie oben beschrieben, meist höhere Einkommen erzielen) käme dies nachgelagerten Studiengebühren gleich: Nach dem Studium würden sie über höhere Steuerzahlungen stärker zur Finanzierung der Hochschulen beitragen. Allerdings würden durch die sogenannte Steuerprogression auch diejenigen steuerlich stärker belastet, die ein höheres Einkommen erzielen ohne ein Studium abgeschlossen zu haben.
Finanzierungsmodelle im internationalen Vergleich
Wie sieht es nun in anderen OECD-Ländern aus? Welche Modelle der Studienfinanzierung finden sich international und wie unterscheiden sie sich vom deutschen Modell? Abbildung 4 zeigt auf der vertikalen Achse die Höhe der durchschnittlichen Studiengebühren (umgerechnet in Kaufkraftparitäten) und auf der horizontalen Achse den Anteil der Studierenden, die ein öffentliches Darlehen oder Stipendien beziehen. Studierende der Länder im unteren linken Bereich der Grafik zahlen keine oder geringe Studiengebühren und bekommen keine staatliche Unterstützung. Studierende in den Ländern am unteren rechten Bereich zahlen keine oder geringe Studiengebühren, erhalten jedoch Unterstützung für den Lebensunterhalt. Studierende der Länder im oberen rechten Bereich zahlen hohe Studiengebühren und bekommen meist auch Unterstützung für deren Finanzierung.
Abbildung 4: Verhältnis zwischen durchschnittlichen Studiengebühren öffentlicher Bildungseinrichtungen und dem Anteil Studierender, die öffentliche Darlehen, Stipendien oder Zuschüsse erhalten Grafik als Interner Link: PDF-Datei (© bpb)
Auch die nordischen Staaten Europas wie Finnland, Dänemark, Island, Norwegen oder Schweden finanzieren ihre Hochschulen nahezu ausschließlich aus öffentlichen Mitteln, weisen aber im Gegensatz zu Deutschland eine im internationalen Vergleich hohe Hochschulbeteiligung auf. Die Abschlussquoten liegen in diesen Ländern zwischen 40 und 60 Prozent. Die Ressourcen, die zur Finanzierung ihrer stark ausgebauten Hochschulsysteme notwendig sind, erzielen diese Staaten über eine hohe Steuerprogression. Höhere Einkommen werden in diesen Ländern also stärker besteuert als dies etwa in Deutschland der Fall ist. Zugespitzt formuliert: Die Leistungsträger mit gutem Bildungsabschluss bezahlen dort das Studium der nächsten Generation. Durch die überdurchschnittlich hohe Bildungsbeteiligung bleibt das steuerfinanzierte System auch vergleichsweise "gerecht": Die sozialen Disparitäten beim Hochschulzugang sind gering, sodass in diesen Ländern eine beträchtliche Zahl von Personen aus nicht akademischem Elternhaus vom gebührenfreien Studium profitiert. Da außerdem auch die Lebenshaltungskosten der Studierenden mitfinanziert werden, entweder durch Stipendien oder einkommensabhängig rückzahlbare Darlehen, gibt es in den nordeuropäischen Staaten so gut wie keine finanziellen Barrieren, um ein Studium aufzunehmen.
Abbildung 5: Absolute BildungsmobilitätGrafik als Interner Link: PDF-Datei (© bpb)
Länder wie Japan oder Korea, die im internationalen Vergleich ebenfalls sehr hohe Absolventenquoten aufweisen, finanzieren ihre Hochschulen dagegen weitgehend über Studiengebühren. Obwohl Darlehenssysteme in diesen Ländern nur sehr beschränkt zur Verfügung stehen, ist die Hochschulbeteiligung sozial relativ ausgewogen, da die Höhe der Studiengebühren begrenzt ist und Familien für gewöhnlich sehr früh damit beginnen, Geld zurückzulegen, um später das Studium ihrer Kinder finanzieren zu können.
Auch die USA finanzieren ihre Hochschulen weitgehend über Studiengebühren. Im Gegensatz zu den asiatischen Staaten gibt es hier auch ein ausgereiftes Darlehen- und Stipendiensystem. Anders als in den skandinavischen Ländern werden die Darlehen jedoch weitgehend von kommerziellen Banken und privaten Kreditinstitution angeboten und müssen unabhängig vom späteren Einkommen zurückgezahlt werden. Zudem sind die Studiengebühren in den USA ungewöhnlich hoch (siehe Abbildung 4). Dadurch kommt es in den USA zu relativ großen sozialen Disparitäten in der Bildungsbeteiligung. Zwar ist der relative Einkommensvorteil von Hochschulabsolventen in den USA aufgrund des flexiblen Arbeitsmarktes, auf dem hoch qualifizierte Arbeitskräfte ausgesprochen gut verdienen und vergleichsweise wenig Steuern zahlen, besonders hoch. Dieser Einkommensvorteil ist jedoch ein statistischer Durchschnittswert mit großer Variationsbreite. Der Einkommensvorteil eines Hochschulabsolventen kann abhängig vom späteren Job auch sehr viel geringer oder höher ausfallen. Die Aufnahme eines Studiums ist damit für den Einzelnen mit einem großen Risiko behaftet. Verfügt die eigene Familie nicht über beträchtliche Ersparnisse, so muss in der Regel ein substanzieller Kredit aufgenommen werden, der – nicht zuletzt wegen der anfallenden Zinsen – zur finanziellen Bürde werden kann, wenn der Absolvent nach dem Studium nicht zügig einen gutbezahlten Job findet, der eine fristgerechte Rückzahlung des Kredits ermöglicht. Im Jahr 2012 lagen die durchschnittlichen Studienkreditschulden in den USA bei etwa 27.000 Dollar, über 11 Prozent aller ausstehenden Studienkredite sind in Verzug. Gerade auf Jugendliche aus sozial ungünstigem Umfeld wirken die Risiken eines Kredits oft abschreckend. Es sei aber hinzugefügt, dass der Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Studium in Deutschland ebenso groß ist wie in den USA, obwohl in Deutschland keine Studiengebühren erhoben werden.
Eine weitere Gruppe von Staaten – Beispiele sind Australien oder England – finanzieren ihre Hochschulen ebenfalls weitgehend über Studiengebühren, die aber einkommensabhängig nachgelagert sind. Nach diesem Modell erhalten Studierende ein staatlich garantiertes, unverzinstes Darlehen, aus dem sie die Studiengebühren bezahlen und das sie erst (und nur dann) zurückzahlen müssen, wenn sie ein bestimmtes Einkommensniveau erreicht haben. Damit entfällt das Risiko für die Studierenden weitgehend, sodass sich nicht nur ein nachhaltig finanzierbares Modell ergibt, mit dem sich die Bildungsbeteiligung ohne zusätzliche öffentliche Ausgaben erweitern lässt. Dieses Finanzierungsmodell ist im Wesentlichen auch sozial gerechter als einige Systeme ohne Studiengebühren oder solche, in denen Studiengebühren mit kommerziellen Darlehen finanziert werden. Zusätzlich wird das Darlehensmodell in England noch mit einem sozial gestaffelten Stipendiensystem kombiniert. Dies ist ein weiteres wichtiges Element der Studienfinanzierung, damit für junge Menschen aus ungünstigem sozialem Umfeld sich häufiger gegen ein Studium entscheiden, da sie oft unzureichende Informationen zu den ökonomischen Vorteilen eines Studiums haben und den späteren Einkommensvorteil eines Studiums daher unterschätzen. Folglich sollten gerade für diese Gruppe die finanziellen Hürden eines Studiums über zusätzliche Unterstützungsleistungen möglichst gering gehalten werden.
Nachgelagerte Studiengebühren – eine Alternative für Deutschland?
Ein Finanzierungsmodell wie das soeben beschriebene scheint auch für Deutschland durchaus bedenkenswert. Studiendarlehen bieten den Studierenden die notwendigen Mittel zur Finanzierung des Studiums und ermöglichen eine solide Ausfinanzierung der Hochschulen über Studiengebühren. Der Einzelne muss nicht fürchten, sich durch ein Studium hoffnungslos zu verschulden, denn die Rückzahlungen entsprechen einem Anteil des späteren Einkommens und werden überhaupt erst ab einem bestimmten Einkommensniveau fällig. Geringverdiener brauchen nichts zurückzuzahlen und Absolventen mit vergleichsweise geringem Lebenseinkommen zahlen ihre Darlehen in der Regel nur teilweise zurück. Über nachgelagerte und einkommensabhängige Stipendiensysteme werden darüber hinaus das Risiko und die Unsicherheit für Personen aus einkommensschwachen Schichten reduziert, da die Stipendien lediglich bei festem Einkommen rückzahlbar sind. Das Finanzierungssystem ist so sozial ausgewogener, da Absolventen mit größeren privaten Erträgen weniger öffentliche Subventionen erhalten als Absolventen mit geringeren privaten Erträgen (und umgekehrt).
Natürlich reduziert ein einkommensabhängiges Darlehenssystem das Risiko, dass die Kosten eines Studiums später nicht refinanziert werden können, nicht absolut. Das Risiko wird vielmehr vom Studierenden auf den Staat verlagert, der in diesem Finanzierungsmodell das Studium seiner Bürger ja gewissermaßen vorfinanziert. Hier setzt deshalb auch ein gängiger Kritikpunkt an. Jedoch ist dies sehr kurzfristig gedacht. Die zusätzlichen Steuereinnahmen, die sich aus den höheren Gehältern der Universitätsabsolventen ergeben, liegen bei realistischen Annahmen zu den Anteilen der Studierenden, die erfolgreich in das Arbeitsleben eintreten, um ein Vielfaches über allen denkbaren Kreditausfällen: Abbildung 6 zeigt den privaten Nettoertrag, also das zusätzliche Einkommen, das mit einem Hochschulabschluss verbunden ist, nach Abzug aller Ausgaben sowie des entgangenen Einkommens während der Studienzeit. Zudem ist der öffentliche Nettoertrag abgebildet, also die zusätzlichen Steuereinnahmen pro Studierenden, die sich aus den höheren Einkommen von Hochschulabsolventen ergeben, nach Abzug aller öffentlichen Ausgaben für die Hochschulfinanzierung (beides über ein Arbeitsleben gerechnet). Deutlich wird: Am Ende gewinnen sowohl die Studierenden, die durch das darlehenfinanzierte Studium ein höheres Lebenseinkommen erwirtschaften, als auch der Staat, der von den Hochschulabsolventen durch höhere Steuereinnahmen profitiert.
Abbildung 6: Privater und staatlicher Nettoertrag bei einem Mann, der einen Abschluss im Tertiärbereich erwirbt (2010)Grafik als Interner Link: PDF-Datei (© bpb)
Ein weiterer gängiger Einwand gegen Darlehenssysteme besagt, stetig wachsende Hochschulabsolventenquoten würden irgendwann dazu führen, dass Hochschulabschlüsse am Arbeitsmarkt entwertet werden: Je mehr Personen mit Hochschulabschluss auf den Arbeitsmarkt drängen, umso weniger sei dieser Abschluss letztlich wert, umso geringer seien also die Einkommensvorteile, die mit einem Hochschulstudium verknüpft sind. In der Folge würden die Kosten eines Studiums irgendwann dessen Erträge übersteigen, sodass es aus diesem Grund zu massiven Kreditausfällen kommen könnte. Allerdings gibt es diesen Einwand schon seit Jahrzehnten. Immer wieder wurde in der deutschen Geschichte vor einer "Akademikerschwemme" oder einem "akademischen Proletariat" gewarnt. Die bisherigen Trends geben indes keine Hinweise darauf, dass die steigende Zahl von Wissensarbeitern in den OECD-Staaten zu sinkenden durchschnittlichen Einkommen geführt hat. Ganz im Gegenteil, wie eingangs hervorgehoben, ist die Einkommensschere in den Industriestaaten in den letzten Jahren zugunsten der Hochschulabsolventen weiter auseinandergegangen.
Fazit
Wie der Blick in andere Länder offenbart, kann ein sozial ausgewogenes und zugleich nachhaltig finanzierbares Hochschulwesen auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden. Das Finanzierungsmodell der Staaten Nordeuropas ist zweifellos attraktiv. Es setzt jedoch ein deutlich progressiveres Steuersystem voraus, als wir es in Deutschland haben, und scheint somit, zumindest unter den gegebenen Bedingungen, politisch schwer realisierbar. Vor diesem Hintergrund erscheint das in England und Australien praktizierte Modell bedenkenswert. Durch eine Kombination von moderaten nachgelagerten Studiengebühren und einem sozial gestaffelten Stipendiensystem könnte Deutschland den überfälligen Ausbau des Hochschulsystems deutlich vorantreiben, die Qualität des Studiums durch höhere Gesamtinvestitionen verbessern und durch einen erweiterten und offeneren Zugang zum Studium die Bildungsbeteiligung sozial gerechter gestalten. Nicht zuletzt ließe sich durch ein kostenpflichtiges Studium auch die Effizienz des Hochschulsystems erhöhen, denn zahlende Studierende würden von den Hochschulen wohl bessere Lehrleistungen einfordern und ihr Studium wahrscheinlich eher fristgerecht abschließen.
Abbildung 1: Welchen Einkommensvorteil haben Personen mit Abschluss im Tertiärbereich? (2012)Grafik als Interner Link: PDF-Datei (© bpb)
Abbildung 2: Entwicklung der Studierendenzahlen in Deutschland (Interner Link: Mehr dazu...) (© bpb)
Abbildung 3: Wie das Elternhaus den Bildungsweg prägt (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Abbildung 4: Verhältnis zwischen durchschnittlichen Studiengebühren öffentlicher Bildungseinrichtungen und dem Anteil Studierender, die öffentliche Darlehen, Stipendien oder Zuschüsse erhalten Grafik als Interner Link: PDF-Datei (© bpb)
Abbildung 5: Absolute BildungsmobilitätGrafik als Interner Link: PDF-Datei (© bpb)
Abbildung 6: Privater und staatlicher Nettoertrag bei einem Mann, der einen Abschluss im Tertiärbereich erwirbt (2010)Grafik als Interner Link: PDF-Datei (© bpb)
Quellen / Literatur
Middendorff, E., Apolinarski, B., Poskowsky, J., Kandulla, M., Netz, N. (2013). Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch das HIS Institut für Hochschulforschung. Bonn/Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Abzurufen unter: Externer Link: http://www.bmbf.de/pubRD/20._Sozialerhebung.pdf
OECD (2013). OECD Skills Outlook. OECD, Paris. Abzurufen unter: Externer Link: http://skills.oecd.org/documents/OECD_Skills_Outlook_2013.pdf
OECD (2014). Bildung auf einen Blick 2014. OECD Indikatoren. Bertelsmann Verlag. Abzurufen unter: Externer Link: http://www.oecd.org/berlin/publikationen/bildung-auf-einen-blick.htm
Middendorff, E., Apolinarski, B., Poskowsky, J., Kandulla, M., Netz, N. (2013). Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch das HIS Institut für Hochschulforschung. Bonn/Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Abzurufen unter: Externer Link: http://www.bmbf.de/pubRD/20._Sozialerhebung.pdf
OECD (2013). OECD Skills Outlook. OECD, Paris. Abzurufen unter: Externer Link: http://skills.oecd.org/documents/OECD_Skills_Outlook_2013.pdf
OECD (2014). Bildung auf einen Blick 2014. OECD Indikatoren. Bertelsmann Verlag. Abzurufen unter: Externer Link: http://www.oecd.org/berlin/publikationen/bildung-auf-einen-blick.htm
Berechnet wurde dies durch Aufsummierung der altersspezifischen Abschlussquoten über alle relevanten Altersgruppen.
Für das Jahr 2013 siehe: Externer Link: http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?p=17863; für das Jahr 2000 siehe: Externer Link: http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?p=9605
Siehe: Externer Link: http://www.forbes.com/sites/halahtouryalai/2014/02/21/1-trillion-student-loan-problem-keeps-getting-worse/
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-10T00:00:00 | 2015-02-12T00:00:00 | 2022-01-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/200978/studiengebuehren-oder-studium-aus-oeffentlichen-mitteln/ | Studiengebühren werden häufig mit der Begründung abgelehnt, sie würden junge Menschen aus einkommensschwächeren Familien vom Studieren abhalten. Doch hängt der Hochschulbesuch in Deutschland stärker von der sozialen Herkunft ab als in so manchem Land | [
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Editorial | Müll | bpb.de | Der Lebensstil in den von Massenkonsum geprägten Gesellschaften geht einher mit der Produktion unfassbarer Mengen an Müll. Je nach Quelle und Abfalldefinition unterscheiden sich die Mengenangaben zwar erheblich, aber der grundsätzliche Befund bleibt immer derselbe: Wir erzeugen zu viel Müll; weitere Bemühungen zur Abfallvermeidung sind unumgänglich. Die Problematik fällt nicht nur zu Weihnachten auf, sie ist zu einem Dauerthema geworden: Insbesondere über die Zunahme von Verpackungsmüll und die fortschreitende Verschmutzung der Weltmeere durch Mikroplastik wird regelmäßig berichtet und politisch diskutiert.
Deutschland ist einer der größten Müllproduzenten in Europa. Das ist kein Zufall, gilt Hausmüll doch als zuverlässiger Wohlstandsindikator. Dabei ist Müll keineswegs eine statische Kategorie: Was die einen wegwerfen, ist für die anderen oft etwas wert. Dies gilt auch für die globalisierten Abfallströme: Unter anderem getrieben durch den seit den 1990er Jahren etablierten Recycling-Ansatz ist Müll zu einem weltweit gehandelten und begehrten Wirtschaftsgut geworden. So wird über ein Zehntel des in Deutschland anfallenden Kunststoff-Verpackungsmülls exportiert und im Ausland, vor allem in Asien, verwertet. Dass ökologische Erwägungen bei dieser Art von "Entsorgung", wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen, liegt auf der Hand.
Längerfristig erscheint es indes nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch vielversprechender, statt auf den Export des Mülls auf die Wiedergewinnung genutzter Rohstoffe zu setzen. In einem rohstoffarmen Land wie Deutschland wäre es geradezu fahrlässig, das in dieser Hinsicht vor allem in Elektromüll schlummernde Potenzial, etwa an Metallen und Seltenen Erden, nicht auszuschöpfen. Hierbei sind auch die Verbraucherinnen und Verbraucher gefragt: Schätzungen zufolge lagern über 120 Millionen ausgemusterte Althandys in deutschen Haushalten. | Article | Johannes Piepenbrink | 2021-12-07T00:00:00 | 2018-11-28T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/281494/editorial/ | [
"APuZ 49-50/2018",
"APuZ",
"APuZ Müll"
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Das Gesundheitswesen in Deutschland – Ein Überblick | Gesundheitspolitik | bpb.de | Die Gesundheit von Menschen und ganzen Bevölkerungen steht in einem Zusammenhang mit einer kaum überschaubaren Zahl von Faktoren. Allein dieser Sachverhalt macht es schwer, zu einer plausiblen und weithin geteilten Definition dessen zu gelangen, was zu einem Gesundheitssystem gehört.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) plädiert für eine weite Definition dieses Begriffs. In ihrer Externer Link: Tallinn-Charta aus dem Jahr 2008 hat sie ihn folgendermaßen definiert:
QuellentextTallinn- Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Ein Gesundheitssystem ist die Gesamtheit aller öffentlichen und privaten Organisationen, Einrichtungen und Ressourcen in einem Land, deren Auftrag darin besteht, unter den dortigen politischen und institutionellen Rahmenbedingungen auf die Verbesserung, Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit hinzuarbeiten. Die Gesundheitssysteme umfassen sowohl die individuelle als auch die bevölkerungsbezogene Gesundheitsversorgung, aber auch Maßnahmen, mit denen andere Politikbereiche dazu veranlasst werden sollen, in ihrer Arbeit an den sozialen wie auch den umweltbedingten und ökonomischen Determinanten von Gesundheit anzusetzen.
(WHO Europa 2008)
Die Stärke eines solchen weiteren Verständnisses besteht darin, dass alle wesentlichen Einflussfaktoren auf Gesundheit in den Blick genommen werden können. Insbesondere wird damit die weit verbreitete Einengung der Begriffe "Gesundheitssystem" und "Gesundheitspolitik" auf die Krankenversorgung vermieden und die vielgestaltigen Felder der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung (z.B. Arbeitsschutz, Umweltschutz oder Verbraucherschutz) werden in die Betrachtung einbezogen. Allerdings ist eine solche Perspektive auch schwer umsetzbar, weil die Anzahl der dann zu behandelnden Handlungsfelder schnell zu groß zu werden droht.
Im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen stehen zum einen die Themen der unmittelbaren Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung, zum anderen die diversen Bereiche der Krankenversorgung.
Weiter wachsende Bedeutung des Gesundheitswesens
Die Organisation von Gesundheitssystemen sowie deren Finanzierung und Regulierung ist eine wichtige Voraussetzung für die individuelle und öffentliche Gesundheit. Gesundheitssysteme beeinflussen nicht nur die Lebensdauer und Lebensqualität, sondern auch die soziale Verteilung von Lebenschancen. In Deutschland ist die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen außerordentlich hoch. Folgende Daten verdeutlichen dies:
Im Jahr 2013 bezeichneten sich dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamts zufolge, einer repräsentativen Bevölkerungserhebung, knapp 9,9 Millionen Personen in Deutschland als krank. Dies waren 14,5 % aller Personen mit Angaben zur Gesundheit (65,2 Millionen). Eine Krankheit lag dieser Befragung zufolge vor, wenn sich die Befragten in ihrem Gesundheitszustand so beeinträchtigt fühlten, dass sie ihrer üblichen Beschäftigung nicht nachgehen konnten, oder wenn ein Arzt oder Heilpraktiker im Berichtszeitraum eine Behandlung durchgeführt und eine Diagnose gestellt hatte. 7,6 Millionen Personen befanden sich demzufolge im Berichtszeitraum in ambulanter oder stationärer Behandlung .
Im Jahr 2014 gab es in Deutschland rund 19,1 Millionen Krankenhausfälle. In dieser Zahl sind auch jene Personen enthalten, die mehrmals im Jahr stationär aufgenommen wurden .
Das Gesundheitswesen ist nicht nur ein wichtiger Bestandteil der sozialen Sicherung, sondern auch von großer volkswirtschaftlicher Bedeutung . Diese Bedeutung lässt sich u.a. an der Zahl der in diesem Sektor beschäftigten Personen und an der Entwicklung der Gesundheitsausgaben ablesen (siehe Kasten).
InfoFakten zum deutschen Gesundheitswesen
Im Jahr 2013 bezeichneten sich knapp 9,9 Millionen Personen in Deutschland als krank. Im Jahr 2014 gab es in Deutschland rund 19,1 Millionen Krankenhausfälle. In dieser Zahl sind auch jene Personen enthalten, die mehrmals im Jahr stationär aufgenommen wurden. Rund 5,2 Millionen Menschen in Deutschland waren 2014 im Gesundheitswesen beschäftigt. Dies waren rund 12 % aller Beschäftigten in Deutschland. Damit gab es im Gesundheitswesen rund 300.000 Arbeitsplätze mehr als im Jahr 2011. Unter den 5,2 Millionen Beschäftigten waren rund 1 Million Gesundheits- und Krankenpfleger/innen, rund 520.000 Altenpfleger/innen und rund 430.000 Ärztinnen und Ärzte. Im Jahr 2014 beliefen sich die Gesundheitsausgaben auf insgesamt 328,0 Milliarden Euro. Das waren 4.050 Euro je Einwohner. Von den Gesundheitsausgaben in Höhe von 328 Milliarden Euro entfielen allein auf die gesetzliche Krankenversorgung 192 Milliarden Euro. Lediglich 2 Milliarden Euro wurden für den Gesundheitsschutz ausgegeben Die Gesundheitsausgaben machen (2014) knapp 11,2% des deutschen Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.
Statistisches Bundesamt (2014-2016)
In der Zukunft wird das Gesundheitswesen sehr wahrscheinlich weiter an Bedeutung gewinnen. Wichtige Treiber dieser Entwicklung sind erstens der medizinische Fortschritt und die mit ihm wachsenden Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten und zweitens der demographische Wandel und der mit ihm wachsende Versorgungsbedarf. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit und der Behandlungsbedarf sind im höheren Lebensalter höher als in jüngeren oder mittleren Lebensjahren. So gaben im erwähnten Mikrozensus nur 10,3 % der 15-40-Jährigen, aber immerhin 22,1 % der Personen im Alter von 65 und mehr an, im Befragungszeitraum krank gewesen zu sein .
In allen reichen Gesellschaften spielt der Staat eine herausragende Rolle bei der Gestaltung des Gesundheitssystems. Er macht Vorgaben für die Organisation des Versorgungssystems, legt die Regeln für die Finanzierung und den Zugang zu Leistungen fest und weist anderen Akteuren in der Gesundheitspolitik Aufgaben und Rechte bei der Regulierung zu . Für die Entwicklung des Gesundheitssystems in Deutschland ist bis heute die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung im Jahr 1883 prägend.
Interner Link: Testen Sie Ihr Vorwissen zum Thema dieser Lerntour! Bevor Sie weiterlesen, können Sie anhand eines Lückentextes ausprobieren, was Sie bereits über das Thema "Gesundheitswesen in Deutschland" wissen. Nutzen Sie später das ausgefüllte Arbeitsblatt als Zusammenfassung wesentlicher Lerninhalte.
Gesundheitspolitik in der Kontroverse
Kind in einem "begehbaren Herz" das auf die Organspende aufmerksam machen soll. (© picture-alliance/dpa)
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass das Gesundheitswesen sowie seine Stärken und Schwächen in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion höchst unterschiedlich bewertet werden. Ebenso unterscheiden sich die Antworten auf die Frage nach den zukünftig notwendigen Veränderungen des Gesundheitswesens. Dies betrifft sowohl die Entwicklung der Versorgungsstrukturen und der Finanzierung als auch die Zukunft der Regulierung.
Die Gesundheitspolitik ist wegen seiner Komplexität ein besonders schwer verständliches Politikfeld. Das E-Learning-Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung zur Gesundheitspolitik bietet Ihnen Gelegenheit, sich mit wichtigen Problemen und Reformvorschlägen eingehender zu befassen. Es soll dazu beitragen, die Bürgerinnen und Bürger zu befähigen, sich an der Diskussion über die zukünftige Gestaltung des Gesundheitswesens zu beteiligen.
Für die Einschätzung des Reformbedarfs, die Bewertung von Reformprozessen und Reformvorschlägen sind Kenntnisse der wichtigsten Strukturen, der Hauptakteure und ihrer Interessen sowie der Funktionsprinzipien des deutschen Gesundheitswesens unverzichtbar. Die Lerntour "Das Gesundheitswesen in Deutschland" soll einen Gesamtüberblick vermitteln und damit auf die Beschäftigung mit vertiefenden Lerntouren zu Einzelfragen der Gesundheitspolitik vorbereiten. Folgende Themen und Fragen begegnen Ihnen auf dieser Lerntour:
Durch welche Grundstrukturen in Versorgung, Finanzierung und Regulierung ist das deutsche Gesundheitssystem gekennzeichnet? Wer sind die wichtigsten Institutionen und Akteure? Welche Institutionen und Akteure haben welche Aufgaben?
Neben Erläuterungen zu diesen grundlegenden Aspekten werden die Grundzüge der beiden größten Versorgungssektoren vorgestellt:
ambulante Versorgung stationäre Versorgung
Das Programm dieser Lerntour
Die Titel der einzelnen Lernobjekte können Sie der folgenden Übersicht entnehmen.
Interner Link: Bismarcks Erbe: Besonderheiten und prägende Merkmale des deutschen Gesundheitswesens Interner Link: Die wichtigsten Akteure im deutschen Gesundheitswesen. Teil 1: Staat und Politik Interner Link: Wichtige Akteure im deutschen Gesundheitswesen. Teil 2: Selbstverwaltung und angegliederte Institutionen Interner Link: Die wichtigsten Akteure im deutschen Gesundheitswesen. Teil 3: Freie Verbände Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Strukturen und Versorgungsformen Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Vergütung vertragsärztlicher Leistungen Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Grundprobleme der Vergütung ärztlicher Leistungen Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Vergütung privatärztlicher Leistungen Interner Link: Stationäre Versorgung: Strukturen und Inanspruchnahme Interner Link: Stationäre Versorgung: Finanzierung und Vergütung
Lernziele
Wie hat alles angefangen? Das deutsche Gesundheitssystem im historischen Rückblick Wie haben sich die derzeitigen Strukturen entwickelt? Was sind die Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens im Vergleich zu anderen Ländern?
Wer hat das Sagen im Gesundheitswesen? Welche Rolle spielen Staat und Politik? Welche Funktionen haben die Verbände und Körperschaften? Welchen Einfluss haben andere Institutionen und Interessenvertretungen?
Der erste Anlaufpunkt: Die ambulante ärztliche Versorgung Wie ist die ambulante Versorgung aufgebaut? Wie oft und warum werden niedergelassene Ärztinnen und Ärzte aufgesucht? Wie werden die Vertragsärztinnen und -ärzte vergütet? Wie ist die Aufgabenverteilung zwischen Haus- und Fachärztinnen und -ärzte? Welche neuen Versorgungsformen gibt es?
Wenn es ernst wird: Stationäre Versorgung Wie ist die stationäre Versorgung strukturiert und geregelt? Wie werden die Kapazitäten der Krankenhäuser geplant? Wie funktioniert das neue Vergütungssystem? Wie wird sich dieser Sektor entwickeln?
Ein Gesundheitssystem ist die Gesamtheit aller öffentlichen und privaten Organisationen, Einrichtungen und Ressourcen in einem Land, deren Auftrag darin besteht, unter den dortigen politischen und institutionellen Rahmenbedingungen auf die Verbesserung, Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit hinzuarbeiten. Die Gesundheitssysteme umfassen sowohl die individuelle als auch die bevölkerungsbezogene Gesundheitsversorgung, aber auch Maßnahmen, mit denen andere Politikbereiche dazu veranlasst werden sollen, in ihrer Arbeit an den sozialen wie auch den umweltbedingten und ökonomischen Determinanten von Gesundheit anzusetzen.
(WHO Europa 2008)
Im Jahr 2013 bezeichneten sich knapp 9,9 Millionen Personen in Deutschland als krank. Im Jahr 2014 gab es in Deutschland rund 19,1 Millionen Krankenhausfälle. In dieser Zahl sind auch jene Personen enthalten, die mehrmals im Jahr stationär aufgenommen wurden. Rund 5,2 Millionen Menschen in Deutschland waren 2014 im Gesundheitswesen beschäftigt. Dies waren rund 12 % aller Beschäftigten in Deutschland. Damit gab es im Gesundheitswesen rund 300.000 Arbeitsplätze mehr als im Jahr 2011. Unter den 5,2 Millionen Beschäftigten waren rund 1 Million Gesundheits- und Krankenpfleger/innen, rund 520.000 Altenpfleger/innen und rund 430.000 Ärztinnen und Ärzte. Im Jahr 2014 beliefen sich die Gesundheitsausgaben auf insgesamt 328,0 Milliarden Euro. Das waren 4.050 Euro je Einwohner. Von den Gesundheitsausgaben in Höhe von 328 Milliarden Euro entfielen allein auf die gesetzliche Krankenversorgung 192 Milliarden Euro. Lediglich 2 Milliarden Euro wurden für den Gesundheitsschutz ausgegeben Die Gesundheitsausgaben machen (2014) knapp 11,2% des deutschen Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.
Statistisches Bundesamt (2014-2016)
Kind in einem "begehbaren Herz" das auf die Organspende aufmerksam machen soll. (© picture-alliance/dpa)
Die Titel der einzelnen Lernobjekte können Sie der folgenden Übersicht entnehmen.
Interner Link: Bismarcks Erbe: Besonderheiten und prägende Merkmale des deutschen Gesundheitswesens Interner Link: Die wichtigsten Akteure im deutschen Gesundheitswesen. Teil 1: Staat und Politik Interner Link: Wichtige Akteure im deutschen Gesundheitswesen. Teil 2: Selbstverwaltung und angegliederte Institutionen Interner Link: Die wichtigsten Akteure im deutschen Gesundheitswesen. Teil 3: Freie Verbände Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Strukturen und Versorgungsformen Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Vergütung vertragsärztlicher Leistungen Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Grundprobleme der Vergütung ärztlicher Leistungen Interner Link: Ambulante ärztliche Versorgung: Vergütung privatärztlicher Leistungen Interner Link: Stationäre Versorgung: Strukturen und Inanspruchnahme Interner Link: Stationäre Versorgung: Finanzierung und Vergütung
Quellen / Literatur
Rosenbrock, Rolf/Gerlinger, Thomas (2014): Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 3., vollst. überarb. Aufl., Bern: Verlag Hans Huber .
Statistisches Bundesamt (StBA) (2014): Mikrozensus 2013. Fragen zur Gesundheit – Kranke und Unfallverletzte, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.
Statistisches Bundesamt (StBA) (2015): Fachserie 12,, Reihe 6.1.1: Grunddaten der Krankenhäuser 2014, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.
Statistisches Bundesamt (StBA) (2016): Fachserie 12, Reihe 7.1.1: Gesundheit – Ausgaben 2014, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.
Rosenbrock, Rolf/Gerlinger, Thomas (2014): Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 3., vollst. überarb. Aufl., Bern: Verlag Hans Huber .
WHO Europa (2008): Die Charta von Tallinn: Gesundheitssysteme für Gesundheit und Wohlstand. Externer Link: www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0004/88609/E91438G.pdf.
Rosenbrock, Rolf/Gerlinger, Thomas (2014): Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 3., vollst. überarb. Aufl., Bern: Verlag Hans Huber .
Statistisches Bundesamt (StBA) (2014): Mikrozensus 2013. Fragen zur Gesundheit – Kranke und Unfallverletzte, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.
Statistisches Bundesamt (StBA) (2015): Fachserie 12,, Reihe 6.1.1: Grunddaten der Krankenhäuser 2014, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.
Statistisches Bundesamt (StBA) (2016): Fachserie 12, Reihe 7.1.1: Gesundheit – Ausgaben 2014, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.
Rosenbrock, Rolf/Gerlinger, Thomas (2014): Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 3., vollst. überarb. Aufl., Bern: Verlag Hans Huber .
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Statistisches Bundesamt 2014.
Statistisches Bundesamt 2015.
Statistisches Bundesamt 2016.
Statistisches Bundesamt: 2014.
Rosenbrock/Gerlinger 2014.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-12T00:00:00 | 2017-07-03T00:00:00 | 2022-01-12T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/251612/das-gesundheitswesen-in-deutschland-ein-ueberblick/ | Die Gesundheit von Menschen und ganzen Bevölkerungen steht in einem Zusammenhang mit einer kaum überschaubaren Zahl von Faktoren. Kurze Einführung ins Thema. | [
"Gesundheitspolitik",
"Gesundheitswesen"
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Januar 2016. Thema: Wirtschaft | Schulnewsletter | bpb.de | Sehr geehrte Lehrerin, sehr geehrter Lehrer,
Wirtschaftsfragen nehmen in unserem im Alltag, in der Schule und im Unterricht eine immer größere Rolle ein. Wenn die globalen Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik Ende Januar im Rahmen der 46. Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums in Davos zusammenkommen, ist dies nicht nur für wenige Experten von Interesse sondern von universeller Bedeutung für uns alle. Die Zuversicht schwindet, die globale Wirtschaft scheint ihren Zenit überschritten zu haben. Geopolitische Krisen, Kurseinbrüche in China, sinkende Ölpreise - all das sind Faktoren, die in der Weltwirtschaft aktuell eine große Rolle spielen. Unterricht sollte unsere Schülerinnen und Schüler befähigen, in einer globalen Welt grundlegende wirtschaftliche Zusammenhänge zu erkennen und ihnen Rüstzeug an die Hand zu geben, damit sie in Zukunft ihre Rolle als mündige Wirtschaftssubjekte ausfüllen und reflektiert ökonomische Entscheidungen treffen können. Bei diesem Vorhaben möchten wir Sie mit dem Newsletter im Januar unterstützen. Wir haben Ihnen eine Auswahl an informierenden Texten und thematisch und methodisch vielfältige Unterrichtsmaterialien sowohl für die Sekundarstufe I als auch die Oberstufe zusammengestellt.
Thema im Unterricht / Extra: Wirtschaft für Einsteiger
Wirtschaftsfragen nehmen nicht nur im Alltag, sondern auch in Schule und Unterricht immer mehr Raum ein. Anhand der 28 Arbeitsblätter von "Wirtschaft für Einsteiger" kann entweder kurz und knapp eine bestimmte Frage behandelt (wie z.B. " Was ist eigentlich das Bruttosozialprodukt" oder "Was ist von Statistiken zu halten?") oder auch eine ganze Unterrichtsreihe geplant und durchgeführt werden. Die Mappe enthält Arbeitsaufgaben in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen, unterschiedliche methodische Zugänge und Vorschläge und ist ansprechend gestaltet. Mit Quellen, Fotos, Illustrationen, vierfarbig geeignet primär für die Sek I. Interner Link: http://www.bpb.de/75666/
Themen und Materialien - Ökonomie und Gesellschaft
Der Band verdeutlicht an ausgewählten Beispielen das Wechselverhältnis von Ökonomie und Gesellschaft und berücksichtigt hierbei gezielt auch alternative ökonomische Paradigmen zum derzeit in Wirtschaft und Politik dominierenden Handlungsmodell des homo oeconomicus. In zwölf Unterrichtsbausteine werden Lehrkräfte und Dozenten unterstützen, den Lernenden der Sekundarstufe II eine ganzheitliche Perspektive auf wirtschaftspolitische Probleme und auf ökonomisch geprägte Lebenssituationen zu eröffnen. Interner Link: http://www.bpb.de/200345/
Themenblätter im Unterricht (Nr. 86) Konjunktur - Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Auf und ab, wie bei einer Achterbahnfahrt, so bewegen sich die Wellen der Konjunktur. Auf eine Krise folgen Aufschwung und Boom und schließlich wieder Abschwung. Doch warum schwanken Wachstumsraten? Was bedeutet das für den Arbeitsmarkt und die Preisstabilität? Das Themenblatt geht diesen Fragen auf den Grund. Das Thema "Konjunktur" wird den Schülerinnen und Schülern der auf dem doppelseitigen Arbeitsblatt im Abreißblock (30 Stück) über anschauliche Beispiele und Grafiken vermittelt. Dazu gibt es Hinweise für Lehrkräfte, zusätzliche Kopiervorlagen zur Vertiefung sowie Link- und Literatur-Tipps. Interner Link: http://www.bpb.de/36501/
Zahlen und Fakten: Top 15
Hier finden Sie aktuelle und neu gestaltete Grafiken aus den "Zahlen und Fakten"-Angeboten "Die soziale Situation in Deutschland", "Globalisierung" und "Europa", die regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht werden. Die Zahlen zur Entwicklung des globalen Energieverbrauchs und zur EU-Nettozahler-Debatte werden dabei genauso aktualisiert wie die Fakten zu den Themen Armut, Arbeitslosigkeit und demografischer Wandel. Externer Link: http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/top-15/
Debatte: Europäische Schuldenkrise
Das Dossier veranschaulicht die wichtigsten Diskussionsstränge der Europäischen Schuldenkrise. Der ungelöste Disput zwischen Ausgaben- und Sparpolitik steht dabei im Zentrum und wird anhand von grundlegenden Fragen und Infografiken zum Thema paradigmatisch erläutert. Über deren Interpretation streiten sich jeweils zwei ausgewiesene Experten. Weiteres Grundlagenwissen verschaffen eine Zeitleiste, ein Glossar sowie Videointerviews. Externer Link: http://www.bpb.de/politik/wirtschaft/schuldenkrise/
Netzdebatte: Schuldenbremse
Es scheint paradox: Niemand möchte sich verschulden und trotzdem scheint das Wirtschaften ohne Schulden unmöglich. Können wir also wirklich aufhören, mit dem Schulden machen? Können wir unsere Schulden jemals ganz zurückzahlen? Ist das überhaupt nötig? Wie sinnvoll ist ein Instrument wie die Schuldenbremse? Brauchen wir vielleicht ein neues, schuldenfreies Finanzsystem? Wäre eine Gesellschaft ohne Schulden denkbar? Wäre sie gerechter? Diese und viele andere Fragen diskutieren wir in unserem neuen Schwerpunkt. Diskutieren Sie mit! Interner Link: http://www.bpb.de/206917/
kinofester.de. Film des Monats: The Big Short
Ein paar Außenseiter sahen den Finanzcrash 2007/08 voraus und profitierten durch Spekulationen. Adam McKays Ensemblefilm erzählt den Zusammenbruch des Bankensystems als Mischung aus Komödie und Tragödie. Die Filmjournalistin und Kunsthistorikerin Friederike Horstmann bietet eine ausführliche Filmbesprechung als Grundlage für Ihren Unterricht. Externer Link: http://www.kinofenster.de/film-des-monats/aktueller-film-des-monats/kf1601-the-big-short-film/
Pocket | Wirtschaft - Ökonomische Grundbegriffe
Pocket Wirtschaft in Deutschland ist ein Lexikon der wichtigsten Fachbegriffe: Von "Aktie" bis "Zinspolitik", so einfach erklärt wie möglich. Das Lexikon im handlichen Format vermittelt einen Einblick in die Zusammenhänge der deutschen Wirtschaft. Wenn in den Nachrichten also vom Bruttoinlandsprodukt, von Tarifverträgen oder von der Arbeitslosigkeit die Rede ist, dann können Sie hier nachschlagen, was diese und viele weitere Begriffe bedeuten. Und mit Pocket Wirtschaft in Deutschland können sich Ihre Schülerinnen und Schüler auch an den Wirtschaftsteil ihrer Tageszeitung wagen. Zusätzlich zu den knapp gehaltenen Begriffserklärungen werden einige grundlegende Zusammenhänge des Wirtschaftslebens ausführlicher dargestellt, wie zum Beispiel Strukturwandel, Marktwirtschaft oder Globalisierung. Interner Link: http://www.bpb.de/34356/
Schriftenreihe (Bd. 1588) Gut leben
Wie geht es weiter mit der Weltwirtschaft? Nicht wie bisher, so das Credo der Philosophin Barbara Muraca, die der weltweiten Postwachstumsbewegung verbunden ist. Der gerechte Umgang mit Gütern, Nachhaltigkeit und Umweltschutz, angemessene Partizipation: all dies werfe Fragen nach Veränderung auf, die es zu beantworten gelte. http://www.bpb.de/213604/
fluter (Nr. 50) Handel
Mit dem Handel kommt Bewegung in die Sachen. Er prägt unser Leben, unsere Gesellschaft, verbindet die Welt - und zwar hochgradig dynamisch, digital, mit einer riesigen Produktauswahl und unter harter Konkurrenz. Widersprüche und Ungleichheiten sind seine Begleiter. In dieser Frühjahrsausgabe nimmt fluter die facettenreiche Welt des Handels unter die Lupe. Interner Link: http://www.bpb.de/180739/
bpb Mediathek - Mit offenen Karten
"Mit offenen Karten" ist ein geopolitisches Magazin des TV-Senders ARTE. Anhand von Landkarten werden politische, wirtschaftliche, soziale und ökonomische Zusammenhänge erklärt, die Ursache von internationalen Konflikten sein können. Entworfen und präsentiert wird das Format von Jean-Christophe Victor, Gründer des Forschungsinstituts LEPAC (Laboratoire d'études politiques et cartographiques). Die Bundeszentrale für politische Bildung zeigt ausgewählte Filme. Externer Link: http://www.bpb.de/mediathek/mit-offenen-karten/
bpb.de/Wirtschaft
Hier finden Sie eine Übersicht über die bpb-Angebote zum Thema Wirtschaft, wie etwa die Dossiers Wirtschaft, Energiepolitik, Finanzmärkte und die Debatte zur Europäischen Schuldenkrise. Externer Link: http://www.bpb.de/politik/wirtschaft/
Im Praxistest: Europa kontrovers - Gesichter der Krise
Die Euro-Krise, ihre Ursachen und Auswirkungen sind vielfältig und für die Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer Komplexität schwer zu fassen. Sinnvoll ist es hier, exemplarisch vorzugehen und anhand von Länder verbunden mit konkreten Schicksalen Ursachen der Krise, Auswirkungen insbesondere auf die Gesellschaft und die Wege aus der Krise zu erarbeiten. Experten aus Irland, Portugal, Griechenland, Lettland, Spanien und Bulgarien illustrieren anschaulich ihren Standpunkt zu den vielschichtigen »Gesichtern der Euro-Krise".
Zur Rezension: Interner Link: http://www.bpb.de/219515/
Das Material finden Sie unter: http://www.bpb.de/internationales/europa/europa-kontrovers/172121/gesichter-der-euro-krise
Testen Sie Unterrichtsmaterialien für den Wahl-O-Mat!
2016 ist Wahljahr: In fünf Bundesländern werden neue Parlamente gewählt. Will man wissen, welche Partei der eigenen politischen Position am nächsten ist, hilft der Wahl-O-Mat. Bereits 43,5 Millionen Mal ist das Frage-und-Antwort-Tool seit 2002 zum Einsatz gekommen. Aber taugt es auch für den Unterricht? Testen Sie jetzt für uns Wahl-O-Mat und Begleitmaterial in der Praxis.
Hier können Sie sich bewerben: Externer Link: http://www.bpb.de/218783
Ihre Meinung
Wie finden Sie unseren Schulnewsletter? Was fehlt, was wäre Ihnen wichtig? Möchten Sie gerne als Autor für eine Rezension für uns honoriert tätig werden? Schreiben Sie uns unter E-Mail Link: online@bpb.de.
bpb Newsletter hier bestellen oder kündigen: Interner Link: http://www.bpb.de/newsletter
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, 2016, http://www.bpb.de/impressum | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2016-01-28T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/schulnewsletter-archiv/219619/januar-2016-thema-wirtschaft/ | Wirtschaftsfragen nehmen in unserem im Alltag, in der Schule und im Unterricht eine immer größere Rolle ein. Wenn die globalen Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik Ende Januar im Rahmen der 46. Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums in Dav | [
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Analyse: Polen nach den Präsidentenwahlen 2015 | bpb.de | Im Verfassungssystem Polens hat der Staatspräsident eine stärkere Position als in Deutschland, aber eine weniger entscheidende als in Frankreich. Das laufende politische Geschäft wird in Polen von der Regierung mit einem recht starken Ministerpräsidenten geführt, aber der Staatspräsident hat gewisse Befugnisse in der Außenpolitik (er repräsentiert das Land in wichtigen internationalen Institutionen, u. a. der NATO) und in der Verteidigungspolitik (er ist der formale Oberbefehlshaber der Streitkräfte). Außerdem obliegt ihm das Vetorecht bei vom Parlament eingebrachten Gesetzen, was als ein sehr wirksames Instrument im Gesetzgebungsprozess eingesetzt werden kann, da für die Aufhebung des Vetos eine 3/5 Mehrheit der Abgeordneten notwendig ist und die in Polen regierenden Koalitionen gewöhnlich nicht über eine so ausgeprägte Mehrheit verfügen. Der Staatspräsident hat direkten Einfluss auf die personelle Besetzung vieler wichtiger staatlicher Institutionen. Seine Position wird informell auch durch das starke gesellschaftliche Mandat beeinflusst, das er durch seine Direktwahl erhält; hinzu kommt, dass bei Präsidentenwahlen die Wahlbeteiligung im Allgemeinen größer ist als bei Parlamentswahlen. Die Amtszeit des Staatspräsidenten beträgt fünf Jahre; einmalige Wiederwahl ist möglich In den vergangenen fünf Jahren hatte Bronisław Komorowski das Amt des Staatspräsidenten inne, eine der verdienstvollsten Persönlichkeiten in der III. Republik. Er stammt aus einer patriotisch eingestellten Familie, ein Verwandter, Tadeusz »Bór« Komorowski, war Oberbefehlshaber der Polnischen Heimatarme im Zweiten Weltkrieg und führte den Warschauer Aufstand 1944 an. Er selbst engagierte sich bereits als Jugendlicher gegen das kommunistische System, weshalb er wiederholt verurteilt und inhaftiert wurde. Nach 1989 hatte er viele öffentliche Funktionen inne, u. a. die des Verteidigungsministers und des Sejmmarschalls. Dieses Amt übte er zu der Zeit aus, als sein Vorgänger, Staatspräsident Lech Kaczyński, bei der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im Jahr 2010 tödlich verunglückte.
Kaczyński hatte das Amt seit 2005 inne, als er als Kandidat der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), deren Vorsitzender sein Bruder Jarosław war und weiterhin ist, den Chef der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), Donald Tusk, ausgestochen hatte. Der Sieg der PO bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Jahr 2007 und die Besetzung des Ministerpräsidentenpostens mit Donald Tusk hatte Spannungen zwischen Staatspräsident Kaczyński und dem PO-Ministerpräsidenten zur Folge, die wiederholt als Kompetenz- und Prestigestreitigkeiten ausgetragen wurden. Am 10. April 2010, einige Monate vor neuerlichen Präsidentenwahlen, unternahm Lech Kaczyński mit zahlreichen hohen Staatsvertretern eine Reise ins russische Smolensk, um im nahe gelegenen Wald von Katyn des 70. Jahrestags der Ermordung Tausender polnischer Offiziere durch den sowjetischen NKWD zu gedenken; vermutlich wollte er mit dieser symbolischen Geste auch seinen Wahlkampf einleiten. Bei fatalen Wetterverhältnissen stürzte das Präsidentenflugzeug beim Landeversuch ab. Lech Kaczyński, seine Ehefrau und fast einhundert Personen, die ihn auf der Reise begleiteten, starben am Unglücksort.
Gemäß der polnischen Verfassung übernimmt im Falle des Todes des Staatspräsidenten der Sejmmarschall in der interimistischen Periode bis zur vorgezogenen Neuwahl des Staatsoberhaupts seine Funktion im Staat; das war Komorowski. Die Ausübung des Amtes prädestinierte ihn dafür, sich um die Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten zu bemühen. Er wurde von seiner Partei, der PO, als Kandidat in den vorgezogenen Präsidentenwahlen nominiert und siegte so vor dem damaligen Außenminister Radosław Sikorski, der sich ebenfalls parteiintern um die Kandidatur beworben hatte. Gegen Komorowski trat der Zwillingsbruder des verunglückten Präsidenten an, Jarosław Kaczyński, der die Regierung beschuldigte, zur Flugzeugkatastrophe beigetragen zu haben. Nach einem harten Wahlkampf siegte Komorowski in der Stichwahl mit 53 zu 47 Prozent.
Der gefallene Favorit
Komorowski ist ein gemäßigter Konservativer mit einer etwas jovialen, aber ausgeglichenen Wesensart; auf diese Weise übte er auch das Amt des Staatspräsidenten aus und hatte einen stabilisierenden Einfluss auf die polnische Politik. Allerdings wandte er sich einige Male gegen die Pläne und Projekte der Regierung, die von seiner Mutterpartei, der PO, dominiert wurde. Sowohl ruhig als auch würdevoll, ausgestattet mit Robustheit und politischer Selbständigkeit, gefiel er den Bürgern, die Komorowski sehr großes Vertrauen und Unterstützung schenkten. Es schien, als sei seine Wiederwahl für die zweite Amtszeit nur eine Formalität.
Aus diesem Grund wollten die Chefs der anderen Parteien nicht persönlich in den riskanten Wettstreit mit Komorowski eintreten und stellten Kandidaten auf, die nicht der Parteispitze angehören. Kaczyński bestimmte als Repräsentanten von PiS (PiS wird praktisch von einer – seiner – Person regiert) den wenig bekannten Europaabgeordneten und ehemaligen Unterstaatssekretär und Berater in der Kanzlei des Staatspräsidenten Lech Kaczyński, Dr. jur. Andrzej Duda. Noch merkwürdiger war die Entscheidung des Chefs der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), Leszek Miller. Er erlegte seiner Partei die Kandidatur der jungen, 36-Jährigen, visuell eindrucksvollen Blondinen Magdalena Ogórek auf (für die Kandidatur muss das Mindestalter von 35 Jahren erreicht sein), die allerdings über keinerlei politische Erfahrung verfügte und vorher als promovierte Expertin zur Geschichte der religiösen Bewegungen in Schlesien in den Medien als Spezialistin für kirchliche Angelegenheiten aufgetreten war. Der mitregierenden Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), deren Kandidat nie mehr als einige Prozent der Stimmen in den Präsidentenwahlen erhalten hatte, wurde angeraten, Komorowski zu unterstützen, aber sie entschloss sich, den jungen Vertreter der Selbstverwaltung, Adam Jarubas, aufzustellen. Außerdem gelang es elf Bewerbern, manche von ihnen recht exotisch und sonderbar, insgesamt 100.000 Unterschriften zu sammeln.
Die hohen Werte gesellschaftlichen Vertrauens und Unterstützung für den Staatspräsidenten demobilisierten ihn und seinen Wahlstab. Sie begannen den Wahlkampf spät und führten ihn wenig aktiv, während Andrzej Duda ihn mit großem Impetus begann. Während des lustlosen und inkompetenten Wahlkampfs begann Komorowskis großer Sympathievorsprung dahinzuschmelzen; vollkommen unerwartet und rasch wuchs dagegen die Unterstützung für den bekannten ehemaligen Rockmusiker Paweł Kukiz, der das gesamte politische Establishment attackierte und radikale, aber nicht weiter präzisierte Veränderungsparolen hervorbrachte oder vielmehr herausschrie. Seine ganze Erfahrung in öffentlichen Angelegenheiten beläuft sich auf seine Funktion als Ratsmitglied im niederschlesischen sejmik, die er seit einigen Monaten ausübt. Seine Hauptidee für die Politik ist die obsessiv wiederholte Forderung nach Änderung der Wahlordnung hin zum Mehrheitswahlrecht und sogenannten Ein-Mandats-Kreisen, was seiner Ansicht nach die polnische Politik erfrischen werde, weil die Funktionäre der aktuellen Parteien ihre dominierende Position verlören. Schnell wurde er insbesondere von der jungen Wählerschaft (obgleich er älter als 50 ist) als Sprachrohr aufrührerischer Einstellungen ihrer Generation erkannt und erhielt praktisch ohne jeglichen Wahlkampf und organisatorische Unterstützung über 20 Prozent der Stimmen, was den sensationellen dritten Platz im ersten Wahlgang bedeutete. Mit diesem Erfolg wurde die Position von Komorowski gegenüber dem Kandidaten von PiS wesentlich geschwächt und er verlor mit einer Differenz von weniger als einem Prozent gegen Duda. Die übrigen Kandidaten, darunter auch die Kandidatin der Linken, erlitten eine spektakuläre Niederlage.
m direkten Wahlkampf zur Stichwahl zwischen Komorowski und Duda führte dieser eine dynamischere, offensivere und zeitweilig aggressivere Kampagne. Er attackierte Komorowski für alle Fehler und Makel, die nicht nur dieser selbst, sondern auch das ganze Regierungslager begangen hätten, mit dem er Komorowski gleichsetzte. Er selbst machte nonchalant reichlich Versprechungen verschiedenster Art und weckte bei unterschiedlichen sozialen Gruppen Hoffnungen. Die Kaskaden von Versprechungen einerseits und Vorwürfen andererseits drängten Komorowski in die Defensive. Offenbar erwies sich dies als wirksam, denn Duda gewann schließlich mit dem geringen Vorsprung von 51,5 zu 48,5 Prozent die Präsidentenwahlen. Beeinflusst wurde das Ergebnis auch vom Altersunterschied der beiden Rivalen: Duda ist mit seinen 43 Jahren genau 20 Jahre jünger als Komorowski. Im Zusammenspiel mit seiner geringen Erfahrung rief er bei vielen jungen Wählern den Eindruck von Frische, Unverbrauchtheit und Erneuerung hervor. In der jüngsten Altersgruppe erhielt Duda deutlich mehr Stimmen als der amtierende Präsident, und in dieser Gruppe wurde über das Wahlergebnis entschieden: Von den 18- bis 30-Jährigen stimmten 60 Prozent für Duda. In dieser Gruppe haben die Parolen von (radikalen) Veränderungen die größte Wirkung; die jungen Menschen, die nicht viel zu verlieren haben, zeigen sich bereit für politische Experimente, und seien sie auch riskant. Der Anti-Establishmentprotest der jüngsten Generation war das wichtigste Phänomen dieser Wahlen und schließlich wahlentscheidend.
Was ist zu erwarten?
Perspektive und Verlauf der Präsidentschaft von Andrzej Duda sind schwer vorherzusehen, da er bisher kaum mit öffentlichen Aktivitäten hervorgetreten ist und keine selbständige staatliche Funktion ausgeübt hat. Gerade diese Unselbständigkeit könnte sein Hauptproblem sein, ähnlich wie bei Lech Kaczyński, der von seinem Bruder Jarosław inspiriert und manches Mal schlechterdings geführt worden war. Es ging damals so weit, dass die ausländischen Verhandlungspartner bei wichtigen Verhandlungen oder Konsultationen, wie beispielsweise dem Lissaboner Vertrag, gleich bei Jarosław Kaczyński anriefen und den amtierenden Staatspräsidenten umgingen. Duda verdankt alles Jarosław Kaczyński, der ihn als Kandidaten kreierte, und es bleibt die Frage, bis zu welchem Grad er ihm zu Diensten oder zumindest loyal sein wird. Die Besetzung des Präsidentenamtes wird von Dudas Mutterpartei, PiS, als die Einnahme des Brückenkopfes der Macht verstanden, den man nun durch die Positionierung von Parteifunktionären festigen muss. Folglich wird mit Sicherheit dahin gehend Druck auf das Präsidentenamt ausgeübt, dass eine Politik betrieben wird, die mit der Parteilinie übereinstimmt. Eine unbekannte Größe ist zurzeit, ob und in welchem Maße der neue Staatspräsident ohne politische Erfahrungen in der Lage ist, sich dem Druck zu widersetzen. Er wird eine Funktion ausüben, die ihm große Selbständigkeit einräumt, aber es ist nicht klar, ob er diese nutzen möchte. Als ehemaliger hoher Beamter bei Lech Kaczyński kennt er das Amt, aber aus einer Zeit, als er nicht selbständig und unabhängig war.
Mit Sicherheit ist eine größere Distanz des Staatspräsidenten gegenüber Deutschland und der Europäischen Union zu erwarten, da der neue Amtsinhaber eine europaskeptische und nationalzentrierte Haltung repräsentiert. Im Wahlkampf warf er seinem Rivalen vor, in Polen rasch den Euro einführen zu wollen, wobei er selbst sich ostentativ davon abwendete und hier auch eine große Mehrheit der Polen hinter sich weiß. Polen unter Staatspräsident Duda wird sich noch stärker von der Eurozone distanzieren und die Einführung der gemeinsamen Währung auf unbekannte Zeit verschieben. Indem er sich häufig auf nationale Interessen berief, signalisierte Duda die Absicht, eine selbständigere und separate Politik in der Europäischen Union zu betreiben; er nannte dies eine Abkehr vom »Schwimmen im mainstream«. In der Praxis kann dies eine Schwächung der bisherigen Verbindungen und Kooperationen mit Deutschland bedeuten. Als Europaabgeordneter von PiS gehörte Duda im Europäischen Parlament derselben, im Übrigen marginalen, Fraktion wie die britischen Konservativen und die Abgeordneten der Alternative für Deutschland (AfD) an, was in gewisser Weise seine Einstellung zu europäischen Aufgaben skizziert, insbesondere zur Vertiefung der europäischen Integration, der gegenüber er sicherlich abgeneigt ist. Sein außenpolitischer Berater soll Krzysztof Szczerski werden, ein erklärter Europaskeptiker. Europaskeptizimus und nationaler Egoismus könnten die Leitmotive dieser Präsidentschaft sein. Die stärkere Betonung nationaler Interessen, gepaart mit nationalem Egoismus, werden sicherlich die Zusammenarbeit Polens mit der Europäischen Union bei der Lösung von Problemen, die Polen nicht unmittelbar betreffen, beschränken und erschweren, wie zum Beispiel bei der Frage der Rettung von Flüchtlingen aus Afrika im Mittelmeer, der Hilfe für Griechenland oder der Lösung der Probleme der Eurozone.
Dagegen wird sich sicherlich nichts in den Beziehungen zwischen Polen und der NATO, Polen und den USA und in der polnischen Ostpolitik ändern. Die Politiker von PiS sind sogar pro-amerikanischer als die der Bürgerplattform und so wird der neue Präsident auch keine Probleme oder Irritationen in den Institutionen der NATO verursachen. Aufgrund seiner generell pro-amerikanischen Haltung wird Duda wohl positiv gegenüber dem transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP eingestellt sein, das auch von der Mehrheit der Polen befürwortet wird. Die Haltung des neuen Präsidenten gegenüber Russland ist noch schärfer als die des damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczyński (in dessen Kanzlei Duda gearbeitet hatte), und Lech Kaczyńskis Unterstützung für Georgien und die Ukraine wird in der Umgebung Dudas als vorbildlich gelobt und als Wegweisung verstanden.
Innenpolitisch verfügt Duda mit dem Vetorecht bei Gesetzesinitiativen der Regierung und der Möglichkeit, eigene Gesetzentwürfe einzubringen, über direkte politische Gestaltungsinstrumente. In den ersten Monaten nach Amtsantritt am 6. August wird er vermutlich dem Sejm eigene Gesetzesprojekte vorlegen, mit denen seine Wahlversprechen eingelöst werden sollen, d. h. die Senkung des Rentenalters, das die gegenwärtige Regierung auf 67 Jahre angehoben hat, die Erhöhung der Quote des steuerfreien Einkommens, die Erweiterung der steuerlichen Abschreibungen, die Erhöhung des Kindergelds usw. Die Gesamtkosten seiner leichtfertigen Versprechungen schätzten Ökonomen auf mehrere Milliarden Zloty. Die regierende Mehrheit wird sie ablehnen müssen, um das Staatsbudget nicht zu ruinieren, das sie auch in den kommenden Jahren, nach einem angestrebten Sieg bei den Parlamentswahlen im Herbst, zu gestalten gedenkt. Allerdings wird die ständige Zurückweisung der sozialen Gesetzesvorhaben von Duda diesen Wahlerfolg erschweren, denn PiS wird sich im Wahlkampf nicht entgehen lassen, den Regierungsparteien eine antisoziale Politik vorzuhalten. So wird sich Duda als derjenige präsentieren können, der bereit ist, seine Versprechen einzulösen, während die Regierungskoalition dies vereitelt, weshalb man sie abwählen müsse. Die Koalition kann sich also vor den Parlamentswahlen in einer Falle wiederfinden.
Neues Kräfteverhältnis für die Parlamentswahlen im Herbst?
Nach Einschätzung vieler Beobachter und Kommentatoren waren die Präsidentenwahlen ein Vorspiel für die Wahlen im Herbst, in denen über die Zusammensetzung des Sejm und der neuen Regierung entschieden wird. Der Sieg Dudas wird als Schubkraft für seine Mutterpartei, PiS, interpretiert und als ein Schritt in Richtung Regierungsübernahme durch einen Ministerpräsidenten aus den Reihen von PiS. Bisher wurde dieses Szenario als wenig wahrscheinlich erachtet, und zwar aufgrund der geringen Fähigkeit von PiS, eine parlamentarische Koalition zu bilden, und weil es keinen potentiellen Partner für eine solche Koalition gibt. Es herrschte die Meinung, dass auch eine kleine Niederlage der PO nicht zu ihrem Machtverlust führen müsse, da sie eine Koalition mit einer der kleineren Parteien eingehen könne. Das Aufkommen einer gesellschaftlichen Bewegung um Paweł Kukiz verändert diese Situation.
Die Entwicklung der spontanen und bisher nicht organisierten Protestbewegung, die als Unterstützung in Höhe von 20 Prozent für Kukiz deutlich in Erscheinung trat, kann neuralgische Bedeutung für den weiteren Verlauf des politischen Geschehens in Polen bekommen. Kukiz’ Erfolg reflektiert die gesamteuropäische Konjunktur der Protestbewegungen der Jugend, es ist die polnische Version der »Empörten«. Die Gründe für diese Empörung schienen objektiv geringfügig zu sein, denn Polen befindet sich seit Jahren auf dem Weg des Wirtschaftswachstums und der Verbesserung fast aller Entwicklungsindikatoren. Für die neue Mittelklasse, insbesondere für diejenigen, die sich noch an die Zeit vor der Transformation erinnern, sind die Fortschritte im Land offenkundig. Die Jugend zieht aber keinen Vergleich zur Situation vor 25 Jahren, an die sie sich nicht erinnern kann, sondern zum westeuropäischen Lebensniveau, das Polen immer noch nicht ganz erreicht hat. Wie in fast ganz Europa sind junge Menschen in Polen stärker von Arbeitslosigkeit betroffen (über 20 Prozent in dieser Altersgruppe bei 10 Prozent im Bevölkerungsdurchschnitt). Die lukrativsten Positionen und Funktionen sind von den 40- bis 50-Jährigen besetzt, die sie noch lange nicht freigeben werden. In der Politik dominiert die Generation des »Runden Tisches«, d. h. derjenigen, die vor 25 Jahren nach Einführung des demokratischen Systems in die öffentlichen Institutionen einzogen. Die politische Bühne wird von zwei Parteien dominiert, die hart miteinander rivalisieren. In den Augen vieler, insbesondere der jungen Menschen, sieht diese Situation nach einer Umklammerung aus, die jegliche Veränderung unmöglich macht. Die neue, aber bereits erstarrte polnische Mittelklasse ist zufrieden mit der Stabilisierung. Für viele junge Menschen bedeutet dies jedoch Stagnation und Verfall, wogegen sie ihre Stimme abgegeben haben. Hinzu kamen verschiedene Gruppen, die enttäuscht oder einfach gelangweilt von der langjährigen Regierung der PO sind, mit der Komorowski identifiziert wird. Mancher sah seine Stimme für Kukiz und gegen Komorowski als gelbe Karte für die Regierungsmannschaft vor den Parlamentswahlen im Herbst.
Kukiz kündigte an, der hinter ihm stehenden gesellschaftlichen Bewegung eine organisierte, eventuell politische, Form zu geben. Der Erfolg dieses Unterfangens ist eine große Unbekannte, denn konkrete und positive Ideen gibt es hier zurzeit nicht, und die lauthals verkündeten Parolen sind demagogische Phrasen und Allgemeinplätze, die kein kohärentes Ganzes ergeben. Versuche der programmatischen Konkretisierung können viele Sympathisanten mit anderen Erwartungen abschrecken. Die Teilnahme an den Parlamentswahlen im Herbst ist möglich, aber der Erfolg zweifelhaft. Allerdings könnten das Gleichgewicht zwischen den beiden größten politischen Kräften PO und PiS und eine Schwächung der beiden kleineren Parteien SLD und PSL dazu führen, dass eine eventuelle zukünftige politische Gruppierung von Kukiz zum Zünglein an der Waage und willkommenen Koalitionspartner wird – mit Hinblick auf seine Antisystem-Einstellung eher für PiS als für die PO. Paradoxerweise würde allerdings die Einführung des von Kukiz geforderten Mehrheitswahlrechts die Chancen auf Einzug der Vertreter seiner Bewegung ins Parlament deutlich verringern, dagegen aber die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine der beiden großen Parteien die absolute Mehrheit erhält. Der Senat hat dem von Komorowski nach dem ersten Wahlgang der Präsidentenwahlen vorgeschlagenen Referendum über die Einführung des Mehrheitswahlrechts zugestimmt (das Verhältniswahlrecht des Parlaments ist in der Verfassung festgelegt, dies macht komplizierte Prozeduren für seine Änderung erforderlich). Das Referendum soll am 6. September abgehalten werden. Allerdings hat die Austragung politischer Fragen mittels Referendum in Polen keine Tradition und die gewöhnlich niedrige Wahlbeteiligung macht solche Abstimmungen wirkungslos – für die Gültigkeit eines Referendums, das Fragen der Verfassung und des Systems betrifft, ist die Beteiligung von mindestens der Hälfte der Wahlberechtigten erforderlich. Das heißt, auch wenn das Referendum stattfinden wird, wird eine niedrige Wahlbeteiligung wahrscheinlich sein, was bedeuten würde, dass die Gesellschaft kein Interesse an Kukiz’ Hauptforderung hat, so dass dieser eine Niederlage verbuchen würde.
Die Präsidentschaftswahlen bestätigten die vor vielen Jahren entstandene Teilung der polnischen Gesellschaft in zwei gegensätzliche und stark miteinander antagonisierende Segmente. Diese Teilung hat kulturellen Charakter, äußert sich aber auch geographisch: Die Grenzlinie verläuft annähernd an der Weichsel und teilt das Land in den konservativen Osten und den liberalen Westen. Auch in der Aufteilung in liberale Städte, insbesondere Großstädte (Duda verlor gegen Komorowski sogar in seiner Heimatstadt Krakau), und konservative Provinz und Dörfer spiegelt sie sich wider. Durchschnittlich erhält die national-katholische Partei PiS mehr Unterstützung von der weniger gebildeten Bevölkerung, die liberal-konservative PO dagegen von den Wählern mit höherem Bildungsniveau. Die Rivalität auf fast gleicher Höhe zwischen PiS und PO liegt an den vorläufig geringen Schwankungen der Wählerschaft, was bereits die vergangenen Wahlen auf der Selbstverwaltungsebene sowie zum Europäischen Parlament gezeigt hatten und nun auch von den Präsidentschaftswahlen bestätigt wurde – der Unterschied zwischen den beiden Rivalen betrug 500.000 Stimmen. Die Dominanz der beiden Parteien wird vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Linken noch deutlicher. Die Teilnahme der sonderbaren Kandidatin der Linken an den Präsidentschaftswahlen endete mit dem katastrophalen Ergebnis von unter 2,5 Prozent. Viele Beobachter und Kommentatoren prophezeien, dass die SLD bei den Parlamentswahlen nicht die 5-Prozent-Hürde übersteigen wird. Sollte es dazu kommen, wäre Polen ein Staat ohne linke parlamentarische Vertretung. Die antiklerikale Bewegung von Janusz Palikot, die bei den Parlamentswahlen im Jahr 2011 eine Sensation war, da sie über 10 Prozent der Stimmen erhalten hatte und drittstärkste Kraft im Parlament wurde, befindet sich in Auflösung. Ihr Vorsitzender erhielt in den Präsidentenwahlen erbärmliche 1,5 Prozent, was praktisch das Aus seiner politischen Karriere bedeutet. Wenn Kukiz und seine Bewegung ein ähnliches Schicksal ereilen würde, was sich auf längere Sicht als wahrscheinlich abzeichnet, würde sich in Polen ein Zwei-Parteien-System verfestigen. Eine solche Entwicklung scheint auch Ministerpräsidentin Ewa Kopacz in Betracht zu ziehen, die erwägt, dass die PO den Rest der linken Wählerschaft an sich zieht, um auf diese Weise die PO vor dem schweren Gefecht mit PiS im Herbst zu stärken. Die Verschiebung der PO nach links würde den politischen Streit und den dahinter stehenden kulturellen Konflikt noch stärker polarisieren.
Seit einiger Zeit spricht man allerdings auch von der Entstehung einer neuen liberalen Gruppierung, der Leszek Balcerowicz vorstehen würde, der Kopf der Wirtschaftstransformation und in der letzten Zeit Kritiker der PO (wenngleich er auch öffentlich Komorowski unterstützte). Am 31. Mai fand die Gründungssitzung der Vereinigung ModernesPL (NowoczesnaPL) statt, die der Beginn einer neuen politischen Formation sein soll. Allerdings handelt es sich hier um einen Plan in der Anfangsphase und es ist noch nicht klar, ob er sich bis zu den Wahlen des Sejm im Herbst stärker profiliert und konkrete politische Gestalt angenommen haben wird.
Die kommenden Wochen und vielleicht auch Monate werden in der polnischen Politik stürmisch werden, denn das unerwartete Ende der Präsidentschaft von Bronisław Komorowski rief Erschütterungen hervor, die nicht so rasch abklingen werden. Erst im Herbst, nach den Parlamentswahlen, wird sich ein neues politisches Kräfteverhältnis ergeben, das die polnische Politik der nächsten Jahre gestalten wird.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2015-06-17T00:00:00 | 2015-06-09T00:00:00 | 2015-06-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/207954/analyse-polen-nach-den-praesidentenwahlen-2015/ | Im Vorfeld der Wahlen schien es nur unsicher zu sein, ob der bisherige Amtsinhaber Bronisław Komorowski im ersten Wahlgang oder erst in einer Stichwahl wiedergewählt wird. Doch in der zweiten Runde fiel die Entscheidung knapp zugunsten von Andrzej Du | [
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Die Evolution der gemeinsamen Energieaußenpolitik der EU | Energiepolitik | bpb.de | Im März 2007 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrem Frühjahrsgipfel eine gemeinsame "Energieaußenpolitik" (offiziell "Energieaußenbeziehungen“).
Während in den USA und Asien die nationale Energiepolitik stets mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik verbunden waren, war die Frage der Energieversorgungssicherheit in Europa seit der Ölkrise in den 1970er Jahren weitgehend in Vergessenheit geraten.
Wachsende Abhängigkeit von Energieimporten macht eine gemeinsamen EU-Energieaußenpolitik erforderlich
Prognose: EU-Importabhängigkeit 2005-2030 (© bpb)
Die Europäische Kommission hatte bereits in ihrem ersten Grünbuch vom November 2000 eine gemeinsame EU-Energiepolitik angemahnt. In den kommenden 20 bis 30 Jahren muss die EU bis zu 70 Prozent ihrer Energienachfrage durch höhere Importe aus zumeist politisch instabilen Produzentenstaaten decken – gegenwärtig sind es 54 Prozent. Diese Importe kosteten bereits im Sommer 2008 insgesamt rund 350 Mrd. Euro, was für jeden EU-Bürger etwa 700 Euro ausmachte. In 2011 summierten sich allein die Ölimportkosten der EU-27 bereits auf über 400 Mrd. Euro als Folge des global steigenden Ölpreises.
Die wachsende Abhängigkeit der EU von Energieimporten verstärkt zudem die Anfälligkeit der einzelnen Volkswirtschaften für unvorhersehbare Veränderungen auf dem Weltmarkt – und dies in einer Zeit, in der ihre relative Bedeutung als Energieverbraucher abnimmt und die EU global an Einfluss gegenüber neuen ökonomischen Großmächten wie China, Indien oder Brasilien verliert.
Themengrafik: Energieimporte der EU-27 (PDF) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Die Kommission trat bereits vor 2006 für eine gemeinschaftliche Energieaußenpolitik (offiziell "Auswärtige Energiebeziehungen") ein und initiierte eine Vielzahl von Energiedialogen als Teil ihrer "äußeren Energiebeziehungen" - sowohl mit Produzenten- und Transitstaaten an der Peripherie Europas als auch auf globaler Ebene.
Die Energiestrategie der EU dient der Gewährleistung einer stabilen Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen und einer nachhaltigen Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Interner Link: Darüber hinaus soll sie die Energiepolitik der Mitgliedsstaaten weiter liberalisieren, um so bis 2014 einen gemeinsamen Energiemarkt aller 27 EU-Staaten zu schaffen. Ziel ist, dass "kein EU-Staat nach 2015 von den europäischen Gas- und Elektrizitätsnetzen abgeschottet sein bzw. dessen Energiesicherheit nicht durch den Mangel entsprechender Verbindungen gefährdet werden darf.“
Die wichtigsten strategischen Dialogforen der EU mit Energiepartnern weltweit
EU-Norwegen-Energiedialog; EU-Russland-Energiedialog (im Oktober 2000 eröffnet); EU-OPEC-Energiedialog (erstes Treffen im Juni 2005); EU–USA: seit 2003 verstärkte Kooperation bei der Schaffung einer Wasserstoffwirtschaft; seit 2005 gemeinsames Arbeitsprogramm für "Energiesicherheit, -effizienz, Erneuerbare Energien und wirtschaftliche Entwicklung"; EU-Ukraine (im Rahmen des Nachbarschaftsaktionsplans); EU-Kaspische Region: im Mittelpunkt der Kooperation stehen Aserbaidschan und Kasachstan. Von besonderer Bedeutung sind hierbei auch die inzwischen im Betrieb befindliche Baku-Tiflis-Ceyhan-Ölleitung (BTC), die weitgehend parallel verlaufene Erdgaspipeline von Baku nach Ezrum und das geplante Nabucco-Projekt, einer unter Umgehung Russlands verlaufenden Erdgaspipeline von Zentralasien über die Türkei, Bulgarien, Rumänien, Ungarn nach Österreich; EU-Mittlerer Osten und Persischen Golf: Neben ihrem Dialog mit der OPEC hat die Kommission zweiseitige Abkommen mit den sechs Ländern unterzeichnet, die im Golf-Kooperationsrat (GCC) vertreten sind; ein hochrangiges Euro-Gulf Energy Summit fand 2005 statt und empfahl die Schaffung eines EU-GCC Energy Technology Centre für gemeinsame Forschung, Technologietransfers, Ausbildung und Training; EU-Südliches Mittelmeer (einschließlich der Türkei, des Mittleren Ostens und Afrikas), die 1995 im Rahmen des Barcelona-Prozesses eröffnet wurde, mit dem Ziel, bis 2010 eine Euro-Mediterrane Freihandelszone zu schaffen; vor allem mit Algerien als dem derzeit drittgrößten Gasexporteur in die EU wird die Energiedialogkooperation ausgebaut; seit 2. Dezember 2003 Kooperation im Rahmen des Euro-Maghreb Energy Community Treaty; Südosteuropäische Energiegemeinschaft (Vertrag vom 25.10.2005); Arktische Energieagenda, mit einer ersten Diskussion am Runden Tisch zwischen politischen wie auch wirtschaftlichen Entscheidern aus Norwegen, Russland und der EU am 7. Juli 2005; EU-Afrika/Golf von Guinea: allerdings haben sich die Beziehungen der EU zu dieser Region bisher auf die Entwicklungszusammenarbeit mit der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) konzentriert; EU-China-Energiedialog als Teil ihrer "Strategischen Partnerschaft" seit 1994; alle zwei Jahre finden bilaterale Arbeitstreffen im Rahmen der EU-China Energy Conferences statt; EU-India Energy Panel seit 2004 als bilaterales Dialogforum für energiepolitische Kooperation und Koordination; ab 29. Juni 2005 EU-Indien-Energiedialog; EU-Brasilien (Unterzeichnung eines neues Rahmenabkommens für einen regelmäßigen Energiedialog am 5. Juli 2007).
Dabei sind die Reformen des EU-Energiebinnenmarktes eng mit den Bemühungen um einen besseren Mix der Versorgungsquellen verbunden – vor allem bei den Gaseinfuhren. So werden auch die Reformbemühungen in den Nachbarländern wie jenen in Südosteuropa (als Mitglied der "European Energy Community“) aktiv unterstützt, um eine weitgehende Harmonisierung mit dem EU-Binnenmarkt zu fördern.
Künftig sollen grenzüberschreitende Investitionen in die Gas- und Stromnetze und die harmonisierten Versorgungsstandards überwacht und koordiniert werden durch die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER), dem Europäischen Verbund der Gasnetzbetreiber (ENTSOG) und der Gaskoordinierungsgruppe als beratendem Gremium der Europäischen Kommission. Die im Oktober 2010 verabschiedete Gasdirektive soll sicherstellen, dass bilaterale Abkommen zwischen Lieferanten und einzelnen EU-Mitgliedstaaten nicht zu Lasten von anderen EU-Staaten gehen und dass die Ziele einer gemeinsamen Energiepolitik durch derartige bilaterale Abkommen nicht gefährdet werden.
Energiesolidarität statt nationaler Lösungen
Trotz der Bemühungen um eine gemeinsame Energieaußenpolitik konzentrierte sich die gemeinsame Energiepolitik der EU seit 2007 vor allem auf die Schaffung des Binnenmarktes. Die Kommission hat jedoch die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit mit den Energiepartnern erkannt, sie ist Bestandteil einer proaktiven Energieaußenpolitik. Stärker berücksichtigt werden sollen dabei insbesondere die enge Verbindung zwischen geopolitischer Stabilität und Energieversorgungssicherheit, aber auch die steigende Abhängigkeit der EU von Energieimporten und die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit zwischen Produzenten, Transitstaaten und Verbraucherstaaten.
Obwohl die gemeinsame Energiepolitik der EU durchaus große Fortschritte gemacht hat, haben die Mitgliedsstaaten in den letzten Jahren häufig nationale Lösungen bevorzugt - zu Lasten ihrer Nachbarn und der gemeinsamen Energiepolitik. So hängt die gemeinsame Energieaußenpolitik wesentlich von der politischen Solidarität und den langfristigen strategischen Interessen der größeren EU-Staaten wie Deutschland ab.
Im November 2008 hat die EU eine "Solidaritätsklausel“ beschlossen und in den Lissabon-Vertrag aufgenommen. Doch ihre Umsetzung scheitert daran, dass die Mitgliedsstaaten den Begriff "Energiesolidarität“ nicht genau definiert haben. Einzelne EU-Staaten haben bisher die Risiken von Versorgungsunterbrechungen unterschiedlich bewertet, gleiches gilt für die Notwendigkeit wirkungsvoller Reaktionen und eine gemeinsame Energieaußenpolitik gegenüber Russland, der Ukraine, den Staaten am Kaspischen Meer sowie der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika). Gründe dafür sind der Interner Link: unterschiedliche Energiemix der EU-Mitgliedsstaaten, die Abhängigkeit von Importen, die traditionelle Außenpolitik und bilaterale wirtschaftliche Vereinbarungen mit einzelnen Ländern und Regionen.
Vor diesem Hintergrund wurde die Kommission gebeten, als Koordinator bei Notmaßnahmen zwischen Mitgliedsstaaten und Drittländern außerhalb der EU zu fungieren. Zudem enthält der Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, ein neues Kapitel zur europäischen Außen- und gemeinsamen Energiepolitik. Brüssel hat umfassende Befugnisse erhalten und die Rolle des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wurde aufgewertet. Daraus ergibt sich für die Energieaußenpolitik, dass auch diese koordinierter ablaufen und von Brüssel stärker kontrolliert werden sollte.
Auch die Vielzahl neuer transnationaler Energieinfrastrukturen verlangt eine gemeinsame Energieaußenpolitik gegenüber den Energiepartnern außerhalb der EU. So wird die interne Infrastruktur aus Gas- und Öl-Pipelines sowie Stromnetzen künftig noch stärker mit externen Netzwerken verbunden und von diesen abhängig sein (z. B. russische Gas- und Ölpipelines oder durch nordafrikanische Solarkraftwerke). Die neue interne Infrastruktur wird jedoch nur so sicher sein, wie das schwächste Glied ihrer externen Infrastruktur-Verbindungen.
Seit der Erdgaskrise im Januar 2006 begreift die Europäische Union zunehmend, dass sie in Energiefragen mit einer Stimme sprechen muss. Künftig soll die Europäische Kommission über alle neuen und bestehenden bilateralen Energieabkommen unterrichtet werden, die die Mitgliedsstaaten mit Ländern außerhalb der EU unterhalten. Die Kommission schätzt, dass etwa 30 zwischenstaatliche Erdölabkommen und doppelt so viele Vereinbarungen über Erdgas existieren.
Die neue Strategie in der EU-Energieaußenpolitik
Mit der neuen Strategie für die externe Energiepolitik hat die Europäische Kommission im September 2011 einen wichtigen Schritt unternommen, um die Berichtspflicht und das Transparenzgebot zu stärken und diese auf alle zwischenstaatlichen Vereinbarungen auszudehnen. Dies gilt sowohl für Erdgas, Erdöl, Strom und erneuerbare Energien. Diese neuen Regeln sollen auch für alle Verträge zwischen Unternehmen gelten, wo diese in zwischenstaatlichen Abkommen ausdrücklich erwähnt werden. Bisher wurde die Kommission bei bilateralen Energieabkommen der EU-Staaten nicht konsultiert. Dadurch kam es eher zu einer Fragmentierung des Binnenmarkts als zu einer Verbesserung der Energieversorgungssicherheit und der Wettbewerbsfähigkeit der EU.
QuellentextGünther Oettinger
In der EU-Energiepolitik wurden in den vergangenen Jahren echte Fortschritte erzielt. Nun muss die EU die Errungenschaften ihres großen Energiebinnenmarktes über ihre Grenzen hinaus ausweiten, um die Sicherheit der Energieversorgung Europas zu gewährleisten und internationale Partnerschaften im Energiebereich zu fördern. Daher schlägt die Kommission heute ein kohärentes Konzept für die Energiebeziehungen zu Drittländern vor. Diese verbesserte interne Koordinierung ist notwendig, damit die EU und ihre Mitgliedstaaten gemeinsam handeln und mit einer Stimme sprechen.
EU-Energiekommissar Günther Oettinger bei der Vorstellung der neuen EU-Energieaußenpolitikstrategie am 7. September 2011
Sollen die Berichtspflicht und das Transparenzgebot Erfolg haben, muss ein Mechanismus geschaffen werden, der den Informationsaustausch über Abkommen zwischen EU-Staaten und Drittländern ermöglicht. Solch ein Mechanismus würde auch das Notifizierungsverfahren für Gasabkommen ergänzen, das mit der Richtlinie über die Gewährleistung der Erdgasversorgung eingeführt wurde. Wenn die Kommission jedoch nicht von Anfang an über bilaterale Verhandlungen informiert wird, kann es zu Zugeständnissen kommen, die nicht vereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht der EU sind oder der "Drittstaatenklausel“ widersprechen, die die Beteiligung ausländischer Unternehmen am europäischen Energiesektor regelt. Dagegen würde eine frühe Beteiligung der Kommission nicht nur die Transparenz erhöhen, sondern könnte außerdem größere Rechtssicherheit für Investoren und Drittstaaten schaffen und damit zugleich den bilateralen Verhandlungsprozess verkürzen.
Insgesamt listet die neue Strategie in der Energieaußenpolitik 43 Maßnahmen und Empfehlungen zur Umsetzung auf.
Ausgewählte Empfehlungen und Leitvorstellungen der neuen EU-Energieaußenpolitikstrategie
Einsetzung einer strategischen Gruppe für die internationale Zusammenarbeit im Energiebereich, die die externe energiepolitische Position der EU koordiniert und auf internationalen Foren wie den G8 und G20 in ihrem Namen spricht; Diversifizierung der Versorgungsquellen und -wege (z.B. Ausbau der erneuerbaren Energien, transkaspische Pipeline); Unterstützung für eine trilaterale Vereinbarung zwischen der Ukraine, Russland und der EU zur Sicherstellung unterbrechungsfreier Gaslieferungen; Marktintegration von Nachbarstaaten wie Norwegen und der Schweiz; Energiepolitische Integration Russlands; Stärkung von Energiepartnerschaften mit anderen Energieversorgerländern wie Norwegen, Algerien, Saudi-Arabien und Australien; Partnerschaften mit Industrie- und Wachstumsländern wie den USA, Japan, China, Indien und Brasilien; Abstimmung der internen und externen Entwicklungspolitik der EU mit ihrer Energiepolitik; Einrichtung einer Datenbank für Energieprojekte in Partnerländern, die von den EU-Mitgliedsstaaten oder multilateralen EU-Institutionen wie der Europäischen Investitionsbank finanziert werden.
Quelle: Interner Link: EU-Energiepolitik: Entwicklung der Beziehungen zu Partnern außerhalb der EU (PDF)
Der wichtigste Teil der Strategie ist jedoch das Recht der Kommission zur Überwachung aller zwischenstaatlichen Energieabkommen. Denn es hinterfragt das herkömmliche Verständnis von Vertraulichkeit und Empfindlichkeit von Geschäftsprozessen und der Fairness von Ausschreibungsverfahren. Die Kommission hätte das Recht, sämtliche Vereinbarungen zu prüfen, um so sicherzustellen, dass diese mit den politischen und regulativen Anforderungen des gemeinsamen EU-Rechts übereinstimmen. In einigen Fällen hat die EU-Kommission sogar das Recht beansprucht, anstelle von Mitgliedsstaaten und nicht nur an ihrer Seite zu verhandeln, um Kapazitäten zu bündeln und einen "koordinierten Energieeinkauf“ zu betreiben. Allerdings hat der Europäische Rat gegenüber der Kommission und dem Europäischen Parlament im Zuge einer Kompromissfindung im Juni 2012 durchgesetzt, dass die Kommission nur vorab zwischenstaatliche Energieabkommen mit Drittländern überprüfen darf und nur als Beobachter bei Verhandlungen hinzugezogen werde kann, wenn die EU-Staaten zustimmen.
Die größeren Mitgliedsstaaten sind zudem bisher nicht bereit, generell ein Mandat für einen "koordinierten Energieeinkauf“ zu erteilen, sondern lediglich in Einzelfällen, wie z.B. seit September 2011 in den direkten Verhandlungen der Europäischen Kommission mit Turkmenistan über den geplanten Bau einer transkaspischen Gaspipeline. Die Unterstützung der EU für das transkaspische Pipelineprojekt und die Notwendigkeit ihrer direkten Teilnahme an den Verhandlungen sind von großer Bedeutung, da sie hier sichtbar mit einer Stimme spricht, was direkte Auswirkungen auf die EU-Energiebeziehungen mit Russland hat.
EU muss mit einer Stimme sprechen
Die globalen Energiemärkte verändern sich ständig. Die EU muss deshalb neue Strategien für den Import und den Mix von Energie entwickeln, um auch künftig Versorgungssicherheit garantieren zu können. Dafür müssen sich die 27 Staaten der EU koordiniert vorgehen.
Am Ende gilt auch weiterhin: Die EU ist nur so stark, wie die Mitgliedsstaaten es zulassen. Kritik an Brüssel wegen der uneinheitlichen Energieaußenpolitik und dem Unvermögen, mit einer Stimme zu sprechen, sollte sich deshalb eher an die großen Mitgliedsstaaten richten.
Wenn die Vorschläge der Kommission bei den Mitgliedsstaaten künftig auch vollständig und effektiv umgesetzt werden, könnte dies zu einem Wandel in der Energieaußenpolitik der EU führen, mit großen positiven Auswirkungen auch auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) insgesamt. Die EU würde mit einer Stimme sprechen und könnte ihre wirtschaftlichen Ressourcen und ihre gestärkte Verhandlungsmacht bündeln, um ihre langfristigen strategischen Interessen auf der internationalen Bühne besser zu wahren.
Prognose: EU-Importabhängigkeit 2005-2030 (© bpb)
Themengrafik: Energieimporte der EU-27 (PDF) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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EU-Norwegen-Energiedialog; EU-Russland-Energiedialog (im Oktober 2000 eröffnet); EU-OPEC-Energiedialog (erstes Treffen im Juni 2005); EU–USA: seit 2003 verstärkte Kooperation bei der Schaffung einer Wasserstoffwirtschaft; seit 2005 gemeinsames Arbeitsprogramm für "Energiesicherheit, -effizienz, Erneuerbare Energien und wirtschaftliche Entwicklung"; EU-Ukraine (im Rahmen des Nachbarschaftsaktionsplans); EU-Kaspische Region: im Mittelpunkt der Kooperation stehen Aserbaidschan und Kasachstan. Von besonderer Bedeutung sind hierbei auch die inzwischen im Betrieb befindliche Baku-Tiflis-Ceyhan-Ölleitung (BTC), die weitgehend parallel verlaufene Erdgaspipeline von Baku nach Ezrum und das geplante Nabucco-Projekt, einer unter Umgehung Russlands verlaufenden Erdgaspipeline von Zentralasien über die Türkei, Bulgarien, Rumänien, Ungarn nach Österreich; EU-Mittlerer Osten und Persischen Golf: Neben ihrem Dialog mit der OPEC hat die Kommission zweiseitige Abkommen mit den sechs Ländern unterzeichnet, die im Golf-Kooperationsrat (GCC) vertreten sind; ein hochrangiges Euro-Gulf Energy Summit fand 2005 statt und empfahl die Schaffung eines EU-GCC Energy Technology Centre für gemeinsame Forschung, Technologietransfers, Ausbildung und Training; EU-Südliches Mittelmeer (einschließlich der Türkei, des Mittleren Ostens und Afrikas), die 1995 im Rahmen des Barcelona-Prozesses eröffnet wurde, mit dem Ziel, bis 2010 eine Euro-Mediterrane Freihandelszone zu schaffen; vor allem mit Algerien als dem derzeit drittgrößten Gasexporteur in die EU wird die Energiedialogkooperation ausgebaut; seit 2. Dezember 2003 Kooperation im Rahmen des Euro-Maghreb Energy Community Treaty; Südosteuropäische Energiegemeinschaft (Vertrag vom 25.10.2005); Arktische Energieagenda, mit einer ersten Diskussion am Runden Tisch zwischen politischen wie auch wirtschaftlichen Entscheidern aus Norwegen, Russland und der EU am 7. Juli 2005; EU-Afrika/Golf von Guinea: allerdings haben sich die Beziehungen der EU zu dieser Region bisher auf die Entwicklungszusammenarbeit mit der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) konzentriert; EU-China-Energiedialog als Teil ihrer "Strategischen Partnerschaft" seit 1994; alle zwei Jahre finden bilaterale Arbeitstreffen im Rahmen der EU-China Energy Conferences statt; EU-India Energy Panel seit 2004 als bilaterales Dialogforum für energiepolitische Kooperation und Koordination; ab 29. Juni 2005 EU-Indien-Energiedialog; EU-Brasilien (Unterzeichnung eines neues Rahmenabkommens für einen regelmäßigen Energiedialog am 5. Juli 2007).
In der EU-Energiepolitik wurden in den vergangenen Jahren echte Fortschritte erzielt. Nun muss die EU die Errungenschaften ihres großen Energiebinnenmarktes über ihre Grenzen hinaus ausweiten, um die Sicherheit der Energieversorgung Europas zu gewährleisten und internationale Partnerschaften im Energiebereich zu fördern. Daher schlägt die Kommission heute ein kohärentes Konzept für die Energiebeziehungen zu Drittländern vor. Diese verbesserte interne Koordinierung ist notwendig, damit die EU und ihre Mitgliedstaaten gemeinsam handeln und mit einer Stimme sprechen.
EU-Energiekommissar Günther Oettinger bei der Vorstellung der neuen EU-Energieaußenpolitikstrategie am 7. September 2011
Einsetzung einer strategischen Gruppe für die internationale Zusammenarbeit im Energiebereich, die die externe energiepolitische Position der EU koordiniert und auf internationalen Foren wie den G8 und G20 in ihrem Namen spricht; Diversifizierung der Versorgungsquellen und -wege (z.B. Ausbau der erneuerbaren Energien, transkaspische Pipeline); Unterstützung für eine trilaterale Vereinbarung zwischen der Ukraine, Russland und der EU zur Sicherstellung unterbrechungsfreier Gaslieferungen; Marktintegration von Nachbarstaaten wie Norwegen und der Schweiz; Energiepolitische Integration Russlands; Stärkung von Energiepartnerschaften mit anderen Energieversorgerländern wie Norwegen, Algerien, Saudi-Arabien und Australien; Partnerschaften mit Industrie- und Wachstumsländern wie den USA, Japan, China, Indien und Brasilien; Abstimmung der internen und externen Entwicklungspolitik der EU mit ihrer Energiepolitik; Einrichtung einer Datenbank für Energieprojekte in Partnerländern, die von den EU-Mitgliedsstaaten oder multilateralen EU-Institutionen wie der Europäischen Investitionsbank finanziert werden.
Quelle: Interner Link: EU-Energiepolitik: Entwicklung der Beziehungen zu Partnern außerhalb der EU (PDF)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-19T00:00:00 | 2013-01-07T00:00:00 | 2021-11-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/energiepolitik/152502/die-evolution-der-gemeinsamen-energieaussenpolitik-der-eu/ | Die wachsende Abhängigkeit von Energieimporten macht eine gemeinsame Energieaußenpolitik der EU erforderlich. Ende 2011 hat die EU-Kommission eine Strategie vorgelegt, wie die Energiepolitik gegenüber Drittstaaten transparenter gestaltet und besser k | [
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Glossar | Der Mauerfall und ich | bpb.de | Von ADN über SED bis Westfernsehen – kurze Erklärungen zu wichtigen Begriffen, Institutionen und Personen in der Geschichte "Der Mauerfall und ich". Das Glossar wird fortlaufend aktualisiert.
Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN)
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die einzige zentrale Nachrichten- und Fotoagentur der Interner Link: DDR und war für die Bereitstellung der Nachrichten für Presse, Rundfunk und Fernsehen im Inland und für das Ausland zuständig. Gegründet wurde der ADN 1946.
Mehr dazu: Interner Link: Zeitungen in der DDR (bpb.de)
Ausreiseantrag
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Wer nicht mehr in der Interner Link: DDR leben wollte, stellte einen "Antrag auf Ausreise aus der DDR" in die Bundesrepublik. Von Mitte der 1970er Jahre bis Oktober 1989 stellten mehrere hunderttausend Menschen einen solchen Ausreiseantrag. Ausreiseanträge wurden als rechtswidrig angesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Ausreiseantrag (jugendopposition.de)
Bornholmer Brücke
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Der Grenzübergang Bornholmer Straße, auch "Bornholmer Brücke" genannt, verband während der Teilung Berlins die Stadtteile Interner Link: Prenzlauer Berg und Wedding. Am 9. November 1989 war die Bornholmer Brücke der erste Grenzübergang an der Interner Link: Berliner Mauer, an dem gegen 23.30 Uhr die Grenze halbständig geöffnet wurde. Die DDR-Grenzpolizisten gaben dem Druck der Menschenmassen nach.
Interner Link: 9. November, 23 Uhr – Filmaufnahmen von der Bornholmer Straße und dem Brandenburger Tor
Mehr dazu: Externer Link: Bornholmer Brücke (jugendopposition.de)
Bundesrepublik Deutschland (BRD)
Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ging 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg aus den drei westlichen Besatzungszonen hervor.
Mehr dazu: Teilung Deutschlands (bpb.de)
CSSR / Tschechoslowakei
Die Tschechoslowakei (Abkürzung CSSR) gehörte zu den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Seit dem 1.1.1993 ist sie in die eigenständigen Staaten Tschechien und Slowakei geteilt.
Mehr dazu: Externer Link: CSSR / Tschechoslowakei (jugendopposition.de)
Demokratischer Aufbruch (DA)
Der Demokratische Aufbruch (DA) entstand im Herbst 1989 als Bürgerbewegung der Interner Link: DDR. Hauptziele der Vereinigung waren zunächst die Reformierung und Demokratisierung des Landes. Im Dezember 1989 formierte sich der DA als Partei und gliederte sich im August 1990 der CDU an.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratischer Aufbruch (jugendopposition.de)
Deutsche Demokratische Republik (DDR)
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstand 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone und entwickelte sich zu einer von der Interner Link: Sowjetunion abhängigen Diktatur. Sie umfasste das Gebiet der heutigen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und Ost-Berlin. Am 3. Oktober 1990 treten die neuen Länder der BRD bei (Wiedervereinigung).
Mehr dazu: DDR (bpb.de)
Demokratie Jetzt (DJ)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Demokratie Jetzt (DJ) war eine im Herbst 1989 entstehende Bürgerbewegung, deren erklärtes Ziel die Demokratisierung der DDR war. 1991 löste sich DJ auf, um im September mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und Teilen des Interner Link: Neuen Forums die Partei Bündnis 90 zu gründen.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratie Jetzt (jugendopposition.de)
Demonstrieren in der DDR
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
In der Interner Link: DDR waren Demonstrationen fast immer verboten. 1989 versammelten sich trotzdem immer mehr Unzufriedene und Oppositionelle zu friedlichen Demonstrationen und erhöhten so den Druck auf die DDR-Regierung.
Mehr dazu: Externer Link: Demonstrationen in der ganzen DDR (jugendopposition.de)
Ebert, Frank
Frank Ebert gehörte zur letzten Generation der Jugendopposition in der Interner Link: DDR, bevor der Staat aufhörte zu existieren. Er war unter anderem an den Protesten gegen den Wahlbetrug beteiligt und bei den Interner Link: Demonstrationen in Ost-Berlin im Oktober 1989 dabei.
Mehr dazu: Externer Link: Frank Ebert (jugendopposition.de)
Friedensgebet in der Nikolaikirche
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Mitglieder der Arbeitsgruppe Friedensdienste und kirchliche Mitarbeiter/-innen luden ab 1982 wöchentlich in die Leipziger Nikolaikirche zu Friedensgebeten ein. Im November 1983 wurde zum ersten Mal nach dem Friedensgebet vor der Interner Link: Kirche gegen die Militarisierung der Gesellschaft demonstriert. Mit der Interner Link: Demonstration im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 begannen die Interner Link: Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten.
Mehr dazu: Externer Link: Friedensgebet in der Nikolaikirche (jugendopposition.de)
Kampfgruppen
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die Kampfgruppen waren paramilitärische Formationen in der Interner Link: DDR, die vor allem zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen vorgesehen waren. Bei einer Großübung der Kampfgruppen in Sachsen Anfang April 1989 wurde der Interner Link: SED-Führung deutlich, dass ihr diese im Ernstfall den Gehorsam verweigern könnten. Dennoch hat die SED ihren Einsatz gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten im Herbst 1989 vorgesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Kampfgruppen (jugendopposition.de)
Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU)
Die KPdSU war die Kommunistische Partei der Interner Link: Sowjetunion. Die Partei trug diesen Namen zwischen 1952 und 1991, existierte aber bereits seit 1918. Zwischen 1918 und 1991 beherrschte die KPdSU das gesamte gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion.
Mehr dazu: Externer Link: Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) (jugendopposition.de)
Kirche in der DDR
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Die Evangelische Kirche bildete in vielerlei Hinsicht die Basis der Oppositionsarbeit in der Interner Link: DDR, da sie die einzige vom Staat unabhängige Organisationsstruktur bot, die landesweit präsent war. In der Revolutionszeit 1989 fungierten Kirchen im ganzen Land als Basislager vieler Interner Link: Demonstrationen.
Mehr dazu: Externer Link: Kirche in der DDR (jugendopposition.de)
Kulturopposition in Ost-Berlin
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Der Kulturopposition in Ost-Berlin werden jene Künstler/-innen zugerechnet, die jenseits der offiziellen Kulturpolitik der Interner Link: SED versuchten, eine eigene Kulturszene zu etablieren. Sie gerieten damit fast automatisch in Konflikt mit dem politischen System der DDR. Dies förderte ihre Bereitschaft, Kontakt mit der politischen Opposition aufzunehmen.
Mehr dazu: Externer Link: Kulturopposition in Ost-Berlin (jugendopposition.de)
Ministerium für Staatssicherheit (MfS)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich Stasi) wurde per Gesetz am 8. Februar 1950 gegründet und war der Geheimdienst der Interner Link: DDR. Die Stasi war zugleich politische Geheimpolizei und für strafrechtliche Untersuchungen gegen von ihr ausgemachte politische Gegnerinnen und Gegner zuständig.
Mehr dazu: Externer Link: Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (jugendopposition.de)
Montagsdemonstration
In Leipzig fanden ab Anfang der 1980er Jahre jeweils montags Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche statt. Am 4. September 1989 gingen anschließend Bürgerrechtler/-innen mit Plakaten vor die Interner Link: Kirche und forderten Interner Link: Reisefreiheit. In den folgenden Wochen vergrößerte sich der Kreis der Teilnehmenden sehr schnell. Am 9. Oktober 1989 Interner Link: demonstrierten ungefähr 70.000 Personen.
Mehr dazu: Externer Link: Montagsdemonstration (jugendopposition.de)
Nationale Front
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der Interner Link: DDR. Sie war eine scheindemokratische Einrichtung, mit der die Interner Link: SED versuchte, ihre Vormachtstellung unter dem Deckmantel der demokratischen Struktur zu festigen.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Front (jugendopposition.de)
Nationale Volksarmee (NVA)
Die offizielle Armee der Interner Link: DDR wurde am 1. März 1956 gegründet. Durch die "Politische Hauptverwaltung" sicherte sich die Interner Link: SED innerhalb der NVA einen bestimmenden Einfluss auf die Armee. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate, auf Druck der Interner Link: Kirchen gab es ab 1964 die Bausoldaten, die ihren Wehrdienst ohne Waffe in Baueinheiten ableisten konnten.
1990 wurde die NVA aufgelöst, ihre Bestände und Standorte wurden der Bundeswehr übergeben.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Volksarmee (jugendopposition.de)
Neues Forum
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Das Neue Forum war die mit Abstand zulaufstärkste Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Sie forderten Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Die Interner Link: DDR-Behörden stuften das Neue Forum als "verfassungsfeindlich" ein.
Mehr dazu: Externer Link: Neues Forum (jugendopposition.de)
Notaufnahmeverfahren
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
Die große Zahl an Flüchtlingen aus der Interner Link: DDR machte es für die Interner Link: BRD erforderlich, ein geregeltes Aufnahmeverfahren zu entwickeln. Jeder Flüchtling, sofern er auf staatliche Hilfen angewiesen war und nicht von Freunden oder Familie unterstützt wurde, musste ein im Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 geregeltes Verfahren zur rechtlichen und sozialen Eingliederung durchlaufen.
Mehr dazu: Externer Link: Notaufnahmeverfahren (jugendopposition.de)
Paneuropäisches Picknick
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Am 19. August 1989 luden ungarische oppositionelle Gruppen um das Ungarische Demokratische Forum und die Interner Link: Paneuropa-Union zum "Paneuropäischen Picknick" ein – bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dabei sollte ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor symbolisch für einige Stunden geöffnet werden. Dabei gelang etwa 700 Interner Link: DDR-Bürger/-innen die Flucht nach Österreich. Das "Paneuropäische Picknick" steht symbolisch für den Riss im Eisernen Vorhang.
Mehr dazu: Externer Link: Paneuropäisches Picknick (jugendopposition.de)
Paneuropa-Union
Die Paneuropa-Union wurde 1925 durch den Österreicher Richard N. Coudenhove-Kalergi gegründet. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Rolle in der Welt zu stärken. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen.
Mehr dazu: Interner Link: Paneuropa-Union (bpb.de)
Politbüro
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Das Politbüro bezeichnete das Führungsgremium und Herrschaftszentrum der Interner Link: SED und der Interner Link: DDR. An der Spitze stand der Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der SED. Die Aufgabe des Politbüros bestand laut Parteistatut darin, die Arbeit der Partei zwischen den Plenartagungen des ZK zu leiten.
Mehr dazu: Externer Link: Politbüro (jugendopposition.de)
Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
Viele Interner Link: DDR-Bürger/-innen suchten im Sommer 1989 Zuflucht in der Botschaft der Interner Link: BRD in Prag und hofften, auf diesem Weg in den Westen ausreisen zu können. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 die Zustimmung zur Ausreise von Tausenden Flüchtlingen, die in Sonderzügen durch die DDR in die BRD gebracht wurden.
Mehr dazu: Externer Link: Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag (hdg.de)
Reisefreiheit
In der Interner Link: DDR gab es keine Reisefreiheit. Die Reise in Länder außerhalb des sogenannten Ostblocks gestatteten die Behörden im Regelfall nicht. Das Recht auf Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989.
Mehr dazu: Externer Link: Reisefreiheit (jugendopposition.de)
RIAS
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Der in West-Berlin beheimatete Sender RIAS unterstand der United States Information Agency und strahlte ab 1946 sein Programm aus. Die Mischung aus Unterhaltung, Musik und Information richtete sich vornehmlich an Interner Link: DDR-Bürger/-innen, die das Programm in der gesamten DDR verfolgen konnten – trotz vielfacher Störaktionen gegen den "Feindsender" (wie die Parteiführung ihn nannte).
Mehr dazu: Externer Link: RIAS (jugendopposition.de)
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sozialistische Einheitspartei (SED) entstand 1946 unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht durch die Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone. Sie war seit der Gründung der Interner Link: DDR am 7. Oktober 1949 bis zur Revolution von 1989 die herrschende Partei.
Mehr dazu: Externer Link: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (jugendopposition.de)
Sowjetunion
Die Sowjetunion wurde nach dem Ende des russischen Reichs (1917) im Dezember 1922 (Unionsvertrag, erste Verfassung 1924) gegründet und war bis zu ihrem endgültigen Zerfall 1991 das politische Zentrum des sogenannten Ostblocks.
Mehr dazu: Externer Link: Sowjetunion (jugendopposition.de)
Staatsrat
In der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatte der Staatsrat die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Er wurde im September 1960 nach dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der Interner Link: DDR, Wilhelm Pieck, gebildet. Erster Staatsratsvorsitzende wurde Walter Ulbricht; 1976 übernahm Erich Honecker dieses höchste staatliche Amt.
Mehr dazu: Externer Link: Staatsrat (jugendopposition.de)
Ständige Vertretungen der BRD und der DDR
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 vereinbarten die Interner Link: BRD und die Interner Link: DDR, "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander" zu entwickeln. In diesem Vertrag wurde auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in der DDR und der BRD beschlossen. Sie befanden sich in Ost-Berlin und in Bonn.
Mehr dazu: Externer Link: Ständige Vertretungen der BRD und der DDR (hdg.de)
Studieren in der DDR
In der Interner Link: DDR durfte nicht jede/-r studieren. Bei der Auswahl spielte die soziale Herkunft und die politische Einstellung eine große Rolle. Die Hochschulpolitik des SED-Regimes verfolgte das Ziel, parteiloyale Bürger/-innen auszubilden und die junge Generation zu disziplinieren.
Mehr dazu: Interner Link: Studieren in der DDR (bpb.de)
Ungarn
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Viele Ostdeutsche sind von der Interner Link: DDR nach Ungarn gereist, um von dort aus in den Westen zu fliehen. Im Mai 1989 begann Ungarn, die Grenzanlage zu Österreich abzubauen. Am 10. September 1989 wurde die Grenze zum Westen für die DDR-Flüchtlinge halbständig geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: Ungarn (jugendopposition.de)
Vogel, Wolfgang
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Wolfgang Vogel war ein Rechtsanwalt in der Interner Link: DDR, der auf das Freikaufen von Häftlingen und den Austausch von Agenten spezialisiert war. Er soll an der Freilassung von 150 Agenten aus dem DDR-Gewahrsam, der Ausreise von ca. 250.000 DDR-Bürger/-innen und dem Freikaufen von mehr als 30.000 Häftlingen beteiligt gewesen sein.
Mehr dazu: Externer Link: Wolfgang Vogel (jugendopposition.de)
Volkskammer
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer war das Parlament der Interner Link: DDR. Faktisch hatte die Volkskammer bis zur Friedlichen Revolution kein politisches Gewicht. Auf administrativer Ebene standen ihr die politisch wichtigeren Gremien (Ministerrat, Interner Link: Staatsrat und Nationaler Verteidigungsrat) gegenüber.
Mehr dazu: Externer Link: Volkskammer (jugendopposition.de)
Volkspolizei (VP)
Die Volkspolizei (Vopo) wurde im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Sie bestand bis zum Ende der Interner Link: DDR.
Mehr dazu: Externer Link: Volkspolizei (jugendopposition.de)
Wahlbetrug
Am 7. Mai 1989 fanden in der Interner Link: DDR die Kommunalwahlen statt. Bei dieser Wahl stand nur die Interner Link: Nationale Front zur Auswahl – also der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen. Unabhängige Wahlbeobachter/-innen aus der Bevölkerung konnten bei der Stimmenauswertung deutlich mehr Nein-Stimmen zählen, als am späten Abend des 7. Mai 1989 öffentlich bekannt gegeben wurden.
Mehr dazu: Interner Link: Wahlbetrug (bpb.de)
Westfernsehen
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Das Schauen von Sendungen des Westfernsehens war in der Interner Link: DDR nicht gesetzlich verboten und wurde geduldet. Durch das Errichten von Antennen- und Kabelgemeinschaften wurde der Empfang von Westprogrammen in den 1980er Jahren verbessert.
Mehr dazu: Interner Link: Westfernsehen (bpb.de)
Einkaufen in der DDR
Einkaufen ging man in der Interner Link: DDR z.B. in der "HO" (Handelsorganisation) oder im "Konsum". Waren des täglichen Grundbedarfs gab es dort besonders günstig zu kaufen, weil sie staatlich subventioniert wurden. Allerdings kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, vor allem bei technischen Geräten oder Importwaren wie Orangen oder Kaffee. Die Versorgungslage war regional stark unterschiedlich. Wer über D-Mark verfügte, konnte in sogenannten Intershops einkaufen, die ein breites Angebot an westlichen Waren anboten.
Mehr Informationen dazu: Konsum (Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit) (bpb.de)
Datsche
Als Datsche bezeichnet man kleine Gartenhäuser, die oft in Kleingartenanlagen zu finden sind. In der Interner Link: DDR dienten sie vielen als Rückzugsort vom Leben im Wohnblock. Viele bauten in den Gärten ihrer Datschen Obst und Gemüse an, das zum Eigenbedarf verbraucht oder an staatliche Annahmestellen verkauft wurde.
Biermann, Wolf
Wolf Biermann (*1936 in Hamburg) ist ein Liedermacher und Schriftsteller. 1953 siedelte er in die Interner Link: DDR über. Er geriet wegen seiner Werke immer mehr mit der DDR-Führung in Konflikt, die ihm ab 1965 ein Auftrittsverbot und Berufsverbot erteilte. Während einer Konzertreise 1976 in der Bundesrepublik Deutschland entzog die DDR-Führung Biermann die Staatsbürgerschaft. Biermann musste daraufhin in Westdeutschland bleiben.
Mehr dazu: Externer Link: Wolf Biermann (jugendopposition.de)
Subbotnik
Vom russischen Wort "Subbota" (Samstag) abgeleitetes Wort für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Die Nichtteilnahme galt als unkollegiale und negative Einstellung zum sozialistischen Staat.
Wohnungspolitik
Die Wohnungsvergabe wurde in der Interner Link: DDR vom Staat geregelt. Um den Wohnraummangel zu bekämpfen, wurde 1973 ein Wohnungsbauprogramm beschlossen. Es wurden große Plattenbausiedlungen errichtet, die für viele Menschen Platz boten. Wollte man in eine der begehrten Neubauwohnungen umziehen, musste man einen Antrag stellen und oft mehrere Jahre warten.
Pankow (Rockband)
Die Rockband Pankow wurde 1981 gegründet. Aufgrund ihrer provokanten Texte und Auftritte geriet sie immer wieder mit der Interner Link: DDR-Führung in Konflikt. Die Musiker von Pankow gehörten im September 1989 zu den Unterzeichnern der "Resolution von Rockmusikern und Liedermachern", die Reformen in der DDR forderten.
Wahlen
Am 15. Oktober 1950 fanden in der DDR erstmals Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen statt. Zur Abstimmung stand eine Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front. Entweder stimmte der Wähler / die Wählerin der gesamten Liste zu, oder er/sie lehnte sie ab. Es war nicht möglich, einzelne Abgeordnete zu wählen. Mehr dazu: Externer Link: Keine Wahl (jugendopposition.de)
Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Demnach hat jeder Mensch das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild öffentlich zu äußern. Niemand darf – sofern er nicht gegen geltendes Recht verstößt – aufgrund seiner Meinung verfolgt werden. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 garantierten dieses Grundrecht formal ebenfalls. In der Praxis wurden aber nicht nur kritische öffentliche Äußerungen, sondern auch private strafrechtlich verfolgt. Mehr dazu: Externer Link: Recht auf freie Meinungsäußerung (jugendopposition.de)
Braunkohle
Braunkohle war der wichtigste Energieträger in der Interner Link: DDR. Für die intensive Nutzung wurden seit 1949 mehr als 80.000 Menschen umgesiedelt und zahlreiche Dörfer abgebaggert. 1985 stammten rund 30 Prozent der weltweiten Braunkohle-Produktion aus der DDR. Der Tagebau schaffte viele Arbeitsplätze, führte aber gleichzeitig zu einer hohen Luftverschmutzung, besonders in industriellen Zentren wie Leipzig.
Autos in der DDR
In der DDR waren viele Konsumgüter, etwa Kleidung oder technische Waren, sehr teuer und knapp. Für den Kauf eines Autos musste man beim IFA-Autohandel den Kauf eines PKW beantragen – und dann oft zehn, manchmal auch über 15 Jahre warten. Neben den DDR-Fabrikaten "Trabant" und "Wartburg" wurden auch Importwagen vertrieben, zum Beispiel von Skoda oder Lada.
Bildung in der DDR
Das Bildungssystem der DDR hatte neben der Wissensvermittlung auch zum Ziel, junge Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen. Der Zugang zu höherer Bildung sollte nicht von bürgerlichen Privilegien abhängen, sondern auch Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien offen stehen. Eine neue Elite entstand dennoch: Kinder hochrangiger Funktionäre oder Interner Link: SED-naher Eltern wurden z.B. im Bildungssystem bevorzugt. Mehr dazu: Interner Link: Bildung in der DDR (Dossier Bildung) (bpb.de)
Schwarzwohnen
In der DDR standen viele Wohnungen und Häuser – vor allem Altbauten – leer, weil notwendige Renovierungsarbeiten aufgrund zu niedriger Mieteinnahmen, fehlender Fachkräfte oder Materialen nicht durchgeführt werden konnten. Einige Menschen umgingen die staatliche Wohnungszuweisung und nutzten diesen Wohnraum illegal, indem sie dort heimlich einzogen. Mehr dazu: Interner Link: Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis (bpb.de)
Umweltbewegung
Während die SED-Führung die existierenden Umweltprobleme leugnete, formierte sich innerhalb der Kirche eine eigenständige Umweltbewegung. Sie organisierte u.a. Demonstrationen und Baumpflanzaktionen, um die Bürger/-innen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch der Kampf gegen die Atomkraft war ein zentrales Anliegen der Naturschützer/-innen. Mehr dazu: Externer Link: Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung (jugendopposition.de)
Gefängnis Rummelsburg
Zu Zeiten der DDR diente das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg als Haftanstalt der Volkspolizei in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Gefängnis für Männer, in dem auch politische Häftlinge einsaßen. Auch Demonstranten wurden immer wieder in Rummelsburg festgehalten.
Umweltbibliothek
Die Umweltbibliothek wurde im September 1986 im Keller der Ost-Berliner Zionsgemeinde gegründet. Die Mitglieder befassten sich nicht nur mit dem Thema Umwelt , sondern auch mit weltanschaulichen und politischen Fragestellungen. Sie druckten und verbreiteten eine Reihe von oppositionellen Publikationen und systemkritischen Informationsblättern. Mehr dazu: Externer Link: Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek (jugendopposition.de)
Alexanderplatz
Der Alexanderplatz in Ost-Berlin war ein wichtiger Schauplatz für Demonstrationen gegen das SED-Regime. Ab Sommer 1989 wurde er zu einem regelmäßigen Treffpunkt der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration gegen das politische System der DDR statt.
Arnold, Michael
Michael Arnold (*1964 in Meißen) wurde 1987 als Medizinstudent Mitglied der "Initiativgruppe Leben". Er war Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums und organisierte 1988/89 mehrere öffentliche Protestaktionen in Leipzig, weshalb er kurzzeitig inhaftiert und exmatrikuliert wurde. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags. Mehr dazu: Externer Link: Michael Arnold (jugendopposition.de)
Genscher, Hans-Dietrich
Hans-Dietrich Genscher (*1927 in Reideburg bei Halle) war ein deutscher Politiker (FDP) und insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister sowie Vizekanzler der BRD. Am 30. September 1989 verkündigte er vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer/-innen. Als Außenminister setzte sich Genscher für die Wiedervereinigung Deutschlands ein.
Junge Welt (Zeitung)
Die Zeitung "Junge Welt" (JW) wurde erstmals am 12. Februar 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben, zunächst wöchentlich, ab März 1950 täglich. Ab dem 12. November 1947 fungierte sie als Organ des Zentralrats der SED-Jugendorganisation FDJ . Mit 1,4 Millionen Exemplaren war sie die Tageszeitung mit der höchsten Auflage in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: Junge Welt (JW) (jugendopposition.de)
Neues Deutschland (Zeitung)
Das "Neue Deutschland" (ND) war eine Tageszeitung und das Zentralorgan der SED. Die Zeitung erschien erstmals am 23. April 1946. Viele Artikel wurden bis Dezember 1989 von sämtlichen anderen Tageszeitungen der DDR aus dem ND übernommen. Mehr dazu: Externer Link: Neues Deutschland (ND) (jugendopposition.de)
Freie Deutsche Jugend (FDJ)
Die FDJ war die Jugendorganisation der SED. Fast alle Schüler/-innen folgten dem parallel zum Schulsystem angelegten Modell der Mitgliedschaft: erst Jungpionier, dann Thälmannpionier, mit 14 folgte der Beitritt zur FDJ. Wer nicht Mitglied war, musste mit Nachteilen rechnen – etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Mehr dazu: Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ) (jugendopposition.de)
Proteste gegen den Wahlbetrug am 7.9.1989
Nach dem Bekanntwerden des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fanden monatliche Proteste auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Am 7. September 1989 brachten die Demonstranten ihre Verärgerung über das SED-Regime mit Trillerpfeifen zum Ausdruck, gemäß dem Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug". Mehr dazu: Externer Link: Proteste gegen den Wahlbetrug (jugendopposition.de)
Umweltpolitik in der DDR
Der Schutz der Natur stand bereits seit 1968 in der Verfassung der DDR. Die fortschreitende Industrialisierung führte jedoch zu massiven ökologischen Problemen, insbesondere in den großen Industriezentren – zum Beispiel durch die Gewinnung von Braunkohle und die Chemie-Industrie. Innerhalb der Kirche formierte sich eine Umweltbewegung, die die Umweltzerstörung in der DDR anprangerte. Mehr dazu: Externer Link: Umweltzerstörung (hdg.de/lemo)
Arbeitsgruppe Umweltschutz
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Umwelt. Mehr dazu: Externer Link: Arbeitsgruppe Umweltschutz (jugendopposition.de)
Westpaket
Als "Westpakete" bezeichnete man Postsendungen, die Leute aus der BRD an Freunde und Verwandte in der DDR schickten. Sie enthielten Geschenke wie Kleidung, Süßigkeiten oder Kaffee. Handelsware oder Geld durfte nicht verschickt werden. Auch Tonträger, Bücher oder Zeitschriften zu verschicken war verboten. Die "Westpakete“ sind zwar bekannter, aber Geschenke wurden auch in die andere Richtung – von Ost nach West – verschickt. Und auch die BRD kontrollierte die Post teilweise. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html
Schundliteratur
Als "Schmutz- und Schundliteratur" galten in der DDR pornografische Inhalte, vermeintliche Kriegsverherrlichung oder Texte, die die DDR oder den Sozialismus verunglimpften. Das heimliche Lesen oder der Schmuggel der verbotenen Literatur wurde teilweise mit Gefängnisstrafen geahndet. Auch in der BRD gab es seit 1953 ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.
Sozialismus
Der Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sind. Der Sozialismus gilt als eine Vorstufe zum Interner Link: Kommunismus. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148315
Kommunismus
Der Kommunismus ist eine politische Weltanschauung, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Grundlegend dafür ist die Abschaffung des privaten Eigentums. Auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte als Vorstufe der Interner Link: Sozialismus verwirklicht werden. Mehr dazu: https://www.bpb.de/161319
Artikel 28
(1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur ungehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet.
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Artikel 29
"Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen."
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Verfassung der DDR
Die Interner Link: DDR hatte während ihres Bestehens drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich eng an die der Weimarer Reichsverfassung an und enthielt umfangreiche Grundrechte. Die Verfassung von 1968 verankerte den Sozialismus als Grundsatz und garantierte weiterhin viele Grundrechte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht und das Verbot einer Pressezensur. Mit den Änderungen von 1974 wurde die Freundschaft zur Sowjetunion betont. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
ML-Ausbildung
Unabhängig vom Interner Link: Studienfach mussten alle Studierenden in der Interner Link: DDR ein "Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" in Interner Link: Marxismus-Leninismus absolvieren. Politische Propaganda und wissenschaftliche Pflichtlektüre wurden miteinander verbunden. Zu Beginn jedes Semesters gab es die sogenannte "Rote Woche", in der Studierende mit Veranstaltungen zum Marxismus-Leninismus politisch indoktriniert werden sollten.
Marxismus-Leninismus
Der "Marxismus-Leninismus" war die Staatsideologie der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Staaten wie der Interner Link: DDR. Im Zentrum stand die Annahme, dass auf den Kapitalismus notwendig der Interner Link: Sozialismus und Interner Link: Kommunismus folgen müssen, um die Arbeiterklasse zu befreien. In der DDR war Interner Link: ML ein verbindliches Interner Link: Studienfach. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148578
Junge Pioniere (JP)
Die JP, eigentlich "Pionierorganisation Ernst Thälmann" war in der Interner Link: DDR die staatliche Massenorganisation für Kinder. Sie diente als ideologische Kaderschmiede, in der Kinder im Sinne der Interner Link: SED erzogen wurden. Fast alle Schüler/-innen gehörten ihr an. Die Pioniere waren unterteilt in die Jungpioniere und Thälmannpioniere. Ab dem 14. Lebensjahr folgte der Beitritt zur Interner Link: FDJ.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Kapitalismus
Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Fabriken, Geld) überproportionale Bedeutung hat. Grundlegend dafür sind der Schutz von Privateigentum sowie ein von staatlichen Eingriffen weitgehend freies Wirtschaftssystem. Der Markt wird demnach durch Angebot und Nachfrage gesteuert.
Mehr dazu: Interner Link: http://m.bpb.de
Neues Forum: Ablehnung des Antrags auf Zulassung
Am 19. September 1989 beantragte das Neue Forum die Zulassung als Vereinigung. Das Interner Link: DDR-Innenministerium lehnte den Antrag zwei Tage später ab und bezeichnete die Bewegung als "staatsfeindliche Plattform". Mit einem Handzettel forderten die Initiatoren (darunter Michael Interner Link: Arnold) die Bevölkerung zur Solidarität auf.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/kathrin2209
AG Umweltschutz
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Interner Link: Umwelt.
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148350
Führer, Christian
Christian Führer (1943-2014) war ein evangelischer Pfarrer und Mitbegründer der Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148050
Moritzbastei
Die Moritzbastei ist eine historische Befestigungsanlage in Interner Link: Leipzig. Zwischen 1974 und 1982 wurde sie in über 150.000 Arbeitsstunden von Studierenden zu einem Studentenklub ausgebaut. In den 1980er Jahren wurde sie von der Interner Link: FDJ betrieben. Auch heute ist sie ein Kulturzentrum.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/m6b
Merkel, Angela
Angela Dorothea Kasner heißt heute Angela Merkel und ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie Physik in Leipzig, bevor sie für ihre Promotion nach Ost-Berlin zog. Sie war aktives Mitglied der Interner Link: FDJ. 1989 trat sie der Partei Interner Link: Demokratischer Aufbruch bei, deren Pressesprecherin sie 1990 wurde.
Mehr zu Angela Merkels Biografie: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/biografie/angela-merkel.html
Leipzig 1989
Leipzig wurde im Herbst 1989 zu einer der wichtigsten Städte für die friedliche Revolution. Hier begannen die Interner Link: Friedensgebete und die Interner Link: Montagsdemonstrationen. Außerdem formierten sich hier Bürgerrechtsbewegungen wie das Interner Link: Neue Forum.
Mehr über wichtige Orte der DDR-Opposition erfährst du hier: Externer Link: www.jugendopposition.de/Orte/
Honecker, Erich
Erich Honecker (1912-1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der Interner Link: SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrats.
Honecker war ab 1930 Mitglied der KPD und leistete Widerstand im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er die Jugendorganisation Interner Link: FDJ auf. Nach der Wiedervereinigung wurden Ermittlungen gegen Honecker aufgenommen, die 1993 eingestellt wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148080
Zuführung
Bei den sogenannten Zuführungen wurden Personen ohne weitere Begründung (und ohne Rechtsgrundlage) festgenommen. Nach einigen Stunden Verhören oder kurzen Belehrungen endeten sie in der Regel mit der Freilassung. Sie konnten aber auch in einer formellen Interner Link: Verhaftung münden.
Mehr dazu: Externer Link: http://www.jugendopposition.de
Politische Haft
Das SED-Regime verfolgte politische Oppositionelle wegen vermeintlicher Widerstandshandlungen, Fluchtversuchen oder Fluchthilfe. Für die DDR-Regierung waren diese Personen Kriminelle, die sich gegen die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung richteten. Schätzungen nach waren etwa 200.000 bis 250.000 Personen in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Tausende Häftlinge wurden zwischen 1963 und 1989 von der Bundesrepublik freigekauft – die Gefangenen durften ausreisen, im Gegenzug erhielt die Interner Link: DDR Warenlieferungen im Wert von mehr als drei Milliarden DM.
Nationalhymne der DDR
Für die Interner Link: DDR wurde 1949 mit "Auferstanden aus Ruinen" eine Nationalhymne geschaffen. Ein Auszug aus der Nationalhymne:
"Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint."
Wegen der Textzeile "Deutschland, einig Vaterland" wurde bei offiziellen Anlässen seit Anfang der 1970er Jahre nur noch deren Melodie gespielt.
Mehr Infos dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-nationalhymne-der-ddr.html
Internationale (Arbeiterlied)
"Die Internationale" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung und nahm in der DDR und anderen sozialistischen Staaten einen wichtigen Platz neben der Interner Link: Nationalhymne ein. Im Refrain heißt es:
"Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Tag der Republik
Am 7. Oktober 1989 wurde mit großen Festumzügen, Aufmärschen und Volksfesten das 40-jährige Bestehen der Interner Link: DDR gefeiert. Staatsgäste aus aller Welt, u.a. Michail Interner Link: Gorbatschow, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die politische Krise im Land wurde ausgeblendet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145459
Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde am 1. Januar 1919 als Zusammenschluss mehrerer linksrevolutionärer Gruppierungen unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründet. 1946 erfolgte in der Sowjetischen Besatzungszone (Interner Link: SBZ) die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur Interner Link: SED. In der Bundesrepublik wurde die KPD 1956 verboten.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148456
Gorbatschow, Michail
Michail Sergejewitsch Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Interner Link: Sowjetunion (KPdSU) und stieß 1985 umfassende politische und wirtschaftliche Interner Link: Reformen an. Gorbatschows Außenpolitik war geprägt von einer Taktik der Abrüstung und Annäherung an den Westen. 1990 stimmte er der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Quelle/Link: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148055/
Glasnost und Perestroika
Unter den Schlagworten "Glasnost" (Öffentlichkeit/Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) leitete Michail Interner Link: Gorbatschow 1985 politische und wirtschaftliche Reformen in der Interner Link: Sowjetunion ein. Die Gesellschaft sollte unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und unter Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion modernisiert werden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148407
Zentralkomitee der SED (ZK)
Das Zentralkomitee war das oberste Gremium der Interner Link: SED. Es wurde auf den SED-Parteitagen gewählt. Die Sekretäre des ZK betreuten etwa 40 verschiedene Abteilungen und konnten auch den Mitgliedern des Ministerrats Befehle erteilen – sie kontrollierten also sowohl die Partei als auch die Regierung. Das ZK wählte auch die oberste Führungsriege der DDR, das Interner Link: Politbüro. Der Erste Sekretär war bis zum Oktober 1989 Interner Link: Erich Honecker. Auf ihn folgte Egon Krenz.
Mehr dazu: Interner Link: http://www.bpb.de/18500/zentralkomitee-zk
Tian’anmen-Massaker
In der Nacht zum 4. Juni 1989 wurden politische und soziale Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian An Men) in Peking von der chinesischen Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen. In der Folge protestierten Menschen weltweit gegen das Massaker. Bis heute ist nicht geklärt, ob mehrere Hundert oder einige Tausend Menschen getötet wurden.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/185616
Ministerrat
Der Ministerrat war formal laut DDR-Verfassung die Regierung der Interner Link: DDR und bestand 1989 aus 39 Mitgliedern (Ministern), die alle der Interner Link: SED angehörten.Die eigentliche Macht hatte in der DDR aber das Interner Link: Politbüro des Interner Link: Zentralkomitees der SED inne, denn die Sekretäre konnten den Ministern Befehle erteilen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148601
Schefke, Siegbert
Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler. Als Journalist und Kameramann dokumentierte er Ende der 1980er Jahre die Umweltzerstörung in der Interner Link: DDR. Im Herbst 1989 lieferte er gemeinsam mit Aram Radomski die ersten Fernsehbilder der Montagsdemonstrationen in Interner Link: Leipzig, die im Anschluss in der Interner Link: Tagesschau übertragen wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148159/
Dietrich, Mike
Mike Dietrich ist ein DJ, Produzent und Musiker aus Leipzig. Ende der 1980er Jahre gründete er in Leipzig das Hiphop-Projekt B-Side the Norm.
Hip-Hop in der DDR
Inspiriert vom amerikanischen HipHop entwickelte sich in der DDR in den 1980er Jahren eine kleine Szene aus Breakdancern, Rappern, Graffitikünstlern und DJs. HipHop war nicht verboten, zum Teil wurde die Jugendkultur aber vom Staat kontrolliert.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145417
Beat Street
Der Film "Beat Street" läuft 1985 in den Kinos der DDR. Für viele Jugendliche in der DDR ist es der Startschuss, sich mit Grafitti und Breakdance zu beschäftigen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/hip-hop-in-der-ddr100.html
Silly (Band)
Die Rockband "Silly" wurde 1978 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Frontfrau, Tamara Danz, war eine der berühmtesten Sängerinnen der DDR. 1985 verboten die DDR-Zensoren das Album "Zwischen unbefahrenen Gleisen", welches später in bereinigter Version erschien. Trotz Zensur versuchte die Band immer wieder, politische Andeutungen in ihren Texten unterzubringen.
Karat (Band)
1975 in Ost-Berlin gegründet, gehörte "Karat" zu den erfolgreichsten Rockbands in der DDR. Ihre Musik bewegte sich zwischen Progressive-Rock, Pop und Schlager. Ihr bekanntestes Lied ist "Über sieben Brücken musst du gehen". Zuerst waren die Texte noch komödiantisch, später wandte sich die Band ernsteren Texten zu. Trotz Vorwürfen, politisch konform zu sein, enthielten einige Songs auch kritische Passagen, z.B. der Song "Albatros" (1979).
Komitee für Unterhaltungskunst
Das 1973 gegründete kulturpolitische Kontrollgremium der DDR-Regierung überwachte die Einhaltung von politischen Richtlinien in der Unterhaltungskunst. Kritische Stimmen wurden unterdrückt, politisch konforme Künstlerinnen und Künstler bevorzugt. Das von der SED eingesetzte Komitee entschied unter anderem, wer zu Veranstaltungen und Tourneen ins westliche Ausland fahren durfte.
Krenz, Egon
Egon Krenz (*1937 in Kolberg/Pommern), ehemaliger SED-Politiker, löste am 18.10.1989 Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und als Vorsitzender des Staatsrates ab. Am 3.12.1989 trat schließlich das gesamte ZK mit Krenz als Generalsekretär zurück. 1995 wurde er wegen der Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.
7./8. Oktober
Zum 40. Jahrestag der Interner Link: DDR demonstrierten Tausende Berliner/innen gegen das Interner Link: SED-Regime. Die Interner Link: Volkspolizei und Spezialeinheiten der Interner Link: Stasi gingen brutal gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten vor. Männer und Frauen wurden verprügelt, LKW transportierten Interner Link: Verhaftete ab, die Volkspolizei setzte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge ein. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zog weitere Demonstrationen und Mahnwachen für die Verhafteten in der ganzen DDR nach sich.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145462
Schabowski, Günter
Günter Schabowski war Interner Link: SED-Funktionär und Mitglied im Interner Link: Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Interner Link: DDR. Am Abend des 9. November 1989 verkündete er im Rahmen einer Pressekonferenz (nicht ganz halbständig) eine neue Ausreise-Regelung für DDR-Bürger/-innen. Daraufhin strömten tausende Ost-Berliner/-innen an die Grenze. Noch in derselben Nacht wurden alle Grenzübergänge geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148156
Masur, Kurt
Kurt Masur (1927-2015) war Dirigent und Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Interner Link: Leipzig. Als einer der Interner Link: Leipziger Sechs veröffentlichte er am 9. Oktober 1989 einen Aufruf zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen.
Stadtfunk Leipzig
Der Leipziger Stadtfunk war ein Netz von Lautsprecheranlagen, die zwischen 1945 und 1998 an öffentlichen Gebäuden und Plätzen in Leipzig installiert waren. Genutzt wurde er vor allem für Propaganda und Information. Am 9. Oktober 1989 wurde der Aufruf der Interner Link: Leipziger Sechs über den Stadtfunk verbreitet. Nach der Wiedervereinigung übernahm Radio Leipzig das Programm.
Leipziger Sechs
Die Leipziger Sechs waren eine Gruppe von sechs Männern, die am 9. Oktober gemeinsam einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Interner Link: Stadtfunk verbreiteten. Darunter waren Kulturschaffende sowie Mitglieder der SED-Bezirksleitung. Sie forderten beide Seiten – Interner Link: Demonstranten und Interner Link: Volkspolizei - zur Besonnenheit auf. Der Aufruf soll maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen friedlich verliefen.
Reformbestrebungen
Im Sommer und Herbst 1989 formierten sich in der DDR zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die das Ziel hatten, demokratische Reformen in der DDR anzustoßen. Sie forderten die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen. Im Rahmen z.B. der Montagsdemonstration versammelten sich die verschiedenen Oppositionsgruppen und verliehen ihren Forderungen Nachdruck.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/295940
Nationaler Verteidigungsrat
Der Nationale Verteidigungsrat (NVR) der Interner Link: DDR wurde im Jahr 1960 gegründet und war das wichtigste Organ für sicherheitspolitische Fragen. Die Personalunion an der Spitze von Interner Link: Politbüro, Interner Link: Staatsrat und Verteidigungsrat hob die theoretische Trennung der Entscheidungsgremien in der Praxis weitgehend auf.
Mehr Infos: Externer Link: https://www.bstu.de/mfs-lexikon
Telefonieren in der DDR
Das Telefonnetz der Interner Link: DDR war schlecht ausgebaut. Nicht einmal 15 Prozent der privaten Haushalte hatten einen Telefonanschluss. Viele nutzten deshalb Telefonzellen oder öffentliche Telefone in den Postämtern. In der Stadt – insbesondere in Ost-Berlin – war es leichter, einen Telefonanschluss zu bekommen. Telefongespräche aus der DDR in die Interner Link: BRD mussten angemeldet werden.
Der Morgen (Zeitung)
"Der Morgen" war eine Tageszeitung in der Interner Link: DDR und das Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (Interner Link: LDPD). Als erste Zeitung der DDR druckte "Der Morgen" 1989 Beiträge und Leserbriefe, die sich kritisch mit dem Interner Link: SED-Regime auseinandersetzten.
Liberal-Demokratische Partei Deutschlands
Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) wurde 1945 gegründet. Ab 1949 war sie in die Nationale Interner Link: Front eingebunden. Zentralorgan der LDPD war die Tageszeitung "Der Interner Link: Morgen".
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148413
Henrich, Rolf
Rolf Henrich ist Jurist und Schriftsteller. Ab 1964 war er Mitglied der Interner Link: SED, setzte sich später aber zunehmend kritisch mit der Partei und dem Interner Link: Sozialismus auseinander. 1989 veröffentlichte er das Buch "Der vormundschaftliche Staat", weshalb er aus dem Anwaltskollegium und der SED ausgeschlossen wurde. Er war Mitbegründer des Interner Link: Neuen Forums und trat 1990 in die SPD ein.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Rausch, Friedhelm
Friedhelm Rausch war von 1986 bis 1989 Präsident der Interner Link: Volkspolizei Berlin und damit unter anderem verantwortlich für die Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober gegen Demonstranten. Beim ersten sogenannten "Sonntagsgespräch" vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, am 29.10.1989, entschuldigte er sich dafür.
Eppelmann, Rainer
Rainer Eppelmann ist ein evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler. Von 1979 bis 1987 organisierte er Interner Link: Bluesmessen in Berlin. Er stand unter permanentem Druck der Interner Link: Stasi. Er war Mitbegründer und später Vorsitzender des Interner Link: DA, Abgeordneter der Interner Link: Volkskammer und später des Deutschen Bundestages. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Bluesmessen
Die Bluesmessen in Berlin wurden von Interner Link: Rainer Eppelmann initiiert und von 1979 bis 1987 in Interner Link: Kirchen veranstaltet. Als Gottesdienste unterlagen sie nicht der staatlichen Anmeldepflicht. Sie entwickelten sich zu wichtigen Orten für oppositionelle Jugendliche in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Aktuelle Kamera
Die abendliche DDR-TV-Nachrichtensendung ist das Sprachrohr der Interner Link: SED. Über was wie berichtet wird, bestimmt die Partei. Mitte Oktober 1989 beginnt die Aktuelle Kamera aber unabhängig und kritisch zu berichten und lässt auch Bürgerrechtler und Demonstrierende zu Wort kommen.
Mehr dazu: Externer Link: www.mdr.de/zeitreise/aktuelle-kamera-nachrichten-im-ddr-fernsehen-100.html
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)
Der FDGB war der Dachverband der Gewerkschaften in der Interner Link: DDR. Wie alle Massenorganisationen in der DDR war auch der FDGB zentralistisch von der Interner Link: Partei aus organisiert. 1989 hatte der FDGB ungefähr 9,5 Millionen Mitglieder.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
National-Demokratische Partei Deutschland (NDPD)
Die NDPD war eine der Interner Link: Blockparteien in der Interner Link: DDR. Sie wurde 1948 mit dem Ziel gegründet, ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP in das staatssozialistische System der DDR zu integrieren Nach 1990 ging die NDPD in die FDP über.
Mehr dazu: Externer Link: www.bpb.de/
Tisch, Harry
Harry Tisch war ein SED-Funktionär mit hohen Rang. Bereits 1963 wurde er Mitglied des Interner Link: ZK und 1975 Mitglied des Interner Link: Politbüros der Interner Link: SED. Von 1975 bis 1989 war er Vorsitzender des Interner Link: FDGB. Im November 1989 trat er als Vorsitzender des FDGB zurück und schied aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aus. Ende des Jahres 1989 wurde er aus der SED und dem FDGB ausgeschlossen.
CDU in der DDR
Die Christlich-Demokratische Union (CDU) wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei gegründet. In der Interner Link: DDR wurde die Ost-CDU zu einer Blockpartei innerhalb der SED-dominierten Interner Link: Nationalen Front.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148367
Transitstrecke
Transitstrecken waren die Straßen, die durch das Gebiet der Interner Link: DDR führten. Neben der Verbindung zwischen der BRD und West-Berlin durfte auch der Transitverkehr nach Polen und Tschechoslowakei nur über diese wenigen Strecken erfolgen.
Berliner Mauer
Die Berliner Mauer war die Sperranlage, die zwischen 1961 und 1989 West- und Ostberlin trennte. Sie war 156,40 km lang und bestand aus mehreren Teilen: zwischen zwei Mauern befanden sich u. a. ein 15 bis 150 Meter breiter "Todesstreifen" und ein Sperrgraben. Zur Bewachung waren Beobachtungstürme und eine Lichttrasse installiert. Mindestens 140 Menschen kamen an der Berliner Mauer oder im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die Mauer wurde zum Symbol für die deutsche Teilung.
Eine Karte und Fotos des Grenzverlaufs: Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/166398
Einreise nach Ost-Berlin
Seit 1972 benötigten BRD-Bürger mit Wohnsitz in Westberlin einen "Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums der DDR", um als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt einzureisen. BRD-Bürger, die nicht in West-Berlin lebten, konnten direkt an den Grenzübergangsstellen ein Tagesvisum beantragen. Mehrtagesaufenthalte waren nur in besonderen Fällen möglich. Für DDR-Bürger (und damit auch Ost-Berliner) gab es kaum eine Möglichkeit, in den Westen zu reisen.
Prenzlauer Berg
Der Prenzlauer Berg in Ostberlin entwickelte sich in den 1970 und 1980er Jahren zu einem Zentrum der oppositionellen Szene, die sich zum Beispiel in Wohnungen oder Kirchengemeinden traf. Als Ort der DDR-Opposition und wegen seiner Nähe zur Interner Link: Mauer zu Westberlin war die Überwachungsdichte der Stasi im Prenzlauer Berg besonders hoch.
Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten im Prenzlauer Berg: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/stasiopposition/
Umweltblätter / Telegraph
Die Informationszeitschrift der Umweltbibliothek erschien seit 1987 alle ein bis zwei Monate und behandelte Themen wie Umweltschutz, Menschen- und Bürgerrechte, die Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. 1989 wurde aus den Umweltblättern der telegraph, in dem über Friedliche Revolution berichtet wurde. Mehr Infos: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145467
Kühn, Fritz
Fritz Kühn war Mitglied der Interner Link: Umweltbibliothek (UB) und betreute dort die Druckmaschinen. In den Kellerräumen der UB druckte er die Dokumentation "Wahlfall", in der erstmals die Fälschung der Interner Link: Kommunalwahlen in der Interner Link: DDR dokumentiert und nachgewiesen werden konnte.
Ihlow, Uta
Die Bibliotheksfacharbeiterin war am Aufbau und der Betreuung der Interner Link: Umweltbibliothek beteiligt, in der unter anderem in der Interner Link: DDR verbotene Literatur gesammelt wurde. Mehr zur Person: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145511
Pressekonferenz
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Am 9. November 1989 verlas Günter Interner Link: Schabowski, Mitglied des Interner Link: Politbüros, um 18 Uhr im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen könnten, antwortete Schabowski vorschnell "Sofort, unverzüglich". Die Regelung sollte eigentlich erst am 10. November in Kraft treten.
Die Pressekonferenz wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Im Laufe des Abends stürmten tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen und forderten die sofortige Öffnung.
Die Pressekonferenz zum Nachschauen: Externer Link: http://kurz.bpb.de/schabowski
Wolf, Christa
Christa Wolf (1929-2011) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie trat 1949 in die Interner Link: SED ein und studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED, schied aber nach einer kritischen Rede aus dem Gremium aus. 1989 trat sie aus der Partei aus und forderte demokratische Reformen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148211
Ventillösung
Nach der Pressekonferenz von Günter Interner Link: Schabowski versammelten sich am 9. November 1989 tausende DDR-Bürger am Grenzübergang Interner Link: Bornholmer Straße, um nach West-Berlin auszureisen. Ab 21:30 Uhr wurden einigen besonders auffälligen DDR-Bürgern die Ausreise gewährt. Ihre Ausweise wurden dabei unbemerkt ungültig gestempelt, um ihnen eine spätere Wiedereinreise zu verwehren.
Brandenburger Tor
Die drei Meter hohe und breite Mauer am Brandenburger Tor sollte die Endgültigkeit der deutschen Teilung symbolisieren. Am Abend des 9. November 1989 wurde sie dagegen zum Symbol für die Überwindung dieser Teilung. In der Nacht und in den folgenden Tagen feierten Tausende Berliner/-innen den Fall der Berliner Mauer.
Grenzposten
Die Berliner Interner Link: Mauer (Gesamtlänge 156, 4 km) bestand im Jahr 1989 aus einem zwischen 15 und mehr als 150 Meter breiten Todesstreifen mit einer zwei bis drei Meter hohen "Hinterlandmauer" oder einem "Hinterlandsperrzaun". An mehreren Kontrollposten waren Grenztruppen stationiert, um die Anlage zu überwachen und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Mauerspechte
Schon kurz nach Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen am Abend des 9. November 1989 begannen Menschen, Teile aus der Berliner Interner Link: Mauer herausklopfen und einzelne Stücke mitzunehmen. Man bezeichnet sie als "Mauerspechte".
Dickel, Friedrich
Friedrich Dickel (1913-1993) war von 1963 bis 1989 Innenminister der Interner Link: DDR und damit auch Chef der Interner Link: Volkspolizei.
Kohl, Helmut
Helmut Kohl (1930-2017) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weil die Wiedervereinigung der Interner Link: BRD und Interner Link: DDR in seine Amtszeit fiel, wird er häufig als "Kanzler der Einheit" bezeichnet.
Brandt, Willy
Willy Brandt (1913-1992) war ein deutscher Politiker (SPD) und von 1969-1974 Bundeskanzler der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland. Mit einer "neuen Ostpolitik" setzte er sich für den Dialog mit den Staaten des sogenannten Ostblocks ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis.
Momper, Walter
Walter Momper (geboren 1945) ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister in Berlin (West) und von 2001 bis 2011 Präsident des Abgeordnetenhauses in Berlin.
Sperrgebiet
Das Sperrgebiet war von 1954 bis 1989 ein etwa 500 Meter breiter Streifen entlang der innerdeutschen Grenze. Die etwa 200.000 Menschen, die in dieser Sperrzone lebten, brauchten Sonderausweise und waren im Alltag enorm eingeschränkt. Andere DDR-Bürger hatten keinen Zutritt. Direkt an der Grenze befand sich der sogenannte "Todesstreifen", der mit Schussanlagen gesichert und vermint war. Offiziell aufgehoben wurden alle Sperrgebiete an der Grenze am 12. November 1989.
Begrüßungsgeld
Schon ab 1970 zahlte die Bundesrepublik Besuchern aus der Interner Link: DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld. Noch in der Nacht zum 10. November 1989 ordnete der West-Berliner Bürgermeister Walter Interner Link: Momper die Auszahlung von 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger durch Banken und Sparkassen an. Die Regelung wurde in den darauffolgenden Tagen in der gesamten Interner Link: Bundesrepublik übernommen.
Oberbaumbrücke
Die Oberbaumbrücke führt über die Spree und verbindet die Berliner Stadtteile Kreuzberg (bis 1990 West-Berlin) und Friedrichshain (bis 1990 Ost-Berlin). Heute beginnt dort die East-Side-Gallery.
Kurfürstendamm
Der Kurfürstendamm, umgangssprachlich auch Ku’damm genannt, gehört zu den Haupteinkaufsstraßen in Berlin. Am 9. und 10. November trafen sich Zehntausende Ost- und West-Berliner auf dem Ku’damm.
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die einzige zentrale Nachrichten- und Fotoagentur der Interner Link: DDR und war für die Bereitstellung der Nachrichten für Presse, Rundfunk und Fernsehen im Inland und für das Ausland zuständig. Gegründet wurde der ADN 1946.
Mehr dazu: Interner Link: Zeitungen in der DDR (bpb.de)
Das Gebäude Mollstraße Ecke Liebknechtstraße im ostberliner Stadtbezirk Mitte war in der DDR alleiniger Sitz der staatlichen Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN). (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Wer nicht mehr in der Interner Link: DDR leben wollte, stellte einen "Antrag auf Ausreise aus der DDR" in die Bundesrepublik. Von Mitte der 1970er Jahre bis Oktober 1989 stellten mehrere hunderttausend Menschen einen solchen Ausreiseantrag. Ausreiseanträge wurden als rechtswidrig angesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Ausreiseantrag (jugendopposition.de)
So sah ein Teil des Antrags auf Ausreise aus der DDR aus. (© picture-alliance/dpa)
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Der Grenzübergang Bornholmer Straße, auch "Bornholmer Brücke" genannt, verband während der Teilung Berlins die Stadtteile Interner Link: Prenzlauer Berg und Wedding. Am 9. November 1989 war die Bornholmer Brücke der erste Grenzübergang an der Interner Link: Berliner Mauer, an dem gegen 23.30 Uhr die Grenze halbständig geöffnet wurde. Die DDR-Grenzpolizisten gaben dem Druck der Menschenmassen nach.
Interner Link: 9. November, 23 Uhr – Filmaufnahmen von der Bornholmer Straße und dem Brandenburger Tor
Mehr dazu: Externer Link: Bornholmer Brücke (jugendopposition.de)
Der Berliner Grenzübergang "Bornholmer Brücke" nach Öffnung der DDR-Grenze am 10. November 1989. (© picture-alliance, IMAGNO)
Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ging 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg aus den drei westlichen Besatzungszonen hervor.
Mehr dazu: Teilung Deutschlands (bpb.de)
Die Tschechoslowakei (Abkürzung CSSR) gehörte zu den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Seit dem 1.1.1993 ist sie in die eigenständigen Staaten Tschechien und Slowakei geteilt.
Mehr dazu: Externer Link: CSSR / Tschechoslowakei (jugendopposition.de)
Der Demokratische Aufbruch (DA) entstand im Herbst 1989 als Bürgerbewegung der Interner Link: DDR. Hauptziele der Vereinigung waren zunächst die Reformierung und Demokratisierung des Landes. Im Dezember 1989 formierte sich der DA als Partei und gliederte sich im August 1990 der CDU an.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratischer Aufbruch (jugendopposition.de)
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstand 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone und entwickelte sich zu einer von der Interner Link: Sowjetunion abhängigen Diktatur. Sie umfasste das Gebiet der heutigen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und Ost-Berlin. Am 3. Oktober 1990 treten die neuen Länder der BRD bei (Wiedervereinigung).
Mehr dazu: DDR (bpb.de)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Demokratie Jetzt (DJ) war eine im Herbst 1989 entstehende Bürgerbewegung, deren erklärtes Ziel die Demokratisierung der DDR war. 1991 löste sich DJ auf, um im September mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und Teilen des Interner Link: Neuen Forums die Partei Bündnis 90 zu gründen.
Mehr dazu: Externer Link: Demokratie Jetzt (jugendopposition.de)
Landesdelegiertentreffen der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" in Berlin am 21.Januar 1990. (© picture-alliance, akg-images)
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
In der Interner Link: DDR waren Demonstrationen fast immer verboten. 1989 versammelten sich trotzdem immer mehr Unzufriedene und Oppositionelle zu friedlichen Demonstrationen und erhöhten so den Druck auf die DDR-Regierung.
Mehr dazu: Externer Link: Demonstrationen in der ganzen DDR (jugendopposition.de)
Teilnehmer der größten nichtstaatlichen Demonstration in der DDR am 4. November 1989 tragen Spruchbänder, auf denen "Freie Medien Freie Presse Freie Wahlen Reisepässe" und "Demokratie jetzt oder nie" gefordert werden. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Frank Ebert gehörte zur letzten Generation der Jugendopposition in der Interner Link: DDR, bevor der Staat aufhörte zu existieren. Er war unter anderem an den Protesten gegen den Wahlbetrug beteiligt und bei den Interner Link: Demonstrationen in Ost-Berlin im Oktober 1989 dabei.
Mehr dazu: Externer Link: Frank Ebert (jugendopposition.de)
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Mitglieder der Arbeitsgruppe Friedensdienste und kirchliche Mitarbeiter/-innen luden ab 1982 wöchentlich in die Leipziger Nikolaikirche zu Friedensgebeten ein. Im November 1983 wurde zum ersten Mal nach dem Friedensgebet vor der Interner Link: Kirche gegen die Militarisierung der Gesellschaft demonstriert. Mit der Interner Link: Demonstration im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 begannen die Interner Link: Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR einläuteten.
Mehr dazu: Externer Link: Friedensgebet in der Nikolaikirche (jugendopposition.de)
Teilnehmer an Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche im Herbst 1989. (© picture-alliance, dpa Zentralbild)
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die Kampfgruppen waren paramilitärische Formationen in der Interner Link: DDR, die vor allem zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen vorgesehen waren. Bei einer Großübung der Kampfgruppen in Sachsen Anfang April 1989 wurde der Interner Link: SED-Führung deutlich, dass ihr diese im Ernstfall den Gehorsam verweigern könnten. Dennoch hat die SED ihren Einsatz gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten im Herbst 1989 vorgesehen.
Mehr dazu: Externer Link: Kampfgruppen (jugendopposition.de)
Angehörige der Kampfgruppen bei einer Parade zum 35. Jahrestag der DDR am 07.10.1988 auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Die KPdSU war die Kommunistische Partei der Interner Link: Sowjetunion. Die Partei trug diesen Namen zwischen 1952 und 1991, existierte aber bereits seit 1918. Zwischen 1918 und 1991 beherrschte die KPdSU das gesamte gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion.
Mehr dazu: Externer Link: Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) (jugendopposition.de)
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Die Evangelische Kirche bildete in vielerlei Hinsicht die Basis der Oppositionsarbeit in der Interner Link: DDR, da sie die einzige vom Staat unabhängige Organisationsstruktur bot, die landesweit präsent war. In der Revolutionszeit 1989 fungierten Kirchen im ganzen Land als Basislager vieler Interner Link: Demonstrationen.
Mehr dazu: Externer Link: Kirche in der DDR (jugendopposition.de)
DDR-Bürger treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (© picture-alliance/dpa)
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Der Kulturopposition in Ost-Berlin werden jene Künstler/-innen zugerechnet, die jenseits der offiziellen Kulturpolitik der Interner Link: SED versuchten, eine eigene Kulturszene zu etablieren. Sie gerieten damit fast automatisch in Konflikt mit dem politischen System der DDR. Dies förderte ihre Bereitschaft, Kontakt mit der politischen Opposition aufzunehmen.
Mehr dazu: Externer Link: Kulturopposition in Ost-Berlin (jugendopposition.de)
Der Liedermacher Wolf Biermann hatte in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot aufgrund seiner regierungskritischen Liedtexte. Nach einer Konzertreise durch die BRD wurde ihm 1976 die Wiedereinreise in die DDR verweigert und seine "Ausbürgerung" veranlasst. (© picture-alliance/dpa)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich Stasi) wurde per Gesetz am 8. Februar 1950 gegründet und war der Geheimdienst der Interner Link: DDR. Die Stasi war zugleich politische Geheimpolizei und für strafrechtliche Untersuchungen gegen von ihr ausgemachte politische Gegnerinnen und Gegner zuständig.
Mehr dazu: Externer Link: Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (jugendopposition.de)
Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße in Ost-Berlin. (© picture-alliance, Zentralbild)
In Leipzig fanden ab Anfang der 1980er Jahre jeweils montags Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche statt. Am 4. September 1989 gingen anschließend Bürgerrechtler/-innen mit Plakaten vor die Interner Link: Kirche und forderten Interner Link: Reisefreiheit. In den folgenden Wochen vergrößerte sich der Kreis der Teilnehmenden sehr schnell. Am 9. Oktober 1989 Interner Link: demonstrierten ungefähr 70.000 Personen.
Mehr dazu: Externer Link: Montagsdemonstration (jugendopposition.de)
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der Interner Link: DDR. Sie war eine scheindemokratische Einrichtung, mit der die Interner Link: SED versuchte, ihre Vormachtstellung unter dem Deckmantel der demokratischen Struktur zu festigen.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Front (jugendopposition.de)
Ein Wahlplakat der Nationalen Front zur Wahl der Volkskammer der DDR aus dem Jahr 1953. (© picture-alliance/akg)
Die offizielle Armee der Interner Link: DDR wurde am 1. März 1956 gegründet. Durch die "Politische Hauptverwaltung" sicherte sich die Interner Link: SED innerhalb der NVA einen bestimmenden Einfluss auf die Armee. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate, auf Druck der Interner Link: Kirchen gab es ab 1964 die Bausoldaten, die ihren Wehrdienst ohne Waffe in Baueinheiten ableisten konnten.
1990 wurde die NVA aufgelöst, ihre Bestände und Standorte wurden der Bundeswehr übergeben.
Mehr dazu: Externer Link: Nationale Volksarmee (jugendopposition.de)
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Das Neue Forum war die mit Abstand zulaufstärkste Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Sie forderten Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Die Interner Link: DDR-Behörden stuften das Neue Forum als "verfassungsfeindlich" ein.
Mehr dazu: Externer Link: Neues Forum (jugendopposition.de)
Die Delegierten der Oppositionsgruppe "Neues Forum" während der Gründungskonferenz am 28. Januar 1990 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
Die große Zahl an Flüchtlingen aus der Interner Link: DDR machte es für die Interner Link: BRD erforderlich, ein geregeltes Aufnahmeverfahren zu entwickeln. Jeder Flüchtling, sofern er auf staatliche Hilfen angewiesen war und nicht von Freunden oder Familie unterstützt wurde, musste ein im Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 geregeltes Verfahren zur rechtlichen und sozialen Eingliederung durchlaufen.
Mehr dazu: Externer Link: Notaufnahmeverfahren (jugendopposition.de)
Viele DDR-Übersiedler, die über Ungarn in die BRD gekommen sind, stehen am 8. August 1989 in eine langen Schlange im Aufnahmelager in Gießen, um sich im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens registrieren zu lassen. (© picture-alliance/dpa)
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Am 19. August 1989 luden ungarische oppositionelle Gruppen um das Ungarische Demokratische Forum und die Interner Link: Paneuropa-Union zum "Paneuropäischen Picknick" ein – bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dabei sollte ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor symbolisch für einige Stunden geöffnet werden. Dabei gelang etwa 700 Interner Link: DDR-Bürger/-innen die Flucht nach Österreich. Das "Paneuropäische Picknick" steht symbolisch für den Riss im Eisernen Vorhang.
Mehr dazu: Externer Link: Paneuropäisches Picknick (jugendopposition.de)
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen am 19. August 1989 durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten die symbolische Öffnung eines Grenztors im Rahmen des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. (© picture-alliance/dpa)
Die Paneuropa-Union wurde 1925 durch den Österreicher Richard N. Coudenhove-Kalergi gegründet. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der "Vereinigten Staaten von Europa", um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Rolle in der Welt zu stärken. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen.
Mehr dazu: Interner Link: Paneuropa-Union (bpb.de)
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Das Politbüro bezeichnete das Führungsgremium und Herrschaftszentrum der Interner Link: SED und der Interner Link: DDR. An der Spitze stand der Erste Sekretär des Zentralkommitees (ZK) der SED. Die Aufgabe des Politbüros bestand laut Parteistatut darin, die Arbeit der Partei zwischen den Plenartagungen des ZK zu leiten.
Mehr dazu: Externer Link: Politbüro (jugendopposition.de)
Offizielles Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der führenden Staatspartei der DDR, aufgenommen etwa 1980 in Berlin. (© picture-alliance, dpa-Zentralbild)
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
Viele Interner Link: DDR-Bürger/-innen suchten im Sommer 1989 Zuflucht in der Botschaft der Interner Link: BRD in Prag und hofften, auf diesem Weg in den Westen ausreisen zu können. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 die Zustimmung zur Ausreise von Tausenden Flüchtlingen, die in Sonderzügen durch die DDR in die BRD gebracht wurden.
Mehr dazu: Externer Link: Prager Botschaft / Botschaft der BRD in Prag (hdg.de)
Ausreisewillige DDR-Bürger finden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in Zelten davor eine Unterkunft. (© picture-alliance, ZB)
In der Interner Link: DDR gab es keine Reisefreiheit. Die Reise in Länder außerhalb des sogenannten Ostblocks gestatteten die Behörden im Regelfall nicht. Das Recht auf Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989.
Mehr dazu: Externer Link: Reisefreiheit (jugendopposition.de)
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Der in West-Berlin beheimatete Sender RIAS unterstand der United States Information Agency und strahlte ab 1946 sein Programm aus. Die Mischung aus Unterhaltung, Musik und Information richtete sich vornehmlich an Interner Link: DDR-Bürger/-innen, die das Programm in der gesamten DDR verfolgen konnten – trotz vielfacher Störaktionen gegen den "Feindsender" (wie die Parteiführung ihn nannte).
Mehr dazu: Externer Link: RIAS (jugendopposition.de)
Ein Reklameschild des Rundfunksenders RIAS (RIAS = Rundfunk im amerikanischen Sektor). (© picture-alliance/dpa)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sozialistische Einheitspartei (SED) entstand 1946 unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht durch die Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich auf das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone. Sie war seit der Gründung der Interner Link: DDR am 7. Oktober 1949 bis zur Revolution von 1989 die herrschende Partei.
Mehr dazu: Externer Link: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) (jugendopposition.de)
Das Parteiemblem der DDR-Staatspartei "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)" – ein Händedruck als Symbol der Vereinigung von SPD und KPD vor einer roten Fahne. (© picture-alliance, akg-images)
Die Sowjetunion wurde nach dem Ende des russischen Reichs (1917) im Dezember 1922 (Unionsvertrag, erste Verfassung 1924) gegründet und war bis zu ihrem endgültigen Zerfall 1991 das politische Zentrum des sogenannten Ostblocks.
Mehr dazu: Externer Link: Sowjetunion (jugendopposition.de)
In der DDR (und anderen sozialistischen Staaten) hatte der Staatsrat die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Er wurde im September 1960 nach dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der Interner Link: DDR, Wilhelm Pieck, gebildet. Erster Staatsratsvorsitzende wurde Walter Ulbricht; 1976 übernahm Erich Honecker dieses höchste staatliche Amt.
Mehr dazu: Externer Link: Staatsrat (jugendopposition.de)
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 vereinbarten die Interner Link: BRD und die Interner Link: DDR, "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander" zu entwickeln. In diesem Vertrag wurde auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in der DDR und der BRD beschlossen. Sie befanden sich in Ost-Berlin und in Bonn.
Mehr dazu: Externer Link: Ständige Vertretungen der BRD und der DDR (hdg.de)
Ein Volkspolizist der DDR steht am 28.6.1984 vor dem mit Rollgittern verschlossenen Eingang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. (© picture-alliance/dpa)
In der Interner Link: DDR durfte nicht jede/-r studieren. Bei der Auswahl spielte die soziale Herkunft und die politische Einstellung eine große Rolle. Die Hochschulpolitik des SED-Regimes verfolgte das Ziel, parteiloyale Bürger/-innen auszubilden und die junge Generation zu disziplinieren.
Mehr dazu: Interner Link: Studieren in der DDR (bpb.de)
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Viele Ostdeutsche sind von der Interner Link: DDR nach Ungarn gereist, um von dort aus in den Westen zu fliehen. Im Mai 1989 begann Ungarn, die Grenzanlage zu Österreich abzubauen. Am 10. September 1989 wurde die Grenze zum Westen für die DDR-Flüchtlinge halbständig geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: Ungarn (jugendopposition.de)
DDR-Flüchtlinge überqueren am 19. August 1989 im Rahmen des Paneuropäischen Picknicks die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen. (© picture-alliance, IMAGNO)
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Wolfgang Vogel war ein Rechtsanwalt in der Interner Link: DDR, der auf das Freikaufen von Häftlingen und den Austausch von Agenten spezialisiert war. Er soll an der Freilassung von 150 Agenten aus dem DDR-Gewahrsam, der Ausreise von ca. 250.000 DDR-Bürger/-innen und dem Freikaufen von mehr als 30.000 Häftlingen beteiligt gewesen sein.
Mehr dazu: Externer Link: Wolfgang Vogel (jugendopposition.de)
Dr. Wolfgang Vogel war ein ostdeutscher Rechtsanwalt und DDR-Unterhändler. (© picture-alliance, Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkskammer war das Parlament der Interner Link: DDR. Faktisch hatte die Volkskammer bis zur Friedlichen Revolution kein politisches Gewicht. Auf administrativer Ebene standen ihr die politisch wichtigeren Gremien (Ministerrat, Interner Link: Staatsrat und Nationaler Verteidigungsrat) gegenüber.
Mehr dazu: Externer Link: Volkskammer (jugendopposition.de)
Die Volkskammer der DDR tagt im Palast der Republik in Berlin. (© picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Die Volkspolizei (Vopo) wurde im Juni 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Sie bestand bis zum Ende der Interner Link: DDR.
Mehr dazu: Externer Link: Volkspolizei (jugendopposition.de)
Am 7. Mai 1989 fanden in der Interner Link: DDR die Kommunalwahlen statt. Bei dieser Wahl stand nur die Interner Link: Nationale Front zur Auswahl – also der Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen. Unabhängige Wahlbeobachter/-innen aus der Bevölkerung konnten bei der Stimmenauswertung deutlich mehr Nein-Stimmen zählen, als am späten Abend des 7. Mai 1989 öffentlich bekannt gegeben wurden.
Mehr dazu: Interner Link: Wahlbetrug (bpb.de)
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Das Schauen von Sendungen des Westfernsehens war in der Interner Link: DDR nicht gesetzlich verboten und wurde geduldet. Durch das Errichten von Antennen- und Kabelgemeinschaften wurde der Empfang von Westprogrammen in den 1980er Jahren verbessert.
Mehr dazu: Interner Link: Westfernsehen (bpb.de)
Eine typische Antennen in der DDR. Diese Stabantennen ermöglichten mit der richtigen Ausrichtung den Empfang von Westfernsehen. (© picture alliance/dpa-Zentralbild)
Einkaufen ging man in der Interner Link: DDR z.B. in der "HO" (Handelsorganisation) oder im "Konsum". Waren des täglichen Grundbedarfs gab es dort besonders günstig zu kaufen, weil sie staatlich subventioniert wurden. Allerdings kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, vor allem bei technischen Geräten oder Importwaren wie Orangen oder Kaffee. Die Versorgungslage war regional stark unterschiedlich. Wer über D-Mark verfügte, konnte in sogenannten Intershops einkaufen, die ein breites Angebot an westlichen Waren anboten.
Mehr Informationen dazu: Konsum (Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit) (bpb.de)
Als Datsche bezeichnet man kleine Gartenhäuser, die oft in Kleingartenanlagen zu finden sind. In der Interner Link: DDR dienten sie vielen als Rückzugsort vom Leben im Wohnblock. Viele bauten in den Gärten ihrer Datschen Obst und Gemüse an, das zum Eigenbedarf verbraucht oder an staatliche Annahmestellen verkauft wurde.
Wolf Biermann (*1936 in Hamburg) ist ein Liedermacher und Schriftsteller. 1953 siedelte er in die Interner Link: DDR über. Er geriet wegen seiner Werke immer mehr mit der DDR-Führung in Konflikt, die ihm ab 1965 ein Auftrittsverbot und Berufsverbot erteilte. Während einer Konzertreise 1976 in der Bundesrepublik Deutschland entzog die DDR-Führung Biermann die Staatsbürgerschaft. Biermann musste daraufhin in Westdeutschland bleiben.
Mehr dazu: Externer Link: Wolf Biermann (jugendopposition.de)
Vom russischen Wort "Subbota" (Samstag) abgeleitetes Wort für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag. Die Nichtteilnahme galt als unkollegiale und negative Einstellung zum sozialistischen Staat.
Die Wohnungsvergabe wurde in der Interner Link: DDR vom Staat geregelt. Um den Wohnraummangel zu bekämpfen, wurde 1973 ein Wohnungsbauprogramm beschlossen. Es wurden große Plattenbausiedlungen errichtet, die für viele Menschen Platz boten. Wollte man in eine der begehrten Neubauwohnungen umziehen, musste man einen Antrag stellen und oft mehrere Jahre warten.
Die Rockband Pankow wurde 1981 gegründet. Aufgrund ihrer provokanten Texte und Auftritte geriet sie immer wieder mit der Interner Link: DDR-Führung in Konflikt. Die Musiker von Pankow gehörten im September 1989 zu den Unterzeichnern der "Resolution von Rockmusikern und Liedermachern", die Reformen in der DDR forderten.
Am 15. Oktober 1950 fanden in der DDR erstmals Wahlen zur Volkskammer sowie zu den Landtagen und Kommunalvertretungen statt. Zur Abstimmung stand eine Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front. Entweder stimmte der Wähler / die Wählerin der gesamten Liste zu, oder er/sie lehnte sie ab. Es war nicht möglich, einzelne Abgeordnete zu wählen. Mehr dazu: Externer Link: Keine Wahl (jugendopposition.de)
Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Demnach hat jeder Mensch das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild öffentlich zu äußern. Niemand darf – sofern er nicht gegen geltendes Recht verstößt – aufgrund seiner Meinung verfolgt werden. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 garantierten dieses Grundrecht formal ebenfalls. In der Praxis wurden aber nicht nur kritische öffentliche Äußerungen, sondern auch private strafrechtlich verfolgt. Mehr dazu: Externer Link: Recht auf freie Meinungsäußerung (jugendopposition.de)
Braunkohle war der wichtigste Energieträger in der Interner Link: DDR. Für die intensive Nutzung wurden seit 1949 mehr als 80.000 Menschen umgesiedelt und zahlreiche Dörfer abgebaggert. 1985 stammten rund 30 Prozent der weltweiten Braunkohle-Produktion aus der DDR. Der Tagebau schaffte viele Arbeitsplätze, führte aber gleichzeitig zu einer hohen Luftverschmutzung, besonders in industriellen Zentren wie Leipzig.
In der DDR waren viele Konsumgüter, etwa Kleidung oder technische Waren, sehr teuer und knapp. Für den Kauf eines Autos musste man beim IFA-Autohandel den Kauf eines PKW beantragen – und dann oft zehn, manchmal auch über 15 Jahre warten. Neben den DDR-Fabrikaten "Trabant" und "Wartburg" wurden auch Importwagen vertrieben, zum Beispiel von Skoda oder Lada.
Das Bildungssystem der DDR hatte neben der Wissensvermittlung auch zum Ziel, junge Menschen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" zu erziehen. Der Zugang zu höherer Bildung sollte nicht von bürgerlichen Privilegien abhängen, sondern auch Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien offen stehen. Eine neue Elite entstand dennoch: Kinder hochrangiger Funktionäre oder Interner Link: SED-naher Eltern wurden z.B. im Bildungssystem bevorzugt. Mehr dazu: Interner Link: Bildung in der DDR (Dossier Bildung) (bpb.de)
In der DDR standen viele Wohnungen und Häuser – vor allem Altbauten – leer, weil notwendige Renovierungsarbeiten aufgrund zu niedriger Mieteinnahmen, fehlender Fachkräfte oder Materialen nicht durchgeführt werden konnten. Einige Menschen umgingen die staatliche Wohnungszuweisung und nutzten diesen Wohnraum illegal, indem sie dort heimlich einzogen. Mehr dazu: Interner Link: Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis (bpb.de)
Während die SED-Führung die existierenden Umweltprobleme leugnete, formierte sich innerhalb der Kirche eine eigenständige Umweltbewegung. Sie organisierte u.a. Demonstrationen und Baumpflanzaktionen, um die Bürger/-innen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch der Kampf gegen die Atomkraft war ein zentrales Anliegen der Naturschützer/-innen. Mehr dazu: Externer Link: Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung (jugendopposition.de)
Zu Zeiten der DDR diente das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg als Haftanstalt der Volkspolizei in Ost-Berlin. Es handelte sich um ein Gefängnis für Männer, in dem auch politische Häftlinge einsaßen. Auch Demonstranten wurden immer wieder in Rummelsburg festgehalten.
Die Umweltbibliothek wurde im September 1986 im Keller der Ost-Berliner Zionsgemeinde gegründet. Die Mitglieder befassten sich nicht nur mit dem Thema Umwelt , sondern auch mit weltanschaulichen und politischen Fragestellungen. Sie druckten und verbreiteten eine Reihe von oppositionellen Publikationen und systemkritischen Informationsblättern. Mehr dazu: Externer Link: Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek (jugendopposition.de)
Der Alexanderplatz in Ost-Berlin war ein wichtiger Schauplatz für Demonstrationen gegen das SED-Regime. Ab Sommer 1989 wurde er zu einem regelmäßigen Treffpunkt der Demonstrationen gegen den Wahlbetrug. Am 4. November 1989 fand auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration gegen das politische System der DDR statt.
Michael Arnold (*1964 in Meißen) wurde 1987 als Medizinstudent Mitglied der "Initiativgruppe Leben". Er war Mitbegründer und Sprecher des Neuen Forums und organisierte 1988/89 mehrere öffentliche Protestaktionen in Leipzig, weshalb er kurzzeitig inhaftiert und exmatrikuliert wurde. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Sächsischen Landtags. Mehr dazu: Externer Link: Michael Arnold (jugendopposition.de)
Hans-Dietrich Genscher (*1927 in Reideburg bei Halle) war ein deutscher Politiker (FDP) und insgesamt 23 Jahre lang Bundesminister sowie Vizekanzler der BRD. Am 30. September 1989 verkündigte er vom Balkon der Botschaft in Prag die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer/-innen. Als Außenminister setzte sich Genscher für die Wiedervereinigung Deutschlands ein.
Die Zeitung "Junge Welt" (JW) wurde erstmals am 12. Februar 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegeben, zunächst wöchentlich, ab März 1950 täglich. Ab dem 12. November 1947 fungierte sie als Organ des Zentralrats der SED-Jugendorganisation FDJ . Mit 1,4 Millionen Exemplaren war sie die Tageszeitung mit der höchsten Auflage in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: Junge Welt (JW) (jugendopposition.de)
Das "Neue Deutschland" (ND) war eine Tageszeitung und das Zentralorgan der SED. Die Zeitung erschien erstmals am 23. April 1946. Viele Artikel wurden bis Dezember 1989 von sämtlichen anderen Tageszeitungen der DDR aus dem ND übernommen. Mehr dazu: Externer Link: Neues Deutschland (ND) (jugendopposition.de)
Die FDJ war die Jugendorganisation der SED. Fast alle Schüler/-innen folgten dem parallel zum Schulsystem angelegten Modell der Mitgliedschaft: erst Jungpionier, dann Thälmannpionier, mit 14 folgte der Beitritt zur FDJ. Wer nicht Mitglied war, musste mit Nachteilen rechnen – etwa bei der Vergabe von Studienplätzen. Mehr dazu: Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ) (jugendopposition.de)
Nach dem Bekanntwerden des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fanden monatliche Proteste auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Am 7. September 1989 brachten die Demonstranten ihre Verärgerung über das SED-Regime mit Trillerpfeifen zum Ausdruck, gemäß dem Motto "Wir pfeifen auf den Wahlbetrug". Mehr dazu: Externer Link: Proteste gegen den Wahlbetrug (jugendopposition.de)
Der Schutz der Natur stand bereits seit 1968 in der Verfassung der DDR. Die fortschreitende Industrialisierung führte jedoch zu massiven ökologischen Problemen, insbesondere in den großen Industriezentren – zum Beispiel durch die Gewinnung von Braunkohle und die Chemie-Industrie. Innerhalb der Kirche formierte sich eine Umweltbewegung, die die Umweltzerstörung in der DDR anprangerte. Mehr dazu: Externer Link: Umweltzerstörung (hdg.de/lemo)
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Umwelt. Mehr dazu: Externer Link: Arbeitsgruppe Umweltschutz (jugendopposition.de)
Als "Westpakete" bezeichnete man Postsendungen, die Leute aus der BRD an Freunde und Verwandte in der DDR schickten. Sie enthielten Geschenke wie Kleidung, Süßigkeiten oder Kaffee. Handelsware oder Geld durfte nicht verschickt werden. Auch Tonträger, Bücher oder Zeitschriften zu verschicken war verboten. Die "Westpakete“ sind zwar bekannter, aber Geschenke wurden auch in die andere Richtung – von Ost nach West – verschickt. Und auch die BRD kontrollierte die Post teilweise. Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html
Als "Schmutz- und Schundliteratur" galten in der DDR pornografische Inhalte, vermeintliche Kriegsverherrlichung oder Texte, die die DDR oder den Sozialismus verunglimpften. Das heimliche Lesen oder der Schmuggel der verbotenen Literatur wurde teilweise mit Gefängnisstrafen geahndet. Auch in der BRD gab es seit 1953 ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.
Der Sozialismus ist eine politische Weltanschauung, die darauf abzielt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sind. Der Sozialismus gilt als eine Vorstufe zum Interner Link: Kommunismus. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148315
Der Kommunismus ist eine politische Weltanschauung, die eine klassenlose Gesellschaft anstrebt. Grundlegend dafür ist die Abschaffung des privaten Eigentums. Auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte als Vorstufe der Interner Link: Sozialismus verwirklicht werden. Mehr dazu: https://www.bpb.de/161319
(1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur ungehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet.
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
"Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen."
(Aus der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974) Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Die Interner Link: DDR hatte während ihres Bestehens drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Die erste Verfassung von 1949 lehnte sich eng an die der Weimarer Reichsverfassung an und enthielt umfangreiche Grundrechte. Die Verfassung von 1968 verankerte den Sozialismus als Grundsatz und garantierte weiterhin viele Grundrechte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht und das Verbot einer Pressezensur. Mit den Änderungen von 1974 wurde die Freundschaft zur Sowjetunion betont. Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/verfassungddr
Unabhängig vom Interner Link: Studienfach mussten alle Studierenden in der Interner Link: DDR ein "Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium" in Interner Link: Marxismus-Leninismus absolvieren. Politische Propaganda und wissenschaftliche Pflichtlektüre wurden miteinander verbunden. Zu Beginn jedes Semesters gab es die sogenannte "Rote Woche", in der Studierende mit Veranstaltungen zum Marxismus-Leninismus politisch indoktriniert werden sollten.
Der "Marxismus-Leninismus" war die Staatsideologie der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Staaten wie der Interner Link: DDR. Im Zentrum stand die Annahme, dass auf den Kapitalismus notwendig der Interner Link: Sozialismus und Interner Link: Kommunismus folgen müssen, um die Arbeiterklasse zu befreien. In der DDR war Interner Link: ML ein verbindliches Interner Link: Studienfach. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148578
Die JP, eigentlich "Pionierorganisation Ernst Thälmann" war in der Interner Link: DDR die staatliche Massenorganisation für Kinder. Sie diente als ideologische Kaderschmiede, in der Kinder im Sinne der Interner Link: SED erzogen wurden. Fast alle Schüler/-innen gehörten ihr an. Die Pioniere waren unterteilt in die Jungpioniere und Thälmannpioniere. Ab dem 14. Lebensjahr folgte der Beitritt zur Interner Link: FDJ.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Fabriken, Geld) überproportionale Bedeutung hat. Grundlegend dafür sind der Schutz von Privateigentum sowie ein von staatlichen Eingriffen weitgehend freies Wirtschaftssystem. Der Markt wird demnach durch Angebot und Nachfrage gesteuert.
Mehr dazu: Interner Link: http://m.bpb.de
Am 19. September 1989 beantragte das Neue Forum die Zulassung als Vereinigung. Das Interner Link: DDR-Innenministerium lehnte den Antrag zwei Tage später ab und bezeichnete die Bewegung als "staatsfeindliche Plattform". Mit einem Handzettel forderten die Initiatoren (darunter Michael Interner Link: Arnold) die Bevölkerung zur Solidarität auf.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/kathrin2209
Die Arbeitsgruppe Umweltschutz wurde 1981 in Leipzig gegründet. Sie gab die Zeitschrift "Streiflichter" heraus, in der neben ökologischen auch gesellschaftspolitische Themen behandelt wurden. Zudem organisierten die Mitglieder zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Interner Link: Umwelt.
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148350
Christian Führer (1943-2014) war ein evangelischer Pfarrer und Mitbegründer der Interner Link: Friedensgebete in der Nikolaikirche in Leipzig.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148050
Die Moritzbastei ist eine historische Befestigungsanlage in Interner Link: Leipzig. Zwischen 1974 und 1982 wurde sie in über 150.000 Arbeitsstunden von Studierenden zu einem Studentenklub ausgebaut. In den 1980er Jahren wurde sie von der Interner Link: FDJ betrieben. Auch heute ist sie ein Kulturzentrum.
Mehr dazu: Externer Link: http://kurz.bpb.de/m6b
Angela Dorothea Kasner heißt heute Angela Merkel und ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie Physik in Leipzig, bevor sie für ihre Promotion nach Ost-Berlin zog. Sie war aktives Mitglied der Interner Link: FDJ. 1989 trat sie der Partei Interner Link: Demokratischer Aufbruch bei, deren Pressesprecherin sie 1990 wurde.
Mehr zu Angela Merkels Biografie: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/biografie/angela-merkel.html
Leipzig wurde im Herbst 1989 zu einer der wichtigsten Städte für die friedliche Revolution. Hier begannen die Interner Link: Friedensgebete und die Interner Link: Montagsdemonstrationen. Außerdem formierten sich hier Bürgerrechtsbewegungen wie das Interner Link: Neue Forum.
Mehr über wichtige Orte der DDR-Opposition erfährst du hier: Externer Link: www.jugendopposition.de/Orte/
Erich Honecker (1912-1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der Interner Link: SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrats.
Honecker war ab 1930 Mitglied der KPD und leistete Widerstand im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er die Jugendorganisation Interner Link: FDJ auf. Nach der Wiedervereinigung wurden Ermittlungen gegen Honecker aufgenommen, die 1993 eingestellt wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148080
Bei den sogenannten Zuführungen wurden Personen ohne weitere Begründung (und ohne Rechtsgrundlage) festgenommen. Nach einigen Stunden Verhören oder kurzen Belehrungen endeten sie in der Regel mit der Freilassung. Sie konnten aber auch in einer formellen Interner Link: Verhaftung münden.
Mehr dazu: Externer Link: http://www.jugendopposition.de
Das SED-Regime verfolgte politische Oppositionelle wegen vermeintlicher Widerstandshandlungen, Fluchtversuchen oder Fluchthilfe. Für die DDR-Regierung waren diese Personen Kriminelle, die sich gegen die "antifaschistisch-demokratische" Ordnung richteten. Schätzungen nach waren etwa 200.000 bis 250.000 Personen in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Tausende Häftlinge wurden zwischen 1963 und 1989 von der Bundesrepublik freigekauft – die Gefangenen durften ausreisen, im Gegenzug erhielt die Interner Link: DDR Warenlieferungen im Wert von mehr als drei Milliarden DM.
Für die Interner Link: DDR wurde 1949 mit "Auferstanden aus Ruinen" eine Nationalhymne geschaffen. Ein Auszug aus der Nationalhymne:
"Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muss uns doch gelingen, Dass die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint."
Wegen der Textzeile "Deutschland, einig Vaterland" wurde bei offiziellen Anlässen seit Anfang der 1970er Jahre nur noch deren Melodie gespielt.
Mehr Infos dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/druckgut-nationalhymne-der-ddr.html
"Die Internationale" ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung und nahm in der DDR und anderen sozialistischen Staaten einen wichtigen Platz neben der Interner Link: Nationalhymne ein. Im Refrain heißt es:
"Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Am 7. Oktober 1989 wurde mit großen Festumzügen, Aufmärschen und Volksfesten das 40-jährige Bestehen der Interner Link: DDR gefeiert. Staatsgäste aus aller Welt, u.a. Michail Interner Link: Gorbatschow, nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die politische Krise im Land wurde ausgeblendet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145459
Die Kommunistische Partei Deutschlands wurde am 1. Januar 1919 als Zusammenschluss mehrerer linksrevolutionärer Gruppierungen unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegründet. 1946 erfolgte in der Sowjetischen Besatzungszone (Interner Link: SBZ) die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur Interner Link: SED. In der Bundesrepublik wurde die KPD 1956 verboten.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148456
Michail Sergejewitsch Gorbatschow war Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Interner Link: Sowjetunion (KPdSU) und stieß 1985 umfassende politische und wirtschaftliche Interner Link: Reformen an. Gorbatschows Außenpolitik war geprägt von einer Taktik der Abrüstung und Annäherung an den Westen. 1990 stimmte er der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Quelle/Link: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148055/
Unter den Schlagworten "Glasnost" (Öffentlichkeit/Transparenz) und "Perestroika" (Umbau) leitete Michail Interner Link: Gorbatschow 1985 politische und wirtschaftliche Reformen in der Interner Link: Sowjetunion ein. Die Gesellschaft sollte unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und unter Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion modernisiert werden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148407
Das Zentralkomitee war das oberste Gremium der Interner Link: SED. Es wurde auf den SED-Parteitagen gewählt. Die Sekretäre des ZK betreuten etwa 40 verschiedene Abteilungen und konnten auch den Mitgliedern des Ministerrats Befehle erteilen – sie kontrollierten also sowohl die Partei als auch die Regierung. Das ZK wählte auch die oberste Führungsriege der DDR, das Interner Link: Politbüro. Der Erste Sekretär war bis zum Oktober 1989 Interner Link: Erich Honecker. Auf ihn folgte Egon Krenz.
Mehr dazu: Interner Link: http://www.bpb.de/18500/zentralkomitee-zk
In der Nacht zum 4. Juni 1989 wurden politische und soziale Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian An Men) in Peking von der chinesischen Volksbefreiungsarmee gewaltsam niedergeschlagen. In der Folge protestierten Menschen weltweit gegen das Massaker. Bis heute ist nicht geklärt, ob mehrere Hundert oder einige Tausend Menschen getötet wurden.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/185616
Der Ministerrat war formal laut DDR-Verfassung die Regierung der Interner Link: DDR und bestand 1989 aus 39 Mitgliedern (Ministern), die alle der Interner Link: SED angehörten.Die eigentliche Macht hatte in der DDR aber das Interner Link: Politbüro des Interner Link: Zentralkomitees der SED inne, denn die Sekretäre konnten den Ministern Befehle erteilen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148601
Siegbert Schefke war aktiver DDR-Bürgerrechtler. Als Journalist und Kameramann dokumentierte er Ende der 1980er Jahre die Umweltzerstörung in der Interner Link: DDR. Im Herbst 1989 lieferte er gemeinsam mit Aram Radomski die ersten Fernsehbilder der Montagsdemonstrationen in Interner Link: Leipzig, die im Anschluss in der Interner Link: Tagesschau übertragen wurden.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148159/
Mike Dietrich ist ein DJ, Produzent und Musiker aus Leipzig. Ende der 1980er Jahre gründete er in Leipzig das Hiphop-Projekt B-Side the Norm.
Inspiriert vom amerikanischen HipHop entwickelte sich in der DDR in den 1980er Jahren eine kleine Szene aus Breakdancern, Rappern, Graffitikünstlern und DJs. HipHop war nicht verboten, zum Teil wurde die Jugendkultur aber vom Staat kontrolliert.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145417
Der Film "Beat Street" läuft 1985 in den Kinos der DDR. Für viele Jugendliche in der DDR ist es der Startschuss, sich mit Grafitti und Breakdance zu beschäftigen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.mdr.de/zeitreise/hip-hop-in-der-ddr100.html
Die Rockband "Silly" wurde 1978 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Frontfrau, Tamara Danz, war eine der berühmtesten Sängerinnen der DDR. 1985 verboten die DDR-Zensoren das Album "Zwischen unbefahrenen Gleisen", welches später in bereinigter Version erschien. Trotz Zensur versuchte die Band immer wieder, politische Andeutungen in ihren Texten unterzubringen.
1975 in Ost-Berlin gegründet, gehörte "Karat" zu den erfolgreichsten Rockbands in der DDR. Ihre Musik bewegte sich zwischen Progressive-Rock, Pop und Schlager. Ihr bekanntestes Lied ist "Über sieben Brücken musst du gehen". Zuerst waren die Texte noch komödiantisch, später wandte sich die Band ernsteren Texten zu. Trotz Vorwürfen, politisch konform zu sein, enthielten einige Songs auch kritische Passagen, z.B. der Song "Albatros" (1979).
Das 1973 gegründete kulturpolitische Kontrollgremium der DDR-Regierung überwachte die Einhaltung von politischen Richtlinien in der Unterhaltungskunst. Kritische Stimmen wurden unterdrückt, politisch konforme Künstlerinnen und Künstler bevorzugt. Das von der SED eingesetzte Komitee entschied unter anderem, wer zu Veranstaltungen und Tourneen ins westliche Ausland fahren durfte.
Egon Krenz (*1937 in Kolberg/Pommern), ehemaliger SED-Politiker, löste am 18.10.1989 Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und als Vorsitzender des Staatsrates ab. Am 3.12.1989 trat schließlich das gesamte ZK mit Krenz als Generalsekretär zurück. 1995 wurde er wegen der Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.
Zum 40. Jahrestag der Interner Link: DDR demonstrierten Tausende Berliner/innen gegen das Interner Link: SED-Regime. Die Interner Link: Volkspolizei und Spezialeinheiten der Interner Link: Stasi gingen brutal gegen die friedlichen Interner Link: Demonstranten vor. Männer und Frauen wurden verprügelt, LKW transportierten Interner Link: Verhaftete ab, die Volkspolizei setzte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge ein. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zog weitere Demonstrationen und Mahnwachen für die Verhafteten in der ganzen DDR nach sich.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145462
Günter Schabowski war Interner Link: SED-Funktionär und Mitglied im Interner Link: Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Interner Link: DDR. Am Abend des 9. November 1989 verkündete er im Rahmen einer Pressekonferenz (nicht ganz halbständig) eine neue Ausreise-Regelung für DDR-Bürger/-innen. Daraufhin strömten tausende Ost-Berliner/-innen an die Grenze. Noch in derselben Nacht wurden alle Grenzübergänge geöffnet.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148156
Kurt Masur (1927-2015) war Dirigent und Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Interner Link: Leipzig. Als einer der Interner Link: Leipziger Sechs veröffentlichte er am 9. Oktober 1989 einen Aufruf zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen.
Der Leipziger Stadtfunk war ein Netz von Lautsprecheranlagen, die zwischen 1945 und 1998 an öffentlichen Gebäuden und Plätzen in Leipzig installiert waren. Genutzt wurde er vor allem für Propaganda und Information. Am 9. Oktober 1989 wurde der Aufruf der Interner Link: Leipziger Sechs über den Stadtfunk verbreitet. Nach der Wiedervereinigung übernahm Radio Leipzig das Programm.
Die Leipziger Sechs waren eine Gruppe von sechs Männern, die am 9. Oktober gemeinsam einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit bei den Interner Link: Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Interner Link: Stadtfunk verbreiteten. Darunter waren Kulturschaffende sowie Mitglieder der SED-Bezirksleitung. Sie forderten beide Seiten – Interner Link: Demonstranten und Interner Link: Volkspolizei - zur Besonnenheit auf. Der Aufruf soll maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Demonstrationen friedlich verliefen.
Im Sommer und Herbst 1989 formierten sich in der DDR zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen, die das Ziel hatten, demokratische Reformen in der DDR anzustoßen. Sie forderten die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen. Im Rahmen z.B. der Montagsdemonstration versammelten sich die verschiedenen Oppositionsgruppen und verliehen ihren Forderungen Nachdruck.
Mehr dazu: Interner Link: bpb.de/295940
Der Nationale Verteidigungsrat (NVR) der Interner Link: DDR wurde im Jahr 1960 gegründet und war das wichtigste Organ für sicherheitspolitische Fragen. Die Personalunion an der Spitze von Interner Link: Politbüro, Interner Link: Staatsrat und Verteidigungsrat hob die theoretische Trennung der Entscheidungsgremien in der Praxis weitgehend auf.
Mehr Infos: Externer Link: https://www.bstu.de/mfs-lexikon
Das Telefonnetz der Interner Link: DDR war schlecht ausgebaut. Nicht einmal 15 Prozent der privaten Haushalte hatten einen Telefonanschluss. Viele nutzten deshalb Telefonzellen oder öffentliche Telefone in den Postämtern. In der Stadt – insbesondere in Ost-Berlin – war es leichter, einen Telefonanschluss zu bekommen. Telefongespräche aus der DDR in die Interner Link: BRD mussten angemeldet werden.
"Der Morgen" war eine Tageszeitung in der Interner Link: DDR und das Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (Interner Link: LDPD). Als erste Zeitung der DDR druckte "Der Morgen" 1989 Beiträge und Leserbriefe, die sich kritisch mit dem Interner Link: SED-Regime auseinandersetzten.
Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) wurde 1945 gegründet. Ab 1949 war sie in die Nationale Interner Link: Front eingebunden. Zentralorgan der LDPD war die Tageszeitung "Der Interner Link: Morgen".
Mehr dazu: https://www.jugendopposition.de/148413
Rolf Henrich ist Jurist und Schriftsteller. Ab 1964 war er Mitglied der Interner Link: SED, setzte sich später aber zunehmend kritisch mit der Partei und dem Interner Link: Sozialismus auseinander. 1989 veröffentlichte er das Buch "Der vormundschaftliche Staat", weshalb er aus dem Anwaltskollegium und der SED ausgeschlossen wurde. Er war Mitbegründer des Interner Link: Neuen Forums und trat 1990 in die SPD ein.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Friedhelm Rausch war von 1986 bis 1989 Präsident der Interner Link: Volkspolizei Berlin und damit unter anderem verantwortlich für die Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober gegen Demonstranten. Beim ersten sogenannten "Sonntagsgespräch" vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, am 29.10.1989, entschuldigte er sich dafür.
Rainer Eppelmann ist ein evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler. Von 1979 bis 1987 organisierte er Interner Link: Bluesmessen in Berlin. Er stand unter permanentem Druck der Interner Link: Stasi. Er war Mitbegründer und später Vorsitzender des Interner Link: DA, Abgeordneter der Interner Link: Volkskammer und später des Deutschen Bundestages. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die Bluesmessen in Berlin wurden von Interner Link: Rainer Eppelmann initiiert und von 1979 bis 1987 in Interner Link: Kirchen veranstaltet. Als Gottesdienste unterlagen sie nicht der staatlichen Anmeldepflicht. Sie entwickelten sich zu wichtigen Orten für oppositionelle Jugendliche in der DDR. Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die abendliche DDR-TV-Nachrichtensendung ist das Sprachrohr der Interner Link: SED. Über was wie berichtet wird, bestimmt die Partei. Mitte Oktober 1989 beginnt die Aktuelle Kamera aber unabhängig und kritisch zu berichten und lässt auch Bürgerrechtler und Demonstrierende zu Wort kommen.
Mehr dazu: Externer Link: www.mdr.de/zeitreise/aktuelle-kamera-nachrichten-im-ddr-fernsehen-100.html
Der FDGB war der Dachverband der Gewerkschaften in der Interner Link: DDR. Wie alle Massenorganisationen in der DDR war auch der FDGB zentralistisch von der Interner Link: Partei aus organisiert. 1989 hatte der FDGB ungefähr 9,5 Millionen Mitglieder.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/
Die NDPD war eine der Interner Link: Blockparteien in der Interner Link: DDR. Sie wurde 1948 mit dem Ziel gegründet, ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP in das staatssozialistische System der DDR zu integrieren Nach 1990 ging die NDPD in die FDP über.
Mehr dazu: Externer Link: www.bpb.de/
Harry Tisch war ein SED-Funktionär mit hohen Rang. Bereits 1963 wurde er Mitglied des Interner Link: ZK und 1975 Mitglied des Interner Link: Politbüros der Interner Link: SED. Von 1975 bis 1989 war er Vorsitzender des Interner Link: FDGB. Im November 1989 trat er als Vorsitzender des FDGB zurück und schied aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aus. Ende des Jahres 1989 wurde er aus der SED und dem FDGB ausgeschlossen.
Die Christlich-Demokratische Union (CDU) wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei gegründet. In der Interner Link: DDR wurde die Ost-CDU zu einer Blockpartei innerhalb der SED-dominierten Interner Link: Nationalen Front.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148367
Transitstrecken waren die Straßen, die durch das Gebiet der Interner Link: DDR führten. Neben der Verbindung zwischen der BRD und West-Berlin durfte auch der Transitverkehr nach Polen und Tschechoslowakei nur über diese wenigen Strecken erfolgen.
Die Berliner Mauer war die Sperranlage, die zwischen 1961 und 1989 West- und Ostberlin trennte. Sie war 156,40 km lang und bestand aus mehreren Teilen: zwischen zwei Mauern befanden sich u. a. ein 15 bis 150 Meter breiter "Todesstreifen" und ein Sperrgraben. Zur Bewachung waren Beobachtungstürme und eine Lichttrasse installiert. Mindestens 140 Menschen kamen an der Berliner Mauer oder im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Die Mauer wurde zum Symbol für die deutsche Teilung.
Eine Karte und Fotos des Grenzverlaufs: Externer Link: http://www.chronik-der-mauer.de/166398
Seit 1972 benötigten BRD-Bürger mit Wohnsitz in Westberlin einen "Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums der DDR", um als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt einzureisen. BRD-Bürger, die nicht in West-Berlin lebten, konnten direkt an den Grenzübergangsstellen ein Tagesvisum beantragen. Mehrtagesaufenthalte waren nur in besonderen Fällen möglich. Für DDR-Bürger (und damit auch Ost-Berliner) gab es kaum eine Möglichkeit, in den Westen zu reisen.
Der Prenzlauer Berg in Ostberlin entwickelte sich in den 1970 und 1980er Jahren zu einem Zentrum der oppositionellen Szene, die sich zum Beispiel in Wohnungen oder Kirchengemeinden traf. Als Ort der DDR-Opposition und wegen seiner Nähe zur Interner Link: Mauer zu Westberlin war die Überwachungsdichte der Stasi im Prenzlauer Berg besonders hoch.
Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten im Prenzlauer Berg: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/stasiopposition/
Die Informationszeitschrift der Umweltbibliothek erschien seit 1987 alle ein bis zwei Monate und behandelte Themen wie Umweltschutz, Menschen- und Bürgerrechte, die Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen, die in den staatlichen Medien nicht oder nur unzureichend behandelt wurden. 1989 wurde aus den Umweltblättern der telegraph, in dem über Friedliche Revolution berichtet wurde. Mehr Infos: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145467
Fritz Kühn war Mitglied der Interner Link: Umweltbibliothek (UB) und betreute dort die Druckmaschinen. In den Kellerräumen der UB druckte er die Dokumentation "Wahlfall", in der erstmals die Fälschung der Interner Link: Kommunalwahlen in der Interner Link: DDR dokumentiert und nachgewiesen werden konnte.
Die Bibliotheksfacharbeiterin war am Aufbau und der Betreuung der Interner Link: Umweltbibliothek beteiligt, in der unter anderem in der Interner Link: DDR verbotene Literatur gesammelt wurde. Mehr zur Person: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/145511
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Am 9. November 1989 verlas Günter Interner Link: Schabowski, Mitglied des Interner Link: Politbüros, um 18 Uhr im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen könnten, antwortete Schabowski vorschnell "Sofort, unverzüglich". Die Regelung sollte eigentlich erst am 10. November in Kraft treten.
Die Pressekonferenz wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Im Laufe des Abends stürmten tausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen und forderten die sofortige Öffnung.
Die Pressekonferenz zum Nachschauen: Externer Link: http://kurz.bpb.de/schabowski
Die Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in Berlin am 09.11.1989. (© picture-alliance)
Christa Wolf (1929-2011) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie trat 1949 in die Interner Link: SED ein und studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Von 1963-1967 war sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED, schied aber nach einer kritischen Rede aus dem Gremium aus. 1989 trat sie aus der Partei aus und forderte demokratische Reformen.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.jugendopposition.de/148211
Nach der Pressekonferenz von Günter Interner Link: Schabowski versammelten sich am 9. November 1989 tausende DDR-Bürger am Grenzübergang Interner Link: Bornholmer Straße, um nach West-Berlin auszureisen. Ab 21:30 Uhr wurden einigen besonders auffälligen DDR-Bürgern die Ausreise gewährt. Ihre Ausweise wurden dabei unbemerkt ungültig gestempelt, um ihnen eine spätere Wiedereinreise zu verwehren.
Die drei Meter hohe und breite Mauer am Brandenburger Tor sollte die Endgültigkeit der deutschen Teilung symbolisieren. Am Abend des 9. November 1989 wurde sie dagegen zum Symbol für die Überwindung dieser Teilung. In der Nacht und in den folgenden Tagen feierten Tausende Berliner/-innen den Fall der Berliner Mauer.
Die Berliner Interner Link: Mauer (Gesamtlänge 156, 4 km) bestand im Jahr 1989 aus einem zwischen 15 und mehr als 150 Meter breiten Todesstreifen mit einer zwei bis drei Meter hohen "Hinterlandmauer" oder einem "Hinterlandsperrzaun". An mehreren Kontrollposten waren Grenztruppen stationiert, um die Anlage zu überwachen und Fluchtversuche von DDR-Bürgern zu verhindern.
Mehr dazu: Externer Link: https://www.hdg.de/lemo/
Schon kurz nach Bekanntgabe der Öffnung der Grenzen am Abend des 9. November 1989 begannen Menschen, Teile aus der Berliner Interner Link: Mauer herausklopfen und einzelne Stücke mitzunehmen. Man bezeichnet sie als "Mauerspechte".
Friedrich Dickel (1913-1993) war von 1963 bis 1989 Innenminister der Interner Link: DDR und damit auch Chef der Interner Link: Volkspolizei.
Helmut Kohl (1930-2017) war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weil die Wiedervereinigung der Interner Link: BRD und Interner Link: DDR in seine Amtszeit fiel, wird er häufig als "Kanzler der Einheit" bezeichnet.
Willy Brandt (1913-1992) war ein deutscher Politiker (SPD) und von 1969-1974 Bundeskanzler der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland. Mit einer "neuen Ostpolitik" setzte er sich für den Dialog mit den Staaten des sogenannten Ostblocks ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis.
Walter Momper (geboren 1945) ist ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister in Berlin (West) und von 2001 bis 2011 Präsident des Abgeordnetenhauses in Berlin.
Das Sperrgebiet war von 1954 bis 1989 ein etwa 500 Meter breiter Streifen entlang der innerdeutschen Grenze. Die etwa 200.000 Menschen, die in dieser Sperrzone lebten, brauchten Sonderausweise und waren im Alltag enorm eingeschränkt. Andere DDR-Bürger hatten keinen Zutritt. Direkt an der Grenze befand sich der sogenannte "Todesstreifen", der mit Schussanlagen gesichert und vermint war. Offiziell aufgehoben wurden alle Sperrgebiete an der Grenze am 12. November 1989.
Schon ab 1970 zahlte die Bundesrepublik Besuchern aus der Interner Link: DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld. Noch in der Nacht zum 10. November 1989 ordnete der West-Berliner Bürgermeister Walter Interner Link: Momper die Auszahlung von 100 D-Mark Begrüßungsgeld an einreisende DDR-Bürger durch Banken und Sparkassen an. Die Regelung wurde in den darauffolgenden Tagen in der gesamten Interner Link: Bundesrepublik übernommen.
Die Oberbaumbrücke führt über die Spree und verbindet die Berliner Stadtteile Kreuzberg (bis 1990 West-Berlin) und Friedrichshain (bis 1990 Ost-Berlin). Heute beginnt dort die East-Side-Gallery.
Der Kurfürstendamm, umgangssprachlich auch Ku’damm genannt, gehört zu den Haupteinkaufsstraßen in Berlin. Am 9. und 10. November trafen sich Zehntausende Ost- und West-Berliner auf dem Ku’damm.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-25T00:00:00 | 2019-08-12T00:00:00 | 2022-01-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/mauerfall-und-ich/295115/glossar/ | Von ADN über SED bis Westfernsehen – kurze Erklärungen zu wichtigen Begriffen, Institutionen und Personen in der Geschichte "Der Mauerfall und ich". | [
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Chronik: 9. – 22. September 2016 | Russland-Analysen | bpb.de | 9.9.2016 Präsident Wladimir Putin enthebt Pawel Astachow seines Amtes als Bevollmächtigten des Präsidenten für die Rechte der Kinder. 9.9.2016 US-Außenminister John Kerry und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow führen in Genf Gespräche über die Syrienkrise. Beide äußern sich besorgt über den jüngsten nordkoreanischen Atomversuch. 9.9.2016 In Moskau nimmt der FSB Dmitrij Sachartschenko fest, einen hohen Beamten der Moskauer Innenbehörden, der für die Bekämpfung der Korruption zuständig war. Es wird ein Strafverfahren wegen Erhalts von Bestechungsgeldern und Amtsmissbrauch eingeleitet, nachdem bei einer Durchsuchung Bargeld im Wert von rund 120 Millionen US-Dollar gefunden wurde. 9.9.2016 In Moskau führen Wladislaw Surkow, Berater des Präsidenten Russlands, und Martin Sajdik, der Sondergesandte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in der Uktaine und der Ukraine-Kontaktgruppe, Gespräche über die Lage in der Ostukraine. Tags zuvor hatte sich Sajdik auch mit Außenminister Lawrow getroffen 10.9.2016 US-Außenminister John Kerry und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow erreichen bei ihren Genfer Gesprächen ein Übereinkommen über einen Plan für eine Waffenruhe bei den Kampfhandlungen in Syrien. 10.9.2016 Der russische Regisseur Andrej Kontschalowskij erhält bei den 73. Internationalen Filmfestspielen in Venedig den Silbernen Löwen für seinen Film "Raj" ("Paradies"). 11.9.2016 In Moskau geht die fünftägige Rüstungsmesse "Army 2016" zu Ende. Sie verzeichnet eine Besucherzahl von rund 500.000. 12.9.2016 Im Südchinesischen Meer beginnen Russland und China ein gemeinsames einwöchiges Manöver, in dem die Verteidigung von Inseln geübt wird. An der Übung nehmen Kriegsschiffe, U-Booten, Hubschrauber und Amphibien-Einheiten teil. In der Region befindet sich China im Streit mit anderen Anrainerstaaten über den Besitz der Spratly-Inseln. 12.9.2016 Mehrere Tausend Muslime begehen in Moskau in der Hauptmoschee das islamische Opferfest. 12.9.2016 In der Nacht zum 12. Septemberüberfallen zwei Unbekannte Pawel Lobkow den Moderator des Fernsehkanals Doschd, schlagen ihn zusammen und rauben ihn aus. Lobkow selbst sieht in dem Überfall keinen Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit. 13.9.2016 Das russische Justizministerium registriert die UmweltschutzorganisationÖkologische Wache im Nordkaukasus als "Ausländischen Agenten". 13.9.2016 Die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) gibt bekannt, dass die russische Hackergruppe"Fancy Bear" in eine Datenbank der Organisation eingedrungen sei und vertrauliche medizinische Informationen von mehreren US-amerikanischen Athleten veröffentlicht habe, unter anderem Ausnahmeerlaubnisse für medizinische Präparate (Therapeutic Use Exemptions, TEU). Darunter sind Daten der Tennisspielerinnen Venus und Serena Williams sowie der Turnerin Simone Biles. Die Hackgergruppe beschuldigt die Athleten des Dopings. 14.9.2016 Der russische Außenminister Sergej Lawrow und sein US-amerikanischer Amtskollege John Kerry einigen sich auf eine Verlängerung der Waffenruhe in Syrien um 48 Stunden. 14.9.2016 Die Klage von Alexej Nawalnyj gegen die Rundfunk und Fernsehanstalt VGTRK, deren Stellvertretenden Direktor Dmitrij Kiseljow und den Journalisten Jewgenij Popow wird vom Moskauer Gericht auch in der Berufung abgewiesen. Nawalnyj hatte die Klage angestrengt, weil der Sender ihn in der Ankündigung zu dem Dokumentarfilm "Effekt Braudera" ("Der Browder-Effekt") als Geheimagenten dargestellt hatte. 15.9.2016 Der Europäische Rat gibt offiziell bekannt, dass die Europäische Union individuelle Sanktionen gegen Vertraute des russischen Präsidenten Wladimir Putin und prorussische Separatisten um sechs Monate verlängert. Betroffen sind 146 Personen und 37 Organisationen. Die EU wirft ihnen "Handlungen gegen die territoriale Unversehrtheit, die Souveränität und die Unabhängigkeit der Ukraine" vor. 15.9.2016 Die russische Hackergruppe"Fancy Bear" veröffentlicht abermals Daten aus dem System der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA). Die Daten enthalten weitere Details über medizinische Berichte von 25 Athleten. 16.9.2016 Auf Bitten der USA und Russlands wird eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsratsüber die Waffenruhe im Syrien-Konflikt von der UN kurzfristig abgesagt. Grund für die Absage ist ein Streit der beiden Parteien bezüglich des Wunsches der USA nach Geheimhaltung von Details der zwischen beiden Seiten vereinbarten Waffenruhe. 16.9.2016 Der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Walerij Gerasimow führt mit seinem türkischen Amtskollegen in Ankara Gespräche über den Syrien-Konflikt und kritisiert dabei die Militärintervention "Schutzschild Euphrat" der türkischen Armee im Norden Syriens als unrechtmäßig. 16.9.2016 In der kirgisischen Hauptstadt Bischkek findet das Gipfeltreffen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) statt. Hauptthemen des Treffens sind der Kampf gegen den Terrorismus und die multilaterale Zusammenarbeit. 17.9.2016 Nach einem laut den USA versehentlichen Angriff von US-Kampfflugzeugen auf syrische Armee-Einheiten mit 62 Toten beantragt Russland eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats, um zu klären, wie es zu dem Vorfall kommen konnte. In der Sitzung beschuldigen sich Russland und die USA gegenseitig, die Waffenruhe zu gefährden. 17.9.2016 Präsident Wladimir Putin ehrt während eines bilateralen Treffen in Bischkek den Präsidenten Kirgistans Almasbek Atambajew für seinen Beitrag zur Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern mit dem Alexander Newskij-Orden. 18.9.2016 Einheitlicher Wahltag in Russland. Neben der Staatsduma, dem Unterhaus des Parlaments, werden in 39 Regionen die Volksvertretungen, in sieben die Regionsoberhäupter gewählt. Bei den Wahlen zur Staatsduma liegt die Wahlbeteiligung mit 47,7 % Prozent deutlich unter der von 2011. Die Partei "Einiges Russland" erhält bei den Stimmen für die Parteilisten 54,2 %. Zusammen mit den Direktmandaten erhalte sie über zwei Drittel der Duma Sitze, wie die Zentrale Wahlkommission mitteilt. Auch die Kommunistische Partei (KPRF, 13,3 %), die Liberaldemokratische Partei (LDPR, 13,2 %) und "Gerechtes Russland" (6,2 %) ziehen in die Duma ein. Die anderen Parteien scheitern an der Sperrklausel von 5 %. 19.9.2016 Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die die Dumawahlen mit mehr als 450 Helfern beobachtet hat, schätzt den Wahlgang als "transparenter" ein. Gleichzeitig blieben Herausforderungen für die demokratischen Verpflichtungen bestehen. Die Organisation kritisiert allerdings in ihrem Bericht vor allem die Abläufe im Vorfeld der Wahlen, darunter den ungleichen Zugang für Kandidaten zu den Medien. 19.9.2016 Ein UN Hilfskonvoi mit Versorgungsgütern wird in der Nähe der Stadt Urm al-Kubra westlich von Aleppo angegriffen. Die US-Regierung stellt daraufhin ihre Zusammenarbeit mit Russland infrage. Das russische Verteidigungsministerium erklärt hingegen, das der Angriff nicht vom russischen oder syrischen Militär ausgegangen sei. Laut dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz werden bei dem Angriff 20 Menschen getötet. 20.9.2016 In New York treffen Außenminister Sergej Lawrow und sein US-amerikanischer Amtskollege John Kerry gemeinsam mit den Mitgliedern der internationalen Syrien-Unterstützergruppe zu Beratungen in New York zusammen. Thema ist der Stand der zwischen den USA und Russland getroffenen Vereinbarung über eine Waffenruhe für Syrien. 20.9.2016 Das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, erkennt in einer Entschließung die Wahl zur russischen Staatsduma, deren Ergebnisse und rechtliche Folgen mit Blick auf die annektierte Krim nicht an. Für die Resolution stimmen 264 Abgeordnete. 21.09.2016 Der Sprecher des Ermittlungskomitees in Moskau Wladimir Markin tritt auf eigenen Willen von seinem Amt zurück. 21.09.2016 Russland und die Ukraine unterzeichnen in Minsk ein Entflechtungsabkommen, das zu einem Rückzug von Waffen und Soldaten an der Konfliktlinie im Donbass führen soll. Der Prozess soll von der OSZE überwacht werden. 21.09.2016 Präsident Wladimir Putin empfängt den deutschen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel zusammen mit einer Wirtschaftsdelegation zu zweitägigen Gesprächen in Moskau. Thema sind die bilateralen Handelsbeziehungen und die Lage in Syrien. Weitere Gespräche sind mit dem russischen Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew sowie Industrieminister Denis Manturo geplant. 22.09.2016 Gegen den ehemaligen Senator und Miteigentümer des Konzerns "Sintes", Leonid Lebedew, wird ein Strafverfahren eingeleitet. Ihm wird "Betrug im besonders großen Umfang" vorgeworfen. 22.09.2016 Ministerpräsident Dmitrij Medwedew veröffentlicht in der Zeitschrift "Wirtschaftsfragen" einen Artikel über die aktuelle Wirtschaftspolitik in Russland und fordert darin einen grundlegenden Wandel des russischen Wirtschaftssystems. Sie können die gesamte Chronik seit 1964 auch auf Externer Link: http://www.laender-analysen.de/russland/ unter dem Link "Chronik" lesen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2016-09-28T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-321/234740/chronik-9-22-september-2016/ | Aktuelle Ereignisse aus Russland: Die Chronik vom 09. bis zum 22. September 2016. | [
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Bildung ist ein Überlebensinstrument - weltweit | Bildung | bpb.de |
Werd’ ich gehört? Werd’ ich gebraucht? Wie Teilhabe soziales Vertrauen stärkt
Ich saß acht Jahre lang im Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes, und insofern habe ich Bildungsfragen in den letzten zehn Jahren aus einer weltumspannenden Perspektive wahrgenommen.
Dieser Ausschuss ist ein Gremium von 18 Personen aus allen Weltregionen. Die Europäer sind in der Minderheit. Ich glaube, das sollte man wirklich ausdrücklich sagen. 193 Staaten haben die Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert, und der Ausschuss hat die Aufgabe zu überprüfen, ob die Staaten sich an die Konvention halten. Tun sie, soll ich sagen, natürlich, tun sie nicht. Und insofern hat der Ausschuss sehr viel Arbeit, die Artikel der Konvention durchzugehen, zu denen die Regierungen, die eingeladen werden, in ihrem Bericht Rede und Antwort stehen und mit ihnen über die Verletzung der Kinderrechte unter den Artikeln der Konvention zu sprechen. Viele NGOs hören manchmal mit Erstaunen, was ihre Regierungen sagen, merken sich das sehr gut und führen die Diskussion, die wir in Genf führen, zu Hause weiter. Alles ist öffentlich, ich denke, das ist der Druck, der dann auch aus diesen Sitzungen heraus entsteht.
Wenn man aus einem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in so ein Gremium kommt, sagen die anderen: Du kümmerst dich um Schule und Bildung. Und das habe ich auch gerne angenommen, Schule, vorschulische, frühkindliche Bildung, Bildung und Berufsausbildung, Schulbildung und Mädchen, Schulbildung, Kinderarbeit, Ernährung, Gesundheit, Gewalt in der Schule und nicht zuletzt und ganz zentral Beteiligung der Kinder in der Schule. Ich konnte einiges an Erfahrung einbringen. Ich habe Schulforschung mit Kindern gemacht, unter Kindern sitzend, es war wahnsinnig interessant, und mir sind die Augen übergegangen bei dieser Arbeit. Es gibt viel Begrüßenswertes, das muss man auch sagen, aber es gibt auch sehr viel ungeheuer Deprimierendes, Schockierendes, aussichtslos Erscheinendes.
Es gibt einen großen Bildungshunger in der Welt. Ich wurde einmal vom Ausschuss nach Somalia in ein Camp mit landesintern geflüchteten Menschen, displaced persons, natürlich auch Kinder, geschickt. Die Eltern haben für ihre Kinder, weil es niemand anders getan hat, eine Schule gegründet. Da gab es keine staatliche Verwaltung, die das tun konnte. Ich war in China für einen Ausschuss, wo Wanderarbeiter, die aus dem desolaten Westen des Landes in den prosperierenden Osten kommen, Schulen für ihre Kinder verlangten, die ihnen aber die Kommunen nicht einrichteten, weil die sagten, wir sind nicht für die Wanderarbeiter und ihre Kinder zuständig. Die Eltern haben diese Schulen selbst aufgebaut, bis der Staat eingegriffen hat, klar, in China, weil er sagte, so geht es nicht, wir müssen die Schulen machen und kontrollieren.
Ein großer Anteil der 67 Millionen Kinder, die nach UNESCO-Daten nicht die Schule besuchen, gehen deswegen nicht in die Schule, weil sie in einem Land mit Kampfhandlungen oder Gewaltdrohung leben – Afghanistan ist ein Beispiel dafür –, vielleicht auch in einem von Naturkatastrophen verwüsteten Land. Der UN-Ausschuss drängt inzwischen darauf und hat mit dafür gesorgt, dass die Öffnung oder Wiedereröffnung von Schulen zu den Notfallmaßnahmen gehören, die zur Ersten Hilfe zählen, wenn Organisationen in ein Land kommen, um dort zu helfen; nicht nur ein Dach über dem Kopf, nicht nur Ernährung, sofort auch Schulen. Schule hat sich als der Ort für Kinder erwiesen, der ein Stück Normalität wiederherstellt und an dem Kinder, die aus ihrer Sicht und ihrer Betroffenheit wichtigen Hilfen bekommen, falls Schule sich auf die spezifische Situation der Kinder einlässt. Grundlegende praktische Fähigkeiten, Ernährung, Nahrungsmittel, Gesundheit, Gefahrenwahrnehmung – Minen –, Risikobewusstsein generell, Hilfe für traumatisierte Kinder, Einbeziehung der Eltern, Unterstützung beim Sich-Gehör-verschaffen, damit benötigte Hilfe mobilisiert wird und ankommt und trifft.
Hier in einem Camp, in einem Lager zeigt sich, was Schule, was Bildung wirklich sein kann, nämlich ein Überlebensinstrument. Schule im Camp, Überleben und Beteiligung sind mir daher zu Schlüsselbegriffen, zu Begriffen mit symbolischem Gehalt für Bildung geworden. Und ich werde gleich erläutern, mit welchen Aufgaben sich auch unsere Schulen, unser Bildungssystem hier in Deutschland konfrontieren sollte. Aber zunächst noch mal zurück zu den Ländern, die mit Schwierigkeiten kämpfen, die allgemeine Schulpflicht wenigstens für eine sechsjährige Grundschule voll durchzusetzen. Warum ist das denn so schwer? Da gibt es zum einen die politisch, systemisch, institutionellen Probleme, ein Bildungswesen zu etablieren, von Schulbauten mit Wasser und Strom über Lehrerbildung bis hin zu einer Schulverwaltung.
Das sind die Probleme, mit denen sich Katharina Tomasevski, frühere UN Bildungsberichterstatterin, in einem Vier-Punkte-Programm beschäftigt hat. Sie nannte das, wir müssen Availability und Accessibility, Vorhandensein und Zugangsmöglichkeiten zu Schulen prüfen. Und auch da gibt es übrigens Fortschritte. Da gibt es aber zum anderen, das sind ihre nächsten beiden Punkte, die Fragen der Akzeptanz der Schule und der Lebens-, Überlebensdienlichkeit der Schulen, Exceptibility, Adaptability. Sind Schulen annehmbar, passen sie sich überhaupt den Erfordernissen, in denen Kinder leben, an? Oder eben auch: Helfen sie den Kindern zu überleben? Oft ist die Situation übrigens in den Camps kaum besser, als die bei den Menschen außen herum.
Entwicklungshelfer haben mir gesagt, wenn wir irgendetwas im Camp tun, müssen wir es gleich auch nebenan tun, sonst entstehen Spannungen zwischen der Bevölkerung außerhalb und innerhalb. Helfen die Schulen zu überleben? Es ist ein großes Problem, dass angemeldete Kinder die Schule nicht regelmäßig besuchen, sie nach wenigen Jahren wieder verlassen, keine Abschlüsse machen, nicht auf die weiterbildenden Schulen überwechseln, weil, wie sie sagen, Schule nichts bringt. Ich habe einige Male Regierungsvertreter, die bei unserem Ausschuss waren, gefragt: Ist es für die Kinder Ihres Landes wirklich hilfreich, wirklich sinnvoll, zur Schule zu gehen? Was bieten denn Ihre Schulen überhaupt den Kindern?
Ich erinnere mich an ein Klassenzimmer in Hargeysa in Somalia, das beherrscht war vom riesigen Bild eines Elefanten. Ein eindrucksvolles Bild, von einem mächtigen Tier, das in dem Land überhaupt nicht vorkommt. Lernt man nichts Brauchbareres, wenn man Vater und Mutter im Haus oder auf dem Feld hilft oder als Handlanger auf einem Bau mitarbeitet oder in einer Werkstatt nebenan herumschraubt, anstatt in eine Schule zu gehen, oft ohne Bücher, ganz zu schweigen von fehlender Elektronik und Computern, mit einem Lehrer, der die Kinder prügelt und die Mädchen bedrängt?
UNICEF hat ein Programm entwickelt, das demonstriert, dass man auch unter erbärmlichen Umständen attraktiv Schule machen kann. Das Erfolgsrezept lässt sich mit einem Wort darstellen: Schule mit den Kindern, auch mit den Eltern, das ist natürlich wichtig, aber ich will von der Schule mit Kindern sprechen. Sie gehen in eine Schule, die mit den Kindern klärt, was von Nutzen ist zu lernen. Beteiligung, Demokratie im Anfang vor Ort. Da muss man sich keine Sorgen machen, dass Kinder etwa nicht Lesen, Schreiben, Rechnen lernen wollen, das wollen sie, aber sie wollen noch viel mehr, sie wollen etwas, was ihnen hilft, mit ihrem Leben in diesen Ländern zurechtzukommen. Sie wollen wissen und wollen Lösungen finden für Ernährung, für Wasser, für Sauberkeit, für Toiletten, für Krankheit, für Behinderung durch Explosionen, Minen, für AIDS, Gewalt, für das Zusammenleben unter diesen erbärmlichen Umständen. Beteiligung ist nicht ein Programmpunkt, Beteiligung ist in diesen Schulen alles.
Und Demokratiepädagogik muss man nicht in diese Schulen bringen, sie ist längst am Werk, obwohl niemand das Wort schon einmal gehört hat. Was wir etwas hilflos Demokratiepädagogik nennen und einführen wollen, ist die Grundlage, ohne die diese Schulen gar nicht an ihrem Überlebens-Curriculum arbeiten können. Es geht um das Überleben der Kinder. UNICEF nennt diese Schulen die childfriendly schools und hat ein umfassendes Programm entwickelt, um Schulen in den Ländern, in denen UNICEF tätig ist, zu beeinflussen. Es sollte eigentlich child rights schools heißen, aber diejenigen, die das Programm entwickelt haben, wollten die Schulverantwortlichen nicht verschrecken. Es gibt viel Unaufgeklärtheit und Angst vor Kinderrechten. In Klammern: (Auch die Schulen, die ich gesehen habe von UNICEF, haben Probleme.) Bitte nehmen Sie das Bild erst einmal so hin, und lassen Sie uns hierher in unser Land zurück springen.
Ich behaupte, dass man dieselbe Geschichte von der Überlebensschule an einigen Stellen mit ein paar anderen Worten für unser Land einfach wiederholen kann. Zunächst scheinen Überleben, Camp, Lager Begriffe zu sein, die verführen, das alles für so weit weg zu halten. Das aber entspricht weder intellektuellen Analysen noch dem Gefühl, das in vielen Menschen steckt. Wir leben im Wandel, in Transition, im Übergang, in der Krise, unter dem Druck von Migration, sozialer Ungleichheit, Knappheit und all den Nebenwirkungen, die dazu kommen. Wir wissen, dass es so nicht weitergeht wie bisher, haben einige der Bedrohungen erkannt und ahnen, dass wir sie nicht mit einem technischen Supertrick, sondern nur durch neue Lebensformen bewältigen können. Ist das nicht Überlebenssituation in einem Camp?
Auch unsere Kinder wissen, dass nicht der curriculare Elefant an der Wand das Überleben sichern wird. Natürlich wollen sie lesen, schreiben und rechnen lernen und in allen PISA- und sonstigen Tests genug Punkte sammeln, aber wenn man mit ihnen redet – und ich habe es wirklich oft genug in meinen Kinderforschungen getan –, dann erfährt man, wie genau sie wissen, dass das Leben ganz andere Themen und Probleme für sie bereithält: Klimawandel, Ernährung, Wasser, Energie, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, Gewalt, Zusammenleben in einer heterogenen Welt, in einer friedlosen Welt. Sie haben Sorgen, sie haben Ängste, sie haben Hoffnungen, sie wollen ein gutes Leben, aber wer nimmt sich dieser Kinder an? Wo ist die Schule, die das Recht der Kinder darauf erfüllt, die Fähigkeiten zu entwickeln, die man für gemeinsames Überleben in diesen Zeiten des Wandels, der Veränderung, des heraufziehenden Neuen braucht.
Mit der Ratifikation der Kinderrechtskonvention hat auch unser Staat den Kindern die Schule zugesichert, die sie auf die reale Welt vorbereitet. Es ist eine Schule, die auf das Kindeswohl ausgerichtet ist (Artikel 3), ein Wohl, das unter Beteiligung der Kinder zu bestimmen ist (Artikel 12), und die inhaltlich von den Zusicherungen der Konvention bestimmt ist. Beteiligung ist das Entwicklungsmedium der Kinder. Durch Beteiligung können sie ihre Sicht, ihre Ängste, ihre Erfahrungen einbringen, können sie die Schwierigkeiten entdecken, können sie ihre Fähigkeiten entwickeln, ihren Blick für gute Lösungen, für Fairness, für Gerechtigkeit schärfen. Beteiligung, aber nicht nur an von anderen, von Experten gesetzten Themen, sondern Beteiligung impliziert auch das Recht der Kinder, die Themen mitzubestimmen und auf die Tagesordnung der Schule zu setzen, das, was sie bedrängt: Gewalt, Drogen, Zukunftssorgen, Umwelt.
Dies zeigt, dass Beteiligung nicht eine Formalie ist, Beteiligung ist auch unter unseren in die Krise geratenen Lebensverhältnissen eine Überlebensnotwendigkeit, denn die neue Lebensformen, die wir brauchen, können nicht der heranwachsenden Generation auferlegt werden, wenn sie 18 geworden ist, sondern diese Lebensform müssen mit den Kindern gemeinsam entstehen. Und wir überleben nur, wenn Menschen sich nicht mit Hauen und Stechen von knappen Ressourcen den größten Anteil zu sichern versuchen, sondern wenn sie gelernt haben, miteinander auszuhandeln, durchaus auch miteinander auszustreiten, wie die knappen Ressourcen zum besten Vorteil für alle genutzt werden können.
Beteiligung, Demokratiekompetenz sind zukunftssichernd. Wir sind ein Entwicklungsland, das seine Kinder braucht. Was tun? Wir haben die Kinderrechtskonvention, die Kindeswohl, Entwicklung und Beteiligung ins Zentrum stellt. Und doch glaube ich nicht, dass man irgendetwas vorschlagen kann, was sie gleichsam über Nacht zur Realität macht. Ich habe drei Punkte. Es besorgt mich, dass die Konvention nicht genug bekannt ist, und zwar bei Erwachsenen und Kindern. Man sagt oft, die Kinder kennen sie nicht. Stimmt, aber der Anteil nimmt übrigens zu. Aber auch die Erwachsenen müssen sie kennen und vor allem begreifen. Und daher schlage ich vor, eine Einheit Kinderrechte, insbesondere Beteiligung von Kindern in alle Ausbildungen für Berufe, die mit Kindern kooperieren, zu integrieren. Zum Zweiten, die neue Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung hat eine unabhängige Monitoringstelle, die beobachtet, wie die Konvention umgesetzt wird und die Empfehlungen ausspricht. Eine solche unabhängige Einrichtung ist auch für die Überwachung der Kinderrechte und ihrer Umsetzung dringend erforderlich und sollte unter die Fittiche des Deutschen Menschenrechtsinstituts, das sichert ihre Unabhängigkeit.
Drittens, ich möchte, dass alle Schulen sich die Kinderrechtskonvention vornehmen und bestimmen, welche Artikel der Konvention für sie eine besondere Bedeutung haben und woran diese Schule konkret arbeiten sollte. Sich vornehmen verlangt, dass Lehrer, Eltern und Kinder, Schüler gemeinsam Themen festlegen. Solche Themen könnten Gewalt in der Schule, Integration randständiger Kinder, ungesunde Arbeitsweisen in der Schule, Beschämung von Kindern mit Lernschwächen, aber auch curriculare Erweiterungen, Energie und Schule, Plastik, Inklusion sein. Nicht als curriculare Themen der Schule, sondern als Lebensthema der Kinder und nicht für die Freizeitbeschäftigung am Nachmittag der Ganztagsschule, sondern als Kernthemen des Unterrichts mit dem Ziel, etwas gemeinsam zu erarbeiten, was das Zusammenleben verändert, was Überleben sichert und was Demokratie entstehen lässt, immer wieder neu entstehen lässt mit den Kindern.
Stuttgart, 27. April 2012 | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-04T00:00:00 | 2012-12-13T00:00:00 | 2022-01-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/151602/bildung-ist-ein-ueberlebensinstrument-weltweit/ | Bildungsforscher Lothar Krappmann hat als Mitglied im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes Bildungshunger weltweit erlebt: von Schulen chinesischer Wanderarbeiter bis hin zu Flüchtlingscamps in Somalia und Afghanistan. Sein Plädoyer: Bildung ist ei | [
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"Schulpolitik",
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"Demokratie",
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"Ausbildung",
"gesellschaftliche Teilhabe",
"Schulpflicht",
"Bildungsrecht"
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Analyse: Ukrainische Außenpolitik unter Selenskyj: Von Wirtschaft zu Sicherheit | Ukraine-Analysen | bpb.de | Zusammenfassung
Die ukrainische Außenpolitik hat derzeit eher einen ad hoc- als einen strategischen Charakter. Dennoch lässt sich eine gewisse Evolution feststellen, die von einem fast alleinigen Schwerpunkt auf dem Krieg im Donbas über eine Akzentuierung von Wirtschaftsaspekten hin zu einer klaren Betonung von Sicherheitsfragen geht. Geprägt wird die Außenpolitik v. a. durch den amtierenden Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dessen Team im Präsidentenbüro. In den kommenden Monaten wird die Situation im Schwarzmeerraum besondere Aufmerksamkeit erfordern. Hier wird es allerdings nicht nur auf die Ukraine ankommen, sondern auf ein sinnvolles Zusammenspiel zahlreicher staatlicher und multilateraler Akteure. Die Entstehung einer präsidial geprägten Außenpolitik
Bei der Außenpolitik sieht die ukrainische Verfassung ein Zusammenspiel zwischen dem Parlament, dem Präsidenten und der Regierung vor. Sie legt fest, dass das Parlament die Prinzipien der Innen- und Außenpolitik definiert (Art. 85, Nr. 5), während der Präsident die außenpolitische Tätigkeit des Landes leitet (Art. 106, Nr. 3). Die Regierung ist für die Durchführung der Außenpolitik zuständig (Art. 116, Nr. 1). Während der Präsidentschaft von Wolodymyr Selenskyj ist das Präsidentenbüro (die frühere Präsidialadministration) für fast alle Politikbereiche zunehmend wichtig geworden, so auch für den Bereich der Außenpolitik. In einem Interview mit der ukrainischen Webseite lb.ua betonte der Vize-Leiter des Präsidentenbüros Ihor Schowkwa, dass die folgenden außenpolitischen Funktionen bei diesem Büro lägen: strategische Planung, Festlegung der Ziele, Sicherung der alltäglichen außenpolitischen Tätigkeit des Präsidenten. Akteure wie das Außenministerium setzten die Politik lediglich um. Auch wenn es hiervon Ausnahmen gibt, scheint dieses Schema der heutigen Praxis in der Ukraine weitgehend zu entsprechen und wird deswegen als Grundlage für diese Analyse angenommen. Die Betonung im Folgenden liegt deshalb auf dem Präsidenten und seinem Team. Andere Akteure kommen zwar vor, werden aber weniger einschlägig behandelt. Während seines Wahlkampfes hat Wolodymyr Selenskyj kein außenpolitisches Programm präsentiert. Dies ist nicht sehr überraschend, da er als Politnovize keine politische und dadurch auch keine außenpolitische Erfahrung besaß. Dasselbe traf auch für die meisten Personen, die seinen Wahlkampf eng begleiteten, zu. Dennoch hatte eine der zentralen Botschaften seines Wahlkampfes mit mehreren Aspekten der Außenpolitik zu tun. Dies war das Versprechen, Frieden im Donbas durchzusetzen. Dabei sprach Selenskyj insbesondere von seiner Absicht, durch einen bilateralen Austausch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin diese Frage zu regeln. Außerdem äußerte er Überlegungen, das seit 2014 bestehende Normandie-Format zu ersetzen bzw. durch andere Akteure (v. a. die USA und Großbritannien) zu erweitern. Diese Überlegungen waren aber keineswegs in ein breiteres außenpolitisches Konzept eingebettet. Investitionen gesucht! Eine Außenpolitik unter wirtschaftlichen Vorzeichen
Es hat entsprechend gedauert, bis erste Leitlinien in der Außenpolitik unter Selenskyj sichtbar wurden. Diese sind auch eher informell, da eine außenpolitische Strategie noch nicht existiert – auch wenn sich eines in der Planung befindet. Was es jedoch gibt, ist die Nationale Sicherheitsstrategie, die im September 2020 erneuert wurde. Ihre Neuauflage geht mit einem Wandel in den außenpolitischen Prioritäten von Wirtschaft zu Sicherheit einher (s. u.). In einer ersten Phase wurde ein starker Akzent auf wirtschaftliche Ziele gelegt. Selenskyj und seine Entourage haben entschieden, die Außenpolitik v. a. für die Erreichung ökonomischer Fortschritte zu nutzen, insbesondere um Investitionen in die Ukraine zu fördern. Nicht nur wurde die Tradition von regelmäßigen Wirtschaftsforen in Kyjiw sowie anderswo fortgesetzt, sondern es kamen neue Foren hinzu. Vor allem die Investment Conference in Mariupol im Oktober 2019 hat erhebliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen und sollte das Interesse ausländischer Investor/innen für die Potenziale der Ostukraine wecken. Im Januar 2020 nutzte Selenskyj seine Rede auf dem prestigereichen Internationalen Wirtschaftsforum in Davos, um die Vorteile der Ukraine für ausländische Investor/innen aufzuführen. Allerdings haben diese Bemühungen kaum gefruchtet. Auch wenn man die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in Betracht zieht, die vergangenes Jahr zu den niedrigsten ausländischen Direktinvestitionen seit Jahren geführt haben, sind es weiterhin allen voran die rechtsstaatlichen Mängel in der Ukraine, die Investor/innen davon abhalten, aktiver zu werden. Bei der Suche nach Investitionen kam eine Initiative des Außenministers Dmytro Kuleba hinzu, einen starken "asiatischen Vektor" in der ukrainischen Außenpolitik zu eröffnen. Er betonte den wachsenden Handel zwischen der Ukraine und vielen asiatischen Ländern und plädierte für dessen Weiterentwicklung sowie für gemeinsame Projekte im Bereich der Hochtechnologie und beim Ausbau der Infrastruktur. Dieser Vektor bekräftigte die ukrainische Absicht, ökonomische Anliegen in den Vordergrund zu stellen, denn andere Ziele waren und sind in den Beziehungen zu den asiatischen Staaten wenig realistisch. Dieser Vektor sowie einige weitere Entwicklungen stellten die bisherigen Prioritäten der ukrainischen Außenpolitik zeitweilig infrage. Da die personellen und materiellen Ressourcen des außenpolitischen Apparats in der Ukraine sehr begrenzt sind, tauchte die Befürchtung auf, dass sich eine stärkere Ausrichtung auf den asiatischen Raum negativ auf das Verhältnis zur EU sowie zu den USA und zur NATO auswirken könnte. Das wurde bekräftigt durch einige Schritte im Rahmen des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, die die Bereitschaft der ukrainischen Seite (und konkret des Präsidentenbüros) suggerierten, Zugeständnisse gegenüber Russland zu machen, um Fortschritte bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu erreichen. Allerdings haben die Entwicklungen im Rahmen des Minsker Prozesses gezeigt, dass diese Zugeständnisse nicht zu entsprechenden Gegenschritten der russischen Seite geführt haben (siehe die Analyse zum Donbas in dieser Ausgabe). Wohl als Lehre aus dieser Erfahrung fing die ukrainische Seite an, vermehrt nach Sicherheitsgarantien bzw. zumindest nach militärischer Unterstützung von ihren außenpolitischen Partner/innen zu suchen. So erfolgte eine partielle Evolution der Akzente: von der Wirtschaft zur Sicherheit. Sicherheitsfragen nehmen immer mehr Raum ein
Ein Indiz für diese Evolution war die Veröffentlichung einer neuen Version der Nationalen Sicherheitsstrategie der Ukraine im September 2020. Gekennzeichnet durch ein breites Verständnis von Sicherheit, bekräftigt das Dokument die westliche Ausrichtung der ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik, indem es die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, Deutschland und Frankreich als prioritäre Partner charakterisiert. Das sind auch diejenigen Länder, von denen die Ukraine am meisten einen Beitrag im Hinblick auf den russisch-ukrainischen Konflikt im Donbas erwartet. Die russische Aggression spielt eine wichtige Rolle in der Strategie, und die Ukraine erklärt ihre Absicht, die Kosten dieser Aggression für Russland durch eine Stärkung der ukrainischen Verteidigungskapazität sowie durch internationale Zusammenarbeit zu erhöhen. Ein weiteres Zeichen für die wachsende Betonung auf Sicherheit ist die Schaffung der sog. Krim-Plattform, die insbesondere seit Ende 2020 an Dynamik gewonnen hat. Was die außenpolitische Komponente betrifft, geht es darum, internationale Unterstützung für die territoriale Integrität der Ukraine zu sichern und mit ausländischen Partner/innen auf eine Rückkehr der Halbinsel unter ukrainische Kontrolle hinzuwirken. Es handelt sich auch u. a. darum, andere Akteur/innen für die fortschreitende Militarisierung der Krim durch Russland und deren Implikationen für die Ukraine und den Schwarzmeerraum zu sensibilisieren. Gute Beispiele für den fließenden Übergang von wirtschaftlichen zu sicherheitspolitischen Aspekten der Außenpolitik sind die Abkommen und Vereinbarungen, die die Ukraine mit dem Vereinigten Königreich (VK) sowie mit der Türkei abgeschlossen hat (siehe auch den Beitrag zum Verhältnis Ukraine-Türkei in dieser Ausgabe). Im Fall des VK ging es v. a. darum, das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen zu ersetzen, da es nach dem Brexit für das VK nicht mehr gilt. Hinzu kam ein wichtiges Memorandum, das der Ukraine einen Kredit über 1,25 Milliarden Pfund zu günstigen Bedingungen garantiert, um zusammen mit dem VK neue Schiffe für die ukrainische Flotte zu bauen. Mit der Türkei haben die sicherheitspolitischen Elemente der Partnerschaft bislang dominiert, auch wenn beide Seiten ein Freihandelsabkommen sowie einen Handelsumsatz von 10 Milliarden USD als Ziel angeben. Wichtiger in der aktuellen Lage ist allerdings, dass die Ukraine türkische Drohnen bereits erworben hat und dass beide Staaten sich schriftlich zu einer Vertiefung ihrer Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich verpflichtet haben. Konkrete Kooperation in dieser Sphäre ist für die Ukraine in Anbetracht des sich fortsetzenden Konflikts mit Russland von erheblicher Bedeutung. Auch die Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn der Ukraine entwickelten sich z. T. im Zeichen des Donbas-Konflikts. Dies trifft insbesondere für Belarus zu, wo u. a. die zunehmende Abhängigkeit des illegitimen Präsidenten Aleksandr Lukashenka von Russland zu einem immer schlechteren Verhältnis mit der Ukraine führt. Aus diesem Grund ist die ukrainische Seite nicht mehr bereit, die regelmäßigen (derzeit wegen der Covid-19-Pandemie virtuellen) Treffen der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk abzuhalten und sucht entsprechend nach einem alternativen Ort für die post-Pandemie-Phase. Probleme im Verhältnis zu Polen (v. a. geschichtspolitische Fragen) sowie Ungarn (Umgang mit der ungarischen Minderheit) sind in letzter Zeit in den Hintergrund getreten angesichts eines potenziell drohenden russischen Angriffs. Die Beziehungen zur Republik Moldau sowie zu Georgien sind weniger intensiv als man das im Hinblick auf gewisse Ähnlichkeiten (z. B. dass alle drei Staaten Assoziierungsabkommen mit der EU umsetzen) erwarten würde. Im Falle Georgiens liegt das zum großen Teil daran, dass die Ukraine den ehemaligen georgischen Präsidenten Mikheil Saakaschwili beherbergt, der in Georgien zu mehreren Haftstrafen verurteilt wurde und sich weiterhin aus der Ferne in die georgische Innenpolitik einmischt. Das Verhältnis zu westlichen Akteuren im Zeichen der russischen Eskalation
Das bilaterale Verhältnis zu den USA verdient besondere Aufmerksamkeit. Auch wenn die Jahre der Trump-Präsidentschaft weniger katastrophal ausgefallen sind wie in der Ukraine ursprünglich befürchtet, war die Erleichterung in Kyjiw über die Wahl von Joe Biden zum US-Präsidenten im November 2020 dennoch spürbar. Die Kombination von Bidens kritischer Haltung gegenüber Russland und seinen guten Kenntnissen der ukrainischen Entwicklung aus seiner Zeit als Vize-Präsident unter Barack Obama hat große – wohl überzogene – Erwartungen in der ukrainischen Elite geweckt. Diese betreffen v. a. das Ausmaß der US-amerikanischen Unterstützung im Hinblick auf die russische Bedrohung im Donbas, aber auch in anderen Bereichen. In Kyjiw wird oft ausgeblendet, wie viele andere Baustellen für die USA (sowie für die EU) relevant sind. Auch wird gern übersehen, dass Präsident Biden die Ukraine nicht nur als Opfer bzw. Objekt der russischen Aggression sieht, sondern auch als Subjekt, von dem erhebliche Leistungen in verschiedenen Reformbereichen erwartet werden, insbesondere was Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung betrifft. Dennoch lag der Akzent in den letzten Wochen verständlicherweise fast ausschließlich auf dem Aspekt der russischen Aggression. Insgesamt scheint der russische Aufmarsch an den Grenzen der Ostukraine sowie auf der illegal annektierten Halbinsel Krim und im Schwarzen Meer im März–April 2021 der Ukraine Recht zu geben bezüglich ihrer Betonung von Sicherheitsfragen in der Außenpolitik. Anfang März haben die USA militärische Unterstützung im Rahmen von 125 Millionen US-Dollar für die Ukraine beschlossen, und Ende April wurde ein Gesetz über weitere 300 Millionen US-Dollar (inkl. für letale Waffen) jährlich bis 2026 im Senat eingebracht. Allerdings hat die Ukraine ihr Verhältnis zum Westen mit der Forderung, die Frage der NATO-Mitgliedschaft jetzt anzugehen, überstrapaziert. Während einige Staaten diese Idee – oder zumindest die Verleihung eines Mitgliedschaftsaktionsplans, kurz MAP – unterstützen (z. B. Litauen, die Türkei und vermutlich auch Polen), hat die Reaktion auf die ukrainische Forderung insgesamt gezeigt, dass es in der NATO hierfür keinen Konsens gibt. In dieser Lage kommt die sicherheitspolitische Schwäche der EU deutlich zum Vorschein. Da sie der Ukraine im Vergleich zu den USA und zur NATO relativ wenig in dieser Sphäre zu bieten hat, tritt die EU für die Ukraine derzeit eher in den Hintergrund. Selbst wenn der französische Präsident Emmanuel Macron die Notwendigkeit unterstrich, rote Linien festzulegen und auch bereit sein zu müssen, bei ihrer Überschreitung zu reagieren, hat die EU weder Sanktionen noch weitere Schritte in Aussicht gestellt, sondern Russland lediglich zu einer Deeskalation durch den Abzug seiner Truppen aufgerufen. Sicherlich hat die EU mehr auf der wirtschaftlichen Schiene zu bieten, aber auch hier versucht die Ukraine, auf Änderungen im Assoziierungsabkommen hinzuwirken, um z. B. höhere Exportquoten für ukrainische Produkte in die EU zu erreichen. Hiermit war sie in der Vergangenheit teilweise erfolgreich. Jetzt steht die Ukraine wohl relativ kurz vor dem Abschluss eines Agreement on Conformity Assessment and Acceptance of Industrial Products (ACAA). Damit wird sie Produkte in einzelnen Sektoren ohne langwierige und komplexe Überprüfungen in die EU exportieren dürfen. Das wäre ein wichtiger Schritt bei der Integration in den Binnenmarkt, unterstreicht aber gleichzeitig den hauptsächlich zweckmäßig-wirtschaftlichen Charakter der Zusammenarbeit. Deutschland hat in den letzten Jahren ein enges Verhältnis zur Ukraine gepflegt, nicht nur aufgrund der deutschen Beteiligung am Normandie-Format, sondern auch durch erhebliche Unterstützung für zahlreiche Reformprozesse. Dennoch ist mit dem Schwenk zu einer größeren Betonung auf Sicherheitsfragen eine wachsende Enttäuschung bei vielen ukrainischen Akteuren bezüglich der deutschen Rolle entstanden. Dies hat sich v. a. in den letzten Monaten während des russischen Aufmarsches gezeigt. Insbesondere, weil Deutschland 2014 eine überraschend starke Rolle gespielt und seitdem Sanktionen gegen Russland im EU-Rahmen mitgesichert hat, waren die Erwartungen an Berlin hoch. Eine deutliche Frustration mit dem deutschen Festhalten am Nord Stream 2-Projekt setzt sich hinsichtlich der neuesten Entwicklungen fort. Es gibt aber auch wenig Verständnis für die Tendenz einiger deutscher Akteure, auch die Ukraine für das Ausbleiben von Fortschritten im Minsker Prozess zu beschuldigen, sowie für den hartnäckigen Kooperationsdiskurs in Deutschland vis-à-vis Russland, der selbst angesichts einer einseitigen militärischen Eskalation durch die russischen Streitkräfte anhält. Fazit: Sicherheit wird Wirtschaft weiterhin trumpfen
Die Naivität, mit der Wolodymyr Selenskyj ursprünglich an das Donbas-Problem herangegangen ist, ist mittlerweile verflogen. Sein Verständnis für die Schwierigkeiten, die mit internen Reformprozessen einhergehen, hat sich gleichzeitig vertieft. Von daher wird in Bezug auf die russische Aggression eine härtere Linie vertreten, und während die Suche nach Investitionen weitergeht, steht sie nicht mehr so stark im Mittelpunkt der Außenpolitik. Stattdessen wird nach sicherheitspolitischer Unterstützung gesucht, was ein intensiveres Verhältnis zu vielen westlichen Akteuren erfordert. Der russische Aufmarsch der letzten Wochen hat gezeigt, dass Sicherheitsfragen für die Ukraine weiterhin höchste Priorität genießen werden. In diesem Zusammenhang wird die Entwicklung im Schwarzmeerraum für die kommenden Monate wohl von großer Bedeutung sein. Dies wird eine komplexe Vorgehensweise verlangen und intensive Gespräche mit den einzelnen Anrainerstaaten aber auch mit der EU und der NATO sowie mit den USA notwendig machen, um der wachsenden russischen Dominanz in diesem Raum gezielt und effektiv entgegenzutreten. Lesetipps/Bibliographie
Centre for Defence Strategies. Ukrainian Storm Warning: A Grave Danger to Europe in the Maritime Domain, November 2020, Externer Link: https://defence.org.ua/Oleksiy Honcharuk, Roman Waschuk. "How Ukraine Lost Its Investment Paradise", The National Interest, 9. April 2021, Externer Link: https://nationalinterest.org/Dmytro Kuleba. "Ukraine’s Road to Asia: Ukraine will prioritize the Asia-Pacific in its foreign policy", The Diplomat, 30. April 2020, Externer Link: https://thediplomat.com/Steven Pifer. NATO’s Ukraine Challenge: Ukrainians Want Membership, but Obstacles Abound, Brookings Institution, 6. Juni 2019, Externer Link: https://www.brookings.edu/Ihor Schowkwa. "SshA ne dadut nikomu beskarno rospotschaty nowi ahresywni diji u naschomu regioni" ("Die USA werden niemandem neue aggressive Handlungen in unserer Region unbestraft beginnen lassen"), lb.ua, 9. April 2021, Externer Link: https://lb.ua/Maryna Shevtsova. Ukraine: Who is Who on Bankova Street? Unblurring the President’s Administration Two Years after the Elections, 2021, Externer Link: https://violavoncramon.files.wordpress.com/Ukrainian Prism. "B- despite the Pandemic: Ukraine’s Foreign Policy Scores 2020", Externer Link: http://prismua.org/en/
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-03-02T00:00:00 | 2021-05-20T00:00:00 | 2022-03-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/333460/analyse-ukrainische-aussenpolitik-unter-selenskyj-von-wirtschaft-zu-sicherheit/ | Der Krieg im Donbas hat in den vergangenen Jahren die ukrainische Außenpolitik dominiert. Trotzdem versucht Präsident Selenskyj weitere Ziele in der Außenpolitik voranzutreiben. | [
"europäische Union",
"Beziehungen zu den USA",
"Beziehungen zur EU",
"Beziehungen zur NATO",
"Beziehungen zu den Staaten der ehemaligen Sowjetunion",
"Außenwirtschaft",
"Verteidigungspolitik",
"Ukraine",
"USA",
"Russland",
"Großbritannien",
"Belarus",
"Deutschland",
"Frankreich",
"Kanada"
] | 842 |
Zentrale Inhalte des Grundgesetzes | Grundgesetz und Parlamentarischer Rat | bpb.de | Das Grundgesetz in der Fassung von 1949 war ein in sich geschlossenes Gesamtwerk von 146 Artikeln, die eine einheitliche Verfassungsurkunde bildeten. Das Grundgesetz ist in elf (später 14) Abschnitte unterteilt, die sich im Wesentlichen in vier Bereiche zusammenfassen lassen, wobei die Präambel vorgeschaltet ist.
Präambel
Zu den zentralen Passagen des Grundgesetzes gehört die Präambel. Sie steht als rechtserheblicher Text am Anfang des Grundgesetzes und enthält unter anderem vier herausragende Aussagen, die das Selbstverständnis der zu gründenden jungen Bundesrepublik Deutschland charakterisieren sollten:
Erstens unterstrich die Präambel den Willen, "in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Zweitens sollte die geschaffene neue Ordnung staatliches Leben "für eine Übergangszeit" garantieren. Drittens blieb das "gesamte deutsche Volk [...] aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Viertens wurde in der Präambel die verbindliche Kraft mit der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes legitimiert.
Gerade der letzte Punkt war bedeutsam: Weil die Verfassungs-mütter und -väter eine Annahme des Grundgesetzes durch ein Referendum ablehnten.
Provisorium
Das Grundgesetz war von Beginn an als Provisorium angelegt. Dennoch zeichnete sich das Grundgesetz dadurch aus, dass es die wesentlichen Voraussetzungen einer vollständigen Verfassung enthielt. Unter dem Aspekt des Provisoriums ist es aber immerhin im Parlamentarischen Rat zu mancher Kompromissformel gekommen, die unter anderen Voraussetzungen vielleicht nicht entstanden wäre. Dazu zählt auch die Übernahme der Weimarer Bestimmungen zum Staatskirchenrecht, dessen grundsätzliche Regelung einer späteren Verfassungsarbeit vorbehalten bleiben sollte.
Struktur des Grundgesetzes
Der erste Bereich umfasst die Grundrechte (Abschnitt I:Art. 1-19, 33, 38, 101-104); in einem zweiten Komplex wird die föderalistische Staatsstruktur, also das Verhältnis von Bund und Ländern bestimmt (Abschnitt II: Art. 20-37); der dritte Bereich beschreibt Funktion und Aufgaben der obersten Staatsorgane Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung (Abschnitte III-VI: Art. 38-69); die Staatsfunktionen wie Ausführung von Bundesgesetzen, Bundesverwaltung, Rechtsprechung und Finanzwesen werden im vierten Teil behandelt (Abschnitt VII-X: Art 70-115); schließlich folgen in einem letzten Teil die Übergangs- und Schlussbestimmungen (Abschnitt XI: Art., 116-146).
Spätere Ergänzungen des Grundgesetzes
Als neue Abschnitte kamen später verschiedene Grundgesetzänderungen hinzu, darunter insbesondere:
1968 Abschnitt IVa.: Mit der Schaffung eines Gemeinsamen Ausschuss (Art. 53a) für den Verteidigungsfall.1969 Abschnitt VIIIa: Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern (Art. 91a-b).1968 Abschnitt Xa: Verteidigungsfall (115a-l).
Grundrechte (Freiheitsrechte)
Das Grundgesetz enthält ferner Staatszielbestimmungen und einen vor Verfassungsaufhebung geschützten Kern (Art. 79 Abs. 3). Dieser umfasst die Grundrechte, die freiheitlich-demokratische Grundordnung westlicher parlamentarischer Tradition, das bundesstaatliche Strukturprinzip (Föderalismus) und den Grundsatz des Sozialstaats. Im Unterschied zur Paulskirchenverfassung von 1849, zur Reichsverfassung von Bismarck von 1871 sowie zur Weimarer Verfassung von 1919 setzten die Verfassungsgeber den Katalog der 16 so genannten materiellen Grundrechte an den Anfang des Grundgesetzes. Nicht nur bei dieser Entscheidung bewiesen die Mütter und Väter des Grundgesetzes zeitgeschichtliches Augenmaß. Im Gegensatz zur Position des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik wurde die des Bundespräsidenten geschwächt, dafür aber die politische Macht des vom Deutschen Bundestag gewählten Bundeskanzlers wesentlich gestärkt. Ferner sieht das Grundgesetz keine plebiszitären Elemente vor, außer bei der geplanten Neugliederung des Bundesgebiets. Änderungen des Grundgesetzes sind unzulässig, wenn die föderalistische Struktur des Bundes, die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die Grundrechte in ihrem Wesensgehalt berührt werden. Ebenfalls neu am Grundgesetz war die Sicherung des Verfassungsrechts durch die Bindung des Gesetzgebers an vorstaatliche Grundrechte, eine umfassende Rechtskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, die Möglichkeit, durch einfaches Gesetz Hoheitsrechte des Bundes auf zwischenstaatliche Institutionen zu übertragen, die Anerkennung der Parteien und deren Mitwirkung bei der politischen Willensbildung sowie schließlich der Gleichberechtigungsartikel, infolge dessen sich die rechtliche Stellung der Frau verbesserte.
Wiedervereinigung
Bestimmend für die innerdeutsche Politik war das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Das Demokratiekonzept des Grundgesetzes folgt dem Prinzip der parlamentarischen Repräsentation, bei nahezu gänzlichem Verzicht auf plebiszitäre Elemente. Damit erhebt das Grundgesetz das parlamentarische Regierungssystem zum Träger der politischen Verantwortung – im Unterschied zur unmittelbaren Demokratie, die den Unterschied zwischen Träger und Adressat der Verantwortung aufhebt. Das Parlament erhält bestimmenden Einfluss auf die politische Gesamtleitung in begleitender Kontrolle der Regierung. Die Verfasser des Grundgesetzes verzichteten unter Hinweis auf den provisorischen Charakter des Grundgesetzes ausdrücklich auf die Festlegung einer bestimmten Wirtschaftsordnung sowie auf Schaffung sozialer Grundrechte. Dadurch blieb der Weg für die erfolgreiche Umsetzung der Sozialen Marktwirtschaft frei. | Article | Michael F. Feldkamp | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-11-06T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nachkriegszeit/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39030/zentrale-inhalte-des-grundgesetzes/ | 146 Artikeln umfasste das Grundgesetz von 1949 – ihnen vorangestellt wurde eine Präambel. Besondere Bedeutung erhielten die Grundrechte sowie die föderale Struktur. Zugleich wurde aber der provisorischen Charakter des Grundgesetzes unterstrichen. | [
"Grundrechte",
"provisorischer Charakter",
"Wiedervereinigung",
"Struktur des Grundgesetzes"
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Standpunkt: Ahmadinejads Mission | Antisemitismus | bpb.de | "Sie haben eine schwarze und dreckige Mikrobe – mit Namen 'zionistisches Regime' – geschaffen um sie wie ein wildes Tier auf die Völker der Nation loszulassen", rief der iranische Präsident Mahmoud Ahmadinejad am 20. Februar 2008 seinen Anhängern in einer im Staatsfernsehen übertragenen Rede zu. Zwei Tage zuvor hatte bereits einer der höchsten Funktionäre des Iran, General Jaafari, vom "krebsartigen Gewächs Israel" gesprochen und dessen "Verschwinden in naher Zukunft" prophezeit.
Mikrobe, Krebsgewächs - die Wortwahl ist gerade in Deutschland bekannt. Zwar weist die gegenwärtige iranische Führung den Verdacht des Antisemitismus zurück: Demonstrativ umarmt Ahmadinejad Juden, die Israel bekämpfen; medienwirksam nimmt er die 25.000 im Iran lebenden Juden als Beleg, dass das Regime die jüdische Religion achtet und schützt.
Und doch hat bislang kein anderer Regierungschef seit Adolf Hitler so viel Antisemitismus verbreitet wie Mahmoud Ahmadinejad. Er sagt nicht, dass "Juden" die Welt beherrschen. Er sagt: "Die Zionisten beherrschen die Welt." "Die Zionisten" hätten die Mohammed-Karikaturen in Dänemark produziert und die goldene Moschee im Iran zerstört. "Die Zionisten" trügen "für einen großen Teil aller Ungerechtigkeiten in der Welt die Verantwortung. Wo sie sind, ist Krieg."
Das Muster ist vertraut. Ahmadinejad verwendet den Begriff "Zionist" mit derselben Bedeutung, mit der Hitler das Wort "Jude" benutzte: als Urgrund alles Bösen auf dieser Welt. Wer aber Juden für die Übel dieser Erde verantwortlich macht, der ist vom Antisemitismus beherrscht. Er wird Israel als "Keimzelle des Bösen" beseitigen wollen. Er wird den Holocaust leugnen, da der Massenmord seinem Weltbild widerspricht.
Erstmals seit dem Dritten Reich haben im gegenwärtigen Iran die Machthaber eines großen Landes den Antisemitismus, die Holocaust-Leugnung und die Absicht, ein UN-Mitgliedsland zu liquidieren, ins Zentrum ihrer Außenpolitik gerückt.
Ihre Drohungen sind nicht auf Israel beschränkt. "Wir stehen inmitten eines historischen Krieges, der seit Hunderten von Jahren andauert" hatte Ahmadinejad im Oktober 2005 erklärt und damit deutlich gemacht, dass es um den Nahostkonflikt nicht geht. Überall auf der Welt will die Gottesdiktatur die säkulare und freiheitliche Orientierung des Westens durch eine Scharia-Ordnung ersetzen. Überall sollen Frauen, wie im Iran, brachial unterdrückt, Schwule öffentlich gehängt, Gewerkschafter verfolgt, Zeitungen verboten und Sünder gesteinigt werden können. "Unsere Mission transzendiert die geographischen Grenzen der islamischen Welt", erklärt Ahmadinejad. "Unsere Geistlichen stehen in der Verantwortung, die Menschheit als Ganze dazu anzuhalten, die Prinzipien der monotheistischen Herrschaft zu übernehmen."
Ahmadinejad agiert als Weltpopulist, als ein Arafat im Mao-Look, der Länder wie Kuba, Nicaragua oder Venezuela in die Revolutionsfront einbinden will. "Das Zeitalter der Dunkelheit wird enden", schwärmte er im September 2007 vor dem Plenum der Vereinten Nationen, "und die Völker werden in Amerika und in Europa von den Lasten, die die Zionisten ihnen zufügen, befreit sein." Die Verbindung von Befreiung und Antisemitismus, für die der Historiker Saul Friedländer in Bezug auf den Nationalsozialismus den Begriff des "Erlösungsantisemitismus" geprägt hat, ist gefährlich genug. Im Falle des Iran kommt etwas Drittes hinzu: der Glaube an die Wiederankunft des "Zwölften Imam".
Mit dieser mythischen Figur ist der letzte unmittelbare Nachkomme Mohammeds in zwölfter Generation gemeint, der im Jahr 874 als kleiner Junge spurlos verschwand. Die Schia stützt sich auf den Glauben, dass dieser "Imam" irgendwann aus seiner Verborgenheit hervortreten und die Welt von allen Übeln befreien werde. Diese abstrakte Vision von einer Befreiung der Welt haben Ahmadinejad und seine Freunde in ein tagespolitisches Programm verkehrt. So gehörte Anfang 2008 der Bau einer Prachtstraße für den "Messias, der demnächst kommen wird" zu den Wahlkampfversprechungen Ahmadinejads, mit deren Hilfe er die manipulierten Parlamentswahlen im März 2008 gewann. Was würde mit dem Bürgermeister der Heiligen Stadt Rom geschehen, wenn dieser ganze Stadtviertel abreißen ließe, um für die baldige Ankunft des Jesus-Messias eine Prachtstraße zu errichten? Würde er nicht seines Amts enthoben wenn nicht für verrückt erklärt werden? Hingegen betrachtet sich der amtierende Regierungschef des Iran als den unmittelbaren Wegbereiter des 12. Imam. Für ihn ist die Vorbereitungen auf dessen Wiederankunft "die wichtigste Aufgabe unserer Revolution." Er charakterisiert seine Politik als "jene Art von Mission, die auch den göttlichen Propheten anvertraut gewesen war. Sie erlaubt es nicht, dass wir uns ausruhen oder auch nur einen Moment schlafen."
Solch intimer Kontakt zu übernatürlichen Kräften macht Politik unberechenbar. Warum sollte sich ein politischer Führer um die strategischen Realitäten dieser Welt allzu viele Sorgen machen, wenn er weiß, dass schon in Kürze der Messias kommen und die Geschicke dieser Welt übernehmen wird? Noch weniger kann der Umstand beruhigen, dass Ahmadinejad und seine Freunde zwischen dem Herannahen des schiitischen Messias und der Zerstörung Israels einen Zusammenhang sehen. "Das Wiedererscheinen des 12. Imam", prohezeite im November 2006 ein Sprecher des Revolutionsführers Ali Khamenei, "wird einen Krieg zwischen Israel und der Schia mit sich bringen. Der Hauptkrieg wird über das Schicksal der Menschheit entscheiden."
Es ist dieses einzigartige ideologische Gebräu – Antisemitismus, Revolutionsideologie, Messianismus – das die iranische Nuklearentwicklung so beispiellos gefährlich macht - jene Mischung aus Holocaust-Leugnung und High-Tec, aus Welteroberungsphantasie und Raketenforschung, aus apokalyptischer Heilserwartung und Plutonium. Warum treibt der Iran sein Atomprogramm um jeden Preis voran? Ahmadinejad hat die Antwort im August 2007 so formuliert: "Die Nuklearisierung Irans ist der Beginn einer grundlegenden Veränderung in der Welt". Irans Atomtechnik, so versprach er weiter, werde "in den Dienst derer gestellt, die entschlossen sind, den brutalen Mächten und Aggressoren entgegenzutreten."
Diese Aussage zeigt, dass das iranische Atomprogramm weder für Energiezwecke noch für den Zweck der Abschreckung oder gar der Verteidigung konzipiert ist, sondern als ein Instrument "grundlegender Veränderungen" nicht nur in der Region, sondern in der Welt. Ahmadinejads Worte führen zweitens vor Augen, dass der Iran seine nuklearen Fähigkeiten ohne Skrupel an andere Regimes oder Bewegungen weitergeben will. Das iranische Regime lässt keinen Zweifel, an welchem Punkt der Erde es seine "Revolution" zu beginnen gedenkt. "Das zionistische Regime wird wegradiert und die Menschheit befreit werden", versprach der iranischen Präsident den Teilnehmern der Holocaustleugner-Konferenz im Dezember 2006 in Teheran.
Seit 1945 hat sich die Welt an die Vorstellung von Atomwaffen im Besitz von säkularen oder halb-säkularen Mächten gewöhnt. Im Iran aber sind wir mit etwas Neuem konfrontiert. Hier wird erstmals das Zerstörungspotential der Bombe mit dem Furor des erklärten Religionskriegs, mit Paradiesglaube und Märtyrerideologie, vereint. Es ist diese Ankopplung an eine globale religiöse Mission, die das iranische Atomprogramm zur gegenwärtig größten Gefahr auf dem Globus macht. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine iranische Atombombe zum I. Weltkrieg des 21. Jahrhunderts führt, ist einfach zu groß, als dass man es darauf ankommen lassen dürfte.
Dennoch haben die Zivilgesellschaft, die Publizistik und die Politik in Deutschland bislang hauptsächlich weggehört, weggesehen, beschwichtigt und beruhigt. Man möchte in diesem Regime nach wie vor einen "Partner, nicht Gegner" sehen. So erklärte die deutsch-iranische Industrie-und Handelskammer in Teheran im Dezember 2007, zweieinhalb Jahre nach Beginn der Präsidentschaft Ahmadinejads: "Deutschland betreibt mit dem Iran mehr Geschäfte, als jedes andere europäische Land; das jährliche Handelsvolumen wird auf 5 Mrd. € geschätzt. Mindestens 1.700 deutsche Unternehmen sind im Iran aktiv. Rund 75 Prozent aller kleinen und mittelständischen Betriebe im Iran sind mit deutscher Technologie ausgestattet."
Ahmadinejads Wort von der "schwarzen und dreckigen Mikrobe" blieb in den deutschen Medien unerwähnt; die Bundesregierung hielt still. Immerhin kritisierte die von Slowenien gestellte EU-Ratspräsidentschaft seine Äußerung als "unannehmbar, schädlich und unzivilisiert". Das iranische Außenministerium reagierte prompt. Diese Kritik sei "voreingenommen und unverantwortlich" und eine Folge des Drucks, den die "internationale zionistische Lobby" ausgeübt haben. Früher hätte man "Weltjudentum" gesagt.
Zitiert nach: Middle East Media Research Institute (MEMRI), Clip no. 1694, Februar 20-24, 2008.
Zitiert nach: Jerusalem Post, Februar 20, 2008.
Zitiert nach: Hooman Majd, Mahmoud and Me, in: New York Observer, October 2, 2006.
Zitiert nach: MEMRI, Inquiry & Analysis no. 1714, September 17, 2007.
Zit, nach: MEMRI, Special Dispatch Series No. 1013, October 28, 2005.
Zit. nach: MEMRI, Inquiry & Analysis no. 1714, September 17, 2007.
Rainer Herrmann, Iran zeigt sich unbeeindruckt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 5. März 2008.
Paul Hughes, Iran President Paves the Way for Arabs´ Imam Return, Reuters, November 17, 2005.
Zit. nach MEMRI, Inquiry & Analysis no. 1714, September 17, 2007.
ISNA, 16, November 2006, zit. nach: Honestly Concerned Iran Forschung, Berlin, 17. November 2006.
"Iran´s nuclearization ... is the beginning of a very great change in the world." Ahmadinejad promised to place Iran´s nuclear technology "at the service of those who are determined to confront the bullying powers and aggressors." Zit. nach MEMRI, Inquiry & Analysis no. 1714, September 17, 2007.
Zit. Nach MEMRI, Inquiry and Analysis Series, no. 307, December 15, 2006.
"Partner, nicht Gegner. Für eine andere Iran-Politik", lautet der Titel eines in Kürze erscheinenden Buches von Christoph Bertram, dem ehemaligen Direktor der "Stiftung Wissenschaft und Politik. Siehe: Spiegel 16/2008, 14. April 2008.
Sanctions Hurt German Companies, Stellungnahme der Deutsch-Iranischen Industrie- und Handelskammer vom 24. Dezember 2007; siehe unter: http://iran.ahk.de
| Article | Matthias Küntzel | 2022-01-12T00:00:00 | 2011-10-27T00:00:00 | 2022-01-12T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/37995/standpunkt-ahmadinejads-mission/ | Erstmals seit dem "Dritten Reich" haben im Iran die Machthaber eines großen Landes den Antisemitismus, die Holocaust-Leugnung und die Absicht, ein UN-Mitgliedsland zu liquidieren, ins Zentrum ihrer Außenpolitik gerückt, meint Matthias Küntzel. | [
"Antisemitismus",
"Iran",
"Ahmadinejad",
"iranische Nuklearoption"
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Männer - weder Paschas noch Nestflüchter | Männer in der Gesellschaft | bpb.de | Bruchlinien im Männerleben
"Männer sind ihr Beruf, und zu Hause sind sie fremd" - so lautet wohl das vorherrschende Stereotyp über Männer in der Bundesrepublik Deutschland. Zwei zentrale Aspekte hegemonialer Männlichkeitsbilder, wie sie gemeinhin noch immer als verbindlich für Männerleben gelten, spiegeln sich hier wider: der ErwerbsMann und der MachtMann. Allerdings scheinen solche Männerbilder nicht mehr das dominante Leitbild für alle Männer zu sein. Mehr und mehr werden im Rahmen von Studien der Männerforschung Bruchlinien im Männerleben deutlich. In der Debatte um einen Wandel männlicher Lebensmuster erhielt im vergangenen Jahr die Entdeckung des so genannten "Metrosexuellen" besondere publizistische Aufmerksamkeit. Dieser in Großstädten lebende, gut verdienende und gut ausgebildete Mann habe seine femininen Seiten entdeckt und pflege diese. So finden nur zehn Prozent der befragten Männer Parfüm bei Männern "unmännlich", und mehr als die Hälfte fühlt sich nach dem Gebrauch eines After-Shaves wohl. Auch wenn dies zunächst sehr banal klingt, so sind doch einige Ergebnisse der zugrunde liegenden Studie beachtenswert - nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die befragten Männer hinsichtlich ihres Profils doch eher in leitenden Positionen tätig sein dürften und damit die Arbeitsbedingungen in Organisationen maßgeblich mitbestimmen. Folglich ist auch die Tatsache bedeutsam, dass fast drei Viertel der Befragten ein Ende geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Entlohnung für gleiche Tätigkeiten fordern und gut acht Zehntel der Männer die Frauenbewegung positiv bewerten. Nur gut die Hälfte der befragten Frauen hat diese Antwort von den Männern erwartet. Gehen hier die Ansichten auseinander, findet sich hinsichtlich der Bestimmung der vorwiegenden Eigenschaften der "metrosexuellen" Männer eine große Übereinstimmung zwischen den befragten Frauen und Männern: Jeweils drei Viertel sieht als vorrangige Eigenschaft Fürsorglichkeit ("caring"). Bei der Frage der Kinderbetreuung erweisen sich die "Metrosexuellen" jedoch als traditionell: 43 Prozent dieser Männer sind der Ansicht, dass die Berufstätigkeit von Frauen mit Kindern unter fünf Jahren die Ausnahme sein sollte, und für nur 47 Prozent der "Metrosexuellen" ist eine familienorientierte Arbeitsplatzgestaltung von Relevanz, während fast drei Viertel der Frauen dies wünschen.
Hier scheint der "neue" oder "moderne Mann", wie ihn Männerstudien in Deutschland und Österreich identifiziert haben, wohl einen Schritt weiter zu gehen. Die jüngst erschienene österreichische Männerstudie zeigt, dass sich der Anteil moderner Männer in Österreich in den letzten zehn Jahren sogar von 14 Prozent auf 23 Prozent erhöht habe. In Deutschland lag deren Anteil 1998 bei 20 Prozent. Neue bzw. moderne Männer zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie nicht mehr so ausschließlich berufsorientiert sind wie traditionelle Männer; der Übernahme häuslicher Pflegearbeiten und einer damit zusammenhängenden Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeitaufgeschlossen gegenüber stehen; sich als partnerschaftlich wahrnehmen und dass sie aktive Väter sind.
Ein Nachteil der beiden angeführten und einer Vielzahl der bisher vorliegenden Studien zum Wandel des Männerlebens besteht darin, dass überwiegend Einstellungen abgefragt werden und so die Möglichkeit bei den Befragten besteht, ihre Antworten "zu schönen". Hier geht unsere Analyse der Zeitverwendung von Männern auf der Basis der Daten der Zeitbudgetstudie des Statistischen Bundesamtes methodisch einen Schritt weiter: Auf der Grundlage einer bisher in der bundesdeutschen Männerforschung noch nicht da gewesenen Stichprobengröße werden konkrete Handlungssequenzen analysiert. Somit kann ein großer Schritt getan werden in Richtung der Beantwortung der Frage nach Umfang und Tiefe der vermeintlichen Bruchlinien im Männerleben. Von besonderer Relevanz ist dabei, wie Beruf undFamilie auf der einen und die Ausgestaltung von Freizeit auf der anderen Seite ausbalanciert werden: Sind Männer nach wie vor fremd in der Familie, und sind sie in ihrer Freizeit die "autistischen Angler" oder Betreiber von Risikosportarten? Männer zwischen Berufund Familie
Ein erster Blick auf das Männerleben zeigt: Den zeitlichen Schwerpunkt bildet neben dem Schlafen, mit dem Männer im Durchschnitt rund acht Stunden und zwanzig Minuten verbringen, die Erwerbsarbeit. Deren Stellenwert variiert mit dem Lebensalter. Bei jüngeren Männern bis zum 18. Lebensjahr bilden erwartungsgemäß Qualifikation und Bildung einen Schwerpunkt, für den diese Altersgruppe zusätzlich ein Achtel ihrer Tageszeit einsetzt. Für Ältere, die sich jenseits des 65. Lebensjahres befinden, spielt die Erwerbstätigkeit keine Rolle mehr in ihrem Tagesablauf.
Männer zwischen 25 und 45 Jahren, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wenden hierfür täglich rund acht Stunden und 40 Minuten auf. Für die Haus- und Familienarbeit, an der sich fast alle Männer dieser Alterskohorte beteiligen, werden im Durchschnitt täglich mehr als zweieinhalb Stunden eingesetzt. Darunter fallen rund eine Stunde und fünfzehn Minuten für die Betreuung von Kindern, der sich insgesamt ein Drittel der Männer in dieser Altersgruppe widmet (siehe PDF-Version, Schaubild1). Mehr Zeit für die Haus- und Familienarbeit bringen Männer zwischen dem 45. und 65. Lebensjahr auf: Sie setzen dafür mehr als drei Stunden am Tag ein, die Beteiligungsquote liegt bei über neunzig Prozent. Hierunter fällt noch knapp eine Stunde für die Kinderbetreuung. Allerdings sind nur noch fünf Prozent der Einträge der Männertagebücher dieser Aktivität gewidmet. Der Zeitwert für Kinderbetreuung nimmt bei den Männern jenseits des 65. Lebensjahres wieder auf durchschnittlich 72 Minuten am Tag zu, jedoch mit einer Beteiligungsquote von nur noch zwei Prozent.
Im Hinblick auf die Haus- und Familienarbeit setzen Männer zum Teil recht traditionelle Schwerpunkte. So finden sich beispielsweise in den Tagebüchern von nur 9 Prozent der Männer zwischen dem 25. und 45. Lebensjahr Eintragungen zur Textilpflege, auch zur Haushaltsorganisation gibt es nur bei 14 Prozent dieser Gruppe Vermerke. Im Gegensatz hierzu sind in fast sechs Zehntel der Tagebücher Aktivitäten im Zusammenhang mit der Zubereitung von Mahlzeiten vermerkt, die mit fast 40 Minuten am Tag zu Buche schlagen. Fast 40 Prozent der Männer verbringen eine Stunde mit Einkaufen, die Hälfte dieser Gruppe beteiligt sich an der Instandhaltung der Wohnung mit durchschnittlich einer Dreiviertelstunde am Tag. Entgegen landläufigen Stereotypen finden sich in nur 17 Prozent der Tagebücher dieser Altersgruppe Eintragungen zu handwerklichen Aktivitäten; diese währen dann allerdings fast zwei Stunden (siehe PDF-Version, Schaubild1).
Das Zeitverwendungsmuster (Haus- und Familienarbeit) variiert erwartungsgemäß mit dem Lebensalter der Männer. So wenden Männer jenseits des 65. Lebensjahrs eine Stunde für die Zubereitung von Mahlzeiten auf, wobei sieben Zehntel der Männer dieser Alterskohorte angeben, diese Aktivität auszuüben. Dagegen finden sich nur in etwas mehr als einem Viertel der Tagebücher von Männern zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr Eintragungen zur Mahlzeitenzubereitung, und sie setzen am Tag lediglich gut eine halbe Stunde dafür ein. Der höchste Anteilswert innerhalb dieser Altersgruppe findet sich bei der Wohnungsinstandhaltung: Dafür engagiert sich etwas mehr als ein Drittel mit durchschnittlich 45 Minuten am Tag. Zwei Minuten mehr (47 Minuten) werden für die Kinderbetreuung aufgewendet. Allerdings wird nur ein Prozent dieser Altersgruppe hier tatsächlich tätig.
Mit dem Lebensalter der Männer und den damit verbundenen Zeitverwendungsmustern korrelieren bestimmte Lebensmuster, vor allem Haushaltskonstellationen. Hier zeigt sich, dass insbesondere der Einsatz von Männern in der Haus- und Familienarbeit entscheidend vom Alter des jüngstenKindes im Haushalt beeinflusst wird. Leben Männer mit Kindern im Alter bis zu drei Jahren zusammen, erhöht sich der zeitliche Aufwand fürdie Haus- und Familienarbeit insgesamt, aber auch für die Kinderbetreuung beachtlich (siehe PDF-Version, Schaubild 2).
In rund 97 Prozent aller Tagebücher von Männern mit Kleinkindern bis zu drei Jahren finden sich Zeiteinträge im Bereich der Haus- und Familienarbeit; sie belaufen sich im Durchschnitt auf fast vier Stunden am Tag (siehe PDF-Version, Schaubild 2). Auch der Einsatz für die Kinderbetreuung erhöht sich auf eine Stunde und 38 Minuten, bei einer Beteiligungsquote von 81 Prozent dieser Männer (siehe PDF-Version, Schaubild 3).
Diese Gewichtsverlagerung bei den Vätern geht eindeutig auf Kosten der Freizeit, denn der Zeitaufwand für die Erwerbsarbeit wird praktisch nicht reduziert. Leicht verringert ist - im Vergleich zum Durchschnittswert aller Männer zwischen 25 und 45 Jahren - auch der Zeitaufwand für Schlafen und Körperpflege. Mit zunehmendem Alter der Kinder reduziert sich allerdings das Engagement der Männer in Haushalt und Familie und liegt wieder beim Durchschnittswert dieser Altersgruppe.
Nicht ganz so stark wie vom Alter des jüngsten Kindes im Haushalt wird bei Männern die tägliche Balance zwischen Arbeit und Familie von ihrer Stellung im Beruf sowie vom Wirtschaftszweig, in dem sie tätig sind, beeinflusst. Am stärksten wird der Alltag Selbstständiger von der Erwerbsarbeit dominiert. Zwar finden sich in 83 Prozent der Tagebücher Selbstständiger Einträge zur Haus- und Familienarbeit, aber sie liegen damit hinter den Beamten (88 Prozent) und den Arbeitern und Angestellten (jeweils 87 Prozent). Entsprechend niedrig ist mit 143 Minuten bei den Selbständigen auch der Zeitwert für diesen Aktivitätsbereich, die Beamten bringen es dagegen mit durchschnittlich 165 Minuten pro Tag auf den höchsten Zeitwert siehe PDF-Version, Schaubild 4).
Interessanterweise beeinflusst die Stellung der Männer im Beruf den Anteil an der Arbeit der und den Zeitaufwand für die Kinderbetreuung kaum: Bei 18 Prozent der selbständigen Männer sind Zeiteinträge mit einem durchschnittlichen täglichen Zeitaufwand von 67 Minuten zu finden, bei einem Fünftel der Arbeiter mit einem etwas geringeren Zeitwert, und jeweils bei 19 Prozent der Beamten und Angestellten sind Werte um die 70 Minuten pro Tag für Kinderbetreuung verzeichnet (siehe PDF-Version, Schaubild 5).
Einen stärkeren Einfluss auf das männliche Engagement bei der Kinderbetreuung haben offenbar der Wirtschaftszweig oder die Branche, in der die Männer beschäftigt sind (vgl. Schaubild 6). Überraschenderweise liegt der höchste Zeitwert bei Beschäftigten im sekundären Sektor, also im produzierenden Gewerbe (Bergbau, Industrie und Handwerk), die Quote der Beteiligung liegt bei genau einem Fünftel. Am höchsten liegt diese mit 22 Prozent bei im Non-Profit-Sektor beschäftigten Männern, bei einem nur unwesentlich geringeren Zeitaufwand. Die niedrigsten Zeitwerte - bei vergleichbarer Beteiligungsquote - finden sich bei Beschäftigten im Bereich privater Haushalts- und anderer Dienstleistungen sowie - erwartungsgemäß - im primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei): Hier werden Kinder von Männern rund eine Viertelstunde weniger am Tag betreut.
Einen leichten Einfluss darauf, ob Männer eine Balance zwischen Arbeit und Familie herzustellen vermögen, scheint dabei auch die Art und Weise ihrer Tätigkeit zu haben. Diese kann qualifiziert oder einfach sein. Dabei unterscheidet sich der Zeiteinsatz zwischen diesen Merkmalsgruppen kaum: Für die Haus- und Familienarbeit insgesamt liegt dieser bei Männern, die einer qualifizierten Tätigkeit nachgehen, lediglich um drei Minuten höher. Allerdings sind von Männern mit einer einfachen Tätigkeit nur gut acht Zehntel in der Haus- und Familienarbeit aktiv, bei Männern, die eine qualifizierte Tätigkeit ausüben, sind dies fast 90 Prozent. Die Zeit, welche die Männer dieser Gruppe für die Kinderbetreuung aufbringen (bei einer Beteiligungsquote von 22 Prozent), liegt um sechs Minuten am Tag über der jener, die einer unqualifizierten Arbeit nachgehen (Beteilungsrate: 18 Prozent; siehe PDF-Version, Schaubild 7).
Einen deutlich stärkeren Einfluss als die Branche oder die Stellung im Beruf hat das Einkommen des Mannes auf die Balance zwischen Arbeit und Familie. In der Haus- und Familienarbeit insgesamt sind die Zusammenhänge zunächst nicht so virulent: Die Beteiligungsquote an der Hausarbeit schwankt um nur zwei Prozentpunkte zwischen dem untersten und dem obersten Einkommensquintil, sie liegt zwischen 92 Prozent bzw. 94 Prozent. Ausgeprägter sind die Unterschiede bei der durchschnittlichen Zeitdauer: Die "ärmsten" Männer im untersten Quintil leisten fast fünf Stunden Haus- und Familienarbeit, die "reichsten" Männern im obersten Einkommensquintil betätigen sich hier mehr als eine Stunde weniger. Der Anteil der Arbeit der Männer bei der Kinderbetreuung variiert hoch signifikant mit dem Einkommen: Während ein Viertel der "ärmsten" Väter Kinderbetreuungsarbeit leistet (26 Prozent), ist nur noch ein Zwanzigstel der "reichsten" Väter (5 Prozent) auf diesem Feld aktiv. Bei der aufgewendeten Zeit ist die Differenz kleiner; sie beträgt zehn Minuten: Männer im untersten Einkommensquintil wenden eine Stunde und fünfzehn Minuten für die Kinderbetreuung auf, Männer im obersten Quintil eine Stunde und fünf Minuten.
Wie schon die Männerstudie von 1998 gezeigt hat, sind in den ostdeutschen Bundesländern mehr Männer im Bereich der Haus- und Familienarbeit aktiv. Sie investieren hierfür zwanzig Minuten mehr am Tag als ihre Geschlechtsgenossen in den westdeutschen Ländern. Dabei sind neun Zehntel der Männer zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen im Haushalt mit durchschnittlich drei Stunden und elf Minuten aktiv, im Unterschied zu 86 Prozent in den westdeutschen Bundesländern (siehe PDF-Version, Schaubild 8). Die Männer aus den ostdeutschen Bundesländern verbringen mehr Zeit mit der Zubereitung von Mahlzeiten, mit der Instandhaltung der Wohnung und anderen Aufräumarbeiten als jene aus den westdeutschen Bundesländern. Diese wiederum wenden etwas mehr Zeit für Reinigungsarbeiten innerhalb der Wohnung auf, während Männer aus den ostdeutschen Bundesländern mehr mit Reinigungsarbeiten rund ums Haus beschäftigt sind. Der Anteil derjenigen Männer, die in den ostdeutschen Bundesländern tatsächlich Kinder betreuen, liegt mit zehn Prozent um zwei Punkte unter dem Wert der Männer in den westdeutschen Bundesländern; die durchschnittliche tägliche Zeitdauer ist mit etwa 70 Minuten fast gleich.
Insgesamt scheint die Haus- und Familienarbeit von den Männern vor allem am Samstag geleistet zu werden; in über neun Zehnteln der Tagebücher finden sich entsprechende Einträge. Männer wenden für diese Tätigkeiten dann durchschnittlich mehr als dreieinhalb Stunden auf; sie sind damit um ein Fünftel länger beschäftigt als an Werktagen. Auch am Sonntag sind noch bei 86 Prozent aller Männer entsprechende Tagebucheinträge zu verzeichnen; sie engagieren sich dann etwas mehr als zwei Stunden. Auch der Zeitwert für die Betreuung der Kinder nimmt am Wochenende zu; er liegt am Samstag mit einer Stunde und 18 Minuten schon um gut ein Fünftel höher als an den Werktagen. Seine Spitze erreicht er mit fast eineinhalb Stunden am Sonntag; an diesem Tag ist mit 14 Prozent auch der Anteil der Männer, die sich ihren Kindern widmen, am höchsten.
Der Reinigung und Pflege von Haus und Wohnung widmen sich Männer bevorzugt samstags. Während der Zeitaufwand dafür von Montag bis Freitag bei 49 Minuten liegt, wird am Samstag mehr als eine Stunde hierfür aufgebracht. Auch der Anteil der auf diesem Feld aktiven Männer steigt gegenüber den anderen Werktagen um zehn Prozentpunkte auf 55 Prozent (siehe PDF-Version, Schaubild 9). Demgegenüber finden sich nur in knapp 23 Prozent der Tagebücher am Samstag Einträge zu handwerklichen Tätigkeiten; allerdings sind die Betreffenden dann mehr als eine Stunde und vierzig Minuten beschäftigt. An den anderen Werktagen sind es sogar nur 17 Prozent, die gut eineinhalb Stunden in diesem Bereich aktiv sind.
Männer verschwinden also keineswegs am Wochenende in ihrer Werkstatt; sie sind vielmehr - wie auch im Laufe der Woche - in vielen anderen Bereichen der Haus- und Familienarbeit aktiv. Jenseits von Beruf und Familie:Männerfreizeit
In ihrer Freizeit - dem Leben jenseits der Haus- und vor allem Erwerbsarbeit - sind Männer entgegen mancher Vorurteile keineswegs "autistische Computerhacker", vielmehr setzen sie ein Viertel ihrer Freizeit für soziale Kontakte ein (vgl. PDF-Version, Schaubild 10). Dieser Anteilswert variiert erwartungsgemäß mit dem Lebensalter der Männer. Der höchste Zeitwert für Sozialkontakte findet sich bei den 18- bis 25-jährigen Männern, die dafür täglich imDurchschnitt drei Stunden und 12 Minuten investieren; bei mehr als 80 Prozent dieser Altersgruppe findet sich ein entsprechender Tagebucheintrag.
Der Zeiteinsatz für sozialkommunikative Aktivitäten geht bei Männern im Alter zwischen 25 und 45 Jahre um fast ein Drittel auf nur noch zwei Stunden und 12 Minuten zurück. Der Anteil derjenigen, die dieser Tätigkeit nachgehen, bleibt in etwa gleich. Die Zeitdauer sozialkommunikativer Aktivitäten steigt mit dem Lebensalter nur noch unwesentlich an und beträgt bei Rentnern zwei Stunden 24 Minuten; 82 Prozent der Rentner nehmen am sozialen Leben teil. Im gesamten männlichen Lebenszyklus bleibt damit der Anteil derjenigen, die soziale Kontakte pflegen, konstant, was die hohe Bedeutung dieses Lebensbereichs für Männer unterstreicht.
Die relativ häufigsten und ausdauerndsten Nutzer von Massenmedien sind Männer jenseits des 65. Lebensjahrs: In 97 Prozent ihrer Tagebücher findet sich ein entsprechender Eintrag; durchschnittlich vier Stunden und zehn Minuten pro Tag gehen sie dieser Beschäftigung nach. Dagegen verbringen Männer zwischen 25 und 45 Jahren nur knapp drei Stunden täglich mit der Nutzung von Massenmedien. Diese Altersgruppe verbringt darüber hinaus - im Vergleich mit anderen Altersgruppen - die wenigste Zeit vor dem Fernseh- bzw. Videogerät bzw. hört am wenigsten Radio oder Musikaufnahmen (vgl. PDF-Version, Schaubild 11).
Bei jungen Männern zwischen 12 und 18 Jahren nehmen Fernseh-, Video- und Radiokonsum den größten Raum ein: Fast drei Viertel ihrer Zeit für die Mediennutzung entfällt auf den Gebrauch von Fernseh- und Videoapparaten. Ältere Männer ab dem 65. Lebensjahr verbringen demgegenüber die meiste Zeit damit, zu lesen (28 Prozent der gesamten Zeit für die Mediennutzung) und Fernsehen zu schauen, die wenigste hingegen mit der Nutzung eines Computers. Umgekehrt widmen die 18- bis 25-Jährigen dem Computer ein Fünftel ihrer gesamten Zeit der Mediennutzung und setzen nur ein Zehntel ihrer Medienzeit für das Lesen ein.
Auf alle Männer bezogen, nimmt die für (Massen-)Medien aufgebrachte Zeit mit dem Alter der Kinder ab: Am geringsten ist der Zeitanteil für den Medienbereich bei Vätern mit einem Kind von unter drei Jahren: 90 Prozent der Tagebücher verzeichnen hier eine Aktivität von durchschnittlich zwei Stunden und 25 Minuten. Die Mediennutzung variiert auch mit dem Einkommen. "Reiche" Männer verbringen weniger Zeit damit, Fernseh- und Videosendungen zu sehen; sie erweisen sich als "Spitzenreiter" beim Lesen; Spitzenwerte erreichen sie auch beim Zeiteinsatz für künstlerische Aktivitäten.
Väter mit Kindern unter drei Jahren im Haushalt haben die wenigste Zeit für sportliche Aktivitäten. Knapp ein Drittel von ihnen ist sportlich aktiv, und diese wenden etwas mehr als eineinhalb Stunden täglich für den Sport auf. Insgesamt finden sich in den Tagebüchern von einem Drittel aller Männer entsprechende Einträge; es werden im Durchschnitt knapp zwei Stunden für sportliche und andere Aktivitäten in der Natur - wie Angeln oder Jagen - aufgebracht. Doch machen die sportlichen und naturbezogenen Aktivitäten nur neun Prozent der gesamten männlichen Freizeitaktivitäten aus. Männer sind also keineswegs die "immer aktiven Dauersportler" oder die "schweigenden Angler".
Vergleichsweise wenig Zeit für sportliche Aktivitäten können auch die Selbständigen aufbringen; nur knapp ein Viertel dieser Gruppe verzeichnet überhaupt entsprechende Aktivitäten. Dagegen treibt etwa ein Drittel der verbeamteten Männer Sport und kann dafür im Durchschnitt eine Stunde und 48 Minuten am Tag verwenden. Angestellte und Arbeiter treiben zwar noch etwas länger Sport, dafür üben sie aber - vor allem die Arbeiter - anteilig weniger Sport aus (vgl. PDF-Version, Schaubild 12).
Ebenso wenig wie Männer für mehrere Stunden in ihrer Werkstatt verschwinden, spielen sie auf dem Dachboden ständig mit ihrer Eisenbahn. Denn in nur 12 Prozent der Tagebücher sind Einträge im Bereich "Technische und andere Hobbys" verzeichnet. Der Zeitaufwand für diese Aktivität liegt im Durchschnitt bei knapp einer Stunde am Tag. Während sich in den Tagebüchern der 25- bis 45-jährigen Männer nur bei 11 Prozent ein entsprechender Eintrag findet, sind es bei den über 65-Jährigen 24 Prozent. Die älteren Männer widmen ihrem Hobby eine Stunde und drei Minuten am Tag, während die Männer zwischen 25 und 45 Jahren nur 50 Minuten Zeit dafür aufbringen.
Männer sitzen auch keineswegs stundenlang vor ihrem Computer; im Durchschnitt verbringen sie rund eineinhalb Stunden pro Tag vor dem PC. Allerdings führt nur ein Sechstel der Männer diese Aktivität überhaupt an. Den höchsten Zeitaufwand - zwei Stunden pro Tag - verzeichnen Männer im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Knapp ein Drittel dieser Altergruppe gibt diese Aktivität an; es kann vermutet werden, dass der PC als Arbeitsmittel in der Ausbildung dient. Denn nur in 18 Prozent der Tagebücher in dieser Altersgruppe findet sich ein Eintrag zu Computerspielen, diese Männer verbringen dann jedoch rund zwei Stunden damit. Junge Männer unter 18 Jahren bringen allerdings einen beachtlichen Teil ihrer Zeit mit dem Computerspielen zu: durchschnittlich zwei Stunden und zwanzig Minuten am Tag; und fast die Hälfte aller Jungen gehen dieser Beschäftigung auch nach (vgl. PDF-Version, Schaubild 13).
Wie vermutet, finden die meisten Freizeitaktivitäten vorwiegend am Wochenende statt: Der Sonntag ist vor allem dem Sport und der Samstag den technischen sowie künstlerischen Aktivitäten vorbehalten. Das Wochenende - vor allem der Samstag - ist darüber hinaus der Zeitraum für soziale Kontakte. So wird am Samstag gut die Hälfte mehr Zeit für soziale Kontakte aufgewendet als in der Woche. Knapp zwei Drittel der Tagebücher weist für das Wochenende entsprechende Einträge auf, wobei im Durchschnitt fast zwei Stunden investiert werden. Dagegen findet sich in nur zwei Prozent der Tagebücher ein Eintrag zum Besuch von Sportveranstaltungen; dann allerdings werden knapp zweieinhalb Stunden dort verbracht. Gut ein Drittel der Männer nimmt sich am Wochenende eine Stunde und sieben Minuten Zeit zum Ausruhen - fast zehn Minuten mehr als durchschnittlich in der Woche. Allerdings findet nur ein Viertel aller Männer dafür überhaupt Zeit. Schließlich ist notierenswert, dass Männer nicht wenig Zeit mitKörperpflege verbringen. Im Durchschnitt sindesfünfzig Minuten am Tag; mit 98 Prozent sind praktisch alle Männer in diesem Bereich vertreten. Fazit: Vielfalt im Männerleben
Die Analyse der Zeitverwendung bundesdeutscher Männer hat gezeigt, dass die Erwerbsarbeit zwar einen zentralen Aktivitätsbereich männlicher Lebensführung darstellt, aber Männer nicht ausschließlich ErwerbsMänner sind. Sie sind neben der Erwerbsarbeit auch in der Haus- und Familienarbeit präsent und haben überdies ein Freizeitleben. Der Vergleich mit dem entsprechenden Zeitaufwand von Frauen zeigt allerdings, dass sich an der klassischen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen nicht sehr viel geändert hat: Männer sind fast doppelt so lang mit Erwerbsarbeit beschäftigt wie Frauen, wenden jedoch nur rund zwei Drittel der Zeit für Haus- und Familienarbeit auf, die Frauen hierfür aufbringen. Zu Hause scheint noch immer eine klare Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern vorzuherrschen, mit einer ebenso klaren Zuständigkeit der Frauen für die Kinderbetreuung. Wie beispielsweise eine Analyse der milieubezogenen Ausprägung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beim Kochen gezeigt hat, sollte "geschlechtsspezifisch" jedoch nicht vorschnell mit "geschlechtshierarchisch" verwechselt werden, denn die Wertung des jeweiligen Musters der Arbeitsteilung erfolgt immer im spezifischen Kontext des partnerschaftlichen Arrangements. Dem Leitbild des "neuen" oder modernen Mannes entsprechend, erhöhen Männer ihr Engagement in der Haus- und Familienarbeit, wenn sie Väter werden. Leben sie dann mit einer Partnerin zusammen, die nicht erwerbstätig ist, liegt ihr zeitlicher Einsatz für bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammen genommen sogar mehr als eine Stunde über dem ihrer Partnerin. Von einer "Familienflucht" der Männer kann also keine Rede sein. Unseres Erachtens deuten die vorliegenden Ergebnisse vielmehr auf eine stärkere partnerschaftliche Orientierung von Männern hin. Denn der erhöhte Zeiteinsatz in der Haus- und Familienarbeit wird durch weniger Zeit für physiologische Regeneration und Freizeit erkauft.
Auch hinsichtlich ihrer Freizeitaktivitäten sind Männer anscheinend kommunikativer, als vielfach angenommen wird - sie verbringen ihre Zeit eben nicht nur am Computer, spielen nicht nur mit der Eisenbahn, trainieren nicht nur für den "Iron Man". In weiten Teilen unterscheidet sich ihre Art der Freizeitgestaltung auch nicht allzu stark von jener der Frauen. Denn wie die Männer investieren auch diese einen etwa gleich großen Anteil ihrer Freizeit in den Fernseh- oder Videokonsum, legen allerdings ein etwas größeres Gewicht auf soziale Kontakte. Interessanterweise liegt der tägliche Zeiteinsatz der Frauen für die Körperpflege im Durchschnitt nur acht Minuten über dem der Männer. Haben Männer also doch ihre "femininen" Seiten und die Liebe zu Parfüm entdeckt und sind auf dem Weg zum "Metrosexuellen"? Diese Frage kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Eines zeigt unsere Analyse der Zeitverwendung von Männer allerdings deutlich: Männerleben ist vielfältiger, als es die öffentliche Meinung und die alten, hegemonialen Männerbilder vom Erwerbs- und MachtMann nahe legen.
Vgl. Peter Döge, Geschlechterdemokratie als Männlichkeitskritik. Männerforschung, Männerpolitik und der "neue Mann", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31 - 32/2000, S. 18 - 23.
Vgl. Euro RSC Worldwide, Prosumer Pulse. The Future of Men: USA, New York 2003.
Vgl. Rainer Volz/Paul M. Zulehner, Männer im Aufbruch. Wie Deutschlands Männer sich selbst und wie Frauen sie sehen. Ein Forschungsbericht, hrsg. von der Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland sowie der Gemeinschaft der Katholischen Männer Deutschlands, Ostfildern 1998; Paul M. Zulehner (Hrsg.), MannsBilder. Ein Jahrzehnt Männerentwicklung. Im Auftrag des Bundesministeriums für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz, Ostfildern 2003. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Paul M. Zulehner in dieser Ausgabe.
Vgl. P. M. Zulehner (Anm. 3), S. 23.
Vgl. R. Volz/P. M. Zulehner (Anm. 3), S. 51.
Um der Frage nachzugehen, womit die Bürgerinnen und Bürger täglich ihre Zeit verbringen, wird alle zehn Jahre vom Statistischen Bundesamt deren Zeitverwendung erfasst - so zuletzt in den Jahren 2001 und 2002. Dazu wurden in mehr als 5 400 Haushalten von über 12 600 Personen ab dem zehnten Lebensjahr an jeweils drei Wochentagen jede Tätigkeit und ihr Umfang akribisch notiert, so dass auf diese Weise 37 800 Tagebücher zusammengekommen sind. Eine erste Auswertung der Zeitbudgeterhebung (ZBE) haben wir vorgelegt unter dem Titel: "Was machen Männer mit ihrer Zeit? Zeitverwendung bundesdeutscher Männer nach den Ergebnissen der Zeitbudgeterhebung (ZBE) 2001/2002", in: Statistisches Bundesamt, (Hrsg.), Alltag in Deutschland. Analysen zur Zeitverwendung; Schriftenreihe "Forum der Bundesstatistik", Band 43, Stuttgart 2004.Wir danken Thomas Weißbrodt, Universität Köln, für engagierte statistische Datenaufbereitung und methodische Impulse im Blick auf multivariative Auswertungen.
Zur Haus- und Familienarbeit zählen folgenden Tätigkeiten: Zubereitung von Mahlzeiten; Instandhaltung von Haus und Wohnung; Herstellen, Ausbessern und Pflege von Textilien; Gartenarbeit, Pflanzen- und Tierpflege; Bauen und handwerkliche Tätigkeiten; Einkaufen; Haushaltsplanung und -organisation; Kinderbetreuung; Unterstützung, Pflege und Betreuung von erwachsenen Haushaltsmitgliedern. Diese Zuordnung von Tätigkeiten zu bestimmten Oberbegriffen ist vom Statistischen Bundesamt vorgenommen worden, das die Zeitbudgeterhebung (ZBE) durchgeführthat.Dies gilt auch für die Zuordnungen anderer Tätigkeiten.
Zu diesen werden Tätigkeiten als Haushaltsgehilfe und Hausangestellte sowie in der privaten Kinderbetreuung und Pflege gezählt.
Hierzu zählen, wiederum nach der Definition des Statistischen Bundesamtes: Ehrenamtliche Tätigkeit; soziale Kontakte; sportliche und andere Aktivitäten; Hobbys und Spiele; Nutzung von Massenmedien.
Vgl. Petra Frerichs/Margareta Steinrücke, Kochen - ein männliches Spiel? Die Küche als geschlechts- und klassenstrukturierter Raum, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hrsg.), Ein alltägliches Spiel, Frankfurt/M. 1997, S. 231-255. Über die Gründe der anhaltenden traditionellen Arbeitsteilung geben die hier vorliegenden Daten keine Auskunft. Die Ursachen des geringen Engagements von Männern in der Kinderbetreuung sind unseres Erachtens mehrdimensional und nicht in einer Familienflucht oder in einem wie auch immer gearteten "männlichen Unwillen" (Pinl) begründet. Nicht unwesentlich sind sie in der Dynamik der jeweiligen Geschlechterbeziehung angelegt (vgl. Peter Döge/Rainer Volz, Wollen Frauen den neuen Mann? Traditionelle Geschlechterbilder als Blockaden von Geschlechterpolitik, St. Augustin 2002). Ebenso wenig geben die Daten Auskunft darüber, wie groß die Wahlmöglichkeiten der beteiligten Personen sind und wie sich diese aus dem jeweiligen Lebensmuster begründen - die Unterstellung von Claudia Pinl, Männer hätten bei der Übernahme von Hausarbeiten größere Wahlmöglichkeiten als Frauen, ist durch die vorliegenden Daten in keiner Weise empirisch abgesichert und wird von ihr auch nicht durch andere Quellen belegt (vgl. Claudia Pinl, Wo bleibt die Zeit? Die Zeitbudgeterhebung 2001/02 des Statistischen Bundesamtes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B31 - 32/2004, S. 24).
Vgl. Bundesfamlienministerium und Statistisches Bundesamt, (Hrsg.), Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 2001/02, a. O., a. J. (Berlin/Wiesbaden 2003) S. 15, Abbildung. Dieselbe Abbildung zeigt auch: C. Pinl (Anm. 10), S. 24 (Abbildung 4). Die Ausführungen der Autorin im Kontext dieser Grafik (S. 22 - 25) können jedoch als Versuch angesehen werden, die zeitliche Belastung erwerbstätiger Väter "wegzuintepretieren".
| Article | Döge, Peter / Volz, Rainer | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27982/maenner-weder-paschas-noch-nestfluechter/ | Neue bzw. moderne Männer stehen der Übernahme häuslicher Pflegearbeiten und einer damit zusammenhängen Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit aufgeschlossener gegenüber. Sie verstehen sich als partnerschaftliche und aktive Väter. | [
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"Africa is my Future" | 15. Bundeskongress Politische Bildung | bpb.de |
(© Jacques Nkinzingabo)
Dr. Edna Bonhomme: One theoretical framework that helps to shape your artistic practice is Afrofuturism, which you have been feeling, thinking about, and working with over the past thirty years. How do you define Afrofuturism, and how has its history and current iteration shaped your curatorial and artistic work?
Ingrid LaFleur: I'm very open to multiple definitions of Afrofuturism. I have my working definition that helps to frame every single thing that I do basically. Afrofuturism is a way of discussing the black experience using speculative modalities like science fiction, fantasy, magical realism, and horror. I explore the intersection of race, technology, and science. African and African diasporic cosmologies, legends, mythologies, and spiritual technology influence my work. I love to emphasise that Afrofuturism is non-linear in all its ways, and it is multi-dimensional. Moreover, Afrofuturism is intersectional and multi-disciplinary. The most crucial part of Afrofuturism is that it unapologetically centres the black body. And I think of that one point as a portal of liberation for everyone, regardless if a person is of African descent or not of African descent. It is essential to think about the Black body because of the pervasiveness of anti-blackness in this world. So many people of all backgrounds don't realise that anti-blackness is part of their consciousness and subconscious. Our world has been training humans for millennia to think of those who have darker skin as sub-human. Given this, Afrofuturism can help create a new relationship with blackness. For example, Afrofuturism allows people to embrace Black people as full humans who are producing a culture that, I believe, many people worldwide gravitate towards. Although Afrofuturism was coined in 1993, Afrofuturism always existed, meaning Black people have always been futurists; Black people have imagined alternate destinies beyond their present condition. During chattel slavery in the Americas, enslaved Black people perceived themselves and their progeny beyond their enslavement and imagined their freedom. I like the challenge of understanding the evolution of blackness through the lens of Afrofuturism because the theory keeps evolving.
In your installation Futurisms, an exhibition which you curated and which includes works by artists Jasmine Murrell, Saba Taj, Alisha Wormsley, Saks Afridi, and more. The work is not only concerned about making space for Afrofuturism, but you also provide ample space for this to incorporate Sci-fi Sufism and Muslim Futurism. What distinguishes Afrofuturism from sci-fi and Muslim futurism, and how did these artists speak with each other and engage in cross-cultural discourse?
As a curator, I focused more on their similarities than their differences. And for me, it was important for Afrofuturism to be in conversation with other future visioning practices. I love diversity, and I love to challenge myself. What I like about Afrofuturism, sci-fi futurism, Gulf Futurism and Muslim Futurism is that they all understand that some other entity has controlled the narrative around their bodies and cultures. They are crafting a new narrative for the present, the past and the future. They use futurism to activate aspects of the past and challenge what we were taught in schools. Afrofuturism created this pathway, and so many people were inspired by it. People who have been affected by chattel slavery and colonialism have been very futurist-minded because of all these disruptions telling us that we are not whole. These messages try to imprison us from the present and can keep us from achieving our dreams. Future visioning practices can pull us from the past and move us forward. That's why I love to travel. When I travel, I become an observer and want to learn from others. What I learned from this curatorial project of connecting different futures across Arab and African diasporas is how people survive, thrive and gain pleasure from our present moment. These strategies shape their futures.
In your artwork, Traveling to Turiya, a series from 2016, which references the work of African American jazz musician Alice Coltrane, you incorporate mixed media, that is, crystals, pyrite amethyst, and bismuth, which are meant to help the audience feel and think through healing methodologies, that is to say, you try to find ways to cleanse one’s body of intergenerational trauma. The sonic recording is an audio collage with African American artists and musicians who evoke self-love and enlightenment. How did you come to develop this sonic installation, and whom is this recording meant to be an affirmation for?
Objekt aus der Ausstellung "Traveling to Turiya". (© Ingrid LaFleur)
When I worked on that exhibition, I was learning about Alice Coltrane. She was a brilliant pianist originally from Detroit. Some people know she had a stabilising and healing force on John Coltrane. If not for Alice, we might not know of John as we know him today. Turiya, which I used in my exhibition title, refers to Hinduism's highest state of consciousness. Knowing about Alice Coltrane’s legacy and Hindu practice, I asked myself how I could get to Turiya. So I made over thirty pieces of sculptures which included crystals on wood. The wood pieces were of different shapes and sizes, and all the crystals had healing properties. Another aim of the artwork was to uplift and support progressive activists in Detroit. So I created the meditations that were included in the installation. The voices in the collage included phrases from African American writers, artists and creatives such as James Baldwin, Eartha Kitt, and Toni Morrison. I also included the African American science fiction writer Octavia Butler. Many people who admire Butler’s work have read her books, but those people don't realise how deep Octavia’s voice was. She had a voice, and I never get tired of hearing it. The artwork intends to be healing for everyone. I'm a black queer woman, so I will always do something on a collective level.
In 2017, you ran for the mayor of Detroit, Michigan, the largest city in the state of Michigan but also a city that is known as the automobile capital of the world and for its distinctive Motown music sound from the 1960s and the birth of techno music, a musical genre that is popular in Berlin, Germany. Given the city's rich history as a cultural and political hub, how did your cultural practices and real-world politics related inform your desire to run for mayor of the city of Detroit?
I was born and raised in Detroit in 1977, ten years after the 1967 rebellion. That is to say, ten years after the height of the Civil Rights movement. This meant that I came of age after this momentous period. During my childhood, the city of Detroit had burnt down buildings or abandoned buildings. Many people decided to flee the city, and most of the people who left were white Americans. Detroit is a Black city; that is to say, over 80% of Detroit residents are African American. For many years, I lived in other cities, including Atlanta. However, when I moved back to Detroit, I knew I was returning to a highly complex city. I wanted to be part of its transformation. In getting to know my city, I started teaching. I didn't realise that one doesn’t know what's going on within a city until one spends time with the children of that city. When I moved back to Detroit, the city had more fires than Los Angeles and New York. As a substitute teacher who went from school to school, I saw in every single class that there were children with third-degree burns. Seeing the result of the city fires and how that impacted the children of Detroit became a physical manifestation of a statistic. This made me wonder how children can learn after the trauma that they've experienced. This wasn't easy. Another issue was that water shutoffs were happening at homes. This meant that children were coming to school with dirty clothes. Finally, the city of Detroit was experiencing high levels of foreclosures on homes which meant that some students did not have stable housing. The Black children of Detroit will forever be my inspiration, and I will forever work for them no matter what I do. Because I was concerned, I decided to go to the social justice community and started to learn that they were working on solutions. Like them, I believe that water should be a right and that no one should have to pay for water. When I decided to run for mayor, I wasn't thinking about being an Afrofuturist, but I organised like a curator. I invited the community to my political office and held co-creation sessions. We created a space for everyone to talk about politics with an open vision. Because sixty-four per cent of people in Detroit live in poverty, I wanted to implement a universal basic income for everyone in Detroit. This would have meant that residents get $2,000 monthly to help cover all the basics, the utilities, and rent. If this had passed, poverty would have been addressed, and residents could start thinking about thriving.
Objekt aus der Ausstellung "Traveling to Turiya". (© Ingrid LaFleur)
In 2016, the Senegalese scholar Felwine Sarr published the book Afrotopia. He called for a vibrant meditation and poetic call for the African utopian philosophy of self-invention for the twenty-first century, whereby African became the site of creative potential, economic growth and production. The book was meant to carve a political and intellectual space whereby African epistemologies and technologies were embraced, and climate crisis, as we know it, no longer existed. How do you define utopia and what would it demand to achieve this politically and artistically?
I believe utopias can exist within dystopia. If I learned anything from the city of Detroit, I learned that. A utopia and an apocalypse can happen in the same place. Nevertheless, utopia is an individual thing. It's based on your reality and vision. I think that's why it isn't effortless to create a utopia on a collective level. Someone's utopia could be someone's dystopia. Someone's dystopia can be someone's utopia. For example, when one thinks about slavery, some were utterly contained and enslaved, living in a dystopia, and some people enslaved lived in a utopia. Unfortunately, we will always be able to identify dystopia because that's how we're trained and socialised to do it. And as a result, we gravitate towards dystopia. Nevertheless, I'm not a victim and refuse to be a victim. I have complete control over my life. Africa is my utopia. That doesn't mean Africa is perfect; I'm just saying it's my utopia. Whenever I'm on the African continent, I am home. I feel great. I'm excited about all the innovation and tech in Africa. I go to Africa to learn and bring that knowledge back to Detroit. As Africa becomes more robust, I believe the African diaspora strengthens. And what's even more exciting is the visibility of Africans in the diaspora. People of the African diaspora move through culture. And so most of our resistance, as Black people, comes through our culture. The dream is to bring the people of the African continent together. I think it's possible and very hopeful for everybody else in the diaspora.
Finally, what are you working on now?
After focusing so many years on learning about technology, I wanted to understand artificial intelligence better. I became interested in the methods for mapping the future because I knew that marginalised communities are only sometimes aware of what's happening or being planned for us. As such, I decided to go to graduate school at the University of Houston for foresight, to learn the methodologies that futurists use to research the future. I am a formerly trained futurist as well. I've decided to create my methodology that combines all of the information, experiences, and knowledge I've been learning since 2010. We all have the potential to develop a future consciousness, which is one step towards liberation.
(© Jacques Nkinzingabo)
Objekt aus der Ausstellung "Traveling to Turiya". (© Ingrid LaFleur)
Objekt aus der Ausstellung "Traveling to Turiya". (© Ingrid LaFleur)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-05-04T00:00:00 | 2023-04-19T00:00:00 | 2023-05-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/520221/africa-is-my-future/ | For decades, the artist, curator, and multidisciplinary thinker Ingrid LaFleur has imagined and implemented forward-thinking solutions across art, technology and education. The writer and historian Dr. Edna Bonhomme asked her about her theoretical fr | [
"Afrofuturismus"
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Integrationsdebatten und Integrationspolitik | Dossier Migration | bpb.de | Integration ist ein schillernder Begriff. Er wird ebenso als Forderung nach mehr Teilhabe für Minderheiten verwendet, wie auch als Imperativ zu einer Anpassungsleistung von Zuwandernden. Externer Link: Der Gehalt des Begriffs hängt also davon ab, wer aus welchen Gründen in welche Bereiche integriert werden soll und welche Annahmen damit verbunden sind. Diese Fragen sind Gegenstand breiter gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Dabei wird einerseits darum gestritten, wer die Verantwortung für erfolgreiche Integrationsprozesse trägt, anderseits geht es um die grundlegende Frage, wie unsere Gesellschaft aussehen soll. Integration ist zudem ein relationaler Begriff: Mit ihm werden soziale Prozesse beschrieben, in denen sich Verbindungen zwischen Einzelnen oder Gruppen und gesellschaftlichen Strukturen herausbilden. Er bedarf aber auch einer gesellschaftlichen Aushandlung, denn Zuschreibungen innerhalb von Integrationsprozessen entscheiden wesentlich darüber, inwiefern Einzelne oder Gruppen diese Prozesse selbst mitgestalten können oder bloße Anpassungsleistungen erbringen müssen. Es lohnt sich deshalb einen Blick auf Ansätze und Debatten zu richten, die den Begriff in seinen Bezügen verdeutlichen und zeigen, wie mit der Forderung nach Integration verbundene Zuschreibungen zu unterschiedlichen Deutungen dessen führen, was Integration ist.
Die strukturellen Voraussetzungen von Integration
In den Sozialwissenschaften wird häufig angenommen, dass allgemeinen Lebensverhältnisse des Aufnahmelandes wie das Erwerbseinkommen, der Bildungsverlauf oder die sozialen Kontakte als relationaler Maßstab für Integration von Einwandernden gedeutet werden müssen. Der Migrationsforscher Externer Link: Hartmut Esser unterscheidet vier Varianten der Sozialintegration: Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation. Daraus leitet er vier Formen der Integration ab – kulturelle, strukturelle, soziale und identifikatorische Integration. Nach diesem Modell ist für den Integrationsverlauf entscheidend, ob und wie Bürgerinnen und Bürger durch die Struktur eines Gesamtsystems zusammengehalten werden. . Dies gilt grundsätzlich für alle Gesellschaftsmitglieder, aber insbesondere für Personen mit Migrationsgeschichte. Denn sie können erst dann als integriert gelten, wenn Unterschiede in den Lebensverhältnissen wie z.B. ein durchschnittlich schlechterer Bildungsabschluss als andere Gruppen nicht etwa auf Grund der Kultur, sondern auf allgemeinen Bedingungen beruhen.. Integration bedeutet nicht die völlige Gleichheit in den Lebensverhältnissen, sondern sie ist dann gegeben, wenn unter Personen mit Migrationsgeschichte ähnliche Ungleichheiten wie in der Gesamtbevölkerung herrschen. Gesellschaftspolitisch ist diesen strukturellen Herausforderungen mit einer Reihe von Maßnahmen begegnet worden. So wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Programme zur Förderung der Integration von Personen mit Migrationshintergrund im Externer Link: Bildungsbereich, auf dem Externer Link: Arbeitsmarkt und Externer Link: in den Stadtquartieren aufgelegt. Das strukturelle Verständnis von Integration, das vielen dieser Fördermaßnahmen zugrunde gelegt wurde, ist aber sowohl politisch als auch sozialwissenschaftlich umstritten, was sich auch in Diskussionen um die Begrifflichkeit äußert.. Zum Teil wird gefordert, Externer Link: 'Integration' durch 'Inklusion' zu ersetzen, weil damit eine gleichberechtigte Teilhabe benannt werde. Unterstützt wird dieses Argument durch die zunehmende Berücksichtigung gesellschaftlicher Vielfalt in vielen Lebensbereichen wie etwa in Unternehmen und Verwaltungen durch die Externer Link: Charta der Vielfalt. Ob Integrations- und Antidiskriminierungspolitik auch dauerhaft zusammenwachsen, ist aber politisch zumindest auf Bundesebene noch nicht absehbar. Entwicklung der Integrationspolitik und -debatte
Lange Zeit war die bundesdeutsche Integrationspolitik zweigeteilt: Während seit den 1950er Jahren als Interner Link: 'Deutsche' anerkannte Zuwanderer aus den Gebieten des damaligen 'Ostblocks' von umfassenden Eingliederungshilfen profitierten, wurden nichtdeutsche Arbeitsmigranten als 'Gastarbeiter' wahrgenommen, die nicht auf Dauer bleiben Interner Link: würden. Als nach dem Anwerbestopp 1973 der Familiennachzug einen zunehmenden Anteil der Zuwanderung ausmachte, wurde zwar immer wieder eine zentrale Integrationspolitik gefordert, bundespolitisch jedoch eher die "Rückkehrfähigkeit" der Migranten in den Blick genommen: Beispielsweise durch den muttersprachlichen Unterricht für Kinder von 'Gastarbeitern'. Vor allem auf kommunaler Ebene, aber auch in einzelnen Bundesländern, entwickelten sich parallel dazu verschiedene Ansätze zur Integrationsförderung vor Ort. Damit einher ging die Idee vom "ausländischen Mitbürger", der z.T. durch die Einrichtung von Externer Link: Ausländerbeiräten politisch Rechnung getragen wurde. Bürger/innen mit Migrationsgeschichte konnten damit zum ersten Mal auch politisch partizipieren. Im Anschluss an diese Entwicklung richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit vermehrt auf Fragen nach der Vereinbarkeit differenter kultureller Prägungen. In den 90er Jahren wurde das Konzept des Externer Link: Multikulturalismus populär, einer Idee, nach der unterschiedliche kulturelle Gruppen gleichberechtigt neben- und miteinander existieren können. Aus einer konservativen Perspektive wurde daran kritisiert, dass durch diesen Ansatz eine Gesellschaft ihre kulturelle und politische Identität aufgebe, ohne diese durch ein neues Leitmotiv zu ersetzten. Eine liberale Kritik an dem Ansatz lautete, dass durch das Postulat von 'Multikulti' Einzelne nur noch durch die Brille ihrer als statisch gedachten kulturellen Zugehörigkeit gesehen würden und Individualität damit aus dem Blick gerate. Spätestens seit den Terroranschlägen der frühen 2000er Jahre in den USA und Europa kam außerdem die Befürchtung auf, dass mit der Migration einer muslimischen Bevölkerungsminorität nach Europa auch Werte importiert würden, die die offenen und demokratischen Gesellschaftmodelle Europas bedrohen. Damit rückten Menschen aus den "islamisch" geprägten Staaten in den Fokus sicherheitspolitischer Bedenken. Integrationsprozesse werden seitdem zum Teil unter den Vorbehalt einer kulturellen Kompatibilität gestellt, in der ihr Erfolg in Abhängigkeit zu kulturellen Lebensweisen bzw. religiösen Überzeugungen gestellt wird. Dabei richtet sich der Blick dann eher auf den Grad der kulturellen Anpassung, ob eine Frau z.B. ein Kopftuch trägt, weniger jedoch auf die Fähigkeiten wie etwa eine berufliche Ausbildung. Es kann daher von einer Externer Link: Kulturalisierung des Integrationsbegriffs gesprochen werden. Nicht mehr die Arbeit, das Einkommen, soziales Engagement oder die Familienverhältnisse spielen dann eine Rolle, sondern eher die Religion und eine vermeintlich kulturelle Andersartigkeit. Die kulturelle Lebensweise einer Gruppe wird dann zur Ursache sozialer Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Familienkonflikte erklärt, ohne dass damit ein Vorschlag für konkrete Integrationsmaßnahmen verbunden ist. Zugleich wurden in den letzten 15 Jahren mit eher strukturell geprägten und auf die ersten beiden Zuwanderergenerationen gerichteten Ansätzen in der Integrationspolitik Fortschritte gemacht. So wurden bereits 2001 mit dem Bericht der sogenannten Süssmuth-Kommission wichtige Weichen für die Integrationspolitik der darauf folgenden Jahre gestellt. Und seit dem In-Kraft-Treten des Externer Link: Zuwanderungsgesetzes von 2005 gehören Integrationsmaßnahmen zum festen Bestandteil der Bundes- und der Landespolitik. Wichtig für diese Entwicklung war auch die Etablierung professioneller Organisationen wie etwa der Externer Link: Interkulturellen Rat, der Externer Link: Rat für Migration oder der Externer Link: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration . Die Politik ihrerseits gestaltete die Entwicklung von Integrationsmaßnahmen durch Kommissionen oder Externer Link: "Gipfel und hat die Forschung sowie zivilgesellschaftliche Organisationen mit in diesen Prozess eingebunden. Auf Bundesebene bestimmt der Nationale Aktionsplan Integration Externer Link: wichtige Vorgaben für die Operationalisierung von Integrationsmaßnahmen. Neue Akteure auf dem Weg zur Integrationsgesellschaft?
Insbesondere in den letzten Jahren hat sich also viel getan in der deutschen Integrationspolitik. Zum Teil wird bereits davon gesprochen, dass Deutschland Externer Link: nicht bloß ein Einwanderungsland sei, Externer Link: sondern eine Integrationsgesellschaft. Welche Bedeutung der Vielfalt unserer Gesellschaft auf der Ebene der politischen Integrationspraxis tatsächlich beigemessen wird, zeigt sich am Externer Link: Beispiel von Politikerinnen und Politikern mit Migrationshintergrund in Bund, Ländern und Kommunen. Aydan Özoğuz , Bilkay Öney oder Cem Özdemir sind Symbolfiguren eines politischen Bekenntnisses zur Integration in ein System, in dem die Herkunft als Kriterium für Mitbestimmung keine Rolle spielt. Anstatt den Blick primär auf die gesellschaftlichen Strukturen zu richten, rücken die Akteure der Integrationsprozesse selbst in den Fokus. Dabei verstehen diese sich kaum noch als Zuwandernde, Ausländer oder Personen mit Migrationshintergrund, sondern vielmehr als Externer Link: "Neue Deutsche". Dies nicht nur der deutschen Staatsangehörigkeit wegen, sondern weil Personen mit bestimmten Merkmalen wie einer dunklen Haut gesellschaftlich noch immer nicht vorbehaltlos als deutsch wahrgenommen werden. Dabei zeigen Organisationen wie die 'Externer Link: Neuen Deutschen Medienmacher', dass Personen mit Migrationsgeschichte sich auf Dauer nicht nur an gesellschaftliche Strukturen anpassen können, sondern diese durch ihre Impulse mitprägen. Für diese Entwicklung einer erweiterten Partizipation, in der aus Personen mit Migrationsgeschichte aktive Akteure werden, wurde der Externer Link: Begriff der Interner Link: postmigrantischen Gesellschaft geprägt. Damit geht die Vorstellung einher, dass Integration sich nicht in dem Prozess der Einbindung von "Fremden" in ein bestehendes System erschöpft. Gesellschaften befinden sich vielmehr in einem fortwährenden Prozess kulturell-sozialer, struktureller und politischer Integration. Der Externer Link: Anspruch politischer Mitbestimmung begründet so eine Perspektive, in der Integrationspolitik nicht einseitig Personen mit Migrationsgeschichte adressiert, sondern danach fragt, wie sich Teilhabe in möglichst allen Lebensbereichen organisieren lässt und dabei den Ansprüchen aller Menschen gerecht werden kann. Mit der in politischen Symbolen wie Einbürgerungsfeiern oder der Herausstellung von Personen mit Migrationsgeschichte in wichtigen Ämtern versinnbildlichten Hinwendung zu jenem Teil der Gesellschaft, der einst als fremd galt, gehen daher idealerweise auch weiterhin strukturelle Maßnahmen einher. Diese werden sich angesichts einer Ausdifferenzierung dessen, was deutsch ist und noch werden kann, anders als bisher auf gesellschaftliche Pluralität einstellen müssen, um erfolgreich zu sein. Einige Anfänge sind mit den Externer Link: Bundesintegrationskursen zum Spracherwerb, der Externer Link: Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse und der Externer Link: Erleichterung im Bereich der Arbeitsaufnahme für Personen aus Drittstatten, Externer Link: insbesondere für Asylsuchende bereits gemacht. Für eine nachhaltige Integrationsarbeit ist es bedeutsam, neben strukturellen Aspekten wie Sprache, Bildung, Arbeit oder Wohnraum, auch darauf ausgerichtet zu sein, die angesprochenen Menschen in diesen Prozessen als handelnde Subjekte miteinzubeziehen. Schlussendlich stellt sich die Frage, ob der Begriff Integration bei all seiner Vieldeutigkeit überhaupt dazu taugt, als Leitbegriff wesentlicher gesellschaftlicher Handlungsfelder verwendet zu werden. Geht es nur um eine strukturelle Einbindung, dann geht es eher um einen funktionalen Blick auf wirtschaftliche Notwendigkeiten, ohne dass die Bedürfnislage der Betroffenen hinreichend Berücksichtigung findet. Sollen Personen mit Migrationsgeschichte zu einer größeren Beteiligung befähigt werden, dann könnte auch von politischer Partizipation gesprochen werden. Und wenn es darum geht, Integration als Prozess zu fassen, der alle betrifft, dann könnte er ebenso gut durch Inklusion ersetzt werden. Diese Möglichkeiten einer neuen Begriffsgewinnung machen deutlich, dass Integration überhaupt nur verstanden werden kann, wenn die Bezugsgrößen verdeutlicht werden. Integration ist stets ein Prozess, der seinen Erfolg zugleich an strukturellen Voraussetzungen, wie an subjektiven Ansprüchen erweisen muss. Damit Deutschland also tatsächlich eine Integrationsgesellschaft werden kann, ist es weiter notwendig, dass sich Politik und Öffentlichkeit damit auseinandersetzen, wie unsere Normen so ausgestaltet werden können, dass sie allen die gleichen Rechte gewähren und zugleich faire Chancen auf strukturelle Teilhabe garantieren.
Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim (1986): Paradigmen und Paradigmenwechsel in der sozialwissenschaftlichen Wanderungsforschung. Versuch einer Skizze einer neuen Migrationstheorie; in: Gerhard Jaritz; Albert Müller (Hrsg.), Migration in der Feudalgesellschaft, Frankfurt/New York; S. 21–42.
Esser, Harmut (2000): Soziologie: Spezielle Grundlagen Bd. 2: Die Konstruktion der Gesellschaft, Frankfurt/Main.
Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim (1973): Soziologie des Fremdarbeiterproblems. Eine theoretische und empirische Analyse am Beispiel der Schweiz, Stuttgart.
Luft, Stefan (2009): Staat und Migration, Frankfurt/New York.
Ebd.
Fietkau, Wolfgang (1972): Sogenannte Gastarbeiter. Report und Kritik, Wuppertal.
Vgl. Leudesdorff, René; Horst Zilleßen (1971) (Hrsg.): Gastarbeiter, Mitbürger. Bilder, Fakten, Gründe, Chancen, Modelle, Dokumente, Gelnhausen; Esser, Hartmut (1983) (Hrsg.): Die fremden Mitbürger. Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Ausländern, Düsseldorf; Micksch, Jürgen (1978) (Hrsg.): Gastarbeiter werden Bürger. Handbuch zur evangelischen Ausländerarbeit, Frankfurt/Main.
Schmithals, Walter (2007): Was bleibt vom christlichen Abendland? Die Frage nach Europas Identität; in: Hans Zehetmair (Hrsg.); Politik aus christlicher Verantwortung, Wiesbaden, S. 224-236.
Mit Integration setzte sich 2002 die Enquetekommission "Demographischer Wandel" des Deutschen Bundestags auseinander. Vgl.: Deutscher Bundestag Drucksache 14/8800. Der Rheinland-Pfälzische Landtag setzte von 2008-2009 eine "Enquetekommission Integration" ein; siehe: Landtags-Drucksache 15/5280. In Hessischen Landtag wurde 2010-2013 eine "Enquetekommission Integration" eingesetzt; siehe: Landtags-Drucksache 18/7500.
Hier sind vor allem die Migranten-Selbstorganisationen, die islamischen Verbände, die kommunalen Ausländervertretungen und kommunalen Integrationsbeiräte hervorzuheben. Sie sind mit ihrem Personal auch auf den Fachtagungen von Regierungsinstitutionen sowie dem Integrationsgipfeln vertreten. Ebenfalls spielen Stiftungen eine herausgehobene Rolle in der Beratung der Politik und der Umsetzung praxisnaher Projekte. Beispiele dafür sind etwa das Projekt zur Förderung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zur Erlangung eines Bachelor-Abschlusses oder der "Trialog der Kulturen" der Quant-Stiftung.
Externer Link: http://oezoguz.de/, Externer Link: Beauftragte der Bundesregierung für Integration und stellvertretende SPD-Vorsitzende
Bilkay Öney (SPD) war von 2011 bis 2016 Integrationsministerin in Baden-Würtenberg.
Externer Link: http://www.oezdemir.de/, Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-28T00:00:00 | 2017-05-02T00:00:00 | 2022-01-28T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/247578/integrationsdebatten-und-integrationspolitik/ | Der Begriff "Integration" ist vieldeutig. Der Beitrag zeigt seine unterschiedlichen Facetten auf. | [
"Integration",
"Integrationsdebatte",
"Integrationspolitik",
"Migrant",
"Migration",
"diversity",
"Multikulturalismus"
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Soziale Netzwerke türkischer Migrantinnen und Migranten | Parallelgesellschaften? | bpb.de | Einleitung
"Parallelgesellschaften" ist ein Begriff, der seit einiger Zeit immer wieder in den Medien auftaucht, meist im Zusammenhang mit verstörenden Ereignissen wie Ehrenmorden oder anderen Gewaltverbrechen, in die Migranten verwickelt sind. Mit diesem Terminus wird allgemein ein Scheitern der Integration von Zuwanderern und der multikulturellen Gesellschaft insgesamt assoziiert.
Eine Diskussion darüber, was unter "Parallelgesellschaften" eigentlich zu verstehen ist, findet in der Öffentlichkeit kaum statt. Ähnlich wie der Begriff "Leitkultur" ist der der "Parallelgesellschaft" längst zur Phrase mutiert, derer man sich unreflektiert bedient und über deren Inhalt keine Klarheit herrscht. Das vorherrschende Bild von Parallelgesellschaften ist eher diffus und zeigt eine räumliche, soziale und kulturelle Abschottung vornehmlich der türkischen und/oder muslimischen Bevölkerung in Deutschland.
Mit der Verwendung des Begriffs etwa im Zusammenhang mit Ehrenmorden werden Einzelfälle verallgemeinert. Die gesamte türkische oder muslimische Bevölkerung erscheint dadurch in einem negativen Licht. Als Ursache für diese Vorfälle werden umstandslos Parallelgesellschaften ausgemacht, wobei offen bleibt, was darunter genau zu verstehen ist.
Ein Aspekt dieses undifferenzierten Bildes von Parallelgesellschaften ist die Vorstellung, dass es sich bei den sozialen Netzwerken türkischer Migrantinnen und Migranten um große, weitläufige und ethnisch homogene Netzwerke mit Community-Strukturen handelt. Am Beispiel von Ergebnissen aus einem Forschungsprojekt möchten wir deshalb der Frage nachgehen, ob die sozialen Netzwerke von türkischen MigrantInnen der zweiten Generation diese großen, clan-ähnlichen Netzwerkstrukturen aufweisen und ob Tendenzen der Abschottung` bei den Migrantinnen und Migranten vorzufinden sind. Das Forschungsprojekt beschäftigte sich mit der Integration von türkischen Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation. Befragt wurden 55 Personen mit überwiegend niedrigen Schulabschlüssen (Hauptschulabschluss), die in zwei typischen Migrantenvierteln Hannovers leben - einer peripher gelegenen Großsiedlung der siebziger Jahre und einem innenstadtnahen Altbauquartier. Themen der Interviews waren neben der Einbindung in soziale Netzwerke die Biographien auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt. Im folgenden Kapitel werden die sozialen Beziehungen der Befragten - es geht um die auffälligsten gemeinsamen Eigenschaften - beschrieben; danach werden Leistungsfähigkeit und Auswirkungen der sozialen Beziehungen auf die Integration und Chancen in anderen Lebensbereichen abgeschätzt. In einem weiteren Kapitel geht es um die Frage, welche Erklärungen sich für die Netzwerkeigenschaften finden, und abschließend wird resümiert, welche Verbindungen zwischen den empirischen Ergebnissen und dem Begriff der "Parallelgesellschaften" bestehen. Soziale Netzwerke türkischer Migranten und Migrantinnen
Freundschaften, Familie, Kontakte zu Nachbarn oder am Arbeitsplatz - soziale Netzwerke erfüllen Funktionen, die mit Pierre Bourdieu als "soziales Kapital" bezeichnet werden können. Darunter sind sämtliche materiellen Leistungen und Ressourcen zu verstehen, "die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen". Das Besondere am sozialen Kapital besteht aber in dessen Konvertierbarkeit in ökonomisches oder kulturelles Kapital. Der Kontakt zu den richtigen` Leuten fördert die Arbeitskarriere, erleichtert den Erwerb von in bestimmten Gruppen üblichen, distinktiven Verhaltensweisen usw. Bourdieus Konzept des sozialen Kapitals thematisiert allerdings keine marktfernen Leistungen von sozialen Beziehungen. Diese bilden neben den konvertierbaren Ressourcen die zweite wichtige Funktion sozialer Netzwerke. Emotionale Unterstützung in Gestalt von Zuneigung und Akzeptanz sowie die Möglichkeit der Kommunikation fördern die psychische Stabilität; die Einbindung in den Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis vermittelt ein Gefühl des Beheimatetseins. Letzterer Aspekt ist gerade bei Migranten von großer Bedeutung, da diese ein Gefühl der Zugehörigkeit seltener über kulturelle Gemeinsamkeiten oder eine räumliche Bindung entwickeln können.
Im Folgenden geht es zunächst um die auffälligsten Gemeinsamkeiten der sozialen Netzwerke von Migranten: Familienzentriertheit, ethnische und soziale Homogenität und Lokalität.
Familienzentriertheit
Die überwiegende Mehrheit der von uns befragten Migrantinnen und Migranten besitzt ein kleines familienzentriertes Netzwerk, das heißt ihr soziales Netz besteht hauptsächlich aus der Kern- und Herkunftsfamilie. Zudem spielen angeheiratete Familienangehörige wie die Ehepartner der Geschwister eine relevante Rolle. Insgesamt gibt es in unserem Sample lediglich vier Fälle, in denen die familiären Kontakte in der sozialen Dimension unerheblich sind; dabei handelt es sich um Resultate langwieriger Konflikte oder großer räumlicher Entfernungen zur Familie.
Eine Minderheit der Migranten hat neben familiären Kontakten noch Freunde; diese außerfamiliären Kontakte sind hinsichtlich der Kontakthäufigkeit weniger intensiv als die familiären Kontakte. Selten können die Migranten außerfamiliäre Kontakte über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten. Während in der Schul- und Ausbildungsphase noch außerfamiliäre und interethnische Kontakte bestanden, nimmt die Anzahl dieser Kontakte nach der Heirat und dem ersten Kind ab. Dies ist ein Schrumpfungsprozess, der - unabhängig von der ethnischen Herkunft einer Person - in der Familiengründungsphase häufig zu beobachten ist. Weil Migranten besonders früh heiraten, setzt der Schrumpfungsprozess der Netzwerke bereits im Alter von Anfang zwanzig ein.
Mit den Ergebnissen zur Kontakthäufigkeit korrespondiert, dass familiäre Kontakte von den Migranten als intensiver, stabiler und verlässlicher als die außerfamiliären wahrgenommen werden. Dies zeigt sich auch in ihren Leistungen: In materieller Hinsicht ist für die Migranten die Familie die wichtigste Anlaufstation. So leihen sie sich in finanziellen Notlagen oftmals Geld von Familienmitgliedern und wohnen nach der Heirat in der Regel zunächst bei ihren Eltern, bis sie sich eine eigene Wohnung leisten können. Auch im Alltag ist die Familie eine wichtige Stütze, so beispielsweise bei der Kinderbetreuung. Die Familie bietet den Migranten aber nicht nur materielle Sicherheit und Hilfe, sie erfüllt auch wichtige emotionale Bedürfnisse. Es ist deshalb für viele der von uns Befragten nicht vorstellbar, ihre Eltern oder Geschwister über einen längeren Zeitraum nicht zu sehen oder weit entfernt von der Familie zu wohnen.
Die Familienzentriertheit der sozialen Netze von Migranten wird durch ihr Heiratsverhalten verstärkt. Zwei Drittel unseres Samples haben transnational geheiratet, das heißt der Ehepartner oder die Ehepartnerin ist erst nach der Heirat nach Deutschland gekommen. Bei über der Hälfte der transnationalen Ehen handelt es sich um einen direkten Verwandten des Befragten. Durch die Heirat innerhalb der Verwandtschaft findet keine Erweiterung der bestehenden Netze um außerfamiliäre Kontakte statt.
Soziale und ethnische Homogenität
Neben der Familienzentriertheit sind soziale und ethnische Homogenität weitere Gemeinsamkeiten der sozialen Netze der Migranten. Ihre Netzwerkbeziehungen sind im Wesentlichen auf Kontakte zu Personen mit gleichem sozioökonomischen Status, beruflichem Qualifikationsniveau und gleicher ethnischer Herkunft beschränkt. Während die Berufstätigen hauptsächlich Kontakte zu anderen Berufstätigen haben, sind die Freunde der Arbeitslosen häufig selber arbeitslos.
Lediglich acht Migranten des Samples haben außer türkischen noch Freunde anderer Nationalitäten. Die interethnischen Freundschaften stammen überwiegend aus Schul- und Arbeitskontexten. Aber auch bei den Migranten mit ethnisch heterogenen Netzwerken sind die engsten Freunde größtenteils türkischer Herkunft, während sich Deutsche eher in der Peripherie der Netzwerke befinden.
Die soziale Homogenität der Netzwerke der Migranten lässt sich vor allem mit dem Ursprung ihrer Kontakte begründen: Die Kontakte sind entweder familiär - und somit in unserem Sample per se sozial homogen - oder es sind aufrechterhaltene Bindungen aus der Haupt- bzw. Realschule. In wenigen Fällen kommen noch Kontakte aus Arbeit oder Ausbildung hinzu.
Lokalität
Die dritte Gemeinsamkeit ist die Lokalität der sozialen Netzwerke. Die Wohnung liegt meist in fast fußläufiger Entfernung zu Eltern und Geschwistern. Neben der herausragenden Rolle der räumlichen Nähe zur Herkunftsfamilie ist auch die Nähe zu Freunden relevant: Da die Pflege von Kontakten außerhalb des Stadtteils mit mehr Aufwand und Planung verbunden ist, sind die Beziehungen sehr distanzempfindlich; Kontakte außerhalb des Stadtteils werden seltener aufrechterhalten. Eine geringe räumliche Distanz ist somit die Voraussetzung für die Persistenz der sozialen Beziehungen. Folgen der Netzwerkeigenschaften für die Integration
Welche Konsequenzen haben nun Familienzentriertheit, soziale/ethnische Homogenität und Lokalität der sozialen Netzwerke der Migrantinnen und Migranten auf ihr soziales Kapital, und was leisten die Netzwerke im Hinblick auf ihre Integration?
Die Familie hat für die Migranten eine unerlässliche Unterstützungsfunktion, sie ist ein Netz, das vor materieller Not und sozialer Isolation schützt. Zugleich ist sie aber auch ein Käfig, da sie die Optionen einschränkt und die Ressourcen, die sie zur Verfügung stellen kann, eng begrenzt sind.
Die Begrenztheit der Ressourcen und die Ambivalenz des großen Einflusses der Familie zeigen sich vor allem hinsichtlich der Integration in den Arbeitsmarkt: Erstens haben die befragten Migrantinnen und Migranten von ihren Eltern keine ausreichende Unterstützung während ihrer Schulausbildung erfahren. Dies ist zum einen auf die fehlenden Sprachkenntnisse der Eltern, aber auch auf deren Unkenntnis des deutschen Schulsystems und der Relevanz von Schul- und Berufsausbildung in Deutschland zurückzuführen.
Zweitens drängt - korrespondierend mit dieser Unkenntnis - die erste Generation ihre Kinder zu einer frühen Heirat, wobei die Ehepartnerinnen und -partner zum Zeitpunkt der Eheschließung meist noch in der Türkei leben. Die frühe Heirat verhindert oft eine Berufsausbildung, da die Männer in ihrer Ausbildungszeit zu wenig verdienen würden, um eine Familie zu ernähren, und die Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind. Das transnationale Heiratsverhalten hat zudem zur Folge, dass die Chance auf eine Vergrößerung des sozialen Kapitals in Deutschland vergeben wird, da der zugereiste Ehepartner in Deutschland kaum nützliche Kontakte in die Ehe einbringen wird. Hier gibt es Anzeichen eines Phänomens, das Alejandro Portes und Julia Sensenbrenner als "enforceable trust" bezeichnet haben: Je stärker die Mitglieder einer ethnischen Gruppe auf diese angewiesen sind, desto eher sind sie bereit, ihre eigenen Interessen gegenüber denen der Gruppe zurückzustellen. So dient das Heiratsverhalten zwar der Stärkung der vorhandenen familiären Netzwerke und damit dem Zusammenhalt der jeweiligen Gruppe bzw. der Familien, es hat aber für die betroffenen Migranten negative Konsequenzen - insbesondere was die Dimensionen Arbeit und soziale Netzwerke betrifft.
Auch in Bezug auf eine längerfristige Integration ist das Heiratsverhalten kritisch einzuschätzen. Die Kinder dieser Ehepaare bilden keine dritte Generation, sondern eher eine Generation "zweieinhalb". Insbesondere in den Fällen, in denen die Frau aus der Türkei nachgekommen ist, ist zu vermuten, dass die Kinder ausschließlich mit der türkischen Sprache aufwachsen. Wie die Angehörigen der ersten Generation haben auch diese Mütter in der Regel keine Kenntnis vom deutschen Schul- und Berufssystem und können folglich ihre Kinder nicht unterstützen. Die Folge ist eine zumindest verlangsamte Integration.
Drittens verfügt die erste Generation über wenige und nur eingeschränkt leistungsfähige Kontakte zum Arbeitsmarkt. Sie hat lediglich Zugang zu den Bereichen, in denen sie selbst beschäftigt war, und hierbei handelt es sich fast ausschließlich um das untere Arbeitsmarktsegment. Das hat fatale Folgen: Während die erste Generation - etwa durch Fabrikarbeit im unteren Segment - noch integriert war, gilt das heute nicht mehr. In diesem Bereich überwiegen mittlerweile prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die einen typischen Übergang zu einer langfristigen Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt bilden. Die Industriearbeit, in welche die Angehörigen der ersten Generation ihre Kinder vermitteln wollen und die auch die erste Priorität der befragten Migranten darstellt, bietet nur noch wenigen eine langfristige Perspektive. Über weitere Kontakte zum Beispiel zu Verbindungspersonen in andere Netze (Brückenköpfe) oder gar Personen, die über die Vergabe von Arbeit entscheiden (Gatekeeper) verfügen die Migranten der ersten Generation kaum.
Auch besitzen die befragten Migrantinnen und Migranten nur kaum soziales Kapital, das ihnen Zugang zu den oberen Segmenten des Wohnungsmarktes verschaffen würde. Hinsichtlich der Wohnsituation erhält aber die räumliche Distanz zur Familie ein größeres Gewicht: Um in der Nähe ihrer Eltern und Geschwister leben zu können, nehmen die Migranten auch Nachteile wie eine qualitativ minderwertige Wohnung oder das Leben in einem stigmatisierten Stadtteil in Kauf. Damit bestimmt nicht die ethnische Segregation, sondern die Nähe zur Familie den Wohnort der Migrantinnen und Migranten. Lediglich für jene, die im Altbauquartier leben, spielt die ethnische Segregation ihres Quartiers eine positive Rolle - wenngleich die bestehende soziale Kontrolle negativ eingeschätzt wird. Somit sind unsere Ergebnisse zur ethnischen Segregation und zur Community-Bildung relativ unspektakulär.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Familie eine eher ambivalente Wirkung auf die Integrationschancen der zweiten Generation hat, da sie nur in einem begrenzten Umfang soziales Kapital zur Verfügung stellen und ihr Einfluss die Optionen der Migranten beeinträchtigen kann. Eine Folge der Familienzentriertheit und des transnationalen Heiratsverhaltens der Migrantinnen und Migranten ist ein sozial und ethnisch homogenes Netz.
Ethnisch heterogene Netze mit Kontakten zu Deutschen gelten im Allgemeinen als Indikator für die gelungene Integration von Migranten. Der Kontakt zu Deutschen ist aber nicht nur ein Zeichen für einen Zugang zu den sozialen Netzen der Mehrheitsgesellschaft und damit Gradmesser für soziale Integration. Ein um solche Kontakte erweitertes Netzwerk wird auch als ressourcenreicher eingeschätzt als eines, das ausschließlich aus Migranten besteht. Bei Deutschen erscheint die Chance höher, dass sie über relevante Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft - etwa zu Gatekeepern - oder Verbindungen zu einflussreichen Netzwerken und damit über mehr soziales Kapital verfügen. Dieselbe Argumentation gilt auch für sozial heterogene Netzwerke.
In unserer Studie bestätigen sich die Annahmen über die Leistungsfähigkeit sozial heterogener Netzwerke: Migranten, die sich in sozial heterogenen Netzwerken bewegten, waren häufiger in der Lage, über direkte oder indirekte Beziehungen Kontakte zu Gatekeepern aufzunehmen, die bei der Arbeitssuche entscheidend waren. Sie waren auf dem Arbeitsmarkt letztendlich erfolgreicher als diejenigen mit sozial homogenen Netzwerken.
Die zweite Vermutung, derzufolge ethnische Heterogenität einen positiven Einfluss auf das soziale Kapital hat, kann nach unseren Ergebnissen dagegen nicht bestätigt werden. So hatten die wenigen Migranten mit einem ethnisch heterogenen Netz nicht mehr Ressourcen oder bessere Zugänge zum Arbeitsmarkt als jene mit ethnisch homogenen Netzen. Dieses Ergebnis erklärt sich mit einem Blick auf die sozioökonomischen Eigenschaften der Deutschen in den heterogenen Netzwerken. Ethnisch heterogene Netzwerke sind ebenso sozial homogen wie ethnisch homogene Netze und daher nicht unbedingt leistungsfähiger. Im Gegenteil: Ein ethnisch homogenes Netz bietet unter Umständen bessere Ressourcen als ein ethnisch heterogenes. Bei der Vermittlung von Informationen über Arbeitsmöglichkeiten haben sich beispielsweise die ethnisch homogenen Kontakte der von uns befragten Migrantinnen und Migranten als nützlicher erwiesen. Entscheidender Faktor für die Leistungsfähigkeit und das soziale Kapital der Netzwerkbeziehungen ist somit eher die soziale Schicht als die ethnische Zugehörigkeit. Dass hingegen auch in den sozial heterogenen und damit leistungsfähigeren Netzwerken selten Kontakte zu Gatekeepern oder anderen Entscheidungsträgern bestehen, zeugt vom insgesamt eher schwachen sozialen Kapital, das den Migranten zur Verfügung steht. Erklärungen für die Netzwerkeigenschaften
Fasst man die Ergebnisse zusammen, ergeben sich aus den sozialen Netzwerken neben beschränkten Ressourcen auch Restriktionen, durch welche sich die Integration verlangsamen kann. Wie lassen sich die Eigenschaften der Netzwerke von Migranten erklären?
Die Ursachen für Größe, Zusammensetzung und Leistungsfähigkeit der sozialen Netzwerke sind vielfältig: Der Migrationshintergrund der Interviewten hatte zur Folge, dass das Netz im Aufnahmeland zunächst extrem klein war und die Familie in dieser Situation eine besondere Relevanz erhielt. Im Zuge der Migration von der Türkei nach Deutschland blieb den Migrantinnen und Migranten in der Regel nur der engste Familienkern von Eltern und Geschwistern. Zugleich konnten die Eltern der zweiten Generation meist nur wenige Kontakte in Deutschland aufbauen. Dies hatte zur Folge, dass ihre Kinder überwiegend im kleinen Familienkreis aufwuchsen.
Auch eine kulturell begründete Distanz gegenüber Deutschen, die ein Teil der Befragten äußert, trägt zur Familienzentrierung und zur ethnischen Homogenität bei. Andere Lebensgewohnheiten und ein anderes Verständnis der Freizeitgestaltung werden als Erklärungen dafür genannt, die freie Zeit lieber mit Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe zu verbringen. Wie aus Studien bekannt ist, spiegelt die soziale Distanz der türkischen Migranten gegenüber Deutschen die soziale Distanz der Deutschen gegenüber Türken wider. So gaben nach einer repräsentativen Umfrage über die Hälfte der deutschen Befragten an, sie hätten eine große soziale Distanz gegenüber Türken. Die Netzwerkeigenschaften sind jedoch nicht nur durch die Migration bedingt oder kulturell definiert, sondern haben auch schichtspezifische Ursachen, da es sich bei der sozialen Homogenität, der Familienzentriertheit und dem begrenzten sozialen Kapital auch um Eigenschaften handelt, die ebenso für Arbeiterhaushalte festgestellt wurden. Fazit: Türkische Parallelgesellschaft?
Bezug nehmend auf unsere zu Beginn des Beitrages formulierte Fragestellung lässt sich das gängige, in den Medien reproduzierte Bild von türkischen Clans mit großen, weitläufigen sozialen Netzwerken, die räumlich, sozial und kulturell abgeschottet sind, durch unsere Forschungsergebnisse nicht bestätigen. Der in den Medien kursierende Begriff der Parallelgesellschaft taucht zwar gelegentlich auch in soziologischen Kontexten auf, eine systematische Auseinandersetzung hat bislang aber nicht stattgefunden. Nimmt man die von Raymond Breton formulierte "institutionelle Vollständigkeit" von ethnischen Gemeinschaften als Kriterium für eine Parallelgesellschaft und überprüft dieses anhand der dargestellten Lebenssituation der befragten Migrantinnen und Migranten, so gibt es nur wenige Überschneidungspunkte: Trotz einer relativ starken ethnischen Homogenität der Netzwerke sind die hier beschriebenen türkischen Lebenswelten nicht völlig von deutschen Lebenswelten abgetrennt. Die beschränkte Leistungsfähigkeit, das geringe soziale und kulturelle Kapital und die kleine Größe der Netze verhindern zudem eine institutionelle Unabhängigkeit. Selbst wenn man wie Thomas Meyer nach "unvollständigen", das heißt institutionell unselbständigen ethnischen Gemeinschaften Ausschau hält, scheint das ökonomische Potenzial der türkischen Migranten nicht ausreichend zu sein, um eine eigenständige Ökonomie aufzubauen: So lag die Selbständigenquote bei den türkischen Erwerbstätigen 2003 bei 6,1 Prozent und damit deutlich sowohl unter der Selbständigenquote der Deutschen (10,5 Prozent) als auch unter jener der italienischen (13,1 Prozent) und griechischen Erwerbstätigen (14,8 Prozent). Auch das Nettoeinkommen von türkischen Selbständigen lag mit einem Median von etwa 1 400 Euro unter den Durchschnittswerten von italienischen und griechischen (jeweils 1 600 Euro) und deutschen (1 850 Euro) Selbständigen. Auf der räumlichen Ebene von Stadtvierteln ist eine solche Unabhängigkeit ebenfalls nicht zu erwarten: Die ethnisch segregierten Stadtviertel können fehlende Ressourcen der sozialen Netze nur zum Teil ausgleichen. Zwar bieten segregierte Quartiere meist mehr Gelegenheiten für Jobs in der ethnischen Ökonomie; ausschlaggebender für eine erfolgreiche Integration ist aber neben einer generellen - das heißt nicht zwingend ethnischen - funktionalen Mischung die soziale Mischung im Quartier. Die Migrantinnen und Migranten im sozial gemischten Altbauquartier verfügten insgesamt über ein höheres soziales Kapital, von dem sie bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche profitieren konnten. Dieses Kapital zeigt sich weniger in engen Netzwerkverbindungen als in weitläufigen und relativ oberflächlichen Bekanntschaften - ein Phänomen, das Mark Granovetter als "strength of weak ties" tituliert hat. Eine soziale und eine funktionale Mischung sind in ethnisch segregierten Quartieren nicht selbstverständlich; hierfür spielen Lage, Architektur, Bausubstanz und Geschichte des jeweiligen Quartiers eine wesentliche Rolle. Vor allem aber zeigen die Ergebnisse, dass die ethnische Gemeinschaft nicht solche Strukturen aufweist und Ausmaße annimmt, dass ein völliger Rückzug für türkische Migranten eine Option wäre. Wenn überhaupt, so findet ein Rückzug in die Kleinfamilie statt. Bezogen auf dieses Ergebnis, wäre sogar die Schlussfolgerung nahe liegend, die türkischen Migranten verfügten über zu geringe Community-Strukturen, da ein höherer Grad an eigenständiger Ökonomie etwa eine sozioökonomische Verbesserung zur Folge haben sollte.
Die ethnische Segregation hat sich in unserer Studie als wenig bedeutend herausgestellt. Demgegenüber können die ethnische Homogenität der sozialen Netzwerke, die von einigen der Befragten geäußerte kulturell begründete Distanz zu Deutschen und vor allem das transnationale Heiratsverhalten als Hinweise auf eine Isolierung türkischer Netzwerke interpretiert werden. Während sich die ethnisch homogenen Netzwerke als ressourcenreicher herausstellen als ethnisch heterogene, erschwert das Heiratsverhalten nicht nur die Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt, sondern kann auch Einfluss auf die Deutschkenntnisse ihrer Kinder haben. Ob dieser Befund ausreicht, um eine Parallelgesellschaft auszurufen, erscheint fragwürdig. Er verweist allerdings auf ein verschärftes, dauerhaftes Ausgrenzungsrisiko der Migranten und ihrer Nachfolgegenerationen in unserer Gesellschaft und hier vor allem im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt.
Neben einer Verbesserung der Bildungschancen von Einwandererkindern ist jedoch nicht zuletzt der politisch-mediale Diskurs über ethnische Minderheiten im Zusammenhang mit deren gesellschaftlicher Akzeptanz von Bedeutung. Wie in der eingangs beschriebenen Alltagsdefinition` deutlich wird, bezieht sich der Begriff der Parallelgesellschaft auf eine spezifische Gruppe: die der türkischen/muslimischen Minderheit. Wendet man die Kriterien der räumlichen, kulturellen und sozialen Abschottung aber auf alle in Frage kommenden Gruppen an, zeigt sich, dass es in der Gesellschaft durchaus auch andere Gruppen gibt, die das Etikett Parallelgesellschaft` tragen könnten. Josef Eckert und Mechthilde Kißler beschreiben beispielsweise eine weitgehende Isolierung der linksalternativen Szene im Kölner Stadtviertel Ehrenfeld. Für Georg Simmel, der sich auf städtischer Ebene mit dem Zusammenleben unter den Bedingungen von hoher Dichte und Heterogenität auf geringem Raum beschäftigt hat, stellt ein tolerantes, aber auch gleichgültiges Nebeneinander eine Voraussetzung für den Umgang mit der Heterogenität in den Städten dar. Dies kann auch als Argument für kulturelle Vielfalt gelten, die sich aufgrund eines bestimmten städtischen Klimas entfalten kann und die zu geringen Überschneidungspunkten zwischen den jeweiligen Gruppen führt. Ein gleichgültiges Nebeneinander trifft nicht nur auf ethnische, sondern auf viele soziale Gruppen zu; es kennzeichnet moderne städtische Gesellschaften. In diesem Sinne könnten verschiedene kulturelle Milieus verschiedene Parallelgesellschaften bilden, womit die unterschwellige Bedrohlichkeit des Begriffs abhanden kommt.
Findet jedoch, wie im derzeitigen politisch-medialen Diskurs, der Begriff Parallelgesellschaften nur auf türkische oder muslimische Minderheiten Anwendung, erhält er auf der symbolischen Ebene eine ausgrenzende Bedeutung. Dass mit kultureller und religiöser Vielfalt auch ganz anders umgegangen werden kann, zeigt das Beispiel der kanadischen Stadt Toronto, die zu den ethnisch heterogensten Städten der Welt gehört. Die wachsende kulturelle Vielfalt wird durch die offizielle kanadische Politik der Einheit-in-Verschiedenheit (unity-within-diversity), die auf der Grundlage einer gemeinsamen Verfassung und gemeinsamer Gesetze auf das Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit und gegenseitiger Toleranz abzielt, gefördert. Zudem steht die Mehrheit der kanadischen Bevölkerung (83 Prozent) der wachsenden Multikulturalität in der Gesellschaft positiv gegenüber. Auf Seiten der Einwanderer zeigen die hohen Einbürgerungszahlen und das hohe Zugehörigkeitsgefühl zur Aufnahmegesellschaft (79 Prozent), dass eine tolerante Einwanderungspolitik, die Einwanderer nicht unter einen Assimilationsdruck setzt bzw. ethnisch segregierte Quartiere nicht mit dem Bild des Bedrohlichen assoziiert, sich positiv auf die Hinwendung von Einwandern zur Aufnahmegesellschaft auswirken kann.
Vgl. Thomas Meyer, Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt/M. 2002, S. 208f.
Das Forschungsprojekt wurde von der VW-Stiftung im Rahmen des "Niedersächsischen Forschungsverbunds Technikentwicklung und gesellschaftlicher Strukturwandel" gefördert. Außer den Autorinnen dieses Beitrages waren Walter Siebel und Norbert Gestring an dem Projekt beteiligt.
Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 190f.
Vgl. Rosemarie Nave-Herz, Familiale Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, (1984)1, S. 45 - 63.
Vgl. Alejandro Portes/Julia Sensenbrenner, Embeddedness and Immigration: Notes on the social Determinants of Economic Action, in: The American Jounal of Sociology (AJS), (1993) Volume 98, 6, S. 1320 - 1350.
Vgl. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage: Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000.
Vgl. Hartmut Esser, Integration und ethnische Schichtung. Gutachten im Auftrag der Unabhängigen Kommission "Zuwanderung", in: http://www. bmi.bund.de/Downloads/Esser.pdf (10.4. 2003).
Vgl. Gaby Straßburger, Heiratsverhalten und Partnerwahl im Einwanderungskontext. Familie und Gesellschaft. Band 10, Würzburg 2003, S. 38.
Vgl. Norbert Elias/John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M. 1993.
Vgl. z.B. Wilhelm Heitmeyer, Versagt die "Integrationsmaschine" Stadt? Zum Problem der ethnisch-kulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen, in: Wilhelm Heitmeyer/Rainer Dollase/Otto Backes (Hrsg.), Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben, Frankfurt/M. 1998, S. 443 - 467.
Norbert Gestring, Parallelgesellschaften - ein Kommentar, in: Jahrbuch StadtRegion 2004/2005, Wiesbaden 2005, 163 - 169.
Raymond Breton, Institutional Completeness of Ethnic Communities and the Personal Relations of Immigrants, in: AJS, 70 (1964), S. 193 - 205. Unter "institutioneller Vollständigkeit" versteht Breton eine in sich geschlossene Gesellschaft, die ihr Leben weitgehend selbständig organisiert hat, d.h. die räumlich, sozial, ökonomisch, kulturell und institutionell unabhängig ist und keinerlei Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft unterhält.
Vgl. T. Meyer (Anm. 1), S. 211.
Vgl. Mikrozensus 2003, faktisch anonymisierte 70 %-Substichprobe, eigene Berechnungen. Der Median teilt die Stichprobe in zwei Hälften, so dass 50 % unter und 50 % über dem Wert des Medians liegen.
Vgl. Mark Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: AJS, 78 (1973), 6, S. 1260 - 1380.
Vgl. Josef Eckert/Mechthilde Kißler, Südstadt, wat es dat? Kulturelle und ethnische Pluralitäten in modernen urbanen Gesellschaften am Beispiel eines innerstädtischen Wohngebietes in Köln, Köln 1997.
Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders., Das Individuum und die Freiheit, Frankfurt/M. 1993, S. 192 - 204.
Vgl. Rainer Geißler, Multikulturalismus in Kanada - Modell für Deutschland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2003) 26, S. 19 - 25.
Minister of Public Works and Government Services Canada, Annual Report on the Operation of The Canadian Multiculturalism Act 2003-2004, in: www. multiculturalism.pch.gc.ca (18.6. 2005).
Vgl. ebd.
| Article | Polat, Andrea Janßen · Ayça | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30011/soziale-netzwerke-tuerkischer-migrantinnen-und-migranten/ | Es wird gefragt, ob die sozialen Netzwerke türkischer Migranten clan-ähnliche Strukturen aufweisen und ob es Tendenzen einer Abschottung gibt, wie sie in der öffentlichen Debatte mit dem Begriff "Parallelgesellschaften" assoziiert werden. Die Ergebni | [
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Analyse: Das polnische Justizwesen | bpb.de | Zusammenfassung
Die Situation des polnischen Justizwesens beunruhigt internationale Organisationen, viele EU-Mitgliedsstaaten sowie juristische Berufsverbände sehr. Die Krise um das Verfassungstribunal und das Ignorieren der Stellungnahme der Venedig-Kommission zeigen, dass der polnische Staat die europäischen Standards des Rechtsstaates, der Demokratie und der Menschenrechte ablehnt. Weitere Gesetzesvorhaben wie zu den allgemeinen Gerichten, dem Landesgerichtsrat und dem Obersten Gericht sind ein deutliches Signal, dass die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) trotz der vielen negativen Beurteilungen seitens der Vertreter des Europarats, der Europäischen Union sowie des juristischen Milieus in Polen beabsichtigt, das Justizwesen vollständig der politischen Macht unterzuordnen, ungeachtet dessen, dass sie dabei die Verfassung verletzt.
Die Krise des Justizwesens in Polen begann Mitte Juni 2015. Sie lässt sich im Kern auf den Versuch der sogenannten Übernahme des Verfassungstribunals (Trybunał Konstytucyjny – TK) mit Hilfe der Parlamentsmehrheit zurückführen. Das Tribunal ist ein Verfassungsorgan von fundamentaler Bedeutung für die demokratische Rechtsordnung im Staat. Außerdem ist die Krise mit der Frage der Wahl der Richter verknüpft sowie der Novellierung des Gesetzes über das Verfassungstribunal in einer Form, die die Bestimmungen der Verfassung verletzt. Die erste Phase der Krise betraf die Wahl der neuen Richter des TK und lag in der Endphase der Legislaturperiode des damaligen Sejm.
Die Krise um das Verfassungstribunal
Im Mai 2015 hatte das damalige Parlament, in dem die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) die Mehrheit besaß, ein Gesetz über das Verfassungstribunal verabschiedet, das die Wahl von fünf Richter ermöglichte, deren Amtszeit Ende 2015 auslief. Im Oktober 2015 wählte der Sejm die fünf Richter, die allerdings nicht vom Präsidenten der Republik Polen, Andrzej Duda, vereidigt wurden. Im November 2015 setzte sich infolge der Parlamentswahlen ein neuer Sejm zusammen, in dem nun die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) über die Mehrheit verfügt. Unverzüglich brachten PiS-Abgeordnete den Entwurf einer Novelle zum Gesetz über das Verfassungstribunal ein, die nach sieben Tagen verabschiedet wurde.
Ebenfalls im November 2015 fasste der Sejm einen Beschluss, der die früheren Sejm-Beschlüsse vom Oktober 2015 zur Wahl der Richter für ungültig erklärte. Die Abgeordneten der PO, das heißt die parlamentarische Minderheit, zogen daraufhin vor das Verfassungstribunal, um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über das Verfassungstribunal vom Juni 2015 klären zu lassen, auf dessen Grundlage jene fünf Richter gewählt worden waren, sowie um eine Bewertung der Gesetzesnovelle zum Verfassungsgericht vom November 2015 zu erhalten. Das Verfassungstribunal forderte daraufhin das Parlament auf, die Wahl neuer Richter so lange zu vertagen, bis es zu einem Urteil in diesem Fall gekommen sei. Dennoch wählte der Sejm zwei Tage später fünf neue Richter (zunächst vier), die der Präsident gleich nach der Wahl, noch in der Nacht, vereidigte.
Die PO-Abgeordneten riefen daraufhin erneut das Verfassungstribunal an, nun wegen des Beschlusses, die Wahlen jener Richter für ungültig zu erklären, und wegen des Beschlusses über die Berufung neuer Richter. Anfang Dezember 2015 verkündete das TK das Urteil zum Gesetz über das Verfassungstribunal vom Juni 2015. Es stellte fest, dass die Bestimmungen des Gesetzes vom Juni, auf dessen Grundlage fünf Richter gewählt worden waren, teilweise nicht verfassungskonform sind. Jedoch erkannte es die Wahl dreier Richter als verfassungsgemäß an sowie es auch die Mehrheit der Bestimmungen als verfassungskonform anerkannte. In dem Urteil wurde die Pflicht des Staatspräsidenten unterstrichen, die drei Richter unverzüglich zu vereidigen. Das Urteil wurde im Gesetzblatt mit Verspätung nach Schriftwechsel mit dem Präsidenten des Verfassungstribunals veröffentlicht.
Das Gesetz über das Verfassungstribunal war der Gegenstand des Urteils des TK vom 9. Dezember 2015, das auf Antrag des Bürgerrechtsbeauftragten, des Landesgerichtsrats (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS) und des Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts sowie auf Antrag von Abgeordneten erfolgte. Das TK unterstrich in seinem Urteil Regelverletzungen bei der Verabschiedung des Gesetzes. Ein wichtiges, von den Antragstellern aufgebrachtes Problem war die Frage der Amtszeit des Vorsitzenden und seines Stellvertreters: Sowohl die Wahl des Vorsitzenden für eine zweite Amtszeit durch den Staatspräsidenten als auch die Beendigung der Amtszeit des Vorsitzenden und seines Stellvertreters im Laufe von drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes wurden als nicht verfassungskonform und als Störung des Machtgleichgewichts beurteilt.
Die nächste Phase der Krise begann im Zusammenhang mit einer weiteren Novelle des Gesetzes über das TK. Auffällig sind hier der Umfang der Änderungen und die Prozedur der Verabschiedung des neuen Gesetzes. Die mit dem Gesetz eingeführten Änderungen betreffen fundamentale Fragen des Funktionierens des Verfassungstribunals: Die Mindestanzahl der Richter, die das Urteil in voller Zusammensetzung verkünden, wurde auf 13 (vorher neun) erhöht. Entscheidungen sollten mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden; verhandelt werden sollte entsprechend der Reihenfolge des Eingangs der Angelegenheiten; die Verhandlungen sollten grundsätzlich drei Monate nach Benachrichtigung der beteiligten Seiten stattfinden bzw. sechs Monate bei Angelegenheiten, die in voller Besetzung verhandelt werden. Der Sejm wiederum sollte Richter in schwerwiegenden Fällen auf Antrag der Generalversammlung abberufen können. Der Justizminister oder der Staatspräsident sollten Disziplinarverfahren gegen Richter einleiten können.
Mit Blick auf den Gesetzgebungsprozess fällt das atemberaubende Tempo der Verabschiedung der Novelle auf: Am 15. Dezember 2015 wurde der Gesetzesentwurf dem Sejm vorgelegt, am 28. Dezember wurde das Gesetz vom Präsidenten unterzeichnet und es trat ohne vacatio legis in Kraft. Die nächtlichen Sitzungen des Parlaments und die Beschränkung der Stimme der Opposition riefen eine enorme Protestwelle hervor.
Im März 2016 sprach das TK sein Urteil über diese Gesetzesnovelle vom Dezember 2015, die als in Gänze verfassungswidrig beurteilt wurde. Aus Platzgründen können hier die sehr wichtigen Argumente des Verfassungsgerichts nicht dargestellt werden. Allerdings muss betont werden, dass Vertreter der Regierung und der PiS den Urteilsspruch des TK ausschließlich als informelles Treffen der Verfassungsrichter behandelten und Ministerpräsidentin Beata Szydło die Veröffentlichung des Urteils verweigerte. Infolge dieses Urteils fällte das TK auf der Grundlage des Gesetzes vom Juni 2015 seine Urteile, aber diese wurden nicht veröffentlicht.
Der in einem solchen Ausmaß noch nie dagewesene Konflikt um das Verfassungstribunal rief international zahlreiche Reaktionen hervor. Im Januar 2016 begann die Europäische Kommission das Prozedere der Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit, im Juli 2016 stellte sie ihre Empfehlungen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit vor (zweite Etappe des Prozedere) und im Juli 2017 empfahl die Europäische Kommission Polen:
die vollständige Vollstreckung der Urteile des Verfassungstribunals vom 3. und 9. Dezember 2015. Gemäß dieser Urteile sollen die drei Richter, die rechtskonform vom vorherigen Gesetzgeber im Oktober 2015 gewählt worden waren, ihre Posten als Verfassungsrichter einnehmen, aber nicht die drei Richter, die vom neuen Gesetzgeber ohne gültige Rechtsgrundlage gewählt worden sind.die Bekanntmachung und vollständige Vollstreckung der Urteile des Verfassungstribunals vom 9. März 2016 und seiner späteren Urteile sowie die Garantie der automatischen Bekanntmachung zukünftiger Urteile, unabhängig von den Entscheidungen der Exekutive oder Legislative.die Garantie der Übereinstimmung aller Gesetzesnovellen zum Verfassungsgericht mit den Urteilen des Verfassungsgerichts, inklusiv der Urteile vom 3. und 9. Dezember 2015 und vom 9. März 2016, sowie die vollständige Berücksichtigung der Meinung der Venedig-Kommission [Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, d. Übers.] in diesen Novellen; die Garantie, dass die Wirksamkeit des Verfassungstribunals als Garant der Verfassung nicht durch gestellte Anforderungen untergraben wird.die Garantie, dass das Verfassungstribunal bei dem neuen, am 22. Juli 2016 verabschiedeten Gesetz über das Verfassungstribunal die Vereinbarkeit mit der Verfassung kontrollieren kann, noch bevor das Gesetz in Kraft tritt; die Veröffentlichung und vollständige Vollstreckung des Urteils des TK in dieser Angelegenheit.das Unterlassen von Tätigkeiten und öffentlichen Aussagen, die die Legitimierung und das wirksame Handeln des Verfassungstribunals untergraben könnten.
Außerdem hatte im März 2016 die Venedig-Kommission ihr Gutachten zur Novelle des Gesetzes über das Verfassungstribunal vorgestellt. Die Venedig-Kommission kam damit einem Antrag des Außenministers der Republik Polen nach; sie kritisierte die eingeführten Änderungen unter dem Aspekt der Vereinbarkeit mit den europäischen Standards und mit der polnischen Verfassung sowie unter dem Aspekt der Wirksamkeit der Tätigkeiten des TK.
Die letzten gesetzgeberischen Tätigkeiten in der Angelegenheit des Verfassungsgerichts fanden im April 2016 statt, als PiS-Abgeordnete ein neues Gesetzesprojekt zum TK einbrachten. Am 1. August 2016 wurde das Gesetz im Gesetzblatt veröffentlicht, am 11. August 2016 verkündete das Verfassungstribunal sein Urteil über dieses neue Gesetz. Das Urteil lautete, dass das neue Gesetz teilweise nicht verfassungskonform sei und keinesfalls zur Lösung der Krise führe, die sich weiter vertiefen werde, wobei das Verfassungsgericht selbst als Institution betrachtet würde, deren Rolle bedeutungslos sei. In dem am 14. Oktober 2016 verabschiedeten Gutachten zum Gesetz über das Verfassungstribunal stellte die Venedig-Kommission fest, dass "das Gesetz vom Juli über das TK zwei grundlegende Standards der Machtbalance nicht erfüllt: die Unabhängigkeit des Gerichtswesens und die Position des TK als definitiver Spezialist in verfassungsrechtlichen Fragen".
Am 27. Juli 2017 fasste die Generalversammlung des TK einen Beschluss zum neuen Reglement des TK. Viele Kontroversen löste das Thema der Einzelmeinungen aus. In dem Reglement war nämlich die Möglichkeit ausgeschlossen worden, dass Richter ihre Einzelmeinung äußern, womit die Zusammensetzung des rechtssprechenden Gremiums anfechtbar werden könnte. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die drei Richter, die im Jahr 2015 rechtmäßig gewählt worden waren, vom Staatspräsidenten nicht vereidigt worden waren und an ihre Stelle sogenannte doubles gesetzt wurden. Dies war eine Verfassungsverletzung und stellt die von ihnen gesprochenen Urteile in Frage. Das Reglement enthält viele Änderungen, u. a. betreffen sie die Besetzung der Rechtsprechenden und die Möglichkeit, dass Anträge abgelehnt werden, die von dazu berechtigten Subjekten gestellt werden, beispielsweise vom Bürgerrechtsbeauftragten. Nach Auffassung eines Verfassungsrichters beschränkt das Reglement den Inhalt der Verfassungsbestimmungen und -gesetze: über den Status der Verfassungsrichter sowie das Gesetz über die Organisation der Arbeit und das Verfahren vor dem TK.
Die neuen Regelungen zu den Gesetzen über die Struktur der allgemeinen Gerichte, das Oberste Gericht und den Landesgerichtsrat
Die Krise des Justizwesens, die mit der Rechtsverletzung bei der Wahl der Verfassungsrichter, zahlreichen Gesetzesnovellen und der Weigerung, Urteile des Verfassungstribunals zu veröffentlichen, begann, fand ihre Fortsetzung in der Vorbereitung dreier Gesetzesentwürfe. Diese betreffen die Struktur der allgemeinen Gerichte, das Oberste Gericht (Sąd Najwyższy) und den Landesgerichtsrat. Hinzu kommt das Gesetz über die Nationale Hochschule für Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft (Krajowa Szkoła Sądownictwa i Prokuratury).
Am 17. April 2017 machte der Kommissar für Menschenrechte des Europarats, Nils Muižnieks, und drei Monate später der Generalsekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland, die polnische Regierung darauf aufmerksam, dass das Gesetz über den KRS die Standards des Europarats verletzt. Am 19. Juli 2017 kündigte der Erste Vizepräsident der Europäischen Kommission, Frans Timmermans, an, im Falle der Annahme dieser Gesetze das Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einzuleiten. Das Gutachten der Menschenrechtsinstitution ODIHR der OSZE vom 5. Mai 2017, das das Gesetz über die Änderung des Gesetzes über den KRS betrifft sowie einige andere Gesetze, unterstrich den negativen Einfluss des Gesetzesprojekts auf die Unabhängigkeit der Judikative. Die Verantwortlichen werden aufgerufen, vom weiteren Gesetzgebungsprozess für das Gesetz in dieser Form Abstand zu nehmen.
Am 29. Juli 2017 eröffnete die Europäische Kommission das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen. Nach Auffassung der Kommission gewähren alle drei Gesetze dem Justizminister, der gleichzeitig auch Generalstaatsanwalt ist, umfangreiche Befugnisse. Dies führt zu einer Verletzung des Artikels 10 der Verfassung, die in Paragraph 1 festlegt, dass sich das System der Republik Polen auf die Gewaltenteilung und das Gleichgewicht der Legislative, Exekutive und Judikative gründet. Paragraph 2 des Artikels 10 legt fest, dass die Judikative von den Gerichten und Tribunalen ausgeübt wird.
Die Entscheidung des Staatspräsidenten, kein Veto gegen das Gesetz über die Struktur der allgemeinen Gerichte einzulegen, ermöglicht dem Justizminister, die Vorsitzenden der Gerichte und ihre Stellvertreter auszutauschen. Die Berufung der neuen Vorstände wird wiederum ohne ein Gutachten der Versammlung der Richter stattfinden. Darüber hinaus führt das Gesetz eine Differenzierung des Renteneintrittsalters ein – 65 Jahre bei Männern und 60 Jahre bei Frauen; die darüber hinaus gehende Ausübung ihrer Funktionen ist von der Zustimmung des Justizministers abhängig.
Der Gesetzesentwurf zum Obersten Gericht, gegen das der Staatspräsident am 24. Juli 2017 sein Veto eingelegt hat, wurde hervorragenden Juristen, dem KRS, dem Büro für Studien und Analysen des Obersten Gerichts, Richtervereinigungen in Polen und im Ausland sowie dem ODIHR zur Beurteilung vorgelegt.
Demnach sollten derart fundamentale Änderungen nicht ohne breite gesellschaftliche Konsultationen vollzogen werden, was auch die Richterschaft miteinbeziehen würde. Hier wäre hervorzuheben, dass die Mehrheit der Gesetzesänderungen gegenwärtig in Form von Abgeordnetenprojekten auf den Weg gebracht wird, was keine Konsultationen zwischen einzelnen Ressorts und mit der Öffentlichkeit erfordert. Deutliche Einwände und Empörung lösten in der Öffentlichkeit die Hast des Gesetzgebungsprozesses und der Ausschluss der parlamentarischen Opposition aus der Diskussion aus sowie die Verabschiedung der Gesetze im Laufe langer Debatten, die bis spät in der Nacht dauerten. Was den Kern des Projektes betrifft, muss festgestellt werden, dass die eingeführten Neuerungen in grundsätzlicher Weise die Verfassung und die internationalen Standards verletzen. Dies zeigen folgende Vorschriften, die die Intentionen der Initiatoren zutage treten lassen. Der Entwurf sieht das Erlöschen des Mandats des Vorsitzenden des Obersten Gerichts vor dem Ablauf seiner Amtszeit und seine Versetzung in den Ruhestand vor, was eine Verfassungsverletzung nach Artikel 183, Paragraph 3 darstellt. Dieser legt fest, dass der Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts vom Staatspräsidenten aus einer Reihe von Kandidaten, die die Generalversammlung der Richter des Obersten Gerichts vorstellt, für eine sechsjährige Amtszeit berufen wird. Die Versetzung der Richter des Obersten Gerichts in den Ruhestand soll alle außer diejenigen betreffen, die kraft der Entscheidung des Justizministers am Obersten Gericht bleiben können. Artikel 180, Paragraph 1 der Verfassung spricht von der Unkündbarkeit der Richter, was die Stabilität ihrer beruflichen Position beinhaltet.
Als generelles Prinzip wurde aufgestellt, dass das Renteneintrittsalter in der Richterschaft unterschiedlich sein soll, und zwar 65 Jahre bei Männern und 60 Jahre bei Frauen. Verabschiedet wurden Änderungen der internen Organisation des Obersten Gerichts und eine neue Einteilung nach Kammern: des Öffentlichen Rechts und des Privatrechts sowie eine Disziplinarkammer. Anzumerken ist hier, dass diese Neuorganisation negativen Einfluss auf die Gerichtsverfahren haben kann, die von Richtern geführt werden, die sich auf bestimmte Rechtsbereiche spezialisieren. Es müssten also beispielsweise Abteilungen geschaffen werden, die der Einteilung in bestimmte Rechtsbereiche (Strafrecht, Zivilrecht, Versicherungsrecht usw.) entsprechen. Letztlich zeigt sich hier, dass die vorgeschlagene Regulierung keine fachliche Begründung hat. Es handelt sich um eine Vortäuschung organisatorischer Veränderungen. Dabei sollen die Vorsitzenden der Kammern vom Staatspräsidenten auf Antrag des Justizministers aus den Reihen der aktiven Richter des Obersten Gerichts berufen werden. Es handelt sich hier um eine enorme Verletzung des Artikels 10 der Verfassung, der die Gewaltenteilung betrifft, sowie des Artikels 173, der festlegt, dass die Gerichte und Tribunale eine separate Gewalt und unabhängig von den anderen Gewalten sind. Viele kritische Anmerkungen sind an den Teil des mit Veto belegten Gesetzes zu richten, der die Disziplinarkammer betrifft. Auch sei darauf hingewiesen, dass hier der Begriff "Disziplinar-" in verschiedenen Varianten einige hundert Mal auftaucht. Viele Vorwürfe beziehen sich in diesem Zusammenhang auf die Verletzung der Unabhängigkeit und Neutralität der Richter. Die Gestalt und Zusammensetzung der Disziplinarkammer ist vom Justizminister abhängig, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist.
In der allgemeinen Wahrnehmung hat das Gesetz über das Oberste Gericht, das vom Staatspräsidenten mit Veto belegt wurde, den Austausch der Richter zum Ziel, die Entfernung des Vorsitzenden des Obersten Gerichts – unter Verletzung der Verfassung – und die Einführung neuer Grundsätze über die Disziplinarverantwortung gegenüber den Richtern, was den Effekt der "Erstarrung" nach sich ziehen und das fundamentale Prinzip der Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter verletzen kann. Eine Konsequenz des Gesetzes wäre die Beschränkung des Rechtes der Bürger auf Zugang zu unabhängigen Gerichten. Das Gesetz räumt dem Justizminister umfangreiche Kompetenzen ein und beschränkt gleichzeitig die Kompetenzen des Präsidenten der Republik Polen. Dem Justizminister wird die Aufstellung des Reglements des Obersten Gerichts übertragen, was aktuell die Generalversammlung der Richter des Obersten Gerichts macht. Darüber hinaus soll der Justizminister im Falle der Ausübung der richterlichen Pflichten über das 65. Lebensjahr hinaus zustimmen bzw. seine Zustimmung verweigern. Der Minister wäre befugt, den Disziplinarbeauftragten gegenüber Richtern des Obersten Gerichts in Stellung zu bringen – betont wird also der bedeutende Einfluss des Justizministers-Generalstaatsanwalts auf Disziplinarverfahren.
In dem mit Veto belegten Gesetz über das Oberste Gericht wurde die Bestimmung des Artikels 1 des bisherigen Gesetzes übergangen, das heißt die Aufgabe des Obersten Gerichts, Recht zu sprechen. Dem Obersten Gericht wurde die Prüfung der Kassation entzogen. Die Änderungen sollen also der Stärkung der Befugnisse des Justizministers über das Oberste Gericht und des Austausches der Richter dienen. Ein solches Handeln verletzt die internationalen Standards, so auch Artikel 6, Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention. In zahlreichen Urteilen berief sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf das richtige Verständnis des Begriffs "unabhängiges Gericht" und richterliche Unabhängigkeit. Auch die Gutachten des Beirats der europäischen Richterinnen und Richter, eines Organs des Europarats, weisen auf die Rolle der Gerichte und die Position des Gerichtswesens sowie die Beziehungen zwischen den Gerichten und anderen staatlichen Organen hin. In der Stellungnahme Nr. 18 (2015) wurde unterstrichen, dass Entscheidungen, die die prinzipielle Garantie des unabhängigen Gerichtswesens annullieren, nicht zu akzeptieren sind. Die Rede ist hier auch von den Tätigkeiten der neu gewählten Parlamentsmehrheit und von der Regierung, die die Nominierung und die Amtszeit von Richtern in Frage stellt. Diese Prinzipien waren in der Magna Charta of Judges (2010) bestätigt worden.
Das zweite Gesetz, gegen das der Präsident sein Veto eingelegt hat, betrifft den Landesgerichtsrat. Der KRS ist ein Verfassungsorgan, das über die Gerichte und die Unabhängigkeit der Richter wachen soll. Der KRS setzt sich gemäß Artikel 187 der Verfassung aus 25 Mitgliedern zusammen, 15 von ihnen werden von den Richtern des Obersten Gerichts, der allgemeinen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und der Militärgerichte gewählt. Das Veto wurde u. a. dagegen eingelegt, wie die 15 Richter-Mitglieder des KRS gewählt werden sollen. In dem neuen Gesetz hat die Wahl politischen Charakter, denn die Kandidaten meldet das Präsidium des Sejm oder 50 Abgeordnete an, und die Wahl wird vom Sejm mit Dreifünftelmehrheit getätigt. Die Amtszeit der aktuellen Mitglieder des KRS soll 30 Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes enden. Zweifel weckt die interne Organisation des KRS, die in das Gesetz aufgenommen wurde und auf der Bildung von zwei Versammlungen basiert. Dies erste Versammlung wird von zehn Vertretern der Exekutive und Legislative gebildet, die zweite Versammlung besteht aus 15 Richtern. Entscheidungen über die Berufung eines Richters und die abweichende Meinung eines Einzelnen der beiden Versammlungen würde bei der Abstimmung die Einstimmigkeit der 15 Richter sowie des Ersten Vorsitzende des Obersten Gerichts und des Vorsitzenden des Obersten Verwaltungsgerichts (Naczelny Sąd Administracyjny) erfordern. Die zu erreichen, wäre nicht einfach, worauf das Endgutachten des ODIHR aufmerksam macht. Vertreter der Exekutive und der Legislative könnten den Prozess der Berufung des Richters blockieren (Punkt 15 des Gutachtens). Eine solche Situation kann auch zur Blockade von Entscheidungen führen, die für die Machthaber ungünstig sind. Der Judikative werden also die bisherigen Befugnisse, die aus der Verfassung resultieren, entzogen, was – so das Gutachten des ODIHR – eine größere politische Einmischung in die Ausübung der Justiz und die Verletzung der Unabhängigkeit des Gerichtswesens in Polen bedeutet. Im Antrag, der aus dem Gutachten des ODIHR vom 5. Mai 2017, hervorging, heißt es: "Angesichts des potentiell negativen Einflusses des Gesetzesprojekts auf die Unabhängigkeit des KRS und in der Folge auf die Unabhängigkeit der Judikative in Polen, empfiehlt das ODIHR im Falle seiner Annahme die erneute Betrachtung des Gesetzesprojekts in Gänze sowie die Zurückhaltung der Autoren bei Aktivitäten, die auf seine Annahme zielen".
Ein anderes Gesetz, das Zweifel auf sich zieht, betrifft die Nationale Hochschule für Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft. Der KRS bewertete das Gesetzesprojekt negativ und stellte fest, dass "die vorgeschlagenen Ausführungen nicht der Stärkung der Garantie des Rechts auf ein faires Verfahren, sondern allein der Erweiterung der Befugnisse des Justizministers in Bezug auf das Funktionieren des allgemeinen Gerichtswesens dienen". Auch laut Gutachten der Europäischen Kommission wird die Abhängigkeit der Gerichtsassessoren vom Justizminister negativen Einfluss auf das Funktionieren des Gerichtswesens haben.
Eine der Folgen der Verletzung des Prinzips der Dreiteilung der Gewalten zeigt sich in einem aktuellen Ereignis. Hier wurde versucht, Richter zur Verantwortung zu ziehen, die sich mit der Verhängung einer Untersuchungshaft nicht einverstanden erklärt hatten. Es geht um das Vorgehen gegen Manager eines Chemiekonzerns in der Stadt Police im Zusammenhang mit angeblichen Regelwidrigkeiten im Management. Das Gericht der ersten sowie der zweiten Instanz stellte fest, dass es keine Grundlage für ihre Inhaftierungen gebe. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den Vorgesetzten der Richter nach Art 231, Paragraph 1 des Strafgesetzbuches wegen Befugnismissbrauchs ein. Das juristische Milieu betrachtete die Angelegenheit als Versuch, die Richter einzuschüchtern.
Schlussfolgerungen
Die Einführung neuer Gesetze durch den Sejm und die Zustimmung des Senats in einer Art und Weise, die das Recht der Opposition auf eine ernsthafte Debatte verletzte, rief den Protest Tausender Menschen in großen und kleine Städten hervor. Die Gesellschaft sprach sich für die Verfassung, das Verfassungstribunal und die Gerichte aus. Viele Hierarchen der katholischen Kirche, unlängst auch der Episkopat, wiesen auf eine potentielle Verfassungsverletzung hin. Der Druck internationaler Kreise und die massenhafte gesellschaftliche Präsenz bewirkten, dass der Präsident der Republik Polen sein Veto gegen das Gesetz über den KRS und über das Oberste Gericht einlegte; das Gesetz über die Struktur der allgemeinen Gerichte hat er jedoch leider unterzeichnet. Die Krise des Justizwesens verursachte eine enorme Mobilisierung juristischer Autoritäten, vieler Institutionen und Nichtregierungsorganisationen. Viele Richterverbände haben sich bisher zu den drei verabschiedeten Gesetzen geäußert.
Die Richtervereinigung Themis sprach sich in ihrer Erklärung vom 18. Juli 2017 dafür aus, dass das Verfassungstribunal, der Landesgerichtsrat, das Oberste Gericht und die allgemeinen Gerichte sowie die Staatsanwaltschaft in der Hand der Politiker bleiben.
Der Richterverband Iustitia rief am 29. August 2017 die Richter auf, die Posten der Vorstände, die vom Justizminister abgezogen wurden, nicht zu besetzen. Unterstrichen wurde auch, dass die Prozedur, wie sie im Gesetz über die Struktur der allgemeinen Gerichte festgelegt ist, das verfassungsrechtliche Prinzip der Dreiteilung der Gewalten und der Trennung der Judikative von der politischen Macht verletzt.
Die Verfassungskrise ist mit der Verabschiedung des Gesetzes über das Verfassungstribunal und des Gesetzes über die Struktur der allgemeinen Gerichte nicht beendet. Vor uns liegen weitere Debatten über die beiden mit Veto belegten Gesetze über das Oberste Gericht und den Landesgerichtsrat, die eine weitere, eingehende Analyse erfordern. Zu erwarten steht eine weitere Verschärfung der Krise in Polen, insbesondere da das Problem des Gesetzes über die Struktur der allgemeinen Gerichte immer noch nicht gelöst ist, das in seiner gegenwärtigen Gestalt eine wesentliche Gefahr für die Unabhängigkeit der Gerichte und die Rechtsstaatlichkeit in Polen ist.
Hinzu kommt das problematische politische Klima, das sich in den häufig arroganten Aussagen von Politikern spiegelt, die Autoritäten, darunter Richter, beleidigen. Dieses Klima ist Bestandteil der Krise, die sich aus der Missachtung von Autoritäten und der Position wichtiger Institutionen im Staat ergibt.
Es handelt sich um die ernsteste Krise des Justizwesens in Polen seit 1989.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2019-10-18T00:00:00 | 2017-09-06T00:00:00 | 2019-10-18T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/255589/analyse-das-polnische-justizwesen/ | Das polnische Justizwesen befindet sich in einer anhaltenden Krise. Die Europäische Union zeigt sich besorgt und sieht die Umsetzung ihrer demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze in Polen gefährdet. Die Analyse fasst die Entwicklungen seit Be | [
"Justizreform",
"Justizwesen",
"PiS",
"Verfassung",
"Rechtsstaat",
"Polen"
] | 849 |
Glossar | Klimawandel | bpb.de | Abscheidung / Abtrennung von Kohlendioxid
Grundsätzlich lassen sich die Verfahren zur Abscheidung von Kohlendioxid in drei Kategorien unterteilen: Das CO2 kann vor der Verbrennung (engl.: precombustion) abgetrennt oder nach der Verbrennung (engl.: post-combustion) dem Abgas entzogen werden. Als dritte Variante wird die Verbrennung in reinen Sauerstoff (OxyFuel-Verfahren) diskutiert.
Adequacy of commitments
In Artikel 4.2. (d) der UN-Klimarahmenkonvention ist die Überprüfung der Angemessenheit der Verpflichtungen (review of adequacy of commitments) der Industriestaaten festgeschrieben. Mit Hilfe dieser Überprüfung soll geklärt werden, ob die vereinbarten Reduktionsziele der Klimarahmenkonvention ausreichen, um die Stabilisierung der Emissionen auf einem ungefährlichen Niveau zu erreichen.
Aerosole
Aerosole sind Partikel oder flüssige Tröpfchen, die in der Luft schweben, das Sonnenlicht reflektieren und Wolkenbildung auslösen können. Sie tragen dazu bei, die Erde direkt oder durch Wolkenbildung indirekt zu kühlen.
Albedo
Anteil der Sonnenstrahlung, der an der Erdoberfläche reflektiert wird und im Wesentlichen von der Helligkeit der Erdoberfläche abhängt. Die Werte, die die Albedo annehmen kann, reichen von 0 (kein Licht wird reflektiert) bis 1 (alles Licht wird reflektiert) bzw. werden in Prozent ausgedrückt. Die Albedo der Erde variiert hauptsächlich wegen unterschiedlicher Bewölkung, Schnee-, Eis-, oder Laubbedeckung und Landnutzungsänderungen.
Alliance of Small Island States (AOSIS)
Die Alliance of Small Island States ist ein Zusammenschluss von kleinen Inselstaaten und niedrig liegenden Küstenstaaten. Durch ihre geographische Lage zählen sie zu den ersten Verlierern des Klimawandels.
Androzentrismus
(auf den Mann, auf das Männliche zentriert, Männerzentriertheit) Der Begriff verweist darauf, dass alles Denken, Fühlen und Handeln nicht geschlechtsneutral ist. Unter Androzentrismus wird eine Sichtweise verstanden, die Männer als Zentrum, Maßstab und Norm versteht. Androzentrismus kann also als eine gesellschaftliche Fixierung auf den Mann oder das "Männliche" verstanden werden. Ein androzentrisches Weltbild versteht den Mann als die Norm, die Frau als Abweichung von dieser Norm.
Anpassung an den Klimawandel / Adaptation
(lat. adaptare = anpassen) Anpassung hat das Ziel, sich mit bereits erfolgten Klimaänderungen zu arrangieren und auf zu erwartende Änderungen so einzustellen, dass zukünftige Schäden vermieden werden können. Anpassung kann also entweder reaktiv oder proaktiv (vorsorgend) erfolgen und betrifft sowohl soziale als auch natürliche Systeme.
Anpassungsfähigkeit
Die Anpassungsfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit einer Gesellschaft oder eines Wirtschaftssektors, so mit den Folgen des Klimawandels umzugehen, dass mögliche Schäden auf ein verträgliches Maß reduziert werden.
Anthropogener Klimawandel
(Mensch-gemachter Klimawandel) Maßgeblich verursacht durch den Anstieg der Treibhausgase in der Atmosphäre, der in engem Zusammenhang mit der vor etwa 200 Jahren beginnenden Industrialisierung steht. Zu den wichtigsten Faktoren, die dazu beitragen, dass vermehrt Treibhausgase in die Atmosphäre freigesetzt werden, zählen der Verbrauch von Ressourcen und fossilen Energieträgern vor dem Hintergrund des Anstiegs der Weltbevölkerung, der fortschreitenden Externer Link: Globalisierung der Weltwirtschaft und des technologischen Fortschritts.
Aquifere
poröse salzwasserführende Gesteinsschichten.
Atmosphäre
Gashülle der Erde
Atmosphärische Zirkulation
Die Sonne erwärmt die gesamte Erde. Die Verteilung dieser Wärme in den verschiedenen Breiten des Erdballs ist jedoch ungleichmäßig. Die tropischen Regionen um den Äquator erreicht weit mehr Sonnenenergie als die mittleren Breiten oder die Polarregionen. Die Tropen erhalten mehr Energie aus der Sonnenstrahlung, als sie wieder abgeben können. Umgekehrt strahlen die Polarregionen mehr Wärme ab, als sie erhalten. Würde kein Wärmeaustausch erfolgen, so würden die Tropen heißer und heißer werden, während es an den Polen kälter und kälter würde. Die ungleiche Wärmebilanz in verschiedenen Breiten treibt die Strömungen in Atmosphäre und Ozeanen an. Die Wärmeenergie wird von warmen zu kalten Regionen umverteilt, etwa 60 Prozent über atmosphärische Strömungen, etwa 40 Prozent über Ozeanströme.
Atomausstieg
Elektrizitätswirtschaft und Bundesregierung haben sich in einer Vereinbarung vom 14. Juni 2000 auf die Beendigung der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung (Atomausstieg) verständigt. Künftig wird es keine Neugenehmigungen für Kernkraftwerke zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität mehr geben. Hat ein Kernkraftwerk seine festgelegte Strommenge erzeugt, muss es vom Netz genommen werden.
Back-end des Lebenszyklus
Im Allgemeinen können die einzelnen Teilschritte eines Lebenszyklus wie folgt beschrieben werden: Rohstoffbereitstellung; Herstellung und Verarbeitung von Halbzeugen und Produkten; Nutzung der Produkte, ggf. auch Wiederverwendung; Wieder- und Weiterverwertung (Recycling) und Entsorgung. Als Back-end des Lebenszyklus wird hierbei der nachgeschaltete Schritt der Recyclingmöglichkeiten bzw. Entsorgung bezeichnet.
Bebauungsplan
Im Bebauungsplan legt die Gemeinde rechtsverbindlich die zulässigen baulichen Nutzung in einem Gebiet fest. Man kann daraus Straßen, Grünanlagen und bebaubare Flächen ersehen. Ferner wird die Bauweise, die überbaubaren und nicht überbaubaren Grundstücksflächen, die Baugrenzen, die Anzahl der Geschosse, die Mindestgröße, -breite und -tiefe der Baugrundstücke, die Flächen für Nebenanlagen (Spiel-, Freizeit- und Erholungsflächen, Stellplätze, Garagen) u.ä. festgelegt.
Berliner Mandat
Ergebnis der 1. Externer Link: COP 1995 in Berlin war das Berliner Mandat. Mit dem Berliner Mandat wurde ein Zusatzprotokoll beschlossen, in dem festgelegt wurde, Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasen zu erarbeiten und Emissionsbegrenzungs- und Reduktionsziele zu bestimmen und zu verhandeln.
Biokraftstoff
Als Biokraftstoff oder Biotreibstoff werden Kraftstoffe für Verbrennungsmotoren oder Heizungen bezeichnet, die aus Externer Link: Biomasse hergestellt werden. Unter den Anwendungen, die auf dem gezielten Anbau von Energiepflanzen basieren, hat Raps für die Produktion von Biodiesel derzeit die größte Bedeutung.
Biomasse
Als Biomasse wird all das definiert, was durch Lebewesen (Mensch, Tier, Pflanzen, Mikroorganismen) an organischer Substanz entsteht. Bereits heute existiert eine Vielzahl an Optionen, unterschiedliche Biomasse-Rohstoffe in fester, flüssiger oder gasförmiger Form umzuwandeln und anschließend energetisch zu nutzen. Biomasse kann als einzige der erneuerbaren Energien flexibel im Strom-, Wärme- und Kraftstoffsektor eingesetzt werden.
Biosphäre
Die Biosphäre umfasst alle lebenden Organismen (Pflanzen, Mikroorganismen, Tiere und Menschen).
Blockheizkraftwerke (BHKW)
Blockheizkraftwerke erzeugen Wärme und Strom in kleinen Einheiten dort, wo sie benötigt werden. Die meisten BHKW werden mit Erdgas betrieben, es ist aber auch möglich, Heiz- oder Pflanzenöl, Biogas oder -diesel sowie Holzpellets zu verwenden. Die eingesetzte Energie wird in Strom umgewandelt, die erzeugte Wärme für die Warmwasserbereitung oder zum Heizen benutzt. Zum Einsatz kommen BHKW in Siedlungen, Schulen und Krankenhäusern, Hotels oder Kleinbetrieben.
Bonner Beschluss (Bonn Agreement)
Der Bonner Beschluss war das zentrale Ergebnis der Fortsetzung der 6. Vertragsstaatenkonferenz im Juli 2001 in Bonn. In dieser politischen Entscheidung haben die verhandelnden Minister zu allen wesentlichen Fragen der Ausgestaltung des Externer Link: Kyoto-Protokolls Kompromisse geschlossen. Mit dem Bonner Beschluss ist das Kyoto-Protokoll ratifizierbar geworden.
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gibt den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen wieder, die innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtschaft hergestellt werden und dem Endverbrauch dienen. Die Veränderungsrate des BIP zählt als Messgröße für das Wirtschaftswachstum einer Volkswirtschaft.
Bruttosozialprodukt
Das Bruttosozialprodukt, mittlerweile Bruttonationaleinkommen genannt, ist ein Wert, der die Gesamtheit aller in einer Volkswirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums angibt. Das Bruttonationaleinkommen wird berechnet, indem man vom Bruttoinlandsprodukt zum einen die Erwerbs- und Vermögenseinkommen abzieht, die an das Ausland geflossen sind, zum anderen jedoch die von Inländern aus dem Ausland empfangenen Einkommen addiert.
Burden Sharing (Lastenteilung)
Das Burden Sharing, die so genannte EU-Lastenverteilung, bezeichnet die europarechtliche Festlegung, die gemeinsame Reduktionsverpflichtung aus dem Externer Link: Kyoto-Protokoll in unterschiedlich hohe Einzelziele der jeweiligen Staaten aufzuteilen. So liegt die Reduktionsverpflichtung für die EU insgesamt bei minus acht Prozent (bis 2012). Deutschland hat sich im Rahmen der Lastenteilung in der EU zur Reduktion von 21 Prozent aller Treibhausgase verpflichtet.
Cap-and-Trade-System
s. auch Externer Link: Emissionshandel. Das Cap bezeichnet die Emissionsobergrenze bzw. das Emissionsziel im Emissionshandel für die nationale Ebene sowie die einzelnen Ziele für alle Makro-Sektoren (Energiewirtschaft, Industrie, Gewerbe/Handel/Dienstleistungen, Verkehr und Haushalte). Das Gesamtziel leitet sich vom so genannten Externer Link: Burden Sharing ab.
Carbon Capture and Storage (CCS-Technologien)
Carbon Capture and Storage umfasst die Externer Link: Abscheidung des klimaschädlichen Kohlendioxids, das bei der Verbrennung fossiler Energieträger frei wird, dessen Transport und Speicherung. Mittels der CCS-Technologie wird das Kohlendioxid in konzentrierter Form abgeschieden und gelangt nicht ungehindert in die Atmosphäre, sondern kann etwa unterirdisch in geologischen Lagerstätten über lange Zeiträume hinweg gelagert werden. Verglichen mit anderen Maßnahmen zum Klimaschutz sind die Kosten für das Verfahren der Abscheidung, des Transports und der Speicherung des CO2 sehr hoch.
City-Maut
Städtisches "Road Pricing" (Gebührenerhebung im Straßenverkehr), bereits angewandt z.B. in Singapur, London, Oslo oder Stavanger. Auch City-Pricing genannt.
Clean Development Mechanism (CDM)
(Mechanismus für eine umweltverträgliche Entwicklung) Durchführung von Klimaschutzprojekten, bei denen ein Industrieland in einem Entwicklungsland (Annex II-Länder) investiert.
CO2-Äquivalent
Treibhauswirksamkeit eines Gases, bezogen auf diejenige von Kohlendioxid. Die sechs wichtigsten klimawirksamen Gase sind Kohlendioxid (CO2), Methan (CO4), Distickoxid (NO2, Lachgas), wasserstoffhaltige Fluorkohlenwasserstoffe (FKW), perfluorierte Fluorkohlenwasserstoffe (PFC) und Schwefelhexafluorid (SF6).
Conference of the Parties (COPs)
Jährliche Treffen der Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention. Aufgabe dieser Konferenz ist die Überprüfung der Durchführung der Klimarahmenkonvention und der damit zusammenhängenden Rechtsinstrumente sowie die Entscheidung über notwendige Beschlüsse, um die Durchführung des Übereinkommens zu gewährleisten.
Contracting
Contracting ist ein Dienstleistungskonzept, das darauf abzielt, die Effizienz bei der Energieerzeugung, -umwandlung und -nutzung in allen Verbrauchsbereichen zu verbessern. Ein außenstehender Investor - Contractor genannt - übernimmt je nach Vertragsumfang Planung, Finanzierung, Bauausführung sowie den laufenden Betrieb des Investitionsprojektes (zum Beispiel Errichtung eines Blockheizkraftwerkes). Contractinglösungen werden beispielsweise von Heizanlagen-Herstellern, Dienstleistern der Energietechnik, großen Handwerks- und örtlichen Energieversorgungsunternehmen oder auch Energieagenturen angeboten. Contracting ist dabei nicht nur für Unternehmen, private Hausbesitzer und die öffentliche Hand interessant, sondern nützt aufgrund der erzielten Energieeinsparungen auch der Umwelt. In der Praxis haben sich zwei systematische Formen etabliert: Anlagen-Contracting und Einspar- bzw. Performance-Contracting. Emissionshandel
Der Emissionshandel ist ein marktwirtschaftliches klimapolitisches Instrument, das zum Ziel hat, den Ausstoß klimaschädlicher Gase zu möglichst geringen volkswirtschaftlichen Gesamtkosten zu reduzieren. Dazu wird zunächst entweder durch den Staat oder durch eine andere Körperschaft eine Gesamtmenge an Treibhausgasemissionen festgelegt, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums und innerhalb eines bestimmten Territoriums ausgestoßen werden darf. Die festgelegte Gesamtmenge wird den in einem Emissionshandelssystem erfassten Emittenten in Form von Emissionsberechtigungen/Emissionszertifikaten gratis zugeteilt oder versteigert.
Emissionsszenario
Eine plausible Darstellung der zukünftigen Entwicklung der Emissionen von Substanzen, die möglicherweise strahlungswirksam sind (z.B. Treibhausgase, Externer Link: Aerosole), basierend auf einer kohärenten und in sich konsistenten Reihe von Annahmen über die zugrunde liegenden Kräfte (wie demographische und sozioökonomische Entwicklung oder Technologiewandel) und deren Schlüsselbeziehungen. Von Emissionsszenarien abgeleitete Konzentrationsszenarien werden als Vorgabe für die Berechnung von Klimaprojektionen mit Externer Link: Klimamodellen eingesetzt.
Emissionszertifikate
Ein Emissionszertifikat stellt eine nicht-übertragbare oder handelbare Genehmigung für die Emission einer bestimmten Menge einer Substanz dar, die einer juristischen Person (Firma oder anderem Emittenten) durch eine Regierung zugewiesen wird. Ein handelbares Zertifikat ist ein wirtschaftliches Instrument, im Rahmen dessen die Rechte zum Ausstoß von Verschmutzung – in diesem Fall einer Menge an Treibhausgasemissionen – über einen entweder freien oder geregelten Zertifikatsmarkt ausgetauscht werden können.
Endenergie
Primärenergie (auch als Energiequellen bezeichnet) ist die Energie, die in natürlichen Ressourcen (z.B. Kohle, Rohöl, Erdgas, Uran) enthalten ist und keinerlei Umwandlung durch den Menschen erfahren hat. Sie wird durch Reinigung (Erdgas), Raffination (Öl in Ölprodukte) oder durch Umwandlung in Strom oder Wärme zu Sekundärenergie. Wird die Sekundärenergie an die Einrichtungen der Endverbraucher geliefert, so heißt sie Endenergie (z.B. Strom in der Steckdose), wo sie zur nutzbaren Energie (z.B. Licht) wird.
Energieeffizienz
Das Verhältnis von Energieertrag zu Energieeinsatz in einem System, einem Umwandlungsprozess oder einer Aktivität.
Energieeinsparverordnung
Die Energieeinsparverordnung (EnEV) ist die Fortführung der Wärmeschutzverordnung (WSchV) unter Einbeziehung der Heizanlagenverordnung (HeizAnlV). Ziel der Verordnung ist die Reduzierung des Energieverbrauchs. Wesentliche Neuerung der EnEV war die Begrenzung des Primärenergiebedarfs für Heizung und Warmwasser statt des Heizwärmebedarfs wie in der WSchV. Damit wurden erstmalig bei der Erstellung der Energiebilanz die primärenergetische Effizienz der Energieträger und die Effizienz der Anlagentechnik mit berücksichtigt. Die EnEV (2002) wurde am 1. Oktober 2007 von der neuen EnEV (2007) abgelöst. In der neuen Energieeinsparverordnung sind - als gesetzliche Grundlage diente die so genannte Europäische Gebäuderichtlinie "Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden" (EPBD) - Fristen für alle Wohn- bzw. Nichtwohngebäude festgelegt worden. Diese Fristen beziehen sich auf die Pflicht bei Erstellung, Verkauf oder Vermietung einen Energieausweis vorlegen zu müssen.
Enhanced Oil Recovery (EOR)
CO2-Speicherungstechnik, mit deren Hilfe man durch das Einpressen von CO2 die Ausbeute von Ölfeldern erhöhen kann.
Erneuerbare Energien Gesetz (EEG)
Mit Hilfe des EEG soll der Anteil der erneuerbareren Energien an der deutschen Stromversorgung bis 2010 auf 12,5 Prozent verdoppelt werden. Der Anteil erneuerbarer Energien am gesamten deutschen Energieverbrauch beträgt mit 219 Milliarden Kilowattstunden inzwischen neun Prozent, der Anteil am Stromverbrauch sogar 14 Prozent, womit das Ziel des EEG bereits 2007 übertroffen wurde. Das Gesetz regelt die Abnahme und die Vergütung von Strom, der ausschließlich aus Wasserkraft, Windkraft, solarer Strahlungsenergie, Geothermie, Deponiegas, Klärgas, Grubengas oder aus Externer Link: Biomasse erzeugt wird. Stadtwerke oder private Energiekonzerne als Netzbetreiber sind verpflichtet, die Anlagen an ihre Stromnetze anzuschließen und die dafür festgelegte Vergütung zu zahlen.
Erneuerbare Energien
Erneuerbare Energien - auch regenerative oder alternative Energien genannt - sind Energieträger/-quellen, die sich ständig erneuern bzw. nachwachsen und somit nach menschlichem Ermessen unerschöpflich sind. Hierzu zählen: Sonnenenergie (mit den indirekten Formen Externer Link: Biomasse, Wasserkraft, Windenergie, Umgebungswärme etc.) sowie Erdwärme (Geothermie) und Gezeitenenergie.
Erste Verpflichtungsperiode
Der Zeitraum 2008-2012, für den sich die Industriestaaten im Externer Link: Kyoto-Protokoll zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen verpflichtet haben. Ihr sollen nach 2012 weitere Verpflichtungsperioden nachfolgen.
EU-Emissionshandel
s. auch Externer Link: Emissionshandel. Der Emissionshandel findet auf verschiedenen Ebenen statt. Auf der einen Seite existiert der Emissionsrechthandel zwischen Staaten, wie im Rahmen des Externer Link: Kyoto-Protokolls vereinbart. Auf der anderen Seite besteht eine Reihe von Emissionshandelssystemen, in denen Emissionsberechtigungen zwischen Unternehmen gehandelt werden, wie etwa in der Europäischen Union. Eine EU Richtlinie (EHRL) regelt den Start des Emissionshandels für Unternehmen in Europa ab dem 1. Januar 2005. Die Menge an Emissionsberechtigungen wird zugeteilt und nimmt von Periode zu Periode ab. Unternehmen, die bereits größere Anstrengungen zum Klimaschutz geleistet haben oder sich als besonders innovativ zeigen, können überschüssige Berechtigungen verkaufen. Sie haben eine zusätzliche Einnahmequelle. Reicht dagegen die zugeteilte Menge nicht aus, um die Verpflichtungen zu erfüllen, müssen zusätzliche Anstrengungen unternommen oder Emissionsberechtigungen zugekauft werden. Andernfalls ist eine Strafe zu zahlen. Dadurch erfolgen die Emissionsminderungen dort, wo die Vermeidungskosten am niedrigsten sind. S. auch Externer Link: Europäisches Emissionshandelssystem (EU-EHS)
EU-Emissionshandelsrichtlinie
"Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates"
Europäisches Emissionshandelssystem (EU-EHS)
Im Gegensatz zum internationalen Emissionshandel im Rahmen des Externer Link: Kyoto-Protokolls sind im EU-EHS die Marktteilnehmer nicht Staaten, sondern Unternehmen bzw. Betreiber bestimmter emissionsintensiver Industrieanlagen, welche gemäß der nationalen Allokationspläne Emissionsberechtigungen zugewiesen bekommen.
Exposition
Die Exposition gibt an, wie sehr eine bestimmte Region bzw. ihr soziales oder Ökosystem den klimatisch bedingten Risiken ausgesetzt ist. Diese sind regional deutlich unterschiedlich ausgeprägt.
Fluorkohlenwasserstoffe (FCKW)
FCKW sind in hohem Maße für die Zerstörung der Ozonschicht verantwortlich, da sie in der Atmosphäre in großer Höhe vom energiereichen Sonnenlicht gespalten werden und Chlorverbindungen entstehen, die das Ozon angreifen und zerstören (Ozonloch).
Fermentativer Prozess/ Fermentation
Unter Fermentation versteht man die Umwandlung von organischen Materialien mit Hilfe von Bakterien-, Pilz- oder Zellkulturen oder den Zusatz von Enzymen (Fermenten). Der ursprüngliche Begriff beschreibt dabei eine biochemische Reaktion unter Ausschluss von Licht und Luft.
Fernwärme
Bei der Fernwärme wird die Wärme, die durch die Stromerzeugung in großen Kraftwerken anfällt, auch für Heizzwecke genutzt und durch ein Fernwärmenetz direkt zu den Haushalten oder Gewerbebetrieben geleitet. Dabei entsteht nur ein geringer Wartungsaufwand und das versorgte Haus benötigt weder Heizanlage noch Schornstein. Allerdings geht durch die langen Wege bei der Verteilung wieder Wärme verloren.
FKW (fluorierte Verbindungen)
Perfluorierte Kohlenwasserstoffe (FKW) gehören zu den sechs Treibhausgasen, deren Emission durch das Externer Link: Kyoto-Protokoll begrenzt werden soll. Sie haben eine 6.500 bis 9.200mal stärkere Treibhauswirkung als Kohlendioxid. Sie sind rein menschlichen Ursprungs und entstehen u.a. beim Schmelzen von Aluminium und in der Halbleiterherstellung.
Flexible Mechanismen / Instrumente
Die flexiblen Instrumente umfassen den Externer Link: Emissionshandel, Externer Link: Clean Development Mechanism (CDM) und Externer Link: Joint Implementation (JI). Wichtig ist zu wissen, dass nur ein Teil der Emissionsminderungsauflagen durch CDM und JI erfüllt werden darf, und dies nur eine Ergänzung zu Emissionsminderungsmaßnahmen im Inland darstellt.
Flottenverbrauch
Flottenverbrauch bezeichnet den durchschnittlichen Kraftstoffverbrauch einer Fahrzeugflotte. Der Begriff Flotte fasst dabei Fahrzeuge einer ausgewählten Gruppe zusammen. Die Zusammensetzung der Gruppe kann sehr verschieden sein, wie z.B. alle Fahrzeuge eines Unternehmens, alle Fahrzeuge eines Herstellers oder alle Fahrzeuge einer Fahrzeugklasse (z.B. LKW, PKW oder Kleinwagen).
Fossile Energieträger
Die in der erdgeschichtlichen Vergangenheit (vor mehr als 60 Jahrmillionen) vor allem aus abgestorbenen Pflanzen und tierischem Plankton entstandenen festen, flüssigen und gasförmigen Brennstoffe wie Stein- und Braunkohle, Erdöl, Erdgas und Torf. Diese Rohstoffe werden zur Energiegewinnung verwertet. Sie decken heute zusammen fast 90 Prozent des Welt-Energiebedarfs. Der Hauptbestandteil ist immer Kohlenstoff, der bei der Energieumwandlung (Verbrennung) zu Kohlendioxid umgewandelt wird. Da das Kohlendioxid der Hauptverursacher des Treibhauseffektes ist, ist die Verbrennung von fossilen Energieträgern die Ursache für die drohende Klimaveränderung. Neben dem Kohlendioxid werden als Schadstoffe je nach Zusammensetzung des Brennstoffes in unterschiedlichen Mengen auch Schwefeldioxid und Stickoxide freigesetzt.
Freiwillige Selbstverpflichtungen
Freiwillige Selbstverpflichtungen sind rechtlich nicht-bindende Erklärungen von Unternehmen oder Wirtschaftsverbänden, bestimmte Handlungen vorzunehmen oder Regeln einzuhalten. Diese werden vom Staat informell entgegengenommen. Im Gegenzug verzichtet der Staat in der Regel auf den Erlass von Rechtsvorschriften. Damit haben die Akteure aus der Wirtschaft die Möglichkeit, bestimmte Ziele in einer bestimmten Frist durch eigenverantwortliches Handeln zu verwirklichen. So kam es beispielsweise 2001 zu einer Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft zur Minderung der CO2-Emissionen und der Förderung der Externer Link: Kraft-Wärme-Kopplung in Ergänzung zur Klimavereinbarung.
Front-end des Lebenszyklus
Im Allgemeinen können die einzelnen Teilschritte eines Lebenszyklus wie folgt beschrieben werden: Rohstoffbereitstellung; Herstellung und Verarbeitung von Halbzeugen und Produkten; Nutzung der Produkte, ggf. auch Wiederverwendung; Wieder- und Weiterverwertung (Recycling) und Entsorgung. Als Front-end des Lebenszyklus wird hierbei der vorgeschaltete Schritt der Rohstoffförderung bezeichnet.
Fruchtfolge
Im Feldbau eine Abfolge von geeigneten Kulturen, um eine bestmögliche Ausnutzung des Bodens unter dauernder Erhaltung seiner Fruchtbarkeit zu erreichen. Eine gute Fruchtfolge vermeidet die Aufeinanderfolge biologisch gleichartiger Pflanzen und wechselt vor allem Halmfrüchte mit Klee, Kartoffeln oder Rüben ab.
Gender
Im Gegensatz zum biologischen Geschlecht handelt es sich beim Gender um das soziale Geschlecht bzw. gesellschaftlich bedingte Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Diese sind nicht "natürlich", können sich im Laufe der Zeit ändern und unterscheiden sich sowohl innerhalb einer Kultur als auch zwischen den einzelnen Kulturen erheblich voneinander. Relevant ist die Unterscheidung zwischen Gender (sozialem Geschlecht) und Sex (biologischem Geschlecht) vor allem in Hinblick auf die mit den Begriffen Mann/Frau bzw. männlich/weiblich verbundenen Erwartungen und Zuschreibungen.
Gender Mainstreaming
Der Begriff Gender Mainstreaming bezeichnet den Prozess und die Vorgehensweise, die Geschlechterperspektive in die Gesamtpolitik aufzunehmen. Dies bedeutet, die Entwicklung, Organisation und Evaluierung von politischen Entscheidungsprozessen und Maßnahmen so zu betreiben, dass in jedem Politikbereich und auf allen Ebenen die Ausgangsbedingungen und Auswirkungen auf die Geschlechter berücksichtigt werden, um auf das Ziel einer tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern hinwirken zu können. Dieser Prozess soll Bestandteil des normalen Handlungsmusters aller Ressorts und Organisationen werden, die an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Dies trifft auch auf die Klimapolitik zu.
Geosphäre
Gesamtheit von Externer Link: Atmosphäre, Externer Link: Hydrosphäre, Externer Link: Kryposphäre, Externer Link: Biosphäre und Externer Link: Pedosphäre.
Gesteinsverwitterung
Verwitterung ist der allgemeine Begriff für die kombinierte Arbeit aller Prozesse, welche den physikalischen Zerfall und die chemische Zersetzung des Gesteins wegen dessen exponierter Lage an oder nahe der Erdoberfläche herbeiführen. Beispiele solcher Kräfte sind die Wirkungen von Wasser, Eis, Wind und Temperaturänderungen. Das Ergebnis von Verwitterung ist Gesteinszerstörung, bei der je nach Art der Verwitterung die gesteinsbildenden Minerale erhalten bleiben (physikalische Verwitterung) oder um- bzw. neu gebildet werden (chemische Verwitterung).
Global Environmental Facility (GEF)
Global Environmental Facility (deutsch: Globale Umweltfazilität) ist ein multilaterales Finanzierungsinstrument. Es wurde 1991 eingerichtet, um bei Vorhaben in Entwicklungsländern Belange des globalen Umweltschutzes berücksichtigen zu können. Die GEF wird von der Weltbank, dem United Nations Development Programme (UNDP) und dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) gemeinsam verwaltet.
Globalisierung
Unter Globalisierung versteht man in erster Linie die zunehmende weltweite wirtschaftliche Verflechtung. Es handelt sich also um einen wirtschaftlichen Vorgang, dessen Kern der weltweite Austausch von Produkten, Ressourcen, Technologie und Kapital ist. Aber auch ökologische, kulturelle und soziale Aspekte werden mit Globalisierung in Verbindung gebracht.
Gruppe 77 und China
Externer Link: Schwellenländer, Externer Link: OPEC, Externer Link: AOSIS und Externer Link: Least Developed Countries. Die Gruppe der 77 (G 77) ist ein loser Zusammenschluss von Staaten der Dritten Welt. Die Vereinigung wurde 1964 im Verlauf der ersten Welthandelskonferenz (UNCTAD) gegründet und hat mittlerweile 131 Mitglieder. Aus dem losen Zusammenschluss folgt eine relativ schwache Institutionalisierung: Ein jährlich stattfindendes Ministertreffen in New York fasst die Grundsatzbeschlüsse, die von einem Koordinierungsausschuss an regionale Untergruppen in Genf, Nairobi, Paris, Rom und Wien weitergegeben werden. Hauptziel der G 77 ist es, die Position der Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt zu verbessern und durch gemeinsames Auftreten eine starke Verhandlungsposition auf den Externer Link: UNFCCC-Klimakonferenzen und den Welthandelskonferenzen zu haben. Die Gruppe verfasst gemeinsame Erklärungen zu entwicklungspolitischen und weltwirtschaftlichen Themen wie der "Charta der wirtschaftlichen Rechte der Dritten Welt" und startet eigene handels- und wirtschaftspolitische Programme, z. B. das "Global System of Trade Preferences Among Developing Countries" (GSTP). Hurrikan
Bezeichnung für die tropischen Wirbelstürme im westlichen Atlantik.
Hydrosphäre
Wasserhülle der Erde.
Integriertes Energie- und Klimaprogramm (IEKP)
Die Bundesregierung hat das Ziel formuliert, die CO2-Emissionen in Deutschland bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu verringern. In absoluten Zahlen bedeutet dies eine Reduzierung um 260 Millionen Tonnen CO2 gegenüber heutigen Werten. Zur Erreichung dieser Ziele hat die Bundesregierung bereits im August 2007 29 Eckpunkte des Integrierten Energie- und Klimaprogramms (IEKP) in Meseberg vorgestellt und deren Umsetzung beschlossen. Mit dem IEKP werden die Weichen, die der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs im Frühjahr 2007 unter deutscher Präsidentschaft für eine integrierte europäische Klima- und Energiepolitik gestellt hat, auf nationaler Ebene durch ein konkretes Maßnahmenprogramm umgesetzt.
Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)
(Weltklimarat) Internationales Gremium aus Wissenschaftlern, das als Beratungsorgan der internationalen Klimaverhandlungen von der World Meterological Organisation, Weltorganisation für Meteorologie (WMO), und dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) in Sachstandsberichten den Wissenstand der Klimaforschung umfassend darstellt.
Isotop
Isotope (griech. gleicher Ort, gemeint ist im Periodensystem) sind Atome mit gleicher Ordnungszahl aber unterschiedlicher Massenzahl. Es handelt sich also um Atome eines Elements, die sich nur durch die unterschiedliche Anzahl von Neutronen im Atomkern unterscheiden. Sehr häufig ist nur ein Isotop eines Elements stabil, während die anderen Isotope radioaktiv (d. h. instabil) sind und früher oder später zerfallen. Es gibt auch Elemente, bei denen alle Isotope instabil sind und zerfallen.
Joint Implementation (JI)
(Gemeinsame Projektumsetzung) Klimaschutzprojekt, das ein Industrieland in einem anderen Industrieland (Annex B-Land) durchführt.
JUSSCANNZ-Gruppe
Der Begriff JUSSCANNZ steht als Akronym für die Staaten Japan, die USA, die Schweiz, Kanada, Australien, Norwegen und Neuseeland. Diese OECD-Staaten haben sich im Rahmen der Klimaverhandlungen in Kyoto durch eine ablehnende bzw. blockierende Verhandlungshaltung hervorgetan.
Klima
Geschehnisse, die sich über einen längeren Zeitraum (mindestens 30 Jahre) vollziehen und die sich auf (über-)regionale, statistische Ausprägung bestimmter Variablen beziehen.
Klimaarchiv
Ein Klimaarchiv gibt Auskunft über die klimatische Vergangenheit, die Klimageschichte der Erde. Als Klimaarchiv wird somit alles bezeichnet, was Informationen über frühere Klimaverhältnisse speichert, z.B. Jahresringe von Bäumen, Sedimente aus Ozeanen und Seen, Eisbohrkerne.
Klimamodelle
Klimamodelle beinhalten die wichtigsten Elemente des Klimasystems und versuchen dessen komplexe Wechselwirkungen vereinfacht - basierend auf bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten - darzustellen. Diese Rechenmodelle beziehen die einzelnen Komponenten des Systems Klima und ihre Wechselwirkungen – in unterschiedlichem Umfang – ein.
Klimasicherheit
Durch den massiven Rückgang an fruchtbaren Böden und der Wasserverfügbarkeit infolge eines schneller eintretenden Klimawandels ist auch das verstärkte Auftreten von regionalen Ressourcenkonflikten zu befürchten. Gleichzeitig ist absehbar, dass der weltweit steigende Energiebedarf in Entwicklungsländern bis 2030 überproportional zunehmen wird. Das bedeutet nicht nur die Gefahr steigender Preise für die Energieversorgung in den Industrieländern, sondern unter Umständen handfeste Konflikte um die Ausbeutung von Energieträgern. Durch die enge Beziehung zwischen Entwicklungen im Energiesektor und dem Ausmaß des Klimawandels bildet sich hierbei zunehmend ein sicherheitspolitischer Klima-Energie-Komplex heraus, für den integrierte Lösungsansätze zu suchen sind. Werden diese nicht schnell genug umgesetzt, drohen nicht mehr nur lokal begrenzte Ressourcenkonflikte, sondern (über-)regionale Konfliktlagen.
Klimaszenarien
Klimaszenarien sind Entwürfe anhand derer man zukünftige Entwicklungen der für den Externer Link: anthropogenen Klimawandel relevanten Faktoren ablesen kann. Szenarien sind ebenfalls Modellrechnungen, in denen bestimmte Zielwerte vorgegeben und Annahmen getroffen werden. Zum Beispiel kann man das Volumen von CO2-Emissionen in einem bestimmten Zeitraum berechnen. In einer solchen Modellrechnung lässt sich ermitteln, mit welchen Voraussetzungen bestimmte Zielvorgaben, z.B. Reduzierung von CO2 um den Betrag X, erreicht werden könnte. Klimaszenarien helfen zudem, mit Zukunftsentwürfen zu experimentieren und mögliche Entwicklungen vorab einschätzen zu können. Damit können mögliche Risiken minimiert werden und es kann vorsorgeorientiert gedacht und gehandelt werden. Derzeit konzentrieren sich die wichtigsten Klimaszenarien auf den zukünftigen Verlauf der Emissionen der Treibhausgase. Wichtig ist zu wissen, dass Szenarien – anders als Prognosen – nicht vorhersagen können, was in Zukunft passieren wird, sondern unterschiedliche Möglichkeiten dessen aufzeigen, was geschehen könnte.
Kraft-Wärme-Kopplung
Die Nutzung von Abwärme aus der Stromerzeugung, z.B. Kondensationswärme von Dampfturbinen oder heiße Abgase von Gasturbinen für industrielle Zwecke oder für Quartierbeheizung.
Kraft-Wärme-Kopplung-Gesetz (KWK)
Die in den Kraftwerken eingesetzte Primärenergie (hauptsächlich Kohle oder Gas) zur Stromerzeugung kann lediglich zu 35 Prozent genutzt werden. Der große Rest der Energie wird in Form von Wärme an die Umgebung ungenutzt abgegeben. Bei der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) werden Strom und Wärme synchron erzeugt, so dass mehr als 90 Prozent der eingesetzten Energie nutzbar sind. Es gibt verschiedene Möglichkeiten dieses Prinzip umzusetzen, und zwar über Externer Link: Fernwärme oder durch Externer Link: Blockheizkraftwerke (BHKW). Das bundesweite Kraft-Wärme-Kopplung-Gesetz regelt die Vergütung und Abnahme von Strom aus KWK-Anlagen, der in das allgemeine Netz eingespeist wird. Betreiber eines Blockheizkraftwerks erhalten von ihrem Netzbetreiber vor Ort einen Zuschlag für den eingespeisten Strom.
Kryosphäre
Die Kryosphäre umfasst alle Formen von Schnee und Eis (Meer-, Schelf- und Inlandeis) sowie die Gebirgsgletscher.
Kyoto-Protokoll
Das Kyoto-Protokoll ist eine Ergänzung der Externer Link: UNFCCC. In ihm haben sich die Industriestaaten erstmals verbindlich zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2008-2012 um 5,2 Prozent unter das Niveau von 1990 verpflichtet. Es wurde 1997 verabschiedet und trat 2005 in Kraft. Dabei haben die einzelnen Länder unterschiedliche Emissionsbegrenzungsverpflichtungen akzeptiert.
Least Developed Countries (LDCs)
Der Begriff LDCs (deutsch: am wenigsten entwickelte Länder) ist ein von den Vereinten Nationen definierter sozialökonomischer Status, den eine Gruppe von 50 besonders armen Ländern überall in der Welt besitzt. Diese am wenigsten entwickelten Länder der Welt werden oft auch als "Vierte Welt" bezeichnet.
Linking-Direktive
"Richtlinie 2004/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft im Sinne der projektbezogenen Mechanismen des Externer Link: Kyoto-Protokolls." Die Linking-Direktive verbindet das europäische Emissionshandelssystem mit dem Kyoto-Protokoll, indem sich Unternehmen Reduktionszertifikate aus Externer Link: Joint Implementation- und Externer Link: Clean Development Mechanism-Projekten anerkennen lassen können, um ihre Verpflichtungen innerhalb des EU-Systems zu erfüllen.
Marrakesh Accords
Völkerrechtliche Vereinbarung zur Konkretisierung des Externer Link: Kyoto-Protokolls, u.a. zu den flexiblen Mechanismen und der Anrechenbarkeit von Senken. Sie entstanden bei Externer Link: COP 7 (7. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention) in Marrakesch.
Meeting of the Parties (MOP)
Treffen der Unterzeichnerstaaten des Externer Link: Kyoto-Protokolls. Nach dem Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls sind die jährlichen Klimakonferenzen nicht mehr nur Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention (COP), sondern auch Treffen der Unterzeichnerstaaten des Kyoto-Protokolls.
Megacity / Megastadt
Als Megacity werden im Allgemeinen Städte bezeichnet, die mehr als drei (beziehungsweise je nach Definition mehr als fünf, acht oder zehn) Millionen Einwohner haben.
Milankovic-Zyklen
Zyklische Veränderungen des Abstandes zwischen Erde und Sonne und damit auch die sich im Laufe der Zeit verändernde Menge der Sonnenstrahlung.
Mitigation
Vermeidung und Minderung von klimaschädlichen Gasen.
Modal Split
Modal Split wird in der Verkehrsstatistik die Verteilung des Transportaufkommens auf verschiedene Verkehrsträger (Modi) genannt. Eine andere gebräuchliche Bezeichnung im Personenverkehr ist Verkehrsmittelwahl. Der Modal Split ist Folge des Mobilitätsverhaltens der Menschen und der wirtschaftlichen Entscheidungen von Unternehmen einerseits und des Verkehrsangebots andererseits.
Nationaler Allokationsplan (NAP)
Eine gemäß Art. 9 der europäischen Emissionshandelsrichtlinie von jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union jeweils am Anfang einer Handelsperiode zu erstellende Aufstellung über die Zuteilung von Emissionsberechtigungen. Die Festlegung der nationalen Mengenkontingente für Emissionsberechtigungen (zunächst nur für Kohlendioxid (CO2)) sowie die Regeln für deren Zuteilung an beteiligte Unternehmen bzw. Anlagenbetreiber waren Grundlage für das 2005 in der EU eingeführte neue klimaschutzpolitische Instrument des Emissionshandels.
Natürlicher Klimawandel
Das Klima befindet sich in einem ständigen Wandel. Warm- und Kaltzeiten haben sich im Laufe der Erdgeschichte abgelöst und neue klimatische Bedingungen auf der Erde geschaffen. Relevante Faktoren, die sich auf das Klima auswirkten, waren einst Externer Link: Tektonik und Vulkanismus und der sich verändernde CO2-Gehalt im Austausch mit der Vegetation und Externer Link: Gesteinsverwitterung.
Natürlicher Treibhauseffekt
Als Treibhauseffekt bezeichnet man die Erderwärmung durch Treibhausgase in der Atmosphäre. Diese in der Atmosphäre angesammelten Treibhausgase verhindern die Wärmerückstrahlung von der Erdoberfläche ins All. Neben dem natürlichen gibt es den so genannten anthropogenen Treibhauseffekt. Dieser wird vom Menschen durch den vermehrten Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase hervorgerufen. Durch die industrialisierte Welt erhöht sich der Anteil der Spurengase, so dass es zu einer überdurchschnittlichen Erwärmung, dem so genannten Klimawandel, kommt.
Nicht-Regierungs-Organisationen / Non-Governmental Organisations (NGOs)
Eine Nicht-Regierungs-Organisation (NRO), d.h. eine nichtstaatliche Organisation, ist eine nicht auf Gewinn ausgerichtete, von staatlichen Stellen weder organisierte noch abhängige Organisation.
Ökologischer Rucksack
Der ökologische Rucksack ist die sinnbildliche Darstellung der Menge an Ressourcen, die bei der Herstellung, dem Gebrauch und der Entsorgung eines Produktes oder einer Dienstleistung verbraucht werden. Sie soll im Rahmen der Ökobilanz einen Vergleichsmaßstab bieten, mit dem verdeutlicht wird, welche ökologischen Folgen die Bereitstellung bestimmter Güter verursacht. Das Modell geht zurück auf Friedrich Schmidt-Bleek, der es 1994 im Rahmen der Überlegungen zum Material-Input pro Serviceeinheit (MIPS) erstmals veröffentlichte.
Ökosteuer
Durch das "Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform" wurde zum April 1999 eine Besteuerung des Energieverbrauchs in mehreren Schritten beschlossen. Dadurch sollten CO2-Emissionen reduziert und zugleich der Faktor Arbeit von Steuern bzw. Sozialversicherungsbeiträgen entlastet werden. Das Aufkommen der Ökosteuer fließt zu gut 90 Prozent in die Rentenkassen.
OPEC
Erdölexportierende Staaten
Ozonbildung
Ozon bildet sich in der Atmosphäre vor allem auf drei Arten: 1. Energiereiche Sonnenstrahlung spaltet Sauerstoff-Moleküle in der Stratosphäre in zwei einzelne Atome, die sich jeweils mit einem weiteren Sauerstoff-Molekül zu Ozon vereinigen. 2. In Erdnähe bildet sich Ozon aus einer Reaktion zwischen Stickstoffdioxid NO2 und Sauerstoff O2 unter dem Einfluss von UV-Strahlung. 3. Durch ein Gewitter: Durch den elektrischen Stromfluss zwischen Wolke und Erdboden bei der Blitzentladung entsteht Ozon (aber auch Salpetersäure und andere Stoffe). Paläoklimatologie
Teilgebiet der Klimatologie, das sich mit der Klimageschichte beschäftigt, um daraus Rückschlüsse für die Zukunft zu ziehen.
Parallel tracks
Multilaterale Vereinbarungen: Initiativen außerhalb des Klimaregimes.
Pedosphäre
Die Pedosphäre umfasst den obersten Bereich der festen Erde (Erdkruste) und den obersten Erdmantel (Boden).
Photochemische Reaktion
Reaktion von Teilchen miteinander unter Einwirkung von Sonnenstrahlen.
Photosynthese
Photosynthese bezeichnet die Umwandlung von Kohlendioxid und Wasser in Kohlenhydrate bei Ausnutzung der Lichtenergie der Sonne durch die Pflanzen und photo(auto)trophen Bakterien. Die Photosynthese ist die Grundlage des Lebens auf der Erde. Alle grünen Pflanzenteile sind in der Lage Photosynthese zu betreiben. Die Photosynthese läuft dabei in den Chloroplasten, das Organ in der Pflanzenzelle welches das Blattgrün, das sogenannte Chlorophyll enthält, ab. Dabei wird aus Kohlendioxid (CO2) und Wasser (H2O) unter der Einwirkung von Licht, Traubenzucker (C6H12O6) und Sauerstoff (O2) gebildet. Die Photosynthesegleichung lautet: 6CO2 + 12H2O x Licht = C6H12O6 + 6H2O + 6O2.
Post-2012
Mit dem Externer Link: Kyoto-Protokoll haben sich die Industriestaaten erstmals verbindlich zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen verpflichtet. Diese erste Verpflichtungsperiode geht bis 2012. Der Zeitraum der nach dieser ersten Verpflichtungsperiode folgt wird "Post-2012" genannt. Für die weiteren internationalen Verhandlungen ist es wichtig, weitere Klimaschutzziele festzulegen und auch über das Jahr 2012 hinaus (post-2012) die internationale Klimaschutzpolitik voranzutreiben.
Post-SRES-Szenarien
In so genannten Post-SRES-Szenarien geht es darum, die Auswirkungen alternativer Klimapolitiken darzustellen. Hier interessiert, wie sich ein Szenario verändern könnte, wenn zum Beispiel die CO2-Emissionen auf einem bestimmten Niveau stabilisiert würden. Diese Post-SRES-Szenarien nennt man deshalb auch Stabilisierungsszenarien.
Primärenergieverbrauch
Der Primärenergiebedarf gibt an, welcher Gegenwert an Energieträgern (Braunkohle, Steinkohle, Erdgas, Erdöl, Uran) insgesamt gefördert werden muss, um zum Beispiel die notwendige Energie für Raumwärme und Warmwasserbereitung bereitzustellen. Enthalten sind alle Aufwendungen von der Förderung¸ über den Transport bis zur Umwandlung sowie Leitungsverluste und der Eigenverbrauch. Primärenergieverbrauch ist der Verbrauch von Primärenergie den ein Vorgang erfordert. Der Primärenergieverbrauch ergibt sich aus dem Endenergieverbrauch und den Verlusten die bei der Erzeugung der Externer Link: Endenergie aus der Primärenergie auftreten. Der Begriff Energieverbrauch ist im physikalischen Sinne falsch (Energieerhaltungssatz). Aber der Begriff Primärenergieverbrauch wird verständlich, wenn man betrachtet, dass größtenteils Kohle, Erdgas, Erdöl, Uran als Träger der Primärenergien eingesetzt werden, und diese Stoffe bei der Energieumwandlung verbraucht werden.
Public Value
Orientierung am Wohl der Bürger und der örtlichen Gemeinschaft
Radiokohlenstoffdatierung
Methode zur radiometrischen Datierung von kohlenstoffhaltigen, vor allem organischen Materialien bis zu einem Alter von etwa 50.000 Jahren.
Ressourceneffizienz
Ressourceneffizienz gibt das Verhältnis zwischen Externer Link: Wertschöpfung (z.B. einem Produkt oder dem Bruttoinlandsprodukt) und dem zur Erzeugung notwendigen Ressourceneinsatz (z.B. Energieverbrauch) an.
Salzkaverne
Hohlräume, die durch den Abbau von Salz entstanden sind.
Satellitenstadt
Wohnsiedlung in der Nähe einer Großstadt mit starker Abhängigkeit von dieser.
Schwellenländer
Schwellenländer sind Staaten wie China, Indien oder Brasilien, die durch einen langjährigen wirtschaftlichen Aufschwung und damit verbundene hohe wirtschaftliche Wachstumsraten geprägt sind.
Senken
Systeme, die Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernen. Eine CO2-Senke stellt z.B. ein Wald dar, da Bäume atmosphärisches CO2 binden. Artikel 3 des Externer Link: Kyoto-Protokolls erklärt die Möglichkeit, die Schaffung von zusätzlichen Senken auf die Emissionsreduktionsverpflichtungen anrechnen zu lassen.
Sensibilität
Die Sensibilität eines Systems zeigt an, wie stark es auf klimatische Veränderungen reagiert. Beispielsweise könnten sich die Struktur einer Volkswirtschaft oder eines Ökosystems verändern oder deren Funktionsweise beeinträchtigt oder gar zerstört werden.
Shareholder Value
Managementprinzip, das den Nutzen für die Aktionäre an die erste Stelle setzt. Der Anteilseigner profitiert im Idealfall von einer hohen Dividende und steigenden Kursen.
Side Event
Nebenveranstaltungen bei den jährlich stattfindenden Klimaverhandlungen. Mit diesen Side Events wird durch die Bereitstellung von Informationen und fachlicher Beratung aktive Lobbyarbeit geleistet, und es besteht die Möglichkeit so direkt mit Delegationsvertretern ins Gespräch zu kommen.
Silage
Als Silage bezeichnet man Pflanzenmaterial, das durch Milchsäuregärung haltbar gemacht wurde. Dadurch lässt sich Silage gut im Silo lagern und dient als Futter für wiederkäuende Tiere (Kühe und Schalenwild) und als Grundstoff zur Erzeugung von Biogas.
Silikatverwitterung
Silikate machen rund 60 Prozent aller Minerale der Erdkruste aus. S. auch Externer Link: Gesteinsverwitterung.
SRES-Szenarien (Special Report on Emission Scenarios)
"Passive Referenzszenarien". Die Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um den weiteren Verlauf des Klimawandels bilden die so genannten SRES-Szenarien (Special Report on Emission Scenarios), die sich auf zukünftige Emissionen der Treibhausgase beziehen. Sie wurden in dem dritten Wissensstandsbericht des Weltklimarates von 2001 vorgestellt. Insgesamt wurden 40 so genannte SRES-Szenarien entwickelt, die in vier Szenarienfamilien gruppiert wurden: A1 – A2 – B1 – B2. Den Szenarienfamilien liegt eine Koppelung unterschiedlicher sozioökonomischer Ausgangsannahmen zugrunde. Wichtige Einflüsse auf die sozioökonomischen Infrastrukturen haben etwa die Anzahl der auf dem Planeten lebenden Menschen, der Umgang mit Energie und Ressourcen und die technologische Entwicklung. Bei den Szenarienfamilien werden diese Einflussgrößen miteinander kombiniert, weil man davon ausgeht, dass sie wahrscheinlich für die zukünftige Emissionsentwicklung verantwortlich sind.
Städtebaulicher Vertrag
Der städtebauliche Vertrag regelt die Zusammenarbeit der öffentlichen Hand mit privaten Investoren. Gemäß deutschem BauGB ist dieser Vertrag als vereinfachtes Verfahren (ohne Bebauungsplanverfahren o.ä.) der Bauleitplanung möglich. Städtebauliche Verträge sind im Baugesetzbuch (§ 11) geregelt und stellen eine Sonderform der öffentlich-rechtlichen Verträge dar. Sie dienen der Erfüllung städtebaulicher Aufgaben; sie ergänzen somit das hoheitliche Instrumentarium des Städtebaurechts.
Stern Review
Der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Sir Nicholas Stern, hat im Auftrag der britischen Regierung in einem rund 650 Seiten umfassenden Bericht den derzeitigen Wissensstand über die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung untersucht. Eine der Hauptaussage des Reports besteht darin, dass der Nutzen frühzeitigen Handels zur Bekämpfung des Klimawandels die entstehenden Kosten überwiegen wird. Erschienen ist der Bericht Ende 2006.
Stoffkreislauf
Kreislauf von Elementen oder Verbindungen in Organismen, Ökosystemen oder in der Externer Link: Biosphäre. In den meisten Ökosystemen sind die Stoffkreisläufe jedoch nicht geschlossen.
Strahlungsantriebe
Maßstab für den Einfluss, den ein einzelner Faktor auf die Veränderung des Externer Link: Strahlungshaushalts der Atmosphäre und damit auf den Klimawandel hat. Er wird in Watt pro Quadratmeter gemessen. Ein positiver Strahlungsantrieb, z.B. durch die zunehmende Konzentration langlebiger Treibhausgase, führt zu einer Erwärmung der bodennahen Luftschicht. Ein negativer, z.B. durch die Zunahme von Externer Link: Aerosolen, hingegen bewirkt eine Abkühlung.
Strahlungshaushalt
Teil der Energiebilanz der Erde. Der einfallenden (Sonnen-) Strahlung wird die von der Erde reflektierte Strahlung gegenübergestellt (auch Strahlungsbilanz). Die Differenz aus Strahlungsaufnahme und Strahlungsabgabe wird als Nettostrahlung bezeichnet. Treibhausgase führen zu einer Veränderung des Strahlungshaushaltes und damit zum Externer Link: Strahlungsantrieb.
Suburbanisierung
Suburbanisierung beschreibt den Prozess der Dekonzentration von Agglomerationsräumen bzw. Stadtregionen. Verursacht durch den Prozess der Stadt-Rand-Wanderung von Bevölkerung und Wirtschaftsbetrieben, führt die Suburbanisierung zu einem flächenhaften Wachstum größerer Städte und Agglomerationsräume über die Stadtgrenzen hinaus in den suburbanen Raum, wobei aufgrund gleichzeitiger Entleerungstendenzen der innerstädtischen Betriebe die Gesamtzahl der Einwohner und Arbeitstätten häufig gar nicht oder nur gering anwächst. Der Prozess der Suburbanisierung wurde zuerst in den USA beobachtet und zeigt sich heute mehr oder weniger stark in allen westlichen Industrieländern.
Supplementaritätsprinzip
Das Supplementaritätsprinzip schreibt vor, dass Externer Link: CDM und Externer Link: JI nur ergänzend zu Emissionsminderungen im Inland angewendet werden sollen. Eine genaue Festlegung bzw. Quantifizierung, welcher Anteil der Minderungsverpflichtungen im Ausland erfüllt werden darf, wurde jedoch nicht vorgenommen. Bei der Externer Link: COP 6 in Bonn einigte man sich darauf, die Anrechenbarkeit der flexiblen Mechanismen nicht zu begrenzen. (Ein Zugeständnis an die "Bremser")
Taifun
Bezeichnung für die tropischen Wirbelstürme im westlichen Pazifik.
Tektonik
Aufbau und Verschiebung der Erdkruste.
Treibhausgaspotenzial
s. auch Externer Link: CO2-Äquivalent, Lachgas beispielsweise hat ein sehr hohes Treibhausgaspotenzial von 310. Das bedeutet, eine Tonne Lachgas ist so klimaschädlich wie 310 Tonnen Kohlendioxid.
Tropensturm
Tropische Wirbelstürme rotieren zyklonal, auf der Nordhalbkugel entgegen dem Uhrzeigersinn. Diese Rotation verleiht dem Wirbelsturm seine typischen, spiralförmig angeordneten Wolkenbänder. Tropische Wirbelstürme können gewöhnlich nur in den Tropen oder Subtropen entstehen. Im Spätsommer verdunsten große Mengen Wasserdampf, die mit der warmen Luft aufsteigen, diese beginnen wegen der Corioliskraft zu drehen: Ein riesiger Wirbel entsteht. In dessen Mitte befindet sich das "Auge", dort ist es völlig ruhig. Auf dem Festland wird der Wirbel schwächer, weil der Nachschub an feuchtwarmer Luft fehlt. Im Inneren des Wirbelsturms herrscht dabei ein Tiefdruckgebiet und völlige Windstille, während in den äußeren Teilen sehr hohe Windgeschwindigkeiten erreicht werden können und Hochdruck herrscht. Umbrella Group
Erweiterung der Externer Link: JUSSCANNZ-Gruppe um Russland und die Ukraine kurz nach der Externer Link: COP 3 in Kyoto.
United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC)
Internationales Umweltabkommen zur Bündelung der weltweiten Anstrengungen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung. Die Konvention legt die Kernziele und Prinzipien der internationalen Klimapolitik fest und bildet die Grundlage für weiter gehende Abkommen wie das Externer Link: Kyoto-Protokoll. Sie wurde 1992 verabschiedet und trat 1994 in Kraft.
Verwundbarkeit (Vulnerability)
Verwundbarkeit ist das Ausmaß der Gefährdung, den negativen Folgen des Klimawandels ausgesetzt zu sein, bzw. der Unfähigkeit, sich dem Charakter und der Intensität des Wandels anzupassen.
Wertschöpfung
Wertschöpfung ist – in einer Geldwirtschaft – das Ziel produktiver Tätigkeit. Diese transformiert vorhandene Güter in Güter mit höherem Geldwert. Der zusätzlich geschaffene Wert kann als Einkommen verteilt werden. Wertschöpfung als Kennzahl misst den Ertrag wirtschaftlicher Tätigkeit als Differenz zwischen der Leistung einer Wirtschaftseinheit und der zur Leistungserstellung verbrauchten Vorleistung.
Wetter
kurzfristige Geschehnisse in der Atmosphäre an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit.
Wetterextreme
Mit Wetterextremen kann ein Einzelereignis gemeint sein, das im Verhältnis selten auftritt, jedoch einen großen Schaden verursacht, wie beispielsweise ein Orkan oder auch jahreszeitliche Ausprägungen, wie ein besonders heißer Sommer. Extrem bedeutet dabei, dass die aufgetreten Werte von dem geläufigen Mittelwert relativ weit abweichen und nicht mehr der Norm entsprechen.
Wirkungsgrad
Der Wirkungsgrad ist das Verhältnis von abgegebener und aufgenommener Leistung bei der Energieumwandlung. Er ist ein Maß für die Externer Link: Energieeffizienz und für den notwendigen Ressourceneinsatz. Dabei muss unterschieden werden zwischen dem elektrischen Wirkungsgrad, der nur die Stromerzeugung berücksichtigt, dem thermischen Wirkungsgrad bei der Wärmeumwandlung und dem Gesamt-Wirkungsgrad. Typische heute technisch erreichte Wirkungsgrade sind: Photovoltaik 10 Prozent, Kohlekraftwerke 45 Prozent, Brennstoffzelle 30 - 55 Prozent, Gaskraftwerke 60 Prozent, Blockheizkraftwerke 70 – 85 Prozent, Dieselmotor 30 Prozent, Benzinmotor 25 Prozent. Die Erhöhung der Wirkungsgrade ist ein wesentliches Ziel der Energieforschung.
Zwischenstaatliche Organisationen
Eine zwischenstaatliche Organisation bezeichnet eine staatliche internationale Organisation. Der Begriff wird nur in Abgrenzung zu den nichtstaatlichen internationalen Organisationen verwendet, die in den Sozialwissenschaften ebenfalls als internationale Organisationen bezeichnet werden. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-03-23T00:00:00 | 2011-11-03T00:00:00 | 2023-03-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/klimawandel/dossier-klimawandel/38618/glossar/ | Hier finden Sie Fachbegriffe zum Thema Klimawandel erklärt. | [
"Klimawandel"
] | 850 |
Ministerpräsidenten für NPD-Verbot | Hintergrund aktuell | bpb.de | Grundlage des geplanten NPD-Verbotsverfahrens ist ein Gutachten, das der Vizepräsident des Sozialgerichts Karlsruhe, Franz Wilhelm Dollinger, zusammen mit Hans-Joachim Jentsch, einem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht erstellt hat. Über 2.600 Belege sollen die Verfassungswidrigkeit der NPD beweisen: Für Dollinger eine "hinreichende Wahrscheinlichkeit", dass Karlsruhe die NPD verbieten wird. Auf dieser Grundlage wollen die Länder erneut für ein NPD-Verbot vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Bereits am Mittwoch (5. Dezember) sprachen sich die Innenminister der Länder für ein Verfahren aus. Die Ministerpräsidentenkonferenz ist diesem Votum auf ihrer heutigen Sitzung (6. Dezember) gefolgt und wird dem Bundesrat einen Verbotsantrag gegen die NPD empfehlen. Ein Beschluss der Länderkammer könnte bereits auf der nächsten Sitzung am 14. Dezember folgen. Das Votum der Ministerpräsidenten fiel einstimmig aus. Hessen und das Saarland äußerten jedoch wiederholt Bedenken gegenüber einem Verfahren in Karlsruhe.
2003 scheitert NPD-Verbot an V-Leuten
Bereits 2001 hatten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat ein Verbotsverfahren eingeleitet. Zwei Jahre später wurde der Prozess jedoch eingestellt. Die Karlsruher Richter begründeten ihre Entscheidung damit, dass sich das Beweismaterial für die Verfassungsfeindlichkeit der Partei weitgehend auf Aussagen sogenannter V-Leute des Verfassungsschutzes beziehe und deshalb vor Gericht nicht verwendbar sei. Im Klartext: Die Gefahr, der Staat schaffe sich seine Beweise selber, sei zu groß. Das soll bei einem neuen Verfahren umgangen werden: Bis April 2012 wurden daher die V-Leute aus den Vorständen der NPD zurückgezogen. Der aktuelle Bericht soll die Auflagen der Karlsruher Richter erfüllen und keine Aussagen von Informanten enthalten. Laut Winfried Hassemer, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, stehen die Chancen dieses Mal gut, dass das Gericht "auch zum materiellen Problem" vordringt. Hassemer gehörte 2003 zu den Verfassungsrichtern, die sich wegen des V-Mann-Skandals für eine Einstellung des Verfahrens ausgesprochen hatten.
Hintergrund der erneuten Verbotsdebatte
Die Forderungen nach einem Verbot der NPD wurden Ende vergangenen Jahres wieder lauter: Hintergrund waren die Ermittlungen gegen Ralf Wohlleben, den ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Thüringer NPD. Wohlleben soll Verbindungen zu der terroristischen Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" gehabt haben. Die rechtsextreme NSU steht im Verdacht, zwischen 2000 und 2007 neben Banküberfällen und Sprengstoffanschlägen mindestens zehn rassistisch motivierte Morde begangen zu haben.
Bereits auf der Innenministerkonferenz im März 2012 wurde ein neuerliches NPD-Verbotsverfahren diskutiert. Damals setzten sich die Gegner durch. Auch in der aktuellen Debatte werden die Chancen und vor allem Konsequenzen eines Prozesses unterschiedlich bewertet.
InfoboxWann kann eine Partei verboten werden?
Nach Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes können Parteien verboten werden, die verfassungswidrig sind. Dies ist der Fall, wenn eine Partei nicht nur eine verfassungsfeindliche Haltung vertritt, sondern in aktiv-kämpferischer, aggressiver Weise die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen will. Eine Partei kann nicht einfach per Gesetz oder Verordnung verboten werden, sondern nur durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung wiederum sind als einzige berechtigt, einen entsprechenden Antrag auf den Ausspruch eines Parteiverbots zu stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat seit seinem Bestehen in nur zwei Fällen ein Parteiverbot ausgesprochen: gegenüber der nationalsozialistisch orientierten Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahr 1952 und 1956 gegenüber der stalinistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).
Pro und Contra
Das Parteiengesetz sieht vor, dass Parteien in Deutschland u.a. durch Steuermittel finanziert werden. Abhängig von den Wahlerfolgen einer Partei steht ihr also Geld zu, das sie in ihrer politischen Arbeit unterstützen soll. Mit dem NPD-Verbot soll verhindert werden, dass die Partei ihre rechtsextreme Politik weiterhin mit öffentlichen Mitteln finanzieren kann, sich regional etabliert und damit auch die Szene unterstützt. Beobachter haben keinen Zweifel an der verfassungsfeindlichen Gesinnung der NPD. Daher argumentieren Befürworter eines Verfahrens auch damit, die Demokratie sollte ihre eigenen rechtsstaatlichen Mittel nutzen um sich zur Wehr zu setzen.
Diesbezüglich haben die Gegner eines erneuten Prozesses jedoch Zweifel. Sie verweisen auf die juristischen Risiken und die negative Signalwirkung, sollte das Verfahren nicht zu einem Verbot führen: "Ein erneutes Scheitern wäre ein Propagandaerfolg der NPD und eine riesige Blamage für den Staat", sagte Wolfgang Bosbach, der Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen Bundestags. Die NPD könnte dann "auf ihre Plakate und auf ihre Wahlprogramme den Stempel setzen: vom Bundesverfassungsgericht geprüft".
Ein weiteres Argument der Verbotsgegner: Man könne zwar die Partei verbieten, nicht aber die Gesinnung: Mit dem Verbot würden schließlich weder die Probleme noch das Anhängerpotenzial beseitigt. Kritiker eines Verfahrens verweisen daher auf die Erfahrungen mit den Verboten anderer rechtsextremer Gruppen, welche die organisatorische Flexibilität der Szene bewiesen haben: Nachdem Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger drei Neonazi-Vereine mit Verweis auf deren Gewaltbereitschaft verboten hatte, fanden sich die Führungsfiguren bereits nach kurzer Zeit in der neu gegründeten rechtsextremen Splitterpartei "Die Rechte" wieder zusammen. Beobachter befürchten, dass im Falle eines NPD-Verbots, Gruppierungen wie "Die Rechte" zum Auffangbecken für NPD-Mitglieder werden könnten.
NPD befürwortet Verbotsverfahren und droht mit Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Die NPD selbst versucht derweil Vorteile aus der aktuellen Debatte zu ziehen. Ihr Bundesvorsitzender Holger Apfel sprach sich persönlich für ein Verbotsverfahren aus: "Ein besseres Wahlgeschenk kann uns Berlin gar nicht machen". Apfel hofft auf eine Solidarisierungswelle im rechtsextremen Lager. Zusätzlich geht die NPD in die Offensive und zog im November selbst vor das Karlsruher Gericht um ihre Verfassungstreue gerichtlich prüfen zu lassen. Experten werten dies als strategisches Vorgehen: "alles Show", bewertet der Politikwissenschaftler Hajo Funke den Schritt. Bei einem Verbot will die NPD vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen mit Aussicht auf Erfolg: Das Gericht in Straßburg könnte ein Verbot der NPD mit der Begründung aufheben, dass die Partei nicht relevant und gefährlich genug sei.
InfoboxNationaldemokratische Partei Deutschlands
Gründung: 28. November 1964Parteivorsitzender: Holger ApfelMitglieder: 6.000Die NPD ist derzeit in zwei Landesparlamenten vertreten. Im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern gehören fünf Abgeordnete der NPD an, im Landtag von Sachsen besteht die Fraktion der Partei aus acht Parlamentariern.
Mehr zum Thema
Interner Link: Schwerpunkt: Debatte um NPD-Verbot Interner Link: Uwe Backes: NPD-Verbot: Pro und Contra
Nach Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes können Parteien verboten werden, die verfassungswidrig sind. Dies ist der Fall, wenn eine Partei nicht nur eine verfassungsfeindliche Haltung vertritt, sondern in aktiv-kämpferischer, aggressiver Weise die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen will. Eine Partei kann nicht einfach per Gesetz oder Verordnung verboten werden, sondern nur durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung wiederum sind als einzige berechtigt, einen entsprechenden Antrag auf den Ausspruch eines Parteiverbots zu stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat seit seinem Bestehen in nur zwei Fällen ein Parteiverbot ausgesprochen: gegenüber der nationalsozialistisch orientierten Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahr 1952 und 1956 gegenüber der stalinistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).
Gründung: 28. November 1964Parteivorsitzender: Holger ApfelMitglieder: 6.000Die NPD ist derzeit in zwei Landesparlamenten vertreten. Im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern gehören fünf Abgeordnete der NPD an, im Landtag von Sachsen besteht die Fraktion der Partei aus acht Parlamentariern.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-09-24T00:00:00 | 2012-12-05T00:00:00 | 2021-09-24T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/150988/ministerpraesidenten-fuer-npd-verbot/ | Die Ministerpräsidenten der Länder haben sich für ein erneutes NPD-Verbotsverfahren ausgesprochen. Die Chancen auf Erfolg seien größer denn je, argumentieren Befürworter. Ein erneuter Fehlschlag hätte fatale Konsequenzen, warnen die Gegner. 2003 war | [
"NPD-Verbotsverfahren",
"NPD",
"Parteienverbot",
"Rechtsextremismus",
"rechtsextremistische Partei"
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Die wirtschaftlichen Folgen des internationalen Terrorismus | Globaler Terrorismus und seine Folgen für Politik und Wirtschaft | bpb.de | Einleitung
Die Globalisierung ermöglicht enorme ökonomische Wohlfahrtsgewinne, birgt aber auch dramatische Risiken in sich. Die Terroranschläge des 11. September 2001 sind ein Beispiel, wie extreme Globalisierungskritiker mit Gewalt gegen die ökonomischen Vorteile der Globalisierung kämpfen. Das wirft folgende Fragen auf: Welche Eigenschaften hat der neue globale Terrorismus aus ökonomischer Sicht, und welche ökonomischen Auswirkungen haben der Terror sowie der Kampf gegen den Terror induziert?
Dabei wird deutlich, dass die indirekten Schäden der Anschläge unerwartet groß ausgefallen sind. Sie verteilen sich auf alle Regionen der Welt und viele Sektoren und haben eine langfristige Auswirkung auf die Weltwirtschaft. Der Charakter der Anschläge hat die Menschen erschüttert und so das ohnehin fragile Verbrauchervertrauen in den USA und in Europa nachhaltig geschwächt. Die Kombination aus dem resultierenden Nachfrageschock und den erhöhten Transaktionskosten, die auch im Zuge der nachfolgenden Sicherheitspolitik deutlich gestiegen sind, haben der Weltwirtschaft weiteren Schaden zugefügt.
Die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik der USA und der EU sollten die indirekten Schäden des Terrors, der Terrorbekämpfung und möglicher Folgekriege bedenken. Weitere ökonomische Schäden der Terrorverfolgung im Rahmen des Irakkrieges sind denkbar und könnten ein dramatisches Ausmaß annehmen. Insbesondere erneute Preisschocks sowie ein Absturz des Verbrauchervertrauens würden der schwachen Weltkonjunktur großen Schaden zufügen. Deshalb gilt es, ausgleichende positive Wachstumsimpulse zu schaffen. Als Kompensation der erhöhten Transaktionskosten und der hohen Wohlfahrtsverluste gerade auch in Entwicklungsländern wäre ein beschleunigter Abbau von Handelsbarrieren im Rahmen der WTO-Verhandlungen hilfreich. Außerdem muss der Preis der militärischen Eskalation mit dem zu erwartenden Nutzen verglichen werden. Die Bedeutung dieser Entscheidung zeigt, dass selbst die Globalisierung das Primat der Politik nicht in Frage stellt.
Dieser Beitrag ist im Zusammenhang mit der internationalen Konferenz "Die wirtschaftlichen Folgen des neuen globalenTerrorismus", die im Juni 2002 am DIW Berlin stattfand, entstanden. Die Konferenz wurde durch die großzügige Unterstützung des Externer Link: Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) ermöglicht. Die Konferenzbeiträge sind auf der Externer Link: Webseite des DIW Berlin dokumentiert. Wir möchten uns bei Barbara Bils, Janina Richter und Stefanie Erdrich für exzellente Forschungsassistenz bedanken. Die Bedeutung der direkten Schäden
Die ökonomischen Konsequenzen des neuen globalen Terrors sind zwei Jahre nach den Anschlägen komplexer als zunächst vermutet. Die hohe Anzahl der Toten und die massive Kapitalvernichtung haben die Menschen erschüttert. Im Vergleich zu einem Erdbeben wie in Kobe 1995 oder dem Hurrican Andrew 1992 sind die Schäden am Kapitalbestand aber nicht ungewöhnlich hoch gewesen. Positiv wirkte sich in der unmittelbaren Zeit nach den Attacken der stabile Wechselkurs des Dollars, die konstanten internationalen Kapitalströme sowie die schnelle Überwindung des Erdölpreisanstiegs auf die Schadensbilanz aus. Die umsichtige Reaktion der amerikanischen Notenbank und die Sofortprogramme der westlichen Regierungen zur Schadenskompensation und zur Unterstützung der Fluggesellschaften halfen, das Ausmaß der Schäden zu minimieren. Insgesamt sind die Preisniveaus der führenden Währungen von dem Terror nicht beeinträchtigt worden.
Negativ ausgewirkt haben sich die erhöhten weltweiten Transaktionskosten, die vielfältigen Rückkoppelungseffekte über verschiedene Märkte und Länder, der negative Nachfrageschock, die Erhöhung der volkswirtschaftlichen Risiken und die Unsicherheit sowie die fiskalischen Belastungen durch die Anschläge. Die echten und vermeintlichen Anthrax-Attacken haben diese Effekte potenziert. Es sind also die indirekten Effekte des neuen globalen Terrors, welche die Weltwirtschaft seit dem 11. September weiterhin belasten. Die Rolle und Auswirkungen von Transaktionskosten
Firmen, Haushalte und Regierungen weltweit haben seit den Anschlägen ihre Sicherheitsmaßnahmen deutlich verstärkt. Zum Teil beruhen diese Maßnahmen auf neuen gesetzlichen Grundlagen wie zum Beispiel im Flugverkehr, zum Teil haben Firmen und Haushalte freiwillig ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Zusätzliche Sicherheit kann über die Anschaffung neuer Geräte, die Verarbeitung zusätzlicher Informationen, bessere Koordination und mehr Personal erfolgen. Insgesamt senken diese Maßnahmen die Produktivität von Firmen, da die so geschaffene Sicherheit kein privates, sondern ein öffentliches Gut darstellt. Die erhöhten Kosten verbessern nicht das Produktionsniveau, auch wenn einige Kosten an die Verbraucher weitergeleitet werden können, waswiederum deren Kaufkraft und Nachfrage senkt.
Diese Sicherheitsmaßnahmen sind daher nicht mit höheren Steuern zu vergleichen, sondern entsprechen eher zusätzlichen Kosten, wie sie durch einen verbesserten Umweltschutz entstehen. Insbesondere ergeben sich durch derartige Auflagen und Initiativen keine zusätzlichen Einnahmen für den Staat, welche die zusätzlichen Staatsausgaben gegenfinanzieren könnten. Umweltschutzinvestitionen können auch durch staatliche Vorschriften oder freiwillige Unternehmensentscheidungen initiiert werden und müssen auch keine unmittelbaren positiven Produktionseffekte haben. Sie optimieren aber die gesellschaftliche Wohlfahrt, wenn der Gesellschaft Umweltschutz (oder Sicherheit) wichtig ist.
Der Vergleich zeigt aber auch, dass Auflagen zum Wohle der Gesellschaft langfristig positive Rückkoppelungseffekte haben können. Strukturell werden sich Verschiebungen zu Gunsten sicherer Produkte und Dienstleistungen sowie sicherer Anbieter ergeben. Außerdem können neue Geschäftsfelder oder Firmen entstehen, die neue Bedürfnisse nach Sicherheit befriedigen oder anderen Firmen bei der Erfüllung von Sicherheitsauflagen zuarbeiten.
Berechnungen für die USA zeigen, dass der Anstieg der Staatsausgaben für zusätzliche Sicherheitsausgaben im Verhältnis zu den aktuellen Militärausgaben klein bleiben wird. Zwar haben sich die Ausgaben für homeland security in den USA seit September 2001 von 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 0,35 Prozent mehr als verdreifacht, die um inländische Sicherheitsmaßnahmen erweiterten Verteidigungsausgaben der USA sind aber niedriger als in jedem einzelnen Jahr imZeitraum von 1947 bis 1995. Die Friedensdividende der frühen neunziger Jahre bleibt den USA somit erhalten, auch wenn die niedrigsten Standards der Verteidigungsausgaben nach den Anschlägen und unter dem politischen Kurs von George W. Bush nicht gehalten werden können.
Die Transaktionskosten zum Beispiel im Verkehr, Tourismus und internationalen Handel sind unmittelbar nach den Anschlägen deutlich gestiegen. Schätzungen des Anstiegs der Transaktionskosten, zum Beispiel durch die OECD, reichen von ein bis drei Prozent des Werts der gehandelten Güter für den internationalen Warenverkehr. Hobijn berechnet für die USA, dass die erhöhten Sicherheitsausgaben der privaten amerikanischen Wirtschaft die Arbeitsproduktivität um 1,12 Prozent und die totale Faktorproduktivität um 0,63 Prozent senken werden. Diese Senkung der Arbeitsproduktivität in den USA um gut ein Prozent für ein Jahr entspräche einem Verlust am amerikanischen Bruttosozialprodukt von circa 70 Mrd. US-Dollar. In Anbetracht der zu erwartenden Rationalisierungen der Sicherheitsmaßnahmen und der oben prognostizierten strukturellen Verschiebungen handelt es sich bei den Schätzungen der Produktivitätsverluste aber um eine Obergrenze, von der man sich zwei Jahre nach den Anschlägen bereits deutlich entfernt haben dürfte. Die Stabilität der weltweiten Finanzmärkte
Eine Besonderheit der Anschläge des 11. September war die Tatsache, dass es einer der ersten großen politischen Schocks für die permanent aktiven Weltfinanzmärkte war. Andere politische Ereignisse wie die Kubakrise oder der Kuwaitkrieg haben ebenfalls für Verunsicherungen an den Börsen der betroffenen Regionen gesorgt. Aber am Anfang des neuen Jahrhunderts war nicht klar, ob die noch stärker vernetzten und globalisierten Märkte, die Regulierungsbehörden, Zentralbanken und Regierungen fähig sein würden, schnell und angemessen zu reagieren. Die Geschwindigkeit, mit der sich Nachrichten und Bilder heute verbreiten, die Tiefe der Integration der Finanzmärkte sowie die erhöhte Abhängigkeit anderer Märkte und Marktteilnehmer von den Finanzmärkten haben die Marktrelevanz politischer Ereignisse deutlich erhöht. Die Terroristen hatten mit ihren Aktionen deshalb größere Spillover-Effekte erzielt, als sie je zuvor erhoffen konnten.
Zusätzlich haben die Finanzmärkte eine besondere Rolle bei der Übertragung der indirekten Auswirkungen der Anschläge, da die einzelnen Terroreffekte stark miteinander korrelieren und so Akteure zu parallelen, einander verstärkenden Handlungen an den Finanzmärkten bringen. So haben Investoren ihre Portfolios den neuen Risikostrukturen anpassen müssen, gleichzeitig haben sich die Renditen bestimmter Aktien verändert, während Kapital aus den Aktienmärkten in sicherere Anlageformen floss.
Insgesamt haben sich die amerikanischen und die weltweiten Finanzmärkte in der Folge der Anschläge als sehr widerstandsfähig erwiesen. Im Vergleich zu vergangenen Schocks (wie den Börsencrashs 1929 oder 1987, der Ermordung J. F. Kennedys 1963 oder der Invasion Kuwaits 1990) hat der amerikanische Dow Jones Index die Katastrophe vom 11. September schnell überwunden. Selbst dem Herzinfarkt von US-Präsident Dwight D. Eisenhower im Jahr 1955 folgte eine längere Börsenflaute in den USA als dem Terrorangriff vom 11. September 2001.
Interessanterweise variierte die Widerstandskraft der Börsen nach dem 11. September international enorm. Dies ist einerseits ein Beleg dafür, dass Nachrichten sehr starke internationale Spillover-Effekte haben und die Auswirkungen der Attentate in manchen Ländern stärkere Spuren hinterlassen haben als in den USA. Andererseits zeigen die Daten auch, dass die Widerstandskraft der Börsen international immer noch stark variiert. Die Geld- und Fiskalpolitik sowie die Börsenaufsichten der Staaten haben einen großen Spielraum, mehr oder weniger erfolgreich auf einen solchen exogenen Schock zu reagieren. In den USA haben die Federal Reserve und die Bundesregierung in der unmittelbaren Krisenzeit richtig reagiert und durch ausreichende Liquidität die Marktstabilität gefördert und Panik verhindert. Die Anschläge als negativer Nachfrageschock
Ein wichtiger Übertragungsmechanismus der negativen Folgen des 11. September ist der resultierende Nachfrageschock gewesen, dessen Auswirkungen auch in Deutschland weiterhin zu spüren sind. Firmen, private Verbraucher, aber auch der Staat haben ihr Ausgabenverhalten geändert. Staatliche Ausgaben sind zwar in einigen Bereichen erhöht worden. Diese Ausgaben kompensieren aber den Nachfrageschock nur teilweise, da sie sehr langfristig angelegt sind und die Staatsquote erhöhen, ohne unbedingt in ökonomisch-produktiven Bereichen eingesetzt zu werden. Sie wirken nur in bestimmten Regionen und Sektoren und auf keinen Fall so global wie die indirekten Schäden.
Ein Beispiel für die Konsequenzen eines weltweiten Nachfrageschocks ist der Kursverfall fast aller Fluggesellschaften an amerikanischen und europäischen Börsen. Als Folge des Nachfragerückgangs und der veränderten Bedrohungslage im Flugverkehr haben sich das systematische sowie das individuelle Risiko der Aktienkurse der Fluggesellschaften signifikant erhöht. Vor dem 11. September waren Aktien von Fluggesellschaften eher defensiv, das heißt, als Teil eines Portfolios haben diese Aktien das Gesamtrisiko des Portfolios gesenkt. Seit dem 11. September sind Aktien von Fluggesellschaften auch außerhalb der USA nun aggressive Aktien, ihr systematisches Risiko hat sich mehr als verdoppelt.
Obwohl die internationale Luftfahrtbranche schon vor den Anschlägen mit massiven Problemen zu kämpfen hatte, zeigt diese statistische Analyse, dass der 11. September eine systematische und permanente Veränderung der Risikostruktur verursacht hat. Zum Teil erklärt der Anstieg dieser Risiken auch den Anstieg in den Schwankungen der Börsenkurse seit dem 11. September.
Diese Forschungsergebnisse haben wichtige Auswirkungen für die optimale Zusammensetzung von Portfolios. Defensive Fondsmanager mussten Luftfahrtaktien aus den Portfolios nehmen, was den Abwärtstrend dieses Sektors nochmals verstärkte. Außerdem müssen Firmen mit einem höheren Risiko entsprechend höhere Renditen erwirtschaften, um das zusätzliche Risiko der Aktien zu kompensieren. So wird der Strukturanpassungsprozess in der Luftfahrtbranche nochmals beschleunigt, was das Risiko von Insolvenzen wiederum erhöht. Das Ausmaß des Nachfrageschocks sowie der indirekten Folgen und der Reaktionen auf den Schock sind unmittelbar nach den Terrorattacken unterschätzt worden. Im Verhältnis zur tatsächlichen Kapitalvernichtung stellt das große Ausmaß der indirekten Konsequenzen ein Novum in der Wirtschaftsgeschichte dar. Risiko, Unsicherheit und Versicherungen
Die Versicherungswirtschaft war aus zwei Gründen nicht auf die Ereignisse des 11. September vorbereitet. Erstens hatte sie nicht erwartet, dass mehrere Terrorakte gleichzeitig auf ein einzelnes Objekt zielen würden und somit die Versicherungen voneinander abhängige Schadensfälle verzeichnen mussten. Zweitens hatte die Branche in ihren Berechnungen die Höhe der maximal möglichen Schadenssumme unterschätzt. Tatsächlich haben die Anschläge den größten einzelnen Schaden in der Versicherungsgeschichte herbeigeführt.
Seit dem 11. September 2001 haben Versicherungen deshalb verschiedene Anpassungen vorgenommen, um der neuen Bedrohungslage gerecht zu werden. Erstens mussten Versicherungen den ihren Berechnungen zu Grunde liegenden wahrscheinlichen Maximalschaden dramatisch erhöhen. Zweitens haben sie in vielen Verträgen die Kompensation der Schäden terroristischen Handelns eingeschränkt oder ausgeschlossen. Drittens wurden die Prämien für entsprechende Verträge revidiert. Eine Erhöhung der Unsicherheit für die Versicherungsnehmer ist dadurch unvermeidbar geworden. Diese Unsicherheit ist abhängig von dem Grad der Unversicherbarkeit von Terrorschäden. Gerade große Terrorschäden sind sicherlich seit dem 11. September nicht mehr als versicherbar zu bezeichnen.
Versicherungen hatten nach den Anschlägen eine besonders schwierige Rolle, da sie an vier Fronten gleichzeitig getroffen waren und handeln mussten: Versicherungsfirmen waren als Vertragspartner der Versicherten angehalten, die Schäden zu kompensieren. Sie mussten gleichzeitig mit den Rückversicherungsunternehmen verhandeln. Außerdem galt es, als Investoren in den Finanzmärkten die Rücklagen zu verwalten. Schließlich hatten die Versicherungen als Unternehmen, deren Aktien in den Finanzmärkten gehandelt wurden, auf die Erwirtschaftung einer angemessenen Dividende und guter Aktienkurse zu achten. Die Anschläge haben die Abhängigkeit der Versicherungswirtschaft, ähnlich derjenigen der Fluggesellschaften, von außergewöhnlichen Ereignissen verdeutlicht.
Das Ausmaß der Kapitalzuflüsse in den Sektor seit dem 11. September kann als Indiz für die unerwartet hohe Schadenssumme bzw. für die knappen Reserven der Versicherungen gewertet werden. Es ist wahrscheinlich, dass in Anbetracht des potenziell nichtversicherbaren Risikos großer Terroranschläge die Versicherungsbranche einer zweiten Terrorwelle ähnlichen Ausmaßes nicht hätte standhalten können. Insofern ist eine stärkere staatliche Rolle bei der Unterstützung der Versicherungen und Rückversicherungen, die bereit sind, Terrorrisiken abzusichern, unabdingbar. Anderenfalls droht die erhöhte Unsicherheit in der Wirtschaft, die durch die Anschläge begründet wurde, permanent fortzubestehen. Verbrauchervertrauen und Erwartungen
Anfang September 2001 zeichneten sich erste positive Entwicklungen im Verbraucherverhalten in den USA ab. Nach der Überwindung der Konjunkturflaute verbesserten sich die Aussichten für das vierte Quartal 2001. Die Terroranschläge haben die Psychologie der amerikanischen Verbraucher jedoch nachhaltig erschüttert. Besonders schwerwiegend für das Verbrauchervertrauen ist die Ungewissheit über die politischen und ökonomischen Folgen des Terrors und die Gegenreaktionen der Regierungen, der Taliban und des Al-Qaida-Netzwerks gewesen. Das heißt, Ziele, Mittel und Wirkungen der Terroristen waren nicht sofort deutlich und haben so die indirekten Wirkungen des Terrors über das mangelnde Verbrauchervertrauen verstärkt. Die noch vorhandenen Sorgen über die weltweite Konjunkturentwicklung Anfang September 2001 sind also durch die Anschläge in einer sich selbst verstärkenden Negativentwicklung potenziert worden.
Mittlerweile dürften die amerikanischen Bilanzierungsskandale bzw. der Irakkrieg die Folgen des 11. September als Wachstumsbremse in den USA überschattet haben. Der Terror hat aber zu einem entscheidenden Zeitpunkt die Konjunktur derartig geschwächt, dass die weitere wirtschaftliche Entwicklung negativer als erwartet verlief. Außerdem hat die bisherige Anti-Terror-Politik der amerikanischen Regierung deutlich gemacht, dass weitere Waffengänge nicht ausgeschlossen werden können. Auch wenn einige wirtschaftliche Folgen des 11. September zwei Jahre danach als überwunden angesehen werden können, stehen der Weltwirtschaft wahrscheinlich weitere indirekte Effekte der Anschläge bevor. Auswirkungen auf den internationalen Handel
Die Auswirkung von Terrorismus auf den internationalen Handel dürften je nach Zeit und Region unterschiedlich ausfallen. Man kann aber davon ausgehen, dass Terrorismus tendenziell einen negativen Effekt auf den Umfang des Außenhandels hat, weil er zusätzliche Transaktionskosten verursacht. Grundsätzlich können terroristische Anschläge auf zumindest dreierlei Weise den internationalen Handel behindern.
Erstens führt Terrorismus zu größerer Unsicherheit und erhöht so die Kosten im Geschäftsleben. Die Verunsicherung kann sogar zu veränderten Konsumgewohnheiten und Produktionsstrukturen führen (so bevorzugen z.B. Israelis jetzt geschlossene Einkaufszentren anstelle von offenen Märkten oder gehen zu Fuß, statt den Bus zu benutzen) und so auch die Außenhandelsstrukturen beeinflussen. Die von Terrorismus ausgehende Unsicherheit kann aber auch direkt einen negativen Einfluss auf den Außenhandel haben. Da terroristische Anschläge kaum vorhersehbar sind, können sich geschäftliche Vereinbarungen sehr schnell als obsolet erweisen, so dass die Unternehmen generell höheren Risiken ausgesetzt sind. Solche Unsicherheiten verringern die Attraktivität eines Landes für international agierende Produzenten.
Zweitens reagiert der Staat auf zunehmende terroristische Aktivitäten mit einer Verstärkung von Sicherheitsmaßnahmen. Strengere Sicherheitsvorkehrungen bedeuten höhere Kosten für den Handel, z.B. durch Verlängerung von Lieferzeiten. So wurden nach den Anschlägen vom 11. September die Grenzen der USA geschlossen. Transportfahrzeuge mussten daher an der Grenze zwischen denUSA und Kanada zwanzig Stunden warten, während sie sonst die Grenze in wenigen Minutenüberqueren. El Al, die israelische Fluggesellschaft, benötigt im Allgemeinen einen Tag für die Sicherheitsprüfungen der von ihr transportierten Waren.
Drittens besteht das Risiko einer unmittelbaren Zerstörung der gehandelten Güter. Terroristen nehmen Handelsströme vermehrt ins Visier, weil Länder wirtschaftlich besonders dadurch geschädigt werden können, dass für die Industrie wichtige Lieferbeziehungen unterbrochen oder bestimmte Transportwege zerstört werden. So gab es z.B. nicht weniger als 178 Bombenanschläge auf eine Ölpipeline in Kolumbien allein im Jahr 2001.
Um den Einfluss von Terrorismus auf den Außenhandel zu quantifizieren, haben wir auf das Gravitationsmodell des internationalen Handels zurückgegriffen, in dem der Umfang des bilateralen Handels in Abhängigkeit
- vom Sozialprodukt des Lieferlandes und des Bestimmungslandes als Indikator für die Angebots- und Nachfragestärke der Länder und
- von der Entfernung als Indikator für die Höhe der Transportkosten erklärt werden. Die Ergebnisse zeigen für die Standardvariablen das typische Bild. So steigt der Handelsumfang zwischen zwei Ländern mit der Höhe ihres Sozialprodukts, während er mit zunehmender Entfernung abnimmt.
Diesen Erklärungsansatz haben wir um verschiedene Maßzahlen für Terrorismus ergänzt. Zunächst verwenden wir Angaben über die Anzahl von terroristischen Anschlägen. Diese Daten können aus Mickolus zusammengestellt werden und beruhen auf einer ausführlichen Dokumentation von terroristischen Vorfällen, die weltweit zwischen 1968 und 1979 bekannt wurden. Der Autor definiert Terrorismus als "the use, or threat of use, of anxiety-inducing extranormal violence for political purposes (...) when such action is intended to influence the attitudes and behavior of a target group wider than the immediate victims and when (...) its ramifications transcend national boundaries". Die in dem Datensatz berücksichtigten politisch motivierten Anschläge umfassen Entführungen, Geiselnahmen, Besetzungen, Briefbomben, Brand und Explosionen mit Bomben, Anschläge mit Raketen und anderen Waffen, Flugzeugentführungen, Attentate, Sabotage, Drohungen mit radioaktivem Material oder Krankheitserregern, Verschwörungen, Konspiration, Schusswechsel mit der Polizei und Waffenschmuggel.
Eine zweite Gruppe von Variablen beruht auf allgemeineren Indikatoren für die interne Instabilität eines Landes. Diese Angaben beziehen sich auf die Jahre von 1960 bis 1993 und erfassen die Zahl politisch motivierter Morde oder Mordversuche, Guerillaaktivitäten, politische Säuberungen, Aufstände und Revolutionen.
In einem dritten Ansatz verwenden wir Angaben darüber, in welchem Maße die verschiedenen Länder Ressourcen für die Verminderung militärischer Konflikte einsetzen. Insbesondere stützen wir uns auf Daten des IMF über die Militärausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt und auf Angaben von Easterly and Sewadeh über den Anteil der Streitkräfte an der Bevölkerung. Dahinter steht die Überlegung, dass höhere Verteidigungsausgaben ein Indikator dafür sind, dass ein Land größeren internen oder externen Bedrohungen ausgesetzt ist.
Im Ergebnis der Berechnungen zeigt sich, dass Terrorismus tatsächlich einen negativen Effekt auf den internationalen Handel hat. Länder, die von Terrorismus betroffen sind, handeln signifikant weniger miteinander als andere Länder. Eine Verdoppelung von terroristischen Anschlägen verringert den bilateralen Handel um vier Prozent. Die Schätzungen anhand der Indikatoren für interne Instabilität bestätigen den negativen Effekt. Dies gilt für alle Indikatoren einzeln ebenso wie für alle zusammen. Auch die Größe der Streitkräfte hat eine negative Wirkung auf den Außenhandel. Dagegen ist der Einfluss der Verteidigungsausgaben positiv. Dies könnte darauf hindeuten, dass höhere Verteidigungsausgaben tatsächlich zu mehr Sicherheit führen.
Unsere empirischen Ergebnisse auf der Grundlage eines Datensatzes für mehr als 200 Länder bestätigen also die These, dass Terrorismus und Gewalt den Umfang des internationalen Handels verringern. Höhere Risiken, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen und unmittelbare Zerstörungen erhöhen die Transaktionskosten und machen so einen Teil des Handels unrentabel. Lektionen zur Reduzierung der ökonomischen Kosten
Der wichtigste Baustein zur Eindämmung der Schäden des 11. September sowie möglicher zukünftiger Anschläge extremer Terroristen ist die genaue Analyse der zu erwartenden Reaktionen der Märkte und Marktteilnehmer. Eine Wiederholung der Ereignisse des 11. September wäre zum Beispiel für Versicherungsunternehmen eine starke Belastung. Die psychologischen Reaktionen und die anfängliche Hilflosigkeit der Regierungen wären wahrscheinlich weniger ausgeprägt und könnten so zu einer schnelleren Stabilisierung der ökonomischen Konsequenzen beitragen.
Ungewiss ist jedoch, ob die ökonomischen Konsequenzen neuer Formen des globalen Terrors ähnlich gut verstanden werden. Eine Wiederholung der Anthrax-Anschläge oder anderer biologischer Angriffe, großflächige Computerviren-Attacken oder die Explosion nuklearer Kampfstoffe sind neuartige Bedrohungen, deren Konsequenzen erst allmählich deutlich würden. Deshalb ist es wichtig, derartige Bedrohungen zu analysieren und rechtzeitig Vorbeugungs- sowie Katastrophenschutzmaßnahmen zu entwickeln.
Im Falle neuartiger Angriffe sind dann die schnelle Verbreitung von Informationen unter den ökonomischen Akteuren wie Regulierungsbehörden und Zentralbanken entscheidende Faktoren zur Minimierung von negativen ökonomischen Konsequenzen. Außerdem sollte die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik insbesondere der USA und der EU die indirekten Schäden des globalen Terrors, der internationalen Terrorbekämpfung und möglicher Folgekriege bedenken. Insbesondere erneute Preisschocks und ein weiteres Einbrechen des Verbrauchervertrauens könnten der Weltkonjunktur großen Schaden zufügen. Deshalb gilt es, ausgleichende und weit verbreitete Wachstumsimpulse zu schaffen. Das bedeutende ökonomische Potenzial der Globalisierung sollte eine effektive, weltweite und nachhaltige Eindämmung des Terrors nicht nur im Rahmen der Sicherheitspolitik, sondern auch über ökonomische Anreize ermöglichen.
Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2001, Für Stetigkeit - Gegen Aktionismus. Jahresgutachten 2001/02, S. 19 - 21.
Vgl. Bart Hobijn, What Will Homeland Security Cost?, DIW Berlin, 14./15. Juni 2002.
Vgl. ebd.
Vgl. Thomas F. Siems, An Empirical Analysis of the Capital Markets' Response to Cataclysmic Events, DIW Berlin, 14./15. Juni 2002.
Vgl. Konstantinos Drakos, The Financial and Employment Impact of 9/11: The Case of the Aviation Industry, DIW Berlin, 14./15. Juni 2002.
Vgl. Michael Wolgast, Global Terrorism and the Insurance Industry: New Challenges and Policy Responses, DIW Berlin, 14./15. Juni 2002.
Vgl. dazu auch den Beitrag von Willi Leibfritz in dieser Ausgabe.
Vgl. Volker Nitsch/Dieter Schumacher, Terrorism and Trade, DIW Berlin, 14./15. Juni 2002.
Vgl. E. F. Mickolus, Transnational Terrorism., Westport, CT. 1980.
Ebd., S. xiii.
Vgl. W. Easterly/M. Sewadeh, Global Development Network Growth Database, World Bank, Washington, D. C. 2002.
| Article | Brück, Tilman / Schumacher, Dieter | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28562/die-wirtschaftlichen-folgen-des-internationalen-terrorismus/ | Der Terror selbst, wie auch der Kampf gegen den Terror haben ökonomische Auswirkungen. Dieser Beitrag untersucht die Folgen des Terrors auf die Wirtschaft. | [
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Deutschland für Anfänger – Ein Musée Sentimental | Presse | bpb.de | Das mit vielen privaten Erinnerungsstücken und interaktiven Elementen ausstaffierte Musée Sentimental entstand als Partnerprojekt des Goethe-Institut und der Bundeszentrale für politische Bildung und erklärt Deutschland auf unprätentiöse Weise. "Kennen Sie die Loreley? Welchen Stellenwert hat der Fußball?" Kommunikation ist das wichtigste Bindeglied in einer globalisierten Gesellschaft und so bilden Buchstaben, das kleinste Element von Sprache, die Grundstruktur der Ausstellungsdramaturgie: Wissenschaftlich fundiert, aber zugleich augenzwinkernd werden alphabetisch gegliedert "typisch deutsche" Themen von A bis Z über C wie Currywurst und U wie Umwelt aufgegriffen. Die Ausstellung ist mehrsprachig konzipiert und richtet sich bewusst nicht nur an Deutsche. Aus Hunderten einzelner Informationen kann sich der Besucher sein Deutschlandbild zusammensetzen. Kuratiert wurde das Projekt von Dr. Jürgen Reiche, Ausstellungsdirektor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Bonn).
Der Begriff "Musée Sentimental" geht auf das gleichnamige Ausstellungskonzept des Schweizer Künstlers Daniel Spoerri zurück: Alltagsgegenstände, die einen Bezug zum Thema haben, werden zum Kern der Erinnerungskultur erklärt. Geschichte wird erlebbar. Auch interaktive Angebote haben bei "Deutschland für Anfänger" ihren festen Platz: Auf einem Monitor kann unter der Rubrik F (wie Fußball) beispielsweise abgestimmt werden, ob die legendäre Entscheidung um das Wembley-Tor berechtigt war oder nicht.
Nach Ende der Ausstellungszeit im Auswärtigen Amt tourt "Deutschland für Anfänger" durch Goethe-Institute in aller Welt: ab September sind die Exponate in China zu sehen und 2010 wandert die Ausstellung nach Südasien und Vietnam.
Weitere Informationen unter: Externer Link: www.goethe.de/ oder Externer Link: www.bpb.de/veranstalltungen/ausstellungen Datum
1. Juli bis 24. Juli 2009 Ort
Lichthof des Auswärtigen Amtes Werderscher Markt Berlin Eintritt frei Die Ausstellung entstand als Gemeinschaftsprojekt des Goethe-Instituts und der Bundeszentrale für politische Bildung anlässlich des 60. Jubiläums des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik. Die Deutschlandpremiere wird unterstützt vom Auswärtigen Amt.
Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (74 KB) Kontakt
Auswärtiges Amt Amelie Utz Pressereferat Tel +49 (0)30 500 07-496 E-Mail Link: 013-6@auswaertiges-amt.de Goethe-Institut Dr. Christine Regus Pressesprecherin Goethe-Institut Hauptstadtbüro Tel +49 (0)30 259 06-471 E-Mail Link: regus@goethe.de Pressekontakt
Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50163/deutschland-fuer-anfaenger-ein-musee-sentimental/ | Am heutigen 1. Juli, 18:30 Uhr, eröffnet im Lichthof des Auswärtigen Amtes in Berlin die Ausstellung "Deutschland für Anfänger". Das mit vielen privaten Erinnerungsstücken und interaktiven Elementen ausstaffierte Musée Sentimental entstand als Partne | [
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Die Etablierung großer Wohnungskonzerne und deren Folgen für die Stadtentwicklung | Stadt und Gesellschaft | bpb.de | Die Struktur der Wohnungsanbieter hat sich seit dem Jahr 2000 deutlich verändert. Vor allem große Wohnungsunternehmen prägen mehr und mehr das Geschehen am Wohnungsmarkt. Der Beitrag beschreibt die Entwicklung der Verkäufe von Wohnimmobilien in größeren „Paketen“ und die damit verbundenen Konzentrations- und Konsolidierungsprozesse. Des Weiteren wird diskutiert, was diese Entwicklungen für die Stadtentwicklung bedeuten.
Angebotsstruktur am deutschen Wohnungsmarkt
Von den rund 41,3 Mio. Wohneinheiten (WE) in Deutschland befindet sich die eine Hälfte (20,8 Mio.) im Geschosswohnungsbau. Die andere Hälfte sind Ein- und Zweifamilienhäuser, die sich meist im Eigentum privater Kleinanbieter oder Selbstnutzer befinden. Da für die professionellen Wohnungsanbieter nur der Geschosswohnungsbestand von Relevanz ist, betrachten wir im Folgenden dessen Aufteilung.
Eigentümerstruktur im deutschen Geschosswohnungsbestand
Von den 20,8 Mio. Geschosswohnungen befinden sich derzeit rund 3 Mio. Einheiten (14,4%) im Eigentum von Selbstnutzern und 8,8 Mio. Einheiten (42,3%) im Eigentum von privaten Kleinanbietern. 8,9 Mio. Wohneinheiten (ebenfalls 42,3%) aller Geschosswohnungen befinden sich im Besitz von professionellen, gewerblichen Anbietern.
Wenn man also vom gewerblich-professionellen Wohnungsmarkt spricht, meint man diesen Teil des Marktes. Er macht mit knapp 9 Mio. Wohneinheiten einen Anteil von 21,5 Prozent und damit weniger als ein Viertel des gesamten deutschen Wohnungsbestandes (inklusive Ein- und Zweifamilienhäuser) aus. Dies bedeutet zum einen, dass es bei den professionellen Anbietern im Wesentlichen um die Gestaltung des Mietwohnungsmarktes geht und zum anderen, dass der deutsche Wohnungsmarkt sehr stark von kleineren Anbietern und Selbstnutzern geprägt ist – die Eigenheimquote liegt bei rund 45 Prozent –, die professionelle Wohnungswirtschaft dagegen in der Minderheit ist.
Auch die Gruppe der professionell-gewerblichen Anbieter lässt sich in verschiedene Untergruppen von Wohnungsunternehmen unterteilen. Im Wesentlichen sind das die Wohnungsgenossenschaften (ca. 2,1 Mio. Wohnungen), die kommunalen Wohnungsunternehmen (ca. 2,4 Mio. Wohnungen) und die privatwirtschaftlichen Wohnungsunternehmen (ca. 3,9 Mio. Wohnungen). Vernachlässigbar sind die Anteile der Kirchen und anderer öffentlicher Wohnungsunternehmen mit insgesamt 0,5 Mio. Wohnungen.
Veränderungen auf der Angebotsseite des Wohnungsmarktes seit 1999
Seit 1999 hat sich auf dem deutschen Wohnungsmarkt und insbesondere auf seiner Angebotsseite einiges getan. Nachdem der Bund im Jahr 2000 114.000 Eisenbahnerwohnungen verkaufte, sind immer mehr Kommunen und andere Anbieter diesem Beispiel gefolgt. Die Stadt Berlin verkaufte rund 100.000 Wohnungen an Cerberus und Oaktree, zwei Investmentgesellschaften aus den USA. Die Stadt Dresden veräußerte 2006 ihren gesamten Wohnungsbestand von 48.000 Wohnungen an den US-Finanzinvestor Fortress, der 2004 bereits die Berliner Gagfah gekauft hatten. In Lübeck sind 11.000 Wohnungen der Deutschen Grundvermögen AG (DGAG) an den italienischen Großinvestor Pirelli Real Estate verkauft worden und in Kiel wechselten 11.000 Wohnungen der WCM zum neuen Eigentümer Blackstone. Der letzte und zugleich größte Verkauf der öffentlichen Hand war 2008 derjenige der LEG NRW mit ca. 93.000 Wohnungen an Goldman Sachs.
Das Verkaufsgeschehen lässt sich in eine Phase vor und in eine nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise einteilen. Etwa seit Ende der 1990er Jahre entwickelten sich Wohnungen nach und nach zu einem Handelsgut. Das über Jahre hinweg niedrige Immobilienpreis- und Zinsniveau in Deutschland hat günstige Kauf- und Finanzierungsbedingungen geschaffen und auch die gut laufende Konjunktur hat die Zuversicht gestützt, dass eine Immobilieninvestition in diesem guten konjunkturellen Umfeld eine erfolgversprechende Entwicklung nehmen wird. Im europäischen Ausland und in den USA ließ sich in den 2000er Jahren beobachten, dass die Hauspreise in schwindelerregende Höhen geklettert (Immobilienblasen) und in der Finanz- und Wirtschaftskrise dann sehr stark eingebrochen sind, während die deutschen Haus- und Wohnungspreise seit Mitte der Neunziger Jahre stabil blieben. Der „sichere deutsche Hafen“ ist nach wie vor sehr attraktiv für viele Investoren, da die Kaufpreise von Wohnungen im internationalen Vergleich immer noch als günstig eingeschätzt werden und die Neubauaktivitäten – insbesondere in Wachstumsräumen – hinter dem benötigten Bedarf zurückbleiben.
Zudem gab es in den 2000er Jahren einige Kommunen, die ihre Haushaltsprobleme durch den Verkauf von Wohnungen oder ganzen Wohnungsunternehmen lindern oder lösen wollten. Zu diesem Zeitpunkt wurde in vielen Städten ein entspannter Wohnungsmarkt zum Anlass genommen, derartige Verkäufe auch aus wohnungswirtschaftlicher Sicht zu befürworten.
Am Ende der Finanzkrise verkauften dann auch Banken große Wohnungsbestände an Immobilienaktiengesellschaften (Immobilien AGs), um wieder finanzielle Spielräume zu gewinnen und sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren (Warburg Research 2016). Hierzu gehören der Verkauf der LBBW Immobilien und der GBW der BayernLB jeweils an ein Konsortium um Patrizia, der Kauf der DKB Immobilien durch die TAG und die Veräußerung der BauBeCon der Barclays Bank an die Deutsche Wohnen. Diese Verkäufe fanden alle mehrheitlich im Jahr 2012 statt.
Seit 2000 bis 2015 wechselten somit knapp 3,2 Mio. Wohnungen den Eigentümer (Transaktionen ab 800 verkauften Wohnungen im Paket), davon alleine rund 1,3 Mio. Wohnungen zwischen 2004 und 2007. Der Handel mit Mietwohnungen befindet sich jedoch inzwischen nach diesem „ersten dynamischen Abschnitt von 2004–2007 derzeit in einer zweiten Hochphase der Transaktionstätigkeit“ (BBSR 2015: 8). Insbesondere in den Jahren 2013–2015 wurden mit durchschnittlich ca. 320.000 Wohnungen pro Jahr genauso viele Wohnungen (in Paketen ab 800 Wohnungen) gehandelt wie im bisherigen Spitzenzeitraum von 2004–2007. Die Transaktionsaktivitäten haben sich jedoch im ersten Halbjahr 2016 wieder stark abgekühlt, insbesondere bei den großen Transaktionen mit mehr als 5.000 WE (BBSR 2016). Freilich sind es inzwischen häufig die gleichen Wohnungen oder Wohnungsunternehmen, die den Eigentümer wechseln. Seit dem Jahr 2010 liegt der Anteil der Wiederverkäufe an den Transaktionen bei über 70 Prozent (BBSR 2015). Immer mehr der Investoren „der ersten Stunde“ verkauften in den letzten Jahren an Wohnungsunternehmen und etablierte Player des Wohnungsmarktes. Dabei wurden die Portfolios in immer kleinere Pakete aufgeteilt und veräußert. Auch wenn inzwischen wieder das eine oder andere städtische Unternehmen als Erwerber auftritt, liegt der Anteil privatwirtschaftlicher Käufer in den Jahren 2012-2015 bei 96 bis 99 Prozent.
Aktuelle Konsolidierungs- und Konzentrationsprozesse
Diese nach wie vor hohen und dynamischen Kaufaktivitäten am deutschen Wohnungsmarkt zeigen, dass viele Akteure im Kauf von Wohnimmobilien eine gute Investitionsstrategie sehen. Waren zu Beginn des Kaufbooms noch viele Akteure am Markt, die zuvor gar nichts mit Wohnimmobilien zu tun hatten (z. B. reine Finanzinvestoren), sind es inzwischen immer mehr originäre Wohnungs- und Immobilienunternehmen, die sich vergrößern wollen und darin eine gute Strategie für die Zukunft sehen.
Der deutsche Wohnungsmarkt ist durch das Auftreten der ausländischen (Finanz-)Investoren und deren neue Handlungsnormen und -logiken Anfang der 2000er Jahre aufgeschreckt und beeinflusst worden. Die Investoren haben damals meist versucht, mit einem großen Anteil an günstig geliehenem Fremdkapital einen möglichst „großen“ Renditehebel auf ihr eigesetztes Eigenkapital zu realisieren (sogenannter Leverage-Effekt). Damit wurden Eigenkapitalrenditen von 25 Prozent und mehr angestrebt und realisiert. Auch war es oftmals ihr Ziel, die Wohnungen möglichst schnell wieder gewinnbringend zu veräußern. Bestehende Institutionen und Verhältnisse wurden dadurch unter Anpassungs- und Wettbewerbsdruck gesetzt.
Heute lässt sich feststellen, dass dieser Druck mit Blick auf die Produktstrategien der Immobilienunternehmen zu einer Kopplung von „scape and scope economies“ führt. Die Unternehmen streben also nach einer größeren Marktreichweite, kombiniert mit einer zunehmenden Spezialisierung auf einzelne Immobiliensegmente. Die Größenvorteile in der Bewirtschaftung und in der Produktion (Skaleneffekte bzw. Economies of Scale) sind eine alte und wichtige ökonomische Erkenntnis, die schon viele Autoren und Praktiker beschäftigt hat. Hierbei spielt auch die Idee der „optimalen“ Betriebs- und Unternehmensgröße eine Rolle.
Kern dieser Überlegungen ist es, dass es Unternehmen durch eine wachsende Unternehmensgröße gelingt, die ohnehin anfallenden Fixkosten ihrer Produktion auf eine größere Menge des produzierten Gutes umzulegen und damit die Kosten pro Stück (Stückkosten) zu senken. Es handelt sich also um Kostenvorteile einer größeren Produktion. Bei Wohnungsunternehmen fallen zum Beispiel entsprechende Fixkosten für die Verwaltung oder das Management der Wohnungen an. Dies ist ein komplexer Vorgang, bei dem es unter anderem um die permanente Gewährleistung der Nutzungsqualität der Wohnung, um Informations- und Kommunikationsqualität und um die Optimierung der Investitions- und Finanzierungsprozesse für die Wohnungen geht.
Mit der Größe und damit in der Regel auch mit der räumlichen Streuung der Bestände gehen aber auch weitere Kostenvorteile in Bezug auf die Risikoverteilung des Unternehmens einher. So ist ein Unternehmen, das in mehreren Städten Wohnraum hält und vermietet besser auf Änderungen der regionalen Nachfrage eingestellt als ein Unternehmen, das seine Wohnungen nur in einer Stadt oder in einem Quartier besitzt. Aber auch der „Einkauf“ von Inputs oder Verbrauchsgütern – wie etwa Energie oder Baumaterial – wird bei größerer Stückzahl in der Regel günstiger.
Die deutsche Wohnungswirtschaft ist ein Wirtschaftssektor, der im Vergleich mit anderen Wirtschaftszweigen bis Anfang der 2000er Jahre kaum dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt war. Er ist eher innovationsarm und kann aufgrund des großen Anteils von privaten Kleinanbietern und Selbstnutzern als weniger professionell eingeschätzt werden. Aus der Perspektive vieler – auch internationaler – Käufer von Wohnimmobilien wurde der deutsche Wohnungsbestand als „undermanaged“ eingeschätzt. Dies bedeutet, dass große Potenziale der Wertschöpfung durch eine professionellere Bewirtschaftung der Bestände erwartet wurden, was einen zusätzlichen Anreiz für weitere Zukäufe und das Unternehmenswachstum darstellt.
So kommt es insgesamt seit einigen Jahren zu deutlichen Konzentrationstendenzen am deutschen Wohnungsmarkt. Aufzuführen sind hier zum Beispiel die Übernahme der GSW durch die Deutsche Wohnen im Jahr 2013, die Gagfah-Übernahme durch die heutige Vonovia und die Westgrund-Übernahme durch Adler Real Estate im Jahr 2015. Ein Übernahmeversuch der Deutschen Wohnen durch Vonovia allerdings ist im Jahr 2016 gescheitert.
Die sieben größten börsennotierten Wohnungsunternehmen in Deutschland nach Anzahl der Wohneinheiten Ende 2015
Ende 2015 verfügen die sieben größten börsennotierten Wohnungsunternehmen in Deutschland über mehr als 850.000 Wohneinheiten. Gemessen am gesamten Geschosswohnungsbestand (20,8 Mio. WE) macht dies einen Anteil von 4 Prozent aus. Gemessen am Bestand aller professionell-gewerblichen Wohnungsunternehmen (8,9 Mio. WE) entspricht dies einem Anteil von annähernd 10 Prozent. Damit ist dieser Wert jedoch kleiner als in vielen anderen Wirtschaftssektoren, wie etwa in der Automobilindustrie oder gar im Lebensmitteleinzelhandel, wo sich fünf Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen ca. 90 Prozent des Marktes unter sich aufteilen.
Allerdings stellt sich der „relevante Markt“ bei Wohnungen aufgrund ihrer Immobilität sehr viel lokaler dar, sodass Unternehmen an einzelnen lokalen Märkten durchaus höhere Anteile haben können. Vonovia hält beispielsweise rund 13 Prozent des Dresdener Wohnungsbestandes und die TAG Immobilien rund 18 Prozent des Wohnungsbestandes von Salzgitter sowie 15 Prozent von Gera.
Auswirkungen auf die Stadtentwicklung
Wohnungsunternehmen sind wichtige Partner für die Kommunen im Rahmen der Quartiers- und Stadtentwicklung. Hierbei geht es auf gesamtstädtischer Ebene um die Zusammenarbeit in Bezug auf die grundsätzliche Wohnungsversorgung in der Stadt, etwa im Rahmen sogenannter „runder Tische“ oder von „Bündnissen für Wohnen“. Aber auch die Entwicklung von gemeinsamen Handlungskonzepten zum Neubau in wachsenden oder zum Abriss in schrumpfenden Städten sowie die Wohnraumversorgung spezifischer Nachfragegruppen (etwa von Senioren oder Studenten) können dazu gehören. Auf Quartiersebene gestaltet sich die Zusammenarbeit noch konkreter mit der gemeinsamen Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen oder städtebaulichen Situation im Quartier. Hierzu gehören zum Beispiel soziale und kulturelle Angebote, wie etwa Schuldnerberatungen, Bildungseinrichtungen, Integrations- und Inklusionsangebote.
Um die Auswirkungen der beschriebenen Entwicklungen auf das Handlungsfeld der Stadt- und Quartiersentwicklung genauer fassen zu können, sollte zwischen den beiden skizzierten Hauptentwicklungen unterschieden werden.
dem Auftreten internationaler Finanzinvestoren zu Beginn des Prozesses und der nunmehr stärker im Vordergrund stehenden Konzentrationstendenz am Markt
Auswirkungen neuer Finanzinvestoren
Der Landtag von Nordrhein-Westfalen hatte 2011/2012 eine Enquete-Kommission zum „Wohnungswirtschaftlichen Wandel und Neuen Finanzinvestoren“ eingesetzt. Die Bergische Universität Wuppertal (Prof. Spars) hat zusammen mit der StadtRaumKonzept GmbH in sechs Fallstudien in Bielefeld, Dortmund, Köln, Münster, Marl und Neuss aufgezeigt, dass die Strategien der Investoren oftmals intransparent bleiben und auch nicht immer konsistent sind. So variieren die einzelnen Strategien nicht nur bezüglich der Renditeausrichtung der Unternehmen, sondern auch innerhalb der Bestände in einem Quartier. Eine weitere wichtige Erkenntnis aus der Untersuchung war, dass die Strategien der neuen Investoren weniger langfristig festgelegt sind als bei anderen Unternehmen. Mit dieser Kurzfristigkeit geht bereits ein gewisses Desinteresse der Finanzinvestoren einher, gemeinsam mit den Kommunen an Themen der Stadt- und Quartiersentwicklung zu arbeiten.
Die Finanzinvestoren kauften meist Wohnungen, die dem unteren Preissegment angehören. Eine Studie des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (2007: 5) ging davon aus, dass vorwiegend sanierungsbedürftige Immobilien der 1950er bis 1970er Jahre angekauft wurden.
Allerdings haben viele Kommunen durch den Verkauf ihrer kommunalen Wohnungsbestände ein wichtiges Steuerungsinstrument für den Wohnungsmarkt verloren. Zwar haftet kommunalen Wohnungsunternehmen das Klischee an, ein weniger professionelles Management zu besitzen, das geringerer Kontrolle unterliegt und als Rückfalloption auf den kommunalen Haushalt zurückgreifen kann.
Gleichwohl bietet die kommunale Wohnungswirtschaft im Gegensatz zu den internationalen Eigentümern den Vorteil, die lokalen Problemlagen besser zu kennen und ein Interesse an langfristig stabilen Quartieren zu besitzen. Über die Funktion als regulierendes Element in der Wohnraumversorgung hinaus kann sie zudem eine wertvolle Stadtrendite erbringen. Das bedeutet, dass viele kommunale Wohnungsunternehmen zusätzliche Leistungen für die Stadtgesellschaft anbieten, die aus einer Perspektive rein betriebswirtschaftlicher Gewinnmaximierung nicht erfolgen würden. Hierzu gehören zum Beispiel ein Engagement im Rahmen des sozialen oder des Quartiersmanagements, die Versorgung von besonderen „Problemgruppen“, die Bereitstellung sozialer Infrastruktur oder die Mitarbeit im Rahmen der Stadtentwicklungspolitik und -planung in der Kommune. Die jeweiligen konkreten Auswirkungen der Privatisierungen kommunaler Bestände finden sich im Spannungsverhältnis zwischen lokalen Bedingungen des Wohnungsmarktes, dem Typ des Wohnungsunternehmens und der konkreten Ausgestaltung der Privatisierung (Vertragsinhalte, Sozialchartas) (Spars 2012: 523). Sie lassen sich schwerlich verallgemeinern.
Auswirkungen der Konzentration von Wohnungsunternehmen
Welche Auswirkungen der lokale Bedeutungszuwachs von privatwirtschaftlichen Wohnungsunternehmen auf die Stadtentwicklung nimmt, sollte differenziert betrachtet werden. Zu unterscheiden sind im Prinzip zwei Typen: Einige größere Wohnungsunternehmen verfolgen durch ihre Wachstumsstrategie eine langfristige Bestandshalterperspektive. Sie unterscheiden sich von den Finanzinvestoren, die die Wohnungen nur kurzfristig halten und verwerten wollen.
Beiden Typen ermöglicht das Wachstum Skalen- und somit Kostenvorteile in der Bewirtschaftung der Bestände zu generieren und Risiken besser auszugleichen. Verläuft eine Unternehmensfusion oder -übernahme erfolgreich, gewinnt das nun größere Unternehmen mehr ökonomische Spielräume und wird wettbewerbsfähiger als andere, was sich in niedrigeren Leerstandsraten zeigen könnte.
Diese ökonomischen Vorteile könnten genutzt werden, um in moderate Mieten, in die Qualität der Bestände oder auch in die Maßnahmen der Stadtentwicklung zu investieren. Allerdings könnten diese Spielräume auch schlichtweg den Gewinn und damit ceteris paribus die Rendite des Unternehmens erhöhen. In einer deutschlandweiten Befragung des Deutschen Mieterbundes NRW (2016) unter den im eigenen Verband organisierten Mietervereinen zu den Erfahrungen mit großen Wohnungsunternehmen werden verschiedene Kritikpunkte vorgetragen. Die Top-Themen in der Rechtsberatung der Mieter von Wohnungen großer Wohnungsunternehmen liegen im Bereich der jährlichen Betriebs- und Heizkostenabrechnung. Aber auch Mängel innerhalb der Wohnung sind „überdurchschnittlich häufig Gegenstand der Beratungen“. Mit mittlerer Häufigkeit sind Mieterhöhungen bei laufenden Verträgen (§558 BGB) Grund für die Inanspruchnahme der Beratungsleistungen. Hierbei weisen die Autoren darauf hin, dass insbesondere die LEG und die Vonovia einen überdurchschnittlichen Wert aufweisen.
Hinsichtlich der Mietpreisgestaltung hat eine andere Untersuchung in den zehn größten Städten in Nordrhein-Westfalen gezeigt, dass die Mieten in den Beständen der vier größten Wohnungsunternehmen (LEG NRW, Gagfah, Deutsche Annington bzw. Vonovia, Vivawest) im Zeitraum von 2012 bis 2015 im Durchschnitt auf dem Niveau der Genossenschaften und öffentlichen Wohnungsunternehmen liegen, zum Teil sogar noch darunter. Um bei diesen Ergebnissen einen Struktureffekt in den Daten (etwa dadurch bedingt, dass die großen Wohnungsunternehmen vielleicht die schlechteren und damit billigeren Wohnungen haben) auszuschließen, wurde von den Autoren der Studie auch noch eine ökonometrische Untersuchung der Mietdaten vorgenommen, um den Lage-Effekt in den Mieten zu neutralisieren. Auch in dieser Analyse liegen – somit lagebereinigt – die Mieten der großen Wohnungsunternehmen günstiger als die der öffentlichen Anbieter und vor allem der kleinen privaten Anbieter, jedoch höher als die der Wohngenossenschaften.
Eine weitere Untersuchung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zu den börsennotierten Wohnungsunternehmen (BBSR 2017) hat in Bezug auf die Mietenvergleiche gezeigt, dass die Wachstumsraten der Nettokaltmieten dieser Unternehmen (bis auf die TAG) von 2010–2015 „deutlich“ oberhalb des Wohnungsmietenindex für Deutschland (plus 6,7%) und auch „überwiegend über dem Durchschnitt der GdW-Mitgliedsunternehmen“ lagen. „Die größten Mietsteigerungen (...) konnte mit durchschnittlich fast 20% die seit 2013 zur Deutsche Wohnen AG gehörende Berliner GSW realisieren“ (BBSR 2017: 90). Es folgen die Deutsche Annington (plus 14,2%), die Vonovia (plus 13,6%) und die LEG (plus 12,5%). Die GAGFAH und die Deutsche Wohnen liegen bei jeweils plus 9,5 Prozent. Lediglich die Mieten bei der TAG zeigen eine fast unmerkliche Steigerung von 0,2 Prozent. Die Studie trifft aber dennoch die Aussage, dass ein Vergleich der Wachstumsraten der Nettokaltmieten in den untersuchten „Fokuskommunen“ Berlin, Hamburg und Dortmund keine großen Unterschiede zwischen den börsennotierten Wohnungsunternehmen und den kommunalen Wohnungsunternehmen verdeutlichte. Bei einer Beurteilung ist relevant, dass die börsennotierten großen Unternehmen unterschiedliche Anteile an (ehemaligen) Sozialwohnungen besitzen und zum Teil sehr unterschiedliche Modernisierungsstrategien an den jeweiligen Standorten umsetzen. Auch sind sie in den verschiedenen regionalen Märkten unterschiedlich stark vertreten. Es lässt sich jedoch grundsätzlich erkennen, dass die börsennotierten Unternehmen Mieterhöhungsspielräume, die bei Mieterwechsel oder bei Modernisierung entstehen, weitestgehend ausnutzen. Sie unterscheiden sich darin von den kommunalen Wohnungsunternehmen, die Erhöhungen mit unzumutbaren Belastungen von Mietern eher vermeiden (BBSR 2017: 155).
Ob die größeren Unternehmen die jeweiligen ökonomischen Vorteile auch nutzen, um sich stärker in die Stadt- und Quartiersentwicklung einzubringen, ist leider noch nicht systematisch untersucht worden. Die Befragung des Deutschen Mieterbundes NRW (2016: 6) bei seinen Mitgliedsvereinen deutet aber darauf hin, dass sich „die großen privaten Wohnungsunternehmen nicht so stark in die „Prozesse der Quartiers- und Stadtentwicklung einbringen“ wie beispielsweise die kommunalen und genossenschaftlichen Unternehmen. Allerdings müssten bei einer solchen Befragung nicht nur Interessenvertreter der Mieterseite, sondern auch städtische Mitarbeiter und andere Fachleute zu Wort kommen.
Inwieweit die Größe der Unternehmen beispielweise dazu führt, dass sie sich weniger in den jeweiligen Quartieren und Städten auskennen bzw. „zu weit weg sind“ von den Problemen der Quartiersbewohner, hängt sehr stark von der jeweiligen Organisationsstruktur im Unternehmen ab. Auch in großen Wohnungsunternehmen gibt es neben der Zentrale auch dezentrale Verwaltungsstrukturen mit entsprechenden Filialen und Ansprechpartnern vor Ort.
Offiziell betont zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft großer Wohnungsunternehmen (AGW) auf ihrer gleichnamigen Homepage, dass sie sich als „aktive und gestaltende Partner der Länder und Kommunen in der Stadtentwicklung, der Quartiersentwicklung und der Inwertsetzung von Stadtquartieren“ begreifen (AGW-online.de). Die Übernahme- und Fusionsstrategien der Unternehmen könnten dazu führen, dass sie in dem einen oder anderen Quartier eine sogenannte „kritische Masse“ überschreiten, ab der sich die aktive Gestaltung des Quartiers bereits als betriebswirtschaftliche Notwendigkeit aufdrängt, um die eigenen Bestände wertvoller zu machen. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass die Vonovia in NRW inzwischen einen „umfassenderen Ansatz in der Quartiersentwicklung“ fährt und mit Pilotprojekten auf sich aufmerksam macht (BBSR 2017: 157).
Insgesamt ist eine Einschätzung der Konsequenzen der Konzentrationsprozesse am Wohnungsmarkt auf die Stadtentwicklung also uneinheitlich. Es bleibt wohl einer Einzelfalluntersuchung vorbehalten, hierzu genauere Ergebnisse hervorzubringen und zu überprüfen, ob die Unternehmen nur reine „Leuchtturmprojekte“ im Sinne des Marketing entwickeln oder eine „grundlegende Neuorientierung“ aufbieten (ebd.). Jedenfalls ist das Vorurteil „Große Unternehmen gleich schlechte Partner in der Stadtentwicklung“ sicherlich zu undifferenziert.
Quellen / Literatur
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BBSR (Hrsg.) (2016): Deutliche Abnahme des Wohnungstransaktionsvolumens im ersten Halbjahr 2016, BBSR-Analysen Kompakt 07/2016, Berlin, Bonn.
BBSR (Hrsg.) (2017): Börsennotierte Wohnungsunternehmen als neue Akteure auf dem Wohnungsmarkt – Börsengänge und ihre Auswirkungen, BBSR-Online-Publikation Nr. 01/2017, Berlin, Bonn.
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Warburg Research (Hrsg.) (2016): Sektorstudie Wohnimmobilien, Hamburg.
Immobilien AGs sind Unternehmen, deren Geschäftszweck darin besteht in Immobilien zu investieren und die in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft geführt werden.
Spars 2012
vgl. Ball 2007
vgl. Penrose 1966, Robinson 1968
Warburg Research 2016
Edeka, Rewe, Aldi, die Schwarz-Gruppe (mit Kaufland und Lidl) sowie die Metro-Gruppe.
Freudenau, Heinze et al. 2012
Spars, Heinze, 2009
Spars, Müller 2012
Deutscher Mieterbund NRW 2016: 2
Voigtländer et al. 2015: 7
Es wird jedoch auch davon berichtet, dass auch die Vonovia standortabhängig Teilverzichte leistet.
| Article | Guido Spars | 2022-02-03T00:00:00 | 2015-12-04T00:00:00 | 2022-02-03T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/stadt-land/stadt-und-gesellschaft/216870/die-etablierung-grosser-wohnungskonzerne-und-deren-folgen-fuer-die-stadtentwicklung/ | Große Wohnungsunternehmen prägen zunehmend das Geschehen am Markt. Guido Spars analysiert die daraus folgenden Auswirkungen auf die Stadtentwicklung. | [
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Chronik: 10. bis 23. Februar 2014 | Ukraine-Analysen | bpb.de |
10.02.2014 Der russische Finanzminister Anton Siluanow erklärt, dass der Ukraine die zweite Rate des versprochenen Kredits erst bei vollständiger Rückzahlung ihrer Gasschulden in Höhe von 2,6 Milliarden US-Dollar ausgezahlt werde. 10.02.2014 Die EU erwägt zurzeit keine Sanktionen gegen die Ukraine. Dies erklärt der litauische Außenminister Linas Linkevicius nach einer Sitzung des Rates der EU-Außenminister. 10.02.2014 Der Menschenrechtskommissar des Europarates Neil Miuznieks weist den ukrainischen Innenminister Witalij Sachartschenko darauf hin, dass die Auslagerung polizeilicher Aufgaben an"dritte Kräfte" nicht zulässig sei. Damit sind so genannte "Tituschki" gemeint, Banden von Sportlern, die Berichten zufolge im Auftrag der Regierung handeln und Aktivisten entführen und zusammenschlagen. 10.02.2014 Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton spricht in einer Pressekonferenz davon, dass ein mögliches Assoziierungsabkommen "nicht das Ende" der Beziehungen zur Ukraine darstelle. Damit spielt sie indirekt auf einen in der Zukunft denkbaren Beitritt der Ukraine zur EU an. 11.02.2014 Ehemalige und aktuelle Politiker – darunter der ehemalige Präsident Leonid Kutschma, der ehemalige Innenminister und jetzige Oppositionsaktivist Jurij Luzenko und der UDAR-Parteichef Witalij Klitschko – sprechen sich für eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 aus, in der der Präsident über erheblich geringere Rechte verfügt. Auch das von den Protestierenden eingerichtete oppositionelle Parlament spricht sich für eine Rückkehr zur alten Verfassung aus. Der Abgeordnete der Oppositionspartei Vaterland, Anatolij Hryzenko, der nach der Verabschiedung der hart umkämpften Gesetze vom 16. Januar sein Mandat aus Protestniedergelegt hatte, erklärt dagegen, dass eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 allein die Probleme nicht lösen werde, da sie zu einer politischen Blockade zwischen Präsident und Parlament führen könne. 11.02.2014 In den USA verabschiedet der Kongress eine Resolution, in der für den Fall weiterer Gewalt gegen Demonstranten Sanktionen angedroht werden. Beide Seiten werden zur friedlichen Lösung des Konflikts aufgefordert. 11.02.2014 Radoslaw Sikorski, polnischer Außenminister, verspricht der Ukraine weitreichende finanzielle Unterstützung durch EU und IWF, sollte die Ukraine zu weitgehenden wirtschaftlichen Reformen bereit sein. 11.02.2014 Michail Witjas, Staatsanwalt der Kiewer Region, stellt für die inhaftierten Aktivisten des "Automaidan" eine Freilassung im Rahmen des Amnestiegesetzes in Aussicht, unter der Bedingung, dass alle besetzten Straßen und öffentlichen Gebäude freigegeben werden. 11.02.2014 Nikolaj Lewtschenko, Abgeordneter der Partei der Regionen, beschuldigt die so genannten"Oligarchen" Ihor Kolomojskij, Wiktor Pintschuk, Dmytro Firtasch und Petro Poroshenko, die allesamt im Besitz von Fernsehsendern sind, der oppositionellen Agitation. 12.02.2014 Laut Medienberichten enthebt ein Kiewer Gericht den ehemaligen Leiter der Kiewer Stadtverwaltung, Oleksandr Popow, und den ehemaligen stellvertretenden Leiter des nationalen Sicherheitsrates der Ukraine, Wolodymyr Siwkowych, im Rahmen des Amnestiegesetzes von den Vorwürfen der Anordnung unverhältnismäßiger Gewalt gegen die friedlichen Demonstranten auf dem Maidan am 30. November vergangenen Jahres. 12.02.2014 Hennadij Moskal, Abgeordneter der Oppositionspartei Vaterland,übergibt dem Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka Materialien zu gewaltsamen Übergriffen auf 124 Journalisten. 12.02.2014 Die Partei UDAR ruft die Kiewer Bürger für den kommenden Donnerstag zu einem übergreifenden Warnstreik auf. 12.02.2014 Parlamentssprecher Wolodymyr Rybak von der Partei der Regionen verweigert weiterhin seine Unterschrift unter den Antrag auf Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung des Gewalteinsatzes gegen Demonstranten während der Proteste der vergangenen Monate. 12.02.2014 Die Staatsanwaltschaft gibt bekannt, dass keiner der wegen des Gewalteinsatzes der Polizei am 30. November vergangenen Jahres Angeklagten einen Prozess befürchten muss. Auch für sie greift das erste beschlossene Amnestiegesetz. 13.02.2014 Auf dem Maidan werden neue Barrikaden aus Müll und Sandsäcken errichtet, da die aus Schnee aufgehäuften Wälle im nun wärmeren Wetter schmelzen. 13.02.2014 In einem Gerichtsverfahren gegen einen der Teilnahme an Massenunruhen verdächtigten Demonstranten taucht ein Dokument auf, das einen der vernommenen Zeugen, einen Angehörigen der Spezialeinheit Berkut, als Scharfschützen ausweist. 13.02.2014 Walerij Korjak, der für die erste gewaltsame Auflösung einer Demonstration auf dem Maidan Ende November vergangenen Jahres mitverantwortlich gemacht wird und aus diesem Grund seinen Posten als Polizeichef der Stadt räumen musste, könnte wieder auf seinen Posten zurückkehren, da auch er durch das Amnestiegesetz vonder Anklage befreit wurde. 13.02.2014 In mehreren ukrainischen Städten wird ein Warnstreik abgehalten. In der staatlichen Behörde für Arbeitsfragen erklärt man, der Streik sei nicht bemerkt worden. 13.02.2014 Die Staatsanwaltschaft nennt Straßen und Plätze, darunter mit dem Maidan der Unabhängigkeit und der Hruschewskij-Straße die Hauptschauplätze der Proteste, die bis zum 17. Februar geräumt werden müssen, wenn weitere inhaftierte Protestteilnehmer vom Amnestiegesetz profitieren sollen. Die Organisatoren der Blockaden nennen dieErklärung eine Provokation, da sie selbst dem Gesetz vom 29. Januar widerspreche. 14.02.2014 Bei Anatolij Hilewytsch, Organisator des Automaidan, wird eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Zuvor hatte man ihm schon für drei Monate den Führerschein entzogen. 14.02.2014 Der russische Außenminister Lawrow hält eine gemeinsame Pressekonferenz mit dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier ab. Beide sind sich rhetorisch einig, dass es in der Ukraine keine Einmischung von außen geben dürfe. Lawrow bezichtigt die EU und die USA jedoch der Einmischung in ukrainische Angelegenheiten und der Unehrlichkeit. 14.02.2014 Der Letzte der inhaftierten Demonstranten kommt auf freien Fuß. Viele stehen jedoch unter Hausarrest. Die Anklagen bestehen weiterhin. Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka verspricht, sie aufzuheben, wenn die Demonstranten die besetzten Straßen räumen. Die Selbstverteidigungseinheiten stellen der Staatsanwaltschaft ihrerseits ein Ultimatum bis zum 17. Februar, um die Fälle zu schließen, erklärt der "Kommandant des Maidan", Andrij Parubij. Die Organisatoren bieten an, das besetzte Gebäude des Kiewer Stadtrates freizugeben und die Hruschewskij-Straße "teilweise" zu räumen. 14.02.2014 Die inhaftierte ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko bietet an, mit Präsident Janukowytsch Möglichkeiten seines straffreien Rücktritts zu besprechen. 14.02.2014 Der Unternehmer und aktive Teilnehmer am lokalen Automaidan in Saporischschja, Serhij Seneki, wird tot in seinem verbrannten Auto aufgefunden. Das Innenministerium erklärt, es handle sich möglicherweise um Selbstmord wegen Überschuldung. 15.02.2014 EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso schließt die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU nicht kategorisch aus, erklärt jedoch, dass man zurzeit nicht bereit sei, darüber zu reden. 15.02.2014 Entgegen der Forderung der Staatsanwaltschaft erklärt der Fraktionsvorsitzende der Vaterlands-Partei und Mitanführer der neu gegründeten oppositionellen Allianz "Maidan", Arsenij Jazenjuk, dass man den Maidan nicht räumen werde. 15.02.2014 Verantwortliche im Fußballklub Schachter Donezk des Unternehmers und Abgeordneten der Partei der Regionen Rinat Achmetow erklären, dass man hart gegen Fans vorgehen werde, die sich im Kontext des Fußballvereins zu einer der beiden Seiten des Konflikts bekennen. Man wolle keine Politik betreiben, heißt es. 15.02.2014 Auf der Hruschewskij-Straße beginnen die Abbauarbeiten der Barrikaden. Die Protestierenden hatten dies zuvor als Kompromisshandlung angekündigt. Bis zum Morgen sollen das Gebäude der Stadtverwaltung und vier weitere besetzte Gebäude freigegeben werden. Auch in den Regionen verlassen Demonstranten besetzte Gebäude. 16.02.2014 Mit der Räumung einiger Gebäude und dem Beginn des Abbaus der Barrikaden hält die Opposition ihre Auflagen für erfüllt und erwartet von der Staatsanwaltschaft die Aufhebung der schwebenden Verfahren. Sie drohen, andernfalls das Gebäude der Stadtverwaltung erneut zu besetzen, und organisieren eine Kundgebung bei Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka. 16.02.2014 Der Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka erklärt, dass es nun keine Hindernisse für das Amnestiegesetz mehr gebe und es am 17. Februar in Kraft treten könne. Im Laufe eines Monats würden nun 108 Verfahren gegen insgesamt 268 Personen eingestellt. 16.02.2014 Der Fraktionsvorsitzende der Partei Freiheit und Mitanführer der neu gegründeten oppositionellen Allianz "Maidan", Oleh Tjahnybok, kündigt eine Demonstration am Morgen des 18. Februar am Parlamentsgebäude an, um für die Wiederherstellung der Verfassung von 2004 zu demonstrieren. 16.02.2014 Der Oppositionspolitiker und Fraktionschef der Partei Vaterland, Arsenij Jazenjuk, lehnt erneut das Angebot Wiktor Janukowytschs ab, Ministerpräsident einer neuen Regierung zu werden. Er erklärt stattdessen bei einer Demonstration auf dem Maidan, dass die drei Oppositionsführer und die inhaftierte ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko einstimmig beschlossen hätten, eine oppositionelle Regierung zu bilden. 17.02.2014 In der Nacht wird das geräumte Gebäude der Kiewer Stadtverwaltung erneut von zwei Brigaden der Selbstverteidigungstruppen angegriffen, denen es jedoch nicht gelingt, es einzunehmen. Am Morgen wird eine Kontrolle am Eingang eingerichtet. 17.02.2014 Bundeskanzlerin Angela Merkel empfängt zwei der drei Oppositionsführer, Witalij Klitschko und Arsenij Jazenjuk, in Berlin. Klitschko ruft die Kanzlerin dazu auf, Wiktor Janukowytsch und seinen Unterstützern durch Sanktionen die Möglichkeiten der Geldwäsche in Europa zu nehmen. Nach ihrer Rückkehr erklären die beiden, Merkel habe finanzielle Unterstützung aus dem Westen für eine neue, auf demokratischem Wege zustande gekommene Regierung zugesagt. Philipp Mißfelder, Beauftragter der CDU/CSU-Fraktion für transatlantische Fragen, erklärt, man halte sowohl zur Opposition als auch zur Regierung Kontakt, um "Schlimmereszu verhindern". 17.02.2014 Oleh Salo, Gouverneur der Region Lwiw, der unter dem Druck der Demonstranten eine Rücktrittserklärung unterschrieben hatte, kehrt an seinen Arbeitsplatz zurück. Die Protestierenden hatten das Gebäude verlassen und die Barrikaden abgebaut. 17.02.2014 Journalisten des Magazins"Tyschden" (Woche) finden unter den Organisationen, die vorgeblich für die Regierung mobilisieren, mehrere Gruppen, die nur auf dem Papier existieren. 17.02.2014 Präsident Wiktor Janukowytsch erklärt die Verhandlungen mit der Opposition über die Besetzung des Postens des Premierministers offiziell für beendet, nachdem die Opposition nicht auf das Angebot eingegangen war. 17.02.2014 EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erklärt, die EU sei bereit, das Assoziationsabkommen zu unterzeichnen, sobald die politische Krise in der Ukraine gelöst sei. Dazu müsse die Ukraine die Bedingungen erfüllen, die bereits vor dem gescheiterten Gipfel von Vilnius bestanden haben. 17.02.2014 Der russische Finanzminister Anton Siluanow gibt bekannt, dass Russland in der laufenden Woche den Ankauf ukrainischer Staatsanleihen im Wert von zwei Milliarden US-Dollar wieder aufnehmen werde. Damit sagt er die zweite Tranche des 15-Milliarden-Kredits zu. 18.02.2014 Am Morgen zieht ein Protestmarsch zum Parlament, um für die Einführung der Verfassung von 2004 zu demonstrieren. Im angrenzenden Mariinskij-Park findet eine regierungsfreundliche Demonstration statt. Als Parlamentssprecher Wolodymyr Rybak sich weigert, einen Antrag der Opposition auf Rückkehr zur Verfassung von 2004 zu registrieren, durchbrechen einige Aktivisten die Polizeiketten. 18.02.2014 Während die Oppositionsparteien das Parlament blockieren, eskaliert auf den Straßen wieder die Gewalt. Scharfschützen beziehen Stellung auf den Dächern, auf der Schelkowitsch-Straße prallen die Fronten aufeinander, es werden Tränengas und Blendgranaten eingesetzt, die Protestierenden werfen Steine und Molotowcocktails. 18.02.2014 Das Hauptquartier der Partei der Regionen wird in Brand gesteckt. 18.02.2014 Witalij Klitschko erklärt, die Opposition sei bereit, politische Verantwortung zu übernehmen, dazu müssten jedoch vorgezogene Neuwahlen angesetzt werden. 18.02.2014 Die Demonstranten richten im Haus der Offiziere, das zur Armee gehört, eine medizinische Versorgungsstation ein. Nach ihren Angaben leisteten die Mitarbeiter keine Gegenwehr. 18.02.2014 Das staatliche Energieunternehmen Naftogaz bittet den russischen Versorger Gasprom um eine Verlängerung der Frist zur Rückzahlung der Gasschulden bis Mitte April und zahlt 1,3 der 2,7 Milliarden Dollar Schulden aus dem letzten Jahr zurück. 18.02.2014 Die rechte Gruppe"Rechter Sektor" ruft Besitzer von Feuerwaffen auf, Trupps zur Selbstverteidigung zu bilden, um auf angeblich geplante Räumungsversuche mit Militärtechnik und scharfer Munition reagieren zu können. 18.02.2014 Das Parlament der Region Lwiw spricht erneut dem Gouverneur Oleh Salo das Misstrauen aus. 18.02.2014 Es gibt Berichteüber "Tituschki", zivile Einsatztruppen im Dienst der Regierung, die aus fahrenden Autos mit scharfer Munition auf Menschen schießen. 18.02.2014 Eine Gruppe von Journalisten des oppositionsfreundlichen fünften Kanals wird von Sicherheitskräften zusammengeschlagen. 18.02.2014 Der Inlandsgeheimdienst SBU und das Innenministerium erlassen ein Ultimatum. Wenn die Aufstände nicht bis 18 Uhr desselben Tages aufhörten, werde man "hart" reagieren. Das Verteidigungsministerium droht den Protestierenden im Haus der Offiziere mit einer "entsprechenden" Reaktion. 18.02.2014 Geoffrey Pyatt, Botschafter der USA in Kiew, erklärt, man erwäge alle Arten möglicher Sanktionen. 18.02.2014 Kurz nachdem aus der Westukraine ein Aufruf zur Generalmobilmachung nach Kiew ergeht, werden Zufahrtsstraßen in die Hauptstadt abgeriegelt und Verkehrskontrollen durchgeführt. Später werden zwei Straßenpolizisten erschossen aufgefunden, ein verletzter dritter wird ins Krankenhaus gebracht. 18.02.2014 Präsident Wiktor Janukowytsch kündigt ein Treffen mit den Oppositionsführern an. 18.02.2014 Der oppositionsfreundliche fünfte Kanal des Oligarchen Petro Poroschenko wird landesweit abgeschaltet. 18.02.2014 Von der Institutsstraße stürmen Sicherheitskräfte den Maidan. Drei Wasserwerfer sind im Einsatz, die Barrikaden brennen, auf dem Maidan singen die Aktivisten die Hymne der Ukraine. 18.02.2014 In Iwano-Frankiwsk legen Angehörige der Spezialeinheit Berkut ihre Helme ab und verlassen unter dem Beifall der Protestierenden die Vertretung des Innenministeriums. 19.02.2014 In der Nacht beginnen Gespräche zwischen Präsident Wiktor Janukowytsch und den Oppositionsführen Witalij Klitschko, Arsenij jazenjuk und Oleh Tjahnybok. 19.02.2014 Das bisher von Demonstranten besetzte Gewerkschaftshaus, die Zentrale der Proteste, steht in Flammen. Aus den oberen Etagen retten sich Menschen durch die Fenster. 19.02.2014 In der Nacht feuern zwei wie die Selbstverteidigungseinheiten gekleidete Personen aus dem Hinterhalt auf Aktivisten der Opposition. Es heißt, die Angreifer seien "Tituschki", also inoffiziell von der Regierungsseite rekrutierte Kämpfer. Ein Journalist der russischen Zeitung "Westi" wird tot in einem Taxi aufgefunden, mutmaßlich erschossen von "Tituschki". 19.02.2014 Auf dem Maidan setzen die Protestierenden Molotow-Cocktails gegen die anstürmenden Berkut-Einheiten ein. Es gelingt vorerst, den Platz besetzt zu halten. 19.02.2014 Das Gesundheitsministerium bestätigt die am Morgen kursierende Zahl von 25 Toten – laut Innenministerium sind darunter neun Polizisten – während der Gefechte des vergangenen Tages. Mindestens 50 Aktivisten werden in der Nacht festgenommen. 21 Journalisten sind unter den Toten und Verletzten. 19.02.2014 In einer Fernsehansprache am frühen Morgen bedauert Präsident Wiktor Janukowytsch die Eskalation der Gewalt und macht die Oppositionspolitiker dafür verantwortlich. Der Dialog zwischen Regierung und Opposition habe bis zum Montag gehalten, doch am Dienstag habe die Opposition ihre Versprechen gebrochen. 19.02.2014 Das Treffen zwischen Präsident Wiktor Janukowytsch und Vertretern der Opposition endet ohne Ergebnis. Während Janukowytsch den Oppositionsführern mit Strafverfahren droht, erklärt Arsenij Jazenjuk, dass der Präsident wolle, dass die Demonstranten "nach Hause gehen". 19.02.2014 Der oppositionelle Abgeordnete und ehemalige Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko verbreitet am Morgen die Nachricht, der Verteidigungsminister Pawlo Lebedew habe den Befehl gegeben, eine 500 Mann starke Militärbrigade aus Dnipropetrowsk nach Kiew zu verlegen. 19.02.2014 Im ganzen Land werden Regionalbüros aller Parteien in Brand gesteckt, in Lwiw wird ein Brandanschlag auf die örtliche Vertretung des Inlandsgeheimdienstes SBU verübt. 19.02.2014 Das russische Innenministerium verlautbart erneut Kritik an westlichen Staaten, die nach seiner Einschätzung die radikalen Protestierenden nicht ausreichend kritisieren. Die Geschehnisse in der Ukraine werden in der Erklärung eine "braune Revolution" genannt. Russland werde all seinen Einfluss nutzen, um Frieden und Ordnung in der Ukraine wiederherzustellen. 19.02.2014 Für den Fall einer weiteren "Verschlechterung der Lage" kündigt EU-Kommissionpräsident José Manuel Barroso Sanktionen gegen einzelne Politiker und Beamte an, die am Einsatz von Gewalt beteiligt sein sollen. 19.02.2014 Die Polizei in Tscherniwzi, die auf die Seite der Demonstrantenübergelaufen ist, verspricht, die örtliche Truppe der Berkut-Spezialeinheit aus Kiew abzuziehen. 19.02.2014 Im ganzen Land werden Polizeistationen und Vertretungen des Inlandsgeheimdienstes SBU gestürmt. 19.02.2014 Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier macht Präsident Wiktor Janukowytsch für die Verschleppung der Krise verantwortlich und droht mit persönlichen Sanktionen gegen Janukowytsch. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy droht ebenfalls Sanktionen an. 19.02.2014 In Chmelnyzkij feuern Sicherheitskräfte in eine protestierende Menge, eine Frau erleidet eine Kopfverletzung und stirbt wenig später. Am Abend wird das örtliche SBU-Quartier gestürmt. 19.02.2014 Oleksandr Jakimenko, Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU kündigt eine landesweite "antiterroristische Operation" an, da "Extremisten" durch ihr radikales Verhalten das Leben von Millionen Ukrainern bedrohen würden. Die Aktion wird gemeinsam von SBU, Innen- und Verteidigungsministerium, Grenzschutz und regionalen Sicherheitsbehörden durchgeführt. Das Verteidigungsministerium erklärt, dass auch die Armee zur Verhaftung von Personen herangezogen werden könne. 19.02.2014 Wolodymyr Siwkowytsch wird auf seinem alten Posten als stellvertretender Sekretär des nationalen Sicherheitsrates wieder eingesetzt. Präsident Wiktor Janukowytsch hatte ihn am 14. Dezember wegen seiner Beteiligung an der gewaltsamen Auflösung der Demonstration am 30. November suspendiert. 19.02.2014 Die Partei der Regionen verliert Mitglieder und Fraktionsangehörige. In den Regionalparlamenten von Lwiw und Odessa gibt es Austritte aus Partei und Fraktion. Sieben fraktionslose Abgeordnete im Parlament in Kiew geben ihre Unterstützung für die Opposition bekannt. 19.02.2014 Die Eisenbahnstrecke zwischen Lwiw und Kiew stellt auf unbestimmte Zeit ihren Betrieb ein. 19.02.2014 Präsident Wiktor Janukowytsch und der Fraktionschef der Oppositionspartei Vaterland, Arsenij Jazenjuk, erklären übereinstimmend, dass ein Waffenstillstand vereinbart worden sei. Einen weiteren Sturmversuch auf den Maidan werde es zunächst nicht geben. 19.02.2014 In Lwiw ruft das Nationalparlament die Autonomie aus. Sicherheitsorgane, Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, der Parteien und der Verwaltung verhandelnüber geordnete Verhältnisse. 19.02.2014 Präsident Wiktor Janukowytsch ersetzt den Armeechef. Anstelle von Wolodymyr Samana ist nun Janukowytschs Vertrauter Jurij Ilijn im Amt. 20.02.2014 Der Rat der EU-Außenminister beschließt, dass Sanktionen gegen einzelne ukrainische Politiker verhängt werden sollen. 20.02.2014 Trotz des ausgehandelten Waffenstillstands gehen die Konfrontationen auf dem Maidan weiter. Es werden Blendgranaten und Molotow-Cocktails eingesetzt. Scharfschützen schießen von den Dächern auf Angehörige der Selbstverteidigungseinheiten und andere Aktivisten. Im Hotel "Ukraina" am Maidan werden Leichen von Protestierenden zur Identifizierung aufgebahrt. Am Mittag sind für den heutigen Tag insgesamt bis zu 30 Todesopfer zu beklagen. 20.02.2014 Die USA verhängen diplomatische Sanktionen gegen etwa 20 hohe zivile Staatsbeamte, die direkt an der Anwendung von Gewalt gegen Demonstranten und der Verletzung von Menschenrechten beteiligt seien. Aus rechtlichen Gründen könnten die Namen nicht veröffentlicht werden. 20.02.2014 Der Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU, Oleksandr Jakimenko, berichtet, dass Aufständische in den Gebieten Ternopil, Iwano-Frankiwsk und Lwiw etwa 1.500 Gewehre und ca. 100.000 Patronen in ihre Gewalt bringen konnten, indem sie Waffenlager des SBU und der Polizeidienststellen stürmten. 20.02.2014 Von der Bühne des Maidan ruft Oleksandr Turtschinow, Politiker der Oppositionspartei Vaterland, die Protestierenden dazu auf, das Parlament nicht zu stürmen. Dort werde heute eine wichtige Beratung zur Rückkehr zur Verfassung von 2004 abgehalten. Die Sitzung war vom Abgeordneten der Partei der Regionen, Serhij Tihipko, einberufen worden. 20.02.2014 Wolodymyr Konstantinow, Parlamentssprecher der autonomen Republik Krim, schließt die Abspaltung der Krim von der Ukraine nicht aus. 20.02.2014 Andrij Kljuew, Chef der Präsidialadministration, schlägt eine "Verfassungsabmachung" vor, in der sich beide Seiten auf einen neuen Verfassungstext einigen und ihre Verpflichtungen auf dem Weg dorthin festschreiben sollen. Für eine Verfassungsänderung sind 300 Stimmen nötig, deshalb müssen Opposition und Regierungskoalition im Parlament gemeinsam abstimmen. 20.02.2014 Wolodymyr Makeenko, seit dem 25. Januar Chef der Kiewer Stadtverwaltung, tritt aus der Partei der Regionen aus und ordnet an, die Metro in der Stadt wieder zuöffnen. Er spricht sich für eine sofortige Beendigung der Gewalt aus und übernimmt die Verantwortung für die "Lebensfunktionen" der Stadt. 20.02.2014 Es gibt eine Reihe von Austritten aus der Partei der Regionen. Am heutigen Tag verlassen mindestens fünf Abgeordnete die Partei, drei weitere treten aus der Fraktion aus. In Riwne löst sich die Fraktion der Partei der Regionen selbst auf. 20.02.2014 Zwölf Abgeordnete der Partei der Regionen unterschreiben einen Aufruf an die Sicherheitsorgane des Landes, keinen "kriminellen" Befehlen Folge zu leisten, die sich gegen friedliche Protestierende richten oder zum Gebrauch scharfer Schusswaffen anhalten. 20.02.2014 Jurij Pawlenko, Beauftragter des Präsidenten für Kinderrechte, legt sein Amt nieder. Er könne seinen Pflichten nicht weiter nachkommen und verurteile kategorisch das gewaltsame Vorgehen der Spezialeinheiten gegen friedliche Demonstranten. Zuvor waren Videobilder aufgetaucht, auf denen Scharfschützen und Polizisten mit Kalaschnikows auf Menschen auf dem Maidan schießen. 20.02.2014 Zu einer außerordentlichen Parlamentssitzung der Oppositionsparteien erscheint eine größere Anzahl fraktionsloser Abgeordneter und Abgeordneter der Partei der Regionen. Die Fraktionsführung der Partei der Regionen hatte abgekündigt, der Sitzung nicht beizuwohnen. 20.02.2014 Innenminister Witalij Sachartschenko gibt die Anweisung an Polizisten aus, ihre Schusswaffen gegen"Extremisten" zu gebrauchen, die den Waffenstillstand nicht einhalten. Er ruft die Protestierenden dazu auf, die Waffen abzugeben. Die Ombudsfrau für Menschenrechte, Walerija Ludkowska, erklärt, der Minister erteile rechtswidrige Befehle. 20.02.2014 Präsident Wiktor Janukowytsch trifft die Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs. Nach dem Gespräch verlassen die Minister das Gebäude, ohne mit der Presse zu sprechen. 20.02.2014 Die Ukrainisch-orthodoxe Kirche erklärt, in den Gottesdiensten fortan nicht mehr für die Staatsmacht zu beten, da diese zum wiederholten Male die Aufrufe der Kirche, keine Gewalt gegen Demonstranten einzusetzen, ignoriert habe. 20.02.2014 In einer außerordentlichen Sitzung des Parlaments beschließen die Oppositionsparteien, unterstützt von fraktionslosen Abgeordneten und einigen Abgeordneten der Partei der Regionen, die "antiterroristische Operation", die einen Tag zuvor von den Sicherheitsbehörden ausgerufen worden war, zu stoppen. Sie erlassen eine Resolution, die zur sofortigen Einstellung der Operation aufruft. Obwohl nicht vom Präsidenten unterzeichnet, gilt der Beschluss als wichtiges Symbol. 21.02.2014 Im Parlament findet eine Beratungssitzung zur Rückkehr zur Verfassung von 2004 statt. In einer Unterbrechung kommt es zu einer Schlägerei zwischen einigen Abgeordneten. 21.02.2014 Auf dem Maidan fallen am Morgen wieder Schüsse. Sowohl die Protestierenden als auch die Polizei hatten in den vergangenen Tagen scharfe Munition eingesetzt, was zu einem dramatischen Anstieg der Todesopfer auf beiden Seiten geführt hatte. 21.02.2014 Präsident Janukowytsch kündigt vorgezogene Präsidentschaftswahlen noch für das laufende Jahr an und verspricht, zur Verfassung von 2004 zurückzukehren. Protestierende auf dem Maidan kritisieren den Kompromiss und verlangen den sofortigen Rücktritt und einen Prozess gegen den Präsidenten. Der Chef der Dachorganisation rechtsradikaler Splittergruppen "Rechter Sektor", Dmytro Jarosch, nennt die Erklärung eine Lüge. 21.02.2014 Nachrichten vom unvermittelten Abzug von etwa etwa 1.000 Polizisten aus dem Regierungsviertel machen die Runde. Der oppositionelle Abgeordnete Anatolij Hryzenko berichtet von 1.000 Sicherheitskräften, die Kiew verlassen hätten, um "auf die Seite des Volkes überzutreten". Es handelt sich offenbar um regionale Brigaden der Spezialeinheit Berkut, die laut Hryzenko "nach Hause" fahren. Der Abgeordnete ruft die Protestierenden auf, sie ziehen zu lassen. Vom Innenministerium kommt die Information, dies könnte mit der vom Parlament verabschiedeten Resolution zur Beendigung der Anti-Terror-Operation zusammenhängen. 21.02.2014 Mit den Außenministern Polens und Deutschlands und einem Vertreter des französischen Außenministeriums als Zeugen unterschreiben Präsident Wiktor Janukowytsch und die drei Oppositionsführer eine gemeinsame Erklärung über Neuwahlen und eine Rückkehr zur Verfassung von 2004. Es wird kolportiert, dass Wladimir Lukin, russischer Ombudsmann für Menschenrechte und Gesandter des russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Verhandlungen, die gemeinsame Vereinbarung nicht unterzeichnet hat. 21.02.2014 Der russische Abgeordnete Leonid Sluzkij erklärt in der Duma, dass Russland auch mit einer neuen ukrainischen Regierung "auf allen Ebenen" zusammenarbeiten werde. Er nennt Details des ausgehandelten Abkommens, das die Bildung einer Koalitionsregierung innerhalb von zehn Tagen, die Rückkehr zur Verfassung von 2004 und vorgezogene Präsidentschaftswahlen beinhalten solle. 21.02.2014 Das Parlament verabschiedet mitüberwältigender Mehrheit (325 Stimmen) die Rückkehr zur Verfassung von 2004. Das entsprechende Gesetz sieht vor, dass innerhalb von fünf Tagen nach Inkrafttreten die Gesetze aus den Jahren 2010 und 2011, die die Macht des Präsidenten massiv ausgebaut haben, zurückgenommen werden müssen. Die Verfassung gibt dem Parlament erhebliche Machtbefugnisse zurück, insbesondere über die Regierungsbildung. 21.02.2014 Das Parlament beschließt mit Verfassungsmehrheit ein Gesetz, das alle Aktivisten, die im Zuge der Proteste festgenommen wurden, von juristischer Verfolgung befreit. 21.02.2014 Das Parlament entlässt in einem Beschluss den Innenminister Witalij Sachartschenko. 21.02.2014 Das Parlament verabschiedet ein neues Strafrecht, laut dem Julija Tymoschenko sofort freikommen könnte. 21.02.2014 Weitere 17 Abgeordnete verlassen die Fraktion der Partei der Regionen. Dies hängt möglicherweise mit der Wiedereinführung der Verfassung von 2004 zusammen, die ein imperatives Mandat vorsieht. Wer bei Inkrafttreten der Verfassung Mitglied einer Fraktion ist, kann nicht austreten, ohne sein Mandat zu verlieren. 21.02.2014 Der Inlandsgeheimdienst SBU beendet offiziell seine Anti-Terror-Operation. Das Parlament hatte sie zuvor für ungesetzlich erklärt. 21.02.2014 In Charkiw findet am Abend eine große Kundgebung statt, auf der sich Anhänger der Opposition am polnischen Konsulat lautstark für die Unterstützung bedanken. 21.02.2014 Die Dachorganisation rechtsradikaler Splittergruppen"Rechter Sektor" erklärt, man werde die Waffen nicht niederlegen, bis Präsident Janukowytsch zurückgetreten sei. Man lasse sich von Kompromisslösungen keinen "Staub in die Augen streuen". Ähnliche Aussagen kommen von den Anführern des Automaidan. Auf dem Maidan wird Janukowytsch ein Ultimatum gestellt: Er solle bis zum Morgen zurücktreten. Wenig später entschuldigt sich Witalij Klitschko auf dem Maidan dafür, an der Kompromisslösung mitgewirkt zu haben und erklärt, er werde alles dafür tun, damit der Präsident zurücktritt. 21.02.2014 Es verbreitet sich die Nachricht, Präsident Wiktor Janukowytsch sei nach Charkiw geflogen. 22.02.2014 US-Präsident Barack Obama telefoniert mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, um die Situation in der Ukraine zu besprechen. 22.02.2014 Die Revolution nimmt ihren Lauf. In den frühen Morgenstunden erklärt Andrij Parubij, "Kommandant des Maidan", dass die Aktivisten die Situation in Kiew nun kontrollieren. 22.02.2014 Am Morgen wird eine Rücktrittserklärung des Parlamentssprechers Wolodymyr Rybak veröffentlicht. Offiziell tritt er aus gesundheitlichen Gründen zurück. 22.02.2014 "Meschyhirja", die seit seiner Abreise unter unklaren Bedingungen leerstehende Residenz des Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Kiewer Umland, ist für Besucher geöffnet. Wo Janukowytsch sich aufhält, ist nicht bekannt. 22.02.2014 Der Gouverneur der Region Charkiw, Mikhail Dobkin, ruft einen Parteitag der Partei der Regionen für die südlichen und östlichen Regionen des Landes ein. Man versuche nicht, das Land zu spalten, sondern es zu erhalten. Es nehmen auch russische Abgeordnete und Gouverneure teil. Das Parlament in Kiew kritisiert die Aktivitäten als "separatistisch". Der Oligarch und Fabrikbesitzer in Dnipropetrowsk, Ihor Kolomojskij, sowie einige regionale Politiker der Partei der Regionen verurteilen den Parteitag. 22.02.2014 Das Parlament verabschiedet Resolutionen, nach denen die bisher beschlossenen Gesetzeüber die Rückkehr zur Verfassung von 2004 und das neue Strafrecht ohne die Unterschrift des Präsidenten in Kraft treten. 22.02.2014 Das Parlament wählt den Abgeordneten der Partei Vaterland Oleksandr Turtschinow zum neuen Parlamentssprecher, ernennt Arsen Awakow von der Partei Vaterland zum kommissarischen Innenminister und spricht dem Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka das Misstrauen aus. 22.02.2014 Julija Tymoschenko verlässt das Gefängniskrankenhaus in Charkiw und tritt am Abend auf dem Maidan auf. 22.02.2014 Verteidigungsminister Pawlo Lebedew verlässt seinen Arbeitsplatz und hält sich auf der Krim auf. 22.02.2014 In Kertsch auf der Krim gibt es einenÜbergriff sogenannter "Tituschki" auf eine friedliche Demonstration von UDAR-Aktivisten. 22.02.2014 Der russische Außenminister Sergej Lawrow bedauert, dass die Opposition nicht auf das Kompromissangebot des Präsidenten eingegangen ist. 22.02.2014 In einer Videobotschaft dementiert Wiktor Janukowytsch sein angebliches Rücktrittsvorhaben, nennt die Ereignisse einen "gewaltsamen Umsturz" und erklärt, er sei der legitime Präsident der Ukraine. Er erklärt die Entscheidungen des Parlaments für ungesetzlich und kündigt an, alles dafür zu tun, die "Banditen" zu stoppen. Wie er es anstellen werde, wisse er nochnicht. Er gibt an, man habe auf sein Auto und auf das des zurückgetretenen Parlamentssprechers Wolodymyr Rybak geschossen. Der erklärt später, dies sei nicht geschehen. 22.02.2014 Aus dem Verteidigungsministerium kommt eine Erklärung, in der die Streitkräfte versichern, sich nicht in den Konflikt einzumischen und auf der "Seite des ukrainischen Volkes" zu stehen. 22.02.2014 Das Parlament erklärt mit 317 von 331 Stimmen Wiktor Janukowytsch für abgesetzt und setzt Neuwahlen für den 25. Mai 2014 an. Außerdem ernennt es Beauftragte für die kommissarische Leitung des Inlandsgeheimdienstes und der Generalstaatsanwaltschaft. 22.02.2014 Die Außenminister Deutschlands und Großbritanniens erklären ihre Bereitschaft, die "neue Regierung" in Kiew bei der Beschaffung eines Kredits des IWF zu unterstützen. 22.02.2014 Die USA erklären ihre Unterstützung für den Machtwechsel in Kiew und begrüßen die Befreiung Julija Tymoschenkos. 22.02.2014 Die Parlamentszeitung"Stimme der Ukraine" veröffentlicht die an den vergangenen Tagen mit großer Mehrheit angenommenen Gesetze und Resolutionen: die Rückkehr zur Verfassung von 2004, die Absetzung des Innenministers Sachartschenko und die Einsetzung Arsen Awakows, die Misstrauenserklärung an Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka und die Zurückweisung separatistischer Aktivitäten auf dem Staatsgebiet der Ukraine. Damit treten die Beschlüsse in Kraft, erklärt der der Opposition nahestehende Geschäftsmann und Politiker Petro Poroschenko auf dem Maidan. 22.02.2014 Das Gesundheitsministerium zählt seit dem Beginn der Ausschreitungen 82 Tote. 23.02.2014 Gernot Erler, Beauftragter der Bundesregierung für die Beziehungen zu Russland, den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Zentralasien, ruft die EU auf, die Staatspleite der Ukraine nicht geschehen zu lassen und ihr finanzielle Unterstützung zur Verfügung zu stellen. 23.02.2014 Das Parlament beschließt, Amtspersonen, denen Verbrechen vorgeworfen werden, die Ausreise zu verbieten. Die Führungselite um Wiktor Janukowytsch war zuvor bereits an der Ausreise in Richtung Russland gehindert worden. Wo Wiktor Janukowytsch sich aufhält, ist weiterhin unbekannt. 23.02.2014 Das Parlament ernennt den neuen Parlamentssprecher Oleksandr Turtschinow zum kommissarischen Präsidenten, gibt sich selbst die Kompetenz zur Ernennung und Entlassung von Richtern und entlässt Außenminister Leonid Koschara, Bildungsminister Dmytro Tabatschnik und Gesundheitsministerin Raisa Bogatyrjewa. 23.02.2014 Das Parlament nimmt das Sprachengesetz von 2012 zurück. Damals war beschlossen worden, dass in Regionen, in denen mindestens 10 % der Bevölkerung eine andere Sprache als Ukrainisch sprechen, diese Sprache im offiziellen Kontext verwendet werden darf (siehe Ukraine-Analysen Nr. 106). Dieser Entscheidung stimmen erheblich weniger Abgeordnete zu als den bisherigen Entlassungen und Ernennungen. 23.02.2014 In Kertsch auf der Krim und in Odessa finden kleinere Demonstrationen gegen den Maidan und den Machtwechsel statt. Es werden die russische und die Flagge der Sowjetunion gehisst. In Sewastopol wird mit Aleksej Tschalyj ein russischer Staatsbürger zum Bürgermeister gewählt. Der erklärt, er werde keine Steuern nach Kiew abführen. In Sewastopol demonstrieren 20.000 Menschen gegen die Revolution. 23.02.2014 EU-Politiker erkennen die neuen politischen Autoritäten in Kiew an und erinnern an die Notwendigkeit zügiger Reformen. 23.02.2014 Der polnische Präsident Bronislaw Komorowski ruft dazu auf, die neue Regierung schnellstmöglich durch Wahlen zu bestätigen. IWF-Chefin Christine Lagarde erklärt, dass für Verhandlungen für einen Kredit "legitime Gesprächspartner" nötig seien. Zusammengestellt von Jan Matti Dollbaum Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf Externer Link: http://www.laender-analysen.de/ukraine/ unter dem Link "Chronik" lesen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-02-27T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/179767/chronik-10-bis-23-februar-2014/ | Aktuelle Ereignisse aus der Ukraine: Die Chronik vom 10. bis 23. Februar 2014. | [
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Migrationspolitik | Bangladesch | bpb.de | 1976 wurde unter dem Dach des damaligen Ministeriums für Arbeitskraft, Entwicklung und Sozialwesen das Büro für Arbeitskräfte, Beschäftigung und Ausbildung (Bureau of Manpower, Employment and Training, BMET) geschaffen. Es sollte sich fortan um den Arbeitskräftebedarf kümmern. 1982 wurde das bis dahin existierende Auswanderungsgesetz aus dem Jahr 1922 durch einen neuen Auswanderungs-Erlass ersetzt, der bis heute den rechtlichen Rahmen für die Anwerbung und Beschäftigung von Arbeitsmigranten aus Bangladesch bildet. Auf der Grundlage dieses Gesetzes schuf die Regierung einen Wohlfahrtsfonds für Arbeitsmigranten. Dieser ist dafür genutzt worden, die Sprachkenntnisse von ausreisenden Arbeitskräften zu verbessern, Informationsschalter für Migranten an Dhakas internationalem Flughafen einzurichten, Arbeitsmigranten in den Aufnahmeländern durch Arbeits-Attachés in den bangladeschischen Botschaften zu unterstützen, die Kosten für die Rückführung der Leichname von Arbeitsmigranten, die im Ausland ihr Leben verloren haben, zu decken und ihre Familien für den Verlust zu entschädigen. 1998 hat Bangladesch das internationale Übereinkommen der Vereinten Nationen "zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen" unterzeichnet, das eines der wichtigsten politischen Instrumente von Entsendeländern bei Verhandlungen mit den Ländern ist, die auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind. 2011 wurde es ratifiziert.
Seit 2002 vergibt die Regierung Lizenzen an Privatpersonen und Agenturen, die Arbeitskräfte ins Ausland vermitteln wollen. Die Regierung kann die Lizenzen aufheben oder aussetzen und die Lizenznehmer bestrafen, wenn diese den vorgeschriebenen Verhaltenskodex nicht einhalten. 2015 waren 900 Personalvermittlungsagenturen registriert. Obwohl die Vermittlungspraxis vieler dieser Agenturen unter dem Verdacht steht, korrupt zu sein und den vorgeschriebenen Verhaltenskodex zu missachten, der eigentlich die Rechte der Arbeitsmigranten schützen soll, hat die Regierung bislang nichts gegen diese Agenturen unternommen.
Eine wichtige Änderung war die Aufhebung von Restriktionen für ungelernte weibliche Arbeitsmigranten im Jahr 2003. 1981 war ein Verbot verhängt worden, wonach gering ausgebildete weibliche Arbeitskräfte nicht ins Ausland migrieren durften. Nur gut ausgebildete Frauen hatten offiziell Zugang zu Beschäftigung im Ausland. Trotz des Verbots migrierten viele ungelernte Frauen in Länder wie Malaysia, um dort beispielsweise als Hausangestellte zu arbeiten. Ihr Status als undokumentierte Migrantin verstärkte jedoch ihre Verletzlichkeit. Das Gesetz spiegelte die geringe Anerkennung von im Ausland arbeiteten Frauen in der Gesellschaft Bangladeschs wider. Seitdem niedrig qualifizierte Frauen offiziell wieder im Ausland arbeiten dürfen, haben sich die Geschlechterzusammensetzung der Arbeitsmigration aus Bangladesch und auch die Einstellungen gegenüber im Ausland arbeitenden Frauen deutlich verändert (Interner Link: siehe den Abschnitt zur Arbeitsmigration).
Die meisten Menschen aus Bangladesch, die im Ausland arbeiten, können nur Tätigkeiten für ungelernte und niedrig qualifizierte Arbeitskräfte ausführen und müssen sich daher mit schlecht bezahlten Stellen – und oftmals ausbeuterischen Arbeitsbedingungen – abfinden (Interner Link: siehe Infobox). Eine "gute Arbeit" – sowohl im Heimatland als auch im Ausland – im Sinne der Anerkennung von Grundrechten am Arbeitsplatz und höherer Einkommen, die es Arbeitnehmern erlauben, die Grundbedürfnisse ihrer Familien zu befriedigen, ist ein Thema, das inzwischen weit oben auf der politischen Agenda internationaler Organisationen steht. Bangladeschs Regierung hat die Notwendigkeit erkannt, seine Arbeitsmigranten besser zu schützen und das (Aus-)Bildungs- und Qualifikationsniveau sowohl der inländischen Arbeitskräfte als auch der Arbeitsmigranten zu verbessern. Das soll den Weg für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Rücküberweisungen ebnen. Ziele sind eine bessere Koordination zwischen und höhere Ausbildungsstandards an den rund 3.000 öffentlichen und privaten Institutionen, die technische und berufliche Bildung und Weiterbildung anbieten. Das Büro für Arbeitskräfte, Beschäftigung und Ausbildung (BMET) unterhält 47 Technische Trainingszentren im Land, die die beruflichen Fertigkeiten bangladeschischer Arbeitskräfte in Branchen verbessern sollen, in denen sowohl national als auch international Fachkräfte gesucht werden. 2011 hat die Regierung zudem eine Wohlfahrtsbank für Migranten (Migrant Welfare Bank) eingerichtet, die mit einem Startkapital von 100 Millionen Bangladeschischen Taka (BDT) ausgestattet ist, um die internationale Arbeitsmigration zu fördern. Die Bank bietet Migranten aus Bangladesch Kredite, damit sie die hohen Arbeitsvermittlungskosten bezahlen können. Zudem will sie die Kosten für Rücküberweisungen senken und diese Geldüberweisungen vereinfachen. Darüber hinaus bietet sie nach Bangladesch zurückgekehrten Migranten und ihren Familien Investitionsdarlehen an.
Im Jahr 2012 unterzeichneten die Regierungen von Bangladesch und Malaysia eine Absichtserklärung (Memorandum of Understanding), um die Entsendung und Aufnahme von Arbeitsmigranten besser zu steuern und Anreize für irreguläre Migration zwischen beiden Ländern abzubauen. Diese Absichtserklärung hat seitdem jedoch nicht zu einer verstärkten Migration qualifizierter Arbeitskräfte aus Bangladesch beigetragen. Stattdessen erreichten irreguläre Migrationsströme auf dem Andamanischen Meer 2014 und 2015 neue Höchststände. 2013 verabschiedete die Regierung Bangladeschs das Gesetz über Beschäftigung im Ausland und Arbeitsmigranten (Overseas Employment and Migrants Act). Dieses soll es Arbeitsmigranten erleichtern, Strafprozesse wegen Täuschung oder Betrug gegen Rekrutierungs-, Visa- und Reiseagenturen sowie Arbeitgeber einzuleiten. Im Rahmen von Zivilprozessen können sie von diesen Akteuren eine Entschädigung einklagen. Trotz zahlreicher Berichte über Betrug durch Arbeitsvermittler und Arbeitgeber, räuberische Erpressung durch Menschenschmuggler – beispielsweise auf der Route nach Malaysia – und unmenschliche Arbeitsbedingungen in zahlreichen Zielländern sind unter diesem Gesetz bislang aber keine Prozesse angestrengt worden.
Tabelle 4: Chronologie der Entwicklung der Migrationsgesetzgebung und der Institutionen, die die Arbeitsmigration aus Bangladesch steuern
Jahr 1976Einrichtung des Büros für Arbeitskräfte, Beschäftigung und Ausbildung (BMET) 1982Ein neuer Auswanderungs-Erlass löste das Auswanderungsgesetz von 1922 ab 1990Einrichtung des Wohlfahrtsfonds für Arbeitsmigranten 1998Unterzeichnung des Internationalen Übereinkommens der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen 2002Die Regierung beginnt mit der Vergabe von Lizenzen zur Rekrutierung von Arbeitskräften für die Beschäftigung im Ausland an Agenturen 2003Die Regierung lockert Beschränkungen für weibliche Arbeitsmigranten 2011Einrichtung der Wohlfahrtsbank für Migranten 2012Absichtserklärung zwischen den Regierungen von Bangladesch und Malaysia zur Entsendung und Aufnahme von Arbeitsmigranten 2013 Verabschiedung des Gesetzes über Beschäftigung im Ausland und Arbeitsmigranten (Overseas Employment and Migrants Act)
Die Abwanderung aus Bangladesch wird oft in Bezug auf die Frage diskutiert, ob es sich dabei für das Land um "Brain-Drain" oder "Brain-Gain" handelt. Auf der einen Seite ist die Abwanderung von gut ausgebildeten und qualifizierten Bangladeschern mit Blick auf das Humankapital (u.a. Fähigkeiten, Knowhow) ein Verlust. Auf der anderen Seite sind die Rücküberweisungen von Migranten ein wichtiger Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt Bangladeschs und damit auch ein Instrument zur Entwicklung des Landes. Zudem gewinnen die Migranten im Ausland an Wissen und Fertigkeiten, die sie im Falle ihrer Rückkehr nach Bangladesch für die Entwicklung des Landes einsetzen können. Die Diaspora-Gemeinschaft wird daher zunehmend auch als eine wichtige Triebfeder für die Entwicklung Bangladeschs betrachtet. Die Mitglieder der Diaspora-Gemeinschaft unterstützen nicht nur ihre Familien und Heimatgemeinden. Viele von ihnen haben auch entscheidende Beiträge in unterschiedlichen Wirtschaftssektoren wie dem Baugewerbe, der Landwirtschaft, der Technologiebranche und dem Bankenwesen geleistet.
Dieser Text ist Teil des Interner Link: Länderprofils Bangladesch.
Rund 1,3 Millionen US-Dollar gemäß Umrechnungsrate Mitte 2011.
Siddiqui (2005), ILO (2014a; 2014b), Siddiqui/Reza (2014), Siddiqui et al. (2015).
ILO (2014c).
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-05T00:00:00 | 2015-11-18T00:00:00 | 2022-01-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/215767/migrationspolitik/ | Bangladesch ist eher ein Auswanderungsland als ein Hauptzielland internationaler Migrationen. Ein migrationspolitischer Rahmen ist daher bislang nur für die Steuerung von Abwanderung geschaffen worden. Der "Export" von Arbeitsmigranten spielt eine wi | [
"Bangladesch",
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"Migrationspolitik",
"Arbeitsmigration",
"Rücküberweisung",
"Bangladesch"
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Keine Meinungsfreiheit ohne ein Klima der Freiheit | Freie Rede | bpb.de | Meinungsfreiheit ist Zumutung, und das muss sie in einem freiheitlichen Staat auch sein. Diese für funktionierende Demokratien grundlegende Erkenntnis stieß noch nie auf ungeteilte Zustimmung. Das liegt daran, dass es sich bei der Meinungsfreiheit um ein besonders herausforderndes Grundrecht handelt, weil es Menschen mit Weltanschauungen konfrontiert, die ihre tiefsten Überzeugungen infrage stellen. Solch unangenehmen Erfahrungen gehen Menschen gerne aus dem Weg – zum Beispiel, indem sie Andersdenkende meiden oder, wenn dies nicht möglich ist, versuchen, deren Meinungsäußerungen zu diskreditieren, um vor sich selbst und anderen rechtfertigen zu können, warum sie sich nicht mit dem Gesagten befassen möchten. Haben Menschen die Macht dazu, unliebsame Meinungen zu unterdrücken und die Verkünder dieser Meinungen zu bestrafen, erfordert es ein erhebliches Maß an Charakterstärke beziehungsweise Respekt für die Freiheitsrechte anderer, um dieser Versuchung zu widerstehen.
Um die freiheitsfeindlichen Folgen dieser psychologischen Disposition zu begrenzen, schützt das Grundgesetz das Recht aller Menschen, ihre Meinungen anderen gegenüber kundzutun. Über diesen Grundrechtsschutz sichert der Staat die kommunikative Selbstbestimmung des Individuums ab, und damit auch die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Wie notwendig dieser Grundrechtsschutz ist, ist in den vergangenen Jahren wieder sichtbarer geworden: Anstatt sich mit den als Zumutung erachteten Argumenten Andersdenkender auseinanderzusetzen, wird zunehmend versucht, die jeweils Andersdenkenden mithilfe von herabwürdigenden Labels aus dem Diskurs auszuschließen. Dabei hängt es von der politischen Richtung ab, welche Labels eingesetzt werden. Auf der rechtsäußeren Seite werden vorzugsweise Labels wie "linksgrün versifft", "Gutmensch" oder "Volksfeind" verwendet; auf der linken Seite zuvörderst "Rassist", "Faschist" oder "Nazi". Das wirft die Frage auf: Warum sollen gerade heutzutage Meinungen zu spezifischen Themen als unerträgliche Zumutungen aus dem Diskurs verbannt werden?
Die genannten Labels zeigen, dass es sich in erster Linie um Themen handelt, an denen sich der Kampf zwischen linker und rechter Identitätspolitik entzündet. Allen voran sind das die Themen Migration und kulturell-religiöse Vielfalt. Aufgrund ihrer gegenwärtig ungleich größeren gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit steht nachfolgend die linke Identitätspolitik im Fokus. Vertreter der linken Identitätspolitik – im Folgenden Identitätslinke genannt – streben eine Gesellschaft an, in der die Gruppen, als deren Fürsprecher sie sich sehen, keinem Sprachgebrauch ausgesetzt sind, den sie als Zumutung empfinden könnten.
Warum Identitätslinke Sprachregelungen nicht nur präferieren, sondern oftmals mit Vehemenz einfordern, ergibt sich aus ihren Zielen. Die beiden miteinander verwobenen Ziele lauten: Empowerment von Gruppen, die zumeist historisch betrachtet Opfer von Ungleichbehandlungen waren (Opfergruppen), und moralische Läuterung der Gruppen, die Identitätslinke für die Ungleichbehandlung verantwortlich machen (Schuldgruppen). Demzufolge hätten beispielsweise kulturell-religiöse Mehrheiten ihre Läuterung gegenüber Minderheiten zu beweisen. Um als geläutert zu gelten, reicht es für Angehörige der kulturell-religiösen Mehrheit nicht, individuell nachweisen zu können, dass sie weder rassistisch noch nationalistisch denken und handeln. Erst wenn alle Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft in keiner Weise mehr ein solches Denken und Handeln erkennen lassen, wird auch jeder Einzelne aus dem Schuldstatus entlassen. Dieses Abhängigkeitsverhältnis ist der Grund dafür, dass Identitätslinke auf der Schuldseite Druck auf alle Mitglieder "ihrer" Schuldgruppe ausüben, um sie zur Aufgabe missliebiger Äußerungen zu bewegen.
Verstärkt wird der Druck von Identitätslinken auf der Opferseite, die wissen, dass ihre gesellschaftliche Relevanz davon abhängt, dass auf der Schuldseite ein Läuterungsbedürfnis besteht. Daher ist der weit fortgeschrittene Abbau von Ungleichbehandlungen für sie ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist jeder Abbau ein Gewinn für sie, andererseits büßen sie dadurch ihre Wirkmächtigkeit ein. Um den Läuterungsdruck aufrechtzuerhalten, werden deshalb immer häufiger Gefühlsverletzungen ins Spiel gebracht. Da jede Gefühlsverletzung den Läuterungsgrad der Schuldseite infrage stellt, achten deren nach Läuterung strebende Mitglieder peinlich genau darauf, dass es nicht zu einer solchen Infragestellung kommt. Gefühlsverletzungen sind zudem eng mit Sprache verknüpft, weshalb Identitätslinke so großen Wert auf einen sensiblen Sprachgebrauch legen. Niemanden verletzen zu wollen, ist ein hehres Anliegen. Die Folgen für ein meinungsoffenes Diskursklima sind jedoch hochproblematisch. Denn: Wer Ungleichbehandlung an Gefühlen festmacht, dehnt die Palette der Tabuthemen ins nahezu Unendliche aus. Dabei gilt: Die Behauptung eines Opfers, dass jemand oder etwas, seine Gefühle verletzt habe, darf nicht hinterfragt werden, da dies zu einer weiteren Gefühlsverletzung führen könnte und so die Läuterung der Schuldseite in Zweifel zöge.
Heutzutage bedarf es für den Vorwurf eines diskriminierenden Sprachgebrauchs nicht mehr Begriffe, die geprägt wurden, um Menschen abzuwerten. Für einen Rassismusvorwurf reicht schon die Verwendung von Begriffen wie "abgehängter Stadtteil" oder "Problemviertel" für sozial schwache Gebiete aus, wenn diese überwiegend von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnt werden. Ob die Bezeichnung "abgehängt" objektiv zutrifft oder nicht, spielt keine Rolle. Relevant für die Einstufung des Sprachgebrauchs als rassistisch ist einzig und allein die emotionale Betroffenheit, die geltend gemacht wird.
Lange sah es so aus, als wären identitätsrechte Positionen, das heißt Positionen, die der kulturell-religiösen Mehrheit grundsätzlich den Vorrang einräumen, im öffentlichen Diskurs allenfalls noch von marginaler Bedeutung. Dass dem nicht mehr so ist, trat in Deutschland spätestens mit der "Flüchtlingskrise" im Herbst 2015 klar zutage. Die Unerbittlichkeit, mit der Identitätslinke gerade in den zurückliegenden Jahren agieren, um Themen zu verschließen und Sprechakte als unerträgliche Zumutungen zu klassifizieren, hat viel mit dem Aufstieg der AfD zu tun. Die Rückkehr identitätsrechter Positionen auf die politische Bühne wird von Identitätslinken als Bedrohung erlebt: auf der Schuldseite im Hinblick darauf, dass der Wählerzuspruch für die AfD Zweifel an der Läuterung der gesamten Schuldgruppe weckt; auf der Opferseite hinsichtlich der – nicht unbegründeten – Sorge, dass ihnen eine gesellschaftliche Schlechterstellung droht. Die Ausgrenzung von Positionen, die nur annäherungsweise mit der AfD in Verbindung gebracht werden könnten, avancierte deshalb zum obersten Gebot. So werden viele, die sich kritisch zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung geäußert haben, mit dem Satz vertraut sein, dass man solche Äußerungen lieber unterlasse, weil man sonst AfD-Positionen stärke.
Offenbar hat der Aufstieg der AfD dem Diskursklima in Deutschland geschadet: sowohl durch Meinungsäußerungen von AfDlern, als auch durch die Mittel, mit denen insbesondere Identitätslinke den Kampf gegen rechts führen. Ob nun durch die Belastung des Diskursklimas die Meinungsfreiheit in Deutschland eingeschränkt oder gar gefährdet sei, darüber scheiden sich die Geister. So haben wir laut Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier "kein Problem mit der Meinungsfreiheit", sondern nur ein "Problem mit unserer Streitkultur". Versteht man unter Meinungsfreiheit, dass es staatlicherseits keine Eingriffe in dieses Grundrecht im Sinne von Strafandrohungen für unliebsame Meinungen gibt, dann ist der Aussage des Bundespräsidenten zuzustimmen. Nur: Wie alle Grundrechte lebt auch die Meinungsfreiheit von Voraussetzungen, die der Staat allein nicht garantieren kann. Zu ihrer vollumfänglichen Verwirklichung ist auch das gleichermaßen freiheitsliebende, mutige und verantwortungsbewusste Individuum erforderlich.
Anders gesagt: Der Staat kann Freiheitsrechte garantieren und schützen, voll entfalten können sie sich aber nur in einem gesellschaftlichen Klima der Freiheit. Und für dieses Klima der Freiheit ist die Zivilgesellschaft maßgeblich verantwortlich. Der Staat kann und muss dieses Klima fördern, erzwingen kann er es jedoch nicht. Er kann, wenn Individuum A durch die Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit Individuum B Schaden zufügt, eingreifen, um B vor A zu schützen. Er kann aber nicht bei jeder sozialen Interaktion einschreiten, bei der A versucht, eine Meinungsäußerung von B moralisch zu diskreditieren beziehungsweise versucht, B aufgrund dieser Meinungsäußerung sozial auszugrenzen. Täte er dies, würde er schnell zu einem freiheitsfeindlichen Interventionsstaat mutieren.
Kurzum: Der freiheitliche Staat lebt davon, dass Menschen einerseits bereit sind, die Freiheit Andersdenkender zu achten, und dass ihnen andererseits die Meinungsfreiheit so viel wert ist, dass sie willens sind, für ihre Überzeugungen einzutreten, auch wenn sie negative Reaktionen zu erwarten haben. Die Wertschätzung der eigenen kommunikativen Selbstbestimmung ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das Hauptinstrument, das zur Unterdrückung unliebsamer Meinungen eingesetzt wird, seine Wirksamkeit verliert. Dieses Hauptinstrument heißt Konformitätsdruck, wobei dieser wirksam nur von Gruppen erzeugt werden kann, die in ihrem sozialen Umfeld über Macht und Einfluss verfügen. Wie bereits 1840 eindrucksvoll von Alexis de Tocqueville in seinem Buch "Über die Demokratie in Amerika" beschrieben, ist soziale Ausgrenzung das wirkmächtigste Mittel zur Erzeugung von Konformitätsdruck. Erreicht wird sie durch das Mittel der Moral, das heißt durch die Einteilung von Meinungen in moralisch gute und schlechte.
Im Frühjahr 2019 gaben fast zwei Drittel der Befragten in einer Allensbach-Umfrage an, dass man heutzutage "sehr aufpassen [müsse], zu welchen Themen man sich wie äußert". Dies betreffe vor allem die Themen Flüchtlinge und Islam. Offensichtlich besteht hauptsächlich bei diesen Themen ein sozial hochwirksamer Konformitätsdruck. Überdies deuten die Befragungsergebnisse darauf hin, dass vielen die Bereitschaft fehlt, den erwarteten Preis für eine öffentliche Meinungsbekundung zu zahlen. Wie bei allen sozialen Interaktionen sind zwei Seiten beteiligt: in diesem Fall eine Seite, die einen Preis für Meinungsäußerungen festsetzt, und eine Seite, die sich diesem Preisdiktat beugt. Solange Menschen sich einem Preisdiktat beugen, funktioniert der von gesellschaftlich diskursmächtigen Gruppen erzeugte Konformitätsdruck. Das wissen natürlich auch diese Gruppen, weshalb sie mit sozialer Ausgrenzung und moralischer Herabsetzung drohen, um ihre Diskursmacht abzusichern. Migration und Islam sind für Identitätslinke zentrale Läuterungsthemen. Deshalb setzen sie alles daran, hier diskursbestimmend zu sein. Der zu diesem Zweck ausgeübte Konformitätsdruck verfehlt, wie die Allensbach-Studie zeigt, seine Wirkung nicht. Das heißt nicht, dass Identitätslinke die Macht haben, jeden zu disziplinieren, der von ihren Dogmen abweicht. Damit der sogenannte chilling effect eintritt, reicht es aus, dass sie in der Lage sind, gelegentlich ein Exempel zu statuieren. Wissen Menschen, dass bestimmte Meinungsäußerungen potenziell mit sozialem Ausschluss, moralischem Reputationsverlust, einem Karriereknick oder gar dem Jobverlust einhergehen können, schalten viele lieber in den Risikovermeidungsmodus.
Durchaus verständlich ist diese Reaktion in Institutionen und Betrieben, wo mithilfe von Hierarchien und Gruppendynamiken dafür gesorgt werden kann, dass Andersdenkende mit Nachteilen – zum Beispiel im Hinblick auf Vertragsverlängerungen, Beurteilungen oder Beförderungen – rechnen müssen. Daneben gibt es aber viele soziale Interaktionssituationen, in denen Individuen außer einem Ansehensverlust beim Gesprächspartner und einer Abkühlung der zwischenmenschlichen Beziehung nichts zu befürchten haben. Nur: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Als solchem ist es ihm nicht gleichgültig, welches moralische Ansehen er bei seinem Gegenüber genießt. Aus diesem Grund versuchen viele, bevor sie anderen gegenüber ihre Meinung kundtun, herauszufinden, woher der moralische Wind weht, und mit welchem Preis sie für eine moralisch "falsche" Meinung in dem für sie maßgeblichen sozialen Umfeld rechnen müssen. Die wichtigsten Orientierungspunkte für die aufgestellte Kosten-Nutzen-Rechnung sind: die veröffentlichte Meinung, die Positionierung diskursstarker Eliten und das direkte soziale Umfeld. Die ersten beiden betreffend, lässt sich feststellen, dass sie vornehmlich beim Thema Fluchtmigration zu identitätslinken Moralvorstellungen tendieren. Ist das direkte soziale Umfeld nicht meinungsoffen beziehungsweise weicht es nicht mehrheitlich von den ersten beiden Orientierungspunkten ab, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Menschen die Kosten einer abweichenden Meinungsäußerung höher einschätzen als den potenziellen Nutzen.
Die Identitätsrechten befinden sich in keiner vergleichbaren gesellschaftlichen Position, aus der heraus sie größere Teile der Bevölkerung aus Sorge vor sozialer Ausgrenzung und moralischer Diskreditierung zum Verstummen bringen können. Den Preis für unliebsame Meinungen treiben aber auch sie hoch, und zwar vor allem durch Beschimpfungen und Bedrohungen von Einzelpersonen, insbesondere von Politikerinnen und Politikern. Identitätslinke und Identitätsrechte betätigen sich also beide bewusst als Preistreiber, um Andersdenkende davon abzuhalten, von ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen. Sie bringen damit diejenigen zum Verstummen, denen der Preis zu hoch ist. Selten sind das Personen, die dem jeweiligen Gegenpol angehören, sondern Menschen in der großen Mitte der Gesellschaft: Menschen, die glauben, dass sie etwas zu verlieren haben.
Woran es in Deutschland mangelt, geht folglich deutlich über "Probleme mit unserer Streitkultur" hinaus, um auf die Diagnose des Bundespräsidenten zurückzukommen. Woran es mangelt, ist ein Klima der Freiheit, welches die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass grundrechtlich garantierte Freiheiten auch in Anspruch genommen werden. Machen viele Menschen von ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Sorge vor dem erwarteten Preis nicht oder nur eingeschränkt Gebrauch, dann ist der Preis eindeutig zu hoch. Dann muss er reduziert werden, damit er nicht das Grundrecht in seinem Gehalt aushöhlt. Zumindest in Bezug auf bestimmte Themen ist eine Preisreduktion offenkundig geboten, damit die Aushöhlung der Meinungsfreiheit nicht weiter voranschreitet.
Hier sind sowohl die Zivilgesellschaft als auch der Staat gefragt. Letzterer muss darauf achten, dass ein Klima der Freiheit besteht. Zu dessen Förderung können seine Amtsträger allein schon dadurch viel beitragen, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen – indem sie selbst davon Abstand nehmen, sozialen und moralischen Druck auf andere auszuüben und Personen, die zu diesem freiheitsfeindlichen Mittel greifen, nicht belohnen. Der Zivilgesellschaft fallen zwei Aufgaben zu: Die eine Seite sollte den Preis reduzieren, die andere den Preis nicht länger leichtfertig akzeptieren. Letzteres erfordert Resilienz, Mut und den Willen, sich nicht bevormunden zu lassen, Ersteres Offenheit und Wertschätzung der Meinungsfreiheit als Grundrecht für alle – und nicht nur für diejenigen mit der "richtigen" Meinung.
Lesen Sie auch die zweite Perspektive von Interner Link: Sabine Hark.
Vgl. Sebastian Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, Paderborn 2013, S. 19.
Vgl. Sandra Kostner, Identitätslinke Läuterungsagenda. Welche Folgen hat sie für Migrationsgesellschaften?, in: dies. (Hrsg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschafften, Stuttgart 2019, S. 17–73.
Vgl. Sandra Kostner, Contra. Streiten mit dem Unterstrich, in: Der Tagesspiegel, 24.11.2019, S. 5.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz am 18. November 2019 in Hamburg, Externer Link: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html.
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/M. 1976.
Vgl. Renate Köcher, Grenzen der Freiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.5.2019, S. 12.
Vgl. John Stuart Mill, On Liberty, Oxford 1991; Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, München 1980.
Vgl. Michael Haller, Die "Flüchtlingskrise" in den Medien, Frankfurt/M. 2017.
| Article | , Sandra Kostner | 2023-01-11T00:00:00 | 2020-03-12T00:00:00 | 2023-01-11T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/306440/keine-meinungsfreiheit-ohne-ein-klima-der-freiheit/ | Meinungsfreiheit ist Zumutung, und das muss sie in einem freiheitlichen Staat auch sein. Diese für funktionierende Demokratien grundlegende Erkenntnis stieß noch nie auf ungeteilte Zustimmung. | [
"Meinungsfreiheit",
"Hate Speech",
"Diskriminierung",
"Gleichberechtigung",
"political correctness",
"Identität",
"Streitkultur",
"Repräsentation"
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Nein, einfach nein | bpb.de |
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Sie sind der Meinung, dass etwas in unserer Gesellschaft schiefläuft? Sie haben es schon immer gesagt, aber es hört ja niemand auf Sie? Sie fühlen sich machtlos, sind erzürnt und unzufrieden? Geben Sie Ihrem Unmut eine bleibende Form! "Nein, einfach nein" bietet Ihnen die Gelegenheit, eine persönliche Meinung über etwas, mit dem Sie unzufrieden sind, in eine Marmortafel zu meißeln. Die Tafeln werden über die Dauer des Festivals ausgestellt und können am Ende von ihren Autor:innen abgeholt werden. Und noch in tausend Jahren, wenn die Tafeln gefunden werden, wird man wissen: Sie waren nicht einverstanden!
Nein, einfach nein
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Künstlerische Leitung: J.F. Schmidt-Colinet Dramaturgische Mitarbeit: ASJA (Sie), Philipp Schulte
Weitere Informationen: Externer Link: www.spacetimerelations.org
Keine Anmeldung erforderlich: Kommen Sie ohne Reservierung einfach vorbei und bringen Sie etwas Zeit mit. Ergreifen Sie einen Meißel und verleihen Sie Ihrem Unmut Gewicht.
Gefördert im Rahmen des "Kulturpaket II: Perspektiven öffnen, Vielfalt sichern"
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-12T00:00:00 | 2022-07-04T00:00:00 | 2022-07-12T00:00:00 | https://www.bpb.de/pift2022/rahmenprogramm/510187/nein-einfach-nein/ | Sie sind der Meinung, dass etwas in unserer Gesellschaft schiefläuft? "Nein, einfach nein" bietet Ihnen die Gelegenheit, eine persönliche Meinung über etwas, mit dem Sie unzufrieden sind, in eine Marmortafel zu meißeln. | [
"Macht des Wortes",
"macht un/zufrieden"
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"Jedem das Seine" - zur Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes | Sprache | bpb.de | Einleitung
Das Ende des Zweiten Weltkriegs markierte nicht nur den politischen und moralischen Zusammenbruch Deutschlands, sondern warf auch die Frage auf, wie mit einer Sprache umzugehen sei, die jahrelang von einer imperialistischen und rassistischen Ideologie geprägt worden war. Zwar wurde nach der NS-Herrschaft durch alliierte Direktiven eine Erneuerung der Sprache in Verwaltung und Medien durchgesetzt, doch in der deutschen Alltagssprache konnte von einer Wiederherstellung lexikalischer Zivilität lange Zeit keine Rede sein. Vielmehr schien das sprachliche Erbe des Dritten Reichs, wie Victor Klemperer 1947 bemerkte, "in manchen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie haben sich so tief eingefressen, dass sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen". Erst seit den 1960er Jahren ist der Frage nach dem öffentlichen Umgang mit sprachlichen Ausdrücken, die seit ihrer Instrumentalisierung im "Dritten Reich" als "belastet" gelten, in der Bundesrepublik breitere Aufmerksamkeit zuteil geworden. Die zunehmende Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das, was die Linguistik als "Weiterverwendungsproblematik" bezeichnet, lässt sich seit 1991 unter anderem an der Wahl von "Unwörtern des Jahres" ablesen, unter denen immer wieder nazistisch konnotierte Ausdrücke auffallen - zum Beispiel "durchrasste Gesellschaft" (1991), "Selektionsrest" (1993) oder "entartet" (2007). Auch die ungewöhnliche Resonanz, die Thorsten Eitz' und Georg Stötzels "Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung" entgegengebracht wurde, signalisiert die aktuelle Relevanz der Problematik.
Insbesondere in den Medien haben sich in dieser Hinsicht eine Reihe Aufsehen erregender Fälle ereignet - etwa jener der Moderatorin Juliane Ziegler, die am 30. Januar 2008 in der Pro7-Quizshow "Nightloft" meinte, einen arbeitsmüden Anrufer mit den Worten "Arbeit macht frei" aufmuntern zu müssen. Ihre Äußerung, mit der Ziegler jene zynische Redewendung zitierte, die über oder an den Eingangstoren der Konzentrationslager Auschwitz I, Groß Rosen, Sachsenhausen, Dachau, Theresienstadt und Flossenbürg angebracht war, wertete der Sender als einen "unentschuldbaren Aussetzer" und kündigte der Moderatorin fristlos. Bereits im Oktober 2007 hatte es in der ZDF-Talkshow "Johannes B. Kerner" einen Eklat gegeben, als der ehemaligen ARD-Nachrichtensprecherin Eva Herman nationalsozialistischer Sprachgebrauch vorgeworfen und sie deshalb schließlich aus der Talkrunde ausgeschlossen wurde. Ihr Rausschmiss führte kurz darauf in der ARD-Fernsehshow "Schmidt & Pocher" zur Aufstellung eines "Nazometers", dessen Witz darin bestand, den Gebrauch belasteter Ausdrücke durch einen Signalton anzuzeigen.
Im Mittelpunkt dieses Artikels steht der Umgang mit einer Formulierung, deren Verwendung seit den späten 1990er Jahren für Aufsehen gesorgt hat. Es geht um die Redewendung "Jedem das Seine", die maßgeblichen Wörterbüchern zufolge soviel bedeutet wie "ein Mensch bekommt den Lohn, der ihm gebührt" oder "jeder soll das haben, was ihm zukommt". Zu kontroversen Reaktionen hat die Weiterverwendung in diesem Fall geführt, weil die Sentenz während des "Dritten Reichs" als Inschrift in das Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald eingeschmiedet war und deshalb als zutiefst belastet gelten muss. Die Nationalsozialisten internierten in der auf dem Ettersberg bei Weimar gelegenen Anlage zwischen Juli 1937 und April 1945 rund 250 000 Häftlinge - darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche - aus über 30 Ländern, vor allem politische Gefangene, Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle sowie sowjetische Soldaten. Über 56 000 Menschen wurden in Buchenwald ermordet oder starben an den Folgen der Haftbedingungen. Ungeachtet dieser Verwendungsgeschichte begann die Werbebranche in den 1990er Jahren damit, "Jedem das Seine" als Reklameslogan für unterschiedliche Produkte einzusetzen. Ab 1998 bedienten sich unter anderem Nokia, Rewe, Microsoft, Burger King, die Deutsche Telekom und die Münchner Merkur-Bank der Sentenz. Im Januar 2009 sorgte die gemeinsame Kampagne von Esso und Tchibo, die an rund 700 Tankstellen mit dem Werbespruch "Jedem den Seinen" die Sortenvielfalt des Kaffeeherstellers anpriesen, für Meldungen in den Medien.
In der Forschung ist seit den späten 1990er Jahren einerseits über die problematische Geschichte des Ausdrucks aufgeklärt und größere Sensibilität bei der Verwendung des "inzwischen missbrauchten Schlagworts" angemahnt worden, andererseits aber auch vehement gegen eine Vermeidung oder Tabuisierung der Sentenz argumentiert worden. Im Unterschied etwa zur Auseinandersetzung mit "Arbeit macht frei" fällt dabei auf, wie wenig Aufmerksamkeit der Buchenwalder Torinschrift bis dato entgegengebracht worden ist. Weder in dem wohl bedeutendsten Nachschlagewerk zur NS-Lexik, in Cornelia Schmitz-Bernings "Vokabular des Nationalsozialismus", noch in der zweifellos wichtigsten Publikation zur Frage der Weiterverwendung, dem bereits erwähnten "Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung", hat die Wendung bislang Beachtung gefunden. Gebrauch von "Jedem das Seine" bis 1945
Anfang 1938 erteilte der Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald, Karl Otto Koch, den Befehl, den Schriftzug "Jedem das Seine" in das eiserne Haupttor der Anlage einzuschmieden. Mit dem typografischen Entwurf der Inschrift wurde der Architekt und Grafiker Franz Ehrlich beauftragt, der 1934 wegen kommunistischer Aktivitäten verhaftet worden war und 1937 nach Buchenwald kam. Ehrlich war Ende der 1920er Jahre Bauhaus-Schüler gewesen und gestaltete den Schriftzug in Anlehnung an seinen Lehrer Joost Schmidt, weshalb später mit Blick auf die Buchstaben von einer "subtilen Intervention gegen den Geist der Inschrift" gesprochen worden ist. Anders als die am Eingang von Auschwitz und anderen KZs angebrachte Sentenz "Arbeit macht frei" wurde die Buchenwalder Inschrift dergestalt in das Tor eingesetzt, dass sie von innen lesbar war. Auf diese Weise hatten die Häftlinge beim Lagerappell tagtäglich jenes Tor vor Augen, "auf dem wir tausendmal die zynischen Worte Jedem das Seine lesen mussten".
Historisch geht die Inschrift auf eine klassische Gerechtigkeitsformel zurück, deren Ursprünge sich bis in die Antike verfolgen lassen. Während der Bedeutungsakzent von "Jedem das Seine" in Platons Hauptwerk "Der Staat" (ca. 370 v. Chr.) und in Ciceros "Von den Pflichten" (44 v. Chr.) primär auf den Pflichten des Bürgers gegenüber dem staatlichen Gemeinwesen lag, wurden 533 n. Chr. im "wohl wirkungsmächtigsten Rechtstext des Abendlandes", in den vom oströmischen Kaiser Justinian I. verfassten "Institutionen", die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat hervorgehoben. Im deutschen Kontext erlangte dieser klassische Rechtsgrundsatz zu Beginn des 18. Jahrhunderts besondere Bedeutung als "Wahlspruch" Preußens, wo er in seiner lateinischen Form suum cuique im Hohen Orden vom Schwarzen Adler zur Geltung kam. Der "Endzweck Unseres Reiches und Ordens", ließ Friedrich I. im Januar 1701 in den Ordensstatuten verlauten, ist es, "Recht und Gerechtigkeit zu üben, und jedweden das Seine zu geben". Zu diesem Zweck habe man im Orden über den Kopf des Adlers "Unsern gewöhnlichen Wahlspruch: Suum Cuique zur Ueberschrift verordnet".
In der Folge war die Sentenz in lateinischer oder deutscher Sprache auch in künstlerischen und wissenschaftlichen Texten präsent. Etwa 1715 im Titel der Bach-Kantate "Nur jedem das Seine", oder in Kants "Metaphysik der Sitten" von 1785, worin jeder Person die "Rechtspflicht" auferlegt wird, sich nur in einer solchen Gesellschaft zu bewegen, "in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue)", damit keiner Person ein Unrecht angetan werde. Goethe assoziiert den Ausdruck 1797 in "Hermann und Dorothea" mit dem Zugewinn an Gerechtigkeit durch die Französische Revolution, und im 19. Jahrhundert verwenden Hegel und Nietzsche die Sentenz in philosophischen Texten im Horizont der klassischen Gerechtigkeitsformel. Karl Marx benutzt in den 1840er Jahren Briefpapier, in welches das Wasserzeichen "Jedem das Seine" eingelassen ist, und Eduard Mörike greift 1861 im Titel eines Gedichts auf die Formulierung zurück, das die leidvollen Gesetzmäßigkeiten der Liebe beschreibt. Das "Deutsche Sprichwörter-Lexikon" von 1880 verzeichnet den Ausdruck als Teil eines Lehrspruchs, der auf die klassische Gerechtigkeitsformel anspielt: "Behaupte das Deine, gib jedem das Seine, doch Unrecht verneine."
Einen eklatanten Bruch mit dieser Bedeutungstradition markierte ab 1938 die Installierung der Inschrift im Haupttor von Buchenwald, in deren Folge "Jedem das Seine" zu einer Todesformel, zu einem "Synonym für Massenmord" mutierte. Dabei lag der Zynismus für die Häftlinge darin, dass ihnen mit diesem "Rechtsspruch" tagtäglich auf dem Appellplatz vor Augen geführt wurde, "dass sie rechtmäßig aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind, dass sie diese Behandlung verdient haben, dass sie keinen Anspruch auf menschenwürdiges Leben haben". Stefan Olivier hat diese Pervertierung der Gerechtigkeitsformel 1961 in seinem Roman "Jedem das Seine" geschildert: "Boysen las den Spruch, er kannte ihn aus der Schule, in der Quinta hatte er ihn auf Lateinisch gelernt - suum cuique - und in der Tertia hatte er gelernt, dass es der Wahlspruch der Preußenkönige gewesen sei, und deshalb hatte er Ehrfurcht davor empfunden. Jedem das Seine, jedem das, was ihm zusteht. Aber was für einen Sinn sollte der Spruch der Preußenkönige hier haben? Stand ihm dies zu? Stand dem alten Juden das zu, was ihm eben geschehen war, der Tod durch einen geschnitzten Holzknüppel?"
In Karl Schnogs Lyrikband "Jedem das Seine" (1947) findet sich ein 1943 in Buchenwald verfasstes Gedicht, worin einerseits das mit der Torinschrift assoziierte Quälen und Morden beschrieben, in der Schlussstrophe aber auch eine Zukunft antizipiert wird, in der sich die Wendung gegen die Urheber ihrer Pervertierung richtet:
Die Herren haben wirklich Humor In diesen bitteren Zeiten: "JEDEM DAS SEINE" steht höhnisch am Tor; Durch das die Häftlinge schreiten. So leuchtet, erhaben und arrogant, Was sie an das Höllentor schmieden. Uns ist auch ohne das Sprüchlein bekannt, Was jedem im Lager beschieden: Dem Häftling - das Stehen in Sonne und Sturm, Erfrieren und klatschende Güsse. Dazu vom todesdrohenden Turm Das ernste Versprechen der Schüsse. Den Henkern - die Ehre, der schmackhafte Schmaus, Das Gleiten auf federnden Felgen; Die Ruhe und das behagliche Haus, Die Wollust, die Macht und das Schwelgen. Dem Häftling - der Hunger, die Angst und die Last, Die Marter, die viehischen Witze; Das Essen, das Baden, das Schlafen in Hast Und schließlich die mordende Spritze. Ihr Herren, die ihr heute noch grient, Glaubt mir, was ich schwörend beteure: Einst holt sich der Häftling, was er verdient. Und Ihr? Ihr bekommt dann das Eure! Von den Betroffenen wurde die Sentenz also als Fingerzeig auf ihre geplante Vernichtung begriffen, wie der Buchenwald-Überlebende Herbert Sandberg, der die Illustrationen zu Schnogs Lyrikband beisteuerte, ebenfalls unterstrichen hat: "Uns den Tod, ihnen den Sieg, so verstanden die barbarischen Schöpfer die schmiedeeiserne Schrift." Weiterverwendung von "Jedem das Seine" seit 1945
Nach der Befreiung am 11. April 1945 verblieb der Schriftzug im Haupttor von Buchenwald. Auch die US-Armee, die in den folgenden Monaten die Verwaltung übernahm, sowie die sowjetische Militäradministration, die im August 1945 an gleicher Stelle das "Speziallager 2" einrichtete, ließen die Inschrift an Ort und Stelle. Unter sowjetischer Leitung wurden bis Anfang 1950 nationalsozialistisch belastete, aber auch willkürlich verhaftete Personen in der Anlage interniert - weit über 28 000 Menschen, von denen mehr als 7000 die Haftzeit nicht überlebten. Von Belang mit Blick auf die Weiterverwendung von "Jedem das Seine" ist, dass sich in beiden deutschen Staaten weder in der Besatzungszeit noch in deren Anfangsjahren ein öffentliches Bewusstsein für die Bedeutung im Zusammenhang mit dem Buchenwalder Terror entwickelte. Stattdessen wurde die Formulierung vorwiegend in einem ahistorisch profanen Sinn benutzt. Im Westen übersetzte "Der Spiegel" 1947 den Hollywoodfilm "To Each His Own", der unter dem Titel "Mutterherz" in die deutschen Kinos kam, mit "Jedem das Seine". In einem ostdeutschen Bericht von 1949 über eine Lesung von Karl Schnog wird mit keinem Wort erwähnt, dass der Titel seines Lyrikbandes ein Zitat der Buchenwalder Torinschrift darstellt. Weiterverwendet wird der Ausdruck ebenfalls im Bedeutungshorizont jener Gerechtigkeitsformel, so dass die lateinische Form in beiden deutschen Staaten als Inschrift an den Decken von Gerichtssälen verbleibt. Als 1955 die Bundeswehr gegründet wird, adaptieren die Feldjäger in Anknüpfung an die Reitenden Feldjäger der Preußischen Armee ein Abzeichen mit der Inschrift suum cuique.
Die Gründe für das mangelnde Bewusstsein vom Zusammenhang mit dem SS-Terror sind in den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der Nachkriegszeit zu suchen. Zum einen blieb die Kenntnis von der Buchenwalder Todesformel zunächst primär auf die Überlebenden und auf jene rund 1000 Weimarer Bürgerinnen und Bürger beschränkt, die nach der Befreiung durch die Anlage geführt wurden. Hanus Burgers Film "Die Todesmühlen", der die Konfrontation der Weimarer Bevölkerung mit den Großverbrechen in ihrer Nachbarschaft dokumentiert und Anfang 1946 eine Woche lang alternativlos in allen Kinos der US-Zone gezeigt wurde, zeigt zwar mehrfach die in Auschwitz und anderen KZs benutzte Torinschrift "Arbeit macht frei", setzt aber die Buchenwalder Sentenz nicht ins Bild. Hinzu kam, dass die Anlage auf dem Ettersberg der Öffentlichkeit jahrelang nicht zugänglich war, weil die Sowjets dort ihr Speziallager betrieben.
Wer sich schon damals ein Bild von der Instrumentalisierung der deutschen Sprache unter der NS-Diktatur verschaffen wollte, hatte allerdings durchaus Gelegenheit dazu. Bereits nach Kriegsende setzte zumindest auf akademischer Ebene eine Weiterverwendungsdiskussion ein. Im Westen stand dabei eine Folge von Artikeln im Mittelpunkt, die Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind in der "Wandlung" publizierten, und die 1957 gesammelt unter dem Titel "Aus dem Wörterbuch des Unmenschen" erschienen. Im Osten kam 1947 der Band "LTI (Lingua Tertii Imperii)" heraus, worin der Holocaust-Überlebende Victor Klemperer als erster den Versuch unternahm, die Hauptmerkmale der NS-Sprache zu umreißen. Dass diese sprachkritischen Reflexionen jahrelang ohne Breitenwirkung blieben, lag sowohl an der vorherrschenden Verdrängungsmentalität als auch am akademischen Zuschnitt der Beiträge.
Erst in den 1960er Jahren, als die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit allmählich auf breiter Ebene Gestalt anzunehmen begann, entwickelte sich in der Bundesrepublik ein öffentliches Bewusstsein für das lexikalische NS-Erbe. In der Linguistik erschienen systematischere Untersuchungen zum Sprachgebrauch im Dritten Reich, etwa Cornelia Bernings "Vom Abstammungsnachweis zum Zuchtwart - Vokabular des Nationalsozialismus" (1964). Sprachkritiker und Linguisten führten eine Debatte über die Spätfolgen des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs, und in der westdeutschen Germanistik wurde der Versuch unternommen, den rhetorischen Konformismus vieler Fachkollegen in der NS-Zeit auszuleuchten. Einen Wendepunkt im Umgang mit der belasteten deutschen Sprache markierte allerdings erst die Revolte von 1968, mit der eine Offensive gegen den "Sprachgebrauch der Herrschenden" einherging, wie sie zum Beispiel Wolfgang Fritz Haug betrieb, indem er die "Sprachverwandtschaft" zwischen der vorherrschenden Wissenschaftssprache und der Sprache der NS-Diktatur aufzeigte. Was die Entwicklung in der DDR betraf, hat Klaus Bochmann hingegen von der "Geschichte eines Defizits" gesprochen, und zwar insofern, als es dort nach 1961 "keine nennenswerte originale Arbeit mehr zur Sprache der NS-Zeit" gegeben habe.
Trotz dieses Wandels hat sich bis heute kein öffentlicher Konsens über den Umgang mit dem lexikalischen NS-Erbe herausgebildet. Während zum Beispiel die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ihre Straßenverkehrsämter 1985 anwies, keine Autokennzeichen mehr mit nazistischen Akronymen wie KZ, SS, SA oder HJ in Umlauf zu bringen, nahm jahrzehntelang niemand am unreflektierten Gebrauch von "Jedem das Seine" Anstoß. So gab die Wendung etwa 1962 den Titel für die deutsche Übersetzung von Louis Bromfields Unterhaltungsroman "McLeod's Folly (You Get What You Give)" ab, und seit den 1970er Jahren wurde an bundesdeutschen Bühnen die Komödie "Jedem das Seine" gespielt, bei deren Titel es sich um eine Übersetzung von Peter Yeldhams und Donald Churchills "Fringe Benefits" handelt.
Gleichwohl entwickelte sich parallel zum unkritischen Gebrauch ab 1958 ein Bewusstsein für die Buchenwalder Pervertierung. Hierbei spielte die Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte am 14. September 1958 offenbar eine wichtige Rolle, weil sie den Ort des Terrors stärker ins nationale und internationale Blickfeld rückte. Von nun an wurde in ostdeutschen Medien kursorisch auf die Todesformel hingewiesen; etwa 1979 aus Anlass einer Gedenkfeier für den 1944 in Buchenwald ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann oder 1981 mit Blick auf eine Ausstellung des belorussischen Malers Michail A. Sawizki, dessen Selbstporträt "Nr. 32815" - seine Häftlingsnummer - den Maler vor der Torinschrift zeigt. Auch in der Bundesrepublik war fortan öffentlich von der zynischen Inschrift die Rede - nicht zuletzt in der Literatur, etwa 1978 in Margarete Hannsmanns "Aufzeichnungen über Buchenwald", worin die Lyrikerin schreibt: "LAGERTOR / jetzt also muss ich den eisernen Buchstaben fest entgegensehen / JEDEM DAS SEINE".
Ein historisch kritischer Umgang begann sich allerdings erst in den späten 1990er Jahren abzuzeichnen, wobei der Auseinandersetzung um Trutz Hardos 1996 erschienenen Roman "Jedem das Seine" eine gewisse Rolle zukommt. Hardo rechtfertigt darin den Holocaust, indem er ihn als Vollstreckung des "Karmagesetzes" interpretiert; im KZ Buchenwald, schreibt der Autor, werde jedem "in konzentrierter Weise das ihm aus karmischer Gesetzmäßigkeit zustehende Schicksal zugewiesen, um seine Verschuldung abzuarbeiten und dadurch frei zu werden." Angesichts derartiger Textstellen verurteilte das Amtsgericht Neuwied Hardo am 4. Mai 1998 wegen "Volksverhetzung in Tateinheit mit Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" zu einer Geldstrafe und untersagte die Weiterverbreitung des Buches. Zwar verursachte das auch in zweiter Instanz bestätigte Urteil kein besonderes Aufsehen, setzte aber insofern ein Zeichen, als es offiziell klarstellte, dass die Legitimierung der Buchenwalder Bedeutung von "Jedem das Seine" in der Bundesrepublik gegen geltendes Recht verstößt.
Den entscheidenden Impuls zugunsten eines historisch kritischen Gebrauchs gaben jedoch die öffentlichen Proteste gegen die Verwendung als Reklamespruch. Im Juni 1998 sah sich Nokia aufgefordert, eine Kampagne für Handy-Gehäuse einzustellen, nachdem Wendy Kloke vom Berliner Büro des American Jewish Committee und Die Grünen dagegen interveniert hatten. Henryk M. Broder nahm die Nokia-Werbung in seinem Sachbuch "Jedem das Seine" (1999) zum Anlass, in 37 ironisch-provokativen Skizzen die Absurditäten im Umgang der Deutschen mit den Juden zu beschreiben. Es folgte der Abbruch einer Grillzubehör-Aktion von Rewe, einer Software-Kampagne von Microsoft sowie 1999 einer Handzettel-Aktion von Burger King. 2001 verhinderten Mitarbeiter der Münchner Merkur-Bank in Weimar und Jena eine Kampagne für Kontoführungsmodelle, nachdem sie bemerkt hatten, dass der dafür verwendete Slogan mit der Buchenwalder Torinschrift in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft identisch ist. Nach einer kritischen Anfrage der "Frankfurter Rundschau" beendeten Esso und Tchibo Anfang 2009 ihre Kaffee-Kampagne vorzeitig. Fazit
Trotz juristischer, journalistischer und akademischer Bemühungen um eine kritische Nutzung von "Jedem das Seine" hat sich bis heute kein öffentlicher Konsens über den Umgang mit der belasteten Wendung etabliert. In der Diskussion über den weiteren Gebrauch stehen sich vielmehr zwei Positionen gegenüber. Für die Gegner ist die Instrumentalisierung als Todesformel das Maß der Dinge, dem sie auch die Jahrtausende alte Bedeutungsgeschichte unterordnen: "das Motto ist verdorben dadurch, dass es das KZ Buchenwald assoziiert." Es sei daher "unmöglich", so Salomon Korn, den Ausdruck zu benutzen, "solange es noch einen einzigen Menschen gebe, der bei der Redewendung an Buchenwald denke".
Befürworter der Weiterverwendung sehen es genau andersherum und ordnen den Missbrauch der zeitübergreifenden Bedeutung unter: "Wer eine Gerechtigkeitsformel, die fast 2500 Jahre alt ist, schon durch die kurzzeitige Pervertierung durch ein Terrorregime als nicht mehr zitierfähig ansieht", argumentiert Dietmar von der Pfordten, "gestattet dessen geistigem Zerstörungswerk fortzuwirken, anstatt offensiv und aufklärend gegen diese Pervertierung vorzugehen."
Für sich genommen wird allerdings keine der beiden Positionen der Sachlage gerecht. Das liegt zum einen daran, dass der Ausdruck sich nicht einfach disqualifizieren lässt, indem man ihn dem rassistischen Radikalwortschatz des "Dritten Reichs" - das heißt Ausdrücken wie "Ariernachweis" oder "Untermensch" - zuordnet. Es liegt zum anderen daran, dass die Sentenz auch nicht jener Kategorie von Ausdrücken angehört, die in den Jahrzehnten nach 1945 eine Art Rehabilitierung erfahren haben - wie etwa "betreuen", das im Umfeld des Konzentrationslagers Theresienstadt "in letzter Konsequenz ein Euphemismus für Morden und Mord" war, nach 1945 aber seinen Blutgeruch rasch verloren hat.
Mit Blick auf die zukünftige Verwendung ist vielmehr ein differenzierender Umgang weiterführend. Legitim ist die Benutzung der lateinischen Form suum cuique, weil es sich dabei um einen in relativ niedriger Frequenz gebrauchten Ausdruck handelt, der seit 1945 praktisch von niemandem mit den NS-Verbrechen assoziiert worden ist. Die Benutzung in der Rechtslehre, in der Geschichtsschreibung über Preußen, in Gerichtssälen oder im Barettabzeichen der Feldjäger kann deshalb nicht in Frage gestellt werden. Nichts einzuwenden ist ebenfalls gegen die deutsche Form in Fällen, in denen es um einen aufklärenden Umgang geht, wie er sich etwa bei Schnog, Olivier oder Broder nachweisen lässt. Eine Tabuisierung wäre hier kontraproduktiv, weil sie die in den Texten geleistete Aufklärung über den Holocaust verhindern würde.
Anders verhält es sich beim apologetischen oder ahistorisch profanen Gebrauch. Hardos Deutung der Buchenwalder Torinschrift ist inakzeptabel, weil sie den KZ-Terror nachträglich legitimiert. Zutiefst fragwürdig ist ebenfalls die unreflektierte Handhabung in der Unterhaltungsindustrie oder der Werbebranche. Sie ist es zum einen, weil sie die Gefühle der Opfer verletzt, und zum anderen, weil sie eine der großen gesellschaftspolitischen Leistungen der Bundesrepublik untergräbt: die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Dieses Projekt, das im Selbstverständnis der Deutschen mittlerweile eine zentrale Position einnimmt, wird nur dann seine Wahrhaftigkeit bewahren, wenn nicht allein Einvernehmen über die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem rassistischen Wertesystem und den Verbrechen des "Dritten Reichs" besteht, sondern es ebenso zu einer Konsensbildung über den angemessenen Umgang mit der lexikalischen Hinterlassenschaft der NS-Diktatur kommt.
Dass in dieser Hinsicht weiterhin beträchtliche Defizite bestehen, lässt sich nicht nur anhand von "Jedem das Seine", sondern bei einer Vielzahl von Wörtern und Wendungen beobachten. Auch der Umgang mit einem Wort wie zum Beispiel "Entartung" gestaltet sich bis heute ausgesprochen heterogen. Während Günter Grass, nachdem er im Frühjahr 2007 die Reaktionen der Presse auf seine frühere SS-Mitgliedschaft als eine "Entartung" des deutschen Journalismus bezeichnete hatte, von den Medien genötigt wurde, die Verwendung des Ausdrucks öffentlich zu widerrufen, hat bislang kein Rezensent den Gebrauch desselben Wortes in Helmut Schmidts Bilanz "Außer Dienst" (2008) beanstandet.
Wie wenig es den Deutschen bislang gelungen ist, einen Konsens über den angemessenen Umgang mit dem Lexikon des Nationalsozialismus herzustellen, wurde an jenem eingangs bereits erwähnten Eklat über Eva Hermans Äußerungen in der Fernseh-Talkshow auf geradezu exemplarische Weise deutlich. Statt sich in einem sachbezogenen Diskurs über den problematischen Gebrauch belasteter Ausdrücke zu verständigen, kulminierte der Disput im Rauswurf einer Teilnehmerin. Um die Behebung derartiger Defizite geht es beim Umgang mit der sprachlichen Hinterlassenschaft der NS-Diktatur. Denn die Glaubwürdigkeit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus insgesamt wird nicht zuletzt auch an dem Maß an diskursiver Zivilität gemessen, das in Deutschland seit 1945 wieder hergestellt werden konnte.
Victor Klemperer, LTI (Lingua Tertii Imperii). Notizbuch eines Philologen, Leipzig 199111, S. 20.
Thorsten Eitz/Georg Stötzel, Wörterbuch der "Vergangenheitsbewältigung". Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, Hildesheim 2007, S. 5.
Siehe www.unwortdesjahres.org (22. 1. 2010).
Vgl. www.rp-online.de/public/article/panorama/deutschland/527721/ (22. 1. 2010).
Herman nahm in der Talkshow ihre Behauptung nicht zurück, eine "gleichgeschaltete Presse" habe einseitig über ihre Entlassung aus dem NDR berichtet, zu der es im Vormonat aufgrund ihrer Äußerungen zur NS-Familienpolitik gekommen war. Ausschnitte aus der Sendung online: www.youtube.com/watch?v= VNodJK6WsIA (22. 1. 2010).
Brockhaus/Wahrig. Deutsches Wörterbuch, Band 3, Wiesbaden 1981, S. 816.
Duden Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, Band 11, Mannheim u.a. 1992, S. 657.
Vgl. Matthias Heyl, Kurzdokumentation zur Formel "Jedem das Seine", hrsg. von der Forschungs- und Arbeitsstelle Erziehung nach/über Auschwitz, 1998, S. 5, online: www.fasena.de/download/dienstleistung/Jedem%20das%20 %20Seine.pdf (22. 1. 2010).
Hermann Klenner, Jedem das Seine, in: Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker (Hrsg.), Schlagwörter und Schlachtrufe. Aus zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte, Band 2, Leipzig 2002, S. 332.
Vgl. Dietmar von der Pfordten, Geschichte der Rechts- und Sozialphilosophie, 2. Vorlesung: Aristoteles (Sommersemester 2009), S. 15, online: www. rechtsphilosophie.uni-goettingen.de/Vorlesung2SS09. pdf (22. 1. 2010).
Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2007.
T. Eitz/G. Stötzel (Anm. 2).
Aus der Vorankündigung der Ausstellung: Franz Ehrlich. Ein Bauhäusler in Widerstand und Konzentrationslager, 2. 8.-11. 10. 2009, Neues Museum Weimar, online: www.buchenwald.de/index.php?p=80 (22. 1. 2010).
Herbert Sandberg, Erinnerst Du Dich noch? Zum 65. Geburtstag von Bruno Apitz, in: Neues Deutschland (ND) vom 28. 4. 1965, S. 9.
D. von der Pfordten (Anm. 10 ), S. 14.
Vgl. Justinian I., Institutionen, in: Okko Behrends u.a., Corpus Iuris Civilis, Heidelberg 1995, S. 1 f.
Statuten des königl. Preuss. Ordens vom schwarzen Adler. Vom 18. Januar 1701, in: Leopold von Zedlitz-Neukirch (Hrsg.), Neues preussisches Adels-Lexicon, Leipzig 1836, S. 73.
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke in zwölf Bänden, Band 8, Frankfurt/M. 1977, S. 344.
Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Briefwechsel bis 1846, Berlin 1975, S. 577.
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.), Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 5, Leipzig 1880, Spalte 295.
Nazi-Parolen, in: Stern vom 20. 8. 1998, S. 17.
Ursula Härtl in einem Brief vom 3. 7. 1998 an Henryk M. Broder, in: Henryk M. Broder, Jedem das Seine, Augsburg 1999, S. 174.
Stefan Olivier (d. i. Reinhard Stalmann), Jedem das Seine, Hamburg 1961, S. 77.
Karl Schnog, Jedem das Seine. Satirische Gedichte, Berlin 1947, S. 54.
H. Sandberg (Anm. 14).
Vgl. 25 Oscars wurden verteilt. Hollywood ehrt seine Primusse, in: Der Spiegel vom 22. 3. 1947, S. 20.
Vgl. Oberhof, in: ND vom 30. 11. 1949, S. 3.
Vgl. hierzu zum Beispiel: Hohe Zuchthausstrafen für B-Mark-Fälscher (sic!), in: ND vom 3. 8. 1949, S. 5.
Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus, Frankfurt/M. 1977, S. 7.
Klaus Bochmann, Die Kritik an der Sprache des Nationalsozialismus. Eine kritische Bestandsaufnahme der in der DDR erschienenen Publikationen, in: Werner Bohleber/Jörg Drews (Hrsg.), "Gift, das du unbewusst eintrinkst ...". Der Nationalsozialismus und die deutsche Sprache, Bielefeld 1991, S. 86 u. 93.
Vgl. In der DDR lebt das Erbe der antifaschistischen Kämpfer, in: ND vom 20. 8. 1979, S. 2.
Vgl. Traugott Stephanowitz, Bewegende Ehrung der Opfer des Faschismus, in: ND vom 27. 6. 1981, S. 13.
Margarete Hannsmann, Aufzeichnungen über Buchenwald, Frankfurt/M. 1978, S. 21.
Trutz Hardo (d. i. Trutz Hardo Hockemeyer), Jedem das Seine. Ein Siebenfarbenroman, Neuwied 1996, S. 200.
Urteilsbegründung des Amtsgerichts Neuwied vom 4. 5. 1998, Aktenzeichen 2101 Js 54963/96 - 12 Ls.
Kurt Scheel, o. T., in: Die Zeit vom 15. 2. 2001, online: www.zeit.de/2001/08/46559 (22. 1. 2010).
Salomon Korn, zit. nach: Andreas Zitzmann, Et tu, Tchibo, in: Frankfurter Rundschau vom 13. 1. 2009, online: www.fr-online.de/top_news/?em_cnt=1658833 (22. 1. 2010).
D. von der Pfordten (Anm. 10), S. 15.
H. G. Adler zit. nach: C. Schmitz-Berning (Anm. 11), S. 93.
| Article | Brunssen, Frank | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32951/jedem-das-seine-zur-aufarbeitung-des-lexikalischen-ns-erbes/ | Noch immer gibt es keinen öffentlichen Konsens über den angemessenen Umgang mit nationalsozialistisch belasteten Ausdrücken. Dies zeigt das Beispiel der im Konzentrationslager Buchenwald pervertierten Redewendung "Jedem das Seine". | [
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M 01.03 Warum ein gutes Klima wichtig ist | KlassenCheckUp! | bpb.de | Schlechtes Wetter – schlechte Stimmung
Ihr kennt das sicherlich auch. Wenn es regnet und kalt ist, schlägt sich das oft auch auf euer Wohlbefinden und die Stimmung nieder. Darunter leiden dann manchmal auch die Leistungsfähigkeit und die Lust, etwas zu lernen oder zu unternehmen. Das Wetter, das Klima beeinflusst also euer seelisches und körperliches Wohlbefinden.
Ähnlich wie die äußerlichen Bedingungen in der Natur euch beeinflussen, hat auch das Klima oder die Stimmung in einer sozialen Gruppe Auswirkungen. Wie beim Wetter sind unsere Stimmungen, Handlungen und Leistungen vom Klima, der gefühlten Atmosphäre in einer Gruppe von Menschen, abhängig. Die Beschaffenheit des sozialen Umfeldes, also das Zusammenwirken und der Umgang mit anderen Menschen, sind entscheidend dafür, ob ihr euch wohlfühlt oder nicht. Das Wetter könnt ihr nicht verändern, das Klima und die Stimmung in eurer Klasse schon.
Das Klassenklima – wie es euch beeinflusst
Neben dem Klima in der Familie oder im Freundeskreis ist für euch auch das Klima in eurer Klasse entscheidend. In der Woche verbringt ihr einen großen Anteil des Tages, den ganzen Vormittag und große Teile des Nachmittags, in der Schule und somit auch in eurer Klasse. Das Klima in einer Klasse wird von dem Verhältnis der Schülerinnen und Schüler untereinander, aber auch von dem Verhältnis von Schülerinnen und Schülern zu den Lehrkräften bestimmt. Wie sich das Klima auf das Wohlbefinden und das Verhalten von Schülerinnen und Schülern auswirkt, haben verschiedene Forscher mit Studien untersucht. Sie wollten beispielsweise wissen, ob das Klassenklima eine positive oder negative Wirkung auf die Leistungen von Schülerinnen und Schülern hat.
Das Klassenklima – wichtig und unwichtig?
In Deutschland leiden schätzungsweise fünf bis zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen an einer Form von Schulangst (vgl. Gehirn&Geist, Ausgabe 10/2007). Schulangst? Mit Schulangst ist nicht ein mal auftretendes Magengrummeln vor einem Physiktest oder die Sorge vor einer Klassenarbeit gemeint, sondern die wiederkehrende starke Angst davor, in die Schule zu gehen. Diese Angst kann sich in ganz verschiedenen Formen äußern: durch körperliche Beschwerden (Bauch- und Kopfschmerzen, Müdigkeit, Erschöpfung), Konzentrations- und Schlafstörungen bis zur totalen Schulverweigerung. Dazu kommen vor allem auch psychische Beschwerden wie Depressionen oder Verhaltensstörungen (Aggression, zwanghaftes Verhalten, Missbrauch von Drogen und Alkohol).
Forscher haben herausgefunden: In Klassen mit einer angenehmen Lern- und Klassenatmosphäre sind die Schülerinnen und Schüler insgesamt zufriedener und zeigen weniger Schulangst. Sie leiden weniger unter Verstimmungen und Schulstress und fühlen sich insgesamt gesünder. Eine gute Klassengemeinschaft hilft also, dafür zu sorgen, dass Jugendliche, wenn vielleicht auch nicht unglaublich gerne, zumindest aber nicht ungern oder mit Angst zur Schule gehen. Andersherum kann eine wenig ausgeprägte Klassengemeinschaft auch negative Folgen haben. Ein Klima, das durch Angst vor Misserfolg und fehlende gegenseitige Rücksichtnahme gekennzeichnet ist, kann zu Blockaden und Verweigerung auf Seiten der Schülerinnen und Schüler führen. Das kann darin gipfeln, dass einzelne Jugendliche nur ungern oder sogar nur mit Angst zur Schule gehen.
Neben einer guten Eingebundenheit in die Familie stellt die Verbundenheit mit der Schule zudem einen entscheidenden Faktor dar, Jugendliche vor risikoreichen Verhaltensweisen, wie exzessiver Alkohol- und- Drogenkonsum, Selbstaggression oder kriminelles Verhalten, zu bewahren.
Schülerinnen und Schüler in Klassen mit einem positiven Klima zeigen auch mehr Lust an Schule und Unterricht. Ein gutes Klassenklima lässt das Interesse an schulspezifischen Themen zunehmen. Es kommt zu einer lernförderlichen fachlichen Interessenbildung. Dabei lassen sich Mädchen – insbesondere im mathematisch-technischen Bereich – stärker als Jungen durch Ermutigung in ihrer Interessenbildung positiv beeinflussen. Man kann also die Hoffnung haben: Ist das Klassenklima gut, ist das Interesse am Unterricht wahrscheinlich höher.
Weniger Störungen – mehr Zeit zum Lernen!
Des Weiteren wirkt sich das Klima auch vorteilhaft auf die Verringerung von Unterrichtsstörungen und Gewalt in der Klasse aus. Ein mieses Klassenklima führt schnell zu Frust bei einzelnen Schülern. Dieser kann sich in Form von Stören im Unterricht oder gar Aggression gegenüber Mitschülern äußern. Und andersherum: Ein geringes Maß an Unterrichtsstörungen und somit verschwendeter Unterrichtszeit kann zu einem erhöhten Anteil "effektiver echter Lernzeit" führen.
Somit hat ein gutes Klima nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die Lehrkräfte positive Konsequenzen. Lehrende unterrichten lieber in Klassen mit einer guten Klassengemeinschaft. Umgekehrt wird eine Lehrkraft, die Freude ausstrahlt, auch von den Schülerinnen und Schülern eher wertgeschätzt. Im besten Fall entsteht Wohlbefinden auf beiden Seiten. Schülerinnen und Schüler wie Lehrkräfte gehen gern in den Unterricht. Der Unterricht verläuft störungsärmer und Lernen wie Unterrichten sind ertragreicher.
Gutes Klima – bessere Leistungen?
Einige der Studien sagen, dass ein gutes Klassenklima zu besseren Leistungen bei den Schülerinnen und Schülern in einer Klasse führt. Schülerinnen und Schüler zeigen demnach bessere Leistungen, wenn das Unterrichtsklima einer Klasse von Freundlichkeit, gegenseitiger Unterstützung und gutem Klassenraummanagement geprägt ist. Andere Studien sagen, dass andere Faktoren (soziale Herkunft, Motivation, Struktur des Unterrichts) eine sehr viel größere Rolle für das Erzielen von guten Leistungen spielen. Gutes Klassenklima bleibt ein Faktor von vielen. Dass in einer Klasse mit gutem Klima also automatisch immer bessere Leistungen erbracht werden, kann so ohne weiteres nicht behauptet werden.
Literatur:
Dreesmann, H.: Unterrichtsklima. Weinheim: Beltz 1982. Eder, Ferdinand: Unterrichtsklima und Unterrichtsqualität. In: Unterrichtswissenschaft, 30. Jg., H. 3/2002, S. 213–228. Eder, F.: Schul- und Klassenklima. In: Rost, D. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz 2006. Meyer, H. und H. Bülter (2006): Was ist ein lernförderliches Klima? Voraussetzungen und Wirkungen. In: BLZ 05/2006. Externer Link: Online-Zugriff Gruehn, S.: Unterricht und schulisches Lernen. Schüler als Quellen der Unterrichtsbeschreibung. Münster: Waxmann 2000.
Arbeitsauftrag:
Lies den Text genau durch und markiere Gründe, die aufzeigen, warum ein gutes Klassenklima wichtig ist. Erstelle auf Basis deiner Markierungen ein Schaubild, welches die Gründe veranschaulicht.
Methode:
Text in ein Schaubild umwandeln | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-09-21T00:00:00 | 2011-12-06T00:00:00 | 2021-09-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/klassencheckup/46322/m-01-03-warum-ein-gutes-klima-wichtig-ist/ | Der Text informiert über Wirkungen des Klassenklimas und beantwortet die Frage, warum es wichtig ist, sich mit dem Klassenklima zu beschäftigen und daran zu arbeiten. Während zunächst das Wort 'Klassenklima' erörtert wird, geht es in den nächsten Abs | [
"Grafstat",
"KlassenCheckUp",
"Verhaltensregel",
"Gemeinschaft"
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Idealismus und Selbstausbeutung | Lokaljournalismus | bpb.de | "Viele Chefredakteure wissen gar nicht, worüber wir reden. Wir recherchieren doch alle, sagen sie. Doch die meisten verstehen darunter, dass sie ohne Hilfe der Sekretärin eine Telefonnummer finden." Das provozierende Zitat Hans Leyendeckers, des Ressortleiters für investigative Recherche der Süddeutschen Zeitung, bringt das Dilemma auf den Punkt. Denn tatsächlich arbeitet jeder Journalist nach dem Prinzip: erst recherchieren, dann publizieren. Wie aber sieht Recherche im Lokalredaktionsalltag aus?
In Lokalredaktionen erschöpft sich die sogenannte Recherche häufig darin, etwa bei der Polizei nochmal nachzufragen, ob der beim Verkehrsunfall am Vorabend lebensgefährlich Verletzte noch am Leben ist. Oder darin, nach der Pressekonferenz, auf der der Bürgermeister die Erfolge seiner Sparpolitik verkündet hat, bei der Opposition deren Meinung zu diesen "Erfolgen" nachzufragen. Und selbst derlei "Schnellrecherchen" unterbleiben im stressigen Redaktionsalltag allzu oft.
Welcher Lokaljournalist hat schon die Zeit zu ergründen, ob sich vielleicht an einer jüngst für viele Millionen Euro umgebauten Straßenkreuzung seither die schweren Verkehrsunfälle häufen? Interner Link: Welcher Lokaljournalist wühlt tief genug in dem ebenso trockenen wie komplizierten Zahlenwerk des Kommunalhaushalts, um vermeintliche Sparerfolge als Buchhaltertricks zu entlarven? Genau das aber ist Recherche. Recherche ist kritisch, Recherche deckt Missstände auf.
Die Presse genießt Privilegien, sie hat besondere Auskunftsrechte, besondere Auskunftsverweigerungsrechte und vieles mehr, doch sie verdient ihre Privilegien nicht, indem sie verständlicher formuliert, was Behörden, Politiker und Lobbyisten verlautbaren. Sie verdient ihre Privilegien auch nicht, indem sie unterhaltsame Reportagen oder serviceorientierte Restaurant- und Kinokritiken publiziert. Sie verdient ihre Privilegien vielmehr, indem sie Behörden, Politikern und Lobbyisten ganz genau auf die Finger schaut, mithin die Mächtigen kontrolliert und kritisiert. Anders formuliert: Sie verdient ihre Privilegien nur, weil und so lange sie über unsere Demokratie wacht.
Warum recherchieren Lokalredakteure zu wenig?
Arbeitsüberlastung und damit einhergehender Zeitmangel sind die Gründe, die für das weitgehend unbestrittene Recherchedefizit in Lokalredaktionen genannt werden. Vollkommen zu Recht: Neben Recherchieren und Schreiben haben Lokalredakteure jede Menge weiterer Aufgaben. Sie verwalten und vergeben Termine, redigieren Texte freier Mitarbeiter und Volontäre, suchen Fotos aus, formulieren Überschriften, verhandeln mit Blattmachern über Textlängen, schreiben Vorabmeldungen für den Online-Auftritt ihres Blattes, telefonieren mit unzufriedenen Lesern… Und das alles vor dem Hintergrund, dass aufgrund des Konkurrenzdrucks durch Online-Medien Redakteursstellen eingespart werden. So verdichtet sich die Arbeit für die Redakteure weiter.
Wer im Lokalen investigativ recherchieren und Missstände aufdecken will, braucht Idealismus – um es positiv auszudrücken. Negativ formuliert muss er bereit sein, sich selbst auszubeuten. Zudem braucht er starke Nerven und ein breites Rückgrat, weil die Mächtigen kritische Berichte und ihre Verfasser nicht mögen. Leider stört das einige (zum Glück nicht alle) Kollegen, die keine Lust haben, sich bei Ansprechpartnern, mit denen sie regelmäßig zu tun haben, für kritische Berichte zu "rechtfertigen", sie möchten von diesen lieber gelobt und wertgeschätzt werden. Solche Kollegen belegen leider, was schon Kurt Tucholsky wusste: "Der deutsche Journalist braucht nicht bestochen zu werden – er ist stolz, eingeladen zu sein, er ist schon zufrieden, wie eine Macht behandelt zu werden."
Idealismus und Rückgrat allein reichen aber nicht. Der Rechercheur im Lokalen braucht Kollegen, die ihm im Tagesgeschäft mal den Rücken freihalten, wenn er dicke Bretter bohren und hinter die Kulissen schauen will. Er braucht einen Chefredakteur und einen Verleger, die hinter ihm stehen – und hinter ihm stehen bleiben, wenn der Bürgermeister, der mit ihnen vielleicht im selben Golfclub spielt, nach einem kritischen Bericht demonstrativ zu grüßen vergisst.
Eigenständige Rechercheressorts machen Sinn, weil sie unabhängig von der tagesaktuellen Produktion arbeiten und damit nicht dem täglichen Entscheidungsdruck ausgesetzt sind, ob sie ihr dickes Brett weiter bohren oder doch lieber die "schnelle Geschichte" oder den "knackigen Kurzkommentar" für die morgige Ausgabe verfassen sollen. Trotz Eigenständigkeit müssen Rechercheressorts eng mit den übrigen Ressorts zusammenarbeiten.
Rechercheure brauchen ihre tagesaktuell arbeitenden Kollegen fachlich: Der Kollege im Politikressort hat vielleicht die private Handynummer des gerade nicht erreichbaren Staatssekretärs; und der Kollege im Lokalressort kann beurteilen, ob sich ein Hintergrundgespräch mit dem Baudezernenten lohnen könnte. Rechercheure brauchen ihre Kollegen als Verstärkung: Wenn sie tatsächlich ein "großes Ding" ausgegraben haben, reichen die personellen Kapazitäten des Ressorts (das selbst bei der überregionalen Süddeutschen Zeitung nur dreieinhalb Stellen umfasst) nicht für Bericht- und Folgeberichterstattung. Umgekehrt können Rechercheure ihren Kollegen helfen -mit vielerlei "Service": Sie wissen beispielsweise, ob das Grundbuchamt eine Akteneinsicht zu Recht verwehrt hat; sie können sagen, wie lange man dem vermutlich bestochenen Ratsherrn Zeit zur Stellungnahme geben muss. Die Zusammenarbeit muss nicht auf das eigene Haus beschränkt bleiben, auch medienübergreifend lassen sich Recherchekapazitäten bündeln und optimieren. Dabei gilt es allerdings häufig, Konkurrenzdenken zu überwinden. Daher bieten sich für solche Kooperationen verschiedenartige Medien wie Print plus Rundfunk, Magazin plus Tageszeitung oder überregionale Zeitung plus Regionalzeitung an. So hat der Weser-Kurier vor der niedersächsischen Landtagswahl Anfang 2008 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk die Broschüre "Rechtsabbieger. Die unterschätzte Gefahr: Neonazis in Niedersachsen" herausgegeben und flächendeckend an den weiterführenden Schulen des Landes verteilen lassen.
Was hilft gegen den Recherchemangel?
Bisher galt investigative Recherche als Domäne weniger Nachrichten- und TV-Politmagazine – wie Spiegel oder Monitor. Seit einigen Jahren denken jedoch immer mehr Journalisten – und glücklicherweise auch ihre Chefredaktionen und Verlagsleitungen – darüber nach, wie sie die Interner Link: Qualität ihrer Berichte verbessern können. Die Branche beginnt, investigative Recherche zu schätzen und sie sich zu "leisten". Eine ganze Reihe von Redaktionen wie die der Süddeutschen Zeitung oder die Welt haben eigenständige Ressorts für Recherche gegründet. Auch die taz und Die Zeit kündigte Ende 2011 an, solche Ressorts einzurichten. Für die Blätter der WAZ-Mediengruppe arbeitet bereits seit 2009 ein Team aus Redakteuren und Reportern investigativ. Dennoch sind solche Ressorts in den Redaktionen von Lokal- und Regionalzeitungen noch die große Ausnahme.
Für diese Ressorts sind Redakteure gefragt, die sich intensiv mit Möglichkeiten, Instrumenten und Techniken der Recherche beschäftigt haben. Das ist keine Banalität, denn an solchen Redakteuren herrscht in den Redaktionen von Lokal- und Regionalzeitungen (noch) großer Mangel. Ursache ist, dass Recherche in der Journalistenausbildung zu wenig bis gar nicht gelehrt wird. So wird in manchem vierwöchigen Kursus für Redaktionsvolontäre der Recherche ein einziger Tag gewidmet, während das Verfassen einer unterhaltsam zu lesenden Reportage an drei Tagen geübt wird. Und im Redaktionsalltag der Volontäre findet Recherche aus den genannten Gründen ebenfalls kaum statt.
Der Bremer Weser-Kurier hat daher 2010 ein Pilotprojekt gestartet und ein eigenständige Ressort Recherche und Ausbildung gegründet. Er ist damit eine der ganz wenigen Regionalzeitungen mit einem eigenständigen Rechercheressort und macht Recherche zugleich zu einem wichtigen Teil der journalistischen Ausbildung. Die ersten Erfahrungen sind gut. Die Nachwuchsjournalisten erleben als positiv, sich "mehr als einen halben Tag lang" eines (komplexen) Themas annehmen zu können. Selbst Volontäre, die ihre Vorliebe bislang eher in unterhaltsamen "Erzählstücken" sahen, "beißen sich fest", hinterfragen kritisch, provozieren (und freuen sich am) Widerspruch – und legen ihre "Ehrfurcht" vor Amt- und Würdenträgern ab. Letzteres ist nicht weniger als die Grundlage für kritischen Journalismus.
Warum brauchen Lokalzeitungen mehr Recherche?
Politiker und Wissenschaftler beklagen seit Jahren, dass immer weniger Bürger sich für Politik interessieren und die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung wächst. Genau darin liegt eine große, wenn nicht die größte Gefahr für unsere Demokratie. Und über genau diese hat die Presse zu wachen.
Gegenüber den wenigen überregionalen Politmagazinen in Print und Fernsehen, die vor allem von Menschen wahrgenommen werden, die ohnehin politisch interessiert sind, haben Regional- und Lokalblätter mindestens zwei Vorteile: Sie erreichen die meisten Bürger und sie verfügen über lokale Kompetenz. In den Lokal- und Regionalredaktionen weiß man, dass der Bürgermeister der Schwager von Bauunternehmer X ist, der auffallend viele Aufträge von der Kommune erhält, oder dass Nachbarn in der Kneipe X stadtbekannte Neonazis ein- und ausgehen sehen. Derlei Wissen haben Lokal- und Regionalzeitungen überregionalen Medien voraus, und dieses Wissen müssen sie viel mehr nutzen, als sie es bisher tun. Nicht nur, um ihrer Wächterfunktion gerecht zu werden, sondern auch aus purem Eigennutz – um ihre Existenz zu sichern. Die Zukunft der Lokal- und Regionalzeitung steht und fällt mit der Qualität ihrer Berichte.
Weiterführende Links
Externer Link: http://www.netzwerkrecherche.de/ Externer Link: http://www.anstageslicht.de | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-12-17T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/lokaljournalismus/151777/idealismus-und-selbstausbeutung/ | In den letzten Jahren haben auch Lokalzeitungen eigene Rechercheressorts eingerichtet. Dennoch bleiben investigative Recherchen hier eher die Ausnahme, „Schnellrecherchen“ die Regel. Wie ist dieses Defizit zu erklären – und zu verhindern? Ein Einblic | [
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Good Governance gegen Armut und Staatsversagen | Zerfallende Staaten | bpb.de | Einleitung
Die neu entfachte Diskussion über die Rolle des Staates und die Förderung von Demokratie und Menschenrechten als eigenständige Ziele haben in der sechsten UN-Entwicklungsdekade die politische Dimension von Entwicklung in den Mittelpunkt gerückt. Mit dem Scheitern der großen Theorien (Modernisierungs- und Dependenztheorien) offenbarte sich, dass die Probleme weder Modernisierungsrückständen, noch ausschließlich dem Weltwirtschaftssystem anzulasten waren. Auf die Fragen, warum sich bestimmte Länder entwickeln und andere nicht, was Entwicklungsgesellschaften zusammenhält und was zum Auseinanderbrechen von Staaten führt, gab es keine allgemeingültigen Antworten.
Vor allem erwies sich die Vorstellung, dass sich Armut automatisch durch Wirtschaftswachstum beseitigen lasse, als falsch. Wachstum kann sogar zur Verschärfung von sozialen Ungleichgewichten beitragen, insbesondere in Ländern, in denen Arme keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Land, Kapital, sozialen Grunddiensten und zur Infrastruktur haben. Die Formel des Washington Consensus, dass Liberalisierung der Märkte, Privatisierung und makroökonomische Stabilität hinreichende Voraussetzungen für sozioökonomische Wohlfahrt seien, erwies sich als unzureichend. Mit dem Washington Consensus ist die Strategie von "Weniger Staat ist mehr" gescheitert. Heute besteht allgemeiner Konsens darüber, dass es ohne "gute" Politik und öffentliche Institutionen einschließlich der Demokratisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse keine nachhaltigen Problemlösungen geben kann. So entwickelte sich Good Governance zu einem internationalen Referenzkonzept der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Im Jahr 2005 finden herausragende entwicklungspolitische Ereignisse statt, die der Beseitigung der Armut, der Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Good Governance höchste Priorität einräumen. Hierzu zählt der "Millennium + 5-Gipfel" in New York (September 2005), der die Strategien zur Erreichung der acht Millenniumsziele auf den Prüfstand stellt. Die zu Grunde liegende Millenniumserklärung erkennt Good Governance zur Erreichung der Millenniumsziele explizit an: "Das Recht der Menschen, in Würde und Freiheit - von Hunger, Furcht vor Gewalt, Unterdrückung oder Ungerechtigkeit - zu leben, wird am besten durch eine demokratische Regierungsführung auf der Grundlage des Willens des Volkes gewährleistet." Noch immer ist Armut eine der Hauptbedrohungen der Menschenrechte. Richtungweisend ist der Bericht des UN-Generalsekretärs zur Vorbereitung auf den Millennium + 5-Gipfel: "In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle." Explizit greift er auf die Präambel der UN-Charta zurück und erklärt Schutz, Förderung und Gewährleistung der universellen Werte der Herrschaft des Rechts, der Menschenrechte und der Demokratie zu selbständigen Zielen.
Wichtige Auswirkungen in diesem Kontext gehen ebenfalls von dem Prozess zur Harmonisierung von Verfahren und Vorgehensweisen in der EZ aus, der mit der Paris Declaration on Aid Effectiveness des DAC High Level Meetings (HLM) ein hohes Maß an Verbindlichkeit erreicht hat (März 2005). Die Mitglieder haben ihre Entschlossenheit bekräftigt, die nationale Eigenverantwortung durch die aktive Rolle der Partnerregierungen (country ownership) und Integration externer Mittel und Instrumente in nationale Prioritäten, Prozesse und Systeme (alignment) zu stärken. Beide Ziele sind mit effizienten und transparenten öffentlichen Institutionen (Finanz-, Haushaltspolitik), Reformprioritäten sowie armutsorientierten Strategien verknüpft. Ohne diese Voraussetzungen können die internationalen Bemühungen, Mittel für den Haushalt der Partnerregierungen zu vergeben, nicht erfolgreich sein. Ziel ist, Wirksamkeit und Kohärenz von EZ durch stärkere Koordinierung und effiziente Verknüpfung von bi- und multilateraler sowie europäischer Hilfe zu erhöhen sowie den Aufbau von kostspieligen administrativen Parallelstrukturen (Transaktionskosten) zu vermeiden.
Die gemischte Bilanz der EZ im Hinblick auf ihre Wirksamkeit führte dazu, dass den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen in den Kooperationsländern stärkere Aufmerksamkeit gewidmet wird. In der Debatte um die politische Dimension von Entwicklung wurde der Begriff der so genannten "poor performers" geprägt; ein Begriff, der sich auf die schwache Handlungs- und Funktionsfähigkeit eines Staates bezieht, wobei diese mit Ressourcenarmut des jeweiligen Landes oder Reformunwilligkeit von Eliten zusammenhängen kann. Trotz Finanztransfers und Beratungsleistungen waren in vielen Fällen nur sehr moderate Fortschritte festzustellen - teilweise verschlechterten sich sogar die Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit. So war und ist in vielen Entwicklungs- und Transformationsländern das politische System von Klientelismus und Patronage geprägt. Politische Eliten streben nach eigener Herrschaftssicherung und bedienen die Interessen der eigenen Klientel. Damit werden Effektivität, Effizienz staatlichen Handelns und Gemeinwohlorientierung Partikularinteressen nachgeordnet - unter diesen Bedingungen konnte und kann EZ wenig bewirken. Good Governance und Individuum
Vor dem dargestellten Hintergrund gibt es kaum einen bi- oder multilateralen Geber, der nicht "Good Governance" fordert und fördert. Die Schwäche staatlicher Institutionen, allgemeines Staatsversagen und Staatsverfall haben den bekannten amerikanischen Wissenschaftler Francis Fukuyama zu seiner Publikation "State building" veranlasst. Für den Autor sind Aufbau und Stärkung öffentlicher Institutionen strategisch bedeutender als die einseitige Fokussierung auf Dienstleistungen, Infrastruktur oder andere Governance-Leistungen. Ein normativ geprägtes Verständnis von "Governance" bezieht sich auf die Art und Weise, wie politische Entscheidungen getroffen, Politik formuliert und implementiert werden. Governance beschreibt eben nicht nur staatliches Handeln, sondern politische Prozesse, die von der Zivilgesellschaft und dem Privatsektor mitgestaltet werden. Hierzu zählen auch (kollektive) Selbsthilfepotenziale der Bevölkerung, die im Rahmen von traditionellen und informellen Strukturen zur Entfaltung gelangen bzw. subsidiär zur Erfüllung von Bedürfnissen und Interessen durch den Staat mobilisiert werden können. In Erweiterung von Ansätzen, die Effizienz und Effektivität der öffentlichen Verwaltung wie staatliche Managementkapazitäten in den Vordergrund stellen, liegt diesem umfassenderen Verständnis von Good Governance das Leitbild eines demokratischen Rechtstaates zu Grunde, basierend auf dem Recht eines jeden Menschen, Rechte zu haben (individuelle und kollektive Menschenrechte) und über öffentliche Angelegenheiten mitbestimmen zu können - ohne Ansehen von Geschlechts-, sozialer, ethnischer, kultureller und religiöser Zugehörigkeit. Auch werden Menschenrechte weiterentwickelt und durch Grundsatzdokumente präzisiert, wie das Recht auf Bildung und Gesundheit. "Gut" bezieht sich auf die Qualität von Prozessen und Institutionen sowie den verantwortungsvollen Einsatz von Macht und Ressourcen für die Bereitstellung/Sicherung öffentlicher Güter und Dienstleistungen für eine nachhaltige Entwicklung, die allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt. Grundsätzlich müssen Institutionen und Organisationen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben transparent, effizient, rechenschaftspflichtig, unabhängig von politischer Einflussnahme und frei von Korruption sein. Für die Bewertung der Qualität von staatlichen Institutionen und der damit verbundenen Legitimität des öffentlichen Sektors gibt es zentrale Orientierungspunkte (benchmarks), die zugleich Handlungsfelder der EZ im Sinne der Förderung von personeller, institutioneller und gesellschaftlicher Kapazität sind:
Achtung, Schutz und Gewährleistung der Menschenrechte;Rechtsbindung staatlichen Handelns;Festlegung von Rechenschaftspflichtigkeit;Transparenz und Kontrolle des öffentlichen Sektors;Garantie politischer Teilhaberechte der Zivilgesellschaft;Geschlechtergleichheit und gender mainstreaming;Förderung des sozialen Zusammenhalts und staatsbürgerliche Integration aller Bevölkerungs- und Volksgruppen;Konsensorientierung bei demokratischen Bedingungen und Verfahren;Gemeinwohlorientierung und Armutsminderung;Sicherung von makroökonomischer Stabilität, eines breitenwirksamen (pro-poor growth), ökologisch nachhaltigen Wachstums;Effizienz und Qualität öffentlicher Dienstleistungen und beim Schutz öffentlicher Güter;Prävention von Krisen und Konflikten (Dialogforen);gewaltfreie Lösung von Krisen und Konflikten - auch mit Nachbarstaaten sowieErfüllung internationaler Verpflichtungen (regionale und internationale Strukturpolitik).
Für Bürgerinnen und Bürger ist ein funktionierender demokratischer Staat dadurch erfahrbar, dass sie in der Öffentlichkeit und Privatsphäre vor Gewalt, Willkür, gewalttätigen Konflikten und Kriegen geschützt sind, ein menschenwürdiges Dasein führen, Zugang zu Trinkwasser haben, Kinder nicht an heilbaren Krankheiten sterben, Mädchen und Jungen zur Schule gehen, Frauen und Männer gleiche Rechte und Chancen haben, Regierungen mit Zustimmung der Bevölkerung an der Macht sind, Menschen das Recht haben, sich zu organisieren und an politischen Meinungs- und Entscheidungsprozessen mitzuwirken, die Presse frei und unabhängig berichten kann. Wenn dem so ist, kann von einer hohen Legitimität, Funktions- und Leistungsfähigkeit des Staates gesprochen werden - eben von Good Governance. Gemeint ist damit nicht nur Staatsführung im engeren Sinne, sondern die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft und die Übernahme von Verantwortung für formale und informelle Regeln: "Governance refers to the formation and stewardship of the formal and informal rules that regulate public realm, the area in which state as well as economic and societal actors interact to make decisions." Die Frage ist, welche handlungsleitenden Prinzipien und Erkenntnisse für die EZ in diesem Kontext zu beachten sind.
Demokratische Institutionen betrachten Menschen als Träger von Rechten: Die Qualität staatlicher Institutionen kann aus verschiedenen Perspektiven höchst unterschiedlich bewertet werden. Der Staat definiert auf der Grundlage seines Gewaltmonopols Normen, Regeln, Gesetze und verteilt damit Rechte, Freiheiten sowie Rollen der gesellschaftlichen Mitglieder. Gleichzeitig ist er mit der Ausübung allgemeinverbindlicher Steuerungs-, Regulierungs- und Koordinierungsfunktionen betraut und mit Sanktionsmitteln zur Durchsetzung der nach festgelegten Regeln getroffenen Entscheidungen ausgestattet. In welcher Art und Weise er dies tut und welche Ziele er hierbei verfolgt, hat für die Menschen praktische Konsequenzen. Ein Staat mit monokulturellem Charakter repräsentiert nur Teile einer ethnisch-kulturell heterogenen Bevölkerung und erzeugt direkte und indirekte Formen von Diskriminierung; ein patriarchaler Staat erzeugt Geschlechterungleichheit, ein klientelistischer Staat verstärkt die soziale Ungleichheit und Armut. Demokratische Institutionen hingegen betrachten Frauen und Männer aller Volksgruppen als Träger individueller und kollektiver Menschenrechte. In dem Maße, in dem es Staat und öffentlichen Institutionen gelingt, ethnisch-kulturelle Vielfalt und Geschlechtergleichheit wirkungsvoll zu verankern, werden Menschenrechte gestärkt und Konflikte gemindert.
Für "state building" gibt es keine Blaupausen. Vor allem führt das "Wie im Westen - so auf Erden" (Wolfgang Sachs) zu keinen nachhaltigen Lösungen. Bei Reform und Wiederaufbau des Staates wurden oft "westliche" Modelle und Standards zu Grunde gelegt. Diese können jedoch nur mäßigen Erfolg in Gesellschaften mit einer anderen Geschichte und Kultur haben. Oftmals ist der moderne Staat, so wie er in der westlichen Welt verstanden wird, in weiten Teilen einzelner Länder de facto nicht präsent oder bleibt ein nicht funktionierender Fremdkörper. Die Durchsetzung hierarchischer Zentralstaaten hat in vielen Fällen zu sozialen Desintegrationsprozessen geführt und die ungleiche Verteilung von Einkommen und Zugang zu Dienstleistungen nicht verändert. Die Landbevölkerung hat oftmals keinen Zugang zu den sozialen Grunddiensten des Staates (Gesundheit, Bildung, Justiz, Infrastruktur). Dies bedeutet jedoch nicht, dass es herrschaftsfreie Räume und ein Machtvakuum gibt.
Der Aufbau des Staates hängt in starkem Maße von historischen, politischen, ökonomischen und soziokulturellen Faktoren eines jeweiligen Landes ab. Öffentliche Institutionen verändern sich, werden reformiert und neu geschaffen, sodass "state building" auch immer "work in progress" ist. Beispielhaft hierfür steht die neue öffentliche Institutionalität, die Frauenorganisationen in den vergangenen 30 Jahren weltweit erstritten haben, um geschlechterspezifische Diskriminierung und Gewalt abzubauen und Frauen den gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen sowie politischen Ämtern zu sichern. Dazu zählen Frauenministerien, nationale Beiräte für Geschlechtergleichheit, Einheiten für gender mainstreaming in Sektorinstitutionen, Frauenbeauftragte und Frauenkommissariate bei der Polizei. Ähnliches trifft auch auf andere Bereiche zu (Menschenrechte, Armut, Umwelt, Handel), wobei sich in diesen Bereichen internationale Normbildungsprozesse und Vernetzung und völkerrechtlich verbindliche Abkommen dynamisierend auswirken. Heute existieren auch mehr Institutionen, welche die Macht des Staates eingrenzen und kontrollieren: Rechnungshöfe, Ombudsstellen, Korruptionskontrollstellen, "Watchdog-" Organisationen der Zivilgesellschaft (z.B. Initiativen zur Kontrolle der Fiskalpolitik u.a. in Ecuador) und Organisationen für politische Teilhabe (partizipative Haushaltsplanungsinitiativen in Lateinamerika).
Koordinierung und Zusammenarbeit mit traditionellen/informellen Systemen: In vielen Ländern können die wachsenden Anforderungen an Institutionen nicht allein durch bestehende "moderne" Institutionen übernommen werden. Ein institutioneller Rahmen kann auch informell sein. Selbst in Somalia, wo staatliche Strukturen zusammengebrochen sind und lokale Kriege geführt werden, ermöglichen traditionelle Systeme und Zusammenschlüsse der Zivilbevölkerung das Überleben der Menschen. In vielen Ländern erbringen diese Systeme funktionale Äquivalente von Governance-Leistungen. Dies betrifft die politische Selbstverwaltung, Justiz, soziale Sicherheit, die Umsetzung von traditionellem Wissen in den Bereichen Gesundheit, Landwirtschaft und Umwelt sowie den informellen Wirtschaftssektor. Beispielsweise hat Somaliland, das über eine gewählte Verwaltung verfügt, explizit das clan-basierte Governance-System anerkannt. In Ruanda unterstützen Nachbarschaftsgerichte die staatliche Justiz bei der juristischen Aufarbeitung des Genozids. Wo der Staat versagt oder nicht präsent ist, erfüllen traditionelle Systeme grundlegende Funktionen auf lokaler Ebene. Strategisch geht es um die Anschlussfähigkeit von modernen und traditionellen/informellen Systemen, wobei diese über ein ausreichendes Maß an Legitimität und Repräsentativität verfügen müssen. Auch in traditionellen Systemen kommt es zu Amtsmissbrauch, Patronage, Menschenrechtsverletzungen, Geschlechterdiskriminierung und Gewalt gegen Frauen. Ansätze zur Rekonstruktion, Demokratisierung und Reform von traditionellen Institutionen werden in einigen Ländern verfolgt (z.B. in Sierra Leone, Ruanda, Guatemala). Staatszerfall und Wiederaufbau
Historisch betrachtet sind leistungsfähige Staaten mit funktionierendem Gewaltmonopol eher ein neues Phänomen. Dennoch wurden sie schnell zum normativen Standard des internationalen Systems. Die europäische Staatenordnung, die in den vergangenen Jahrhunderten entstand, umfassende Dekolonisierungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg und das im Rahmen der Vereinten Nationen konsolidierte internationale Staatensystem etablierten eine Sichtweise, die geographische Einheiten, staatliche Zugehörigkeit und politische Verantwortung stets in eindeutiger Beziehung zueinander setzte. Über und durch Staaten sollen Sicherheit und Wohlfahrt der Bevölkerung gestaltet und abgesichert werden; zugleich sind sie die Akteure der internationalen Strukturpolitik. Undemokratische, instabile oder schwache Staaten stellen für die internationale Gemeinschaft eine Herausforderung dar. Zum einen, weil sich die internationale Gemeinschaft auf die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele geeinigt hat, zum anderen, weil die Bedeutung regionaler und internationaler Kooperationen zur Lösung von grenzüberschreitenden Problemen/Konflikten weiter wächst (Migration, Waffen, Drogen, Wasser, Klima, Handel, Schulden).
In einer Vielzahl von Entwicklungs- und Transformationsländern können die politischen Verhältnisse als instabil und schwach bezeichnet werden. Hierzu hat sich in den letzten Jahren eine Debatte über fragile Staaten entwickelt. Diese Gruppe umfasst Staaten, die im besonderen Maße durch Krisen oder Konflikte geprägt sind - mit gravierenden Folgen für die Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Staates sowie die Überlebenssicherung der Bevölkerung.
Die Definition dessen, was fragile Staaten sind, ist sowohl in der Wissenschaft als auch der Entwicklungspolitik nicht einheitlich gelöst (Weltbank, OECD-Entwicklungsausschuss). Darüber hinaus hat die Wissenschaft zu einem babylonischen Sprachgewirr beigetragen. International hat sich der Begriff "fragile states" durchgesetzt, der mit folgenden Phänomenen verknüpft ist:
Abnehmende staatliche Legitimität nach innen und außen: Dies bezieht sich auf die interne Akzeptanz von Regierungen bei BürgerInnen sowie ihre Akzeptanz in der internationalen Gemeinschaft. Bekanntes Beispiel für eine Regierung mit geringer interner und externer Legitimität ist z.B. Liberia unter Präsident Charles Taylor.
Abnehmende Handlungs- und Funktionsfähigkeit eines Staates: Defizite in den Kernfunktionen des Staates sind Merkmale für fragile Staatlichkeit. Die unzureichende Gewährleistung physischer Sicherheit für die BürgerInnen, die mangelhafte Bereitstellung von sozialen Grunddiensten trifft auf zahlreiche Länder zu, z.B. auf Staaten, die nur Teile ihres Staatsgebietes kontrollieren und damit nur in Teilen funktions- und handlungsfähig sind (Kolumbien, Sri Lanka und Sudan).
Schwacher gesellschaftlicher Zusammenhalt: Die Existenz unterschiedlicher religiöser, ethnischer, kultureller oder sonstiger Identitäten innerhalb eines Nationalstaats ist in den meisten Ländern die Regel. Eine Gemeinwohlorientierung, die sich auf die gesamte Gesellschaft in einem Staat bezieht, existiert meist nicht, da der Staat eher als Ressource betrachtet wird, die für die Befriedigung der Interessen der eigenen Volksgruppe - zu Lasten anderer Gruppen - genutzt wird.
Destabilisierung von Nachbarstaaten/-regionen oder der internationalen Gemeinschaft: Die Relevanz dieser Dimension wird vor allem seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 deutlich und ist Ursache für die aktuelle Beschäftigung der internationalen Politik mit fragilen Staaten, wie z.B. mit Somalia, Afghanistan oder die Große-Seen-Region Zentralafrikas.
Vor dem Hintergrund dieser Merkmale lassen sich verschiedene Entwicklungstendenzen innerhalb von Staaten unterscheiden, wobei die Trennlinien zwischen den Trends durchlässig sind. Auf viele fragile Staaten trifft zu, dass Menschenrechtsverletzungen und privatisierte Gewalt (noch) verbreitet sind sowie völkerrechtlich verbindliche Abkommen und Verträge nicht eingehalten werden.
Während des Ost-West-Konfliktes war Entwicklungspolitik ein Instrument der Außenpolitik mit der Folge, dass in zahlreichen Fällen klientelistische Herrschaft stabilisiert wurde. Damit hat sie zur Verstärkung struktureller Ursachen von Ungleichheit und Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen - und damit auch zu mehr Instabilität - beigetragen. In vielen Fällen fand diese Stabilisierung klientelistischer Herrschaft aus Unkenntnis der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen statt. Zum Teil aber wurde dies aufgrund eigener übergeordneter politischer Interessen in Kauf genommen bzw. gezielt genutzt. Ein bekanntes Beispiel ist Zaire, die heutige Demokratische Republik Kongo unter dem Präsidenten Mobuto. Neue Wege der EZ
Die Millenniumserklärung, der MDG-Prozess, die Harmonisierungsagenda und politische Visionen von einem Leben in größerer Freiheit haben Bewegung in die entwicklungspolitische Landschaft gebracht. Diese Prozesse sind mit einem erheblichen Defizit an "guten" Institutionen konfrontiert. Zugleich haben sich bi- und multilaterale Geber darauf geeinigt, sich aus der EZ in fragilen Staaten nicht zurück zu ziehen (stay engaged). Ein Schlingerkurs mit "bad performers" hatte eine hohe Volatilität der Hilfe und sog. EZ-Waisen zur Folge (aid orphans). Dies soll in Zukunft durch Geberkoordinierung verhindert werden. Die Umsetzung der Agenden kann nachhaltig nur gesichert werden, wenn es gelingt, entsprechende Institutionen aufzubauen, die über ein hohes Maß an Kapazität und Legitimität verfügen. Für Fukuyama ist "state building" und "institution building" in der institutionellen Vielfalt eine der wichtigsten Aufgaben der Weltgemeinschaft, weil schwache und gescheiterte Staaten nicht in der Lage sind, gesellschaftliche Probleme zu lösen und Konflikte konstruktiv mit friedlichen Mitteln zu bewältigen. Vor allem müssen Staaten daran gemessen werden, ob sie Gesellschaften auf demokratische Weise zusammenhalten.
Wiederherstellung der Legitimität: Institutionelle Schwächen oder der Zusammenbruch staatlicher Strukturen erfordern die Bereitschaft zur Unterstützung von Reform- und Wiederaufbauprozessen über lange Zeiträume. Hierzu zählen multilaterale und politikfeldübergreifend Interventionen in fragilen Staaten (whole of government approach), um den komplexen Herausforderungen gerecht zu werden. Ein Beispiel ist das Zusammenwirken von Militär mit zivilem Engagement zur Stabilisierung und Konsolidierung von Staaten (z.B. die gemeinsamen Wiederaufbauteams in Afghanistan). Das Handlungsfeld der Reform des Sicherheitssektors ist weiterzuentwickeln, um der Bedeutung von Militär und Polizei in fragilen Staaten Rechnung zu tragen. In vielen Ländern zählen diese Institutionen zu den korruptesten und sind für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Auch muss der nationale und internationale Privatsektor mehr Verantwortung übernehmen (Corporate Social Responsibility Standards für Unternehmen in fragilen Staaten). Schließlich sollte EZ der Prävention von politischer und sozialer Instabilität stärkere Aufmerksamkeit widmen, wobei bereits neue Handlungsansätze verfolgt werden. Die oft vorhandene Förderung sozialer Grunddienste (Bildung, Gesundheit, Infrastruktur) in den Kooperationsländern eröffnet wichtige Zugänge in fragilen Staaten. Auch höhere Investitionen in die Sekundarschulbildung wirken sich positiv auf Veränderungspotenziale aus (turnarounds), da sie zur Herausbildung einer "kritischen gesellschaftlichen Masse" beitragen. Über bestehende Strukturen der Zusammenarbeit - insbesondere auf dezentraler Ebene und mit nichtstaatlichen Organisationen - können institutionelle Vielfalt, die Koordinierung und Kooperation zwischen Handlungsebenen und Systemen sowie Dialog- und Konfliktlösungsmechanismen unterstützt werden.
Ein weiterer strategischer Ansatzpunkt ist die Förderung regionaler (länderübergreifender) Kooperation. Vor dem Hintergrund destabilisierender Auswirkungen auf Nachbarregionen gewinnen regionale Sicherheits- und Kooperationsarchitekturen an Bedeutung. Insbesondere in Subsahara-Afrika gibt es eine Reihe von supranationalen Organisationen und Initiativen, die in den Bereichen Frieden und Sicherheit tätig sind, wie z.B. das politische Frühwarnsystem der Intergovernmental Authority on Development (IGAD) am Horn von Afrika. In Mittelamerika verfolgt der "Proceso Puebla" ähnliche Wege, um die Probleme der Migration und der Rechte von Migranten zu stärken.
Gesamtinteresse der Bevölkerung versus "ownership" Einzelner und Schattenmächte: In fragilen Staaten existiert meist ein "ownership" und ein Interesse an der Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft, wobei die externe Unterstützung oft sogar die Haupteinnahmequelle der Regierungen darstellt. Allerdings repräsentieren staatliche Eliten meist nur bestimmte Interessengruppen und verfügen nicht über Legitimität und Akzeptanz bei der Bevölkerung. Die Tatsache, dass in einigen Ländern "country ownership" und "alignment" aufgrund der politischen Rahmenbedingungen nicht möglich sind, wirft Fragen auf: Wer sind die Partner in Ländern mit reformunwilligen und delegitimierten Staatsführungen? Kennzeichnend für einige Länder ist die Existenz illegitimer politischer Strukturen, von Parallel- und Schattenmächten (Militär, Paramilitär, mafiose Netzwerke), die Institutionen, Ämter, Parlamente und Rechtssprechung mit ihrem Geflecht durchziehen. Klientelismus, Ämterpatronage und Korruption sind Ausdruck der privaten Aneignung und des Missbrauchs öffentlicher Institutionen und Ressourcen - mit schwerwiegenden Folgen für das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft. Wenig diskutiert ist, dass Veränderungen und Reformen immer auch Widerstand oder Blockaden bei denen produzieren, die als "Warlords", Gewaltakteure oder korrupte Eliten zu den Verlierern dieser Prozesse werden.
Fest steht, dass Strategien, die nur an Symptomen ansetzen, zu keinen dauerhaften Lösungen führen, sondern vielmehr integrierte Handlungsstrategien erforderlich sind, die auf umfassenden politisch-ökomischen Analysen der jeweiligen Machtverhältnisse und Akteure basieren.
Weiterhin sind Einführung und Umsetzung von verbindlichen Vereinbarungen und Kooperationsmechanismen wie Menschenrechtsstandards, Korruptionsbekämpfung, Herkunftsnachweis von Holz und Diamanten (conflict commodities) sowie Unternehmensstandards für extraktive Industrien (z.B. Erdölförderung) von zentraler Bedeutung. Diese Initiativen können bei internationaler Einforderung - durch Regierungen und Zivilgesellschaft - einen hohen Grad an Verbindlichkeit entwickeln. Schattenmächte werden entweder durch Druck zur Einhaltung internationaler Standards verpflichtet oder bei Nichteinhaltung mit Sanktionsmaßnamen belegt.
Demokratie- und Legitimitätsdefizite überwinden: Auch dort, wo sich formale Demokratien konsolidiert haben, stellt sich die Frage, wie offen und demokratisch (inklusiv) diese Demokratien sind. Trotz mancher Fortschritte werden in Ländern die schwachen Fundamente der Demokratie, die geringe Tiefe und Reichweite von Partizipation sichtbar. In Lateinamerika wird das Phänomen der so genannten "gescheiterten Präsidentschaften" (failed presidencies) und des "lateinamerikanischen Dreiecks" beobachtet - bestehend aus Demokratie, Armut und sozialer Ungleichheit. Als "schwarzes Loch" bezeichnet der UN-Bericht zur "Entwicklung in der arabischen Welt" die Exekutive (Arab Human Development Report 2005). Die Autoren des Berichtes sehen keine ernsthaften Reformansätze zur Demokratisierung der politischen Machtverhältnisse. Dennoch halten in Umfragen viele Menschen Demokratie für besser als jede andere Regierungsform und wollen sich dafür einsetzen, wie z.B. die Kifaya in Ägypten (Genug-Bewegung). Trotz der zahlreichen ungelösten Konflikte und Kriege gibt es in Subsahara-Afrika eine Aufbruchstimmung, die sich mit neuen Perspektiven für Demokratie, Regionalorganisationen und Mechanismen für die gewaltfreie Bewältigung von Konflikten verbindet. Schlussbemerkungen
Für die Erreichung der epochalen Ziele bedarf es zusätzlicher Ressourcen und Eigenanstrengungen aller Mitglieder der internationalen Gemeinschaft. Hierzu zählen die massive Reduzierung der weltweiten Ausgaben für Militär und Rüstung, die Notwendigkeit zur Gestaltung der Globalisierung und die Sicherung globaler ökologischer Nachhaltigkeit (internationale Strukturpolitik). Im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit fragilen Staaten sind drei Aspekte zentral: erstens die (Wieder)herstellung der Legitimität politischer Entscheidungsträger durch Förderung der Menschenrechte, Demokratie und Good Governance; zweitens die Förderung sozialer Grunddienste als Beitrag zur Umsetzung der kollektiven Menschenrechte sowie drittens die Reintegration der jeweiligen Staaten in die internationale Gemeinschaft.
Trotz aller Skepsis ist die Hoffnung auf substanzielle Beiträge der EZ zu den epochalen Zielen nicht ganz unbegründet. EZ allein kann Kriege, Konflikte, Staatsversagen oder den Zusammenbruch von Staaten nicht verhindern. Allerdings kann und wird sie in diesen Ländern substantiell dazu beitragen, dass Recht "herrscht", dass demokratische Prinzipien und Werte verankert und die Rechte aller Menschen geachtet werden.
Die Autorin und der Autor vertreten ihre persönliche Meinung und nicht die ihrer Institutionen. Vgl. The Worldbank, World Devopment Report 1997: The State in a Changing World, Washington, D. C. 1997.
Der Begriff wird im Deutschen oft mit "gute Regierungsführung" übersetzt, was aber zu kurz greift.
Verabschiedet auf der Millenniums-Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2000.
Die deutsche EZ unterstützt die Aktivitäten des Entwicklungsausschuss der OECD und des DAC (Development Assistance Committee). Auf hochrangigen Foren in Rom (2003) und Paris (2005) befassten sich die bi- und multilateralen Geber mit der Qualität der Hilfe und der Steigerung ihrer Wirkungen.
Ein wichtiger Schritt auf internationaler Ebene war dabei die 1998 erschienene Weltbankstudie Assessing Aid.
Vgl. BMZ, Good Governance in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. BMZ Spezial Nr. 44, Bonn 2002.
Vgl. dass., Entwicklungspolitischer Aktionsplan für Menschenrechte 2004 - 2007 - Menschen haben ein Recht auf Entwicklung, Bonn, Juli 2004.
Goran Hyden, Operationalizing Governance for Sustainable Development, in: Jamil E. Jresat (Hrsg.), Governance in Developing countries, Köln 2002.
Vgl. www.mef.gov.ec und www.gtzecuador.org.
Vgl. The World Bank, Conflict in Somalia: Drivers and Dynamics, Washington, D. C., January 2005.
Vgl. Jean-Paul Kimoyo u.a., Supporting the Post-Genocide Transition in Rwanda, Netherlands Institute of International Relations "Clingendael", December 2004.
Vgl. UNECA, Monitoring Progress Towards Good governance. The African Governance Report. National Country Report for South Africa, July 2002.
Vgl. Ulrich Schneckener (Hrsg.), States at Risk, Berlin 2004; Tobias Debiel/Stephan Klingebiel/Andreas Mehler/Ulrich Schneckener, Zwischen Ignorieren und Intervention - Strategien und Dilemmata externer Akteure in fragilen Staaten, Policy Paper 23, Bonn 2005.
Allein in der deutschsprachigen Debatte kursieren die Begriffe "Staatszerfall" und "Staatsversagen" und als umfassendere Begriffe "erodierende Staaten", "schwache Staaten" und "zerfallende Staaten". Nimmt man den englischsprachigen Diskurs hinzu, wird die Debatte durch "failing states", "weak states", "disintegrating states", "poor performing states" oder "states at risk" noch unübersichtlicher.
Auf OECD-DAC-Ebene werden von den Mitgliedern in einem gemeinsamen Prozess Prinzipien für "Good international engagement in fragile states" (Fragile States Group) entwickelt, die in Pilotländern erprobt werden. Der Prozess soll 2006 mit der Verabschiedung der Prinzipien auf einer hochrangigen Konferenz abgeschlossen werden.
Vgl. BMZ, Übersektorales Konzept zur Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung in der deutschen EZ, Bonn, April 2005 (Entwurf).
Vgl. Lisa Chauvet/Paul Collier, Development Effectiveness in Fragile States: Spillovers and Turnarounds, Oxford, January 2004.
Vgl. PNUD (Programa de las Naciones Unidas para el Desarollo), La Democracia en América Latina. Hacia una Democracia de Ciudadanos y Ciudadanas, Buenos Aires 2004.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28952/good-governance-gegen-armut-und-staatsversagen/ | Reduzierung von Armut ist am besten durch Good Governance, effiziente und transparente Institutionen und die Verankerung demokratischer Werte zu erreichen. | [
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Geschichte der Russlanddeutschen ab Mitte der 1980er Jahre | Russlanddeutsche | bpb.de | Die Russlanddeutschen sind heute eine der größten Zuwanderergruppen in der bundesdeutschen Gesellschaft. Seit Beginn der Perestroika Mitte der 1980er Jahre und bis in die Gegenwart kamen gut 2,3 Millionen (Spät-)Aussiedler – Russlanddeutsche und ihre oft anderen Ethnien des sowjetischen Vielvölkerreichs entstammenden Angehörigen – aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Davon emigrierten gut 450.000 in der Zeit ab 1987, als die Sowjetunion ihre Ausreisebestimmungen lockerte, bis zum Zerfall der UdSSR Ende 1991. Weitere 1,8 Millionen folgten bis Mitte der 2000er Jahre. Die Masse der Russlanddeutschen siedelte also in einem bemerkenswert kurzen Zeitraum von nicht einmal zwanzig Jahren aus der UdSSR bzw. den GUS-Staaten in die Bundesrepublik über. Entsprechend identifizierten sich in der Russischen Föderation laut Volkszählung von 2010 nur noch gut 400.000 Menschen als Deutsche, in Kasachstan ca. 180.000 (Stand 2009). Bei der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 waren es noch um die zwei Millionen gewesen.
Emigration von Minderheiten aus der späten UdSSR
Die massenhafte Aussiedlung der Deutschen aus der zerfallenden UdSSR und ihren Nachfolgestaaten war kein singuläres Phänomen. Auch Angehörige anderer nationaler Minderheiten machten sich ab Ende der 1980er Jahre auf den Weg: sowjetische Juden und ihre Angehörigen verließen das Land in großer Zahl in Richtung Israel, USA und auch nach Deutschland. Pontische Griechen und Ingermanländische Finnen, die in den 1940er Jahren ein ähnliches Verfolgungsschicksal wie die Russlanddeutschen erlitten hatten, gingen nach Griechenland bzw. Finnland. Auch innerhalb des Gebiets der (ehemaligen) UdSSR fanden solche Migrationen "ethnischer Entmischung" statt, etwa wenn Russen aus den ab 1991 unabhängigen Staaten Zentralasiens in die Russische Föderation emigrierten. In allen diesen Bewegungen kamen politische, ökonomische und nationale Migrationsmotive zusammen.
Parallel zu der entstehenden Emigrationsbewegung gab es in der Perestroika-Zeit auch Versuche, die Rechte der Russlanddeutschen innerhalb des sowjetischen Staates zu stärken. Hierfür stand insbesondere die 1989 gegründete Organisation "Wiedergeburt", deren Ziel es war, die 1941 abgeschaffte Autonome Republik der Wolgadeutschen wiederherzustellen. Eine ähnliche innersowjetische Rückkehrbewegung gab es auch unter den Krimtataren, die 1944 kollektiv aus ihren angestammten Siedlungsgebieten deportiert worden waren und denen genau wie den Russlanddeutschen auch in der Zeit nach Stalin die Rückkehr verweigert wurde. Während den Krimtataren jedoch eine umfassende Mobilisierung gelang und sie in vielen Fällen durch eigenmächtige Übersiedlung auf die Krim Fakten schufen, bemühten sich die Vertreter der Russlanddeutschen trotz mehrjähriger Anstrengungen vergeblich um die Wiedererrichtung der Wolgarepublik und die Rückkehr in die alte Heimat. Eine rasant zunehmende Zahl deutscher Sowjetbürger wartete diese Möglichkeit auch vor dem Hintergrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage gar nicht ab und emigrierte stattdessen in die "historische Heimat", nach Deutschland.
Rechtliche Grundlagen der Aussiedlung nach Deutschland
Die Bundesrepublik nahm die Russlanddeutschen, wie auch die Angehörigen anderer deutscher Minderheiten in Osteuropa, bei Nachweis ihrer "deutschen Volkszugehörigkeit" als sogenannte Aussiedler (ab 1993: Spätaussiedler) auf. Dies geschah auf Grundlage von Artikel 116, Abs. 1 des Grundgesetzes sowie §§ 1 und 6 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG), welche in der Nachkriegszeit für die Aufnahme und Einbürgerung der über zwölf Millionen deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten und Osteuropa entstanden waren. Die Aussiedler als "Nachzügler" dieser Vertreibungen hatten hiernach Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft sowie auf eine Reihe von finanziellen und anderen Integrationshilfen, beispielsweise Sprachkurse.
Die Bundesregierung postulierte auch nach Beginn der großen Aussiedlungsbewegung aus Osteuropa ab 1987 wiederholt, dass das "Tor" für die Aussiedler offen bleibe. Gleichzeitig bemühte sie sich aber darum, den Zustrom einzudämmen und zu kontrollieren. Um spontane Übersiedlungen zu verhindern, mussten Aussiedler ab 1990 ihren Aussiedlungsantrag von ihrem Heimatland aus stellen. Im selben Jahr bat der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Horst Waffenschmidt, die "lieben Landsleute" in der Sowjetunion darum, es sich mit der Aussiedlung gut zu überlegen. Das "Gesamtkonzept Russlanddeutsche" von Januar 1992 formulierte als Ziel, dass "möglichst viele der über zwei Millionen Russlanddeutschen … in der GUS bleiben" sollten. Hierzu finanzierte die Bundesregierung auch eine Reihe von – weitgehend erfolglosen – Projekten in der ehemaligen Sowjetunion, die die Russlanddeutschen zum Bleiben ermuntern sollten. Zu den Kontrollmaßnahmen gehörte auch die Festlegung einer jährlichen Aussiedlerquote von maximal 220.000 Personen durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von Ende 1992, sowie die Einführung eines obligatorischen Sprachtests im Jahr 1996, in dessen Folge die Aussiedlerzahlen deutlich zurückgingen.
Russlanddeutsche in der Bundesrepublik
Die Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland war für viele Russlanddeutsche mit einer Erfahrung verbunden, die sich treffend als "doppelte Fremdheit" beschreiben lässt. Auf den Punkt gebracht wird dieser Erfahrung mit dem oft zitierten Satz "dort waren wir die Deutschen (bzw. die Faschisten), hier sind wir die Russen". In der Sowjetunion blieben die Russlanddeutschen trotz des durch Deportation und Verbannung erlittenen Verlusts der deutschen Sprache über ihre Namen und aufgrund des Nationalitätenvermerks im Inlandspass als Deutsche identifizierbar. In Deutschland wurden sie hingegen aufgrund des Gebrauchs der russischen Sprache als "Russen" identifiziert, oft in diskriminierender Absicht.
Auch verlief die An
Junge Spätaussiedler in Angermünde (Brandenburg) werden im Qualifizierungs- und Trainingszentrum am praktischen Beispiel über das Berufsbild eines Elektroinstallateurs informiert. (© picture-alliance, ZB)
kunft und Eingliederung in der Bundesrepublik nicht so reibungslos, wie sich dies Politik und auch die Aussiedler selbst gewünscht hatten. Ein Grund hierfür war die Reduzierung der Eingliederungshilfen und Sprachkurse zu einem Zeitpunkt, als sie angesichts zurückgehender Deutschkenntnisse vieler Aussiedler und einer zunehmend schwierigeren Integration in den Arbeitsmarkt am meisten benötigt wurden. Bei den Integrationsproblemen der Russlanddeutschen standen Phänomene von "Ghettobildung", Jugendkriminalität, Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung im Mittelpunkt. Gründe dafür waren migrationsbedingte Entwurzelung, mangelnde Sprachkenntnisse und mit dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt nicht kompatible Qualifikationen. Besonders die "mitgenommene" Generation jugendlicher Russlanddeutscher galt als problematische Gruppe.
Gut 20-25 Jahre nach der Ankunft der Masse der russlanddeutschen Spätaussiedler gestaltet sich ihre ökonomische Integration jedoch alles in allem recht positiv. Die Erwerbslosenquote und Abhängigkeit von Transferleistungen ist zwar gegenüber der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund erhöht. Das durchschnittliche Einkommen russlanddeutscher Haushalte liegt aber fast auf dem "einheimischen" Niveau. Dies wird in vielen Fällen durch das Zusammenlegen im Familienverband mehrerer relativ niedriger Einkommen erreicht – von Männern überdurchschnittlich oft aus Tätigkeiten im sekundären Sektor (produzierendes Gewerbe, Baugewerbe), von Frauen oft aus geringfügiger Beschäftigung. Gleichzeitig muss man die Heterogenität der Lebenslagen betonen: die Einkommensstreuung russlanddeutscher Haushalte entspricht in etwa der der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Sie umfasst Einkommen am Existenzminimum genauso wie eine breite Mittelschicht und einen relativ kleinen Anteil hoher Einkommen. "Die" Integration der Russlanddeutschen gibt es also nicht. Diesem uneinheitlichen Befund ist es auch geschuldet, dass es im öffentlichen Diskurs heutzutage fundamental gegensätzliche Wahrnehmungen der sozialen und kulturellen Integration der Russlanddeutschen gibt.
Heterogene Großgruppe
Einerseits gelten sie als "unauffällige" und vorbildlich integrierte Migrantengruppe. Andererseits gibt es insbesondere seit den Demonstrationen anlässlich des "Falls Lisa" – der angeblichen Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens in Berlin durch "Flüchtlinge" im Januar 2016 – und den Erfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) bei verschiedenen Landtags- und Kommunalwahlen in einigen russlanddeutsch geprägten Stadtvierteln wieder einen verstärkten öffentlichen Fokus auf vermeintliche russischsprachige "Parallelgesellschaften" an bestimmten Orten wie auch in der medialen Sphäre des Fernsehens und des Internets. Beide Konstellationen – unauffällige Integration und fortbestehende Segregation – beschreiben die Realität unterschiedlicher Milieus innerhalb der Großgruppe "russlanddeutsche Spätaussiedler". Diese Großgruppe ist angesichts ihrer Größe, den unterschiedlichen mitgebrachten Voraussetzungen der einzelnen Menschen und der Diversität der sozioökonomischen Lebenslagen notwendigerweise heterogen.
Mit dieser Heterogenität, welche sich in der inzwischen erwachsenen zweiten und der heranwachsenden dritten Generation noch verstärken wird, sind die Russlanddeutschen heute zu allererst Teil der diversen bundesdeutschen Migrationsgesellschaft. Der Gebrauch der russischen Sprache und der Konsum russischer Lebensmittel hat hier genauso Platz wie die Assimilation in die bundesdeutsche Mittelklasse bei gleichzeitigem mehr oder weniger stark ausgeprägtem Bewusstsein um die eigene "andere" Herkunft, oder auch die "segmentierte Integration" in religiös definierten Gemeinschaften. Genauso wie bei anderen migrantischen Gruppen gilt es bei den Russlanddeutschen diese Vielfalt der Erfahrungen und Lebensentwürfe stets zu berücksichtigen, um unzutreffende homogenisierende Interpretationen ihrer Gegenwart zu vermeiden. Unabhängig von ihrer jeweiligen Lebenssituation und gesellschaftlichen Position äußert die große Mehrzahl der Russlanddeutschen – wie auch der Spätaussiedler insgesamt – die Absicht, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Permanente Rückwanderung findet nur in zahlenmäßig geringem Umfang statt. Vereinzelt knüpfen Russlanddeutsche auch an ältere Migrationstraditionen an und emigrieren nach Kanada oder Südamerika. Und insbesondere Angehörige der zweiten Generation partizipieren an "normaler" individueller Bildungs- und Berufsmobilität. Die Zeiten, in denen die Russlanddeutschen wie im Zweiten Weltkrieg zum Objekt kollektiver Zwangsmigration werden oder wie in den 1980er und 1990er Jahren massenhaft umsiedeln, gehören aber der Vergangenheit an.
Junge Spätaussiedler in Angermünde (Brandenburg) werden im Qualifizierungs- und Trainingszentrum am praktischen Beispiel über das Berufsbild eines Elektroinstallateurs informiert. (© picture-alliance, ZB)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-15T00:00:00 | 2017-06-07T00:00:00 | 2021-11-15T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/russlanddeutsche/249842/geschichte-der-russlanddeutschen-ab-mitte-der-1980er-jahre/ | Seit Mitte der 1980er Jahre kamen gut 2,3 Millionen russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Heute ist die heterogene Großgruppe ein Teil der diversen bundesdeutschen Migrationsgesellschaft. | [
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Wahres Glück im Waren-Glück? | Konsumkultur | bpb.de | Einleitung
Wenn moderne Gesellschaften als Konsumgesellschaften beschrieben werden, dann impliziert dies eine Reihe von Bestimmungsmerkmalen: Nicht jeder Gebrauch und Verbrauch von Gütern ist Konsum. Zum Konsum gehört, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr um ihr Überleben kämpfen muss. Stattdessen geht es jetzt um die Gestaltung des Lebens mit Hilfe von Gütern, für die keine Notwendigkeit, dafür aber die Freiheit der Wahl besteht. Vorsichtiger formuliert: Die Notwendigkeit physischer Existenzsicherung wird von der Notwendigkeit sozial-distinktiver Existenzsicherung abgelöst. Damit verbunden ist die Massenproduktion von Gütern für einen anonymen Markt kaufkräftiger Kundinnen und Kunden, was heißt: Konsumgesellschaften sind immer auch Gesellschaften des Warentausches, der Monetarisierung und des (relativen) Wohlstandes.
In einer entwickelten Konsumgesellschaft werden nicht nur Güter als Waren produziert, sondern gleichzeitig wird auch der Versuch unternommen, die Bedürfnisse zu produzieren, die eine steigende Nachfrage nach den betreffenden Waren sichern. Psychostrukturell setzt dies Konsumenten voraus, die keine dauerhaften Bindungen an Güter entwickeln, sondern stets bereit sind, sogar gebrauchsfähige alte Güter durch neue zu ersetzen. In dieser Hinsicht ist die Konsumgesellschaft immer auch eine Wegwerfgesellschaft, deren Müllberge mindestens so schnell wachsen wie ihre Warenlager.
Spätestens dieses Bestimmungsmerkmal fordert zu einer wertenden Stellungnahme des Begriffes der Konsumgesellschaft heraus. Deshalb führt die Konsumkritik, die den Siegeszug der Konsumgesellschaft bis heute begleitet, Bestimmungsmerkmale an, die diesen Typ moderner Gesellschaften und seine Befürworterinnen und Befürworter zu ächten suchen. So gilt ihr die Konsumgesellschaft als eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich nicht dafür interessieren, unter welchen Bedingungen die Waren, die sie kaufen, produziert worden sind: Statt der globalen Ausbeutung nicht erneuerbarer Rohstoffe und billiger Arbeitskräfte entgegenzutreten, stehlen sich die Konsumenten aus ihrer Mitverantwortung. Faktisch in einen globalen Schuldzusammenhang verstrickt, ignorieren sie alles, was ihre narzisstische Lebensführung in Frage stellen könnte.
Für Konsumgesellschaften ist der Glaube konstitutiv, dass das subjektive Wohlbefinden der Bürger maßgeblich davon abhängt, wie gut sie mit Konsumgütern ausgestattet sind. Die Konsumkritik stellt diesen Glauben unter Ideologieverdacht: Er diene dazu, dass sich die Bürger von der politischen Öffentlichkeit fern halten; dass sie sich mehr für eine Demokratisierung des Konsums als für eine demokratische Kontrolle der Herrschenden einsetzen und damit letztlich blind für die politische Partei votieren, die ihnen eine Glück verheißende Güterausstattung verspricht. Sehnsucht nach Glück
Wer aus einer psychoanalytischen Perspektive auf das Glück blickt, sieht sich mit einer tiefen Skepsis des Ur-Vaters der Psychoanalyse Sigmund Freud konfrontiert: "Dass der Mensch glücklich' sei, ist im Plan der Schöpfung' nicht enthalten." Denn es gibt vieles, was sein Glück vereitelt und sich seiner Kontrolle entzieht, nicht zuletzt seine Hinfälligkeit und Sterblichkeit. Der Tod beendet alles Streben und Sehnen nach Lust. Aber nicht nur der Tod setzt dem Lustprinzip die Grenzen. Keine Kultur kommt ohne Triebverzicht aus, auch wenn mehr oder weniger Verzicht möglich ist. Freud selbst tritt in Folge seiner Erfahrungen mit der Triebfeindlichkeit seiner eigenen Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts zwar für eine Lockerung der Repression ein, an eine triebfreundliche Kultur vermag er aber nicht zu glauben.
Ungeschmälerte Lust gibt es nur im Naturzustand des Menschen, der aber erweist sich als eine retrospektive Phantasie, da erst die Kultur den Menschen zum Menschen macht. Der Mensch weiß, dass er nie ungeschmälerte Lust erlangen wird, so wie er weiß, dass er sterben muss. Und das kränkt ihn, da das Lustprinzip, das ihn als einziger "Lebenszweck" antreibt, kein anderes Ziel als das der Maximierung von Lust verfolgt. So gesehen, ist Glück ein Moment ungeschmälerter Lust, das aber in der Realität unerreichbar bleibt. Deshalb gehört alles, wovon sich der Mensch Glück verspricht, in das Reich wunscherfüllenden Denkens.
Da der Mensch diese Situation schwer erträgt, ersinnt er beständig neue "Linderungsmittel", die ihm seinen existenziellen Mangel an ungeschmälerter Triebbefriedigung erträglich(er) machen. "Solche Mittel", schreibt Freud, "gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend gering schätzen lassen, Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgendetwas in dieser Art ist unerlässlich." Mit dieser Aufzählung wird ein Rahmen aufgespannt, in dem alle Güter dreidimensional beurteilt werden können: Inwieweit dienen sie der Zerstreuung, der Narkotisierung und der Ersatzbildung?
Ersatz wofür? Solange das Lustprinzip regiert, gibt es keinen Ersatz für das erstrebte und ersehnte Ziel einer ungeschmälerten Triebbefriedigung. Ersetzt werden kann lediglich das Gut, das mehr oder weniger bewusst die Hoffnung nährt, mit ihm lasse sich ungeschmälerte Triebbefriedigung erreichen. Und der vom Lustprinzip regierte Mensch glaubt gern, dass jedes neue Gut endlich das Glück bringt, das alle vorhergehenden nicht gebracht haben. Denn Menschen sind und bleiben anfällig für Glücksversprechen und damit auch all denen hörig, die ihnen Glück versprechen. Verführbarkeit ist ein konstitutives Merkmal der Menschheit, die auch durch die Anerkennung des Realitätsprinzips, das Einsicht in die Kultur stiftende Notwendigkeit eines Verzichts auf ungeschmälerte Triebbefriedigung verlangt, nicht dauerhaft verhindert werden kann. Glück und Zufriedenheit
Die empirische Forschung differenziert in der Regel nicht oder nur unzureichend zwischen Glück und Zufriedenheit. Beides ist aber nicht dasselbe, weshalb wir jemandem, dem wir alles Gute wünschen, eigentlich wünschen, er möge "glücklich und zufrieden" sein. Während Glück - ganz so, wie es Freud denkt - ein emotionales Spitzenerlebnis meint, klingt Zufriedenheit sehr viel abgeklärter und bescheidener. Wer zufrieden ist, hat seinen Frieden gefunden, verlangt nicht mehr Befriedigung, als er erhält. Demnach ist Zufriedenheit mehr als Unglücklichsein, aber weniger als Glücklichsein. Glück und Zufriedenheit in einem Atemzug zu nennen, verweist darauf, dass beide zusammen das Optimum ergeben. Auf der einen Seite steht das Streben nach Glück: danach, mehr als die derzeit möglichen Befriedigungen vom Leben zu erwarten; auf der anderen Seite das gegenläufige Streben, sich mit den erreichten Befriedigungen zufrieden zu geben, ohne in Enttäuschung zu versinken. Das Streben nach Glück treibt an, das nach Zufriedenheit mäßigt: Wer seine Ansprüche, glücklich zu werden, sehr hoch setzt, dem fällt es schwer, sich mit dem zufrieden zu geben, was er erreicht. Wer sie zu gering ansetzt, der gibt sich zu schnell zufrieden, ohne das, was ihm zu erreichen möglich wäre, auch nur anzustreben. Wer bei seinem Glücksstreben die Zufriedenheit aus den Augen verliert, der riskiert, mit nichts zufrieden und deshalb ständig getrieben zu sein, wodurch letztlich das Glück dahin geht, dem er nachjagt. Wer bei seinem Zufriedenheitsstreben das Glück aus den Augen verliert, der erniedrigt sein Glücksstreben zur bloßen Unglücksvermeidung - und riskiert mit dieser defensiven Haltung, arm an Lebenslust und Lebensfreude zu bleiben. Obgleich also die Unterscheidung zwischen Glück und Zufriedenheit psychologisch triftig ist, soll sie im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen wird, wie in vielen Untersuchungen üblich, von subjektivem Wohlbefinden die Rede sein. Wohlstand und subjektives Wohlbefinden
Viele Bürgerinnen und Bürger einer Konsumgesellschaft glauben, ihr subjektives Wohlbefinden wäre größer, wenn sie über mehr Geld und damit auch mehr Möglichkeiten verfügten, sich Konsumgüter zu kaufen. Forschungsbefunde belegen jedoch, dass dies nur mit Einschränkungen gilt. Wächst in einem Land das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen, dann nimmt auch das durchschnittliche subjektive Wohlbefinden zu, allerdings nicht linear. Vielmehr lässt sich ein abnehmender Grenznutzen feststellen: Je höher das Ausgangseinkommen ist, desto geringer fällt der Zuwachs an subjektivem Wohlbefinden aus. Damit gilt zwar immer noch, dass die Bürger reicher Länder ein höheres subjektives Wohlbefinden aufweisen als jene armer Länder und dass sich in jedem Land, ob arm oder reich, die Reichen subjektiv wohler befinden als die Armen; für den Glauben, subjektives Wohlbefinden sei in erster Linie ein Effekt des finanziellen und davon abhängigen materiellen Wohlstandes, fehlt es aber an Belegen. Neben dem Pro-Kopf-Einkommen ist mit anderen Faktoren zu rechnen, die das subjektive Wohlbefinden positiv beeinflussen.
Zu den Faktoren, für die es empirische Bestätigungen gibt, gehören: sichere Arbeitsplätze, physische und psychische Gesundheit, Zugehörigkeit vermittelnde soziale Beziehungen, eine sinnstiftende (religiöse) Weltanschauung, eine unzerstörte Umwelt und - nicht zuletzt - eine freiheitliche gesellschaftliche Ordnung. So ist festzustellen, dass die Liberalität eines Landes in den Facetten politische (Bürgerrechte, Meinungsfreiheit), ökonomische (freier Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskraft) und persönliche Freiheit (Religionsfreiheit, Reisefreiheit, freie Partnerwahl) hoch mit dem subjektiven Wohlbefinden seiner Bürgerinnen und Bürger korreliert. Während in ärmeren Ländern die ökonomische Freiheit den vergleichsweise größeren Einfluss hat, ist es in reicheren Ländern die politische Freiheit.
Je mehr solcher Faktoren in eine Analyse einbezogen werden, desto mehr relativiert sich - vor allem in reiche(ren) Ländern - der Einfluss, den der (finanzielle, materielle) Wohlstand auf das subjektive Wohlbefinden hat. Damit stellt sich dann auch die Frage, ob das Entwicklungsniveau eines Landes wirklich am besten durch sein wirtschaftliches Wachstum zu kennzeichnen ist. So wird etwa dafür plädiert, einen differenzierten "Happiness-Index" einzuführen, der das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maßstab der politischen Gestaltung einer wohlgeordneten Gesellschaft ablösen soll. Dieser Vorschlag sollte schon deshalb ernsthaft geprüft werden, weil es Hinweise darauf gibt, dass Menschen, die sich subjektiv wohl befinden, die "besseren" Bürger sind: informierter, sozial engagierter und politisch gemäßigter. Kompetent Konsumieren
Keine noch so starke Ausdifferenzierung der Einflussfaktoren aber kann das subjektive Wohlbefinden der Bürger allein auf ihre objektiven Lebensbedingungen zurückführen. Vielmehr kommt es immer auch auf die psychische Verarbeitung dieser Bedingungen an. Vier Fälle lassen sich unterscheiden: Sind die objektiven Lebensbedingungen und das subjektive Wohlbefinden beide (1) gut oder beide (2) schlecht, dann ist das in sich stimmig oder konsistent. Es können aber auch Inkonsistenzen vorkommen: Dann sind (3) die objektiven Lebensbedingungen gut, aber das subjektive Wohlbefinden schlecht, oder aber (4) das subjektive Wohlbefinden gut, obwohl die objektiven Lebensbedingungen schlecht sind.
Die Fälle (3) und (4) verweisen darauf, dass das Erleben und Handeln von Menschen nicht allein durch äußere Faktoren determiniert ist, vielmehr erleben und handeln sie nach ihren Wahrnehmungen, und diese sind selektiv, wobei bewusste, aber auch vor- und unbewusste lebensgeschichtliche Erfahrungen, die sich als bestimmte Persönlichkeitsstrukturen niedergeschlagen haben, die Selektionsparameter sein können. Das erklärt, warum Menschen mit gleichen objektiven Lebensbedingungen ein sehr unterschiedliches Ausmaß subjektiven Wohlbefindens aufweisen können.
Wie groß dieses Ausmaß ist, hängt von einer Kompetenz ab, die man "Lebenskunst" nennen kann. Zu dieser Kunst gehört es, sich durch schlechte objektive Lebensbedingungen nicht die Lebenslust und -freude nehmen zu lassen, und sich gute objektive Lebensbedingungen angemessen subjektiv anzueignen. Um ihr eigenes subjektives Wohlbefinden nachhaltig zu optimieren, tun die Bürger gut daran, sich bestimmter Fallen bewusst zu werden, die es bei der Nutzung von Konsumgütern zu beachten gilt.
Hinsichtlich der Dynamik von Bedürfnis, erwarteter und tatsächlich erfolgter Befriedigung können Konsumenten eine ganze Reihe von Fehleinschätzungen unterlaufen: Erstens: Sie wählen ein bestimmtes Konsumgut aus, weil es ein bestimmtes Bedürfnis befriedigen soll; das ausgewählte Konsumgut bietet aber keine bedürfnisspezifische Befriedigung, Zweitens: Das Konsumgut bietet zwar eine solche Befriedigung, die Konsumenten erwarten aber - aus welchen Gründen auch immer - eine größere Befriedigung, als sie das Konsumgut zu bieten vermag. Drittens: Die erwartete Befriedigung tritt zwar ein, die Konsumenten unterschätzen aber, wie schnell sie sich an diesen Effekt gewöhnen und dass mit jedem Gebrauch des bedürfnisspezifischen Konsumguts dessen Befriedigungswert sinkt und es sie zu langweilen beginnt.Werden zur Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses verschiedene Varianten desselben Konsumgutes bzw. verschiedene Konsumgüter angeboten, hat ein Konsument die Qual der Wahl, die mit der Anzahl der Alternativen zunimmt. Einerseits schätzt er die Vermehrung seiner Wahlmöglichkeiten, weil sie eine vergleichsweise individuelle Güterausstattung erlaubt und drohender Langeweile begegnet, andererseits fühlt er sich aber auch schnell überfordert. Denn mit der Vermehrung seiner Wahlmöglichkeiten steigen auch seine Opportunitätskosten: Da er den Befriedigungswert eines wählbaren, aber nicht gewählten Konsumgutes nicht kennt, muss er befürchten, die Alternative zu verpassen, die ihn am meisten befriedigt haben würde, hätte er sie gewählt. Das kann zu einem mehr oder weniger bewussten Druck führen, ein gewähltes Konsumgut bereits zu einem Zeitpunkt durch eine Alternative zu ersetzen, bevor es überhaupt seinen Befriedigungswert entfalten konnte. Mit anderen Worten: Der Konsument erlebt es nur deshalb als langweilig, weil er es an einem größeren Befriedigungswert misst, den er sich für ein alternatives Konsumgut vorstellt. Kommt dies gewohnheitsmäßig vor, bleibt er unter seinen Befriedigungsmöglichkeiten und wird dauerhaft unzufrieden sein.Die Entscheidung, die Konsumenten für ein bestimmtes Konsumgut als Mittel zur Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses treffen, ist immer auch durch ihre Bezugs- bzw. Statusgruppe mit bedingt, der sie sich darin mehr oder weniger bewusst fügen. Sie handeln damit wertrational, was ihre Entscheidungen erleichtert, weil die "Moral" der Gruppe vorschreibt, bestimmte Konsumgüter (wenn nicht sogar bestimmte Bedürfnisse) zu ächten. Solange die Konsumenten freiwillig verzichten, wird der Befriedigungswert der moralisch legitimierten Konsumgüter durch den der Zugehörigkeit zu der Gruppe erhöht. Je mehr sie sich aber zu einem Verzicht gezwungen fühlen, desto mehr wird der Befriedigungswert des Konsumgutes um den der Zugehörigkeit zu der Gruppe geschmälert, was die bisher geächteten Konsumgüter als besonders befriedigend erscheinen lässt: Ihr Befriedigungswert wird überschätzt, weil sie bisher geächtet (oder sonst wie unerreichbar) gewesen sind.
Freilich müssen Bedürfnisse nicht zwangsläufig durch den Erwerb und den Gebrauch von Konsumgütern befriedigt werden. Dass es in einer Konsumgesellschaft eine Präferenz für diese Art der Bedürfnisbefriedigung gibt, hängt mit dem Glauben zusammen, es seien die Güter, die aus sich selbst heraus befriedigten. Der Befriedigungswert eines Konsumgutes hängt jedoch davon ab, wie Konsumenten es gebrauchen, und ist somit das Resultat eines Aneignungsprozesses. Je besser Konsumenten ihre eigene Bedürfnisstruktur und die Gebrauchsbedingungen eines bedürfnisspezifischen Konsumguts kennen, desto mehr Befriedigung können sie gewinnen. Traumarbeit im Warenparadies
Wenn die Konsumgesellschaft dazu tendiert, subjektives Wohlbefinden bevorzugt über Konsumgüter herstellen zu wollen, dann wird Enttäuschungsprophylaxe und -bewältigung zu einer Schlüsselqualifikation von Konsumenten, weil Konsumgüter oft nicht halten, was sie versprechen. Insofern trifft die Konsumkritik den Punkt, wenn sie die notwendige Ent-Täuschung als Resultat eines täuschenden "Gebrauchswertversprechens" begreift: Der Gebrauchswert wird enttäuscht, sei es durch Aufklärung oder einfach deshalb, weil die alltägliche Erfahrung des Gebrauchs das Versprechen widerlegt. Dabei wird allerdings unterstellt, Konsumenten erwarteten, dass das Versprochene wahr und das Versprechen bindend sei. Solche Konsumenten mag es geben. Freilich waren sie schon früher nicht auf der Höhe der Zeit und sind es heute weniger denn jemals zuvor.
Ein Begriff wie "Gebrauchswertversprechen" unterstellt, Konsumenten gebrauchten das erworbene Gut tatsächlich im Sinne des ihm von der Werbung zugeschriebenen Zweckes. Wofür wirbt beispielsweise ein Anti-Aging-Produkt, das verspricht, sein Gebrauch hebe die Zeit auf? Sollen die Konsumentinnen und Konsumenten wirklich glauben, mit Hilfe dieses Produktes könnten sie ihr Altern hinauszögern oder gar verhindern? So dumm werden die meisten nicht sein, unter Umständen aber dennoch Gefallen an dem Versprechen finden!
Je mehr sich die Konsumgesellschaft von einer Güterproduktion entfernt, die der physischen Selbsterhaltung dient, desto psychologisch aufgeladener wird der Nutzen sein, den sich Konsumenten von den Konsumgütern versprechen, die sie erwerben. Zugespitzt formuliert, bemisst sich der Gebrauchswert eines Gutes für Konsumenten immer häufiger danach, welchen Imaginations- und Inszenierungswert es für sie hat und inwieweit es sich für sie als Stimmungsmacher eignet.
Um bei dem gewählten Beispiel zu bleiben: Das Anti-Aging-Podukt wird nicht daran gemessen, ob es das Altern tatsächlich hinauszögern oder gar verhindern kann, sondern daran, ob es Konsumenten hilft, einen emotional stimulierenden Tagtraum über eine Welt anzuregen und in Gang zu halten, in dem die Zeit aufgehoben ist. Mit dem Erwerb und dem Gebrauch eines solchen Produktes treten die Konsumenten als Figur in diese Tagtraumwelt ein, ohne zwangsläufig realitätsflüchtig werden zu müssen. "Schön wäre es, wenn ..., aber es ist nicht so und muss auch nicht so sein."
Die Konsumgesellschaft produziert von Anfang an Tagträume. Schon die Metropolen des späten 19. Jahrhunderts waren Tagtraumfabriken, in denen der Einkauf hinter dem Einkaufsbummel zurücktreten konnte und die erworbenen Konsumgüter als Erinnerungssymbole einer entfesselten Sinnlichkeit dienten. Was sich seit jener Zeit in erster Linie verändert hat, ist die Anstrengung, das durch Konsumgüter gestützte Tagträumen zu verwissenschaftlichen, das heißt: die psychologische Funktion von Konsumgütern durch einen Zugriff auf die geheimen, womöglich sogar unbewussten Wünsche der Konsumentinnen und Konsumenten zu steigern. So entsteht eine "Erlebnisökonomie", die zwar mit dem finanziellen Wohlstand einer Gesellschaft verbunden ist, aber vermutlich auch Zeiten eines ökonomischen Abschwungs übersteht, in denen es an Kaufkraft fehlt.
In letzter Konsequenz wird Konsum zum Therapeutikum. So findet sich in einer Ausgabe der "Oncology Times" ein bemerkenswerter Erfahrungsbericht. Eine geheilte Krebspatientin berichtet über ihre alltäglichen Strategien des Umgangs mit den psychischen Belastungen der Erkrankung und deren Behandlung. Der Bericht trägt den Titel "Retail Therapy", was am ehesten mit "Einkaufstherapie" übersetzt werden kann. Angesichts ihrer psychischen Belastungen schlägt der Ehemann der Krebspatientin vor, sie solle einen bestimmten Geldbetrag dafür reservieren, ihn auszugeben, ohne daran zu denken, ob sie die Konsumgüter brauche oder nicht. Anfangs empfindet sie dies als Verschwendung, dann aber findet sie Gefallen daran, weshalb sie von ihren Einkäufen als einer "Konversion" spricht. Demgemäß ist ihr Erlebnisbericht nahezu euphorisch: Einkaufen sei ein Therapeutikum "ohne Nebeneffekte", das ihr geholfen habe, sich auch in Zeiten der Chemotherapie und deren Nebenwirkungen zu entspannen: "Nach 15 oder mehr Minuten glückseligen Einkaufens habe ich mich entspannter und zufriedener gefühlt." Während die Chemotherapie die Lebenslust und Lebensfreude reduziert, erlebt die Patientin ihre Einkaufstherapie als eine "Übung in Fülle", die ihren "Selbstwert stärkt und ihre psychischen Übel lindert". Konsum als Lebensversicherung
Die zitierte Krebspatientin betont in ihrem Erfahrungsbericht nachdrücklich, dass sie keine zwanghafte oder süchtige Käuferin sei. Vielleicht betreiben aber auch pathologische Käuferinnen und Käufer eine "Einkaufstherapie", mit der sie gegen eine Bedrohung ihrer psychischen Integrität kämpfen. Dafür spricht einiges, nicht zuletzt der Befund, dass sie im Vergleich mit einer Gruppe gemäßigter Käufer signifikant materialistischer eingestellt sind. Ein weiterer Befund belegt, dass junge Erwachsene, die in nicht-intakten Familien aufwachsen, etwa in Scheidungsfamilien, sehr viel materialistischer eingestellt sind als junge Erwachsene aus intakten Familien. Dabei fällt der Unterschied um so größer aus, je gravierender die innerfamiliären Konflikte sind. So gesehen, lässt sich behaupten, dass die Konsumgesellschaft mit den Konsumchancen, die sie bietet, ein Belohnungssystem zur Verfügung stellt, das mit dem Versprechen lockt, subjektives Missbefinden zu mildern oder zu beseitigen. Das Beispiel der pathologischen Käufer verweist allerdings eher auf eine "Abwärtsspirale": Statt mangelndes subjektives Wohlbefinden zu kompensieren, enttäuschen die Konsumgüter, so dass das subjektive Wohlbefinden weiter sinkt.
Zu guter Letzt schließt sich der Kreis, und Sigmund Freud bekommt Recht. Denn ausgeklügelte Experimente zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger mit einer starken materialistischen Einstellung, die mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert werden, verstärkt materialistisch handeln: Statt die eigene Lebensführung zu überdenken, gieren sie nach mehr Geld und Besitz. Damit stellen sie unter Beweis, dass Konsum zu den "Technik(en) der Leidabwehr" gehört, mit denen die Mitglieder der Konsumgesellschaft versuchen können, ihre Todesangst zu besänftigen: "Ich konsumiere, deshalb weiß ich, dass ich (noch) bin (...)."
Vgl. Detlef Briesen, Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral, Frankfurt/M. - New York 2001.
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Gesammelte Werke Bd. XIV, London 1948, S. 434.
Ebd.
Ebd., S. 432.
Ebd.
Vgl. Luigino Bruni/Pier Luigi Porta (eds.), Handbook of the Economics of Happiness, Cheltenham 2007.
Vgl. Ruut Veenhoven, Freedom and happiness: a comparative study in forty-four nations in the early 1990s, in: Ed Diener/Eunook M. Suh (eds.), Culture and Subjective Well-Being, Cambridge 2000, S. 257 - 288.
Vgl. Richard Layard, Die glückliche Gesellschaft. Kurswechsel für Politik und Wirtschaft, Frankfurt/M. - New York 2005.
Vgl. Barbara L. Fredrickson, The broaden-and-build theory of positive emotions, in: Philosophical Transactions, Biological Sciences, 359 (2004), S. 1367 - 1377.
Vgl. Bruce Headey/Alex Wearing, Understanding Happiness: a theory of subjective well-being, Melbourne 1992
Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt/M. 1999.
Vgl. Gregory Berns, Satisfaction - Warum nur Neues uns glücklich macht, Frankfurt/M. - New York 2006; Matthias Binswanger, Die Tretmühlen des Glücks - Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun?, Freiburg 2006.
Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M. 1971.
Vgl. Morris B. Holbrook/Elizabeth C. Hirschman, The experimental aspects of consumption: consumer fantasies, feelings, and fun, in: Journal of Consumer Research, 9 (1982), S. 132 - 140.
Vgl. Rolf Haubl, Consumo ergo sum. Geld und Konsum als Stimmungsmacher, in: Stephan Uhlig/Monika Thiele (Hrsg.), Rausch - Sucht - Lust, Gießen 2002.
Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Hans-Georg Häusel in dieser Ausgabe.
B. Joseph Pine/James H. Gilmore, The Experience Economy, Harvard 1999.
Wendy S. Harpham, Retail therapy, in: Oncology Times, (2008) June 25, S. 50.
Vgl. Rolf Haubl, Geld, Geschlecht und Konsum, Gießen 1998, S. 110 - 147; ders., Geldpathologie und Überschuldung. Am Beispiel Kaufsucht, in: Psyche, 50 (1996) S. 916 - 953; Astrid Müller/Hans Reinecker/Corinna Jacobi/Lucia Reisch/Martina de Zwaan, Pathologisches Kaufen - eine Literaturübersicht, in: Psychiatrische Praxis, 32 (2005), S. 3 - 12.
Vgl. Thomas C. O'Guinn/Ronald J. Faber, Compulsive buying: A phenomenological exploration, in: Journal of Consumer Research, 16 (1989), S. 147 - 157.
Vgl. Aric Rindfleisch/James E. Burroughs/Frank Denton, Family structures, materialism, and compulsive consumption, in: Journal of Consumer Research, 23 (1997), S. 312 - 325.
Vgl. Tim Kasser, T./Kennon M. Sheldon, Of wealth and death: materialism, mortality salience, and consumption behaviour, in: Psychological Science, 11 (2000) 4, S. 348 - 351.
S. Freud (Anm. 2), S. 437.
Collin Campbell, "I shop therefore I know that I am": the metaphysical basis of modern consumerism, in: Karin M. Ekström/Helene Brembeck (Hrsg.), Elusive Consumption, Oxford 2004.
| Article | Haubl, Rolf | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31805/wahres-glueck-im-waren-glueck/ | Konsumgüter erweisen sich zunehmend als ein Belohungssystem, das nicht zuletzt der Kompensation psychosozialer Mangelzustände dient. Doch nur wer kompetent konsumiert, hat die Chance einer bedürfnisgerechten Befriedigung. | [
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Ohne Führer und Bekennerschreiben | Rechtsextremismus | bpb.de | Bei sechs Neonazis klingelte am Morgen des 17. Juli 2013 die Polizei. In Hamburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, aber auch in den Niederlanden und der Schweiz waren die Ermittler zeitgleich ausgeschwärmt. Das "Werwolf-Kommando" - so nannten die Neonazis sich selbst - um den 25-jährigen Schweizer Sebastien N. habe eine geheime Terrorgruppe gegründet, Bombenanschläge geplant und bereits Kontakte zu Waffenlieferanten aufgebaut, so der Vorwurf.
Festgenommen wurde bei der Razzia niemand, die Sicherheitsbehörden waren bereits in einem sehr frühen Stadium eingeschritten. Um keinen Preis, so schien es, wollten sie die Terrorgefahr von rechts unterschätzen, nie wieder ein Debakel wie mit dem Interner Link: Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) riskieren. Dessen Auffliegen im November 2011 hatte die Behörden (wie auch die Öffentlichkeit) komplett überrascht – obwohl es seit dem Zweiten Weltkrieg im In- und Ausland zahlreiche militante und terroristische Gruppen am rechten Rand gegeben hat. Doch litten Verfassungsschützer in Bund und Ländern, so formulierte es der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag, über viele Jahre unter "mangelnder Analysefähigkeit", die rechtsterroristische Gefahr hätten sie deshalb vollkommen "falsch und grob verharmlosend" eingeschätzt.
Es ist aber nicht allein ein Versäumnis der Sicherheitsbehörden: Auch in der breiten Öffentlichkeit war Rechtsterrorismus bis zum Auffliegen des NSU kaum präsent. Wenn früher in Deutschland von Terrorismus gesprochen wurde, ob in Medien oder in politikwissenschaftlichen Definitionen, dann ging es meist um Linksextreme, vor allem um die Rote Armee Fraktion (RAF). Deren Vorgehensweise und deren Strukturen – seitenlange Bekennerpamphlete, feste Kommandostrukturen, teils offene Unterstützerstrukturen – prägten das Bild vom Terrorismus. Dessen rechte Spielart, die grundsätzlich anders aussah und -sieht, geriet dabei offenbar aus dem Blick.
Seit den 1940er Jahren: Immer wieder "Werwolf"-Einheiten
Der Name der im Juli 2013 aufgeflogenen Gruppe um Sebastien N. bezieht sich auf einen Mythos der bereits 70 Jahre alt, aber bis heute in der Neonazi-Szene überaus lebendig ist. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs hatte SS-Reichsführer Heinrich Himmler die Organisation Werwolf ins Leben gerufen. In Kleingruppen organisiert, sollten deren Kämpfer hinter den Frontlinien in bereits befreiten Teilen Hitlerdeutschlands Sabotage- und Terrorakte verüben. Zwar scheiterte dieser Guerillakrieg kläglich, doch die Legende lebte fort.
Nach 1945 gab es immer wieder Grüppchen, die sich in Werwolf-Tradition sahen: In den 1970er Jahren flog die "Wehrsportgruppe Werwolf" im Umfeld des Neonazi-Anführers Michael Kühnen auf. 1992 wurde in Brandenburg eine Truppe namens "Werwolf Jagdeinheit Senftenberg" ausgehoben. Sie hatte sich nicht nur mit Maschinengewehren und Handgranaten ausgestattet, sondern im Dezember 1991 bei dem Versuch, ein Auto zu stehlen, dessen 29-jährigen Besitzer Timo Kählke erschossen.
Bis heute kursiert unter Neonazis das Buch "Werwolf – Winke für Jagdeinheiten", in dem der ehemalige SS-Hauptsturmführer Arthur Erhardt nach dem Zweiten Weltkrieg "grundlegende Regeln für den Partisanenkrieg" formuliert hatte. Auf 68 Seiten handelt das Bändchen unter anderem vom "Wesen des Kleinkriegs" und dessen "Erfolgsaussichten und Grenzen", in den Kapiteln "Ausbildung" und "Taktik" wird der Leser über die "Wahl der Zerstör- und Kampfziele" ebenso belehrt wie über "Nahkampf" und "Straßenkampf". Zeitweise war das Buch auch beim NPD-eigenen Deutsche-Stimme-Versand im Angebot.
1950er und 1960er Jahre: Militante Antikommunisten und NPD-Gewalttäter
In der Wissenschaft gibt es keine allgemein akzeptierte Definition von Terrorismus. Der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber versteht darunter "Formen von politisch motivierter Gewaltanwendung, die von nicht-staatlichen Gruppen gegen eine politische Ordnung in systematisch geplanter Form mit dem Ziel psychischen Einwirkens auf die Bevölkerung durchgeführt werden". Rechtsextreme Terroristen werden dabei von nationalistischen, völkischen, rassistischen oder ähnlichen Ideologien angetrieben.
Der Mediziner und Schriftsteller Paul Lüth (stehend) im März 1953 bei einer internen Tagung des BDJ in Frankfurt. Anfang der 1950er Jahre war er Vorsitzender des Bundes Deutscher Jugend, den Vorsitz legte er 1952 nieder, nachdem seine Mitgliedschaft in der KPD von 1945-1947 bekannt geworden war. An der Gründung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach Ende des Zweiten Weltkriegs sowie an der Veröffentlichung der Werke von Gottfried Benn war er wesentlich beteiligt. (© picture-alliance/dpa)
Terrorgruppen in diesem Sinne entstanden in Deutschland erst ab Ende der 1960er Jahre, doch Vorläufer gab es schon in den ersten Nachkriegsjahren. In den 1950ern etwa erlaubte es der verbreitete Antikommunismus Altnazis und Veteranen der Waffen-SS, unter dem Deckmantel des rechtsgerichteten Bundes Deutscher Jugend (BDJ) eine paramilitärische Kampftruppe aufzubauen. Finanziert wurde dieser "Technische Dienst" (TD) des BDJ vom US-Geheimdienst CIA. Bei einem Einmarsch der Russen sollten die Partisanen in "kleinen unabhängigen Einheiten" Widerstand leisten. Rechtsradikale galten dabei den Amerikanern als besonders zuverlässig. Sie durften Waffendepots anlegen, auf US-Übungsplätzen schießen, spurenloses Töten, Vernehmungs- und Foltermethoden trainieren und galten als deutscher Arm der Nato-Geheimarmee Gladio/Stay Behind, die während des Kalten Krieges in ganz Westeuropa bestand und mit rechtsextremen Terrorakten in mehreren Ländern, vor allem in Italien, in Verbindung gebracht wird. 1952 flog der TD auf, alle Festgenommenen aber wurden nach kurzer Zeit freigelassen.
Die "politisch motivierte Gewaltanwendung" von rechts begann in den späten 1960er Jahren. Bis dahin waren viele Alt- und Neonazis noch davon ausgegangen, bald in ein Parlament nach dem anderen einzuziehen und so die junge Bundesrepublik auf legalem Wege unterminieren zu können. Die Erfolgswelle der NPD ab 1965 schien sie zu bestätigen. Doch spätestens mit deren Scheitern bei der Bundestagswahl 1969 galt der parlamentarische Weg als aussichtslos. Radikale Neonazis griffen daraufhin zu den Waffen. 1970 wurde ein Mitglied des NPD-Ordnerdienstes festgenommen, weil es gemeinsam mit Parteikameraden eine "Europäische Befreiungsfront" gegründet hatte. Die Gruppe hatte unter anderem Morde an Politikern und Journalisten geplant, die ihr zu weit links standen. Ein Jahr später, 1971, flog die "Wehrsportgruppe Hengst" auf. Ihr Anführer, Bernd Hengst, hatte im NPD-Ordnerdienst eine bewaffnete Truppe um sich geschart, die drei Jahre zuvor einen Anschlag auf ein DKP-Büro verübt hatte und Angriffe auf Munitionsdepots und die Bonner SPD-Zentrale plante.
1970er Jahre: Die ersten festen Strukturen entstehen
Einige der Fundstücke, die auf dem Gelände um das Wohnhaus des Rechtsextremisten Heinz Lembke in Oechtringen im Landkreis Uelzen und in angrenzenden Wäldern Ende Oktober und Anfang November 1981 gefunden wurden. (© picture-alliance/dpa)
Während der linke Terrorismus von RAF und Bewegung 2. Juni alle Aufmerksamkeit auf sich zog, entstanden auch am rechten Rand langlebige Terrororganisationen. 1978 und 1979 fand die Polizei bei 33 Razzien große Mengen von Waffen. Im Prozess gegen die oben erwähnte "Wehrsportgruppe Werwolf" wurden 1979 erstmals vier Rechtsextreme als Terroristen verurteilt. Sie hatten unter anderem Banken und ein Nato-Übungslager überfallen.
1981 stolperten Waldarbeiter in der Lüneburger Heide über vergrabene Kisten mit Munition und Sprengstoff. Die Polizei machte als Verantwortlichen den Forstaufseher und Rechtsterroristen Heinz Lembke aus. Drei Jahre zuvor hatte der gemeinsam mit Peter Naumann, einem studierten Chemiker und langjährigen Funktionär der NPD-Jugendorganisation JN, eine Bombe am Denkmal in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom gezündet. Das Denkmal erinnert an ein Massaker, bei dem die SS 1944 335 Zivilisten umbrachte. 1979 sprengte Naumann dann zusammen mit anderen Komplizen zwei TV-Sendeanlagen, um die Ausstrahlung der US-Fernsehserie "Holocaust" zu behindern. Nach seiner Festnahme führte Heinz Lembke die Polizei zu einem gewaltigen Waffenarsenal, das aus 33 unterirdischen Depots bestand. Die genaue Herkunft der Waffen wurde nie geklärt, Lembke wurde kurz vor einer von ihm angekündigten Aussage tot in seiner Zelle gefunden. Naumann wiederum konnte erst nach langen Ermittlungen für einige seiner Taten verurteilt werden, 1988 erhielt er wegen drei Sprengstoffanschlägen, Verabredung zum Mord und Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren.
Der Neonazi Karl-Heinz Hoffmann im Juni 1975. (© picture-alliance/dpa)
Die bekannteste Terrorgruppe der 1970er Jahre war die "Wehrsportgruppe Hoffmann" (WSGH), 1973 gegründet vom damals 35-jährigen Karl-Heinz Hoffmann. Regelmäßig veranstaltete die Gruppe paramilitärische Übungen, für die internationale Presse posierte man gern mit scharfen Waffen, Stahlhelmen und Uniformen vor alten Wehrmachtsfahrzeugen in den bayerischen Wäldern. Die bayerische Landesregierung ließ die WSGH lange gewähren. Der damalige Innenminister Gerold Tandler (CSU) begründete seine Weigerung, die Gruppe zu verbieten, mit den Worten: Wenn ein Verein sich an die Vorschriften wie das "Waffengesetz, das Naturschutzgesetz, die Straßenverkehrsordnung usw. halte, könne die Abhaltung von 'Wehrsportübungen' nicht unterbunden werden".
Im Januar 1980 schließlich schritt Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) ein und verbot die WSGH. Hoffmann setzte sich danach in den Libanon ab und gründete in einem Palästinenserlager die "Wehrsportgruppe Ausland". Zurück in Deutschland, wurde er 1984 zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt – er hatte im Libanon Gefolgsleute brutal gefoltert. Unter Rechtsextremen wird Hoffmann bis heute verehrt, Szeneversandhäuser vertreiben T-Shirts mit seinem Porträt, die NPD-Jugendorganisation JN lädt ihn immer noch zu Vortragsabenden ein.
1980er Jahre: Blutiger Höhepunkt des Rechtsterrorismus
Anfang der 1980er entlud sich dann eine wahre Gewaltwelle, allein 1980 forderte der Rechtsterrorismus in Deutschland mindestens 20 Menschenleben. Aber anders als bei der linksextremen RAF gab es keine zentralen Strukturen, die rechten Terroristen agierten in Kleingruppen oder als Einzeltäter. Auch fehlte es, bis auf Ausnahmen, an ausgefeilten ideologischen Papieren. "Fanale des Schreckens und nicht politische Konzepte sind die Handschrift des Rechtsterrorismus", resümierte Bernhard Rabert 1995 in einer Studie.
Mehrere der Terroristen, die in den 1980er Jahren Anschläge verübten, kamen aus den Reihen der "halbverrückten Spinner" (wie Gerold Tandler die Wehrsportgruppe Hoffmann auch nach dem Verbot noch nannte). Schon im Mai 1976 hatte ein 19-jähriger Anhänger Hoffmanns einen Sprengstoffanschlag auf den Münchner US-Soldatensender AFN versucht. Auch der blutigste rechtsextreme Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik, das Oktoberfestattentat am 22. September 1980, wird einem ehemaligen Mitglied der Hoffmann-Truppe zugeschrieben, dem 21-jährigen Geologiestudenten Gundolf Köhler. Köhlers Bombe riss 13 Menschen in den Tod, mehr als 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Bis heute bleibt umstritten, ob Köhler wirklich als isolierter Einzeltäter gehandelt hat.
Das mit Kränzen geschmückte Grab des Rechtsextremisten Frank Schubert am 12.01.1981. Die Beileidsbekundungen zeugen vom rechtsextremen Umfeld des Mörders.
(© picture-alliance/dpa)
Im Dezember 1980 wurden in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen. Wenige Tage später, am Heiligabend 1980, versuchte Frank Schubert, Mitglied der neonazistischen "Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit" (VSDB/PdA), Waffen über die Schweizer Grenze zu schmuggeln. Bei seiner Entdeckung schoss er sofort, zwei Beamte des Schweizer Grenzschutzes starben, Schubert beging Selbstmord. Gegründet worden war der VSDB-Vorläufer PdA 1971 von Friedhelm Busse, einem glühenden Nazi, der sich als 15-Jähriger noch kurz vor Kriegsende freiwillig für die Waffen-SS gemeldet hatte und später bei so ziemlich jeder rechtsextremen Organisation mitmachte, die es in der frühen Bundesrepublik gab. Busse stilisierte Schubert, der als seine rechte Hand galt, später zum "Blutzeugen der Bewegung". Ein Jahr nach Schubert starben zwei weitere Gefolgsleute Busses, als Polizisten am 20. Oktober 1981 sein "Kommando Omega" auf dem Weg zu einem Banküberfall stoppten und es zu einer Schießerei kam.
Ebenfalls ab 1980 wurden die sogenannten "Deutschen Aktionsgruppen" des Altnazis und Rechtsanwalts Manfred Roeder aktiv. Nachdem er jahrelang mit einem rechtsextremen Verein namens "Deutsche Bürgerinitiative" aktiv war, scharte er eine militante Zelle fanatischer Aktivisten um sich. "Nach acht Jahren war der legale Weg erschöpft", sagte Roeder rückblickend. "Entweder mussten wir aufgeben oder in den Untergrund gehen. Aufgeben kam nicht in Frage [...] Der Kampf muss jetzt auf einer anderen Ebene mit noch größerer Entschlossenheit fortgeführt werden, denn wir werden niemals tatenlos zusehen, wenn Deutschland zerstört wird." Es folgten Bomben- und Brandanschläge, in Hamburg starben dabei 1980 zwei junge vietnamesische Flüchtlinge. Roeder wurde wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung zu 13 Jahren Haft verurteilt, kam wegen guter Führung aber bereits nach acht Jahren frei. Sein Aktionismus im tiefbraunen Milieu ging weiter, 1996 verübt er einen Farbanschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Erfurt. Beim Prozess gegen Roeder fanden sich unter den angereisten Unterstützern auch die späteren NSU-Terroristen Böhnhardt und Mundlos.
1982 raubte eine klandestine Neonazizelle fünf Banken aus und erbeutete dabei 630.000 DM. Die "Hepp/Kexel-Gruppe" nannte sich nach ihren Anführern Walther Kexel und Odfried Hepp, einem ehemaligen Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann. Beide planten gemeinsam mit dem Bombenleger Peter Naumann, Rudolf Heß aus dem alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau zu befreien. Nach einem Streit wurde der Plan aber aufgegeben. Stattdessen veröffentlichte die Hepp/Kexel-Gruppe ein Papier mit dem Titel "Abschied vom Hitlerismus", in dem sie zum "antiimperialistischen Befreiungskampf" gegen die USA und Israel aufrief. Drei Autobombenanschläge auf US-amerikanische Militärangehörige in Frankfurt, Butzbach und Darmstadt verübte die Gruppe in der Folge. Ihre Aktivitäten galten – bis zum Auffliegen des NSU - als Höhepunkt des deutschen Rechtsterrorismus, da die Täter auffallend professionell, geplant und konspirativ vorgingen.
1990er Jahre: Der Terrorismus verblasst hinter Straßenterror
Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung begann Anfang der 1990er Jahre eine beispiellose rechtsextreme Gewaltwelle. In Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und vielen anderen Orten kam es zu pogromartigen Ausschreitungen, oft gegen Asylbewerberheime. Meist handelte es sich bei diesen Taten um spontane Angriffe, etwa von betrunkenen Skinhead-Trupps. Dieser blanke Straßenterror rückte den Terrorismus von rechts aus dem Blickfeld, doch gärte er im Stillen weiter vor sich hin.
1997 fand die Polizei bei Berliner Neonazis eine Rohrbombe, mit der sie einen Anschlag auf einen jungen PDS-Politiker in Treptow verüben wollten. Im Mai und Juni 2000 wurden bei militanten Rechtsextremen in Berlin und Südbrandenburg eine zündfähige Rohrbombe und ein Gewehr mit Zielfernrohr und Schalldämpfer gefunden. Ebenfalls in Brandenburg verübte eine selbsternannte "Nationale Bewegung" in den Jahren 2000 und 2001 eine Serie von mindestens 16 Straftaten: Mehrere türkische Imbisswagen wurden angezündet, der jüdische Friedhof und ein Wohnheim für jüdische Zuwanderer in Potsdam angegriffen. Täter wurden nie ermittelt.
Der Neonazi Martin Wiese wird am 24. November 2004 in einen Gerichtssaal in München geführt. Wegen der Planung eines Bombenanschlags auf die Grundsteinlegung des Jüdischen Gemeindezentrums München und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ("Kameradschaft Süd") wurde er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. (© picture-alliance/AP)
Etliche Sprengstoffanschläge jener Jahre sind bis heute ungeklärt: Gleich zweimal war 1998 das Grab des langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, in Berlin-Charlottenburg das Ziel. Im März 1999 wurde in Saarbrücken ein Anschlag auf die Wanderausstellung zu Verbrechen der Wehrmacht verübt. Im März 2002 warfen Unbekannte erneut eine Bombe auf den jüdischen Friedhof in Berlin-Charlottenburg. Im November 2003 machte ein geplanter Anschlag in München Schlagzeilen: Der damals 27-jährige Martin Wiese hatte mit einigen Komplizen aus der neonazistischen "Kameradschaft Süd" die Grundsteinlegung der neuen Synagoge angreifen wollen.
2000er Jahre: "Totalversagen des Staates" in Sachen NSU
Interner Link: Zu jenem Zeitpunkt hatte der Nationalsozialistische Untergrund bereits vier seiner zehn Morde begangen, bis zu seinem Auffliegen 2011 brachte er insgesamt zehn Menschen um und verletzte Dutzende bei Sprengstoffanschlägen und Banküberfällen. Die Sicherheitsbehörden kamen dem NSU 13 Jahre lang nicht auf die Spur. Der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag, der das Debakel 2012 und 2013 akribisch aufarbeitete, sprach rückblickend von einem "Totalversagen des Staates". Eine der wichtigsten Ursachen: Die Ermittler hatten die Besonderheiten des Rechtsterrorismus' ignoriert. So suchten sie, weil es keine Bekennerschreiben gab, nur flüchtig nach rassistischen Tätern und konzentrierten sich stattdessen auf angebliche mafiöse Verbindungen der Opfer. Auch rückblickend rechtfertigten die Sicherheitsbehörden dies: "Die Umstände der Mordserie sind völlig untypisch für Terroristen", betonte auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), denn ein "Protzen und Prahlen mit den Taten" sei "sonst in der rechtsextremen Szene üblich".
Das ist falsch: Sich nicht zu bekennen, war und ist unter Rechtsterroristen eine verbreitete Strategie. Als italienische Neofaschisten 1980 beim Anschlag auf den Bahnhof von Bologna 85 Menschen töteten, gab es ebenso wenig ein Bekennerschreiben wie in Deutschland bei Taten von Mitgliedern der Wehrsportgruppe Hoffmann, etwa dem Oktoberfestattentat oder dem Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke. "Combat 18", der vor allem in Großbritannien und Skandinavien in den 1990er Jahren aktive, gewalttätige Arm des Nazimusik-Netzwerkes Blood&Honour riet ausdrücklich zu Klandestinität. In einem B&H-"Feldhandbuch" wird unter anderem John Ausonius lobend erwähnt, ein Schwede, der 1991 und 1992 in Stockholm und Uppsala willkürlich insgesamt elf nicht-weiße Menschen niederschoss, teilweise mit einem Scharfschützengewehr mit Laserpointer, weshalb ihn Medien "Laser Man" tauften. Ausonius verschickte keinerlei Bekennerbriefe, was die Angst unter Einwanderern nur noch verstärkte. Derart klandestine Taten ausländischer Rechtsterroristen seien bisweilen wie eine "Blaupause" für den NSU gewesen, so der Bundestagsuntersuchungsausschuss – doch hätten Verfassungsschutz und Polizei über Jahre versäumt, diese zutreffend zu analysieren.
Auch eine zweite Besonderheit des Rechtsterrorismus, bekannt seit den 1970er Jahren, ignorierten die Sicherheitsbehörden: das häufige Agieren als Einzeltäter oder Kleingruppen. Als "leaderless resistance" - zu deutsch: "führerloser Widerstand" wird diese Strategie in der Szene propagiert. Natürlich kannten auch die Behörden solche Konzepte, zogen daraus aber nicht die richtigen Schlussfolgerungen – sie seien "auf dem rechten Auge betriebsblind" gewesen, so der NSU-Untersuchungsausschuss. Sein Abschlussbericht zeichnet auf Dutzenden Seiten nach, wie hohe und höchste Sicherheitsbeamte falsche Vorstellungen vom Rechtsterrorismus pflegten. Immer wieder war damals von einer "braunen RAF" die Rede, man suchte nach größeren Strukturen und Unterstützerszenen – die aber eben für Rechtsaußen eher untypisch sind. "Auf allen Ebenen", so das vernichtende Fazit der Parlamentarier, hätten "Vorurteile und eingefahrene Denkmuster … das Erkennen neonazistischer terroristischer Bedrohungen" behindert.
In der deutschen Neonazi-Szene aber hinterließen die Vorbilder und Konzepte aus dem Ausland unverkennbare Spuren, auch in den rechtsextremistischen Kameradschaften in Thüringen, aus denen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe stammten. Bands der Combat 18-Dachorganisation Blood&Honour tourten damals durch Ostdeutschland (erst 2000 wurde das Netzwerk hierzulande verboten), einen Gutteil seiner späteren Unterstützer lernte das NSU-Trio am Rande solcher Konzerte kennen. Im September 1995 fand die Polizei bei Uwe Böhnhardt ein Luftgewehr, auf das wie bei John Ausonius ein Laserpointer montiert war. 1998 förderte eine Razzia bei den dreien stapelweise einschlägige Literatur zutage: Nazihefte, in denen Combat 18 gehuldigt wurde, ein Exemplar des deutschen B&H-Rundbriefs, darin ein Aufruf zu "leaderless resistance" samt einem ausführlichen Zitat des US-Neonazis Louis Beam, der ein Konzept des "Führerlosen Widerstandes" 1992 veröffentlicht hatte: "Die Patrioten von heute müssen sich auf den größten aller Kriege, den Rassenkrieg, vorbereiten, und dafür muss man geheime Strukturen schaffen und bereit sein, sein Leben zu opfern." Nach diesen Worten handelte der NSU.
Der Mediziner und Schriftsteller Paul Lüth (stehend) im März 1953 bei einer internen Tagung des BDJ in Frankfurt. Anfang der 1950er Jahre war er Vorsitzender des Bundes Deutscher Jugend, den Vorsitz legte er 1952 nieder, nachdem seine Mitgliedschaft in der KPD von 1945-1947 bekannt geworden war. An der Gründung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach Ende des Zweiten Weltkriegs sowie an der Veröffentlichung der Werke von Gottfried Benn war er wesentlich beteiligt. (© picture-alliance/dpa)
Einige der Fundstücke, die auf dem Gelände um das Wohnhaus des Rechtsextremisten Heinz Lembke in Oechtringen im Landkreis Uelzen und in angrenzenden Wäldern Ende Oktober und Anfang November 1981 gefunden wurden. (© picture-alliance/dpa)
Der Neonazi Karl-Heinz Hoffmann im Juni 1975. (© picture-alliance/dpa)
Das mit Kränzen geschmückte Grab des Rechtsextremisten Frank Schubert am 12.01.1981. Die Beileidsbekundungen zeugen vom rechtsextremen Umfeld des Mörders.
(© picture-alliance/dpa)
Der Neonazi Martin Wiese wird am 24. November 2004 in einen Gerichtssaal in München geführt. Wegen der Planung eines Bombenanschlags auf die Grundsteinlegung des Jüdischen Gemeindezentrums München und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ("Kameradschaft Süd") wurde er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. (© picture-alliance/AP)
Externer Link: Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode: Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes vom 22. August 2013, Drs. 17/14600, S. 854
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/40388/terrorismus
Externer Link: http://einestages.spiegel.de/s/tb/29183/werwolf-organisation-im-zweiten-weltkrieg-himmlers-nutzlose-terrortrupps.html
Interner Link: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/geschichte-der-raf/49218/definition-von-terrorismus
Externer Link: http://www.blz.bayern.de/blz/eup/01_12/5.asp
Der Spiegel 48/1990, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13502527.html
Ganser, Daniele: Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Zürich 2008
Der Schweizer Historiker Daniele Ganser vermutet auch hier wie beim TD der fünfziger Jahre einen Zusammenhang mit dem Gladio-Netzwerk
Der Spiegel vom 6/1980
Beim Oktoberfestattentat kamen 13 Menschen ums Leben; bei der Schießerei des VSDB-Mitglieds Schubert wurden drei Menschen getötet. Der Anschlag der Deutschen Aktionsgruppen forderte zwei Menschenleben. Shlomo Lewin und Frieda Poeschke waren zwei weitere Todesopfer des rechten Terrors in den 1980er Jahren.
Rabert, Bernhard: Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute. Bonn 1995, S. 231
Externer Link: http://www.zeit.de/2010/37/Oktoberfest-Attentat
Externer Link: Der Tagesspiegel vom 14.1.2012
Externer Link: Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode: Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes vom 22. August 2013, Drs. 17/14600, S. 855
Nachzulesen etwa in Papieren von Combat 18, ebenso in der vierbändigen Schrift "Eine Bewegung in Waffen" von 1991, deren offenbar deutscher Autor sich ein weiteres Mal auf Himmlers Werwolfeinheiten bezog. 1992 veröffentlichte der US-Neonazi Louis Beam sein Konzept des "leaderless resistance": Geheime Widerstandszellen oder gar Einzelkämpfer ("lone wolves") sollten gegen den (angeblich jüdisch beherrschten) Staat vorgehen. Wann und wo zugeschlagen würde, blieb den Zellen überlassen. Bekennerschreiben waren nicht vorgesehen. Auch die "Turner Diaries" des US-Rechtsextremisten William Pierce beschreiben einen "lone wolf", der gegen Schwarze, Juden und das gesamte politische System der USA kämpft.
Externer Link: Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode: Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes vom 22. August 2013, Drs. 17/14600, S. 854
Externer Link: Ibd., S. 224ff
Externer Link: Ibd., S. 855
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-31T00:00:00 | 2013-08-26T00:00:00 | 2022-01-31T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/167686/ohne-fuehrer-und-bekennerschreiben/ | Die Öffentlichkeit war überrascht, als im November 2011 der "Nationalsozialistische Untergrund" aufflog. Wieso eigentlich? In der bundesdeutschen Geschichte gab es bis zu diesem Zeitpunkt bereits reihenweise rechtsextreme Terrorgruppen. Doch sie werd | [
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Interview: Heinz Grünhagen | Themen | bpb.de |
Zeitzeuge Heinz Grünhagen als junger Brigadier in Strausberg (© Robert-Havemann-Gesellschaft)
Externer Link: Strausberg, Frühsommer 1953. Externer Link: Heinz Grünhagen, ein 20-jähriger Bauarbeiter, hat in dem nahe Berlin gelegenen Ort eine gut bezahlte Stelle gefunden. Obwohl er noch so jung ist, lässt man ihn bereits auf der Vertrauensposition eines Brigadiers arbeiten. Für zehn bis dreizehn Kollegen schreibt er die Arbeitsleistungen auf und rechnet sie beim sogenannten Normer ab. Einmal monatlich lässt er die Berichte vom Bauleiter gegenzeichnen. Die SED verlangt in dieser Zeit immer mehr von den Arbeitern. Heinz Grünhagen weiß, was die geforderte zehnprozentige Normerhöhung bedeutet: Der Lohnverlust ist groß. Er weiß auch, dass die Mehrheit der Kollegen den erhöhten Arbeitsdruck ablehnt. Am Abend des 16. Juni 1953 hört er im Externer Link: RIAS, dass Berliner Bauarbeiter zum Sitz der DDR-Regierung ziehen. Dort fordern sie nicht nur die Rücknahme der Normerhöhung, sondern auch freie Wahlen.
Heinz Grünhagen ist frisch verheiratet, seine Frau ist schwanger. Er hätte also gute Gründe, sich politisch zurückzuhalten. Doch er ist von der Aktion der Berliner Bauarbeiter spontan begeistert. Am nächsten Morgen fährt er zur Baustelle, wo die Bauarbeiter sich im Kulturraum versammeln, um eine Streikleitung zu wählen. Auch Heinz Grünhagen gehört zum Streikkomitee.
Zeitzeuge Heinz Grünhagen als junger Brigadier in Strausberg (© Robert-Havemann-Gesellschaft)
Heinz Grünhagen und seine Kollegen bemächtigen sich mehrerer LKW der Bau-Union und fahren von einem Betrieb zum anderen, um überall im Kreis Strausberg zum Streik aufzufordern. Im Externer Link: Zementwerk Rüdersdorf fordern sie die Freilassung der politischen Gefangenen, die dort unter schwersten Bedingungen arbeiten müssen. Das Lager ist von der Polizei bewacht. Die Demonstranten gehen einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit den bewaffneten Wachmannschaften aus dem Weg und fahren nach Strausberg zurück.
Auf der Baustelle essen sie zu Mittag, dann machen sie sich auf den Weg nach Ost-Berlin. Externer Link: Kasernierte Volkspolizei und sowjetische Militärs sichern die Stadtgrenze. Als die Arbeiter vorrücken, feuern die Russen Warnschüsse ab. Die Kolonne fährt nach Strausberg zurück. Dort trennt man sich.
Nachts wird Heinz Grünhagen von der Stasi aus dem Bett geholt. Man fährt ihn zusammen mit anderen verhafteten Kollegen in die Bezirksstadt Frankfurt (Oder), wo die Verhöre beginnen. Am 25. Juni 1953 findet der Prozess statt, Heinz Grünhagen ist mit seinen 20 Jahren der jüngste Angeklagte. Er erhält fünf Jahre Externer Link: Zuchthaus. Das Gericht wirft ihm vor, bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei Wortführer der Streikenden gewesen zu sein. Der junge Mann verbüßt seine Strafe im Zuchthaus Externer Link: Luckau. Nach seiner Haftentlassung im Jahre 1956 bleibt er in der DDR. Heinz Grünhagen arbeitet fortan im Straßenbau. Jegliche berufliche Entwicklung bleibt ihm versagt. Nach der Friedlichen Revolution 1989 engagiert sich Heinz Grünhagen dafür, die Erinnerung an den Aufstand vom 17. Juni 1953 lebendig zuhalten.
Quellen / Literatur
Text, Video und Foto von Externer Link: www.jugendopposition.de - ein multimediales Angebot über jugendlichen Widerstand in der DDDR (Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Externer Link: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.)
Text, Video und Foto von Externer Link: www.jugendopposition.de - ein multimediales Angebot über jugendlichen Widerstand in der DDDR (Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Externer Link: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-02-10T00:00:00 | 2023-01-10T00:00:00 | 2023-02-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/517083/interview-heinz-gruenhagen/ | Der 20-jährige Brigadier wird in Strausberg in die Streikleitung gewählt. Für seinen Einsatz wird er mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft und jegliche berufliche Entwicklung bleibt ihm versagt. | [
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Der Prager Frühling 1968 und die Deutschen | Prag 1968 | bpb.de | 1. Das Verhältnis CSSR - Bundesrepublik
Auf den ersten Blick passierte 1968 zwischen beiden Ländern nichts Spektakuläres. Es gab keinen politischen Durchbruch in Streitfragen, keinen Vertrag, der die zwischenstaatlichen Beziehungen auf eine neue Ebene gehoben hätte, vielmehr herrschte bei der Erneuerung von Kontakten beiderseitige Vorsicht. Dennoch nahm die vermeintliche Gefahr eines westdeutschen Imperialismus und Revanchismus einen zentralen Platz in der sowjetischen Begründung der militärischen Niederschlagung des zur "Konterrevolution" erklärten "Prager Frühlings" ein. Wie ist es zu erklären?
Die Bundesrepublik Deutschland befand sich in den 60er Jahren in einer schwierigen Lage. Der Bau der Berliner Mauer 1961 hatte die deutsche Teilung nicht nur symbolisch vertieft, sondern stabilisierte auch den ungeliebten DDR-Staat. Die Kuba-Krise 1962 offenbarte die Grenzen und Risiken eines jeden Versuchs, den Ost-West-Gegensatz zugunsten der jeweils führenden Großmacht einseitig zu verändern. Die real gewordene Gefahr einer atomaren Konfrontation und die prinzipielle Verwundbarkeit der USA durch die sowjetischen Raketen haben die sicherheitspolitischen Weichenstellungen im Westen nachhaltig verändert. Sie schlugen sich in dem 1967 verabschiedeten sog. Harmel-Bericht, mit dem in der NATO-Strategie die Détente als zweite Säule der Sicherheitspolitik verankert wurde, nieder. Die USA und das NATO-Bündnis gingen schrittweise zu einer Politik über, die später der amerikanische Präsident Richard Nixon auf die Kurzformel "From Confrontation to Negotiation" brachte.
Aus anderen Motiven suchte auch Frankreich unter De Gaulle den Weg einer Détente mit der Sowjetunion. Die Bundesrepublik, fest im Westen verankert, sicherheitspolitisch jedoch ganz von den USA abhängig, drohte zum Bremsklotz des anlaufenden Ost-West-Dialogs zu werden. Ihr Alleinvertretungsanspruch und die damit verbundene strikte Nichtanerkennung der DDR-Staatlichkeit, die Hallstein-Doktrin, mit der andere Länder von der Anerkennung der DDR durch den automatischen Abbruch der Beziehungen zur Bundesrepublik abgehalten werden sollten, und vor allem der Umstand, dass sie die Anerkennung der bestehenden Grenzen im Osten an das Junktim eines immer unwahrscheinlich erscheinenden Friedensvertrags eines wiedervereinigten Deutschlands knüpfte, machte sie zu einem Staat, zu dessen Zielen eine nachhaltige Revision der europäischen Nachkriegsordnung gehörte. In einer Zeit, in der mehr Sicherheit durch die Stabilisierung des Status quo in Europa erreicht werden sollte, drohte ihr eine politische Isolierung. Ihre Weigerung, den Nichtverbreitungsvertrag über die Atomwaffen zu unterschreiben, setzte sie zudem in Osteuropa dem nicht ganz unberechtigten Vorwurf aus, sie strebe nach eigenen Atomwaffen. Die Sowjetunion knüpfte ihre Unterschrift an die Vorbedingung, dass die Bundesrepublik zuerst unterschreiben müsse.
Politischer Klimawandel 1966
Die ersten Versuche, die verfahrene Lage aufzubrechen, wurden bereits 1966 unternommen. Die Friedensnote, mit der die Bundesregierung den Vorschlag für einen beiderseitigen Gewaltverzicht unterbreitete, sich vom Münchener Abkommen distanzierte und ihr Interesse an gutnachbarschaftlichen Beziehungen zur damaligen Tschechoslowakei kundtat, schuf die Basis für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen.
Obwohl zur Wirtschaftsmacht ersten Ranges aufgestiegen, blieb der außenpolitische Spielraum der Bundesrepublik stark eingeengt. In der Phase der Großen Koalition 1966-1969 mit Willy Brandt als Außenminister versuchte die Regierung, durch eine Lockerung der Hallstein-Doktrin mehr außenpolitischen Spielraum zu gewinnen. Das Junktim Entspannung nur bei Fortschritten in der Deutschlandfrage wurde aufgelöst.
Mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Jugoslawien und Rumänien 1967 versuchte die BRD als die drittstärkste Industrie- und zweitstärkste Handelsmacht der Welt ihre wirtschaftliche Attraktivität in politischen Einfluss umzusetzen. Das erregte Misstrauen der Sowjetunion und vor allem Ostberlins, denn die Versuche des früheren Außenministers Gerhard Schröder, Kontakte zu anderen Ostblockstaaten an Moskau vorbei zu knüpfen, waren dort noch frisch in Erinnerung. In einer Reihe von Ostblockstaaten unterhielt die Bundesrepublik Handelsvertretungen, die in der Praxis auch konsularische Tätigkeiten wahrnahmen und Zugang zu den jeweiligen Außenministerien hatten. Schon unter dem Parteichef Antonín Novotný wurde 1967 eine bundesrepublikanische Handelsvertretung in Prag eröffnet. Da bereits 1958 die BRD zum wichtigsten westlichen Handelspartner der Tschechoslowakei aufgestiegen war, signalisierte Prag mehrfach sein Interesse an der Intensivierung der Kontakte.
1968 Aufbruch mit Bremsung
Der Ausbruch des Demokratisierungsprozesses 1968 steigerte naturgemäß das beiderseitige Interesse. Die Entideologisierung der Außenpolitik, die geplanten Wirtschaftsreformen, die beabsichtigte Steigerung des Lebens- und Konsumstandards der Bevölkerung durch Modernisierung der Industrie, die Abschaffung der Zensur und die Liberalisierung der Reisemöglichkeiten schufen die Basis für zwischenmenschliche Kontakte, für einen freien politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausch zwischen den beiden Ländern.
Die vorsichtige Suche nach "eigenem Antlitz" in der Außenpolitik leitete zwar keine radikale Wende in der Haltung zur Bundesrepublik ein, aber das Aktionsprogramm der Partei vom April sowie die Regierungserklärung sprachen von "realistischen Kräften" in der Bundesrepublik, die man gegen "revanchistische und neonazistische Kräfte" unterstützen wolle. Trotz tschechoslowakischer Hoffnungen, eine aktivere Rolle bei der Überwindung der Ost-West-Teilung Europas spielen zu können, stießen die Prager Reformer bald auf ihre Grenzen. Der starke Druck aus Moskau und anderen Hauptstädten des früheren Ostblocks, der bereits in der Inkubationsphase des Reformexperiments einsetzte, zeigte, wie bedroht der Öffnungs- und Demokratisierungsprozess war. Die Folge war eine beiderseitige Selbstbeschränkung der offiziellen politischen Kontakte, die während des ganzen Reformversuches unterhalb der Regierungsebene blieben. Auf vorsichtiger Suche nach Normalisierung
Der in April 1968 auf tschechoslowakischen Wunsch angereiste Egon Bahr sondierte in Gesprächen mit Ministerialbeamten die Möglichkeiten einer "Normalisierung" der beiderseitigen Beziehungen. Es ging um die Frage eines politischen Abkommens über den Gewaltverzicht, einen Grenzvertrag, um eine Erklärung zum Münchner Abkommen, das sich im September 1968 zum dreißigsten Mal jährte, sowie um einen Vertrag über die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Gespräche wurden auf einer sehr allgemeinen Ebene geführt und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht einmal erwähnt.
Beunruhigende Truppenbewegungen
Bereits im Mai wurden angesichts der sowjetischen Truppenbewegungen im Außenministerium interne Überlegungen angestellt, wie sich die Bundesregierung im Falle einer militärischen Intervention in der Tschechoslowakei verhalten sollte. Probleme eventueller Flüchtlingswellen, des Übergreifens bewaffneter Handlungen auf das Gebiet der BRD, der Koordinierung der Aktivitäten der US-Streitkräfte und des Grenzschutzes wurden erörtert. Eine Zurückhaltung auf allen Gebieten seitens der BRD wurde vereinbart. Vom deutschen Boden sollte keine aktive Intervention auf tschechisches Gebiet unternommen, kein Aufruf zu Fluchtbewegungen erfolgen und uniformierten Soldaten verboten werden, sich näher als 5 km der Grenze zu nähern. Später wurden als Zeichen einer ostentativen Nichteinmischung die schon 1967 beschlossenen militärischen Manöver in Bayern "Schwarzer Löwe" abgesagt.
Im Verlauf des Mai und Juni besuchte eine Reihe deutscher Politiker Prag. Es waren vor allem Sondierungsgespräche auf der Parteiebene. Die CDU- Abgeordneten Marx und Müller-Hermann, die FDP-Spitze Scheel und Genscher sowie der SPD-Abgeordnete EppEppler informierten sich vor Ort über das Geschehen und loteten die Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit aus. Manche dieser Unterredungen in Prag wurden halb versteckt und außerhalb der Räumlichkeiten des Außenministeriums, häufig in einer Gaststätte geführt. Der tschechoslowakische Außenminister Hájek wollte offensichtlich angesichts der harschen Kritik aus Moskau und Ostberlin den Anschein von inoffiziellen Unterredungen vermitteln.
Im Zusammenhang mit tschechoslowakischen Kreditwünschen besuchte am 16.Juli der Bundesbankpräsident Dr.Blessing ebenfalls die Tschechoslowakei. Dennoch wurden keine gewichtigen Verträge abgeschlossen und der Außenhandel zwischen den beiden Ländern nahm 1968 nicht signifikant zu. Während seines Besuchs traf Blessing den tschechoslowakischen Notenbankpräsidenten Pohl. Beide Seiten einigten sich, dass etwaige Kreditwünsche seitens der Tschechoslowakei nicht allein von deutschen Banken, sondern von einem Bankenkonsortium gewährt werden sollten, an dem sich auch andere europäische Banken beteiligen würden. In Unterredungen zwischen westdeutschen Ministerialbeamten und dem stellvertretenden Regierungschef und Vater der Wirtschaftsreform Ota Šik wurden lediglich allgemeine Interessenbekundungen deutscher Wirtschaft an den Reformen und ihre Bereitschaft zur engeren Kooperation bekräftigt. Kleinere Initiativen der Hamburgischen Handelskammer wie die Abhaltung eines Marketingseminars, um die Exportchancen der tschechoslowakischen Wirtschaft zu verbessern, wurden angesichts der gespannten Lage ebenso wie die Kreditwünsche auf den Herbst vertagt.
Dank für Zurückhaltung aus Bonn
Das einzige offizielle Sondierungsgespräch, das von Prag aus in Richtung Bonn veranlasst wurde, ist Ende Juni ohne handfeste Ergebnisse nur auf der Ebene des Instituts für Internationale Politik und der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik geführt worden. Inoffizielle Kontakte des neuen tschechoslowakischen Außenministers Jiří Hájek zum auswärtigen Amt wurden über Vertrauenspersonen abgewickelt. Über einen Mittelsmann ließ Hájek seine westdeutsche Gesprächspartner freimütige Informationen über tschechoslowakische Klagen angesichts der feindseligen Haltung der DDR zu den Vorgängen in der Tschechoslowakei, die Bemühungen der Prager Diplomatie, einen Freundschafts- und Beistandspakt mit Jugoslawien und Rumänien zu schließen und die Notwendigkeit, Ungarn einzubeziehen, ohne dessen Kooperation eine selbständigere Politik gegenüber Moskau nicht durchzusetzen sei.
Zudem wurde übermittelt, dass außer einer passenden Formel über das Münchner Abkommen von 1938 einer Kooperation mit der Bundesrepublik nichts im Wege stünde. Er dankte für die besonnene Zurückhaltung der BRD gegenüber sowjetischen und ostdeutschen Versuchen, die Spannungen durch die Behinderung des Reise- und Transitverkehrs nach Westberlin anzuheizen. Während dieser eher zaghaften Kontakte überschlugen sich im Sommer die Ereignisse in der Tschechoslowakei und das Anwachsen der Spannungen innerhalb des Warschauer-Pakt-Bündnisses besonders durch den Warschauer Brief vom 15.Juli 1968, mit dem der Bruch zwischen der ČSSR und den fünf Warschauer Pakt Staaten öffentlich und in dem die Bundesrepublik scharf angegriffen wurde, ließen das faktische Gewicht der bilateralen Beziehungen – trotz sowjetischer und ostdeutscher Propaganda – auf eine fast zu vernachlässigende Größe schrumpfen.
"Das beste, was wir für die Tschechoslowakei tun, ist nichts zu tun"
Trotz der praktizierten Zurückhaltung Bonns gegenüber den Ereignissen in der Tschechoslowakei, die der damalige Außenminister Willy Brandt auf die Formel brachte: "Das beste, was wir für die Tschechoslowakei tun, ist nichts zu tun", wurde im Rahmen der sowjetischen Eskalationspolitik der "westdeutsche Imperialismus und Revanchismus in der ostdeutschen, sowjetischen und polnischen Presse" zum Popanz aufgebaut. Mit ihrem dreisten Aide-mémoire vom 5.Juli 1968 versuchte die UdSSR unter Berufung auf ihre Pflichten aus dem Potsdamer Abkommen und den Artikel 53 und 107 der UNO-Charta vom 26.6.1945, ihr Interventionsrecht in Deutschland von der Verpflichtung der Mitglieder der Antihitlerkoalition herzuleiten, im Falle einer erneuten Aggression "Zwangsmaßnahmen" gegen das besiegte Land zu ergreifen. Mit anderen Worten, durch ihre aggressive Politik der geheimen atomaren Aufrüstung, der Einmischung in die Ereignisse in der Tschechoslowakei und die beabsichtigte Destabilisierung sozialistischer Staaten bedrohe die BRD den Weltfrieden. Um dies zu verhindern, behalte sich die UdSSR das ihr 1945 eingeräumte Interventionsrecht vor. Im Memorandum wurde u.a. behauptet, dass einflussreiche Kreise in der Bundesrepublik an die Abtretung tschechoslowakischer Gebiete dächten.
Bereits vor der Intervention im August beschränkte sich die Politik des Bundeskanzlers Kiesinger gegenüber der Tschechoslowakei auf die öffentliche Dementierung der absurden Vorwürfe, die ostdeutsche, sowjetische u.a. Presseorgane verbreiteten. Nach innen versuchte der Kanzler, an alle Parteien zu appellieren, keine weiteren Besuche in die Tschechoslowakei durchzuführen, um sich nicht noch mehr dem Verdacht einer Einmischung auszusetzen.
Auch CSU-Chef Franz Josef Strauß, der konservative Bayer, wollte Dubček nicht schaden und enthielt sich bis August 1968 jeder Äußerung zu dessen Person. Zu Newsweek-Journalisten meinte er allerdings, dass es eigentlich angebracht gewesen wäre, klar zu sagen, "dieser Dubček ist der gefährlichste aller Kommunisten, denn er macht den Kommunismus im Westen annehmbar, täuscht unsere Öffentlichkeit und erweckt den trügerischen Schein, als ob es einen humanen Kommunismus gebe." Er sei zwar nicht dieser Meinung, sie wäre jedoch eher für ihn hilfreich als die allseitigen Lobeshymnen in den westdeutschen Medien.
Propagandaoffensive des Warschauer Pakts
Nach der Militär-Intervention in Prag unter Führung der Sowjetunion, die als "völkerrechtswidrig" verurteilt wurde, sah sich die Bundesregierung nicht nur einer synchronisierten Propaganda in der Presse der Okkupationsstaaten ausgesetzt, die die "revanchistische" Bundesrepublik in eine direkte Beziehung zu der vermeintlichen Konterrevolution setzten, sondern fürchtete, dass die Sowjetunion eine grundlegende Wende in der Deutschlandpolitik vorbereite. Hatte sie bis dahin nicht grundsätzlich die Möglichkeit eines vereinigten Deutschland ausgeschlossen, so lieferte die Begründung der militärischen Intervention, dass es niemandem je erlaubt werde, ein einziges Glied aus der Gemeinschaft der sozialistischen Ländern herauszubrechen, Anlass zur Sorge, dass das Streben nach der Beseitigung der deutschen Teilung a priori als feindliche Politik bewertet werde.
Aber auch im Westen gab es Kritik an der deutschen Ostpolitik. Im September 1968 gaben De Gaulle und sein Außenminister Debré dem deutschen Kanzler und seinem Außenminister zu verstehen, dass sie die deutsche Politik für einen Faktor hielten, der zur Eskalation der Lage mit beigetragen habe. Im deutschen Bundestag übte daraufhin Walter Scheel öffentliche Selbstkritik wegen seiner Prag-Reise im Sommer 1968.
In der Regierungskoalition gab es keine Zweifel, dass an der Entspannungspolitik festgehalten werden muss und dass die Gespräche zuerst mit der Sowjetunion geführt werden müssen. Bereits am 8. Oktober 1968 traf Willy Brandt den sowjetischen Außenminister Gromyko um die gegenseitige Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft auszuloten. Die militärische Okkupation der Tschechoslowakei und ihr künftiges Schicksal wurden mit keinem einzigen Wort mehr erwähnt.
2. Das Verhältnis CSSR - DDR
Mit der DDR, dem "ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden", gab es in den 60er Jahren sowohl eine enge wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit als auch Spannungen, die bei verschiedenen Anlässen sogar öffentlich ausgetragen wurden. Mit wachsendem Misstrauen beobachteten die SED-Ideologen die Liberalisierungstendenzen im tschechoslowakischen Kulturbetrieb.
Eine Kafka-Konferenz in Liblice 1963, die so maßgeblich zur Erneuerung des kulturellen Gedächtnisses und zur Vergegenwärtigung der deutsch-jüdischen Kultur in der Tschechoslowakei beitrug, wurde zur Zielscheibe der SED-Kritik. Ebenso waren die zunehmenden wirtschaftlichen, kulturellen und menschlichen Kontakte tschechoslowakischer Bürger nach Westberlin der DDR ein Dorn im Auge. Als Bürger einer Siegermacht hatten sie dort einen, von der ostdeutschen Bürokratie zwar registrierten und behinderten, jedoch nicht zu unterbindenden Zugang gehabt. Die spürbare Öffnung der tschechoslowakischen Kultur und der Gesellschaftswissenschaften gegenüber westlichen marxistischen wie nichtmarxistischen Denkströmungen veranlassten Horst Sindermann, auf dem ZK-Plenum im Februar 1964 gegen "neue Frühlingstheorien", die den sozialistischen Realismus ersetzen und den Marxismus verfälschen sollten, zu Felde zu ziehen. Mehrfach nahm er Bezug auf die Kafka-Konferenz und einige Äußerungen in den tschechoslowakischen Zeitschriften.
Seit 1967 Versuche der Festigung einer gemeinsamen Außenpolitik
Im Rahmen einer "Festigung der Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Staatengemeinschaft" wurde im März 1967 zwischen der DDR und der ČSSR ein Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand geschlossen. Obwohl die "Achtung der Souveränität und der Nichteinmischung" (Art.1) im Vertrag verankert war, ging es in erster Reihe um die enge Abstimmung der Außenpolitik beider Länder, besonders um die Haltung gegenüber der Bundesrepublik. Im Art. 7 wurde die Ungültigkeit des Münchner Abkommens "von Anfang an" festgeschrieben. Die vertragliche Fixierung unerfüllbarer oder schwer zu erfüllender Essentials wie die Anerkennung der staatlichen Souveränität der DDR sowie der Oder-Neiße-Grenze und die Erklärung der Ungültigkeit des Münchner Abkommens ex tunc sollten die Front der drei Staaten Polen, der DDR und der ČSSR gegenüber der Bundesrepublik stärken. Man sprach schon damals von einem "eisernen Dreieck".
Für die DDR ging es in erster Reihe um die Stärkung ihrer Position gegenüber der Bundesrepublik, die durch ihre Weigerung, eine zweite deutsche Staatlichkeit anzuerkennen, ihre Isolierung betrieb. Das Angebot des Gewaltverzichts, das Bonn 1966 an Polen, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion gerichtet hat, erregte sofort das Misstrauen Ostberlins, da die DDR nicht miteinbezogen wurde. Man wollte zwar die DDR einbeziehen, aber nicht anerkennen. Kiesinger sprach im Oktober 1967 von einem "Phänomen", mit dem er in Briefkontakt getreten sei. Mitte der 60er Jahre war die DDR praktisch nur von Ländern des sozialistischen Lagers diplomatisch anerkannt.
Nach dem Bau der Mauer versuchte das SED-Regime 1963, mit Hilfe von Wirtschaftsreformen (NÖSPL) die Lage im Land zu konsolidieren. Die neue Ostpolitik Bonns wurde als ein neuer Versuch, alte Ziele durchzusetzen, aufgenommen. Daher drängte die DDR auf eine kollektive Antwort der sozialistischen Länder. Es gelang ihr, zumindest auf der deklaratorischen Ebene in der Abschlußerklärung der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien im März 1967 in Karlsbad ein Junktim zwischen der Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik zu den anderen sozialistischen Staaten an die zur DDR zu binden.
Bereits vor dem Ausbruch des Prager Frühlings war das Verhältnis DDR- ČSSR von Spannungen gekennzeichnet, die mit der Öffnung und Demokratisierung der Tschechoslowakei eine neue Qualität erhielten. Der beanstandete Revisionismus und die Verbürgerlichung der tschechoslowakischen Kultur und Wissenschaft wurde nun zur dominierenden Kraft innerhalb der Partei. Die Abschaffung der Zensur brachte einen neuen Faktor ins Spiel – die Öffentlichkeit. Die bereitwillige Aufnahme der Reformen und der geistigen Gärung in den westdeutschen Massenmedien erschwerte den SED-Versuch, das eigene Land vor der Ansteckungsgefahr abzuschirmen. Anders als die übrigen sozialistischen Staaten hatte die DDR nur eine Perspektive als ein "Systemstaat" – nur so ist der Versuch zu verstehen, das DDR-Staatsvolk in der neuen Verfassung von 1968 als "sozialistische Nation" zu verankern. Neben der fehlenden politischen Legitimität des Ulbricht-Regimes wurde der Mangel einer nationalen Legitimität der DDR sichtbar.
Reformen von 1968 als Konterrevolution aufgefasst
Die Systemveränderung in der Tschechoslowakei bedeutete für die DDR eine existentielle Herausforderung. Nicht der Versuch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz aufzubauen, sondern die marxistisch-leninistische Orthodoxie, kein eigenes Antlitz in der Außenpolitik, sondern die Festigung des Blocks versprachen eine Zukunft des SED-Regimes.
Sehr rasch gelangte daher die SED-Führung zu der Erkenntnis, dass der Übergang von Novotný zu Dubček nicht nur ein Kader- oder Kurswechsel, sondern ein Systemwechsel sei. Die Schaffung der Anti-Reformallianz der Warschauer Pakt-Staaten unter Ausschluss von Rumänien im März 1968 in Dresden und die Klassifizierung der Veränderungen in der Tschechoslowakei als eine "Konterrevolution" entsprachen voll den Stabilitätsbedürfnissen des SED-Regimes. Obwohl es 1968 spezifisch nationale Aspekte des Konfliktes zwischen Prag und Ostberlin gab, wusste sich die Ulbricht-Führung in ihrem Kampf gegen den Reform- und Demokratisierungskurs im Nachbarland voll im Einklang mit den sowjetischen, polnischen und bulgarischen Interessen.
Beim "Dresdner Tribunal" im März und bei den Beratungen der späteren Interventionskoalition Anfang Mai in Moskau präsentierte Ulbricht die konterrevolutionäre Entwicklung in der ČSSR als das Ergebnis des letzten Jahrzehnts.
Novum: Propaganda gegen Funktionäre aus der CSSR
Die SED-Führung entfaltete aus Eigeninitiative eine rege Aufklärungsaktivität der "konterrevolutionären Umtriebe" im Nachbarland. Als es bei der internen Beratung der Parteichefs in Moskau zu einem Disput über die 1.Mai-Feier in Prag kam, konnte Ulbricht auf ostdeutsche Filmaufnahmen hinweisen, die seine Spitzel vor Ort anfertigten. Als erstes Land eröffnete die DDR eine Propaganda gegen konkrete Personen aus der KPČ-Führung. Am 25.März griff der Chefideologe der SED, Kurt Hager, den beliebten Reformer Josef Smrkovský an, was zur ersten offiziellen Protestnote der ČSSR im Jahr 1968 führte. Die Polemik in den Massenmedien beider Länder wurde in scharfem Ton geführt und die DDR-Medien übernahmen streckenweise die Rolle des Vorreiters der reformfeindlichen Propaganda im Ostblock.
Die SED-Propaganda setzte gewissermaßen ihre Angriffe aus der Zeit vor dem "Prager Frühling" fort und fühlte sich allein durch die Kontinuität bestimmter Personen wie Šik, Goldstücker, Smrkovský u.a., die Symbole des neuen Geistes in der Tschechoslowakei waren, in der Richtigkeit ihrer Einschätzung bestätigt. So konnte Ulbricht bei den gemeinsamen Beratungen der Parteichefs auftrumpfen und sich in die Rolle des ideologischen Sittenwächters stilisieren.
Ein besonderer Dorn im Ulbrichts Auge war die revisionistische Wirtschaftsreform, die viel weiter ging als die in der DDR beschlossene. Auch die Thematisierung der kommunistischen Verbrechen und des Massenterrors in den 50er Jahren, die besonders Smrkovský an die tschechoslowakische Öffentlichkeit brachte, war nach der Meinung von Ulbricht "konterrevolutionär".
Das persönliche Verhältnis zwischen dem erst 47 Jahre alten Alexander Dubček und dem 75jährigen Walter Ulbricht konnte nicht schlechter sein. Die ideologische Starre und eifernde Besserwisserei machte Ulbricht zur unbeliebtesten Figur unter den damaligen osteuropäischen Parteiführern. Seine Fistelstimme und äußere Erscheinung verleiteten einige tschechische Zeichner zu spöttischen Karikaturen. Dubček empfand Ulbricht gegenüber eine persönliche Antipathie, und umgekehrt hielt Ulbricht den unerfahrenen Dubček schon Anfang Mai für einen "hoffnungslosen Fall". Allerdings änderte Ulbricht in den Folgemonaten seine Einschätzung. Hielt er ihn und seine Weggenossen zunächst für "Einfaltspinsel", so wurden sie später zu "schlauen Revisionisten" geadelt.
Trotz kleinerer Gesten wie der Verleihung der tschechoslowakischen Auszeichnung "Weißer Löwe" an Ulbricht zu dessen 75.Geburtstag oder der Versuch des Außenministers Hájek im Juni, die gegenseitige Pressepolemik zu reduzieren, konnten nicht über die Tiefe des gegenseitigen Zerwürfnisses hinwegtäuschen. Selbst der gemäßigte Hájek konterte die massiven Vorwürfe Ulbrichts, in der Tschechoslowakei würden die bürgerlichen Traditionen wiederbelebt, mit dem Argument, dass gerade sie die Etablierung des Faschismus in der Tschechoslowakei verhindert hätten. Existenzangst des DDR-Regimes und Furcht vor "Sozialdemokratisierung"
Hinter der hysterischen SED-Propaganda gab es jedoch einen rationalen Kern an berechtigter Existenzangst. Einmal fürchtete das SED-Regime eine substantielle Schwächung seiner Position gegenüber der Bundesrepublik für den Fall, dass sich die einzelnen sozialistischen Staaten bilateral, ohne Rücksicht auf Ostberlin mit der Bundesrepublik verständigen. Zum anderen stellte die gefürchtete und für den Fall eines Erfolges des tschechoslowakischen Reformprozesses durchaus realistische Perspektive der Auflösung des "eisernen Dreiecks" und der Schaffung einer "weichen Achse" Belgrad, Bukarest, Prag unter einem mittelfristigen Anschluss von Budapest und sogar Sofia eine nachhaltige Änderung der sicherheitspolitischen Landkarte in Europa dar. Einer kooperativ eingestellten Gruppe von sozialistischen Staaten würde eine ideologisch starre und auf Abgrenzung zur Bundesrepublik hinarbeitende Achse Ostberlin-Warschau-Moskau gegenüberstehen. Diese Gefahr wurde in Propagandaartikeln "Von der Hitleraggression zur Bonner Ostpolitik" u.a. entlarvt. Und schließlich herrschte in der SED-Führung die größte Angst vor einer schleichenden Auflösung des kommunistischen Herrschaftssystems auf dem Wege der Sozialdemokratisierung der Kommunistischen Partei. Dieser Prozess, der in der Tschechoslowakei im Gange war, schien nur die SED-Warnungen vor der Sozialdemokratie und ihrer Ostpolitik zu bestätigen. Das "Wesen" der sozialdemokratischen Politik sei es, "die DDR von innen aufzurollen", warnte Ulbrich im März 1968 seine Genossen im Zentralkomitee. Erst werde die ideologische Festigkeit der KP erschüttert, dann Wirtschaftreformen unter dem Slogan einer Modernisierung eingeleitet und durch wirtschaftliche Kooperation mit der BRD die Blockeinheit erschüttert. Der Begriff, der es in der ideologischen Sprache Ostberlins am besten umschrieb, war die "friedliche Konterrevolution".
Ulbricht als Vorreiter bei Forderungen nach Militärpräsenz in der CSSR
In der Konferenz in Warschau, die eine politische Zäsur war, weil der Bruch zwischen der KSČ-Führung und der Fünfer-Gruppe der Antireformallianz öffentlich wurde, spielte Ulbricht die Rolle des ideologischen Vorreiters. Gemeinsam mit Gomulka beschwor er, die kollektive Pflicht aller sozialistischen Staaten, den Sozialismus in der Tschechoslowakei zu retten, die später als "Breschnew-Doktrin" überliefert wurde. Diese spiegelte die Auffassung vom Junktim zwischen der kollektiven Sicherheit und Systemidentität im Warschauer Pakt wider. In seinen Tiraden gegen die "Konterrevolution" griff Ulbricht sogar den ungarischen Parteichef Janos Kádár an, der die Meinung vertrat, sie habe in der ČSSR noch nicht gesiegt.
Zudem versuchte Ulbricht in altbekannten Mustern deutscher Großmachttradition, die "slowakische Karte" zu spielen. Er verlangte zwar nicht so offen wie der bulgarischer Parteichef Todor Živkov eine militärische Niederwerfung der Konterrevolution, aber er hat sich frühzeitig für die Stationierung sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei ausgesprochen. Die Militärübung "Šumava" (Böhmerwald) , die in ihrem Verlauf immer mehr der militärischen Vorbereitung der späteren Okkupation des Landes diente, inspirierte Ulbricht zu der Aussage, die nächste Militärübung sollte vom Gebiet der Slowakei aus geführt werden.
Im Jahre 1990 überraschte Horst Sindermann die Öffentlichkeit und vor allem die westliche Militäraufklärung, die bis dahin ohne Ausnahme genaue Zahlen der NVA-Militäreinheiten, die angeblich in die ČSSR einmarschierten, veröffentlichte, mit der Aussage, die NVA habe die tschechoslowakische Grenze nicht überschritten. Er begründete es mit der kritischen Einsicht der SED-Führung, vor dem historischen Hintergrund keine unnötige Reminiszenzen wecken und Kriegshandlungen provozieren zu wollen. Wenngleich es zutrifft, dass nur einige spezielle Einheiten der Nachrichtenoffiziere der NVA und Operativagenten des MfS nach dem 21. August 1968 auf dem Gebiet der ČSSR operierten, so muss die "Feingefühlthese" der Ulbrichtführung in Frage gestellt werden.
Nationale Volksarmee in Interventions-Planung eingebunden
Einmal war die NVA voll in die militärische Vorbereitung einbezogen und war marschbereit und marschwillig. Nur ein NVA-Offizier, der Hauptmann Manfred Schmidt, weigerte sich, an der Okkupation des Nachbarlandes teilzunehmen. Er wurde degradiert, aus der Armee entlassen und aus der SED ausgeschlossen. Zum anderen deuten mehrere Hinweise darauf hin, dass die Idee, die NVA nicht in der ersten Okkupationswelle einmarschieren zu lassen, andere Autoren hat. Entschieden wurde sie in Moskau. Und schließlich zeigt der Eifer, mit dem sich das SED-Regime an der "Invasion durch den Äther" beteiligte, dass eine politische Selbstbegrenzung aus Gründen vergangenheitspolitisch motivierter Rücksichtnahme unwahrscheinlich ist. Der aus Dresden operierende Propaganda-Sender "Vltava" (Moldau) betrieb eine Lügenpropaganda der schlimmsten Art, so dass gerade ältere Menschen sich an die Naziokkupation erinnert fühlten.
Nach der Okkupation des Landes erwies sich Ulbricht als dogmatischer Hardliner. Im Kreml war er es, dem das politische Diktat, zu dem sich die gekidnappten tschechoslowakischen Reformer mit ihrer Unterschrift verpflichteten, nicht weit genug ging. Er bemängelte, dass Dubček und die führenden Reformer auch nach der Intervention in ihren Ämtern bleiben durften. Als einziges Land neben der Sowjetunion versuchte die DDR parallel zur Mission des sowjetischen Sonderbeauftragten der Kuznecov, der mit der Aufsicht über die Erfüllung des "Moskauer Protokolls" beauftragt war, eine eigene Einmischung zu institutionalisieren. Dieser Versuch scheiterte und der Sonderbeauftragte wurde von der KPČ-Führung aufgefordert, nach Ostberlin zurückzukehren.
Aus der Sicht des SED-Regimes war die Niederschlagung und anschließende Unterdrückung des tschechoslowakischen Reformversuchs ein großer Beitrag zur inneren wie außenpolitischen Stabilisierung der DDR. Obwohl die Entscheidung, für die militärische Niederschlagung des friedlichen Reformversuchs in letzter Instanz in Moskau lag, hat die SED-Führung maßgeblich an seiner Herbeiführung mitgewirkt. Angesichts der legitimatorischen Defizite, vor denen die sowjetische Eskalationspolitik gegenüber dem gemäßigten Reformkurs bei der Beweisführung einer "Konterrevolution" in der ČSSR stand, war die ideologische Offensive Ostberlins ein wichtiger und nicht zu unterschätzender Bestandteil in der Gesamtstrategie der gewaltsamen Niederwerfung des "Prager Frühlings".
DDR-Propagandisten steigerten Paranoia im Kreml
In der Kritik des Reformkurses wurden zugleich politische Ziele der angestrebten Restauration formuliert. In allen Konfliktphasen gehörte die Ulbricht-Führung zu den aktivsten und eifrigsten Gegnern des Reformversuchs. Sie trug maßgeblich zur Radikalisierung der Kritik und zur Nötigung der ungarischen Parteiführung auf einen unversöhnlichen Konfrontationskurs mit Prag bei. Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass die SED-Spitze aufgrund ihrer guten Spionage bei der NATO in entscheidenden Momenten des Meinungsbildungsprozesses innerhalb des sowjetischen Politbüros die herrschende Paranoia in Kreml durch frische Dokumente einer vermeintlich aktuellen Bedrohung durch die NATO-Staaten bediente. Durch ihre Agenten in der Bundesrepublik und bei der NATO hatte die DDR innerhalb der Interventionskoalition bei der Einschätzung "imperialistischer" Bedrohungspotentiale aus dem Westen eine exklusive Stellung.
Die Bevölkerung der DDR war offensichtlich anderer Meinung. Für viele Ostdeutsche war die Tschechoslowakei in erster Linie ein wichtiges Reiseland. Prag und Karlsbad waren bevorzugte Begegnungsorte für ein ost-westliches Familientreffen. Zu Hunderttausenden strömten jährlich die Deutschen aus beiden Staaten ins Land. 1968 verband sich dieses Anliegen noch mit einem regen Interesse an den Veränderungen im Nachbarland.
Schockierte DDR-Öffentlichkeit
Für die meisten DDR-Bürger weckte der "Prager Frühling" Hoffnungen auf Verbesserung der Lage im eigenen Land und im ganzen Ostblock. Obwohl es 1968 in der DDR anders als in Polen keine Studentenunruhen oder Proteste gab, wurde unmittelbar nach der Intervention sichtbar, dass sie eine Welle spontaner Empörung im Volk ausgelöst hat. In mehreren Städten wurden Protestflugblätter verteilt. Allein in Berlin wurden laut Stasi-Berichten an 389 Stellen 3.528 Flugblätter verbreitet und an 212 Stellen 272 Graffitis gesprüht. Sie gingen in der Mehrheit auf das Konto von jungen Menschen zwischen 17 und 25 Jahre, von denen 63% von den zahlreichen Stasispitzeln ermittelt werden konnten.
Es gab besonders in den Betrieben spontane Unmutsäußerungen der Arbeiter über die militärische Okkupation des Nachbarlandes. Unter den spontan Protestierenden gab es viele Kinder hoher Parteifunktionäre wie Thomas Brasch, der Sohn des stellvertretenden Kulturministers, Erika Berthold, die Tochter des Direktors des Institutes für Marxismus-Leninismus, und die beiden Söhne von Prof. Robert Havemann liefen beim Versuch, Protestflugblätter zu verteilen, der Staatssicherheit in die Falle. Einzel- oder Gruppenproteste wurden im ganzen Land registriert. Für viele wurde der Protest gegen die gewaltsame Unterdrückung des Prager Frühlings ein zentrales Sozialisationserlebnis und bei manchen begründete er eine Dissidentenkarriere.
Die marxistischen Dissidenten in der DDR, allen voran Robert Havemann und Wolf Biermann, begrüßten den "Prager Frühling" als den erbrachten Beweis, dass der "reale" Sozialismus zum "wirklichen" werden kann. Endlich spiegelte ein "zu staatlicher Macht gelangter Sozialismus", dass er die fortschreitenden und fortschrittlichen Entwicklungstrends der Geschichte entfalten und vorwärts bringen könne. Der 21.August 1968 wiederum war für Robert Havemann "der schwärzeste Tag in der Geschichte des Sozialismus seit Stalin". Die "Prager Commune" sei nicht daran gescheitert, dass der Sozialismus seiner Zeit so sehr voraus war, sondern weil der reale Sozialismus der Geschichte so sehr hinterher sei. "Der Prager Frühling des Jahres 1968 – welch ein Sieg, welch schreckliche Niederlage." Als Vorbild diente die friedliche Selbstreform von 1968 für Rudolf Bahros Buch "Die Alternative" – der wohl letzten theoretischen marxistischen Analyse, Kritik und programmatischer Schrift, die im ehemaligen Ostblock verfasst wurde und die sich explizit auf das reformkommunistische Konzept von 1968 bezieht. Als Inspiration blieb der Prager Frühling für die unsichtbare Generation jener ostdeutschen Achtundsechziger, die erst 1989 zum Ausdruck kam.
Ergänzende Literatur:
Hofmann, Birgit: Der "Prager Frühling" und der Westen. Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tschechoslowakei 1968, Göttingen 2015 Prag 1968 - Externer Link: Dossier der bpb
Zu Teil 2 der Ausarbeitung "Der Prager Frühling und die Deutschen": Interner Link: "Vergangenheitspolitische Lasten" und "Öffentlichkeit"
Eine ausführlichere Fassung dieses Textes von Dr. Jan Pauer ist veröffentlicht in: "1968: Der "Prager Frühling" und die Deutschen, in: Brandes, Detlef, Kováč, Dušan, Pešek, Jiří (Hg.): Wendepunkte in den Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken 1848 – 1989, Veröffentlichung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, Bd. 14, Essen 2007, S. 263 – 285
Zu weiteren Texten & Dokumenten aus dem Externer Link: Dossier Prag 1968
Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996, S.194-220.
Hájek, Jiří Setkání a střety, Köln 1983, S.224
Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1968, Bd. I,II, München 1999, (weiter zit. AdAP), Dok.134.
AdAP 1968, Dok. 154.
AdAP, Dok.223, Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, München 1997, S.102
AdAP 1968, Dok. 233.
Ibid. Dok.202.
Ibid. Dok. 198.
Der Spiegel 5.8.1968, S.24.
AdAP 1968, Dok. 221, S.872, Dok. 213, S.840.
Ibid. Dok..277, S.1076, Dok.280, S.1086.
Ibid. Dok.312,313,314,316,318.
Ibid. Dok.328.
Müller, Adolf, Utitz, Bedrich: Deutschland und die Tschechoslowakei. Zwei Nachbarn auf dem Weg der Verständigung. Freudenstadt 1972, S.93f.
DDR- ČSSR. Sozialistische Zusammenarbeit. Berlin Ost, 1978, S.52f.
Brandt, Willy: Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960-1975. Hamburg 1976, S.155
Kiesinger, Kurt Georg: Die große Koalition 1966-1969. Reden und Erklärungen des Bundeskanzlers. Stuttgart 1979, S.127.
Griffith, William, E.: Die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1981, S.205.
Pauer: Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes. Hintergründe, Planung, Durchführung, Bremen 1995, S.65, 86.
Vgl. die SED-Dokumentation Zur Lage in der ČSSR. Bd. II, o.O., S.19-28.
Prieß, Lutz, Kural, Václav, Wilke, Manfred: Die SED und der "Prager Frühling" 1968. Politik gegen einen "Sozialismus mit menschlichen Antlitz. Berlin 1996, S.172.
Pauer, Jan: Prag 1968, S.120f.
Der Spiegel 7.5.1990.
Wenske, Rüdiger: Die NVA und der Prager Frühling 1968. Die Rolle Ulbrichts und der DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung. Berlin 1995, S.137.
Wolle, Stefan: Die DDR-Bevölkerung und der Prager Frühling, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36, August 1992, S.32-45.
Havemann, Robert: Berliner Schriften, München 1978, S.84f.
Bahro, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real exisistierenden Sozialismus. Köln, Frankfurt a.M. 1977.
| Article | Dr. Jan Pauer | 2021-06-23T00:00:00 | 2018-08-16T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/kalter-krieg/prag-1968/274329/der-prager-fruehling-1968-und-die-deutschen/ | Das tschechoslowakische Reformexperiment 1968 hatte es außen- und sicherheitspolitisch mit den Interessen zweier deutscher Staaten zu tun, die einander unversöhnt gegenüberstanden. Auszüge aus einer Analyse von Dr. Jan Pauer im Auftrag der Deutsch-Ts | [
"Prag 1968",
"DDR",
"BRD",
"CSSR",
"Tschechoslowakei",
"Tschechoslowakei",
"DDR",
"BRD"
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Analyse: Kooperation im Bereich der Militärreform zwischen NATO und Ukraine seit 2014 | Ukraine-Analysen | bpb.de | Zusammenfassung
Unterschiedliche Vorstellungen über die Prioritäten bei den Reformen im Verteidigungsbereich nach 2014, Unstimmigkeiten bei den Erfolgskriterien für diese Reformen und das Fehlen einer klaren Vision darüber, welche Art Streitkräfte die Ukraine benötigt, haben zu Schwierigkeiten in der Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine geführt. Schleppende Reformen führen zu Zweifeln an NATO-Unterstützung
Im Frühjahr 2014 hat die Russische Föderation die Halbinsel Krim annektiert und einen bis heute andauernden Krieg in der Ostukraine entfacht. Die ukrainischen Streitkräfte waren nicht in der Lage, diesen Angriff auf die Souveränität des Landes abzuwenden und sich zu verteidigen; sie erlebten im Donbas eine Reihe von Niederlagen. Dieser Krieg beförderte die Notwendigkeit für systematische Militärreformen auf der politischen Agenda in Kyjiw ganz nach oben. 2015 wurde ein weitreichendes Reformprogramm verkündet, das von der NATO und den westlichen Partnern mit Nachdruck unterstützt wurde und zu Verbesserungen bei der Einsatzfähigkeit der Streitkräfte führte. Angesichts der russischen Aggression versichert die NATO der Ukraine weiterhin ihre unerschütterliche Solidarität. Die Kritik an dem langsamen Tempo der Reformen, das auf interne Faktoren zurückzuführen ist, etwa die anhaltende Korruption, die konservative, "sowjetische" Denkweise der militärischen Führung, die zögerlichen Fortschritte bei der Stärkung der für eine demokratische zivile Kontrolle über die Streitkräfte erforderlichen Institutionen, sowie das Fehlen einer klaren politischen Linie, haben zu Zweifeln an der Effizienz der kostspieligen Hilfsprogramme der NATO-Partnerstaaten geführt. Die Bedeutung, die interne Hindernisse in der Ukraine wie auch in anderen postsowjetischen Ländern für die jeweiligen Militärreformen haben, ist gut dokumentiert und steht außer Zweifel. Es wäre allerdings falsch, die Schuld für die Probleme in den Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine allein Kyjiw zuzuschreiben. Unterschiedliche Ansichten zu den Prioritäten bei den Reformen im Verteidigungsbereich seit 2014, Widersprüche in den Erfolgskriterien für die Reformen sowie das Fehlen einer klaren Vision darüber, welche Art Streitkräfte die Ukraine braucht, haben ebenfalls zu den Problemen in der Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine beigetragen. Prioritäten der Verteidigungsreformen seit 2014
Die Ansichten der NATO und der Ukraine zu den Prioritäten der Reformen im Verteidigungsbereich seit 2014 gehen zum Teil auseinander. Das hat auf beiden Seiten zu einer gewissen Enttäuschung und Desillusionierung geführt. Die NATO hat die Annexion der Krim als ernstliche Bedrohung für die transatlantische Sicherheit gewertet. Das Bündnis hat das Vorgehen der Russischen Föderation in den schärfsten Tönen verurteilt und der Ukraine beträchtliche Unterstützung angeboten. Die Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine gehen bis in die 1990er Jahre zurück und markierten ihren Anfang, als die Ukraine als eines der ersten Länder der "Partnerschaft für Frieden" ("Partnership for Peace", PfP) beitrat. Das Programm wurde 1994 ins Leben gerufen, um im euro-atlantischen Raum "die Stabilität zu erhöhen, Bedrohungen für den Frieden zu minimieren und gestärkte Sicherheitsbeziehungen aufzubauen", und zwar auf der Grundlage "eines Eintretens für demokratische Prinzipien". 1997 unterzeichneten die Staatschefs der Ukraine und der NATO-Staaten eine Charta über eine ausgeprägte Partnerschaft ("Charter on a Distinctive Partnership"), auf deren Grundlage die NATO-Ukraine-Kommission eingerichtet wurde, ein entscheidungsbefugtes Gremium für die Zusammenarbeit und zur Weiterentwicklung der Beziehungen. 1998 wurde unter der Ägide der NATO-Ukraine-Kommission eine "Gemeinsame Arbeitsgruppe der NATO und der Ukraine für Reformen im Verteidigungsbereich" geschaffen. Zur Unterstützung der Zusammenarbeit vor Ort waren das Informations- und Dokumentationszentrum der NATO und das NATO-Verbindungsbüro seit 1997 bzw. seit 1999 in der Ukraine aktiv. Sie sollten die ukrainische Öffentlichkeit über die NATO und den Nutzen einer Zusammenarbeit informieren und die Reformen im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich unterstützen. Nach der Annexion der Krim hat die NATO diese Zusammenarbeit erheblich verstärkt und ein umfassendes Hilfspaket ("Comprehensive Assistance Package") verabschiedet, das aus 16 Projekten zum Kapazitätsaufbau und Treuhandprojekten ("Trust Funds") besteht, auf die man sich 2016 auf einem NATO-Gipfel geeinigt hatte. Zudem wurde die Ukraine 2010 als einer der sechs Partner mit vertieften Mitwirkungsmöglichkeiten ("Enhanced Opportunities Partners") anerkannt, was dem Land einen "verstärkten Zugang zu Interoperabilitätsprogrammen und -übungen" ermöglichte. Eine Reihe bilateraler Ausbildungsmissionen, die von NATO-Partnern geleitet werden, bieten weiterhin Ausbildung und Kapazitätsaufbau für ukrainische Streitkräfte vor Ort. Die NATO-Unterstützung für die Ukraine wurde zwar seit 2014 ganz beträchtlich intensiviert, doch hat sich die grundlegende Richtung der Zusammenarbeit bei Reformen im Verteidigungsbereich nicht geändert. Sie gilt weiterhin vor allem Reformen im Verteidigungs- und Sicherheitssektor im weiteren Sinne, sowie einer Unterstützung mit nichttödlicher Ausrüstung. Der Schwerpunkt wird stark auf eine demokratische Entwicklung gelegt, die auf lange Sicht die Basis für den Aufbau effektiverer Streitkräfte und eine glaubhafte militärische Abschreckung gegenüber Russland darstellt. Mit anderen Worten: Die Förderung gemeinsamer Normen und Werte und der Aufbau demokratischer Institutionen hat Vorrang vor rein militärischen Aspekten von Reformen, etwa vor taktischer und technologischer Kompatibilität. Die schleppenden Fortschritte im ersteren Bereich haben in der NATO für einige Zweifel hinsichtlich der Effizienz der kostspieligen militärischen Hilfsprogramme gesorgt. Aus Sicht der Ukraine stellen die Annexion der Krim und die anhaltende russische Aggression eine existenzielle Bedrohung für die nationale Sicherheit und die territoriale Unversehrtheit dar, die eine grundlegende Revision der strategischen Prioritäten und Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit nötig machte. Seit 1994 hatte das Land in unterschiedlichem Maße positiv mit der NATO interagiert, doch die fehlende politische Geschlossenheit innerhalb des Landes hinsichtlich der geopolitischen Orientierung haben bis 2014 systematische Reformen im Verteidigungsbereich behindert. Bis weit in die 2000er Jahre hinein wurde bei Reformen kaum mehr als eine Verkleinerung der kostspieligen und ineffizienten Streitkräfte unternommen, die das Land aus sowjetischer Zeit geerbt hatte. Unter der strikt prowestlichen Führung von Präsident Wiktor Juschtschenko wurde 2005 zu einem gewissen Grad klar, welche Art Streitkräfte die Ukraine wollte. Juschtschenko sprach sich mit Blick auf eine Vollmitgliedschaft intensiv für einen Ausbau der Interoperabilität mit der NATO aus. Aus seiner Sicht war das ganz im Interesse der Ukraine, nämlich als Mittel für eine systematische und nachhaltige Transformation des Militärs wie auch zur Förderung einer breiteren demokratischen Entwicklung. Das "Staatliche Programm für die Entwicklung der Streitkräfte der Ukraine für die Jahre 2006–2011" gab dem Aufbau stark reduzierter, aber sehr gut ausgebildeter Streitkräfte Vorrang, die vor allem für eine Beteiligung an multinationalen Einsätzen geeignet sind. Als Juschtschenko 2010 von Wiktor Janukowytsch abgelöst wurde, erfuhr die explizit NATO-freundliche Orientierung eine Wendung. Das Militär wurde von nun an geradezu mutwillig vernachlässigt. Gleichzeitig wurden Pläne vorangetrieben, die Streitkräfte weiterhin zu reduzieren. Die Annexion der Krim hat die strategischen Prioritäten und das Verständnis für die Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine drastisch zugespitzt. Alle Unklarheiten hinsichtlich der geopolitischen Ausrichtung, die sich bei früheren verteidigungspolitischen Planungspapieren in einer neutralen oder bündnisfreien sicherheitspolitischen Orientierung widergespiegelt hatten, wurden beseitigt, nachdem Russland in der Militärdoktrin von 2015 als militärischer Gegner bezeichnet wurde. Gegenüber den nun notwendig gewordenen Fähigkeiten zur Bewältigung einer größeren bewaffneten Aggression durch einen gegnerischen Staat trat die Einsatzbereitschaft für den Fall kleinerer Kampfeinsätze in den Hintergrund. Kyjiw wählte unzweideutig den euroatlantischen Weg und formalisierte 2017 verfassungsrechtlich das Ziel einer vollständigen Interoperabilität mit der NATO bis spätestens 2020 sowie eine anzustrebende Vollmitgliedschaft in dem Bündnis. Angesichts der ungleich größeren militärischen Stärke des mächtigen Nachbarn wurde dies als der einzig realistische Weg hin zu einer glaubhaften militärischen Abschreckung gegen eine mögliche russische Aggression betrachtet. Angesichts der eindeutigen und präsenten Gefahr, der sich die Ukraine gegenübersieht, wurden Militärreformen im engeren Sinne als dringlichste Priorität betrachtet (insbesondere durch den Zugang zu neuesten Technologien und die taktische Ausbildung der Streitkräfte). Einzelne NATO-Mitglieder wie die USA haben zwar damit begonnen, der Ukraine tödliche Waffen zu liefern, während sich andere NATO-Staaten wie Deutschland vehement dagegen aussprechen. In offiziellen Mitteilungen werden "umfassende Reformen im Sicherheits- und Verteidigungssektor" angestrebt. Diese werden als unerlässlich "für die demokratische Entwicklung der Ukraine und die Stärkung ihrer Verteidigungsfähigkeit" betrachtet. In Kyjiw hat dies zu einer gewissen Enttäuschung geführt, weil es als implizites Signal verstanden wurde, dass die NATO ungeachtet starker Solidaritätsbekundungen die prekäre Sicherheitslage der Ukraine nicht mit der gleichen Dringlichkeit wahrnimmt. Die schleppenden Fortschritte bei den politischen Aspekten der Reformen haben in der NATO Zweifel an der Entschlossenheit der Ukraine zu einer demokratischen Entwicklung aufkommen lassen. Zudem wurde die Effizienz der kostspieligen Hilfsprogramme zunehmend hinterfragt. Dass in der Ukraine zu Kriegszeiten den militärischen Fähigkeiten Vorrang eingeräumt wird, bedeutet allerdings nicht, dass weitergefasste Reformen nicht als notwendig oder wünschenswert betrachtet werden. Das wird anhand der fortgesetzten Arbeit im ukrainischen Parlament deutlich, durch die die rechtliche Grundlage für eine zivile Aufsicht gestärkt werden soll. Schließlich zeigen die Erfahrungen, die in Entwicklungs- und Transformationsländern mit Reformen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich gemacht wurden, dass grundlegende Veränderungen am System der zivilen Kontrolle über die Streitkräfte, die zu Kriegszeiten unternommen werden, sich extrem schwierig gestalteten oder gar unmöglich waren. Erfolgskriterien für Reformen
Zusätzlich zu den unterschiedlichen Ansichten über die Prioritäten von Reformen im Verteidigungsbereich, die sich im sicherheitspolitischen Umfeld nach 2014 ergeben, hat auch die fehlende Klarheit darüber, was es für ein Land bedeutet, als NATO-interoperabel eingestuft zu werden, die Beziehungen zwischen der Ukraine und der NATO beeinträchtigt, insbesondere aus Kyjiwer Sicht. Der Internetseite der NATO von 2021 zufolge haben sich die Beziehungen zwischen dem Bündnis und der Ukraine seit den frühen 1990er Jahren "zu einer der gehaltvollsten Partnerschaften der NATO entwickelt". In offiziellen Stellungnahmen wurde wiederholt bekräftigt, dass diese Partnerschaft kein einseitiger Prozess sei, sondern von gegenseitigem Nutzen. Als die Ukraine 2020 einer der sechs Partner mit vertieften Mitwirkungsmöglichkeiten ("Enhanced Opportunities Partners" ) der NATO wurde und damit zu Ländern wie Schweden, Finnland und Australien aufrückte, wurde dieser Status ohne Hinweis auf den Krieg mit Russland zuerkannt, dafür aber aus Anerkennung für den "bedeutenden Beitrag", den die Ukraine in der Vergangenheit bei NATO-geführten Operationen und Missionen geleistet habe. Die Ukraine hatte solche Operationen seit den 1990er Jahren mit Fachkräften unterstützt, unter anderem in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo, in Afghanistan und im Irak. 2010 schloss sich die Ukraine der Schnellen Eingreiftruppe ("Rapid Response Force") der NATO an, die von dem Bündnis als "höchst einsatzbereite und technologisch moderne internationale Streitmacht" beschrieben wird. Das Land war das erste Nichtmitglied, das 2019 die Zertifizierung einer Einheit von Sondereinsatzkräften zur Beteiligung an der Schnellen Eingreiftruppe erhielt. Über die unmittelbare Unterstützung der Einsätze hinaus haben ukrainische Truppen regelmäßig an Manövern der NATO und einzelner Mitglieder des Bündnisses teilgenommen. Die Ukraine hat über Jahrzehnte reiche Erfahrungen mit Einsätzen an der Seite von NATO-Truppen gesammelt, und die jüngsten Reformen sowie das Paket für verstärkte Hilfestellung ("Enhanced Assistance Package") haben die operativen Fähigkeiten des Landes im Einklang mit NATO-Standards weiter gestärkt. Die ukrainischen Streitkräfte sind aus militärischer Sicht sehr viel stärker interoperabel als es die der mitteleuropäischen Staaten Ende der 1990er Jahre waren, als diese Länder NATO-Mitglieder wurden. Sie verfügten damals weder über viel Erfahrung durch internationale Operationen, noch hatten sie zum Zeitpunkt des Beitrittsangebots systematische Militärreformen abgeschlossen. Gleichwohl gilt die Ukraine, wie erwähnt, aufgrund der Defizite bei der demokratischen Entwicklung als weit von einer vollen Interoperabilität entfernt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte die NATO ihre rein militärischen Verteidigungsanstrengungen um breiter angelegte, auf gemeinsame Normen und Demokratie ausgerichtete Ziele erweitert. Diese geänderten Prioritäten spiegelten sich in der Aufgabenstellung der "Partnerschaft für Frieden" ("Partnership for Peace", PfP) und dem Programm "Membership Action Plan" (MAP) wider, das 1999 gestartet wurde. Die Erwartungen an das Demokratisierungsniveau der Anwärterstaaten variierten in der Vergangenheit und sind nie in Stein gemeißelt gewesen. Die Arbeit an Reformen zur Korruptionsbekämpfung und für mehr Rechtstaatlichkeit dauert in mehreren der jüngsten NATO-Mitgliedstaaten immer noch an. Vor dem Hintergrund, dass die Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine stark ist und bereits so viele Jahre besteht, haben diese offensichtlich wechselnden Eckpfeiler für – militärische wie politische – Interoperabilität in Kyjiw für Enttäuschung gesorgt. Es wurde nämlich als Signal aufgefasst, dass die Leistungen und Beiträge der Ukraine nicht angemessen gewürdigt und belohnt werden. Darüber hinaus herrscht in der Ukraine zunehmend das Gefühl, dass es nicht um die Erfüllung einer Reihe von Erwartungen geht, sondern eine NATO-Mitgliedschaft im Fall der Ukraine vielmehr eine politische Frage ist, die selbst bei umfassenden und erfolgreichen Reformen nicht zu ihren Gunsten entschieden werden könnte. Präsident Wolodymyr Selenskyj formulierte es im September 2021 so: "Die Ukraine klopft an eine Tür, die niemand öffnen will". Welche Art Streitkräfte braucht die Ukraine?
Die NATO und die Ukraine sind sich einig, dass die unmittelbaren Ziele von Reformen im Verteidigungssektor in der Herstellung von NATO-Interoperabilität und einer glaubhaften militärischen Abschreckung gegenüber Russland bestehen. Allerdings bleibt die Frage offen, ob diese Ziele notwendigerweise miteinander vereinbar sind. Bedeutet der Schwerpunkt einer Einhaltung der NATO-Standards durch beide Seiten, dass dies zu Lasten einer Bewertung der Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine geht, die der spezifischen Bedrohungslage des Landes Rechnung trägt? Insbesondere durch den Umstand, dass Interoperabilität nicht unbedingt mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft angestrebt wird, müssen die Erfahrungen aus der bisherigen Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine berücksichtigt werden. Die ukrainischen Reformen im Verteidigungsbereich standen seit Mitte der 1990er Jahre unter dem Einfluss von Prioritäten des Bündnisses. Kyjiw eiferte den Entwicklungen im Westen nach und verschob den Fokus zunehmend weg von einer konventionellen Kriegsführung zwischen Staaten hin zu Kriegsszenarien der "neuen Art". Vor allem das "Staatliche Programm für die Entwicklung der Streitkräfte der Ukraine für die Jahre 2006–2011" skizzierte Pläne für etwas, das die britische Verteidigungsexpertin Deborah Sanders als "Paradigma-Armee" bezeichnet hat. Es ist der Idealtypus eines modernen Militärs auf Basis des nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelten US-Modells, also eine schlankere, professionellere Streitkraft, ausgerüstet mit modernen Technologien und für das gesamte Spektrum an Konflikten schnell einsetzbar, vor allem für multinationale Operationen. Die Krim-Annexion hat deutlich gemacht, dass eine Ausrichtung der Militärreformen an den Prioritäten des Bündnisses kaum geholfen hat, das Land auf eine mögliche militärische Aggression durch Russland vorzubereiten. Erst einmal sind einige wichtige Aspekte zu klären, um die Frage beantworten zu können, welche Art Streitkräfte die Ukraine braucht. Da in der näheren Zukunft eine Vollmitgliedschaft unwahrscheinlich ist, braucht es mehr Klarheit, wie eine Interoperabilität dazu beitragen kann, dass die Verteidigungserfordernisse der Ukraine angesichts eines aggressiven Russlands erfüllt werden. Einer der oft kritisierten internen Faktoren in der Ukraine, die wirksamen Verteidigungsreformen im Wege steht, ist das zögerliche Verhalten konservativer Militärführer. Sie sind nicht fähig, das sowjetische Denken über Krieg und Kriegsführung hinter sich zu lassen und stellen ein Hindernis auf dem Weg zu einer Interoperabilität mit der NATO dar. Für NATO-Mitglieder, die mit der Ukraine bei deren Verteidigungsreformen zusammenarbeiten, sind Konsultationen zur Aktualisierung der Doktrinen ein besonders wichtiges Handlungsfeld. Man ist enttäuscht, wie schleppend die Fortschritte bei der Verarbeitung und Einführung moderner NATO-Konzepte sind, etwa im militärischen Bildungsestablishment der Ukraine. Eine konservative militärische Führung, die sich Reformen und Neuerungen entgegenstellt oder sie behindert, ist keine exklusiv ukrainische Erfahrung, und es steht außer Frage, dass in den Streitkräften der Ukraine ernstliche Veränderungen vonnöten sind. Wenn es allerdings um eine Erneuerung der Doktrinen geht, insbesondere auf höchster strategischer Ebene, gibt es größere Probleme als nur die Bewegungsunfähigkeit konservativer Generäle. Selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte die modernen NATO-Konzepte und die Terminologie vollständig verinnerlichen sollten, käme das Land als Nichtmitglied dem Aufbau einer glaubhaften Abschreckung gegenüber Russland kein Stück näher. Die ukrainische Militärdoktrin und die Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit werfen schwierige Fragen auf. Sollten diese unbeantwortet bleiben, bliebe das für die Zukunft der Partnerschaft der Ukraine mit der NATO nicht ohne Folgen. Schlussfolgerungen
Die NATO und die Ukraine werden bald auf 30 Jahre Zusammenarbeit zurückblicken können. Es gab in dieser Partnerschaft zwar auch Probleme, doch gestaltete sie sich meist positiv, mit anhaltendem Engagement von beiden Seiten. Die Ukraine hat seit den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen beträchtlichen Beitrag zu den Operationen der Allianz gleistet. In jüngerer Zeit hat Kyjiw seine Entscheidung für einen euroatlantischen Weg klar verkündet. Die NATO wiederum hat das Land unterstützt, vor allem bei Reformen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich. Als sich die Ukraine ab 2014 einem feindseligen militärischen Vorgehen durch Russland gegenübersah, hat die NATO ihre entschiedene Unterstützung und Solidarität deutlich gemacht. Die Unterstützung bei den Reformen im Sicherheits- und Verteidigungssektor wurde erheblich verstärkt, und diese Maßnahmen haben bereits Früchte getragen. In den letzten Jahren hat es allerdings Anzeichen für zunehmende Dissonanzen in den Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine gegeben. Auf Seiten der Allianz herrscht eine gewisse Enttäuschung über das Tempo der Reformen in der Ukraine. In der Ukraine wiederum wächst das Gefühl, dass die NATO mehr tun könnte, um das Land beim Aufbau von Kapazitäten zur Abschreckung eines künftigen feindseligen Vorgehens Russlands zu unterstützen. Auch wenn Kyjiw zweifellos eine Reihe gewichtiger interner Faktoren in Angriff nehmen muss, die erfolgreichen Reformen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich im Wege stehen, so ist es für die Probleme in der Partnerschaft dennoch nicht allein verantwortlich. Auch die NATO muss sich eine Reihe ernster Fragen über ihr Verhältnis zur Ukraine stellen. Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder Die beiden Autorinnen arbeiten derzeit an dem Gemeinschaftsprojekt "Was für ein Militär will und braucht die Ukraine. Untersuchungen zur Bedeutung des strategischen und politischen Kontexts für Militärreformen", das von der British Academy/Leverhulme Trust gemeinsam mit dem britischen Department for Business, Energy and Industrial Strategy gefördert wird. Lesetipps
Fasola, Nicolo; Alyssa J. Wood: Reforming Ukraine’s Security Sector, in: Survival 63.2021, Nr. 2, S. 41–54. Moore, Rebecca M.; Damon Colletta (Hg.): NATO’s Return to Europe: Engaging Ukraine, Russia and Beyond , Washington, DC: Georgetown University Press 2017. Sanders, Deborah: Ukraine’s Military Reform: Building a Paradigm Army, in: The Journal of Slavic Military Studies, 21.2008, Nr. 4, S. 599–614. Wilk, Andrzej: The Best Army Ukraine Has Ever Had: Changes in Ukraine’s Armed Forces since the Russian Aggression, OSW Studies Nr. 66, Juli 2017
| Article | Bettina Renz (Universität Nottingham), Sarah Whitmore (Oxford Brookes Universität, Oxford) | 2022-03-02T00:00:00 | 2021-11-22T00:00:00 | 2022-03-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/343743/analyse-kooperation-im-bereich-der-militaerreform-zwischen-nato-und-ukraine-seit-2014/ | Die Annexion der Krim beförderte die Notwendigkeit einer militärischen Neuorientierung der Ukraine. Wie diese Anpassung aussehen sollte, führt zu Unstimmigkeiten zwischen der Ukraine und der NATO. | [
"Ukraine",
"Außenpolitik",
"Beziehungen zur NATO",
"Verteidigungspolitik",
"Ukraine-Krise"
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Nachkriegsgeschichte bis 1990 | Rentenpolitik | bpb.de |
Chronik der Rentenversicherung 1945-1990
1945/47 Uneinheitliche Entwicklung in den Besatzungszonen 1947 Entstehung einer Einheitsversicherung für alle Sozialversicherungszweige in der Sowjetischen Besatzungszone 1948 Gründung Verband Deutscher Rentenversicherungsträger 1951 Gesetz über die Höherversicherung (zusätzliche Vorsorgemöglichkeit in der GRV) 1953/55 Verschiedene Gesetze zur Rentenerhöhung bzw. Gewährung von Zulagen. 1957 Große Rentenreform 1957 (Neuregelungsgesetze für Arbeiter-, Angestellten- und Knappschaftsversicherung) 1957/58 Altershilfe für Landwirte 1972 Rentenreformgesetz (Öffnung für alle Bürger, flexibles Altersruhegeld) 1982/83/84 2. Haushaltsstrukturgesetz; Haushaltsbegleitgesetz 1983/84 (Spar-Reformmaßnahmen) 1985/86 Reform Hinterbliebenenrenten, Einführung Kindererziehungszeiten 1989 Verabschiedung des Gesetzes zur Rentenreform '92
Niedrige Renten in der DDR
In der Sowjetischen Besatzungszone, wo sehr schnell eine Einheits-Sozialversicherung geschaffen wurde, und dann in der DDR blieben die Renten trotz einiger schrittweiser Erhöhungen recht niedrig, wenig differenziert und immer mehr hinter der Lohnentwicklung zurück (wobei allerdings die generelle Subventionierung der Konsumtion und die Schaffung von diversen Zusatzrentensystemen zu beachten ist).
Erst im Gefolge des VIII. Parteitags der SED wurde die strikte Linie einer "aktivierenden Sozialpolitik" zur Erhaltung und Erhöhung des Arbeitskräfteangebots gelockert und im Sinne der propagierten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" stärkere Rentenerhöhungen durchgeführt. Trotz gewisser Differenzierung durch eine Vielzahl von Sonder- und Zusatzsystemen blieb das Rentenniveau aber niedrig.
Durch die Freiwillige Zusatzrentenversicherung und die Sonderversorgungssysteme ergab sich zwar eine stärkere Differenzierung als in der Pflicht-Rentenversicherung der DDR. Insgesamt war die Streuung aber geringer als bei den GRV-Renten und Pensionen in der Bundesrepublik.
Im Westen: Ebenfalls niedrige Renten in der Nachkriegszeit
In den Westzonen und dann in der Bundesrepublik Deutschland wurden die organisatorischen Prinzipien der Sozialversicherung der Weimarer Republik im Wesentlichen übernommen (z. B. die Trennung der Rentenversicherung für Angestellte und Arbeiter, auch die Selbstverwaltung mit ersten Sozialwahlen im Jahr 1953). Kennzeichnend für die Lage waren aber anfängliche Organisationsprobleme und auch hier vor allem die schwache Einnahmebasis. Die in Rüstungsanleihen geflossenen Kapitalanlagen der Rentenversicherung waren praktisch wertlos geworden. Die Wirtschaft lag darnieder. Hinzu kam die Währungsreform, die zwar die Basis für den Wirtschaftsaufschwung ermöglichte, für die Alterseinkünfte aber zusätzliche Probleme bedeutete (vgl. Kasten).
QuellentextDie Umstellung durch die Währungsreform 1948
"Durch diese Umstellungsregelungen waren 'kapitalgedeckte' Formen der Alterssicherung - wie auch die Reste der Vermögensakkumulation der weitgehend nach dem Umlageverfahren operierenden Sozialversicherungen - zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert radikal abgewertet worden. Dies betraf vor allem die Lebensversicherungen, die betriebliche Alterssicherung (sofern sie auf Vermögensakkumulation basierte), aber auch die Berufsständischen Versorgungswerke der freien Berufe".
Schmähl 2001, S. 448.
Im Gefolge des 'Wirtschaftswunders' erhöhten sich die Löhne bzw. genereller die Erwerbs- und Vermögenseinkommen deutlich. Zwischen 1950 und 1980 lagen die Lohnzuwachsraten nur in drei Jahren - 1954, 1957 und 1967 - knapp unter fünf Prozent; zum Vergleich: zwischen 1981 und 1989 erreichten sie diese Marke in keinem Jahr mehr (vgl. Schmähl 2011a, S. 65 f.). Die Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung, die nicht an die Wirtschaftsentwicklung angedockt waren (keine Dynamisierung bei der Rentenberechnung und -anpassung), folgten dem nicht. "Folge war ... eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen Renten und Löhnen, nominal wie auch real - ein als immer drängender angesehenes Problem" .
Die Renten hinkten immer mehr hinter der allgemeinen Wohlstandsentwicklung her. Daran konnten auch verschiedene Rentenanpassungen und -erhöhungen nur wenig ändern, z. B. mit einem Renten-Mehrbetrags-Gesetz von 1954, das besonders die Altrenten erhöhte.
Die Rentenreform 1957 lässt die Rentner dagegen an der Wohlstandsentwicklung teilhaben. Den entscheidenden Schritt aus diesem Problem brachte die Dynamisierung der Rentenzahlungen durch die bruttolohnbezogene Rente mit der großen Rentenreform von 1957 (vgl. Kasten).
QuellentextDer Kern der Großen Rentenreform 1957
"Das konzeptionell Neue des Gesetzes bestand darin, dass die Renten nicht mehr - wie seit Anbeginn der GRV - ein 'Zuschuss' zur Finanzierung des Lebensunterhalts im Alter sein sollten, sondern 'Lohnersatz'. Dies erforderte sowohl eine Anhebung des Leistungsniveaus als auch eine Berücksichtigung der Lohnentwicklung, und zwar im Zeitraum bis zur erstmaligen Berechnung der Rente und auch während der Rentenlaufzeit. Die Grundvorstellung war also, dass Rentner in Zukunft regelmäßig mit ihrer gesetzlichen Rente an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung teilhaben sollten ... Danach sollte die Rente in Zukunft ausschließlich auf einem Steigerungsbetrag beruhen, der einheitliche Grundbetrag entfiel. Bei der Erstberechnung war die Höhe der Rente nun nicht mehr von den absoluten Beträgen der früher bezogenen Nominallöhne abhängig, sondern von
der relativen Lohnposition der Versicherten ... die während aller Jahre der Erwerbstätigkeit im Durchschnitt des Erwerbslebens erreicht wurde, der Versicherungsdauer sowie einem gegenwartsnahen Niveau des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts aller Versicherten, der so genannten 'allgemeinen Bemessungsgrundlage' .., die - wenn auch nur zeitverzögert - der aktuellen Lohnentwicklung folgte".
Schmähl 2011, S. 43.
Die Anbindung an die Lohnniveauentwicklung erfolgte damit gegenwartsnah über die Rentenformel bei der Berechnung einer neuen Rente. Für die Anpassung der Bestandsrenten, die lange durch Anpassungsgesetze seitens des Bundestages, nicht automatisch, erfolgte, sollte eine Anlehnung an die (Brutto-)Lohnentwicklung leitend sein (erst ab 1992 wurde auf einen Automatismus umgestellt).
Die große Rentenreform von 1957 brachte jedoch - abgesehen von nicht unwichtigen Änderungen in den Begriffen (von der 'Invalidenversicherung' zur 'Arbeiterrentenversicherung') - nicht nur die dynamische bruttolohnbezogene Rente und mit ihr das Ziel einer Lebensstandard-Absicherung. Vielmehr wurden auch eine Reihe weiterer Neuerungen eingeführt, so
eine deutliche Angleichung der Bestimmungen für Arbeiter und Angestellte, die Einführung des 'Abschnittsdeckungsverfahrens' als Schritt zu einem voll umlagefinanzierten System (vgl. Interner Link: Umlage- versus Kapitaldeckungsverfahren), die Einführung einer (besonderen Altersgrenze mit der) Altersrente für Frauen und des Altersruhegeldes wegen Arbeitslosigkeit auch für Arbeiter (und nicht nur wie zuvor nur für Angestellte), Witwenrenten gleicher prozentualer Höhe (60 statt 50%) in der Arbeiter- und Angestelltenversicherung.
Zusammenfassend kann unbestreitbar gesagt werden, dass erst die Große Rentenreform von 1957 in breitem politischem Konsens die Lebensstandardsicherung in der Rente gebracht und die verbreitete Altersarmut weitgehend überwunden hat.
Konsolidierungsphase nach der Großen Rentenreform
Nach der Großen Rentenreform von 1957 lässt sich zunächst eine Phase von 'Konsolidierungsmaßnahmen' in der Rentenpolitik identifizieren, in der es sowohl gewisse Leistungseinschränkungen als auch -ausweitungen gab, die aber vor allem durch eine Ausweitung des Versichertenkreises gekennzeichnet ist.
So wurde 1957/58 die Altershilfe für Landwirte geregelt, und 1972 wurde mit dem Rentenreformgesetz eine Öffnung für Selbstständige vorgenommen (die sich sehr günstig in die GRV 'einkaufen' konnten) bzw. 1983 das Künstlersozialversicherungsgesetz beschlossen.
An wichtigen Leistungsausweitungen bzw. -verbesserungen ist vor allem zu erinnern an:
die Einführung des flexiblen Altersruhegeldes für langjährig Versicherte ab dem 63. Lebensjahr und der Rente nach Mindesteinkommen durch das Rentenreformgesetz 1972 die Gleichstellung von Männern und Frauen bei den Hinterbliebenenrenten (vgl. Interner Link: Ausbau der Alterssicherung von Frauen) und die Einführung von Kindererziehungszeiten ab 1986.
Dem stehen − mit den wirtschaftlichen und konjunkturellen Entwicklungen inhaltlich und zeitlich eng verbunden (vgl. Kasten) − aber auch erste Leistungseinschränkungen gegenüber, so 1967 bei der Knappschaft oder mit den in mehreren Schritten vollzogenen Reduzierungen bei der Bewertung und sogar Anrechnung von Ausbildungszeiten bzw. Zeiten der Arbeitslosigkeit, Einschränkungen bei Heilverfahren und Rehaleistungen. In der Wirtschaftskrise 1966/67 wurden beispielsweise auch die Beitragsbemessungsgrenzen und der Beitragssatz erhöht.
QuellentextÖkonomische Begründungen für Leistungseinschränkungen nach der zweiten Rentenreform 1972
"Im Vergleich zu den Jahren zwischen der ersten und zweiten Rentenreform verschlechterten sich Anfang der 1970er Jahre bis zur Rentenreform 1989 die ökonomischen Bedingungen. Daher war in der Folgezeit nicht mehr Leistungsausweitung eines der dominierenden Themen, sondern die Begrenzung der Ausgabenentwicklung".
Schmähl 2011, S. 55.
Leistungseinschränkungen dominieren nach 1972
Insbesondere auch über geringere Rentenanpassungen und weitere Beitragssatzsteigerungen wurde in den 70er Jahren versucht, die Rentenfinanzen zu konsolidieren. Angesichts der stark steigenden Arbeitslosigkeit in den 80'er Jahren und stärker steigender Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherungen wurden aber auch ein Krankenversicherungsbeitrag der Rentner eingeführt und durch verschiedene Gesetze die Rentenkassen belastet um die anderen Sozialkassen zu entlasten (sog. "Verschiebebahnhöfe"). Mit dem Haushaltsbegleitgesetz von 1983 "entfiel die Rentenniveausicherungsklausel als normatives politisches Sicherungsziel" .
Ende der 80'er Jahre wurde anhand mehrerer Prognosen immer stärker auf eine Notwendigkeit langfristig steigender Beitragssätze angesichts der demografischen Veränderungen hingewiesen. Als Argument für eine Reformnotwendigkeit - konkret für Leistungseinschränkungen − rückte die Bevölkerungsentwicklung (Stichwort: Altenlast) in den Vordergrund (vgl. Kasten) −bis heute.
QuellentextVon der ökonomischen zur demografischen Begründung von Leistungseinschränkungen
"Neben den immer wieder auftretenden Finanzierungsproblemen sind für die Berichtsperiode (gemeint ist die Zeit 1982-1989 - A. d. V.) Diskussionen und Entscheidungen über grundlegende Strukturfragen der Alterssicherung kennzeichnend. Die Diskussionen standen zum einen in enger Beziehung zu der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung, betrafen zum anderen Antworten auf die sich abzeichnende demographische Entwicklung und deren Folgen für die Alterssicherung".
Schmähl 2008, S. 318.
"Durch diese Umstellungsregelungen waren 'kapitalgedeckte' Formen der Alterssicherung - wie auch die Reste der Vermögensakkumulation der weitgehend nach dem Umlageverfahren operierenden Sozialversicherungen - zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert radikal abgewertet worden. Dies betraf vor allem die Lebensversicherungen, die betriebliche Alterssicherung (sofern sie auf Vermögensakkumulation basierte), aber auch die Berufsständischen Versorgungswerke der freien Berufe".
Schmähl 2001, S. 448.
"Das konzeptionell Neue des Gesetzes bestand darin, dass die Renten nicht mehr - wie seit Anbeginn der GRV - ein 'Zuschuss' zur Finanzierung des Lebensunterhalts im Alter sein sollten, sondern 'Lohnersatz'. Dies erforderte sowohl eine Anhebung des Leistungsniveaus als auch eine Berücksichtigung der Lohnentwicklung, und zwar im Zeitraum bis zur erstmaligen Berechnung der Rente und auch während der Rentenlaufzeit. Die Grundvorstellung war also, dass Rentner in Zukunft regelmäßig mit ihrer gesetzlichen Rente an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung teilhaben sollten ... Danach sollte die Rente in Zukunft ausschließlich auf einem Steigerungsbetrag beruhen, der einheitliche Grundbetrag entfiel. Bei der Erstberechnung war die Höhe der Rente nun nicht mehr von den absoluten Beträgen der früher bezogenen Nominallöhne abhängig, sondern von
der relativen Lohnposition der Versicherten ... die während aller Jahre der Erwerbstätigkeit im Durchschnitt des Erwerbslebens erreicht wurde, der Versicherungsdauer sowie einem gegenwartsnahen Niveau des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts aller Versicherten, der so genannten 'allgemeinen Bemessungsgrundlage' .., die - wenn auch nur zeitverzögert - der aktuellen Lohnentwicklung folgte".
Schmähl 2011, S. 43.
"Im Vergleich zu den Jahren zwischen der ersten und zweiten Rentenreform verschlechterten sich Anfang der 1970er Jahre bis zur Rentenreform 1989 die ökonomischen Bedingungen. Daher war in der Folgezeit nicht mehr Leistungsausweitung eines der dominierenden Themen, sondern die Begrenzung der Ausgabenentwicklung".
Schmähl 2011, S. 55.
"Neben den immer wieder auftretenden Finanzierungsproblemen sind für die Berichtsperiode (gemeint ist die Zeit 1982-1989 - A. d. V.) Diskussionen und Entscheidungen über grundlegende Strukturfragen der Alterssicherung kennzeichnend. Die Diskussionen standen zum einen in enger Beziehung zu der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung, betrafen zum anderen Antworten auf die sich abzeichnende demographische Entwicklung und deren Folgen für die Alterssicherung".
Schmähl 2008, S. 318.
Vgl. Schmähl 2011a, S. 37.
Frerich, Frey 1999, S. 35.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-10T00:00:00 | 2019-04-16T00:00:00 | 2022-01-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/rentenpolitik/289637/nachkriegsgeschichte-bis-1990/ | Finanzprobleme, niedrige und anfangs noch weiter gekürzte Renten und eine verbreitete Altersarmut kennzeichneten auch nach dem Kriegsende für Jahre in den vier Besatzungszonen bzw. in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland und der DDR die L | [
"Rentenpolitik",
"Gesetzliche Rentenversicherung",
"gesetzliche Rente",
"Alterssicherung",
"Altersversorgung",
"Rentner",
"DDR-Renten",
"DDR-Rentensystem",
"Deutsche Nachkriegszeit"
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Analyse: Der ambivalente Aufstieg einer ukrainischen "unzivilen Gesellschaft" nach dem Euromaidan | Ukraine-Analysen | bpb.de | Zusammenfassung:
Parteipolitischer Ultranationalismus war bislang in der postsowjetischen Ukraine – insbesondere bei nationalen Wahlen – ungewöhnlich schwach. Die drei wichtigsten rechtsradikalen Parteien "Freiheit" (Swoboda), "Rechter Sektor" (Prawyj Sektor) und "Nationales Corps" sind auch nach dem Euromaidan politisch marginal geblieben. Allerdings hat eine rechtsextreme "unzivile Gesellschaft" – die teils eng mit ultranationalistischen Parteien verbunden ist – im Kontext des anhaltenden Krieges mit Russland an öffentlicher Akzeptanz gewonnen. Die Aktivitäten dieser Nichtregierungsorganisationen und deren gelegentliche Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen verlangen nach sorgsamer Beobachtung durch ukrainische und ausländische Watch-Dog-Organisationen sowie Eindämmung durch die Kiewer Regierung.
Einführung
Der ukrainische Ultranationalismus war während des Großteils der postsowjetischen Geschichte des Landes in puncto landesweiter Parteien und Wahlen ein überraschend schwaches Phänomen. Trotz der enormen sozialen und wirtschaftlichen Spannungen in der ukrainischen Gesellschaft während der letzten 30 Jahre haben rechtsextreme Parteien und deren Bündnisse bei nahezu allen nationalen Wahlen miserabel abgeschnitten. Das ist angesichts der wiederholten Wahlerfolge rechtsradikaler und -populistischer Gruppierungen in etlichen ost- wie westeuropäischen Ländern im selben Zeitraum bemerkenswert.
Aufgrund ihres schwachen Abschneidens bei Wahlen waren extrem rechte, politisch ambitionierte Aktivisten oft genötigt, sich auf Regional- und Lokalpolitik (insbesondere in der Westukraine) zu beschränken. Andere Akteure verblieben aufgrund der mangelnden Unterstützung rechtsradikaler Parteilisten im Rahmen dessen, was in der vergleichenden Politikwissenschaft als "unzivile Gesellschaft" bezeichnet wird. Dieser Begriff bezeichnet eine Kategorie von Nichtregierungsorganisationen, die primär weder gewinn- noch machtorientiert sind und somit als zivilgesellschaftliche Akteure betrachtet werden können. Jedoch sind die Ideen, Ziele, Netzwerke und Aktionen solcher unzivilen Gruppen im- oder explizit antidemokratisch. Sie verbreiten keine bürgerschaftlichen Werte, die auf Gleichstellung, Toleranz und Pluralismus beruhen, sondern exklusive, manichäische und hierarchische Gesellschaftsbilder.
Solche Gruppen mögen zwar, wie auch gewöhnliche zivilgesellschaftliche Organisationen, hilfreich dabei sein, bei ihren Mitgliedern die Entwicklung organisatorischer, intellektueller, rhetorischer, emotionaler sowie anderer Fähigkeiten zu fördern. Doch werden diese Fertigkeiten dazu eingesetzt, autoritäre, xenophobe, homophobe, patriarchalische und andere illiberale Ideen zu propagieren oder gar durchzusetzen. Gelangen die Anführer oder Mitglieder solcher unziviler Organisationen in die hohe Politik, tendieren sie dazu, Demokratie abzubauen und nicht zu fördern.
Der kurze Aufstieg der Freiheitspartei 2012–2014
In der postsowjetischen Geschichte der Ukraine hat es nur einmal eine ultrarechte Partei gegeben, die zeitweise in der Werchowna Rada eine Fraktion stellte, nämlich 2012–2014 die Allukrainische Union "Swoboda" (dt.: "Freiheit"). Vom März bis zum Oktober 2014 war "Swoboda" zudem acht Monate lang mit einigen Ministern in der ersten Regierung nach der Revolution der Würde vertreten. Der relative Erfolg von Swoboda bei den Parlamentswahlen 2012 mit 10,44 Prozent und die kurze Regierungsbeteiligung nach dem Euromaidan kamen beide unter besonderen politischen Umständen zustande.
Der kurzzeitige Vorstoß von Swoboda in die nationale Politik war vor allem eine Reaktion auf den Aufstieg kremlnaher antiukrainischer politischer Akteure sowie eine Folge von Disziplinlosigkeit und Uneinigkeit im gemäßigten nationalliberalen Parteienlager. Bevor Swoboda 2012 ins Parlament einzog, hatte die moskaufreundliche Außen- und Kulturpolitik etlicher prorussischer Regierungsmitglieder sowie Parlamentsabgeordneter unter Präsident Wiktor Janukowytsch patriotische Teile der Wählerschaft der Ukraine mobilisiert und radikalisiert. Gleichzeitig verletzte eine Anzahl von Abgeordneten, die bei den Parlamentswahlen 2007 über die prowestlichen Parteilisten "Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung" und "Julija-Tymoschenko-Block" in die Werchowna Rada eingezogen waren, ihre Mandate, nachdem Janukowytsch 2010 zum Präsidenten gewählt wurde.
Die Mandatswechsler wurden in der Ukraine ironisch als Tuschki gebrandmarkt – ein unübersetzbares russisches Wort, das tote Tierkörper meint und mit dem Begriff "Zombies" übertragen werden kann. Etliche Parlamentarier der Fraktionen Wiktor Juschtschenkos und Julija Tymoschenkos schlugen sich im Sommer 2010 auf die Seite der neuen prorussischen Regierungskoalition, die das Kabinett von Premierminister Mykola Asarow (der heute in Russland lebt) stützte, und wurden damit zu Tuschki. Dies geschah, obwohl diese 2010 überlaufenden Tuschki-Abgeordneten drei Jahre zuvor über geschlossene Listen der beiden "orangen" Wahlbündnisse Juschtschenkos und Tymoschenkos gewählt worden waren. Vor diesem Hintergrund war vor den Parlamentswahlen 2012 eines der Wahlversprechen von Swoboda, dass die Listen- und Direktkandidaten der Freiheitspartei im Falle ihrer Wahl das Vertrauen der Wähler nicht verraten würden – ein Gelöbnis, das alle gewählten Swoboda-Abgeordneten im Anschluss getreu einhielten.
Im März 2014 erhielt Swoboda aufgrund von Differenzen zwischen den beiden wichtigsten nationalliberalen Fraktionen, der Partei "Vaterland" ("Batkiwschtschyna") unter der Führung von Arsenij Jazenjuk und der "Ukrainischen Demokratischen Allianz für Reformen" (ukr. Abk.: UDAR, russ.: Schlag) von Witalij Klytschko, darüber hinaus einige Ministerposten im ersten Post-Euromaidankabinett. Da UDAR sich nicht an der postrevolutionären Übergangsregierung beteiligen wollte und die "Partei der Regionen" Janukowytschs sich in Auflösung befand, wäre nur ein nationalliberales Einfraktionskabinett möglich gewesen. Vor diesem Hintergrund gestand "Vaterland" der Partei "Swoboda" die Leitung einiger Ministerien sowie den Posten des Generalstaatsanwalts zu. In den folgenden acht Monaten folgte die Freiheitspartei von Oleh Tjahnybok in der Regierung meist dem Kurs, den die Nationalliberalen vorgaben. Im September 2014 etwa stimmte die Swoboda-Fraktion einstimmig für die Ratifizierung des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU – eine bemerkenswerte Entscheidung für eine rechtsradikale Partei, die mit vielen Grundwerten der EU uneins ist.
Das ultranationalistische Potential in der Ukraine
In der Ukraine gibt es seit den frühen 1990er Jahren, wie in den meisten europäischen Ländern, ein differenziertes rechtes Parteienspektrum, mit ca. einem Dutzend mehr oder minder radikaler nationalistischer politischer Organisationen, die regelmäßig an landesweiten, regionalen und Kommunalwahlen teilnehmen. Mitunter schlossen diese Gruppen aus wahltaktischen Gründen Bündnisse untereinander oder mit gemäßigteren Gruppierungen. So veranstalteten die drei wichtigsten ultrarechten Parteien "Swoboda", "Nationales Corps" und "Rechter Sektor" sowie einige kleinere Gruppen im März 2017 einen gemeinsamen Kongress, auf dem sie ein sog. Nationales Manifest verabschiedeten.
Die radikale Rechte der Ukraine verfügte in der Vergangenheit und verfügt auch heute über eine Anzahl prominenter und weithin bekannter Führungsfiguren wie Jurij Schuchewytsch, Dmytro Kortschinskyj, Oleh Tjahnybok, Dmytro Jarosch, Andrij Bilezkyj oder Ruslan Koschulinskyj. Neben dem relativen Erfolg von Swoboda bei den Parlamentswahlen 2012 erzielte die ukrainische extreme Rechte gelegentlich bei Regional- und Kommunalwahlen – insbesondere in der Westukraine – sowie bei Parlamentswahlen in Direktwahlkreisen Einzelerfolge. Bei den meisten landesweiten Abstimmungen nach Verhältniswahlrecht stimmte allerdings lediglich ein kleiner oder sehr kleiner Teil der Wählerschaft für ultranationalistische Gruppen.
Die aus marginalen Grüppchen nach dem Euro-Maidan entstandenen Parteien Rechter Sektor und Nationales Corps haben seit 2014 immer wieder deutlich gemacht, dass sie nach politischer Macht streben. Der ehemalige Anführer des Rechten Sektors, Dmytro Jarosch, und der derzeitige Anführer des Nationalen Corps, Andrij Bilezkyj, waren von 2014 bis 2019 Abgeordnete der 8. Werchowna Rada. Sie kommen beide aus der Ostukraine und zogen mit Direktmandaten ins Parlament ein – Jarosch aus einem Wahlkreis in seiner Heimatregion Dnipropetrowsk und Bilezkyj aus dem Kiewer Stadtbezirk Obolon. Der Rechte Sektor war Ende 2013 aus einer losen Verbindung unterschiedlicher nationalistischer Kleingruppen hervorgegangen, die sich auf dem Euromaidan um Jaroschs bis dahin kaum bekannte Wehrsportgruppe "Dreizack Stepan Banderas" scharten. Im April 2014 gründete der Rechte Sektor das sog. Freiwillige Ukrainische Corps (ukr. Abk.: DUK) – eine kleine paramilitärische Einheit, die am Donbas-Krieg teilnahm und bis heute ein irreguläres Bataillon ist.
Die politische Partei Nationales Corps ging aus den neonazistischen Jugendgruppen "Patriot der Ukraine" und "Sozial-Nationale Versammlung" unter der Führung von Andrij Bilezkyj hervor. Im Sommer 2014 bildeten die Anführer dieser beiden Gruppen den Kern des semiregulären Freiwilligenbataillons "Asow", das inzwischen ein reguläres Regiment der Nationalgarde beim Innenministerium der Ukraine ist. Mitglieder, Veteranen und Sympathisanten von "Asow" gründeten am 14. Oktober 2016 die Partei Nationales Corps mit Bilezkyj als Vorsitzendem.
Sowohl der Rechte Sektor als auch das Nationale Corps ziehen ihren heutigen Ruhm aus der medienwirksamen Beteiligung ihrer Anführer an der Verteidigung der Ukraine gegen Russland. Während die marginalen Vorläufergruppen der beiden Parteien vielen Ukrainern kaum bekannt waren, wurden Jarosch, Bilezkyj und einige andere radikale nationalistische Politiker ab 2014 zu nationalen Kriegshelden. Jarosch wurde sogar im Krieg verwundet. Durch die Beteiligung von Ultranationalisten am Krieg, oft mit eigenen Freiwilligenbataillonen, hat sich deren öffentliches Profil, soziale Stellung, politische Legitimität und allgemeine Popularität in der Ukraine merklich erhöht.
Paradoxerweise hat die deutlich gewachsene nationale wie internationale Sichtbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz radikaler Nationalisten in der Ukraine seit 2014 allerdings kaum Erfolge an der Wahlurne nach sich gezogen, zumindest nicht bei landesweiten Wahlen. Im Gegenteil: Der Wählerzuspruch für Swoboda sank bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2014 gegenüber 2012 von 10,44 Prozent auf 4,7 Prozent. Fünf weitere Jahre später sank er bei den jüngsten Wahlen zur Werchowna Rada noch einmal auf 2,15 Prozent.
Letzteres Ergebnis war für die Ultranationalisten umso frustrierender, als Swoboda bei den Parlamentswahlen im Juli 2019 in einer offiziellen Listenvereinigung mit dem Rechten Sektor, Bilezkyjs Nationalem Corps und Jaroschs sog. Staatsinitiative angetreten war. Damit waren die vier wichtigsten rechtsradikalen Kräfte in einem Block zusammengefasst und keine Konkurrenten untereinander, wie es im Oktober 2014 zwischen Swoboda und dem Rechten Sektor der Fall gewesen war. Der vereinigte Ultranationalistenblock scheiterte im Juli 2019 nichtsdestoweniger überraschend klar an der Fünf-Prozent-Hürde und konnte nur ein Direktmandat erringen.
Die Präsidentschaftskandidaten der Rechten waren in den vergangenen zehn Jahren mit Ergebnissen von konstant weniger als 2 Prozent noch erfolgloser als ihre Parteilisten. Unmittelbar nach dem Euromaidan erhielten im Mai 2014 Tjahnybok 1,16 Prozent und Jarosch 0,7 Prozent, während Koschulinskyj als gemeinsamer Kandidat der meisten rechtsradikalen Gruppen im März 2019 immerhin 1,62 Prozent erreichte. Er schnitt damit fünf Jahre nach der Revolution der Würde ähnlich miserabel ab, wie es Tjahnybok als Kandidat von Swoboda gut drei Jahre vor Beginn des Euromaidans mit 1,43 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen 2010 ergangen war.
Die stabil geringe Wählerunterstützung für Rechtsradikale in den beiden unterschiedlichen historischen Phasen der Ukraine vor und nach dem Euromaidan ist bemerkenswert. Nicht nur hat sich die Wählerdemographie der Ukraine durch die russische Annexion der Krim und Okkupation des östlichen Donezbeckens im Frühjahr/Sommer 2014 zugunsten der Ethnonationalisten entwickelt, da sie in diesen Teilen der Ukraine kaum Unterstützung hatten und haben. Die niedrigen Wahlergebnisse der Rechten sind umso beachtlicher, als sich die ukrainische Gesellschaft seit 2014 aufgrund des anhaltenden heißen Konfliktes im Donbas und des allgemeinen Hybridkrieges des Kremls gegen die Ukraine in einem permanenten geopolitischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und psychischen Stresszustand befindet.
Diese Umstände hätten an und für sich einen günstigen Hintergrund für ethnozentrische Propaganda und den Aufstieg ultranationalistischer Gruppen liefern müssen. Allerdings konnte bis Ende 2019 in der politischen Landschaft der Ukraine kaum etwas beobachtet werden, was auch nur annähernd an die hohen Wahlergebnisse oder jahrelange Regierungsbeteiligung verschiedener Rechtspopulisten und Ultranationalisten in etlichen anderen europäischen Ländern erinnern würde. Vielmehr stellt sich die Ukraine nach fünf Jahren Krieg als ein Land dar, dass 2019 mit Wolodymyr Selenskyj nicht nur einen jüdischstämmigen Präsidenten wählte, sondern für ca. drei Monate gleichzeitig auch einen jüdischstämmigen Premierminister hatte – Wolodymyr Hroisman, der von April 2016 bis August 2019 die ukrainische Regierung führte.
Die zunehmende gesellschaftliche Verankerung der Ultrarechten
Nichtsdestotrotz bleiben eine aufmerksame Beobachtung und ggf. entschiedene Zurückdrängung rechtsradikaler Aktivitäten wichtige Aufgaben für ukrainische und internationale Watch-Dog-Organisationen. Das ultranationalistische Milieu der Ukraine mag zwar an der Wahlurne erfolglos sein und bleiben. Doch hat dessen zahlenmäßige Stärke seit dem Euromaidan eher zu- als abgenommen. Die Rechte insgesamt ist organisatorisch besser aufgestellt und taktisch raffinierter geworden.
Die Rechtsradikalen bleiben weitgehend von der nationalen ukrainischen Politik ausgeschlossen und haben nach den letzten Parlamentswahlen selbst ihre zuvor schon nur geringe Repräsentanz in der Werchowna Rada fast vollständig eingebüßt. Doch haben sich in den vergangenen Jahren viele ultranationalistische Aktivisten unterschiedlichen Projekten in der ukrainischen "unzivilen Gesellschaft" zugewandt, und zwar in einer großen Bandbreite von Bereichen – angefangen von geschichtspolitischen Fragen über Korruptionsbekämpfung bis hin zum Umweltschutz. Mitunter haben es ultrarechte Gruppen geschafft, staatliche Protektion und Unterstützung für ihre Aktivitäten zu erhalten, etwa im Rahmen bestimmter Veteranen- und Bildungsprogramme.
Auch vor 2014 waren Teile der nationalliberalen politischen Elite der Ukraine bereit, mit Rechtsradikalen zusammenzuarbeiten. Allerdings waren diese Allianzen meist situationsbedingt und weniger strategischer oder ideeller Natur. Je länger der bewaffnete Konflikt mit Russland andauert, desto stärker vermögen es heute selbst Randgruppen wie die inzwischen weithin bekannte Neonazi-Gruppe S14 (oder C14), in die ukrainische Gesellschaft und in öffentliche Angelegenheiten integriert zu werden. Die Distanz zwischen dem Mainstream und extremistischer Politik, zwischen ziviler und unziviler Gesellschaft, gemäßigten und radikalen nationalistischen Gruppen, schrumpft nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch kulturell und mental. Die offizielle politische Rhetorik der Ukraine, der Diskurs in den Medien, die Kulturpolitik sowie die Debatte über erinnerungspolitische Fragen sind zwischen 2014 und 2019 mit jedem Jahr militanter und patriotischer geworden. Dadurch haben auch extrem rechte historische und heutige Vorstellungen, Führungsfiguren und Organisationen in der ukrainischen Gesellschaft an sozialer Akzeptanz, wenn nicht Sympathie gewonnen.
In westlichen Demokratien liegt die wichtigste politische Trennlinie heute zwischen den Anhängern und den Gegnern von kulturellerem oder sozialem Liberalismus. In der Ukraine hingegen drehen sich die wichtigsten politischen Fragen um die Haltung der jeweiligen Person oder Gruppe zur nationalen Unabhängigkeit der Ukraine, zum Krieg mit Russland, zum korrupten oligarchischen System und zur Westorientierung, wobei letztere eher als geopolitische Ausrichtung denn als normative Bindung verstanden wird. Da die ukrainischen Ultranationalisten zu großen Teilen ähnliche Antworten auf diese Fragen geben wie viele ukrainische Nationalliberale, werden erstere von letzteren immer mehr akzeptiert.
So war zum Beispiel im Januar 2019 der Anführer der erwähnten neonazistischen Gruppe S14, Jewhen Karas, ein Mitglied der ukrainischen Delegation beim Ökumenischen Patriarchat Konstantinopel in Istanbul. Anlass war die Verleihung der Autokephalie an die Ukrainische Orthodoxe Kirche durch das inoffizielle Oberhaupt der Ostchristentums Bartholomäus I. Die Anwesenheit von Karas bei der offiziellen Zeremonie sorgte unter ukrainischen und ausländischen Menschenrechtsaktivisten für Aufsehen. Der peinliche Zwischenfall wurde in der ukrainischen Gesellschaft jedoch zu keinem großen Thema. Aufmerksamkeit erregte vielmehr die Teilnahme eines ukrainischen Geschäftsmanns mit kriminellem Hintergrund, der ebenfalls bei der Kirchenzeremonie in Istanbul zugegen war.
Weder S14 noch Swoboda oder der Rechte Sektor stellen allerdings heute die größte ultranationalistische innere Gefahr für die junge Demokratie in der Ukraine dar. Eher könnte die facettenreiche "Asow-Bewegung" mit ihrem regulären Regiment bei der ukrainischen Nationalgarde, ihren Verbindungen in die Führung des Innenministeriums, ihrer Partei Nationales Corps, ihrer unbewaffneten Bürgerwehr "Nationale Gefolgschaften" (Nazionalni drushyny) und diversen anderen Ablegern, eine langfristig größte Bedrohung seitens des ukrainischen Rechtsextremismus darstellen. Die Asow-Bewegung hat es im Gegensatz zu früheren ukrainischen ultrarechten Organisationen vermocht, eine multidimensionale und betont moderne soziale Bewegung zu schaffen, die besonders für junge Menschen attraktiv und nicht, wie im Falle Swobodas, regional beschränkt ist.
Die ältere Freiheitspartei ist zwar an der Wahlurne und als Organisation immer noch stärker als das Nationale Corps. Sie ist heute allerdings nur noch in Galizien eine relevante politische Kraft. Der Rechte Sektor hat seit Ende 2014 seine Dynamik aus der Zeit während und nach dem Euromaidan eingebüßt. Nach dem Austritt seines Gründungsvaters und prominentesten Anführers Dmytro Jarosch Ende 2015 ist der Rechte Sektor zu einer Randerscheinung mit nur geringer Organisationsstärke und Wählerunterstützung geworden. Jarosch wiederum hat es nach seinem Weggang vom Rechten Sektor bislang nicht geschafft, aus seiner 2016 gegründeten sog. Staatsinitiative eine bedeutsame Organisation zu machen.
"Asow" hingegen hat – als eine Bewegung, die ursprünglich aus dem weitgehend russischsprachigen Charkiw stammt – eine gleichmäßigere Verbreitung im Land und war noch nicht von größeren Abspaltungen betroffen gewesen. Vor allem fungiert die Asow-Bewegung als eine dynamische unzivile Assoziation, die ihre Unterstützung unter Jugendlichen im Inland und ihre Kontakte unter Rechtsextremisten im Ausland intensiv ausbaut. Sie ist ein sichtbarer Teil internationaler Netzwerke rechter Aktivisten geworden und unterhält Verbindungen zu diversen, meist rassistischen Randgruppen im Ausland, unter anderem in den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und der Russischen Föderation.
Schlussfolgerungen
Das auch 2019 weiterhin ungewöhnlich schwache Abschneiden ukrainischer Rechtsradikaler an den Wahlurnen ist ermutigend. Die geringe gesellschaftliche Unterstützung für parteipolitisch organisierten Ultranationalismus in der Ukraine ist erstaunlich, wenn man dieses Phänomen mit jüngeren Wahlerfolgen rechter Populisten und Extremisten in anderen europäischen Ländern vergleicht. Trotz des aktiven bewaffneten Konfliktes im Osten der Ukraine und der weiten Verbreitung von Schusswaffen seit 2014, haben es die ukrainischen Rechtsextremisten bisher weitgehend unterlassen, in innerukrainischen politischen Auseinandersetzung die ihnen zur Verfügung stehenden Waffen einzusetzen.
Allerdings gibt es mindestens vier Tendenzen in der Entwicklung des ultranationalistischen Milieus der Ukraine seit 2014, die Anlässe zu Sorge bereiten. Zum einen wächst aufgrund Russlands Krieges gegen die Ukraine die Toleranz und teils sogar eine Sympathie der ukrainischen Elite wie Gesellschaft in Bezug auf historische wie zeitgenössische radikale nationalistische Organisationen, Aktionen und Personen. Zweitens haben seit 2014 bestimmte ultrarechte Organisationen über die Gründung von paramilitärischen Freiwilligenverbänden Zugang zu Schusswaffen und ja zum Teil gar zu schweren Waffen erlangt. Einige rechtsextreme Parteien kontrollieren immer noch ir- oder semireguläre militärische Gruppen wie das Freiwillige Ukrainische Corps des Rechten Sektors oder die sog. Ukrainische Freiwilligenarmee von Jaroschs Staatsinitiative, wobei die Begriffe "Corps" und "Armee" für diese kleinen bewaffneten Einheiten hyperbolisch sind. Drittens sind ultrarechte Organisationen zunehmend in der außerparlamentarischen Opposition, unzivilen Gesellschaft, Kulturlandschaft, Kommunalpolitik und inoffiziellen internationalen Beziehungen der Ukraine präsent.
Viertens führt die allgemein wachsende Duldsamkeit der ukrainischen Gesellschaft gegenüber rechtsradikalen Kriegsveteranen zu einer schwächeren Abgrenzung des Staates von ultranationalistischen Gruppen. So hat es wiederholt Fälle einer Zusammenarbeit zwischen bestimmten Regierungsinstitutionen wie dem Sicherheitsdienst oder dem Veteranenministerium der Ukraine einerseits und Teilen der rechtsradikalen Szene andererseits gegeben. Die Ukraine bleibt zwar mit Blick auf die Wahlergebnisse ultrarechter Parteien eine positive Ausnahme. Die steigende öffentliche Präsenz unziviler Gruppen im ukrainischen Alltag und zunehmende gesellschaftliche Unterstützung für den historischen wie auch heutigen ukrainischen Ultranationalismus sind allerdings neue Aufmerksamkeit erfordernde Merkmale der Ukraine nach dem Euromaidan.
Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder
Lesetipps:
Anti-Equality Monitoring: How to Mainstream Neo-Nazis. A Lesson from Ukraine’s C14 and an Estonian Think Tank, in: Bellingcat, 8. August 2019. Externer Link: www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2019/08/08/how-to-mainstream-neo-nazis-a-lesson-from-ukraines-c14-and-an-estonian-think-tank/.Anti-Equality Monitoring: Ukraine’s Ministry of Veterans Affairs Embraced the Far Right – With Consequences to the U.S., in: Bellingcat, 11. November 2019. Externer Link: www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2019/11/11/ukraines-ministry-of-veterans-affairs-embraced-the-far-right-with-consequences-to-the-u-s/.Chambers, Simone; Jeffrey Kopstein: Bad Civil Society, in: Political Theory, 29.2001, Nr. 6, S. 837–865.Griffin, Roger: From Slime Mould to Rhizome. An Introduction to the Groupuscular Right, in: Patterns of Prejudice, 37.2003, Nr. 1, S. 27–50.Kuzmenko, Oleksiy: ‘Defend the White Race’. American Extremists Being Co-Opted by Ukraine’s Far-Right, in: Bellingcat, 15. Februar 2019. Externer Link: www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2019/02/15/defend-the-white-race-american-extremists-being-co-opted-by-ukraines-far-right/.Likhachev, Viacheslav: The ‘Right Sector’ and Others. The Behavior and Role of Radical Nationalists in the Ukrainian Political Crisis of Late 2013 – Early 2014, in: Communist and Post-Communist Studies, 48.2015, Nr. 2, S. 257–271.Mierzejewski-Voznyak, Melanie: The Radical Right in Post-Soviet Ukraine, in: Jens Rydgren (Hg.): The Oxford Handbook of the Radical Right, Oxford: Oxford University Press 2018, S. 608–629.Rechtsextremismus in der Ukraine. Gruppierungen und ihre Aktivitäten im Überblick. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung 2019.Shekhovtsov, Anton: From Electoral Success to Revolutionary Failure. The Ukrainian Svoboda Party, in: Eurozine, 5 März 2014. http://www.eurozine.com/articles/2014-03-05-shekhovtsov-en.html/.Shekhovtsov, Anton; Andreas Umland: Ukraine’s Radical Right, in: Journal of Democracy, 25.2014, Nr. 3, S. 58–63.Umland, Andreas: Der Begriff der "unzivilen Gesellschaft" als Instrument der historischen und aktuellen Rechtsextremismusforschung, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 21.2008, Nr. 4, S. 63–67.Umland, Andreas: Irregular Militias and Radical Nationalism in Post-Euromaidan Ukraine. The Prehistory and Emergence of the ‘Azov’ Battalion in 2014, in: Terrorism and Political Violence, 31.2019, Nr. 1, S. 105–131.
| Article | Von Andreas Umland | 2021-06-23T00:00:00 | 2020-01-06T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/303013/analyse-der-ambivalente-aufstieg-einer-ukrainischen-unzivilen-gesellschaft-nach-dem-euromaidan/ | Obwohl rechtsradikale Parteien in der nationalen Politiklandschaft der Ukraine weniger erfolgreich sind, haben sich in den letzten Jahren ultranationalistische Gruppierungen in unzivilen Nichtregierungsorganisationen zusammengefunden, die sich wachse | [
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"Rechtsextremismus",
"unzivile Gesellschaft",
"Euromaidan",
"Ukraine"
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Die Entwicklung der Demokratie – Legitimationsverlust und Reformbedarf? Thesenpapiere etc | 12. Bundeskongress Politische Bildung | bpb.de | Eine Stärke der Demokratie besteht in ihrer Fähigkeit, gesellschaftliche Entwicklungen aufzunehmen und für die Weiterentwicklung einer demokratischen politischen Kultur nutzbar zu machen. Der Förderung gesellschaftlicher Partizipation kommt in diesem Zusammenhang große Bedeutung zu. Die neue Vielfalt politischer Prozesse und die Öffnung der Politik zu mehr Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger stellen aber auch neue Fragen: Führt mehr Teilhabe auch zu mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft? Wie steht es mit der Legitimität partizipativ gestalteter Entscheidungsprozesse in einer repräsentativen Demokratie? Die Sektion nimmt die demokratietheoretischen Überlegungen der Eingangsveranstaltung in vertiefter Form auf und diskutiert Fragen von Legitimation und Legitimität einer erweiterten politischen Partizipation.
Interner Link: Literatur und Quellen zur Sektion
Interner Link: Thesenpapier Prof. Dr. Everhard Holtmann Interner Link: Ute Kumpf - Brauchen wir eine Demokratie-Enquete? Interner Link: Ute Kumpf - Beschluss des SPD-Parteivorstands: Mehr Demokratie leben Teilnehmer/innen
Externer Link: Prof. Dr. Everhard Holtmann, Universität Halle Externer Link: Prof. Dr. Norbert Kersting, Universität Münster Externer Link: Claudine Nierth, Mehr Demokratie!, Berlin Externer Link: Ute Kumpf, MdB, SPD Externer Link: Prof. Dr. Martin Haase, Piratenpartei Moderation
Externer Link: Dr. Ansgar Klein, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement
Zeit
9.30 - 12.30 Uhr Raum
af Auditorium Friedrichstraße Im Quartier 110 / Friedrichstrasse 180 10117 Berlin Etherpad zur Dokumentation der Sektion: Externer Link: http://titanpad.com/BuKo2012-Sektion2 | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-11-17T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/195156/die-entwicklung-der-demokratie-legitimationsverlust-und-reformbedarf-thesenpapiere-etc/ | Eine Stärke der Demokratie besteht in ihrer Fähigkeit, gesellschaftliche Entwicklungen aufzunehmen und für die Weiterentwicklung einer demokratischen politischen Kultur nutzbar zu machen. Der Förderung gesellschaftlicher Partizipation kommt in diesem | [
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Ernährung, Gesundheit und soziale Ungleichheit | Gesundheit und soziale Ungleichheit | bpb.de | Einleitung
" Es existiert [...] ein deutliches Missverhältnis zwischen der Bedeutung der eigentlichen Ursachen von Krankheit und Tod und der Verteilung von Ressourcen im Gesundheitssystem". Der größte Teil der Ressourcen wird zur Behandlung von Krankheiten verwendet, während maximal fünf Prozent der Gesundheitskosten in Maßnahmen der Primärprävention und vorbeugenden Gesundheitsförderung fließen.
Zusammenhänge und Hintergründe mehrerer Reformstufen im deutschen Gesundheitswesen verdeutlichen, dass Krankheiten, die eng mit dem Risikofaktor "Übergewicht durch Überernährung" verknüpft sind und die das Ergebnis von Genetik, Lebensstil und sozialem Umfeld der Menschen sind, epidemische Ausmaße angenommen haben. Übermäßiges Essen und Trinken bei gleichzeitig schlechter Nahrungsqualität, körperliche Inaktivität, Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum stehen im Mittelpunkt dieser Lebensstile, die zu den bekannten Zivilisationskrankheiten führen. Krankenkassen, deren Leistungskataloge in Deutschland auf dem Prinzip der Solidarität beruhen, werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Grenzen der Finanzierbarkeit erreicht seien; das Auftreten der "modernen" chronischen Krankheiten (Herz- und Gefäßerkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, Krebs) habe die Krankheitslasten verschoben. Der jüngste deutsche Patient mit Diabetes mellitus Typ 2 ist fünf Jahre alt. Ehemals als Erkrankungen des Alters angesehene Veränderungen treten heute bereits bei jungen Menschen auf, sie werden riskanten Lebensstilen (Zusammenstellung 1) bei gegebenenfalls schwierigen biologischen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zugeschrieben.
Zusammenstellung 1: Erklärungen für gesundheitlich riskante Lebensstile
Es handelt sich um Auswirkungen einer Lentiproblematik, d. h. Langzeitproblematik: Folgen zeigen sich meist nicht unmittelbar, Schäden entstehen unmerklich in einem langsamen Prozess.Risikoverhaltensweisen betreffen zentrale Lebensaktivitäten, wie Essen, Trinken, Bewegung, Sexualität, und sind unreflektierter Teil einer etablierten Alltagskultur.Riskante Lebensstile haben kurzfristig positive, verstärkende Wirkung von Genuss und Spaß und erzeugen positive Gefühle, die sozial geteilt werden.Es bestehen Auswirkungen eines "unrealistischen Optimismus": Mir passiert schon nichts! Diese Haltung wird unterstützt durch autobiographische Erfahrungen: "Meine 90-jährige Tante hat ihr Leben lang geraucht!"Stress führt zu riskanten Verhaltensweisen als Mittel der Bewältigung von psychischen Belastungen.
Vor diesem Hintergrund steht der Zusammenhang von Gesundheit und Ernährung, der meist als Gegenstand und Problem von Medizin und Ernährungswissenschaft behandelt wird, interdisziplinär auf dem Prüfstand. In dessen Rahmen wird nachfolgend argumentiert, dass lebensstilrelevante Bereiche der Gesundheit in den westlichen Ländern eine Frage von Kommunikation und Bildung sind.
Es ist nicht meine Absicht, den Reformideen von Gesundheitsexperten weitere Vorschläge hinzuzufügen. Ich möchte die Aufmerksamkeit vielmehr auf folgenden Aspekt der öffentlichen Diskussion richten: In Phasen tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen, die von den an großzügige soziale Sicherungssysteme gewöhnten Menschen fast zu viel verlangen, zielen die Gesundheitsförderungs- und Präventionsstrategien vornehmlich auf die Änderung individuellen Verhaltens. In dieser Lage erleben wir eine klassische Situation von Konfliktkommunikation, deren Bezüge und Abhängigkeiten Probleme auf verschiedenen Ebenen zutage fördern, welche die Menschen in guten Zeiten besser bewältigen können. Gesundheit und Ernährungsgewohnheiten
Von den derzeit wichtigen Studien zur Analyse der Entwicklung von Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit, Fettsucht) in reichen Ländern untersucht die Kieler Studie seit 1996 in einer Längsschnitt- und drei Querschnittuntersuchungen die Gewichtsentwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Erste Zwischenergebnisse zeigen deutlich:
Zurückgehend auf Daten von 1978 sind heute 23 Prozent der 5-bis 7-jährigen Kinder und 40 Prozent der 11-Jährigen übergewichtig.Diese Kinder finden sich häufiger in Familien mit übergewichtigen Eltern, geringem Einkommen und niedrigem Sozialstatus (ermittelt aufgrund der Schulabschlüsse der Eltern).Dicke Kinder bewegen sich nicht gerne.Kinder aus den genannten Familien mit geringem Interesse an körperlichen Aktivitäten verbringen mehr inaktive Zeiten mit Fernsehen, Videos und Computern ("Medienzeiten"). Dabei scheinen sie spezielle Essgewohnheiten zu entwickeln: Snacking von Süßigkeiten und fetthaltigen Knabbereien, süßen Getränken, fetten, preisgünstigen Wurstwaren.
Jenseits dieser Hinweise zeigt die Kieler Studie keine generellen Bezüge zwischen der Nahrungsqualität und Adipositas.
Die Kieler Adipositaspräventionsstudie begnügt sich nicht mit der Datenerhebung, sie sucht auch nach Wegen einer niederschwelligen Intervention und orientiert sich dabei an den beiden Settings Familie und Schule. Erste Zwischenergebnisse lassen Erfolge einer schulischen Intervention erkennen, die Inzidenzrate ist bei der zweiten Querschnittsuntersuchung leicht gesunken. Der gewählte Weg über die Familien scheint hingegen weniger hoffnungsvoll: Nicht mehr als 20 Prozent der Familien mit adipösen Kindern erklärten überhaupt ihre Bereitschaft zur Mitarbeit im Kampf gegen das Übergewicht ihrer Kinder. Beratungsangebote hatten jedoch in diesen Familien keinen positiven Effekt auf die Gewichtsentwicklung der Kinder.
Kinder lernen verschiedene Ess- und Ernährungsstile in den sie prägenden sozialen Settings. Ausgehend von den Primärerfahrungen in Familien sind Institutionen der Erziehung und Bildung bestimmend, neben Personen und Gleichaltrigengruppen (Peers), zu denen Beziehungen aufgebaut werden und von denen Einflussnahmen akzeptiert werden. Wenn aus dicken Kindern dicke Erwachsene werden können, stehen wir angesichts einer adipogenen Umwelt in reichen Ländern (Zusammenstellung 2) vor Herausforderungen nie geahnten Ausmaßes, so dass Vertreter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) feststellen: "Adipositas beginnend im Kindesalter ist das drängendste Gesundheitsproblem in reichen Ländern." Angesichts der steigenden Therapieresistenz mit zunehmendem Alter richtet sich die Herausforderung an eine frühzeitig beginnende und kontinuierliche Ernährungsbildung bzw. Primärprävention, mit dem Ziel, Essen zu lernen. In einer adipogenen Umwelt schlank, beweglich und gesund zu bleiben, trifft mitten ins Zentrum der Auswirkungen von sozialer Ungleichheit.
Zusammenstellung 2: Faktoren einer adipogenen Umwelt in reichen LändernDie Mengenproblematik: Billige Nahrung ist Tag und Nacht verfügbar.Der menschliche Stoffwechsel ist eher für Hungerszeiten ausgelegt als für exzessiven Nahrungskonsum.Der physiologische Nährstoffbedarf wird von psychosozialen Determinanten der Essbedürfnisse und -gewohnheiten überlagert.Essanlässe und -situationen werden durch die Medien zur Lebensstil- und Imagefrage umgedeutet.Betroffene suchen nach Wegen der Gewichtsreduktion ohne Anstrengung und Veränderung von Gewohnheiten ("Wunderdiäten").Beratungs- und Therapieangebote zur Gewichtsreduktion vermitteln eher implizit, dass Disziplin im Zentrum langfristiger Erfolge steht.Die wirtschaftlichen Interessen der Lebensmittelkonzerne unterwerfen sich dem ökonomischen Prinzip und nicht dem der sozialen Verantwortung.
"Wer arm ist, ist seltener gesund und häufiger krank, geht bei Beschwerden später zum Arzt, erhält eine schlechtere Behandlung, wartet länger auf ein Krankenhausbett, bleibt länger im Krankenhaus, hat eine schlechtere Prognose und stirbt früher." Weltweit scheinen Lebensstilanalysen zu bestätigen, dass Armut, niedriger Sozialstatus und Bildungsstand die Gesundheit der Menschen negativ beeinflussen. Vor allem Armutsstudien belegen beispielhaft für das Ess- und Bewegungsverhalten, dass der Graben zwischen Expertenempfehlungen und Laienverständnissen in den vergangenen 20 Jahren größer geworden ist.
Gleichwohl halten Ernährungswissenschaftler und Mediziner an ihren Aufklärungsbotschaften fest und scheinen zu ignorieren, dass diese vor allem von Armut sowie niedrigem Sozial- und Bildungsstand betroffene Menschen nicht erreichen. Armutslagen und Ernährungsprobleme in Deutschland
Reiche europäische Nationen - so auch die Bundesrepublik Deutschland - müssen sich seit Ende der achtziger Jahre mit dem Phänomen Armut auseinandersetzen. Dabei handelt es sich weniger um eine absolute Armut, das physische Überleben betreffend, sondern um die so genannte relative Armut, das heißt, es geht um Fragen eines menschenwürdigen Lebens. R. G. Wilkinson hat in seinem Buch "Unhealthy Societies" herausgefunden, dass unter den hoch entwickelten Staaten nicht, wie vielleicht erwartet, die reichsten Staaten die gesündere Bevölkerung haben, sondern jene mit der geringsten Einkommensdifferenz zwischen arm und reich. Ungleichheit und relative Armut - so Wilkinson - haben in Bezug auf Morbidität und Mortalität absolute Effekte. Neben Einelternteilfamilien, Arbeitslosen, Familien mit mindestens drei Kindern und Personen mit Migrationshintergrund sind vor allem Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 15 Jahren von Auswirkungen der Armut auf das Essverhalten und den Ernährungszustand betroffen.
In der auflebenden Diskussion zur neuen Armut wird zwischen sozialer und materieller Ernährungsarmut unterschieden. Soziale Ernährungsarmut erlaubt es nicht, in einer gesellschaftlich akzeptierten Weise soziale Beziehungen aufzubauen, Rollen und Funktionen zu übernehmen, Rechte und Verantwortlichkeiten wahrzunehmen oder Sitten und Gebräuche einzuhalten, die jeweils im sozialen und kulturellen Umgang mit Essen in einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Materielle Ernährungsarmut bedeutet, dass die Ernährung weder quantitativ noch in ihrer physiologischen und hygienischen Qualität den Bedarf decken, sei es durch einen Mangel an Mitteln zum Erwerb von Nahrung oder durch einen Mangel an Nahrung selbst.
Aus verschiedenen Studien lassen sich erste Hinweise auf den Einfluss niedriger Einkommen (Sozialhilfeempfänger) auf die Lebensmittelauswahl zusammenfassen:Die Verzehrsmengen von magerem Fleisch und Fisch sind niedrig.Lebensmittel mit einem günstigen Preis-Mengen-Verhältnis wie Brot, Teigwaren, fetthaltige Kartoffelerzeugnisse, billige Streichfette und Wurstwaren werden in größeren Mengen verzehrt.Der Verzehr von frischem Obst und Gemüse ist eindeutig einkommensabhängig, d.h. arme Bevölkerungsgruppen weichen eher von nationalen und internationalen Empfehlungen ab als die wohlhabenden. Belton und Belton bestätigen für Großbritannien, dass Obst und Gemüse (Kampagne "5 helpings of fruit and vegetables a day") für von Ernährungsarmut betroffene Menschen zu teuer sind.Familien, die lange Zeit in Armut leben, schneiden im Vergleich zu jenen in kurzzeitiger Armut hinsichtlich der Einseitigkeit in der Auswahl und des zu hohen Fettgehalts der Nahrung noch deutlich schlechter ab.
Die Aufmerksamkeit, mit der sich die Gesellschaft gegenwärtig der Fehlernährung von Kindern und Jugendlichen zuwendet, ist beachtlich und erfährt eine breite Unterstützung durch neue Projekte und Publikationen. Die Konzepte und Materialien richten sich allerdings an Bevölkerungsgruppen und Bildungsschichten, die ohnehin oder eher für die Sachverhalte von Essstörungen, Übergewicht und Fehlernährung zu öffnen sind. Es bleibt daher die zentrale Frage, wie jene Bevölkerungsgruppen zu erreichen sind, die in den Statistiken über Essprobleme an der Spitze liegen, deren Fehlernährung durch Armut entsteht. Menschen, deren Alltagsbewältigung vor allem von Satt-werden-Können, Essen als Mittel gegen Frustration und Langeweile, fehlender persönlicher Zufriedenheit und sozialer Anerkennung bestimmt ist, scheinen sich den derzeit verbreiteten kompetenten Ratschlägen und Empfehlungen zu verschließen. Vermittlungsmodelle gesunder Ernährung - Botschaften und Zielgruppen
Die Krankheitsfolgen im Nahrungsüberfluss reicher Länder haben beispielsweise zu Aufklärungskampagnen geführt, auf die sich die Ernährungsexperten weltweit verständigen konnten (vgl. Abbildung 1der PDF-Version).
Die zentrale Botschaft der "5-am-Tag-Kampagne", wonach fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag gegessen werden sollen, ist in ihrer kurzen inhaltlichen und bildlichen Aussage konzeptionell gelungen. Und dennoch ist sie ein Beispiel dafür, dass solche Aufklärungsbemühungen offensichtlich vor allen bei jenen Zielgruppen auf fruchtbaren Boden fallen, die bereits über ein gutes Ernährungswissen verfügen und in deren Lebensstil das gewünschte Verhalten passt. Armutsstudien, die sich auf Fragen des Einkaufs- und Ernährungsverhaltens einkommensschwacher Haushalte konzentrieren, belegen, dass Sorgen und Probleme in Armutshaushalten nicht vordringlich die gesunde Ernährung betreffen: "Ich kaufe, was billig ist, und wo viel drin ist." "Gesundes Essen ist Luxus - Menge und Sattwerden zählen." "Wir kennen die Risiken der Zukunft, aber wir wollen Vorteile jetzt." "Frisches Obst und Gemüse ist zu teuer, man kann es nicht lagern." "Also mal ehrlich, über sowas [Ernährung] hab ich noch nie nachgedacht."
In Haushalten, in denen tägliche Routinen von der Beschaffung ausreichender Nahrungsmengen bestimmt sind, die billig und lagerfähig sind, begleitet von der Monotonie: Kartoffeln, Nudeln, Margarine, billige Wurstwaren, Gemüse in Dosen, werden Produkte gesunder Ernährung zu Luxusartikeln. Je länger die Armut das Leben der Familien bestimmt, umso geringer wird das Interesse an entsprechenden Botschaften. Gesundheitsbezogene Ernährungsbotschaften - Diskurse der Gesellschaft
Da die Gesellschaften ein Interesse daran haben, Zusammenhänge und Probleme von Armut, Gesundheit und Krankheit langfristig zu lösen, jedoch die beschrittenen Wege der Gesundheitskommunikation durch Information und Aufklärung nicht zum Erfolg führen, scheint es lohnenswert zu sein, sich weitergehende Konfliktfelder der Kommunikation näher anzusehen.
Beispielhaft möchte ich hier auf widersprüchliche Ebenen gesellschaftlicher Diskurse eingehen. Die jeweiligen Argumente von Vertretern unterschiedlicher Interessengruppen führen ganz offensichtlich zu Kommunikationskonflikten und verhindern lösungsorientierte Dialoge.
Zusammenstellung 3: Gesundheit und Krankheit - gesellschaftliche DiskurseMoralische und ethische Argumentation: "Die beste Therapie steht jedermann zu, man kann arme, ungebildete Menschen nicht ausschließen."Der ökonomische Standpunkt: "Die Kassen sind leer, wir müssen sparen."Sichtweise medizinischer Experten: "Die Menschenrechte und der Hippokratische Eid binden den Arzt und das Gesundheitswesen an Aufgaben der Lebenserhaltung und -verlängerung."Simplifizierung durch Bildung von Archetypen: "Ich zahle monatlich 300 Euro in die Krankenkasse ein: Das Geld steht mir als Gesundheitsleistung zu."Laienverständnis: "Wir leben jetzt, wollen essen und genießen - gesund leben, bedeutet Verzicht."Mediendiskurs: "Konfrontation, meist auf der Basis von widersprüchlicher Expertenmeinung, belebt das Gesundheitsgeschäft, erhöht die Einschaltquoten und Auflagen."
In der gegenwärtig schwierigen Phase der Präsentation immer neuer Reformideen in Deutschland, die auf der Seite der Betroffenen von Ängsten vor Verzicht und Verlusten begleitet werden, erscheinen die Standpunkte dieser Diskursebenen unvereinbar. Die Konfliktparteien argumentieren im Sinne ihrer jeweiligen Interessen und nicht zur gemeinsamen Lösungsfindung. Diskurse der Gesundheit fördern - Lernen, von Gesundheit zu reden?
Die Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit (= Salutogenese) und der Umgang mit Krankheit erfolgen zu einem wesentlichen Teil im Alltag und nicht in professionellen Versorgungssystemen. Medizinisch-anthropologische Untersuchungen in verschiedenen Kulturen verweisen auf die Bedeutung des nicht-professionellen, privaten Sektors der Gesundheitsversorgung; Medizinsoziologen sprechen in Analogie zum professionellen Gesundheitssystem von einem Laiengesundheitssystem. Empirische Untersuchungen in Industrieländern zeigen den beträchtlichen Umfang einer Gesundheitsselbsthilfe im Alltag, die vor allem im präventiven Bereich konkurrenzlos ist (vgl. Abbildung 2 der PDF-Version). Die Selbstmedikation bei Beschwerden und Erkrankungen ist ein weit verbreitetes Phänomen und umfasst etwa 37 Prozent aller verkauften Arzneimittel. Kenntnisse über Lebensmittel, Nährstoffe und ihre gesundheitlichen Wirkungen sind beachtlich. Dieses Laiengesundheitssystem, das unspektakulär funktioniert und sich versteckt in Alltagshandlungen findet, wurde unter anderem von T. Faltermaier und anderen untersucht. Aus den Ergebnissen wurde deutlich, dass Laien bei Weitem nicht nur an der Verhinderung von gesundheitlichen Störungen orientiert sind. Sie haben häufig positive Gesundheitsziele und antizipieren in ihren subjektiven Theorien auch Wege, wie sie diese erreichen können. Dabei fällt es insgesamt leichter, Menschen positiv zu motivieren, als sie durch die Angst vor Krankheit abzuschrecken. Prinzipiell scheint es Erfolg versprechend zu sein, Konzepte der Gesundheitsförderung in ausgewählten sozialen Settings, wie Kindergärten und Schulen (vor allem in Tagesstätten für Kinder und Jugendliche), Betrieben und Krankenhäusern zu entwickeln und umzusetzen.
Worum geht es? Die Menschen wissen sehr wohl zu unterscheiden, ob es sich um Genuss und Geschmack oder gesundheitsrelevante Nährstoffrelationen, um Lebensqualität oder Lebenserwartung handelt. Ihre subjektiven Theorien könnten der Ausgangspunkt für mehr Beteiligung und Verantwortung jedes Einzelnen sein. Die Menschen würden Gesundheit nicht mehr an Experten abgeben, sondern schon als Kinder lernen, sie zu bewahren, indem sie die Verantwortung für die Schaffung eines salutogenen (= gesundheitsförderlichen) Umfeldes mittragen und dessen Grenzen akzeptieren. Vor diesem Hintergrund fände gesellschaftliche Solidarität angemessene Mittel und Wege, denjenigen zu helfen, die trotz großer Sorgfalt im Umgang mit der eigenen Gesundheit erkranken bzw. als Ergebnis von Alterungsprozessen am Ende des Lebens der Hilfe bedürfen.
Zusammenstellung 4: Kommunikation und Bildung für ein salutogenes Umfeld in der Gesellschaft im Blickwinkel sozialer UngleichheitLaienperspektiven von Gesundheit systematisch stärken.Die Entstehung von Gesundheit (nicht Krankheit) zum Thema öffentlicher Diskussionen machen.Die "Narrationspräferenz" für Krankheitsgeschichten und Beschwerden in der deutschen Bevölkerung wandeln in das bevorzugte Erzählen positiver Geschichten.Den narrativen Zugang zur Gesundheit etwa über Geschichten der Ess- und Bewegungsbiographie suchen.Lernprozesse für ein Gesundheitshandeln frühzeitig im Kontext sozialer Settings beginnen (Familie, Schule, Kindergarten, Vereine etc.).Den Zusammenhang von Gesundheit und Alltag, Gesundheit und Beruf herstellen.
Wenn in einer Gesellschaft Botschaften der Themenfelder von Gesundheit nicht verstanden oder ignoriert werden, krankheitsbedingte Folgen nicht therapierbar sind, weil sie etwa nicht mehr bezahlt werden können, so führt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit beinahe zwangsläufig zu jenen Mitgliedern der Gesellschaft, die ihr Handeln nur bedingt selbst bestimmen können: Kinder und Jugendliche sind abhängig von den Entscheidungen derer, die Verantwortung tragen, und von den Rahmenbedingungen, die diese Erwachsenen schaffen. Sie leiden vor allem unter den Folgen von Armut und mangelnder Bildung. Die (Gesundheits-)Bildung, die wir ihnen nicht zukommen lassen, kommt unsere Gesellschaft später teuer zu stehen. Derzeit werden die sich daraus ergebenden Verpflichtungen und langfristigen Chancen einer gesundheitlichen Bildung in Deutschland unterschätzt. Organisierte Erziehung und Bildung, nachprüfbar in Kinder- und Jugendhilfegesetzen, Kindergarten- und Schulgesetzen, Rahmenrichtlinien und Lehrplänen der Bundesländer, erscheint als programmatische Verantwortung, ohne verbindliche Auswirkung auf Handlungskonsequenzen (Reformkonzepte, Investitionen und Qualifizierungsmaßnahmen). So bleibt es zunehmend den Einzelinitiativen von Kindergärten und Schulen überlassen, ob sie die gesundheitliche Verwahrlosung der Kinder durch Überfütterung und Bewegungsmangel wahrnehmen, sich zuständig fühlen und ihr pädagogisches Programm entsprechend gestalten. Sie sehen ihre gesundheitsbildnerische Verantwortung darin, die Lebensverhältnisse der Kinder so zu verändern, dass sie wieder "gefühls- und sprachmächtig" werden, so dass sie ihren Körper kennen und akzeptieren lernen, sich gerne bewegen und mit Freude und Genuss essen. Mit der Unterstützung der Eltern dürfen dabei nicht alle Kinder rechnen.
Den Essalltag selbstbestimmt, verantwortungsvoll und genussvoll zu gestalten (= Food Literacy), war und ist heute keine Selbstverständlichkeit. Als Teil der Gesundheit erneuert Food Literacy sich erfolgreich zuallererst durch Selbstorganisation und -beteiligung der Menschen. Um dies erfahren und lernen zu können, sollten Kinder und Jugendliche unter anregenden, sie schützenden Lebensverhältnissen aufwachsen dürfen. Deutschland steht derzeit an dem schmerzlichen Wendepunkt, entsprechende Systeme schaffen zu müssen, die diese Erkenntnis in die Köpfe der Menschen zurückbringen. Da viele Familien damit überfordert sind - wie das Problem von sozialer Ungleichheit für adipöse Kinder zeigt -, richten sich Schlussfolgerungen und Forderungen an die organisierte Bildung in institutioneller Verantwortung.
M. Richter/K. Hurrelmann, Gesundheitliche Ungleichheit - Grundlagen, Probleme und Perspektiven, Wiesbaden 2006, S. 23. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag der Autoren in dieser Ausgabe.
Vgl. M. J. Müller/M. Mast/K. Langnäse, Die "Adipositasepidemie" - Gesundheitsförderung und Prävention sind notwendige Schritte zu ihrer Eingrenzung, in: Ernährungs-Umschau, 48 (2001) 10, S. 398 - 401.
Modifiziert nach T. Faltermaier, Gesundheitspsychologie, Stuttgart 2005.
Vgl. Kiel Obesity Prevention Study (KOPS), 1996 bis 2009; Kinder- und Jugendgesundheitsstudie des RKI (KIGGS) Berlin 2003 bis 2006.
Vgl. M. J. Müller/ M. Mast/K. Langnäse, Werden wir eine Gesellschaft der Dicken?, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, (2001) 28, S. 863 - 867; S. Danielzik, Epidemiologie von Übergewicht und Adipositas bei Kindern in Kiel: Daten der ersten Querschnittuntersuchung der Kieler Adipositas-Präventionsstudie (KOPS), Universität Kiel 2003 (Dissertation).
Vgl. M. J. Müller, Vortrag anlässlich der Tagung "McDonald & Co. - Wer trägt die Verantwortung", Evangelische Akademie Tutzing, Dezember 2003.
Vgl. WHO, Obesity - preventing and managing the global epidemic, Genf 1998.
Vgl. I. Heindl, Gesundheit und soziale Zugehörigkeit - Probleme der Vermittlung in Bildung und Beratung, in: H. Heseker (Hrsg.), Neue Aspekte der Ernährungsbildung, Frankfurt/M. 2005.
E. Feichtinger, Armut und Ernährung im Wohlstand: Topographie eines Problems, in: E. Barlösius u.a. (Hrsg.), Ernährung in der Armut - gesundheitliche, soziale und kulturelle Folgen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1995, S. 295. (Arbeitsgruppe Public Health)
Vgl. P. S. Belton/T. Belton (Eds.), Food, Science and Society - Exploring the gap between expert advice and individual behaviour, Berlin 2003.
R. G. Wilkinson, Unhealthy societies - The afflictions of inequality, London-New York 1996.
Vgl. I. U. Leonhäuser/S. Lehmkühler: Ernährungsprobleme von Privathaushalten mit vermindertem Einkommen (Sozialhilfebezieher) - sozialökonomische und ernährungswissenschaftliche Aspekte, in: Lexikon der Ernährung, Bd. 1, Heidelberg 2001, S. 403 - 407; 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2005.
Vgl. E. Feichtinger (Anm. 9).
Vgl. P.S. Belton/T. Belton (Anm. 10).
Vgl. S. H. Lehmkühler, Die Gießener Ernährungsstudie über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten (GESA) - qualitative Fallstudien, Gießen 2002 (Dissertation).
Vgl. I. Heindl (Anm. 8).
V. Pudel, Medien und Ernährungsverhalten, in: Lexikon der Ernährung, Bd. 2, Heidelberg 2002, S. 375.
Vgl. T. Faltermaier/I. Kühnlein/M. Burda-Viering, Gesundheit im Alltag. Laienkompetenz, Gesundheitshandeln und Gesundheitsförderung, Weinheim 1998.
Vgl. ebd.; T. Faltermaier, Subjektive Konzepte und Theorien von Gesundheit, in: U. Flick, Wann fühlen wir uns gesund? Subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, Weinheim 1999.
Vgl. P. E. Schnabel, Gesundheit fördern und Krankheit prävenieren - Besonderheiten, Leistungen und Potentiale aktueller Konzepte vorbeugenden Versorgungshandelns, Weinheim 2007.
Vgl. I. Heindl (Anm. 8).
Vgl. I. Heindl, Ernährungsbildung - ein europäisches Konzept zur schulischen Gesundheitsförderung, Bad Heilbrunn 2004; dies., Ernährung, Gesundheit und institutionelle Verantwortung - eine Bildungsoffensive, in: Ernährungs-Umschau, 51 (2004) 6, S. 224 - 230; dies. (Anm. 8).
Vgl. G. Danzer/J. Rattner, Der Mensch zwischen Gesundheit und Krankheit, Darmstadt 1999, S. 10.
| Article | Heindl, Ines | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30188/ernaehrung-gesundheit-und-soziale-ungleichheit/ | Viele Familien sind mit den Aufgaben einer Ernährungs- und Gesundheitsbildung überfordert. Um positive Esserlebnisse erfahren und essen lernen zu können, sollten Kinder und Jugendliche unter anregenden, sie schützenden Lebensverhältnissen aufwachsen | [
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Eine Vetternwirtschaft: Die de Maizières arbeiten für die Deutsche Einheit | Deutschland Archiv | bpb.de | Für diesen Filmbeitrag wurden Ausschnitte aus dem Film „Die de Maizières – Eine deutsch-deutsche Familie“ aus dem Jahr 1999, den Zeitzeugen TV produziert hat, zusammengestellt. Dieser Ausschnitt dokumentiert das Engagement der beiden Cousins Lothar und Thomas de Maizière bei der Herstellung der Deutschen Einheit im Jahr 1990.
Den zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit nahm der deutsch-französische Fernsehsender arte zum Anlass, einen Film über die Familie de Maizière bei der Berliner Filmfirma Zeitzeugen TV zu beauftragen. Die Vorfahren der de Maizières hatten einst als in Frankreich verfolgte Hugenotten in Preußen Asyl gefunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Mauerbau 1961 wurden sie in eine West- und Ostfamilie getrennt. Insbesondere die beiden Cousins Lothar und Thomas de Maizière lenkten nach dem Mauerfall nicht unwesentlich die Richtung der „Wende“. Thomas de Maizière arbeitete in dieser Zeit als Pressesprecher der CDU-Fraktion im (West-)Berliner Abgeordnetenhaus. Sein Cousin Lothar wurde im November 1989, noch vor dem Mauerfall zum Vorsitzenden der CDU in der DDR gewählt. Als Lothar de Maizière im April 1990 nach der ersten und letzten freien Volkskammerwahl in der DDR, die am 18. März 1990 stattgefunden hatte, zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, übernahm sein Cousin Thomas dessen politische Beratung. Fortan gestalteten die beiden de Maizières den Vereinigungsprozess aus dem höchsten Amt der DDR heraus wesentlich mit. Die beiden Familienmitglieder berichteten in diesem Film zehn Jahre nach Mauerfall und Friedlicher Revolution erstmals über ihre sprichwörtliche "Vetternwirtschaft“.
Lothar de Maizière trat im Dezember 1990 kurz nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl von seinem Amt als Bundesminister für besondere Aufgaben im Kabinett von Helmut Kohl (CDU) zurück, nachdem in der Öffentlichkeit über seine Zusammenarbeit mit der Stasi debattiert wurde. Auch darüber sprechen Lothar und Thomas de Maizière in dem kurzen Filmbeitrag.
Der Originalfilm „Die de Maizières – Eine deutsch-deutsche Familie“ aus dem Jahr 1999 hat eine Länge von 45 Minuten. Der hier präsentierte Ausschnitt ist gut zehn Minuten lang.
Ein paar Lebensdaten zu Lothar und Thomas de Maizière
Lothar de Maizière wurde am 2. März 1940 im thüringischen Nordhausen geboren und wuchs in der DDR auf. Dort studierte er zunächst Viola an der Ost-Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“. Auf Grund einer Erkrankung, die einer Musikkarriere entgegengestanden hätte, musste er sich umorientieren und studierte Jura im Fernstudium an der Ost-Berliner Humboldt-Universität. Lothar de Maizière wurde schließlich Anwalt: Ab 1987 war er stellvertretender Vorsitzender des Kollegiums der Berliner Rechtsanwälte unter dem Vorsitz von Gregor Gysi. De Maizière hatte zudem eine Rechtsanwaltszulassung zum Militärstrafsenat beim Obersten Gericht der DDR. Er war seit 1956 Mitglied in der DDR-CDU. Von 1986 bis 1990 bekleidete er das Amt des Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Vom 12. April bis 2. Oktober 1990 war er Ministerpräsident der DDR.
Thomas de Maizière kam am 21. Januar 1954 in Bonn zur Welt. Er studierte Jura, trat 1971 in die CDU ein und war 1989 Pressesprecher bei der CDU-Fraktion im (West-)Berliner Abgeordnetenhaus, später wurde er Leiter der Staatskanzlei von Mecklenburg-Vorpommern, Chef der Sächsischen Staatskanzlei, Sächsischer Staatsminister der Finanzen, Sächsischer Staatsminister der Justiz, Sächsischer Staatsminister des Innern, Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes sowie Bundesminister des Innern und Bundesminister der Verteidigung. | Article | Zeitzeugen TV | 2022-02-02T00:00:00 | 2020-09-18T00:00:00 | 2022-02-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/315739/eine-vetternwirtschaft-die-de-maizieres-arbeiten-fuer-die-deutsche-einheit/ | Für diesen Filmbeitrag wurden Ausschnitte aus dem Film „Die de Maizières – Eine deutsch-deutsche Familie“ aus dem Jahr 1999, den Zeitzeugen TV produziert hat, zusammengestellt. Dieser Ausschnitt dokumentiert das Engagement der beiden Cousins Lothar u | [
"de Maizière",
"DDR",
"Bundesrepublik Deutschland",
"DDR",
"Bundesrepublik Deutschland"
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Blauer Reichtum in Gefahr | Meere und Ozeane | bpb.de | Seit dem "Zeitalter der Entdeckungen" im 15. und 16. Jahrhundert haben es mutige Menschen immer wieder gewagt, in die Finsternis der Tiefsee zu steigen, um die Wunder und Schätze einer verborgenen Welt zu erkunden. Als einer der Ersten begann James Cook auf seinen Reisen zwischen 1766 und 1779 in den Pazifik und die Arktis mit einer systematischen Bestandsaufnahme der natürlichen Ressourcen. 1818 holte der britische Forscher Sir John Ross Wurm- und Quallenarten aus 2.000 Metern Wassertiefe herauf. Obwohl damit nachgewiesen war, dass Leben in solchen Tiefen noch vorkommt, postulierte 1843 der britische Naturforscher Edward Forbes aufgrund eigener Untersuchungen, bei denen die Anzahl der Lebewesen mit der Tiefe abgenommen hatte, dass es unterhalb von 550 Metern Tiefe kein Leben mehr gebe. Dies wurde 1850 durch den Norweger Michael Sars widerlegt, der vor den Lofoten in 800 Metern Tiefe eine reiche Unterwasserwelt entdeckte.
Eine Menge neuer Erkenntnisse lieferte einige Jahre darauf die "Challenger"-Expedition von 1872 bis 1876, die erste große Unternehmung zur Erkundung der Tiefsee. Im Auftrag der Royal Society in London und der Britischen Admiralität sollte die Forschungsreise mögliche Hindernisse und Gefahren bei der Verlegung von Seekabeln untersuchen. Dazu wurde ein multidisziplinäres Forscherteam aus Zoologen, Botanikern und Chemikern eingesetzt, die auf mehr als 70.000 zurückgelegten Seemeilen eine große Menge an Daten sammelten. Erstmals in der Geschichte der Ozeanografie wurden dabei Teile des Meeresbodens kartiert, zudem bislang unbekannte unterseeische Gebirge und Lebewesen entdeckt. Wissenschaftliche Neugier erregten unter anderem kartoffelförmige Knollen, die vom Meeresboden gewonnen wurden und erst später – dann unter der Bezeichnung Manganknollen – an Bedeutung gewinnen sollten. Bis heute gilt die "Challenger"-Expedition als größtes naturwissenschaftliches Projekt in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Die bedeutendste deutsche Expedition jener Tage war die "Valdivia"-Expedition von 1898 bis 1899, auf der mehr als 4.000 Arten aus antarktischen Gewässern neu erfasst wurden.
Als das deutsche Forschungsschiff "Meteor" 1920 zu einer Expedition aufbrach, ahnte man noch nicht, welch bahnbrechende Entdeckungen damit verbunden sein würden. Die systematische Untersuchung des Meeresbodens mit Hilfe von Echolotverfahren führte zur Entdeckung des Mittelozeanischen Rückens, eines vulkanisch aktiven Gebirgszuges, der auch Spreizrücken genannt wird, da an seiner Achse stetig neue ozeanische Kruste gebildet wird. Dieses Phänomen, das auf weiteren Forschungsreisen auch im Indischen und Pazifischen Ozean nachgewiesen wurde, stützt die Theorie der Plattentektonik, wonach die Erdoberfläche aus einer Reihe von Platten gebildet wird, die sich in ständiger Bewegung befinden. Werden die Platten gegeneinandergedrückt, kann dies starke Erdbeben verursachen – wie unlängst in Mittelamerika, wo die sogenannte Kokosplatte sich unter die Nordamerikanische Platte schiebt und am 8. September 2017 ein starkes Beben in Mexiko auslöste. Die Theorie der Plattentektonik erklärt, warum die heutigen Kontinente so aussehen, als hätten sie einst wie Teile eines Puzzles zusammengehört. Die Ergebnisse des Deep Sea Drilling Projekts von 1968 bis 1983, das mit dem US-amerikanischen Bohrschiff "Glomar Challenger" im Golf von Mexiko, im Südatlantik, im Pazifischen und im Indischen Ozean, im Mittelmeer und im Roten Meer umgesetzt wurde, bestätigten die Theorie der Kontinentaldrift und die Erneuerung des Meeresbodens an den Mittelozeanischen Rücken.
Ertauchtes Wissen
Die Tiefsee mit ihren Geheimnissen weckte immer auch Sehnsüchte, in die unbekannten Tiefen hinabzutauchen. Erste Versuche unternahmen die US-Amerikaner William Beebe und Otis Barton. Sie stiegen 1930 mit einer von Barton entworfenen Stahlkugel 435 Meter in die Tiefe hinab, wo sie Garnelen und Quallen entdeckten. Bei weiteren Tauchgängen 1934 und 1948 gelang es ihnen, bis in Tiefen von 923 und 1.370 Metern vorzudringen. 1960 stellten der Schweizer Ozeanograf Jacques Piccard und der US-amerikanische Erfinder Don Walsh einen neuen Rekord auf, als sie mit dem Tauchboot "Trieste" 10.911 Meter in den Marianengraben im westlichen Pazifik hinabtauchten und selbst in dieser Tiefe noch Fische und andere Lebewesen beobachteten. Damit waren Piccard und Walsh nahezu bis an den tiefsten Punkt vorgestoßen, der bei 11.034 Metern liegt. Die durchschnittliche Tiefe der Tiefsee beträgt hingegen "nur" rund 3.800 Meter; etwa fünf Prozent sind tiefer als 6.000 Meter.
Bei einer Tauchfahrt mit dem US-amerikanischen Tauchboot "Alvin" östlich der Galapagos-Inseln im Pazifischen Ozean wurden 1977 auf dem Mittelozeanischen Rücken in 2.000 Metern Tiefe Hydrothermalfelder gefunden. Mehr als 400 Grad heißes Wasser, angereichert mit herausgewaschenen Metallen aus dem umgebenden Gestein, schießt hier aus tiefen Spalten in der Erdkruste hervor. Mineralstoffe und Schwefelverbindungen, die den Rauch schwarz färben, haben bis zu 40 Meter hohe Schlote aufgeschichtet. Die Umgebung dieser sogenannten Schwarzen Raucher mutet zunächst lebensfeindlich an. Umso überraschender war die Entdeckung, dass die Hydrothermalfelder eine große Lebensvielfalt beherbergen: Riesenmuscheln, Garnelen, Seespinnen, Quallen und Seeanemonen leben hier in pechschwarzer Nacht und bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Später stellte sich gar heraus, dass diese Tiefseeorganismen sich direkt oder indirekt von den Schwefelbakterien ernähren: Chemo- statt Fotosynthese lautet die Devise.
Seitdem haben 40 Jahre Meeresforschung in unterschiedlichen Disziplinen dazu beigetragen, unser Wissen über die Tiefsee allmählich zu erweitern. Wesentlich daran beteiligt waren internationale Programme, etwa im Rahmen der International Decade of Ocean Exploration von 1971 bis 1980 zur Erforschung der lebenden und nicht lebenden Ressourcen. Eine besondere Rolle spielte dabei die Physikalische Ozeanografie, die in der Ära des Kalten Krieges im Kontext von Fragen zur nationalen Sicherheit stark gefördert wurde. Hintergrund waren die für die U-Boot-Technologie benötigten Tiefseekarten, Echolot- und Sonarverfahren. Die technologischen Entwicklungen kamen auch der wissenschaftlichen Forschung zugute.
Unvergessen sind auch die Fernsehdokumentationen ab Ende der 1960er Jahre über den französischen Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau, der von seinem Schiff "Calypso" aus in die Tiefe hinabtauchte, eine aufregende Unterwasserwelt filmte und diese in unsere Wohnzimmer brachte. Sein Wissen über die Meere veröffentlichte er in zahlreichen Büchern, unter anderem in Bestsellern wie "The Silent World" (1953), "The Living Sea" (1963) oder "The World Ocean" (1985).
Heute liefern modernste Fächerecholot- und Seitensichtsonargeräte in Kombination mit Satellitenmessungen, Bohrungen für geophysikalische Untersuchungen, Strömungsmessgeräten, chemischen Sensoren, Temperatur-, Druck- und Salzgehaltsmessgeräten regelmäßig umfangreiche Informationen über den Meeresboden und die darüberliegende Wassersäule. Verkabelte Messstationen senden ihre Daten in Echtzeit rund um den Globus. Die Entwicklung von robusten Tauchbooten hat zudem die direkte Beobachtung der Lebensvielfalt in der Tiefsee und den Blick auf leuchtende Fische und Quallen, meterlange Röhrenwürmer, tieftauchende Pottwale und Riesenkalmare ermöglicht. Schätze der Tiefsee
Trotz des immensen Erkenntnisgewinns in den vergangenen Jahrzehnten ist die Tiefsee – der weitaus größte Lebensraum der Erde – noch immer vergleichsweise wenig erforscht. Allerdings hat das, was bisher über die mineralischen Ressourcen bekannt ist, die Tiefsee – angesichts steigender Rohstoffpreise, eines schwieriger werdenden Abbaus in schwer zugänglichen Regionen oder politisch instabilen Staaten und ein höherer Wertstoffanteil der Tiefseebodenschätze – verstärkt in den Fokus des internationalen Interesses gerückt. Buchveröffentlichungen und Medienberichte haben Hoffnungen auf den Ressourcenreichtum in der Tiefe geweckt und die Illusion entstehen lassen, entstandene Engpässe auf dem Land damit ausgleichen zu können. Nicht nur spektakuläre Buchtitel wie "Goldrausch in der Tiefsee" oder "Schatzkammer Tiefsee" stellen Vergleiche zur US-amerikanischen Pionierzeit im 19. Jahrhundert her, auch die bekannte amerikanische Tiefseetaucherin Sylvia Earle stellte einmal fest: "So little of the ocean has been seen, it is like the early days of exploring the American West." Jedoch, so der britische Science-Fiction-Schriftsteller Arthur C. Clarke, seien moderne Tiefsee-Goldgräber nicht mit denen des Wilden Westens vergleichbar. Vielmehr handele es sich heute um millionenschwere Unternehmen, die Armeen von Angestellten beschäftigten, um die wirtschaftliche Nutzbarkeit der mineralischen Ressourcen – Manganknollen, Kobaltkrusten, Massivsulfide, Sulfidschlämme und Gashydrate – zu erkunden. Doch was genau sind die begehrten Schätze, die die Tiefsee birgt?
Manganknollen sind kartoffelförmige Mineralienklumpen, die sich aus verschiedenen Metallen – unter anderem Mangan, Eisen, Kobalt und Kupfer – zusammensetzen und unterhalb von 4.000 Metern auf dem Meeresboden verstreut zu finden sind. 1978 initiierte das amerikanisch-kanadisch-japanische Konsortium SEDCO erste Fördertests und zeigte, dass Tiefseebergbau technisch grundsätzlich möglich ist. Innerhalb weniger Tage wurden 800 Manganknollen gefördert – was jedoch zu wenig ist, um wirtschaftlich zu sein. Dazu müssten im gleichen Zeitraum rund 5.000 Knollen gefördert werden.
Bei den Kobaltkrusten handelt es sich um Ablagerungen von Mangan, Eisen, Kobalt, Kupfer, Nickel, Platin und Spurenmetallen auf vulkanischen Substraten, die in 1000 bis 3000 Metern Tiefe an den Flanken submariner Vulkane auftreten und wegen ihres relativ hohen Kobaltgehaltes interessant sind. Allerdings wäre ein Abbau an den schroffen und steilen Vulkanhängen technisch schwieriger als das Einsammeln von Manganknollen am Meeresboden.
Als Massivsulfide und Sulfidschlämme werden erkaltete Schwefelverbindungen bezeichnet, die in 500 bis 4.000 Metern Tiefe in der Umgebung von Schwarzen Rauchern auftreten und wegen ihres hohen Wertstoffgehalts an Kupfer, Gold, Silber und Zink begehrt sind.
Gas- oder Methanhydrate bilden sich unter hohem Druck und bei niedriger Temperatur in 350 bis 5.000 Metern Tiefe und sind in der Öl- und Gasindustrie seit Langem bekannt. Die eisähnliche Substanz, die auch in Permafrostböden vorkommt, bildet Schichten von einigen 100 Metern Mächtigkeit. Es wird angenommen, dass im Meeresboden riesige Mengen Kohlenstoff in Form von Methanhydraten lagern, in der Größenordnung vergleichbar mit den weltweiten Kohlevorräten. Einige Staaten wie Japan, China, Indien, Südkorea und Taiwan unternehmen große Anstrengungen, um die Hydratvorkommen in ihren Hoheitsgebieten zu erkunden.
Auch die lebenden Ressourcen der Tiefsee sind von großem Interesse. Über 90 Prozent der in den Ozeanen entdeckten Biomasse besteht aus Mikroorganismen, Bakterien, Viren, Pilzen und Mikroalgen, deren Erforschung für Anwendungen in der Medizin, Pharmazie, Kosmetik, im Pflanzenschutz und als Nahrungsergänzungsmittel immer gefragter sind. So hat beispielsweise das renommierte US-amerikanische Meeresforschungszentrum Scripps in San Diego ein Patent auf einen Wirkstoff aus Fächerkorallen gegen Hautreizungen angemeldet, den der Kosmetikkonzern Estée Lauder in einer Hautcreme verarbeitet.
Risiken für die Umwelt
Aus den Erfahrungen an Land ist bekannt, dass Bergbau nicht ohne Beeinträchtigung der Umwelt möglich ist. Neben Lärm, Abraum und zerstörter Landschaft treten in der Tiefsee weitere Faktoren hinzu: Als kritisch wird die mögliche Trübung des Seewassers angesehen, die durch den Einsatz von Bergbaumaschinen am Meeresboden entstehen könnte, wenn Bodensedimente aufgewirbelt, zerwühlt und umgelagert werden. Der Teil, der in die Wassersäule gelangt, könnte durch Meeresströmungen im Bodenbereich verdriften. Noch ist unklar, welche Auswirkungen die Trübung des Meerwassers auf Tiefseelebewesen hat – etwa die Einschränkung der Biolumineszenz, also die Fähigkeit von Meerestieren, Licht zu erzeugen, von der angenommen wird, dass sie zur Kommunikation eingesetzt wird. Erste Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Tiefseeorganismen weniger anpassungsfähig sind und daher längere Zeiträume benötigen, um sich von schädlichen Umweltauswirkungen zu erholen. Auch andere Prozesse in der Tiefsee laufen aufgrund kleiner Sedimentationsraten und sehr geringer Strömungsgeschwindigkeiten nur langsam ab, sodass Spuren am Meeresboden viele Jahre erkennbar bleiben. So zeigten Untersuchungen eines simulierten Manganknollenabbaus 1989 vor der peruanischen Küste, dass die am Meeresboden verursachten Spuren auch 2015 noch so deutlich zu erkennen waren, als wären sie gerade erst erzeugt worden. Zwar hatte im Untersuchungsgebiet eine Wiederbesiedelung stattgefunden, aber bestimmte Arten fehlten. Offenbar hatte sich die ursprüngliche Lebensgemeinschaft auch nach 26 Jahren nicht regenerieren können.
In der Umgebung von Schwarzen Rauchern ist eine große Vielfalt von Leben entdeckt worden. Zum Teil handelt es sich um Arten, die nur in bestimmten Meeresgebieten vorkommen. Der Abbau von Kobaltkrusten oder Sulfidschlämmen, der nur mit schwerem Gerät möglich ist, würde diese einzigartige Lebenswelt langfristig schädigen. Umweltschützer befürchten, dass unter Umständen einzelne Arten verschwinden könnten, bevor sie überhaupt kennengelernt werden. Zwar gibt es derzeit noch keine ausgereifte Technologie, um Kobaltkrusten von den Seebergen zu brechen, aber Japan, China und Russland haben bereits 2013 Anträge an die Internationale Meeresbodenbehörde ISA gestellt, um diese zu erkunden.
Auch der mögliche Abbau von Gashydraten ist mit erheblichen Risiken für die Umwelt verbunden. Zunächst müsste gewährleistet sein, dass die Förderung bei konstanten Druck- und Temperaturverhältnissen erfolgt, um zu verhindern, dass die Gashydrate aufbrechen und Methangas – ein 15- bis 30-fach klimawirksameres Gas als Kohlendioxid – in die Atmosphäre entweicht. Eine plötzliche Methangasfreisetzung könnte zudem zur Destabilisierung von Kontinentalhängen führen und die Gefahr von Erdrutschen und Tsunamis erhöhen. Internationales Seerecht
1945 erklärte der US-Präsident Harry Truman, dass die USA alle natürlichen Ressourcen ihres Kontinentalschelfs beanspruchen. Damit machte er die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam, dass auf dem Meeresboden mehr als nur Fisch zu holen ist. Rasch folgten zahlreiche weitere Küstenstaaten und formulierten eigene Gebiets- und Nutzungsansprüche – mit jeweils unterschiedlichen Auffassungen davon, wie groß das eigene Anspruchsgebiet sei. So beanspruchten 1973 schließlich über 60 Staaten eine Zone von jeweils zwölf Seemeilen um die eigene Küste, 15 Staaten eine Zone zwischen vier und zehn Seemeilen, und einige wenige Staaten wie Island erhoben gar Anspruch auf eine 200-Seemeilen-Zone.
Die Übersichtlichkeit des zuvor mehrere Jahrhunderte gültigen Prinzips des freien Meeres (mare liberum) war damit endgültig dahin. 1609 hatte der niederländische Gelehrte Hugo Grotius (1583–1645) die freie Nutzung der Meere durch alle Länder vorgeschlagen. Dieses Prinzip wurde nur durch die Einführung der Drei-Meilen-Zone eingeschränkt, die auf den niederländischen Rechtsgelehrten Cornelis van Bynkershoek (1673–1743) zurückging. Demnach sollte eine Nation Hoheitsrechte über den Teil des Küstenmeeres beanspruchen können, den sie mit der Reichweite von Kanonenkugeln – damals etwa drei Seemeilen – verteidigen konnte. Obwohl nirgendwo schriftlich festgelegt, wurde diese Regelung lange Zeit als Gewohnheitsrecht anerkannt.
Als unzulänglich erwies sie sich spätestens, als in den 1950er Jahren einige Fischgründe erschöpft waren und einzelne, vom Fischfang stark abhängige Staaten ihre Hoheitsrechte auf größere Seegebiete ausdehnten. Dies löste eine Reihe von Konflikten aus, zum Beispiel die sogenannten Kabeljaukriege zwischen Großbritannien und Island, die erst in den 1970er Jahren befriedet werden konnten. Aber auch die fortschreitende Technologisierung, die Konkurrenz um marine Ressourcen und Räume, Umweltaspekte sowie Spannungen zwischen den beiden Supermächten zur Zeit des Kalten Krieges führten zu zahlreichen seerechtlichen Auseinandersetzungen.
Im Rahmen der Vereinten Nationen wurde bereits ab 1945 eine verbindliche internationale Regelung gesucht. 1958 und 1960 fanden die ersten beiden Seerechtskonferenzen in Genf statt, die allerdings nicht den gewünschten Erfolg brachten. Auf der UN-Generalversammlung am 1. November 1967 erregte vor allem die Rede des maltesischen Botschafters Arvid Pardo Aufsehen: Er vertrat die Meinung, die Ressourcen des Meeres müssten zum "gemeinsamen Erbe der Menschheit" erklärt werden und nur für friedliche Zwecke genutzt werden dürfen. Ferner sollte ein Teil des Gewinns aus der Nutzung der Tiefseeressourcen in einen Fonds eingezahlt werden, um arme Länder oder solche ohne Zugang zum Meer an den Schätzen der Tiefsee zu beteiligen. Es folgten mehr als ein Jahrzehnt dauernde Verhandlungen, bis 1982 das Internationale Seerechtsübereinkommen (SRÜ) verabschiedet wurde. Dem SRÜ, das 1994 in Kraft trat, sind über 160 Staaten und die Europäische Union beigetreten – nicht jedoch die USA, nachdem US-Präsident Ronald Reagan 1983 erklärt hatte, dass einzelne Regelungen zum Tiefseebergbau gegen die Interessen der Industriestaaten verstießen.
Das SRÜ regelt nahezu alle Bereiche des Seevölkerrechts, unter anderem die Abgrenzung der verschiedenen Meereszonen in Küstenmeer (bis zu zwölf Seemeilen), Anschlusszone (bis zu 24 Seemeilen), Ausschließliche Wirtschaftszone (bis zu 200 Seemeilen), Festlandsockel und Hohe See. Ferner regelt es die Nutzung dieser Gebiete durch Schifffahrt, Fischerei, Wissenschaft, Seekabelverlegung, den Schutz der Meeresumwelt und den Tiefseebergbau. Allerdings weist das Abkommen auch eine Reihe von Schwächen auf, da es Regelungen nur für die mineralischen Ressourcen des Meeresbodens und darunterliegender Schichten festlegt, entgegengesetzt zu Pardos Forderung, lebende und nicht lebende Ressourcen einzubeziehen. Ferner fehlen Angaben zu einer militärischen Nutzung der Hohen See, und auch in Bezug auf Maßnahmen zum Meeresschutz, etwa der Einrichtung von Meeresschutzgebieten, weist das SRÜ Defizite auf. Lizenzierung
Trotz aller Kritik am Seerechtsübereinkommen ist es derzeit die einzige internationale Vereinbarung, die die Nutzung mineralischer Ressourcen außerhalb der staatlichen Hoheitsgebiete und Ausschließlichen Wirtschaftszonen regelt. Mit seinem Inkrafttreten wurde die internationale Meeresbodenbehörde ISA mit Sitz in Kingston auf Jamaika eingerichtet. Aufgabe der Behörde ist es, die Bodenschätze zu verwalten, den Tiefseebergbau zu regulieren und den Schutz der Umwelt für das gemeinsame Erbe der Menschheit zu gewährleisten.
Obwohl die ISA keine Gerichtsbarkeit über die Erkundung des kommerziellen Potenzials biologischer Ressourcen (Bioprospektion) oder die Entdeckung von biologischen Ressourcen hat – diese Begriffe tauchen im SRÜ gar nicht auf –, verfügt sie über das alleinige Recht, Schürflizenzen in internationalen Gewässern zu vergeben. So kann ein Staat oder eine Firma ein 150.000 Quadratkilometer großes Gebiet am Meeresboden auswählen und unter Vorlage eines Arbeitsplans das Erkundungsrecht für 15 Jahre bei der ISA beantragen. Anträge können abgelehnt werden, wenn schwere Schäden für die Umwelt befürchtet werden oder Zonen für andere Nutzungen vergeben sind. Mit der Vergabe der Lizenzen ist die Regelung verbunden, dass die Lizenznehmer die Hälfte des gesamten Gebietes, das sie auf eigene Kosten erkunden, spätestens nach acht Jahren wieder an die ISA zurückgeben müssen – als Ausgleichsleistung für benachteiligte Staaten im Sinne des gemeinsamen Erbes der Menschheit. Seit 2006 ist auch Deutschland Besitzer eines sogenannten Claims, der etwa zweimal so groß wie Bayern ist. Es geht um die Exploration polymetallischer Knollen in der Clarion-Clipperton-Zone, einem Gebiet im Zentralpazifik zwischen Hawaii und Mexiko, wo mehrere Staaten – vorwiegend große Industrieländer – Erkundungslizenzen erworben haben.
Um die Wirtschaftlichkeit einer zukünftigen Ernte der Manganknollen zu prüfen, werden verschiedene Explorationsmethoden eingesetzt, unter anderem Fächerecholotverfahren vom Schiff, tiefgeschleppte Systeme mit Side-Scan-Sonarverfahren, Videoschlitten und Kastengreifer zur Probenentnahme. Wegen der Größe des Claims können nur Teilgebiete exploriert werden, der Rest muss mit Hilfe statistischer Verfahren ermittelt werden, beispielsweise um die Knollendichte am Meeresboden zu bestimmen. Im Fokus der deutschen Untersuchungen steht auch eine Bestandsaufnahme der Bodenlebewesen. Die Entnahme von Tieren sowie Genanalysen und Beobachtungen sollen klären helfen, wie viele Arten vorkommen und wie groß ihr Verbreitungsgebiet ist.
Während die ISA derzeit eine unkontrollierte Ausbeutung des Meeresbodens auf der Hohen See verhindert, befindet sich der kommerzielle Bergbau in den Ausschließlichen Wirtschaftszonen von Staaten wie Namibia, Neuseeland und Mexiko bereits in den Startlöchern. Am weitesten fortgeschritten sind die Vorbereitungen des kanadischen Unternehmens Nautilus Minerals. Für ein in der Bismarcksee gelegenes Gebiet innerhalb der Hoheitsgewässer von Papua-Neuguinea – als Solwara 1 bezeichnet – besitzt das Unternehmen seit 2009 eine Umweltgenehmigung und seit 2011 eine Bergbaulizenz. Solwara 1 ist reich an Schwarzen Rauchern mit Metallsulfidvorkommen. Hier sollen riesige Fräsen bereits erloschene Schlote abbauen. Anschließend soll das zerkleinerte Material zu einem Spezialschiff an die Meeresoberfläche gepumpt werden. Mit dem Beginn der kommerziellen Produktion wird ab 2019 gerechnet. Doch dies ist nicht das einzige Vorhaben von Nautilus. So plant das Unternehmen nach eigenen Angaben den Erwerb weiterer Lizenzverträge, unter anderem in den Hoheitsgewässern von Fidschi, Tonga, den Solomon-Inseln, Vanuatu und Neuseeland. Schutzmaßnahmen
Bis Anfang der 1970er Jahre galt die weit verbreitete Annahme, der Ozean sei aufgrund seiner Größe und seines Ressourcenreichtums weder durch Übernutzung noch durch Meeresverschmutzung gefährdet. Heute wird jedoch geschätzt, dass bereits 60 Prozent der Weltmeere genau dadurch geschädigt sind. Es bedarf also dringend eines besseren Schutzes. Das internationale Seerecht regelt zwar die Bewirtschaftung des Meeresbodens und seines Untergrundes jenseits der Hoheitsgewässer, nicht aber die Nutzung der lebenden Ressourcen. Um diese Regelungslücke zu schließen, wird an einem Durchführungsübereinkommen zum SRÜ gearbeitet, das Fragen zur nachhaltigen Nutzung, zu Zugang und Vorteilsausgleich mariner genetischer Ressourcen, des Naturschutzes, Umweltverträglichkeitsprüfungen und vor allem die Einrichtung von Schutzgebieten auf der Hohen See regeln soll.
Grundlage dafür ist die Konvention zur Biologischen Vielfalt von 1992, deren Zweck die Erhaltung der Vielfalt der Ökosysteme, ihrer Arten und der genetischen Diversität innerhalb einzelner Arten ist und die eine gerechte Aufteilung der Vorteile gewährleisten soll, die sich aus der Nutzung genetischer Ressourcen ergeben. Es mag dadurch der Eindruck entstehen, die Biodiversitätskonvention sei das geeignete Instrument, marine Schutzgebiete auszuweisen. Dies trifft auch für die Bereiche nationaler Gerichtsbarkeit zu, nicht aber für die Hohe See und den Meeresboden jenseits des Festlandsockels. Die geltenden Freiheiten der Hohen See wie das Flaggenstaatsprinzip, demzufolge Schiffe ausschließlich der Hoheitsgewalt der Staaten unterliegen, unter deren Flagge sie fahren, und die Regelungskompetenz der Meeresbodenbehörde werden durch die Konvention nicht außer Kraft gesetzt.
Bisher ist es nur im Rahmen des Übereinkommens zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks von 1992 (OSPAR) gelungen, 2010 sechs Schutzgebiete im Nordostatlantik außerhalb der nationalen Hoheitsgebiete der Vertragsstaaten auszuweisen. Dadurch wird ein Gebiet, das flächenmäßig größer als Deutschland ist und sich durch eine große Vielfalt an Wildtieren, Kaltwasserkorallen, Seebergen und hydrothermalen Quellen auszeichnet, unter Schutz gestellt. Trotz dieses Erfolgs bleibt es jedoch ungewiss, ob und wann ein neues Durchführungsübereinkommen zum SRÜ zustande kommt. Dazu müsste es gelingen, eine Einigung unter allen bedeutenden Akteuren, die auf der Hohen See tätig sind, zu erzielen.
Das ist schwierig, aber nicht unmöglich, wie aktuelle Verhandlungen bei den Vereinten Nationen zeigen, die das Ziel haben, Schutzgebiete auch auf der Hohen See einzurichten.
Vgl. United Nations Environment Programme, Ecosystems and Biodiversity in Deep Waters and High Seas, UNEP Regional Seas Reports and Studies 178/2006, S. 10, Externer Link: https://wedocs.unep.org/bitstream/handle/20.500.11822/11811/rsrs178.pdf.
Zit. nach Gary Kroll, America’s Ocean Wilderness: A Cultural History of Twentieth-Century Exploration, Lawrence 2008, S. 1.
Vgl. Arthur C. Clarke, The Challenge of the Sea, New York 1960, S. 121.
Vgl. Gerd Schriever, Tiefseebergbau: Risiken und Gefahren für die Umwelt?, 17.2.2017, Externer Link: http://www.wissenschaftsjahr.de/2016-17/aktuelles/das-sagen-die-experten/tiefseebergbau-risiken-und-gefahren-fuer-die-umwelt.html.
Vgl. John Hannigan, The Geopolitics of Deep Oceans, Cambridge 2016, S. 51.
Vgl. ebd., S. 55.
Vgl. Nautilus Minerals Inc., Pressemitteilung, 12.10.2017, Externer Link: http://www.nautilusminerals.com/irm/PDF/1930_0/Nautilusprovidesprojectupdate.
Vgl. Intergovernmental Oceanographic Commission of UNESCO et al., A Blueprint for Ocean and Coastal Sustainability, Paris 2011, S. 8, Externer Link: http://www.unesco.org/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/SC/pdf/interagency_blue_paper_ocean_rioPlus20.pdf.
| Article | , Ulrike Kronfeld-Goharani | 2022-02-15T00:00:00 | 2017-12-11T00:00:00 | 2022-02-15T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/261376/blauer-reichtum-in-gefahr/ | Schwarze Raucher, Manganknollen, Kobaltkrusten: Die Tiefsee lockt mit Rohstoffen, die immer stärker nachgefragt werden. Noch ist wirtschaftlich lohnender Abbau Zukunftsmusik – aber der Wettlauf um die Erkundung hat bereits begonnen. | [
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Globale Gerechtigkeit - Ein Gericht für die Welt? | Menschenrechte | bpb.de | Herr Schomburg, am 17. November 2008 war Ihr letzter Arbeitstag im Amt als Richter am ICTY. Mit welchem Gefühl blicken Sie auf diese Zeit zurück – Resignation oder Hoffnung?
Wolfgang Schomburg: Auf jeden Fall Hoffnung. Aber kritische Hoffnung, weil nicht all das in Erfüllung gegangen ist, was ich mir am Anfang erwartet hatte. Lange vor der Einsetzung des Jugoslawien-Tribunals hatte ich zusammen mit einem Kollegen an einem Entwurf für einen internationalen permanenten Strafgerichtshof mitgearbeitet. Da ist natürlich eine gewisse Euphorie und Enthusiasmus vorhanden und nicht alles hat sich so erfüllt, wie ich es mir vorgestellt habe. Es gab viele Widerstände, mit denen ich so nicht gerechnet habe, aber insgesamt kann ich sagen, dass die Bilanz für mich außerordentlich positiv ist. Ich möchte nicht einen einzigen Tag missen und ich bedauere sehr, dass ich jetzt aufhören muss.
Sie waren sieben Jahre am ICTY tätig. Haben Sie die Schicksale von Opfern auch persönlich berührt?
Ja, und dass mich die Schicksale der Opfer berührt haben, hat mich selbst erstaunt. Ich hatte eigentlich gemeint, nach meiner Zeit am Bundesgerichtshof, wo ich mit den schwersten Kriminalfällen der Bundesrepublik Deutschland konfrontiert wurde, hatte ich zumindest all das, wozu ein Mensch fähig ist, zumindest schon mal in den Akten gelesen. Kriegsverbrechen sind aber eine ganz andere Dimension. Vor allem die individuellen Darstellungen über das Leid der Personen sind außergewöhnlich. So außergewöhnlich, dass man sich fragt, wie ein Mensch zu derartigen Taten überhaupt fähig ist. Vor allem, weil man es stets mit hochintellektuellen Angeklagten zu tun hat, die früher als Ärzte, Priester oder in der Politik gearbeitet haben. Das ist schon eine ziemlich harte Sache. Was in Jugoslawien passiert ist und wie dort mit Menschen umgegangen wurde, das kommt jetzt sogar Jahre später in meinen Träumen wieder hoch. Und das ist schon sehr schwer.
Im Kongo herrscht Bürgerkrieg. Der Konflikt zwischen Hutus und Tutsis scheint nach dem Morden in Ruanda vor 14 Jahren im Osten des Kongo wieder aufzubrechen. Welche Möglichen hat der Internationale Strafgerichtshof einzugreifen?
Ich sehe das mit einer gewissen Traurigkeit. Denn was wir gerade in Ruanda aufarbeiten möchten, droht sich im Osten Kongos beim Konflikt Hutu gegen Tutsi zu wiederholen. Aber viel gravierender ist für mich, dass es bis zum heutigen Tag nicht gelungen ist, in Darfur einzugreifen, wo es eigentlich unstrittig ist, dass mehr als eine Viertelmillion Menschen bereits ums Leben gekommen sind und dort ein Völkermord stattfindet.
Wie kann die internationale Gemeinschaft angemessen reagieren?
Auf der einen Seite brauchen wir eine permanente militärische UN-Eingreiftruppe. Andererseits ist es erforderlich, dass auf UN-Seite ein Pool von Richtern bereitsteht, um juristisch einzugreifen und die Verantwortlichen zu verhaften. Ich bin der festen Überzeugung, hätte man die Mitglieder der damaligen ruandischen Regierung, die übrigens jetzt schon fast alle rechtskräftig abgeurteilt sind, bereits am 9. April 1994, als sie öffentlich zum Völkermord aufriefen, mit einer Eingreiftruppe aus dem Verkehr gezogen und sofort abgeurteilt, dann wäre es nicht zu dem Tod von fast einer Million Menschen gekommen.
Plädieren Sie für eine internationale Polizei, die Haftbefehle ausführen und Verbrecher an die Gerichte überstellen kann?
Ja, aber da möchte ich, Montesquieu im Hinterkopf, deutlich trennen. Einerseits die juristische Aufgabe, festzustellen, ob zum Beispiel genügend Beweise vorliegen und die Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, um dann einen Haftbefehl zu erlassen. Dieser muss dann andererseits vollstreckt werden. Ob das nun die Polizei macht oder das Militär, ist zweitrangig. In einem derartigen Fall wie im Darfur wäre eine militärische Eingreiftruppe das einzig Hilfreiche.
Nicht nur im Sudan werden derzeit Menschenrechte systematisch verletzt. In Simbabwe ist einer der größten Menschenrechtsverbrecher an der Macht. Viele fordern, dass Robert Mugabe vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt wird. Simbabwe hat das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aber nicht unterschrieben. Kann man ihn trotzdem zur Verantwortung ziehen?
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Es ist natürlich ein großes Problem, dass in derartigen Situationen bei der jetzigen Struktur der Vereinten Nationen immer wieder die eine oder andere Nation aus völlig unterschiedlichen Gründen ein Veto einlegen kann und die Verbrecher nicht weiter verfolgt werden. Aber deshalb sehe ich ja so besonders auf Darfur. Hier hatten wir nun einmal die einzigartige Situation, dass die USA sich beim Sicherheitsratsbeschluss enthalten haben und es dadurch zum ersten Mal möglich war, die Verantwortlichkeit für die Verbrechen im Sudan auf den Internationalen Strafgerichtshof zu übertragen. Deshalb bedauere ich sehr, dass der jetzige Ankläger nicht rechtzeitiger gehandelt und intensiver eingegriffen hat.
Viele fordern, das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu erweitern. Zum Beispiel um den Tatbestand der Behinderung humanitärer Hilfe bei Katastrophen, wie das in Birma der Fall war. Wo sehen Sie in Zukunft die internationale Strafgerichtsbarkeit?
Vor 20 Jahren wurden wir mit dem Vorschlag eines Internationalen Strafgerichtshofs als Träumer belächelt. Im Alternativentwurf waren damals nicht nur Kriegsverbrechen Gegenstand der Arbeit eines derartigen Gerichtes, sondern auch sonstige Delikte gegen globale Interessen. Wir müssen uns bewusst sein, dass auch andere Delikte nicht auf nationaler oder auf regionaler Ebene bekämpft werden können. Zum Beispiel beim Schutz der globalen Umwelt oder bei der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Bei all diesen global gewichteten Straftaten sollten wir auch daran denken, dass es nicht nur Menschenrechte sind, sondern auch Menschenpflichten, die Menschenrechte wahrzunehmen und zu schützen. Wenn man Regeln einführt, dann müssen diese zur Not durchgesetzt werden. Im Zeitalter der Globalisierung brauchen wir weit über die Aufgaben des Internationalen Strafgerichtshofs hinaus eine unabhängige Justiz auf globaler Ebene.
Das Interview führte Agnes Ciuperca. Aus: Externer Link: fluter.de | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-06T00:00:00 | 2011-11-03T00:00:00 | 2021-12-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/dossier-menschenrechte/38630/globale-gerechtigkeit-ein-gericht-fuer-die-welt/ | Wolfgang Schomburg war Richter am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda und am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. An beiden Gerichten hat er als einziger Deutscher an der Verurteilung von Kriegsverbrechern mitgewirk | [
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Analyse: Die Organisation der Volkzählung 2010 | Russland-Analysen | bpb.de | Der politische Entschluss
Volkszählungen als Großereignis der Statistik sind eine wichtige politische Angelegenheit für jeden Staat. Sie sind in ihrer gesamten Anlage und Durchführung ambivalent: einerseits Ausdruck staatlicher Fürsorge und Effizienz, andererseits Manifestationen von Macht und Kontrolle des Behördenapparats. Seit 2007 geplant und für 2010 vorgesehen, sollte der Zensus wegen Budgetkürzungen infolge der Finanzkrise auf 2013 verschoben werden. Ende 2009 entschied Präsident Putin jedoch, ihn wie ursprünglich geplant 2010 durchzuführen, und zwar mit dem Argument, aktuelle Informationen über die Bevölkerung seien für die Regierung unverzichtbar, um Entscheidungen treffen zu können, die für die sozialökonomische Entwicklung relevant seien. Im September 2009 hatte der stellvertretende Minister für wirtschaftliche Entwicklung Andrej Klepatsch erklärt, dass der Zensus wegen Budgetbeschränkungen auf 2013 verschoben wird, woraufhin der Leiter von Rosstat Wladimir Sokolin die Entscheidung zum Aufschub als Fehler bezeichnete und seinen Rücktritt erklärte. Die Entscheidung wurde auch von vielen Experten kritisiert. Angesichts der sehr dynamischen strukturellen Veränderungen in den ersten Jahren der Gesellschaftstransformation und der großen Abweichungen zwischen fortgeschriebenen Datenbeständen und den Ergebnissen der Perepis von 2002 ist das Verlangen der staatlichen Administration nach regelmäßiger Aktualisierung der Datenbasis nachvollziehbar.
Die Durchführung
Die erste Volkszählung in der Russländischen Föderation wurde im Oktober 2002 durchgeführt, d. h. rund 12 Jahre nach Entstehung des selbständigen Staates. Die zweite Volkszählung folgte im Oktober 2010 (14.–25.10.2010); in schwer zugänglichen Gebieten zwischen dem 1. April und dem 20. Dezember 2010. Stichtag war der 14. Oktober. Berücksichtigt wurden neben den 54,6 Mio. Haushalten auch 90.000 Staatsbedienstete und die entsprechenden Haushaltsmitglieder, die zum Zeitpunkt der Zählung außerhalb Russlands lebten (2002: 107.000). Des Weiteren wurden 489.000 Personen erfasst, die ihren ständigen Wohnsitz im Ausland haben und die sich im Erfassungszeitraum zeitweilig (weniger als ein Jahr) in Russland aufhielten (2002: 239.000). Grundlage der Datenerhebung waren persönliche Befragungen mittels Fragebogen (im Ausnahmefall per Telefon). Dazu wurden neben Instruktoren und “Bezirksverantwortlichen“ ebenfalls vertraglich angeheuerte und geschulte Befrager (in der Regel Studenten) eingesetzt, die nicht nur alle Wohnunterkünfte ihres Befragungsbezirks aufsuchten, sondern auch Räumlichkeiten von Behörden, Unternehmen und anderen Organisationen. Zusätzlich gab es in jedem Befragungsbezirk auch eine Station zur Datenaufnahme. Wie bereits 2002 wurde 2010 die ständige (mit Hauptwohnsitz registrierte) Bevölkerung gezählt und befragt, deren Zahl wenige Tage später mittels Kontrollbegehungen in jedem Befragungskreis (betraf 10 % der Haushalte) korrigiert wurde, um Doppeleintragungen zu vermeiden (102.000 Eintragungen wurden berichtigt) oder um während des eigentlichen Befragungszeitraumes Abwesende nachzutragen. Im Vergleich zur sowjetischen Zeit war im Zensus 2002 die Frist für den Status “zeitweilig abwesend“ von 6 Monaten auf 1 Jahr erhöht worden, und zwar mit der Begründung einer allgemein höheren Mobilität der Bevölkerung, insbesondere der inneren und äußeren Arbeitsmigration. Kritik an der Durchführung und an der Validität der Ergebnisse allgemein oder von Einzelergebnissen bezog sich auf verschiedene Ebenen und Elemente des Zensus. Sie kann unterschieden werden nach Kriterien, die für die meisten Großzählungen gelten, und solche, die russische Spezifika adressieren:
Allgemeine Kritik an der Durchführung der Volkszählung
Die Kosten, die sich von ursprünglich rund 10 auf 18 Mrd. Rubel erhöhten, riefen öffentliche Kritik hervor. Selbst manche Demographen meinten, dass man sich diese Kosten sparen und ausreichende Daten aus laufenden Statistiken erhalten könne. Wie auch in westlichen Ländern formierte sich in Russland im Vorfeld des Zensus 2010 politischer Widerstand, der die Notwendigkeit und Legitimität von Volkszählungen überhaupt bestreitet (Stichwort: “Totalüberwachung und Manipulation”). Eine explizite Kampagne gegen den Zensus wurde von der Partei “Anderes Russland” mit ihrem Co-Vorsitzenden, dem enfant terrible Eduard Limonow, organisiert. “Anderes Russland” knüpfte ihre Akzeptanz des Zensus an die Beendigung der Ära Putin und schloss damit auch an die laufende und parteiunabhängige Kampagne “Putin muss gehen” an. Allerdings ist “Anderes Russland” die offizielle Zulassung als eingetragene Partei 2011 verweigert worden und scheint, wie jede ernsthafte Opposition in Russland derzeit überhaupt, auf eine politische Neben- oder Statistenrolle beschränkt. Immerhin hat die Kampagne ihre Wirkung nicht gänzlich verfehlt; als Reaktion drohte die Regierung die Einführung von Strafen bei Verweigerung der Zensus-Teilnahme an, was dennoch nicht zur “totalen” Beteiligung führte. In der russischen Presse wurde eine bisweilen unprofessionelle Vorbereitung und Durchführung moniert. So wurden längst nicht alle Personen/Haushalte aufgesucht. Die Befrager füllten die Formulare oft – sprachlich wie inhaltlich – fehlerhaft aus, was bis heute die Auswertung erschwert und verzögert. Zudem blieben große Teile der Bevölkerung trotz Mobilisierung durch Regierung und Massenmedien im Unklaren, worin der eigentliche Zweck des Zensus bzw. der Befragung besteht.
Spezifische Schwierigkeiten, die die Qualität der Datenerhebung beeinflusst haben
Etwa eine Million Bürger verweigerten den Befragern jegliche Auskünfte. Die Daten der Verweigerer wurden mit Angaben aus administrativen Quellen ersetzt (beschränkt auf Geschlecht und Geburtsdatum). 2,6 Mio. Bürger wurden von den Befragern im Erhebungszeitraum nicht angetroffen (Namen und Geburtsdaten aus administrativen Quellen ersetzt). Von 5,6 Mio. Menschen fehlten bei Beendigung der Befragung die Angaben zur nationalen Zugehörigkeit. Diese Zahl setzt sich zusammen aus der erwähnten eine Million Verweigerern und den 2,6 Mio. Abwesenden sowie aus rund zwei Millionen Personen, die von ihrem Recht Gebrauch machten, keine Angaben zu dieser Frage zu machen. Bei 4,1 Mio. Menschen fehlten die Angaben zu ihrer Staatsangehörigkeit (2002: 1,3 Mio). Neben den großen Volkszählungen gibt es die fortgeführten Statistiken zu Bevölkerungsdaten. Sowohl 2002 als auch 2010 traten teilweise erhebliche Abweichungen zwischen beiden Erhebungsmethoden auf. So wurde z. B. die Gesamtbevölkerungszahl 2002 um fast zwei Millionen, 2010 um etwa eine Million Einwohner nach oben korrigiert. Als Ursache wird vor allem auf die nicht registrierte Zuwanderung verwiesen. In Russland halten sich ständig 3 bis 5 Millionen Arbeitsmigranten auf, die aber von der jährlichen Hochrechnung nicht, und auch bei der Volkszählung nicht vollständig, erfasst werden.
Spezifische Schwierigkeiten, die in ihrer Auswirkung auf die Datenqualität unklar oder vernachlässigbar sind
In den russischen Massenmedien wurde gelegentlich von Rechtsverletzungen während der Volkszählung berichtet (Gewalt gegen Zensus-Mitarbeiter, Diebstähle seitens der Zensus-Mitarbeiter etc.), die allerdings nicht in einer Häufigkeit auftraten, dass sie als Diskreditierung der Volkszählung insgesamt zu werten wären. Bereits bei der Volkszählung von 2002 hatte die Frage der nationalen Zugehörigkeit für Debatten und Wirbel gesorgt, insbesondere die Erstellung der Nationalitätenliste. Die eindeutige Unterscheidung von Nationalität und Staatsbürgerschaft spielte in sowjetischer Zeit keine Rolle, erst das Ende der UdSSR machte Nationalität zu einer essentiellen Kategorie für die Einwohner Russlands. Zwar ist der Nationalitätenvermerk aus den Pässen verschwunden, doch entschied sich die russische Statistik schon aus Kontinuitätsgründen dafür, die nationale Zugehörigkeit weiter zu registrieren. Hierbei sind im Vorfeld eine Reihe von Fragen zu klären: Wie und wodurch bestimmt sich nationale Zugehörigkeit – durch Sprache, Abkunft/Stammbaum, Selbstzuschreibung oder (bürokratische) Fremdzuschreibung? Ausdruck dieses Problems war im Vorfeld des Zensus 2002 die mehrmalige Umformulierung der Frage der nationalen Zugehörigkeit von einer objektiven/objektivistischen Fassung (“Welche ist ihre Nationalität?”) zu einer deutlich subjektiveren (“Welcher Nationalität ordnen sie sich zu?”), die schließlich in eine Kompromissformulierung mündete (“Welche ist ihre nationale Zugehörigkeit?”). Prinzipiell stehen hier die “Zensus-Designer” Russlands vor dem Dilemma, mit der Fortführung der Frage nach der nationalen Zugehörigkeit einerseits den politischen Blick auf die Bevölkerung und in der Bevölkerung zusätzlich zu “ethnisieren”. Andererseits hätte die staatliche Statistik und dementsprechend die russische Regierung bei konsequenter Streichung des Nationalitätenrasters mit dem Vorwurf zu rechnen, sie brächte damit kleine bzw. indigene Völker (noch schneller) zum Verschwinden, oder unterminiere die Machtbasis nicht-russischer Titularvölker in verschiedenen föderalen Subjekten. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass sich die staatliche Statistik Russlands in der Darstellung der Zensusergebnisse zum ersten Mal in ihrer Geschichte dazu entschlossen hat, in einer gesonderten Rubrik sozialökonomische Daten mit nationaler Zugehörigkeit zu verknüpfen.
Bis dato sind 2 von 11 Bänden zu den Zensusergebnissen von 2010 erschienen. Es gibt jedoch einen zusammenfassenden Ergebnisbericht von Rosstat und Überblickstabellen zu allen Themen aus allen Zensusrubriken mit Differenzierung nach föderalen Subjekten. Daten liegen vor zu demographischen Merkmalen und ihrer räumlichen Verteilung. Darauf konzentriert sich die folgende Auswertung. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-07-06T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-241/140099/analyse-die-organisation-der-volkzaehlung-2010/ | Die Organisation der russischen Volkszählung 2010 war von diversen Schwierigkeiten begleitet, die zwischenzeitlich sogar eine Verschiebung nahe legten. Insgesamt ist die Zählung regulär verlaufen. Die Grunddaten lassen sich als verlässliche Datenquel | [
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4. Fantasiereise: Wovor ich geschützt sein möchte … | VorBild – Politische Bildung für Förderschulen und inklusive Schulen | bpb.de | 1. Schritt
Alle Schüler/-innen schließen die Augen. Sie wählen in dieser Zeit ein Pärchen aus und geben ihm eine Situationskarte. Das Pärchen verlässt daraufhin den Klassenraum. Sie fahren mit der Geschichtserzählung fort, bis das Pärchen, das sich draußen befindet, an die Tür klopft:
Ihr seid nun mit allen anderen Reisenden auf der unbekannten Insel und beginnt, euch umzusehen und die Insel zu erkunden. Ihr seht schöne Palmen um euch herum. Einige von euch springen ins Wasser, um zu schwimmen … Wenn die Schüler/innen klopfen, um hereinzukommen, sagen Sie, dass alle anderen Schüler/-innen die Augen öffnen können. Die Schüler/-innen beobachten, was das hereingetretene Pärchen macht und versuchen zu erraten, welche Situation es pantomimisch darstellt. Lassen Sie die Schüler/-innen im Plenum überlegen,
was passiert ist, wovor sie auf dieser Insel geschützt sein wollen und was mit niemandem geschehen darf.
Reflexion
Was habt ihr bei den Situationen, die gerade dargestellt worden sind, empfunden? Habt ihr etwas als ungerecht empfunden. Wenn ja, wieso? Was war daran ungerecht? Warum möchtet ihr nicht, dass jemand so etwas mit euch macht? Sollte man so etwas mit jemand anderem machen? Warum nicht? Was muss man machen, damit niemand solche Dinge mit anderen Menschen macht?
2. Schritt
Schreiben Sie folgende Satzanfänge an die Tafel: "Ich möchte nicht, dass…" und "Niemand soll…" bzw. "Keiner darf…". Die Schüler/-innen formulieren zwei Sätze: Sie notieren zunächst eine persönliche Perspektive ("Ich möchte nicht, dass…") und anschließend eine allgemeine ("Niemand soll…" oder "Keiner darf…"). Hierbei kann auch auf die Parallelen zu existierenden Klassenregeln hingewiesen werden.
3. Schritt
Bilden Sie Kleingruppen von ca. 3 bis 5 Personen. Verteilen Sie pro Gruppe ein Set mit Bedürfniskarten mit den zivilen Schutzrechten, ein Set mit leeren Karten sowie ein Set Bastelvorlagen für die Verbotsschilder. [Interner Link: PDF UE 2.2 AB 2 Bedürfniskarten zivile Schutzrechte], [Interner Link: PDF UE 1.2 AB 2 Weiße leere Karten], [Interner Link: PDF UE 2.2 AB 3 Verbotsschild] Die Schüler/-innen diskutieren in Kleingruppen mit Hilfe der Bedürfniskarten die Fragen:
Wovor möchte ich generell und überall geschützt sein? Was darf keiner niemals und nirgendwo mit mir machen?
Bei Bedarf können sie auf die leeren Karten Dinge und Situationen schreiben, die auf den Bildkarten nicht vorkommen. Anschließend versehen die Schüler/-innen die Bedürfniskarten (was niemand mit ihnen machen darf) jeweils mit einem Verbotsschild. Hängen Sie das gelbe DIN A3-Kartonpapier an die Tafel und beschriften Sie es mit der Frage "Was darf niemand mit mir machen?". Die Bedürfniskarten mit den Verbotsschildern werden gemeinsam von den Gruppen auf das gelbe Kartonpapier geklebt und in der Klasse gut sichtbar aufgehängt. Stichworte, die bei der Anschlusskommunikation bedeutsam sein könnten, sind z. B.
Gleichberechtigung/Gleichbehandlung, Respekt, körperliche Unversehrtheit, keine Gewalt, keine Demütigung etc.
Lassen Sie das gelbe Bedürfnisplakat im Klassenzimmer hängen! | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-03-24T00:00:00 | 2022-07-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/vorbild/506549/4-fantasiereise-wovor-ich-geschuetzt-sein-moechte/ | Die Schüler/-innen erleben spielerisch, welche Erfahrungen sie nicht machen möchten, und überlegen gemeinsam in der Gruppe, welche Möglichkeiten es gibt, um ganz allgemein solche Erfahrungen zu verhindern. | [
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Sexualität in der Pflege | Pflege | bpb.de | Pflege zielt darauf ab, Menschen mit Pflegebedarf zu betreuen, Krankheiten zu lindern und Gesundheit zu fördern. Das umfasst die ganzheitliche Sorge um das Wohlbefinden und schließt somit – zumindest theoretisch – auch das sexuelle Wohlbefinden als wichtigen Gesundheitsfaktor und Beitrag zur Lebensqualität ein. Doch wie sieht die Praxis aus? In diesem Beitrag werden der aktuelle Forschungs- und Entwicklungsstand zum Umgang mit Sexualität in der Pflege beschrieben und Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet.
Warum ist Sexualität wichtig?
Sexuelles Wohlbefinden ist für die meisten Menschen ein Grundbedürfnis. Denn Sexualität erfüllt vier wichtige Funktionen.
Lustfunktion: Sexuelle Aktivitäten unterschiedlichster Art lassen körperliches und seelisches Vergnügen, Sinnlichkeit, Erregung und Entspannung empfinden, und zwar in einer Intensität und Qualität, wie sie andere Aktivitäten kaum vermitteln können.
Beziehungsfunktion: In der Partnersexualität werden zwischenmenschliche Nähe, Intimität, Verbundenheit und Geborgenheit auf einer existenziellen Ebene buchstäblich hautnah erfahrbar.
Identitätsfunktion: Sexualität vermittelt Bestätigung der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Identität.
Fruchtbarkeitsfunktion: Sexualität ermöglicht biologische Fortpflanzung und umfasst darüber hinaus weitere schöpferische Dimensionen. So können sexuelle Aktivitäten transzendentes und spirituelles Erleben hervorbringen und stärken, etwa eine Verbundenheit mit allem Lebendigen oder mit einem göttlichen Prinzip.
Menschen unterscheiden sich darin, welche Aspekte der Sexualität für sie besonders wichtig sind und wie sie diese im Laufe ihres Lebens gestalten. Eine erfüllende Sexualität ist keinesfalls nur den jungen, gesunden, schönen und fitten Menschen vorbehalten, auch wenn das in den Medien oft so erscheinen mag. Empirische Studien zeigen, dass Sexualität für die meisten Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg bedeutsam ist und diese Bedeutung auch im hohen und höchsten Lebensalter sowie bei kurz- oder langfristigem Pflegebedarf besteht. Dabei gehören zum gewünschten sexuellen Ausdruck neben Selbstbefriedigung und Geschlechtsverkehr vor allem Zärtlichkeit wie Streicheln, Küssen, Umarmungen und Massagen, Rituale, wie in einem Bett schlafen, Händchen halten, sich hübsch machen, aber auch Schwärmereien, Flirts, Komplimente, sexuelle und romantische Gespräche, Bücher, Filme, Erinnerungen und Fantasien.
Die große Bedeutung selbstbestimmt ausgelebter Sexualität wird nicht zuletzt von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt, indem sie Wohlbefinden als Teil der Gesundheit und sexuelles Wohlbefinden als ausdrücklichen Bestandteil Sexueller Gesundheit definiert. Sexuelle Gesundheit ist somit mehr als die Abwesenheit von sexuell übertragbaren Infektionen, sexuellen Funktionsstörungen, ungeplanten Schwangerschaften und sexueller Gewalt, sondern schließt das im Rahmen der Möglichkeiten erreichbare Höchstmaß an sexuellem Wohlbefinden mit ein.
Warum muss sich die Pflege um sexuelles Wohlbefinden kümmern?
Menschen, die kurz- und insbesondere langfristig auf Pflege angewiesen sind, haben vor dem Hintergrund der international anerkannten Menschenrechte sowie der UN-Behindertenrechtskonvention – genau wie alle anderen Menschen auch – ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Teilhabe. Sexuelle Menschenrechte beziehen sich dabei sowohl auf Schutzrechte als auch auf Freiheitsrechte. Pflegekräfte und Pflegeeinrichtungen sind somit gefordert, für sexualfreundliche Rahmenbedingungen zu sorgen. Das bedeutet in der Theorie, dass Betreuten in der Pflege aktiv Möglichkeiten gegeben werden müssen, ihre Sexualitäten individuell selbstbestimmt auszuleben – das soll ohne Beeinträchtigung von Dritten geschehen, aber auch ohne Abwertung, Diskriminierung und moralische Sanktionierung durch Dritte.
Sex nicht als Tabu zu behandeln, sondern die professionelle Pflege bewusst an sexualfreundlichen Werten zu orientieren, ist durchaus mit kirchlichen, karitativen und humanistischen Werten vereinbar. Aktuelle Pflegekonzepte und Qualitätshandbücher von Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe integrieren denn auch zunehmend sexualfreundliche Leitlinien zum Umgang mit Sexualität. So hält das "Qualitätshandbuch der Seniorenheime des Landkreises Oder-Spree" (dort anzufordern) ausdrücklich die Rechte der Betreuten auf selbstbestimmte Sexualität fest, benennt dabei konkret unter anderem Selbstbefriedigung, gegen- und gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte, Pornografie und Sexualassistenz. Gleichzeitig wird detailliert festgelegt, dass und wie die Intim- und Privatsphäre der Betreuten zu achten und wie damit umzugehen ist, wenn Pflegehandlungen ungeplant sexuelle Erregung auslösen.
Auch die Pflegeforschung treibt die Enttabuisierung von Sexualität stark voran. Dabei werden übereinstimmend zwei Bündel von sexualbezogenen Ansprüchen pflegebedürftiger Menschen identifiziert. Diese decken sich mit den Forderungen, die in der politischen Alten- und Behindertenbewegung sowie in den entsprechenden Forschungsfeldern der Ageing Studies und der Disability Studies allesamt in einem menschenrechtsorientierten Rahmen formuliert werden.
Verbesserung der sexuellen Aufklärung und Beratung: Auch in einer medial scheinbar übersexualisierten Gesellschaft ist das Thematisieren individueller sexueller Erfahrungen und Bedürfnisse in allen gesellschaftlichen Bereichen nach wie vor ausgesprochen schwierig. Das betrifft auch Medizin und Pflege. Viele Menschen erhalten im Zuge von kurz- oder langfristiger Pflege bis heute nicht die notwendige sexualbezogene Aufklärung und Beratung. Egal ob es um Krebs oder Neurodermitis, um Depression oder Querschnittlähmung, um Autismus oder Risikoschwangerschaft, um Bluthochdruck, Diabetes oder Demenz geht: Welche Auswirkungen auf die Sexualität zu erwarten sind und wie mit diesen Effekten individuell sowie als Paar beziehungsweise als Familie erfolgreich umzugehen ist, welche Hilfsangebote es bei spezifischen sexuellen Problemen gibt, all das wird bis heute viel zu selten besprochen und/oder es fehlt der Zugang zu vorhandenen spezialisierten Sexualberatungsstellen. Dadurch entstehen vermeidbare Belastungen und Risiken und werden gleichzeitig Chancen auf sexuelles Wohlbefinden verpasst.
Verbesserung der praktischen Unterstützung für selbstbestimmtes Ausdrücken und Ausleben ihrer Sexualitäten: Insbesondere Menschen mit langfristigem Pflegebedarf sind in ihrer Autonomie im Alltag stark eingeschränkt. Ihre sexuelle Selbstbestimmung und Teilhabe wird wesentlich durch die Bedingungen der Pflege definiert und nicht selten begrenzt. Denn selbst wenn sie gut aufgeklärt sind, können sie sexuellen Aktivitäten meist nur nachgehen, wenn ihnen in Pflegekontexten auf Wunsch aktive Unterstützung zur Verfügung steht, etwa beim Zugang zu Hilfsmitteln, Räumen und Kontakten, und wenn gleichzeitig für Schutz vor sexueller Gewalt und Grenzüberschreitungen gesorgt wird.
Sexualität in der Pflege als Grenzüberschreitung
Zum Menschenrecht auf selbstbestimmte Sexualität gehören Schutzrechte. Im Kontext der Pflege geht es vor allem um zwei Aspekte von Schutz: um den Schutz vor sexueller Gewalt und um den Schutz Anderer vor eigenem sexuell unangemessenen Verhalten.
Schutz vor sexueller Gewalt
In der Pflege- und Gewaltforschung ist empirisch belegt, dass Menschen mit Pflegebedarf einem deutlich erhöhten Risiko sexueller Viktimisierung ausgesetzt sind. Das gilt in besonders starkem Maße für Mädchen und Frauen mit körperlichen und sogenannten geistigen Behinderungen: Sie werden zwei- bis dreimal so oft sexuell viktimisiert wie Frauen der Allgemeinbevölkerung. Ältere Frauen sind ebenfalls oft sexueller Gewalt ausgesetzt. Die ohnehin erhöhte sexuelle Viktimisierung verstärkt sich bei Frauen mit Pflegebedarf, da sie sich aufgrund ihrer Beeinträchtigungen oft besonders schlecht zur Wehr setzen können, da ihnen bei Übergriffen nicht immer geglaubt wird, und da sie sich durch die Pflegebedürftigkeit häufiger in Abhängigkeitsverhältnissen und vulnerablen Situationen befinden. Täter sind überwiegend Männer, meist aus dem sozialen Nahraum, etwa Familienmitglieder, Partner, Mitbewohner in der Einrichtung, Arbeitskollegen in der Werkstatt und Pflegekräfte.
Besonders vulnerabel sind zudem Kinder und Jugendliche mit Pflegebedarf sowie vermutlich auch geschlechter-diverse Personen. Auch wenn Männer deutlich seltener sexuell viktimisiert werden als Frauen, berichten Männer mit Behinderungen in nennenswertem Umfang von widerfahrener sexueller Gewalt. Zeitgemäße und gendersensible Schutzkonzepte sind für alle Pflegeeinrichtungen somit sehr wichtig.
Schutz Anderer vor eigenem sexuell unangemessenen Verhalten
Pflegebedürftige Menschen mit Entwicklungsstörungen und Lernschwierigkeiten haben häufig ein "normgerechtes" Sexualverhalten nicht gelernt und fallen deswegen durch unangemessen erscheinendes Verhalten auf. Auch Menschen mit Demenzerkrankungen werden nicht selten als sexuell enthemmt wahrgenommen: Sie berühren Mitbewohner und Pflegende gegen deren Willen sexuell, bewegen sich unbekleidet in der Öffentlichkeit, masturbieren auf dem Flur oder im Speisesaal. Hier geht es im Sinne von Prävention darum, eine angemessene Nähe-Distanz-Regulation zu erlernen, gemeinsame Hausregeln zu beschließen und durchzusetzen, das Pflegepersonal zu geeigneten Interventionen zu schulen. Eine pharmakologische Behandlung zur Unterdrückung von sexuell unangemessenem Verhalten ist grundsätzlich möglich, aber schlecht erforscht, birgt gesundheitliche Risiken und ethische Probleme, weshalb nicht-medikamentöse Lösungen wie das Erlernen angemessenen Sexualitätsausdrucks zu bevorzugen sind. Die Fachliteratur ist sich relativ einig in der Sichtweise, dass ein Eingreifen bei sexuell unangemessenem Verhalten pflegebedürftiger Menschen zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz Dritter vordringlich ist, aber nicht in die Unterdrückung jeglichen sexuellen Ausdrucks münden darf. Sexualität in der Pflege als Lebenslust
Sexualität in der Pflege zu enttabuisieren und für besseren Schutz vor Grenzüberschreitungen und Gewalt zu sorgen, ist das eine. Aktiv für eine sexualfreundliche Umgebung zu sorgen, in der sexuelle Bedürfnisse tatsächlich ausgedrückt und positiv im Sinne von Lebenslust ausgelebt werden können, ist das andere. Hier ist Assistenz gefordert, die im Pflegealltag ganz unterschiedliche Unterstützungsleistungen umfasst, und nicht gänzlich an externe Dienste ausgelagert werden kann. Im Folgenden wird der Umgang mit vier sexuellen Freiheitsrechten von pflegebedürftigen Menschen skizziert: Recht auf Solosexualität, Recht auf Partnersexualität, Recht auf Vielfalt sexuellen Selbstausdrucks und Recht auf reproduktive Selbstbestimmung.
Recht auf Solosexualität
Solosexualität (Selbstbefriedigung, Masturbation) als lust- und liebevoller Umgang mit dem eigenen Körper und den eigenen sexuellen Gedanken und Gefühlen kann die eingangs beschriebenen Lust-, Identitäts- und Fruchtbarkeitsfunktionen von Sexualität erfüllen und über Erinnerungen und Fantasien indirekt auch die Beziehungsfunktion ansprechen.
In Pflegeeinrichtungen kann Solosexualität nur genossen werden, wenn die notwendigen Rückzugsorte und -zeiten im Pflegeplan berücksichtigt sind und gewünschte Hilfsmittel wie erotische und pornografische Materialien oder Sexspielzeuge beschafft und genutzt werden können. Im Sinne sexueller Selbstbestimmung sollten moralische Vorstellungen des Pflegepersonals nicht die Selbstbefriedigung der Gepflegten reglementieren, sofern diese in angemessenem Rahmen stattfindet. Sexualpädagogische Fachkräfte können hier begleitend tätig sein, die Pflegenden entlasten und mit den Gepflegten individuell passende Handlungsspielräume für die jeweiligen körperlichen Gegebenheiten erarbeiten.
Für Menschen, die körperlich nicht in der Lage sind, sich selbst sinnlich zu stimulieren oder zu befriedigen, kommen spezielle Assistenzkräfte und Assistenztechnologien infrage, um sexuelle Autonomie und Teilhabe zu sichern. So sind Fachkräfte für Sexualbegleitung darauf spezialisiert, Menschen mit krankheits-, behinderungs- oder altersbedingten Einschränkungen unmittelbar sinnliche und sexuelle Erfahrungen zu ermöglichen, dazu gehört auch die Anleitung und praktische Hilfestellung bei der Selbstbefriedigung. Die Forschung zu sexuellen Assistenztechnologien für Menschen mit Pflegebedarf, zu denen auch Pflegeroboter zählen könnten, steht noch ganz am Anfang.
Recht auf Partnersexualität
Bestehen für Menschen mit Pflegebedarf oftmals schon beträchtliche Hürden beim Ausleben von Solosexualität, so sind diese im Hinblick auf Partnersexualität meist noch sehr viel höher. Verschiedene Konstellationen sind zu unterscheiden, in denen Pflegekräfte gefragt sind, Barrieren und Hürden für die Betreuten aktiv abzubauen:
Wenn der Pflegefall im Verlauf einer bestehenden Paarbeziehung eintritt, geht es darum, dem Paar die notwendige Sexualberatung für die Anpassung an die neue Situation bereitzustellen und in der Einrichtung ungestörte Zweisamkeit zu ermöglichen (etwa ein Übernachtungsbesuch).
Für Menschen mit Pflegebedarf, die alleinstehend sind (z.B. ältere Menschen nach Verwitwung; junge Menschen mit schweren Behinderungen), stellen Wohneinrichtungen und Werkstätten meist die wichtigsten Kontaktmärkte dar. Einrichtungen müssen wiederum für ein sexualfreundliches Klima sorgen (z.B. Bereitstellung von Pflegedoppelbetten und von einem "Snoezelraum", der für sinnliche Erfahrungen allein oder zu zweit eingerichtet ist). Gleichzeitig ist die Einvernehmlichkeit der sexuellen Kontakte sicherzustellen. Es gilt, das Pflegepersonal zu schulen und sexuelle Bildung und Beratung für die Gepflegten anzubieten. Außerhalb von Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe können, je nach geistigen und körperlichen Möglichkeiten, die üblichen Wege der Offline- und Online-Partnersuche beschritten werden, etwa über Tanzveranstaltungen, Singletreffs und Datingapps. Es gibt einige auf Menschen mit Beeinträchtigungen spezialisierte Online-Datingbörsen und Singletreffs.
Für Menschen mit Pflegebedarf, die sich dauerhaft keine sexuellen Kontakte organisieren können, ist Sexualbegleitung eine Option. Fachkräfte werden unter anderem am Institut Selbst Bestimmung Behinderter (ISBB) Trebel ausgebildet. Sexualbegleitung umfasst neben der oben angesprochenen Hilfe bei der sinnlichen und sexuellen Selbststimulation auch partnersexuelle Aktivitäten wie gemeinsames Nacktsein, Umarmungen, Massagen und Streicheln. Geschlechtsverkehr ist aber in der Regel ausgeschlossen. Der Vorteil der Sexualbegleitung besteht darin, dass sie sich auf die Besonderheiten der jeweiligen Einschränkung einstellt, medizinische beziehungsweise pflegerische Kenntnisse mitbringt und zum sexuellen Empowerment beitragen will. Regelmäßige Besuche einer Sexualbegleitung können laut Praxiserfahrungen auf Menschen mit Pflegebedarf heilsam und beruhigend wirken und sexuell unangemessenes Verhalten reduzieren.
Manche Menschen mit Pflegebedarf bevorzugen anstelle von Sexualbegleitung die reguläre Prostitution . Die Branche wiederum stellt sich zunehmend auf den demografischen Wandel ein, akzeptiert Menschen mit Pflegebedarf und wirbt mit barrierefreien Tantra-Studios und Bordellen. Die Inanspruchnahme legaler Prostitution darf im Sinne gleichberechtigter sexueller Teilhabe Menschen mit Pflegebedarf nicht vorenthalten werden. Einrichtungen, Pflegeteams und pflegende Angehörige unterscheiden sich aber bislang stark darin, ob sie Besuche von Sexdienstleistenden erlauben beziehungsweise den Besuch entsprechender Betriebe unterstützen oder nicht. Dahinter stehen nicht selten infantilisierende Stereotype, denen gemäß Menschen im höheren Alter oder mit Behinderungen allenfalls ein Wunsch nach "Kuscheln" zugestanden wird, nicht aber das Verlangen nach dem gesamten Spektrum sexueller Verhaltensweisen. Die Kontroverse darum, ob Prostitution generell als moralisch falsch und Ausdruck von Frauenunterdrückung einzuordnen ist, oder ob freiwillige Sexarbeit von Frauen, Männern und Trans*Personen als legitime Erwerbsarbeit anzuerkennen ist, beeinflusst ebenfalls die unterschiedlichen Haltungen innerhalb der professionellen und informellen Pflege.
Recht auf Vielfalt sexuellen Selbstausdrucks
Wenn von sexualfreundlichen Bedingungen in der Pflege gesprochen wird, dann ist es wichtig, ein vielfältiges Bild von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten vor Augen zu haben. Je nach kulturellem, religiösem, familiärem und lebensgeschichtlichem Hintergrund hat jeder Mensch ganz individuelle sexuelle Wünsche und Ausdrucksformen. Deswegen gilt es, bevormundende und rigide Vorstellungen von "richtiger Sexualität" zu vermeiden.
Besondere sexuelle Vorlieben und Fetische, die manche Menschen ein Leben lang begleiten, sind auch bei Pflegebedürftigkeit (weiterhin) präsent. Sie sind aus menschenrechtlicher Perspektive anzuerkennen und nicht moralisch zu verurteilen. Während eine akzeptierende und unterstützende professionelle Haltung gegenüber ungewöhnlichen sexuellen Spielarten in Psychologie und Medizin inzwischen als kink friendliness beziehungsweise kink awareness eingefordert und gefördert wird, fehlt dieser wichtige Aspekt in der bisherigen Diskussion um Sexualität in der Pflege.
Die Pflegeprofession hat indessen bereits begonnen, Sexualität weiter zu denken als Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit und somit queer friendliness zu entwickeln: Lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und intergeschlechtliche (LSBT*I) Menschen sind mit einem Bevölkerungsanteil von rund 10 Prozent eine nicht vernachlässigbare Bevölkerungsgruppe, die zudem besonders stark auf professionelle Pflege angewiesen ist. Deswegen gibt es nun die ersten diversitätssensiblen Pflegeeinrichtungen, in denen pflegebedürftige LSBT*I-Personen sich ganz selbstverständlich angenommen und zu Hause fühlen können. Die Schwulenberatung Berlin betreibt mit "Lebensort Vielfalt Charlottenburg" und "Lebensort Vielfalt am Ostkreuz" zwei Pflegeeinrichtungen in Berlin für Schwule und Lesben und vergibt – nach entsprechender Begutachtung und Beratung – das "Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt" an weitere Pflegeeinrichtungen, die diversitätssensibel arbeiten. Die Frankfurter "Initiative Regenbogenpflege" ist ein weiteres Good-Practice-Beispiel für diversitätssensible Pflege, die bislang in Deutschland noch nicht flächendeckend zur Verfügung steht.
Recht auf reproduktive Selbstbestimmung
Zum Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gehört aus menschenrechtlicher Perspektive auch das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung. Auch wenn dieses Menschenrecht durch die UN-Behindertenrechtskonvention nochmals ausdrücklich für alle Menschen bekräftigt wurde, wird Menschen mit Behinderungen selbstbestimmte Familienplanung sehr oft immer noch vorenthalten: Nur wenige Einrichtungen der Behindertenhilfe unterstützen und beraten beim Auftreten eines Kinderwunsches in ausreichendem Maße und sind offen für die Betreuung von Schwangeren und Familien im Rahmen des Konzepts der Begleiteten Elternschaft, das in Deutschland seit mehr als 20 Jahren existiert. Fazit und Handlungsempfehlungen für die Politik
Sexualität in der Pflege hat sich in den vergangenen Jahren vom Tabu zu einem in Forschung, Praxis und breiter Öffentlichkeit immer stärker beachteten und differenzierter reflektierten Themengebiet entwickelt. Dass aus menschenrechtlicher Perspektive alle Menschen mit Pflegebedarf dieselben sexuellen Schutzrechte und dieselben sexuellen Freiheitsrechte genießen wie andere Menschen auch, ist heute unbestritten. Dennoch besteht die dringende Notwendigkeit, bei der demografisch wachsenden Gruppe von Menschen mit krankheits-, behinderungs- oder altersbedingtem Pflegebedarf mehr für den Schutz vor sexueller Gewalt und mehr für die Freiheit zu selbstbestimmtem und vielfältigem sexuellen Ausdruck zu tun. Hierfür sind nachhaltige und integrale Maßnahmen bei den Diensten und Einrichtungen der Krankenpflege sowie der Alten- und Behindertenhilfe notwendig, und zwar auf drei Ebenen:
Die Institution muss für sich ein einrichtungsspezifisch ausgestaltetes, sexualfreundliches Leitbild und Konzept erarbeiten, das die sexuellen Schutz- und Freiheitsrechte der von ihr Betreuten gleichermaßen berücksichtigt. Reine Schutzkonzepte, die nur auf die Gewaltprävention ausgerichtet sind, greifen zu kurz. Zu fordern sind Konzepte, die den Schutz vor sexueller Gewalt mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung vereinen. Bei der Konzeptentwicklung ist externe Expertise vor allem aus dem Bereich der Sexualpädagogik hinzuzuziehen. Der Prozess der Konzepterarbeitung ist partizipativ innerhalb der Einrichtung unter Mitwirkung aller Stakeholder-Gruppen zu gestalten. Für die Umsetzung des Konzepts ist die langfristige Zusammenarbeit mit externen lokalen Diensten der Sexualberatung, Sexualtherapie und Sexualbegleitung notwendig und auch eine entsprechende Struktur in der Einrichtung selbst zu schaffen, einschließlich enger Zusammenarbeit mit Angehörigen.
Professionell Pflegende benötigen ausreichende und wiederholte Aus-, Fort- und Weiterbildung zu Fragen von Sexualität, damit sie ihre Moralvorstellungen und inneren Barrieren reflektieren lernen. Das wiederum ist notwendig, um die eigene Haltung zu klären, sexualfreundliche Handlungsweisen zu erlernen, sich selbst wahrnehmen und abgrenzen, und sich fachlich sicher zu fühlen. Zudem muss es in Supervisionen sowie in Team- und Fallbesprechungen regelmäßig die Gelegenheit geben, aufkommende sexuelle Fragen lösungsorientiert zu erörtern. Dabei geht es um die Fürsorge für die Gepflegten und einen respektvollen Umgang mit ihren sexuellen Grenzen und Bedürfnissen. Und es geht um die Selbstfürsorge der überwiegend weiblichen Pflegenden, die sich im Pflegealltag nicht selten vor sexuellen Grenzverletzungen schützen müssen. Ein sexualfreundlicher Ansatz beachtet die Rechte aller Beteiligten und spielt sie nicht gegeneinander aus.
Menschen mit Pflegebedarf bedürfen im Sinne von Empowerment flächendeckender inklusiver sowie migrations-, kultur- und diversitätssensibler sexueller Bildung, um ihre individuellen sexuellen Anliegen artikulieren und vertreten zu können. Je nach Grad der vorliegenden Autonomieeinschränkungen brauchen Menschen mit Pflegebedarf zudem spezialisierte sexuelle Assistenzkräfte und Assistenztechnologien, um erzwungener sexueller Abstinenz zu entgehen. In Einrichtungen sollte es darüber hinaus Partizipationskonzepte geben, damit eine Mitbestimmung über sexuelle und sonstige Lebensbedingungen möglich ist und nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg entschieden wird.
Es besteht kein Zweifel, dass dieses Vorgehen zweckmäßig ist, im Einklang mit der Rechtslage und dem bisherigen Forschungsstand steht sowie bei Pflegenden und Gepflegten prinzipiell auf Zustimmung stößt. Ergänzend zu den genannten Veränderungen in der professionellen Pflege ist auch eine Verbesserung der Fortbildungs- und Beratungsinfrastruktur für informell Pflegende notwendig, damit sie die Sexualitäten der von ihnen in häuslichen Settings Gepflegten sachgerecht begleiten können.
Politischer Gestaltungsbedarf besteht insofern, als all diese Maßnahmen nicht umsonst zu bekommen sind. Es müssen Rahmenbedingungen für die jeweilige Finanzierung in unterschiedlichen Politikfeldern geschaffen werden:
Institutionen sollten vor dem Hintergrund der sexuellen Schutz- und Freiheitsrechte pflegebedürftiger Menschen zur Entwicklung, Umsetzung und regelmäßigen Evaluierung eines jeweils einrichtungsspezifischen, umfassenden sexualpädagogischen Konzepts verpflichtet werden. Für diesen fortlaufenden Prozess, der Beratungen, Fortbildungen und Supervisionen einschließt, muss den Institutionen die entsprechende Finanzierung bereitgestellt werden.
Ausbildungsstätten und Hochschulen sollte es ermöglicht werden, das Thema Sexualität im Pflegekontext nachhaltig in den Rahmenlehrplänen für Pflegeberufe zu verankern. An Hochschulen muss zudem die Forschung in diesem Feld unterstützt werden, etwa durch Förderlinien für neue interdisziplinäre Professuren und Forschungsprojekte. Ein Ansatzpunkt ist die Schnittstelle von Sexual-, Pflege- und Technikforschung, beispielsweise für die menschengerechte Entwicklung sexueller Assistenztechnologien, die autonome Selbstbefriedigung ermöglichen und auch die Partnersexualität bei körperlichen Beeinträchtigungen unterstützen können.
Menschen mit Pflegebedarf sind zur Wahrnehmung ihrer sexuellen Schutz- und Freiheitsrechte auf umfassende sexuelle Bildung angewiesen. Der Zugang zu entsprechenden sexuellen Bildungsangeboten sowie zu sexuellen Beratungsangeboten muss dementsprechend organisatorisch und finanziell gesichert werden – und zwar unabhängig davon, ob sie zu Hause oder in Einrichtungen leben. Regelmäßige aufsuchende Sexualberatung ist bei Weitem nicht überall selbstverständlich und muss finanziert werden. Über Sexualberatung hinaus benötigen Menschen mit Pflegebedarf zur tatsächlichen sexuellen Teilhabe entsprechende finanzielle Mittel, etwa um sich Angebote aus dem Bereich der Sexualtechnologien, der Sexualbegleitung oder Sexarbeit leisten zu können. Insbesondere bei Menschen, denen ohne sexuelle Assistenzkräfte oder Assistenztechnologien keinerlei autonome sexuelle Aktivität möglich ist, und die gleichzeitig nicht über ausreichende eigene finanzielle Mittel verfügen, bedeutet die bisherige Verweigerung jeglicher Kostenübernahme, dass faktisch keine sexuelle Selbstbestimmung möglich ist. Auf der Basis der Menschen- und Grundrechte lässt sich indessen durchaus eine staatliche Gewährleistungspflicht und Grundsicherung für sexualbezogene Ausgaben rechtlich ableiten.
Trotz knapper öffentlicher Kassen und drohendem Pflegenotstand darf Sexualität in der Pflege nicht verdrängt oder als vermeintliches "Luxusproblem" abgetan werden. Denn: "Sex ist mehr als Sex": Sexualität berührt mit ihren Lust-, Beziehungs-, Identitäts- und Fruchtbarkeitsdimensionen zentrale Aspekte des Menschseins und der Lebensqualität.
Menschen mit dauerhaftem Pflegebedarf sind vor allem Menschen mit schweren Behinderungen und Menschen mit starken altersbedingten Beeinträchtigungen. Diese Gruppen sind im Folgenden angesprochen. Nicht gemeint sind indessen Menschen mit Behinderungen oder mit hohem Lebensalter, die gar keinen Pflegebedarf haben.
Vgl. Uwe Sielert, Einführung in die Sexualpädagogik, Weinheim–Basel 2005.
Vgl. Erich Grond, Sexualität im Alter. Was Pflegekräfte wissen sollten und was sie tun können, Hannover 2011; Beate Schultz-Zehden, Sexualität im Alter, in: APuZ 4–5/2013, S. 53–56; Elaine White, Sexualität bei Menschen mit Demenz, Göttingen u.a. 2013.
Vgl. World Health Organization (WHO), Defining Sexual Health. Report of a Technical Consultation on Sexual Health 28–31 January 2002, Geneva 2006 Externer Link: http://www.who.int/reproductivehealth/publications/sexual_health/defining_sexual_health.pdf.
Vgl. Julia Zinsmeister, Hat der Staat den Bürger*innen Sexualität zu ermöglichen?, in: Ulrike Lembke (Hrsg.), Regulierungen des Intimen. Sexualität und Recht im modernen Staat, Wiesbaden 2017, S. 71–93.
Vgl. Lieslot Mahieu/Chris Gastmans, Older Residents’ Perspectives on Aged Sexuality in Institutionalized Elderly Care. A Systematic Literature Review, in: International Journal of Nursing Studies 12/2015, S. 1891–1905; Esther Wiskerke/Jill Manthorpe, Intimacy Between Care Home Residents With Dementia. Findings From a Review of the Literature, in: Dementia 1/2019, S. 94–107; Grond (Anm. 3); Barbara Ortland, Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik, Stuttgart 2019; Ruth van der Vight-Klußmann, (Kein) Sex im Altenheim? Körperlichkeit und Sexualität in der Altenhilfe, Hannover 2014; White (Anm. 3); Jens Clausen/Frank Herrath (Hrsg.), Sexualität leben ohne Behinderung. Das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung, Stuttgart 2012.
Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht, 20.2.2013, Externer Link: http://www.bmfsfj.de/blob/94206/1d3b0c4c545bfb04e28c1378141db65a/lebenssituation-und-belastungen-von-frauen-mit-behinderungen-langfassung-ergebnisse-der-quantitativen-befragung-data.pdf; Martina Puschke, Hat die UN-Behindertenrechtskonvention bewirkt, dass sexuelle Selbstbestimmung gelebt werden kann? Eine Annäherung aus Sicht von Frauen mit Behinderung, in: Forum Sexualaufklärung und Familienplanung 1/2017, S. 10–13, Externer Link: https://service.bzga.de/pdf.php?id=329b3d3103d482ff2ba9764b643b2fbb
Vgl. Thomas Görgen et al., Sexuelle Viktimisierung im höheren Lebensalter in: Kriminalsoziologie und Rechtssoziologie 1/2006, S. 9–48.
Vgl. Ludger Jungnitz et al., Lebenssituation und Belastung von Männern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Haushaltsbefragung. Abschlussbericht, 15.1.2013, Externer Link: http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb435.pdf;jsessionid=80B2AC9E818D0CABB63D2F67FC395626?__blob=publicationFile&v=2.
Vgl. Grond (Anm. 3); Ortland (Anm. 6); Van der Vight-Klußmann (Anm. 6); White (Anm. 3).
Vgl. Gudrun Jeschonnek, Welche sexualitätsbezogene Assistenz unterstützt?, in: Jens Clausen/Frank Herrath (Hrsg.), Sexualität leben ohne Behinderung. Das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung, Stuttgart 2012, S. 222–238.
Vgl. Gerhard Senf, Sexuelle Assistenz. Ein kontrovers diskutiertes Konzept, in: Psychotherapie im Dialog 2/2013, S. 68–71; Jeschonnek (Anm. 11).
Vgl. Nicola Döring, Sollten Pflegeroboter auch sexuelle Assistenzfunktionen bieten?, in: Oliver Bendel (Hrsg.), Pflegeroboter, Wiesbaden 2018, S. 249–267.
Vgl. Jeschonnek (Anm. 11).
Vgl. Lothar Sandfort, Empowerment im Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter, in: Forum Sexualaufklärung und Familienplanung 1/2017, S. 14–17, Externer Link: https://service.bzga.de/pdf.php?id=329b3d3103d482ff2ba9764b643b2fbb; Senf (Anm. 12).
Vgl. Jeschonnek (Anm. 11).
Vgl. Nicola Döring, Prostitution in Deutschland. Eckdaten und Veränderungen durch das Internet, in: Zeitschrift für Sexualforschung 2/2014, S. 99–137; dies., Das neue Prostituiertenschutzgesetz. Wie ist es aus fachlichen Perspektiven zu beurteilen? Eine Einführung, in: Zeitschrift für Sexualforschung 1/2018, S. 44–56; Cecilia Benoit et al., "The Prostitution Problem". Claims, Evidence, and Policy Outcomes, in: Archives of Sexual Behavior 2018 (online first).
Vgl. Jessica Waldura et al., Fifty Shades of Stigma. Exploring the Health Care Experiences of Kink-Oriented Patients, in: The Journal of Sexual Medicine 12/2016, S. 1918–1929.
Vgl. Ralf Lottmann/Ingrid Kollak, Eine diversitätssensible Pflege für schwule und lesbische Pflegebedürftige – Ergebnisse des Forschungsprojekts GLESA, in: International Journal of Health Professions 1/2018, S. 53–63; Sabina Misoch, "Lesbian, gay & grey". Besondere Bedürfnisse von homosexuellen Frauen und Männern im dritten und vierten Lebensalter, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 3/2017, S. 239–246.
Vgl. BMFSFJ (Anm. 7); Puschke (Anm. 7).
Vgl. Annette Vlasak, Sexuelle Selbstbestimmung – und dann? Mehr als 20 Jahre Begleitete Elternschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Forum Sexualaufklärung und Familienplanung 1/2017, S. 26–28, Externer Link: https://service.bzga.de/pdf.php?id=329b3d3103d482ff2ba9764b643b2fbb.
Vgl. Ralf Specht, Hat die sexualfreundliche Zukunft schon begonnen?, in: Forum Sexualaufklärung und Familienplanung 1/2017, S. 6–9, Externer Link: https://service.bzga.de/pdf.php?id=329b3d3103d482ff2ba9764b643b2fbb.
Vgl. Arbeitsgruppe 33 des Landespräventionsrates Schleswig-Holstein (Hrsg.), Handlungsleitlinien. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und der Schutz vor sexualisierter Gewalt für Menschen mit Behinderungen, "Art. 16 der UN Behindertenrechtskonvention endlich umsetzen!", April 2019, Externer Link: http://www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/K/kriminalpraevention/Downloads/handlungsleitlinien_sexuelleSelbstbestimmung.pdf?__blob=publicationFile&v=5.
Vgl. Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, Sexualassistenz für Menschen mit Behinderungen, Berlin 2018, Externer Link: http://www.bundestag.de/resource/blob/559826/06db0317f5a4a17221c4e1d374c87773/wd-6-052-18-pdf-data.pdf.
Vgl. Zinsmeister (Anm. 5).
| Article | , Nicola Döring | 2022-02-16T00:00:00 | 2019-08-07T00:00:00 | 2022-02-16T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/294922/sexualitaet-in-der-pflege/ | Aus menschenrechtlicher Perspektive genießen alle Menschen dieselben sexuellen Schutz- und Freiheitsrechte – auch Menschen mit Pflegebedarf. Sexualität in der Pflege galt lange als Tabu, erfährt aber mittlerweile breitere Beachtung in Theorie und Pra | [
"Pflege",
"Pflegepolitik",
"Sexualität"
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Geschichte der europäischen Migrationspolitik | Dossier Migration | bpb.de | Migration ist ein konstitutiver Bestandteil Europas: Sei es als vorherrschende Interner Link: Auswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als zunehmende Interner Link: Einwanderung seit den 1960er Jahren, oder als seit jeher sich vollziehende Interner Link: Binnenmigration. Der europäische Kontinent ist seit seiner Besiedlung "in Bewegung" . Immer wieder und verstärkt seit dem frühen 20. Jahrhundert haben die europäischen Staaten versucht, diese Migration politisch zu steuern. Mit der europäischen Integration entwickelte sich seit den 1950er Jahren auch eine europäische Migrationspolitik und die Europäische Union (EU) ist einer deren wichtigster Akteure. Dabei konkurriert sie mit dem Anspruch der in ihr vereinigten Mitgliedsländer, als souveräne Nationalstaaten selbst über den Zugang zu ihrem Territorium und der Teilhabe an ihren Gesellschaften zu entscheiden. In diesem Spannungsverhältnis steht europäische Migrationspolitik heute – und tat dies von Anfang an. Um die aktuellen Debatten um die Migrationspolitik Europas zu verstehen ist es also notwendig, ihre Geschichte zu kennen. Der folgende Beitrag zeichnet diese Entwicklung seit Beginn der Europäischen Integration nach, um so die Grundlage für eine fundierte Einschätzung der aktuellen europäischen Migrationspolitik zu legen.
Freizügigkeit der Arbeitnehmer als Grundelement des gemeinsamen Marktes
Migration war von Anfang an wichtiger Teilbereich der (damals noch west-)europäischen Integration. Bereits der Vorläufer der heutigen EU, die 1951 gegründete Interner Link: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EKGS) sah die erleichterte Migration von Facharbeiter/-innen der Montanindustrie vor. In den 1957 unterzeichneten Interner Link: Römischen Verträgen, die die Interner Link: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begründeten, wurden vier Grundfreiheiten benannt, um das angestrebte Ziel eines gemeinsamen Marktes zu erreichen: die Freiheit von Waren, Kapital, Dienstleistungen und eben auch von Arbeitskräften. Diese Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde schrittweise umgesetzt, nicht ohne dabei auf Probleme und Widerstände zu stoßen. Denn die unbegrenzte Zulassung von europäischen Arbeitnehmerinnen und -nehmern zu den nationalen Arbeitsmärkten erschien den Skeptiker/-innen der Ausländerbeschäftigung nicht erstrebenswert: So befürchteten etwa die Innenminister in Zeiten des Kalten Krieges den Zuzug kommunistischer Arbeitskräfte, während sich die Interner Link: Gewerkschaften um zusätzliche Konkurrenz und Lohndruck zulasten ihrer Mitglieder sorgten.
Da jedoch der Wirtschaftsboom der "langen" Nachkriegszeit eine anhaltend hohe Nachfrage nach Arbeitskräften erzeugte und insbesondere auf dem italienischen Arbeitsmarkt ein Überangebot an Arbeitskräften bereitstand, überwogen die Befürworter/-innen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie argumentierten, dass in einem gemeinsamen Markt nicht Handels- und Investitionsbeschränkungen aufgehoben werden könnten, ohne auch den Produktionsfaktor Arbeit zu liberalisieren. Dies würde den Binnenmarkt unzulässig beschränken und damit das Wachstum hemmen. Aus der Perspektive eines gemeinsamen west-europäischen Marktes war die Arbeitnehmerfreizügigkeit also elementar.
Entsprechend wurde 1964 der Vorzug nationaler Arbeitnehmer/-innen bei der Stellenvergabe vor Bewerber/-innen aus anderen EWG-Mitgliedsstaaten (Inländerprimat) aufgehoben und EG-Staatsangehörige ab 1968 auf dem Arbeitsmarkt einander weitestgehend gleichgestellt. Damit konnten beispielsweise Italiener/-innen in Belgien oder Niederländer/-innen in der Bundesrepublik auf Arbeitsuche gehen und sich gleichberechtigt mit Einheimischen auf Stellen bewerben. Versuche, auch die nationalen Arbeitsvermittlungen stärker miteinander zu vernetzen, waren jedoch aufgrund unterschiedlicher Behörden- und Arbeitsmarktkulturen sowie von Sprachschwierigkeiten der Vermittler, Arbeitnehmer und -geber nur mäßig erfolgreich.
Parallel dazu hatte sich in den fünfziger und sechziger Jahren mit dem "Gastarbeiter-System" ein über die Grenzen der EWG-Mitgliedstaaten hinausreichender transnationaler Arbeitsmarkt gebildet, der über bilaterale Anwerbeabkommen in Teilen institutionalisiert war, zum Teil aber auch jenseits offizieller Regelungen, also Interner Link: irregulär, funktionierte. Angesichts dieser umfangreichen Arbeitsmigration von Drittstaatsangehörigen erschien die auf EG-Staatsangehörige begrenzte und auf Gleichstellung ausgerichtete Arbeitnehmerfreizügigkeit auch Skeptiker/-innen immer weniger als besorgniserregend. Zudem folgte der Liberalisierung der nationalen Arbeitsmärkte kein großer Mobilitätsboom. Der Höhepunkt der italienischen Arbeitsmigration in die nördlichen Industriezentren war bereits abgeebbt und von der Migration aus insbesondere mediterranen Drittstaaten abgelöst worden; vor allem aus Jugoslawien, Griechenland und der Türkei, aber auch aus Spanien, Portugal und den Maghrebstaaten.
An Bedeutung gewann die EG-Freizügigkeit erst wieder mit den Anwerbe- und Einwanderungsstopps der frühen siebziger Jahre, die angesichts ungewollter Einwanderung die Anwerbung aus Drittstaaten beendeten und den Zuzug stark begrenzten. Lediglich italienische Staatsangehörige blieben als einzige EG-europäische 'Gastarbeiter' von den Maßnahmen ausgenommen. In den achtziger Jahren profitierten davon auch Arbeitskräfte aus Griechenland, Spanien und Portugal, die nach dem Beitritt ihrer Heimatländer zur Europäischen Gemeinschaft auch Zugang zum gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt erhielten – wenngleich erst nach Übergangsfristen zeitlich versetzt.
Ebenfalls in den siebziger Jahren wurden von der EG-Kommission Versuche unternommen, die EG-Freizügigkeit auch für Drittstaatsangehörige zu öffnen, um jegliche Ungleichbehandlung zu beseitigen. Hierzu waren neben der arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Gleichstellung auch Fördermaßnahmen wie Sprachkurse sowie Integrationshilfen für mitziehende Familien aus dem Europäischen Sozialfonds und schließlich Interner Link: politische Rechte wie das kommunale Wahlrecht vorgesehen. Das ging jedoch den nationalen Regierungen, die ja gerade erst die Einwanderung aus Drittstaaten beschränkt hatten, zu weit. Aus dem großen "Aktionsprogramm zugunsten der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien", das den Startschuss für eine gemeinsame europäische Migrationspolitik geben sollte, blieben schließlich nur eine engere polizeiliche Zusammenarbeit zur Bekämpfung irregulärer Migration und eine Richtlinie zum Sprachunterricht für Kinder von Arbeitsmigrant/-innen übrig.
Gleichwohl ist die Wirkung der frühen europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht zu unterschätzen. Denn zum einen kamen Arbeitgeber/-innen, Gewerkschaften und nationale Arbeitsverwaltungen mit der Realität eines europäischen Arbeitsmarktes in Kontakt. Die dabei gesammelten Erfahrungen prägten maßgeblich die institutionelle Rahmung internationaler Arbeitsmobilität in den Folgejahren. Zum anderen gewöhnten sich auch die europäischen Gesellschaften an die Normalität und Legitimität internationaler Arbeitsmigration, wenn auch zunächst nur für 'Europäer/-innen'.
Grenzabbau für ein "Europa der Bürger"
Diese gesellschaftliche 'Nebenwirkung' der zunächst vor allem wirtschaftlich begründeten Freizügigkeit geriet ebenfalls in den Blick der EG-Institutionen. Wenn die Erfahrung europäischer Mobilität und der Austausch mit anderen Europäer/-innen am Arbeitsplatz und in der Freizeit das europäische Bewusstsein stärke, so die Überlegung, könne dies die wirtschaftliche und politische europäische Integration als ein "Europa der Bürger" auch "von unten" legitimieren und stärken. Daher wurden bereits seit den siebziger Jahren Überlegungen angestellt, eine europäische Staatsbürgerschaft und eine Passunion einzuführen. Allerdings kamen diese Pläne Mitte der achtziger Jahre ebenso wenig voran wie das erwähnte Aktionsprogramm.
Stattdessen wurde das Projekt eines grenzenlosen oder genauer: eines grenzkontrolllosen Europa weiter vorangebracht – wenn auch außerhalb der EG-Institutionen. So vereinbarten der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Staatspräsident François Mitterand 1984, die Grenzkontrollen zwischen beiden Ländern schrittweise abzubauen und sich an ausgewählten Grenzübergängen auf Sichtkontrollen und Stichproben zu beschränken. Damit sollte ein grenzenloses Europa im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar gemacht und der grenzüberschreitende Handel erleichtert werden. Zeitgleich verhandelten die Bundesrepublik und Frankreich mit den Benelux-Staaten über den Abbau der Grenzkontrollen. Letztere bildeten bereits seit 1948 einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, der 1960 durch eine Passunion ergänzt worden war. Der kontrollfreie Grenzverkehr war hier also schon Realität.
Am 14. Juni 1985 unterzeichneten die fünf Staaten im luxemburgischen Grenzort Schengen den Interner Link: Vertrag, der die europäische Migrationspolitik der kommenden drei Jahrzehnte prägen sollte. Das war freilich damals noch genauso wenig abzusehen, wie der Interner Link: Fall des Eisernen Vorhangs oder die Interner Link: Deutsche Einigung. Beides sollte die Umsetzung des Vertrags um Jahre verzögern, denn mit der Grenzöffnung zwischen West- und Osteuropa wurden die Karten neu gemischt. Ein Anstieg der durch den Eisernen Vorhang lange aufgehaltenen Migrationsbewegungen ließ den Verzicht auf westeuropäische Grenzkontrollen vorübergehend in den Hintergrund treten.
Von der europäischen Zusammenarbeit zur EU-Migrationspolitik
Ursprünglich für den Dezember 1989 vorgesehen, verschob sich die ebenfalls in Schengen stattfindende Unterzeichnung der Durchführungsbestimmungen (SDÜ oder "Schengen II") auf den 19. Juni 1990. Interner Link: In Kraft gesetzt, also tatsächlich angewendet, wurden diese jedoch erst 1995. Bis dahin waren neben Italien auch Spanien, Portugal, Griechenland und Österreich dem Abkommen beigetreten. Weitere EU- und Drittstaaten folgten und mit dem Interner Link: Amsterdamer Vertrag 1997 wurde das Schengener Abkommen Teil der EU-Verträge. Seitdem wird der kontrollfreie Grenzverkehr auf alle Neumitglieder ausgeweitet. Dadurch ergibt sich die unübersichtliche Situation, dass Schengen-Raum und Europäische Union nicht deckungsgleich sind: Nicht alle EU-Staaten sind Teil des Schengen-Raums (Irland), wohingegen manche Nicht-EU-Mitglieder daran teilhaben (Island, Norwegen, Schweiz und Liechtenstein). Für wieder andere gelten noch Übergangsfristen (Bulgarien, Rumänien und Zypern).
Konstitutiv für diesen Raum der kontrollfreien Binnengrenzen ist die verstärkte Kontrolle der "gemeinsamen Außengrenzen". Diese brachte seit den 1990er Jahren neben den intransparenten Verhandlungen der Durchführungsbestimmungen auch die größte Kritik hervor: Der Ausbau der Grenzanlagen insbesondere an den Ostgrenzen des Schengenraums begründete den Vorwurf, einen neuen Eisernen Vorhang zu errichten und Europa zur Festung auszubauen.
In Bezug auf Interner Link: Fluchtmigration wurde das Schengener Abkommen 1990 durch das Interner Link: Dubliner Übereinkommen ergänzt, das 2003 als Verordnung ebenfalls Teil des EU-Rechts (Dublin II) und 2013 überarbeitet (Dublin III) wurde. Vor dem Hintergrund kontrollfreier Binnengrenzen wurde bestimmt, dass grundsätzlich der Staat für das Asylverfahren zuständig sei, dessen Territorium Asylsuchende zuerst betreten. Damit sollte einerseits verhindert werden, dass Flüchtlinge in mehreren Staaten Schutz beantragten. Andererseits sollten die Hauptzielländer von Fluchtmigration – wie Deutschland, Frankreich oder Schweden – "entlastet" werden. Dies führte wiederum zu einer stärkeren Belastung der Länder an den Außengrenzen der EU – insbesondere der Mittelmeeranrainer wie Griechenland und Italien –, über die viele Asylsuchende in die EU einreisen. Damit tragen diese Länder die größte Verantwortung für die Prüfung von Asylanträgen.
Ergänzt wird das "Dublin-System" durch einheitliche Aufnahme- und Aufenthaltsstandards sowie Standards für die Anerkennung von Asylsuchenden, die zusammen das Interner Link: Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) bilden. Seine Ursprünge finden sich ebenfalls im Amsterdamer Vertrag von 1997, etabliert wurde es dann in zwei Rechtssetzungsphasen Anfang der 2000er Jahre und im Jahr 2013. In der Praxis hapert es jedoch an einer einheitlichen Umsetzung.
Das GEAS funktioniert aber nur so gut, wie nationale Behörden den Vereinbarungen folgen und Flüchtlinge sich der Logik dieses Systems beugen. Insbesondere seit den Umbrüchen des "Interner Link: Arabischen Frühlings" wurden die Vereinbarungen zunehmend missachtet. Auf große Fluchtbewegungen wie etwa infolge des Interner Link: syrischen Bürgerkriegs ist das Dublin-System zudem nicht ausgelegt. Das zeigte sich sehr deutlich im Interner Link: Jahr 2015, als eine Rekordzahl von 1,2 Millionen Menschen in den damals noch 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union Asyl beantragten. Das Dublin-System brach buchstäblich zusammen. Es kam zu umfangreichen Weiterwanderungen (Sekundärmigration), also jenen unkontrollierten Bewegungen von Asylsuchenden, die das System eigentlich unterbinden soll. Griechenland, in jenem Jahr Hauptersteinreiseland von Schutzsuchenden, ließ die Asylsuchenden oft ohne Registrierung ziehen. Deutschland als eines der Hauptzielländer setzte die Dublin-Regelungen für syrische Asylsuchende wiederum zwischenzeitlich ganz aus; es verzichtete auf eine Überstellung und machte von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch, führte die Asylverfahren also durch, obwohl dafür eigentlich ein anderer Staat zuständig gewesen wäre.
Seither diskutieren die EU-Staaten über eine Reform des GEAS inklusive des Dublin-Systems, die zu einer 'fairen Verantwortungsteilung' beitragen soll. Im Interner Link: September 2020 hat die EU-Kommission ein Interner Link: neues Migrations- und Asylpaket vorgestellt. Es sieht die Ablösung der Dublin-Verordnung durch ein sogenanntes Asyl- und Migrationsmanagement-System vor. Allerdings bleiben weiterhin vor allem die Ersteinreiseländer für die Prüfung von Asylanträgen zuständig. Lediglich in Zeiten eines 'Massenzustroms' wie 2015 können die anderen Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, ihnen Asylsuchende abzunehmen, sie operativ zu unterstützen oder Verantwortung für Rückführungen zu übernehmen. Erstmals aktiviert wurde im Frühjahr 2022 die auch als "Massenzustrom-Richtlinie" bezeichnete Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (2001/55/EG) zur Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine, die vor dem Interner Link: russischen Angriffskrieg flüchteten. Darüber hinaus bleiben die Reformbemühungen jedoch zäh: Nationale Eigeninteressen der Mitgliedstaaten und umstrittene Souveränitätsfragen haben bisher eine konsequente gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik verhindert.
Ausblick
Heute zählen 27 Staaten zum Schengen-Raum, in denen zusammen über 400 Mio. Einwohner/-innen leben (Stand: Januar 2023). In den Genuss dieser "offenen Grenzen" kommen zudem jährlich mehrere Millionen (2019: 15 Millionen) Drittstaatsangehörige, die ein Schengen-Visum für einen Kurzzeitaufenthalt erhalten. Auch wenn der grundsätzliche Verzicht auf Grenzkontrollen immer wieder aufgehoben wird (etwa bei politischen oder sportlichen Großereignissen, nach Terroranschlägen, im Rahmen der Interner Link: Covid-19-Pandemie oder angesichts großer Flüchtlingsbewegungen), bildet der Kontinent einen weiten Raum relativ freier Mobilität – zumindest für alle, die sich qua Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltsgenehmigung regulär darin aufhalten. Die Herausforderungen für die zukünftige Gestaltung der europäischen Migrations- und Asylpolitik sind vielfältig und reichen von Diskussionen um eine Fachkräftesicherung durch Zuwanderung über den Abbau von Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen (beispielsweise Rom/-nja) bis hin zu Fragen, wie die gemeinsame Asylpolitik einheitlicher gestaltet und umgesetzt werden kann – und trotz einer restriktiven Migrations- und auf Abschottung ausgerichteten Grenzpolitik der Zugang von Schutzbedürftigen zum Asylrecht gewährleistet werden kann. Trotz dieser Kontroversen: Die politische und wirtschaftliche Bedeutung eines Europas ohne (kontrollierte) Binnengrenzen lässt sich nicht hoch genug einschätzen.
Quellen / Literatur
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Bade 2002.
Der Europarat und die ursprünglich ebenfalls auf Europa ausgerichtete OECD sind daneben insbesondere für die Entwicklung europäischer Integrationspolitiken von Bedeutung. Berlinghoff 2015.
Hinweis zur Begriffsverwendung: Seit 1965 werden EWG, EKGS und die Europäische Atomgemeinschaft als Europäischen Gemeinschaften (EG) bezeichnet. 1992 wurde die EWG in EG umbenannt und ging in der Europäischen Union (EU) auf. Die Begriffe werden also zeitlich abhängig weitgehend synonym verwendet.
Rass 2010; Sanz Diaz 2010.
Berlinghoff 2013.
Berlinghoff 2009.
Pudlat 2011.
Siebold 2013. Neben den Benelux-Staaten verfügten auch Irland und Großbritannien sowie die skandinavischen Staaten über jeweils eigene Erfahrungen mit Freizügigkeit in gemeinsamen Arbeitsmärkten.
Oltmer 2021.
Hierfür gibt es eine eigene Externer Link: EU-Richtlinie, die jedoch bisher nicht angewendet wurde.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-02-02T00:00:00 | 2017-07-11T00:00:00 | 2023-02-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/252329/geschichte-der-europaeischen-migrationspolitik/ | Ob Migration in und nach Europa von den Nationalstaaten einzeln oder besser gemeinsam geregelt werden sollte, ist keine neue Frage. Dabei ist die Entwicklung einer europäischen Migrationspolitik eng mit der Geschichte der Europäischen Integration ver | [
"Europäische Migrationspolitik"
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Sind Sie irre genug? - Verdrehte politische Begriffe | Presse | bpb.de | Was könnte der "engste D Zug" mit dem "Grundgesetz" zu tun haben? Was verbirgt sich in "Kohls Tonne"? Und wie gesund ist wohl "Ewiges Rippchen"? 120 verdrehte Begriffe aus Politik und Gesellschaft wollen im neuen Kartenspiel "irre genug" der Bundeszentrale für politischen Bildung/bpb entwirrt werden – darunter Institutionen, Ereignisse, Gegenstände und Fachbegriffe. Der Spielverlauf besteht aus zwei Runden. Zunächst versuchen die Spieler, den gesuchten Begriff innerhalb der vorher vereinbarten Zeitspanne zu entschlüsseln. Der richtige Anfangsbuchstabe ist vorgegeben, notfalls hilft den Spielern ein Tipp auf die Sprünge. In der anschließenden Fragerunde müssen sie eine Frage zum jeweiligen Begriff richtig beantworten, um weitere Punkte zu sammeln. Dabei werden Fragen wie "Wer hat im Verteidigungsfall das Oberkommando über das deutsche Militär?" oder "Nach welchem Grundprinzip wird die Rentenversicherung finanziert?" besprochen. Die Fragen sollen die Spieler dazu einladen, sich mit gesellschaftspolitischen Themen zu beschäftigen. Zu allen Themen bietet die bpb ausführliche Hintergrundinformationen, u.a. auf der Homepage Externer Link: www.bpb.de. Das illustrierte Kartenspiel, das der preisgekrönte Spieleerfinder Bernhard Weber konzipiert hat, richtet sich an Menschen ab 12 Jahren und eignet sich sowohl für den Unterricht als auch für einen geselligen Spieleabend. "irre genug" ist für zwei bis fünf Spieler konzipiert und kann auch in Gruppen gespielt werden. Material: 60 illustrierte Spielkarten mit 120 Begriffen, 2 Anleitungskarten, 1 Impressumskarte, 1 Spielschachtel Bestellnummer: 1923 Bereitstellungspauschale: 1 Euro Bestellungen ab 1. April unter: www.bpb.de (Rubrik: "Thema im Unterricht") Gern senden wir Ihnen vorab ein Rezensionsexemplar sowie das Cover des Spiels als druckfähiges PDF zu (E-Mail Link: presse@bpb.de).
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"Unbekannt (5273)"
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Editorial | Reformen des Sozialstaates | bpb.de | Seit Jahren werden in Deutschland Reformen des Sozialstaates diskutiert, angekündigt und auch auf den Weg gebracht. In der Politik herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Systeme der sozialen Sicherung neu justiert werden müssen. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, wozu unter anderem die demographische Entwicklung, die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt sowie die ökonomische und politische Globalisierung zählen, haben sich grundlegend verändert. Gestritten wird darüber, wie die Reformen im Einzelnen aussehen müssen. Je nach politischem Standort werden die Reformvorhaben als zu weitgehend oder als zu zögerlich bewertet. Die einen befürchten den Abbau sozialer Leistungen und die Spaltung der Gesellschaft, den anderen gehen die ergriffenen Maßnahmen nicht weit genug. Reformpolitik ist ein risikoreiches Unterfangen für alle Akteure; Einschnitte in die Sozialsysteme werden von den Wählerinnen und Wählern eher bestraft als belohnt. Gerechtigkeitsvorstellungen, Zukunftsängste und ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis lassen das erforderliche Vertrauen für geplante bzw. eingeleitete Maßnahmen nur schwer aufkommen. Hinzu kommt, dass sich mit der Lösung von Problemen in der Regel neue auftun, die weitere Schritte erforderlich machen. "Hartz IV" oder der ebenfalls bereits unter der rot-grünen Bundesregierung begonnene Umbau des Renten- und des Gesundheitssystems sind Beispiele dafür. Es steht außer Zweifel, dass die bevorstehenden Reformschritte ungleich größer sein werden als bei früheren Sozialreformen. Ob die begonnene Reformpolitik durch die große Koalition konsequent und unter Wahrung der sozialen Symmetrie fortgesetzt werden wird, bleibt abzuwarten. | Article | Belwe, Katharina | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29899/editorial/ | Die Systeme der sozialen Sicherung müssen neu justiert - reformiert - werden. Je nach politischem Standort werden geplante Reformvorhaben als zu weitgehend oder als zu zögerlich bewertet. | [
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£¥€$ | 10. Festival // Reich – München 2018 | bpb.de | in englischer Sprache // ab 10. Klasse Inmitten kreisförmig angeordneter Spieltische sitzt die Börsenaufsicht. Sie notiert akribisch Gewinne und Verluste. Pro Tisch ernennt ein Croupier bzw. eine Croupière die jeweiligen Spielerinnen und Spieler zu Privatbankiers und fragt sie unverblümt nach vorhandenem Bargeld. Münzen und Scheine werden in bunte Jetons getauscht.
Die Produktion „£¥€$“ versetzt das Publikum in ein interaktives Casino der internationalen Finanzwirtschaft: Jeder Tisch steht für einen fiktiven Staat, dessen ökonomisches Kapital vom Publikum immer wieder neu erwürfelt wird. Wer setzt wie viel? Wessen Bank startet mit welchem Kapital? Wie lässt sich aus Nichts Gewinn machen? Es darf gezockt werden. Der Markt ist offen. Die Logik des Spiels folgt kapitalistischen Regeln und ist folglich auf Gewinnmaximierung aus. Was aber, wenn die Würfel nicht so fallen, wie sie sollten? Kein Problem: neues Spiel, neues Glück. Der Croupier oder die Croupière hat frisches Geld. Noch mal, noch mehr, mehr Kredite, mehr Schuldscheine, immer weiter und weiter, bis zum Crash. Welchen Tisch wird es treffen?
Das belgische Performance-Kollektiv Ontroerend Goed macht aus dem Theaterraum einen Handelsraum, in dem sich ökonomische Spekulationen in ein verführerisches Spiel mit und um Geld verwandeln. Die Komplexität der Transaktionen steigert sich Schritt für Schritt. Die Mechanismen der internationalen Finanzmärkte bleiben für Laien immer zumindest ansatzweise verstehbar. Dass die Gesetze der Geldwirtschaft in einer so spannenden wie unterhaltsamen Spielshow unmittelbar erfahrbar werden, hat die Jury von der Produktion überzeugt. Die Verbindung aus Performance und Casino funktioniert ungewöhnlich gut. Das liegt nicht zuletzt an den charmanten und sachkompetenten Croupiers, die nie um eine Antwort verlegen sind.
Sprachliche Stolpersteine – die Vorstellung findet auf Englisch statt – werden gemeinsam mit den Gästen locker umschifft. Da die Produktion hervorragend recherchiert ist, stecken im Titel Provokation und Mahnung zugleich. „£¥€$“ lässt sich nicht nur als Reihung von Währungen lesen – Pfund, Yen, Euro und Dollar. Sondern auch als „Lies“ (Lügen) oder als „Eyes“ (Augen). Entscheiden Sie selbst. Faites vos jeux!
Mit: Joeri Smet, Angelo Tijssens, Karolien De Bleser, Samir Veen, Hannah Boer, Aurélie Lannoy, Joeri Heegstra, Britt Bakker, Charlotte De Bruyne, Bastiaan Vandendriessche, Eleonore Van Godtsenhoven, Robin Keyaert, Max Wind, Sjef van Schie, Aaron J Gordon Regie: Alexander Devriendt Script: Joeri Smet, Angelo Tijssens, Karolien De Bleser, Alexander Devriendt & Cast Text: Joeri Smet Technische Unterstützung: Babette Poncelet, Iben Stalpaert, Joyce Rijpert (Hospitanz) Kostüme: Astrid Peeters Musik: Johannes Genard Bühne: vormen & Nick Mattan Dramaturgie: Koba Ryckewaert, Zach Hatch, Julie Behaegel (Hospitanz) Produktionsassistenz: Charlotte Nyota Bischop (Hospitanz) Produzent: David Bauwens Tourplanung: Karen Van Ginderachter Finanzdirektor: Wim Smet In Koproduktion mit: Vooruit Kunstencentrum, Ghent, Theatre Royal, Plymouth, Richard Jordan Productions Dank an: Toneelacademie, Maastricht, Khalid Koujili, Maria Dafneros, Miriam Matthys, Tamara Searle, Jeffrey Caen, Ruud Vanderheyden, Bram Billiet, Thomas Dhanens, Bo Marlijnen, Louiza Vande Woestyne Mit Unterstützung durch: Flämische Gemeinschaft, Provinz Ostflandern und Stadt Gent
Spielstätte:
Muffathalle
Vorstellungstermine:
Do., 8. November 2018, 18 Uhr Do., 8. November 2018, 21 Uhr Fr., 9. November 2018, 11 Uhr Fr., 9. November 2018, 17 Uhr
Publikumsgespräch am 9. November 2018:
Mit: Prof. Dr. Helge Peukert (Wirtschaftsexperte, Universität Siegen) Moderation und kuratiert von: Miriam Shabafrouz (bpb)
Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer:
Interner Link: Begleitmaterial "£¥€$" Externer Link: http://www.ontroerendgoed.be/ | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-01-30T00:00:00 | 2019-04-05T00:00:00 | 2023-01-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/pift2022/288896/psy-eu/ | In „£¥€$“ wird das Publikum in ein interaktives Casino der internationalen Finanzwirtschaft versetzt. Der Theaterraum wird zum Handelsraum, in dem sich ökonomische Spekulationen in ein verführerisches Spiel mit und um Geld verwandeln. Was aber, wenn | [
"Reich – Politik im Freien Theater"
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Unterrichtsmaterialien und Arbeitsblätter | Die 68er-Bewegung | bpb.de | "1968" - Lehrerinformation für die online - Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung
Interner Link: Hier finden Sie alle Unterrichtsmaterialien als PDF direkt zum Download und Einsatz im Unterricht (PDF-Version: 2.370 KB)
Konzeption der Unterrichtseinheit
Übersicht
Thema"1968" Zeit135 Min / 3 Unterrichtsstunden AdressatenSekundarstufe I, Klasse 9 oder 10 InhalteChronologie der späten 60er Jahre langfristige Folgen der Ereignisse von 1967/68 für die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland und der DDR aktuelle Kontroversen um "1968" und die Folgen ZieleKenntnis der wichtigsten Ereignisse, die zum Verständnis von "1968" beitragen Einordnung der 68er Protestbewegung im nationalen und internationalen Rahmen Verständnis für die besondere Situation der 68er-Protestbewegung in der DDR Kenntnis und Bewertung der Folgen der 68er-Protestbewegung Fähigkeit an der aktuellen Debatte um "1968" teilzunehmen MethodikPartnerarbeit, Gruppenarbeit, Unterrichtsgespräch MaterialienM1: Karikatur "Der Schatten der 68er" M2: Eine Nachkriegs-Biographie in der Bundesrepublik M3: Chronik der Ereignisse M4: "68" in der DDR – das andere "68" M5: Was bleibt? M6: "Flegeljahre verwöhnter Wohlstandskinder" – eine Abrechnung von Tilman Gerwien M7 / M8: Zusatzmaterialien für die Sek. II: "1968" in der deutschen Nachkriegsgeschichte
Ansatz
Der aktuelle Streit um die Einschätzung der 68er – Bewegung und ihrer Folgen für die deutsche Geschichte verlangt eine besondere Berücksichtigung des Themas im Unterricht.
Der Schwerpunkt der Unterrichtseinheit liegt auf der Beschäftigung mit dem historischen Phänomen "1968" und seiner Bewertung. Nicht weniger wichtig ist aber angesichts der derzeitigen Kontroversen die Auseinandersetzung mit den Folgen der sog. 68er-Bewegung.
Für die SI empfiehlt sich ein biografischer Ansatz.
Grundlage sind die Biografien zweier Jugendlicher aus den 60er Jahren, die eine aus der alten Bundesrepublik, die andere aus der DDR. Eine ausführliche Chronologie liefert weitere notwendige Informationen. Die Beschäftigung mit der Situation Gleichaltriger in den späten 60er Jahren erlaubt heutigen Jugendlichen einen leichteren Zugang zu der zu untersuchenden Phase der deutschen Geschichte. Gleichzeitig veranlasst er sie, über ihre eigene individuelle und gesellschaftliche Situation nachzudenken. Vieles, was heute selbstverständlich ist, ist in der Bundesrepublik seit den späten 60er Jahren erkämpft worden. Die so gewonnenen Freiheitsräume und Beteiligungschancen sucht man auch heute noch in vielen Teilen der Erde vergeblich.
Was in der Gesellschaft kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers behandelt und aus verschiednen Blickwinkeln betrachtet werden. Es gehört auch selbstverständlich zu einem modernen Geschichtsunterricht, dass die Ambivalenz der Ereignisse, ihrer Ergebnisse und Folgen aufgezeigt werden. Zu den Errungenschaften gehören auch die Schattenseiten!
Vorschläge zum Unterrichtsverlauf
1. Einstieg
a. Karikatur ( M1: "Der Schatten der 1968er") Beschreibe die wesentlichen Elemente der Karikatur und formuliere eine Überschriftb. Formulierung von Untersuchungsfragen für die Unterrichtseinheit (UE) (z. B.: Was ist in den 60er Jahren in Deutschland geschehen; welche Folgen hatten die 68er-Ereignisse?)
2. Erarbeitung 1
(Partnerarbeit)
a. Erarbeite anhand von Gerhards Biographie (M2), was seine Kindheit, seine Schulzeit und seine Studienzeit geprägt hat.b. Mache dir die Entwicklung Gerhards deutlichc. Vergleiche Gerhards Erfahrungen mit deinen eigenen.
3. Erarbeitung 2
(Gruppenarbeit)
a. Vergleiche die Ereignisse (M3) mit Gerhards Biografie (M2) (Raster!). Wo lassen sich Übereinstimmungen feststellen.b. Untersuche die "Chronik der Ereignisse"(M3) auf weitere Aspekte, die in Gerhards Biografie nicht angesprochen sind.c. Konrad lebt in der DDR (M4). Wie erfährt er die 60er Jahre?d. Vergleiche Konrads Erfahrungen (M4) mit denen Gerhards (M2). Wo kannst du Ähnlichkeiten, wo Veränderungen feststellen?
4. Erarbeitung 3
(Partnerarbeit)
a. In M 5 werden die Veränderungen in Deutschland seit den 60er Jahren in einem Schaubild vorgestellt. Welche Veränderungen werden deutlich?b. Der Autor von M6 übt Kritik an den 68ern. Fasse die Kritikpunkte des Autors zusammen.c. Vergleiche die Aussage der Karikatur (M1) mit dieser Kritik (M6)
5. Plenum
(Abschlussdiskussion: Was ist von "1968" geblieben?)
Überprüft an euch selbst und an eurem Umfeld, was "1968" für euch und die Gesellschaft, in der ihr lebt, gebracht hat.
Vorlage
GerhardKonrad Internationale EreignisseEreignisse in DeutschlandForderung 1965 1966 1967 1968 1969
Zusatzmaterialien als Impulse für die Schlussdiskussion
Rudi-Dutschke-Strasse in Berlin (© Oleg Stepanov/bpb)
Ende 2004 - zum 25. Todestag Rudi Dutschkes - wurde eine Bürgerinitiative in Berlin zur Umbenennug der Kochstraße zur "Rudi-Dutschke-Straße" angestoßen. Diese Idee löste jedoch eine breite öffentliche Diskussion aus, da diese Straße direkt vor dem Axel-Springer-Verlagshaus und der "Axel-Springer-Straße" mündet. Wie waren wohl die Argumente der Pro- und Contraseite dieser Diskussion?
Interner Link: Arbeitsblatt als PDF-Version (2.370 KB)Text: Harald Schneider und Hans Woidt
Vorüberlegungen zum Thema
Die Ereignisse der Jahre 1967/68 werden seit den 80er Jahren unter dem Kürzel "1968" zusammengefasst, die Beteiligten nennt man seither die "Achtundsechziger". Kaum ein Phänomen der deutschen Nachkriegsgeschichte ist so umstritten und hat so unterschiedliche Deutungen erfahren. Für die einen bedeutet "1968" "Freiheitsrevolte", "Fundamentalliberalisierung der westdeutschen Gesellschaft", "Aufbruch zur einzigen Reformära der Bundesrepublik", für die anderen, "Karneval", "Tumult", "Massenpsychose", "spätpubertäre Unmutsbezeugungen", "romantischer Rückfall" und "linker Faschismus". Der Deutungskampf um "1968" wird seit 40 Jahren hoch emotional geführt. Spätestens seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks überwiegen die negativen Urteile. Die Linke als historisches Projekt galt fortan für viele als erledigt und damit auch die 68er- Bewegung. Viele fühlen sich gerade im Jubiläumsjahr 2008 veranlasst, mit ihr abzurechnen.
Ausgehend von den USA breitete sich in den 60er Jahren eine Protestbewegung über die ganze Welt aus. In Deutschland fand sie einen ersten Höhepunkt 1967. Nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni kam es zu Demonstrationen und Gewalttätigkeiten in den großen Städten wie Berlin und Frankfurt und dauerte in dieser Intensität bis Herbst 1968.
Die 68er – Bewegung war keineswegs homogen. Die vielen kaum zu entflechtenden Strömungen geben ein verwirrendes Bild. Alle einte jedoch die Suche nach Neuorientierung, nach Verhältnissen, die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ermöglichen würden. Die dunklen Seiten der 68er-Bewegung dürfen nicht ausgeblendet werden, dazu gehören Gewalt, Intoleranz und ideologische Verhärtung. Das Fanatische, Unbedingte, Irrationale, das heute der 68er-Bewegung zugeschrieben wird, gilt aber eher für den harten Kern der Bewegung und seine Chefideologen, die die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und die Abschaffung des kapitalistischen Wirtschaftssystems forderten – auch unter Anwendung von Gewalt: "Macht kaputt, was Euch kaputt macht!" "1968" allein hat nicht alles verändert. Viel zu viel war bereits seit Jahren im Gang. Aber diesen Modernisierungsprozess haben die 68er vorangetrieben, so dass nach 68 fast nichts mehr so wie vorher war. "Und in diesem Sinn war "68" überall."
Die politische Wende von 1969 und die Reformpolitik der 70er Jahre wären ohne die 68er Bewegung nicht möglich gewesen.Ein tiefer Mentalitätswandel führte zu neuen Verhaltensweisen in vielen Bereichen. Besonders eindrücklich im Bereich der Sexualität. Neue Werte wie Gleichheit, Kollektivität, Mitbestimmung oder soziale Gerechtigkeit standen nun in den Vordergrund, alte bürgerliche Werte wie Pflicht, Treue, Ehre, Gehorsam oder Vaterlandsliebe wurden in Frage gestellt.Ein neues Politikverständnis setzte sich im Gefolge der Politisierung in den Jahren 1967/68 in Deutschland durch. Protest als Element des Politischen war nun allgemein akzeptiert. Die Bundesrepublik wurde in der Folgezeit ein Land der Bürgerinitiativen. An der "Basis" der Parteien, in Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden wurde mehr Mitsprache, mehr Transparenz und Begründungspflicht eingefordert, die Mitbestimmung in der Wirtschaft wurde ausgeweitet.Sehr schnell organisierte sich eine Frauenbewegung, andere soziale Gruppen folgten und forderten ihre Beteiligungsechte ein.
Eine "68er-Bewegung" hat es in der DDR nicht in der Öffentlichkeit gegeben. Das SED-System konnte gestützt auf die Rote Armee und mit Hilfe eines starken Repressionsapparats jegliche Opposition bis 1989 im Keim ersticken. Vereinzeltes Aufbegehren im Zusammenhang mit dem Prager Frühling wurde schnell unterdrückt und konnte sich zumeist nur im Privaten abspielen.
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M1: Karikatur "Der Schatten der 68er"
Rudi-Dutschke-Strasse in Berlin (© Oleg Stepanov/bpb)
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M2: Eine Nachkriegs-Biographie in der Bundesrepublik
Wahlplakat der CDU (© Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Archiv für Christlich-Demokratische Politik.)
Gerhard wurde 1945 geboren und wächst in einer kleinbürgerlichen Familie auf, Vater Mutter, eine Schwester und er. Sein Vater ist 1949 aus dem Krieg heimgekommen. Er ist Finanzbeamter und versucht, dass die Familie wieder finanziell über die Runden kommt. "Wiederaufbau" hieß die Losung, "alles wieder in Ordnung bringen." Er arbeitete viel und am Abend will er seine Ruhe haben, besonders wenn es über die Nazi-Zeit geht. In der Familie hat er das Sagen und bestimmt auch, dass Mutter nicht arbeiten gehen darf, sie soll daheim die Kinder betreuen.
Der "Tag der Heimat" ist in Gerhards Familie sehr wichtig. Dabei wird der "guten alten Zeit" gedacht – vor der Nazi-Zeit. Wenn der Vater von Ordnung spricht, so schwingt immer ein wenig "Preußisches" mit: Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit. "Du könntest dir mal wieder die Haare schneiden lassen!", wie oft musste er das hören?
Zur moralischen "Sauberkeit" gehörte auch, dass über Sexualität überhaupt nicht gesprochen wird. Sie findet offiziell einfach nicht statt. Gerhard traut sich noch nicht einmal danach zu fragen. Am Sonntag besucht er die Kinder-, später die Erwachsenenkirche.
Attraktion in der Milchbar: die Musicbox spielt amerikanische Musik. (© AP)
"Aus dem Jungen soll mal etwas besseres werden!", so besteht Gerhard 1955 die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium. In seiner Klasse ist kein einziges Arbeiterkind. Neben schulischen und familiären Pflichten, die u.a. aus Schuhe putzen, Geschirr abtrocknen, die Ölofen befüllen und aus Aufpassen auf die kleine Schwester besteht, bleibt Freizeit. Gerhard besucht die Jungschar, er betreibt im Sommer Leichtathletik, im Winter Turnen. Die restliche Zeit vertreibt er sich mit den Klassenkameraden in der Milchbar, die als besondere Attraktion eine Musicbox betreibt, die neben den deutschen Schlagern auch einige amerikanische Titel spielt. Musik wird immer wichtiger für Gerhard.
Ein ganz wichtiges Ereignis im Leben von Gerhard ist 1962 die erste Tanzstunde, doch der Weg, mit dem Mädchen seiner Wahl eine weitere Verabredung zu treffen ist kompliziert: nur im Anzug ist er korrekt bekleidet, er darf die "Angebetete" heimbegleiten, aber nicht mit aufs Zimmer. Für den gemeinsamen Abschlussball muss er sich bei den Eltern vorstellen – mit Anzug, Krawatte und Blumen für die Mutter.
Ordnung und Sauberkeit – Versuche die alte Ordnung zu bewahren.
(© picture-alliance/dpa)
Vom Schüleraustausch in England hat Gerhard neue Musik mitgebracht: von den langhaarigen Beatles und den "bad boys" der Rockmusik, den Rolling Stones, mit ihren aufrührerischen Texten. Zu Hause kommt es dadurch zum großen Streit. "Harte" Beats und lange Haare entsprechen nicht den Vorstellungen seiner Eltern. Schnell wird aus dem Kampf um die Lautstärke der Musik viel mehr. Es geht um jeden Zentimeter Haarlänge. Was seine Eltern ungehörig und schmutzig finden, findet er erstrebenswert. Eine ganz neue Welt tut sich auf.
1965 besteht Gerhard das Abitur, gefolgt vom Wehrdienst. Kaum einer in der Klasse verweigert und wenn, dann geht er nach Berlin oder studiert Theologie. 1967 beginnt Gerhard in Tübingen das Jura-Studium.
Quellentext§ 180 Kuppelei
(1) Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder durch Gewährung oder Beschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet, wird wegen Kuppelei mit Gefängnis von nicht unter einem Monate bestraft; auch kann zugleich auf Geldstrafe, auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden. (Fassung des StGB vom 25. Juni 1969)
Er nimmt sich ein Zimmer bei Frau Pohl, einer älteren Dame mit klaren Regeln: "Dass Sie´s gleich wissen, Damenbesuch nur bis 22:00 Uhr, dann muss das Fräulein heim!" Noch existiert der Kuppeleiparagraf, der das voreheliche bzw. außereheliche Zusammensein als Unzucht unter Strafe stellt. Von gleichgeschlechtlicher Liebe wird hinter vorgehaltener Hand geflüstert, gilt als unmoralisch, wird als gefährlich dargestellt und in § 175 StGB ebenfalls unter Strafe gestellt, die sich bis zu zehn Jahren Zuchthaus ausdehnen kann.
Quellentext§ 175 Unzucht zwischen Männern
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird bestraft: 1. ein Mann über achtzehn Jahre, der mit einem anderen Mann unter einundzwanzig Jahren Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen läßt, 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Missbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, 3. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern zur Unzucht mißbrauchen lässt oder sich dazu anbietet, (2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist der Versuch strafbar. (3) bei allen Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht 21 Jahre alt war, kann das Gericht von Strafe absehen. (Fassung des StGB vom 25. Juni 1969)
Proteste von Schülern und Studenten, 1968. (© AP)
In den Straßen von Tübingen hört Gerhard Demonstranten und ihre Sprechchöre: "Willst du Krieg im Frieden führen, musst den Notstand du probieren!" Im Bundestag stehen die heftig umstrittenen Notstandsgesetze zur Abstimmung, die Studenten gehen auf die Straße.Noch immer herrscht Krieg in Vietnam. Seit 1963 sehen sich die USA einen immer intensiver geführten Krieg in Südostasien gegenüber, dessen moralische Berechtigung bei der amerikanischen und europäischen Jugend in Frage gestellt wird. Gerhard besucht das erste Mal in seinem Leben eine politische Veranstaltung, organisiert von Kommilitonen. Da plötzlich bricht die Nachricht in die Tübinger Idylle ein: "Benno Ohnsorg während einer Demonstration gegen den Schah von Polizisten mit Kopfschuss getötet."
Wahlplakat der CDU (© Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Archiv für Christlich-Demokratische Politik.)
Attraktion in der Milchbar: die Musicbox spielt amerikanische Musik. (© AP)
Ordnung und Sauberkeit – Versuche die alte Ordnung zu bewahren.
(© picture-alliance/dpa)
(1) Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder durch Gewährung oder Beschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet, wird wegen Kuppelei mit Gefängnis von nicht unter einem Monate bestraft; auch kann zugleich auf Geldstrafe, auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden. (Fassung des StGB vom 25. Juni 1969)
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird bestraft: 1. ein Mann über achtzehn Jahre, der mit einem anderen Mann unter einundzwanzig Jahren Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen läßt, 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Missbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, 3. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern zur Unzucht mißbrauchen lässt oder sich dazu anbietet, (2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist der Versuch strafbar. (3) bei allen Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht 21 Jahre alt war, kann das Gericht von Strafe absehen. (Fassung des StGB vom 25. Juni 1969)
Proteste von Schülern und Studenten, 1968. (© AP)
Das Bild des Sterbenden geht durch die Medien. Es kommt zu ersten Straßenschlachten zwischen Studierenden und Polizei. Gerhard begreift, dass hier etwas Ungeheuerliches geschehen ist, er mischt sich ein und interessiert sich auf einmal für Politik. Er besucht Protestveranstaltungen, er boykottiert die verstaubten Vorlesungen und nimmt lieber an von Studenten selbst organisierten Teach-ins teil.
Gerhard wird ein politischer Mensch.
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M3: Chronik der Ereignisse 1964-1966
08.12.1964
Nach langen Protesten der Studenten hebt der Universitätssenat im kalifornischen Berkley das Verbot der politischen Reden auf dem Campus auf.
Musik und Protest gehörten zusammen: Folk-Sängerin Joan Baez wurde bei Vietnam-Protesten in Oakland, Kalifornien am 16. Oktober 1967 festgenommen. (© AP)
17.04.1965
Marsch auf Washington DC, erste große Studenten-demonstration gegen den Vietnamkrieg.
22.06.1966
3.000 Studenten inszenieren nach amerikanischem Vorbild erstmals an der Freien Universität (FU) Berlin ein "Sit-in". Der Sit-in richtet sich gegen Pläne des Senats zur Zwangsexmatrikulation von Langzeitstudenten.
30.10.1966
Kongress "Notstand der Demokratie" in Frankfurt/Main
01.12.1966
Bildung der "Großen Koalition" in Bonn
Die Kommune I wollte die "Revolution des Alltags" und mit ihren Aktionen wurden sie bundesweit bekannt. Bild: Birke Brunker
1967
01.01.1967
Gründung der Kommune I in West-Berlin
02.06.1967
Beim Besuch des Schahs von Persien in Berlin kommt es zu Protestaktionen. Dabei wird der Student Benno Ohnsorg von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen.
26.09.1967
Heinrich Albertz, Regierender Bürgermeister von Berlin, tritt im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 2. Juni 1967 zurück.
14.10.1967
Studenten demonstrieren auf der Frankfurter Buchmesse gegen Stände des Springer-Konzerns und das griechische Obristenregime.
01.11.1967
Im Audimax der FU Berlin rufen Studenten die "Freie Universität" aus.
09.11.1967
Bei der feierlichen Rektoratsübergabe an der Universität Hamburg kommt es zum Protest gegen die sogenannte "Ordinarienuniversität"("Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren")
1968
SDS-Sprecher Rudi Dutschke auf der "Internationalen Vietnamkonferenz". (© bpk/Klaus Lehnartz)
17./18.02.1968
Internationaler Vietnam-Kongress an der Technischen Universität Berlin, 12.000 Vietnamgegner demonstrieren in der Berliner Innenstadt.
02./03.04.1968
Nächtliche Brandanschläge auf zwei Kaufhäuser in Frankfurt: Andreas Bader, Thorwald Proll, Horst Söhnlein und Gudrun Ensslin werden wegen Verdachts der Brandstiftung festgenommen.
04.04.1968
Der schwarze Bürgerrechtler und Nobel-Preisträger Martin Luther King wird in Memphis/ Tennessee ermordet.
Elf Jahre später stirbt Rudi Dutschke an den Spätfolgen dieses Anschlages. (© AP)
11.04.1968
Studentenführer Rudi Dutschke wird bei einem Mordanschlag in West-Berlin schwer verletzt. Das Attentat führt in vielen Teilen der Bundesrepublik zu Demonstrationen und teilweise blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei - in München sterben zwei Menschen.
30.04.1968
Sondersitzung des Deutschen Bundestages wegen der Osterunruhen.
Gegner der Notstandsgesetzgebung unternehmen einen Sternmarsch auf Bonn mit 60.000 Teilnehmern. (© bpk / Kurt Rohwedder)
11.05.1968
Gegner der Notstandsgesetzgebung unternehmen einen Sternmarsch auf Bonn mit 60.000 Teilnehmern. Höhepunkt der Pariser Maiunruhen: Straßenschlachten im Quartier Latin; die großen Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf, mit dem die Studentenbewegung unterstützt werden soll.
13.05.1968
Auf einer Großdemonstration ziehen eine Million Menschen durch Paris.
30.05.1968
Notstandsverfassung wird verabschiedet.
Truppen des Warschauer Pakts beenden gewaltsam den "Sozialismus mit menschlichem Anlitz". (© AP)
21.08.1968
Der Reformkurs von Alexander Dubçek, seit Januar Erster Sekretär der Kommunistischen Partei, hatte zu liberalen Reformen geführt. (Ziel: "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"). Am 21. 8. marschieren Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein und schlagen den "Prager Frühling" nieder. Proteste, die sich in der DDR dagegen erhoben (z.B. spontane Demonstrationen, Flugblattaktionen von Jugendlichen) wurden vom SED-Regime erfolgreich unterdrückt.
04.11.1968
In West-Berlin kommt es bei einer Demonstration zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der Polizei; rund 1.000 Studenten demonstrieren für den APO-Anwalt Horst Mahler, dem Berufsverbot droht.
1969
Gustav Heinemann. (© Bundespresseamt)
05.03.1969
Gustav Heinemann (SPD) wird zum Bundespräsidenten gewählt.
15.-17.08.1969 Rockfestival in Woodstock: Erster Höhepunkt der Hippie-Bewegung.
21.10.1969
Willy Brandt wird zum Bundeskanzler gewählt; Bildung der sozial-liberalen Koalition.
19.12.1969
Der Film Easy Rider, ein Kultfilm der 68er Generation, wird uraufgeführt.
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M4: "68" in der DDR – das andere "68"
Jugendliche vertreiben sich ihre freie Zeit in Wittenberge. Foto: Norbert Vogel.
Eine 68er Bewegung, wie in Frankreich und Westdeutschland, hat es in der DDR nicht gegeben. Die Probleme der Jugend hier waren nicht unsere Probleme. Die sexuelle Aufklärung fand am FKK statt. Homosexuelle Erwachsene waren schon lange nicht mehr kriminalisiert. Die Vietnam-Demonstrationen waren staatliche Massenkundgebungen. Alt-Nazis hatten keine führende Position. Wen hätte Beate Klarsfeld ohrfeigen sollen? Die DDR war entsprechend ihrer Klassentheorie kein Nachfolgestaat des 3. Reiches, so hatten wir auch kein Schuldgefühl. - Aber das Nachfragen gegenüber der älteren Generation "trau keinem über dreißig", das Aufmüpfige in der Gedächtniskirche, gefielen uns. Und wir waren stolz, dass Rudi Dutschke aus der DDR kam, einer von uns war.
Und doch haben uns die 60er Jahre und besonders 68 entscheidend, aber eben ganz anders geprägt.
Ich bin Jahrgang 48, wachse in Merseburg zwischen den Chemiegiganten Leuna und Buna mit Kindern aus dem Arbeitermilieu und der "Schicht der Intelligenz" auf, bin als Pfarrerssohn im Klassenbuch nicht zuzuordnen und werde deshalb unter "Sonstige" geführt. Wir spüren 1963 Toleranz und Verständnis. Die Jugend nicht gängeln, versprach Ulbricht im Jugendkommunique und tatsächlich können wir uns im Beatschuppen "Strandkorb" so ausgelassen und verrückt geben, wie die Jugendlichen drüben. Wir begeistern uns für Kennedy und Martin Luther King, für Menschen mit Visionen und sind erschüttert, als sie ermordet werden.
Ende 1965 aber wird dieser Prozess abrupt beendet. Westjeans und Blauhemd vertragen sich nicht mehr. Kritische DEFA-Filme (Deutsche-Film AG, volkseigenes Filmstudio der DDR) verschwinden vom Spielplan. Die Beatgruppen werden verboten, auch unsere Kultband, die "Butlers". Und plötzlich sind wir "Gammler". Tausende Jugendliche gehen dagegen auf die Straße, so in Leipzig. Mit knüppelnder Polizei, Wasserwerfern hat keiner gerechnet, auch nicht mit den Konsequenzen. Schüler werden von der Oberschule verwiesen, im Betrieb die Eltern wegen ihres Versagens an den Pranger gestellt und müssen öffentliche Selbstkritik üben, diese schlimmste Erniedrigung ertragen, um weitere staatliche Maßnahmen zu verhindern. Duckmäusertum wird gefordert, getarnt als "fester Klassenstandpunkt".
Die Musik wird zum Propagandainstrument. Statt Beatgruppen jetzt die FDJ- gesteuerte Singebewegung. Wir versuchen, uns zu entziehen, finden Freiräume. Diskutieren, feiern mit "unserer" Musik und organisieren die Sommerferien auf Hiddensee außerhalb staatlicher Aufsicht.
Einzelne, auch ich, ändern allmählich ihr Äußeres. Meine Haare werden länger. Zu den Jeans trage ich halbhohe Wandertreter, eine Kutte mit "make love not war"-Button und "eines Studenten an einer sozialistischen Uni unwürdig", eine John-Lennon-Brille.
So kommt das Jahr '68. Bei uns die Abstimmung zur DDR-Verfassung und im Vorfeld Klartext: "wer mit ja stimmt, kann das offen zeigen, wer in die Kabine geht, braucht nicht mehr an der Uni zu erscheinen." In der CSSR (Tschechoslowakische Sozialistische Republik) endlich Visionen vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz, so bildhaft und begeisternd formuliert mit "Prager Frühling" und durch den schüchtern wirkenden Sympathieträger Dubçek verkörpert. Wir suchen Infos bei der Prager Botschaft in Berlin und täglich aus den Westmedien. Wir träumen die Prager Träume und hoffen so inständig, dass es gelingen möge. Schließlich stehen dort nicht 400.000 Russen, wie bei uns. Erstmals bete ich für eine Obrigkeit.
Demonstration am 04.11.1989 am Palast der Republik in Ost-Berlin, DDR. Foto: Gerhard Gäbler, Leipzig
"Die Russen sind einmarschiert", mit diesem Satz werde ich geweckt. Ich heule vor Wut, bin wie gelähmt und hören von vereinzelten Protesten. Sehe mal ein Flugblatt auch Parolen an Wänden, Mauern, und ein rotes Hakenkreuz quer über die Straße gemalt. Kinder von SED-Bonzen hätten in Berlin demonstriert, das sickert durch und erfüllt uns mit Schadenfreude. Viele Gemeinden sprechen ihre Pfarrer an. Selbst Nichtchristen erwarten jetzt ein Wort der Kirchen. Doch die vorgesehene Abkündigung erfolgt nicht. Der Staat ist informiert, droht, und die ev. Kirchenleitung knickt ein.
'68 hat in uns ein Grundmisstrauen gegenüber den Mächtigen erzeugt, dass sich immer tiefer frisst. Zu Schul-/Semesterbeginn wird die "Hilfe der Bruderländer" gerühmt. Eisiges Schweigen, denn jetzt können wir uns die Folgen drastisch ausmalen. Verhaftungen soll es in Betrieben bereits gegeben haben. Totenstille, nur die heimliche Bewunderung für den Widerstand der Tschechen/Slowaken bleibt. Erst Monate später finden wir unsere Sprache wieder, und argumentieren massiv gegen die propagierte Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Glauben. Wir erwarten nichts mehr von der DDR. Unsere Blicke gehen nach draußen. Hoffnung knüpft sich an Willy Brandt, KSZE und mit Gorbatschow bekommt die Losung "von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen" reale Bedeutung. 1989 rufen die Menschen in Berlin "Gorbi, hilf uns".
Konrad Trinius, ausgereist aus der DDR 1984
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M5: Was bleibt?
1968 mussten Eltern selbst 'Kinderläden' organisieren, um einen Kindergarten für ihre Kinder zu schaffen. – Heute hat jedes Kind einen gesetzlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz.
Filmplakat zum Sexualaufklärungsfilm von Oswalt Kolle 1968. Kolle setzte sich für einen offenen Umgang und einer Ent-Tabuisierung der Sexualität ein – sprach über Verhütung, Sex und Praktiken.
Immer mehr Menschen wollen seit Anfang der siebziger Jahre in der Politik mitreden. So wächst seither die Zahl von Bürgerinitiativen auf lokaler und regionaler Ebene, um Missstände und Fehlplanungen zu verhindern oder zu beseitigen.
Foto: stern/Gruner + Jahr
Die "Selbstbezichtigungskampagne" rückt das Thema § 218 (Verbot der Abtreibung) ins Zentrum des öffentlichen Interesses. 1971
1968 wurde Homosexualität von der offiziellen Diffamierung als 'widernatürliche Unzucht' und von gesetzlicher Strafverfolgung befreit. – 2001 öffnet eine Bestimmung allen Homosexuellen den Weg zum Standesamt.
Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten am 22. Oktober 1983. 300.000 Menschen demonstrieren gegen den NATO-Doppelbeschluss – die Geburtsstunde der deutschen Friedensbewegung.
Die klassische Familie mit Vater, Mutter, zwei Kinder ist nicht mehr einziges Familienmodell: Patchwork-Familien, Alleinerziehende und Eltern ohne Trauschein sind keine Randerscheinungen mehr.
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M6: "Flegeljahre verwöhnter Wohlstandskinder" – eine Abrechnung von Tilman Gerwien
Was ist mit Eurer eigenen selbstverliebten Haltlosigkeit?
Die Kinder der 68er üben Kritik. Foto: Günter Zint
Da sind wir bei der ersten Merkwürdigkeit: Keine Generation hat über die eigenen Väter und Mütter mit solch gnadenloser Härte gerichtet wie Ihr. Ganz selbstverständlich habt Ihr das Recht beansprucht, den letzten kleinen Nazi-Mitläufer an die Wand zu nageln. Aber was Eure eigene Vergangenheit betrifft, verbittet ihr Euch jede Einmischung. Nur 68er dürfen über 68er schreiben, reden, diskutieren. Jüngere haben zu huldigen – oder zu schweigen. Vergangenheitsbewältigung? Gibt es für Euch nur als Begeisterung für Euch selbst.
Mit glänzenden Augen sitzt Ihr in Talk-Shows und TV-Dokus und plappert von Eurer Revolte, lasst Euch als zweite Staatsgründer feiern, die Adenauers Mief weggepustet haben. Ich kann das tatsächlich nicht richtig nachvollziehen.
Hört endlich auf mit Euren falschen Heldengeschichten.
Dann die Revolte – was für eine Revolte? Die große Bildungsexpansion begann schon in den frühen 60ern. Miniröcke, Pille und Stones – das war alles vor Euch da. Ihr habt Türen eingerannt, die längst offen standen. Ihr habt das Land durchlüftet? Mit den unsortierten Dutschke-Traktaten, bei deren Lektüre Marx im Grab rotieren würde? Ihr habt das Land sexuell befreit? Mit den lächerlichen Nacktärschen der Kommune 1, in der – wie es sich gehört – nur das Alpha-Männchen die schöne Uschi O. begatten durfte? Kann es sein, dass Ihr Euer höchst durchschnittliches und gar nicht so abenteuerliches Leben nachträglich ein wenig veredeln wollt?
Denn viele haben es sich in genau jenem Schweinesystem gemütlich gemacht, das sie zuvor mit Verachtung gestraft hatten...
Nein, Eure Abenteuer waren keine; sie waren Flegeljahre verwöhnter Wohlstandskinder – und so billig zu haben in einer Zeit von Vollbeschäftigung und fetten Renten.
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Tilmann Gerwien ist Stern-Reporter im Berliner Büro. Sein Stern-Artikel stammt vom 5. Dezember 2007
M7 / M8: Zusatzmaterialien für die Sek. II: "1968" in der deutschen Nachkriegsgeschichte
M7: Kurt Sontheimer: Eine Generation der Gescheiterten
"Ich behaupte hingegen, dass die Studentenrevolte, so sehr sie die träge gewordene deutsche Demokratie der Post - Adenauer - Ära herausgefordert und auch in ihrer Entwicklung beeinflusst hat, der Bundesrepublik Deutschland per saldo mehr Negatives als positives vermittelt hat. Es ist nur dann möglich, von einem "Vermächtnis der 68er-Generation zu sprechen (...), wenn man die problematischen Auswirkungen der Revolte weitgehend ausblendet.
Natürlich gehört die Studentenrevolte zur Geschichte der Bundesrepublik, aber doch nicht zu ihrer Erfolgsgeschichte. Wenn diese Geschichte ? auch dank der Wende von 1982 bis 1989 - einigermaßen erfolgreich verlief, so doch gewiß nicht wegen, sondern trotz der 68er Generation. Sie hat sich unbrauchbaren politischen Ideen verschrieben. Sie war politisch zum Teil realitätsblind. Sie hat das Thema und die Praxis der Gewalt in die Geschichte der Bundesrepublik eingebracht. Sie hat, verlängert in den neuen sozialen Bewegungen, einen einseitigen ideologischen, gelegentlich freilich auch phantasievollen Kampfstil verbreitet; auf ihn lässt sich nach Bedarf immer wieder zurückgreifen, mit Fairneß und Toleranz hat er jedoch nichts zu tun. Sie hat Autoritäten zerfleddert, aber nichts Neues an ihre Stelle setzen können. Sie hat alle Tabus, ohne die eine humane Gesellschaft nicht auskommen kann, zur Verletzung freigegeben.
Es ist darum sehr die Frage, ob die 68er außer einem naiven Pazifismus wirklich Wesentliches zur Humanisierung und Zivilisierung unserer Gesellschaft beigetragen haben. Ich befürchte das Gegenteil."
in: DIE ZEIT Nr.15 vom 9.4.1993
M8: Wolfgang Kraushaar: "1968 ? das Jahr, das alles verändert hat."
"Das Jahr 1968 hat in der Bundesrepublik alles verändert (...). Auch wenn die APO in ihren unmittelbaren politischen Zielsetzungen fast überall gescheitert ist, so hat sie die Einstellungen, Haltungen und Mentalitäten doch nachhaltig verändert (...). Politisches Handeln ist nicht länger mehr obrigkeitsstaatlich geprägt und auf Regierungen, Parlamente und Parteien beschränkt. Selbstinitiative, Mündigkeit, Zivilcourage, Nonkonformismus und kollektive Verantwortlichkeit haben einen unverzichtbaren Stellenwert erhalten."
Am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit, hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker erklärt: "Die Jugendrevolte am Ende der sechziger Jahre trug allen Verwundungen zum Trotz zu einer Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft bei."
in: Wolfgang Kraushaar, "1968 ? das Jahr, das alles verändert hat", 1998, S. 188f. 3 weitere Zitate:
Musik und Protest gehörten zusammen: Folk-Sängerin Joan Baez wurde bei Vietnam-Protesten in Oakland, Kalifornien am 16. Oktober 1967 festgenommen. (© AP)
Die Kommune I wollte die "Revolution des Alltags" und mit ihren Aktionen wurden sie bundesweit bekannt. Bild: Birke Brunker
SDS-Sprecher Rudi Dutschke auf der "Internationalen Vietnamkonferenz". (© bpk/Klaus Lehnartz)
Elf Jahre später stirbt Rudi Dutschke an den Spätfolgen dieses Anschlages. (© AP)
Gegner der Notstandsgesetzgebung unternehmen einen Sternmarsch auf Bonn mit 60.000 Teilnehmern. (© bpk / Kurt Rohwedder)
Truppen des Warschauer Pakts beenden gewaltsam den "Sozialismus mit menschlichem Anlitz". (© AP)
Gustav Heinemann. (© Bundespresseamt)
Jugendliche vertreiben sich ihre freie Zeit in Wittenberge. Foto: Norbert Vogel.
Demonstration am 04.11.1989 am Palast der Republik in Ost-Berlin, DDR. Foto: Gerhard Gäbler, Leipzig
Foto: stern/Gruner + Jahr
Die Kinder der 68er üben Kritik. Foto: Günter Zint
Zitat
1968 war nicht das Jahr, das alles verändert hat, dazu war viel zu viel bereits im Gang. Aber nach "68" war fast nichts mehr so wie vorher. Und in diesem Sinn war "68" überall.
N.N.
Zitat
Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848.
Hannah Arendt an Karl und Gertrud Jaspers, 26. Juni 1968
Zitat
In den letzten Jahren haben Manche in diesem Lande befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube das heute weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.
Willy Brandt, Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-06T00:00:00 | 2012-01-08T00:00:00 | 2022-01-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/68er-bewegung/52137/unterrichtsmaterialien-und-arbeitsblaetter/ | Kaum ein Phänomen der deutschen Nachkriegsgeschichte ist so umstritten und hat so unterschiedliche Deutungen erfahren wie die Ereignisse der Jahre 1967/68. Die Unterrichtseinheit für die Sek. I beschäftigt sich mit dem historischen Phänomen "1968" un | [
"68",
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Dokumentation: Chronologie: Der Abschuss von Flug MH-17 | Ukraine-Analysen | bpb.de | Datum Ereignis April 2014 In Teilen der Gebiete Luhansk und Donezk in der Ostukraine beginnt der bewaffnete Konflikt zwischen Einheiten der ukrainischen Regierung und den von Russland unterstützten Rebellen. 06.06.2014 Bei Slowjansk wird ein mit Hilfsgütern beladenes ukrainisches Militärflugzeug des Modells An-26 abgeschossen. Ein Mitglied der Besatzung kommt ums Leben, zwei weitere werden verletzt. 14.06.2014 Bei Luhansk schießen die Rebellen ein Flugzeug des Modells Il-76 der ukrainischen Armee ab. Alle 49 Insassen, darunter neun Besatzungsmitglieder und 40 Soldaten, kommen ums Leben. 08.07.2014 Die Ukraine sperrt den Luftraum unterhalb von ca. 7.900 Metern im Osten des Landes für Zivilflugzeuge. 14.07.2014 Die Rebellen schießen im Gebiet Luhansk eine An-26 der ukrainischen Armee ab. Der Verteidigungsminister der Ukraine gibt eine Flughöhe von 6.500 Metern an und spricht von einem Abschuss mit einem Boden-Luft-Raketensystem von russischem Territorium. Die Ukraine sperrt den Luftraum unterhalb von ca. 9.800 Metern im Kriegsgebiet für den zivilen Flugverkehr. 16.07.2014 Ein ukrainisches Su-25 Erdkampfflugzeug wird in einer Höhe von ca. 6.000 Metern abgeschossen. Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium wurde das Flugzeug von einer Luft-Luftrakete einer russischen MiG-29 abgeschossen. 17.07.2014 Malaysia-Airlines-Flug 17 (im Folgenden: MH-17), auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur, stürzt aus einer Flughöhe von 10.000 Metern rund 50 km von der russischen Grenze in der Nähe von Hrabowe (Gebiet Donezk, Ostukraine) ab. Alle 298 Insassen kommen ums Leben. Igor Girkin (Strelkow), der "Verteidigungsminister" der "Volksrepublik" Donezk ("DNR"), gibt wenige Minuten nach dem Absturz in den sozialen Medien "den Abschuss einer ukrainischen An-26" bekannt und schreibt: "Wir haben sie gewarnt – sie sollen nicht über "unseren Himmel" fliegen". An dem von Strelkow genannten Ort wird kurz darauf das Wrack der MH-17 entdeckt. 18.07 – 22.07.2014 Die Ukraine beschuldigt die prorussischen Rebellen, die MH-17 mit russischen Boden-Luft-Raketen des Typs"Buk" abgeschossen zu haben und erklärt, selbst keine Waffen einzusetzen, die zu einem solchen Abschuss fähig wären. Die Buk (Buk-M1) ist ein in der Sowjetunion entwickeltes Flugabwehrraketensystem, das 1980 in den Streitkräften der UdSSR eingeführt wurde und zum Zeitpunkt des MH-17-Abschusses sowohl in Besitz des ukrainischen als auch des russischen Militärs ist. Der ukrainische Geheimdienst SBU veröffentlicht einen abgefangenen Funkspruch der Rebellen, in dem sich zwei Männer über die Nachricht eines abgeschossenen Transportflugzeuges austauschen, das möglicherweise eine Passagiermaschine war. Russland macht die Ukraine für den Abschuss verantwortlich und veröffentlicht Satellitenfotos, die beweisen sollen, dass zum Zeitpunkt des Abschusses ukrainische Buk-Systeme in der Region stationiert waren, von denen aus der Abschuss mutmaßlich erfolgte. Parallel werden Radarbilder veröffentlicht, die belegen sollen, dassMH-17 von einem ukrainischen Su-25 Erdkampfflugzeug abgeschossen worden sein soll. Die OSZE beklagt, dass das Absturzgebiet zwar abgeriegelt sei, aber bewaffnete Rebellen die Arbeit der internationalen Experten erschwere. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedet Resolution Nr. 2166 (2014), in der die bewaffneten Rebellen in der Ukraine dazu aufgefordert werden, den Zugang zum Absturzort sowie die Untersuchung des Absturzes durch die OSZE-Experten und anderer Organisationen nicht zu behindern. 22.07.2014 Die prorussischen Rebellenübergeben die Flugschreiber der MH-17 den zuständigen malaysischen Experten. 23.07.2014 Der"Sicherheitsminister" der "DNR", Oleksandr Chodakowskij, erklärt, dass die Rebellen im Besitz eines Buk-Systems gewesen sein könnten, mit dem die MH-17 mutmaßlich abgeschossen wurde. Bisher hatten die Rebellen geleugnet, im Besitz eines solchen Systems zu sein. Wenig später widerruft Chodakowskij seine Aussage. 23.07.2014 Die Ukraineüberträgt die Leitung der offiziellen Ermittlungen zur Absturzursache den Niederlanden. Laut dem Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt (Chicagoer Abkommen) ist das Land, in dem ein Flugunglück passiert ist, für die Untersuchung verantwortlich; dieses Land kann die Untersuchung jedochan einen anderen Staat delegieren. Die Niederlande führen zwei parallele Ermittlungen durch. Für die Untersuchung der technischen Ursachen des Absturzes ist der niederländische "Untersuchungsrat für Sicherheit", (engl. "Dutch Safety Board", im Folgenden: DSB) zuständig. Mit dem Ziel der strafrechtlichen Ermittlung entsteht ein internationales Team (Joint Investigation Team, im Folgenden: JIT), an dem die Niederlande, Australien, Belgien, Malaysia und die Ukraine beteiligt sind. 24.07.2014 Die Niederlande und Australien entsenden insgesamt 90 unbewaffnete Polizisten an die Abschussstelle, um Ermittlungen vor Ort durchzuführen. 09.09.2014 Der vorläufige Bericht des DSB kommt zum Ergebnis, dass es weder Hinweise auf technisches Versagen noch Pilotenfehler gebe. Die auf Fotos von Cockpit- und vorderen Rumpfteilen zu sehenden Schäden entsprächen dem, was typischerweise nach einem Einschlag zahlreicher "Objekte mit hoher Geschwindigkeit" zubeobachten sei. Wahrscheinlich führten diese Beschädigungen zu einem Stabilitätsverlust und zum Auseinanderbrechen des Flugzeuges. Der Bericht enthält keine Aussagen zu Art oder Ursprung der Objekte. 08.10.2014 Laut einem Bericht des SPIEGEL stellt der Bundesnachrichtendienst (BND) im parlamentarischen Kontrollausschuss des Bundestages eine detaillierte Auswertung von Satellitenaufnahmen und Fotos vor, die den Schluss nahelegen, dass prorussische Rebellen für den Absturz des Fluges MH-17 verantwortlich sind. 06.05.2015 Die russische Zeitung Nowaja Gazeta veröffentlicht Informationen zum Absturz der MH-17 aus einem nach Aussagen der Zeitung streng geheimen Bericht russischer Militärexperten. Die Untersuchung habe ergeben, dass das Flugzeug wahrscheinlich mit einer Buk-Rakete abgeschossen wurde und dass diese Rakete aus dem zum damaligen Zeitpunkt vonRebellen kontrollierten Gebiet Saroschtschenske gekommen sei. 01.06.2015 Das investigative Recherchenetzwerk Bellingcat präsentiert eine Analyse der am 21.07.2014 vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlichten Unterlagen. Ein Vergleich mit anderen Satellitenbildern hat laut Bellingcat ergeben, dass die russischen Aufnahmen bereits im Juni 2014 gemacht und vermutlich absichtlich falsch datiert wurden. 02.06.2015 Das russische Unternehmen"Almas-Antei", das Flugabwehrsysteme produziert, präsentiert einen Bericht zum Absturz der MH-17. Ein Konzernvertreter spricht von Spuren an der Außenverkleidung des Flugzeugs, die auf eine Rakete des Flugabwehrsystems "Buk-M1" hinweisen. Die Rakete soll dem Sprecher nach aus einem Winkel abgeschossen worden sein, der auf einen Standort der ukrainischen Armee schließen lasse. 29.07.2015 Im UN-Sicherheitsrat scheitert eine Resolution am Veto Russlands, mit der ein Tribunal zur Aufklärung des Absturzes des Fluges MH-17 eingerichtet werden sollte. Elf Staaten stimmen für die Einrichtung, China, Angola und Venezuela enthalten sich. 13.10.2015 Der DSB veröffentlicht den offiziellen Abschlussbericht über die Ursachen des MH-17-Absturzes. Der Bericht bestätigt den Verdacht eines Abschusses durch eine Boden-Luft-Rakete des Typs "Buk". Der Bericht enthält auch Angaben zum möglichen Abschussgebiet, aus dem die Rakete gestartet worden sei und das sich zum Zeitpunkt unter Kontrolle der Rebellen befunden habe. Gleichzeitig kritisiert der Bericht die ukrainischen Behörden, weil diese den Luftraum nur teilweise und nicht komplett gesperrt haben. Almas-Antei veröffentlicht am selben Tag einen eigenen Bericht, der besagt, dass der Raketentyp russischen Ursprungs veraltet und nicht mehr im Bestand der russischen Armee sei, jedoch in dem der ukrainischen Armee. Außerdem will Almas-Antei durch ein Experiment nachgewiesen haben, dass die Rakete nicht aus demvon Rebellen kontrollierten Gebiet bei Snischne abgeschossen worden sein könne. 29.02.2016 Bellingcat publiziert einen Bericht, der der Version des Konzerns"Almas-Antei" vom 13.10.2015 widerspricht. Des Weiteren belegt Bellingcat mit Satellitenbildern, dass in den von Almas-Antei genannten Stellen zur Zeit des Abschusses keine ukrainischen Buk-Raketen stationiert waren. 28.09.2016 Das JIT veröffentlicht einen Zwischenbericht zum Abschuss der MH-17. Die Ermittler gelangen darin zu dem Schluss, dass die Maschine aus dem zu diesem Zeitpunkt von den Rebellen kontrollierten Ort Perwomajskyj abgeschossen wurde. Der Abschuss sei mit einem Buk-System erfolgt. Die betreffende Anlage sei aus Russland in das Gebiet gebracht und später dorthin zurücktransportiert worden, so das JIT. 24.05.2018 Das JIT gibt seine abschließenden Untersuchungsergebnisse bekannt. Demnach sei die MH-17 von einer Rakete des Typs "Buk-M1" abgeschossen worden, die von der 53. Flugabwehrbrigade (Teil der russischen Streitkräfte) im russischen Kursk stammte. Der leitende Ermittler Fred Westerbeke erklärt, dass nun gezielt untersucht werde, inwieweit die Brigade selbst aktiv am Abschuss der Maschine beteiligt gewesen sei. Der "Verteidigungsminister" der "DNR" und das russische Verteidigungsministerium weisen die Vorwürfe zurück. 25.05.2018 Die Niederlande und Australien veröffentlichen eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie Russland eine Mitschuld am Abschuss der MH-17 zuschreiben. Möglicherweise werde der Fall nun vor ein internationales Gericht gebracht. 17.09.2018 Das russische Militär präsentiert Unterlagen, die belegen sollen, dass die Buk-Rakete, mit der die MH-17 abgeschossen wurde, 1986 an eine Einheit der sowjetischen Streitkräfte in der Ukraine geliefert wurde. Dort sei die Rakete nach dem Zerfall der Sowjetunion verblieben, weshalb Russland keine Verantwortung für den Abschuss trage. Die Ukraine spricht von einer Fälschung. Das JIT gibt an, das Material zu prüfen. Die russische Zeitung Nowaja Gaseta veröffentlicht zwei Tage später Hinweise, die darauf schließen lassen, dass die Unterlagen nachträglich bearbeitet wurden. 19.06.2019 Das JIT klagt vier Verdächtige wegen Mordes in 298 Fällen an. Igor Girkin (Strelkow), Sergej Dubinskij, Oleg Pulatow (alle Russland) und Leonid Chartschenko (Ukraine) wird Mord in 298 Fällen zur Last gelegt. Der Prozessbeginn am Bezirksgericht Den Haag wird auf den 9. März 2020 terminiert, die vier Verdächtigen werden international zur Verhaftung ausgeschrieben. 07.07.2019 Die ukrainischen Behörden geben bekannt, mit Wolodymyr Zemach einen wichtigen Verdächtigen festgenommen zu haben, der am Abschuss der MH-17 beteiligt gewesen sein soll. Ein Kiewer Gericht wirft ihm Terrorismus vor und verhängt eine zweimonatige Untersuchungshaft. 07.09.2019 Zwischen Russland und der Ukraine findet ein Gefangenenaustausch statt. Auf ukrainischer Seite wird unter anderem Wolodymyr Zemach ausgetauscht, an dessen Freilassung Russland den Gefangenenaustausch geknüpft haben soll. 03.12.2019 Der niederländische Staatsanwalt beschuldigt Russland, Zemach bewusst ermöglicht zu haben, das Land zu verlassen und in die ostukrainischen "Volksrepubliken" fliehen zu können, bevor er an die Niederlande übergeben werden konnte. 23.02.2020 Der leitende Ermittler des JIT, Fred Westerbeke, gibt in einem Interview bekannt, dass die Ermittler des JIT Augenzeugen des Abschussmomentes der Buk-Rakete haben. 09.03.2020 Am Internationalen Gerichtshof in Den Haag beginnt, in Abwesenheit der vier Angeklagten, der MH-17-Prozess.
Zusammenstellung: Mykyta Shcherbak | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2020-03-05T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/306217/dokumentation-chronologie-der-abschuss-von-flug-mh-17/ | Seit April 2014 finden in der Ostukraine Kriegshandlungen zwischen Einheiten der ukrainischen Regierung und den von Russland unterstützten Rebellen statt. Nach dem Absturz der Passagiermaschine MH-17 beschuldigt die Ukraine die prorussischen Rebellen | [
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"Gewalttätige Übergriffe sollten im Lehrplan thematisiert werden" | Presse | bpb.de | Interview von Thomas Krüger mit der Tageszeitung DIE WELT, Berlin, erschienen am 28.10.2011
Politische Gewalt, die sich in brennenden Autos, Anschlägen auf die Bahn und Angriffen auf Polizisten manifestiert, sollte im Unterricht an den Schulen behandelt werden, fordert Thomas Krüger (SPD), Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Gerade in einer Stadt wie Berlin sei Prävention durch Aufklärung unerlässlich, so der frühere Berliner Familiensenator im Gespräch mit "Welt"-Reporterin Eva Lindner. Wie aktuell das Thema in der Hauptstadt ist, zeigte sich erneut in der Nacht zu Donnerstag: In Neukölln konnte ein mutmaßlicher Brandstifter festgenommen werden. Der 19-Jährige war an der Schierker Straße von Passanten beobachtet worden, als er einen am Straßenrand geparkten Mercedes in Brand setzte. Ob der mutmaßliche Brandstifter aus politischen Motiven handelte, ist noch unklar.
DIE WELT: Herr Krüger, wie kann man präventiv gegen politisch motivierte Gewalt vorgehen?
Thomas Krüger: Zunächst einmal muss man unterscheiden, wo der Verfassungsschutz und die Polizei eingreifen müssen, um Gefahren abzuwehren, und wo die politische Bildung präventiv ansetzen kann. Um erfolgreich gegen Gewalt vorzugehen, darf man die noch zu erreichenden Menschen nicht von vornherein ausgrenzen, sondern muss versuchen, durch Diskussionen Einfluss zu nehmen.
Wie kann man Jugendliche motivieren? Ich verfolge immer einen Leitgedanken: Jungen Menschen muss aufgezeigt werden, dass eine Beteiligung an der Demokratie möglich ist. Man muss darum gewalttätige Übergriffe strikt von Kritik an der Gesellschaft trennen. Junge Menschen sollen und dürfen der Gesellschaft und unserem demokratischen System kritische Fragen stellen. Wir brauchen kritische Geister und dürfen sie nicht verdammen. Nicht jede besonders kritische Position ist automatisch linksextrem. Aber kriminelle und gewalttätige Muster wie "Ich kenne die Wahrheit und wer die nicht teilt, dessen Auto wird verbrannt oder dessen Geschäft wird beklaut" sind inakzeptabel.
Wer sollte darüber aufklären? Das ist in erster Linie Aufgabe der Schulen. Gerade in einer Stadt wie Berlin, in der linke Militanz vergleichsweise stark vertreten ist, muss sich die Schulpolitik darum kümmern. Gewalttätige Übergriffe sollten im Lehrplan thematisiert und Diskussionsangebote gemacht werden. Aber auch in Sportvereinen können Trainer darüber sprechen, wie man auf bestimmte Parolen richtig reagiert. Als drittes muss gerade in einer Universitätsstadt wie Berlin auch auf akademischem Niveau darüber geforscht und diskutiert werden. Die politische Bildung kann in allen Bereichen mit ihren bereits bestehenden Angeboten wie Publikationen, Veranstaltungen und Trainings sensibilisieren und unterstützen.
Vor dem 1. Mai halten Polizisten in Berlin so genannte Gefährderansprachen an Schulen. Dabei wird unter anderem darüber aufgeklärt, was einem juristisch droht, wenn man mit Steinen wirft. Hilft das? Die Präventionsprojekte der Polizei sind sinnvoll und dafür da, Jugendliche über Konsequenzen zu informieren. Politische Bildung will aber direkt an den Überzeugungen der Jugendlichen anknüpfen. Sie müssen in ihrer Kritik an der Politik ernst genommen werden. Ideologie allein ist dabei nicht das Problem. Die freie Meinung ist wie auch bornierte Dummheit schließlich durch das Grundgesetz geschützt. Aber wenn aus Dummheit Militanz wird, muss interveniert und eingegriffen werden.
Wie genau? Fehlende Akzeptanz führt auch zu Radikalisierung. Gewalttätige Motive müssen aufgebrochen werden, indem die jungen Menschen motiviert werden, die Gesellschaft mit friedlichen Mitteln zu verändern und sich beispielsweise in Nichtregierungsorganisationen zu engagieren. Dadurch investiert man in ein freiheitlich demokratisches System.
An welchen Schulen muss präventiv gearbeitet werden? Zielgruppen sind nicht nur bildungsbenachteiligte Milieus. Die Akteure rechnen sich selbst oft einer politisch gebildeten Schicht zu. Linke Militanz ist bei den unter 18-Jährigen zwar eher selten, aber politisch motivierte Gewalt sollte schon thematisiert werden, bevor es überhaupt dazu kommt. Dominant bei Ausschreitungen ist dann eher die Gruppe der 20 bis 25-Jährigen.
Wie muss man innerhalb der Linksextremisten unterscheiden? Die Szene ist sehr heterogen und weist in der Tat verschiedenste Strömungen und Gruppierungen auf, und man muss genau hinschauen, wer sich dahinter verbirgt. Allein die KPD kommt beispielsweise in drei verschiedenen Formationen vor und ist nicht homogen. Es gibt die Kommunistische Partei Deutschland in Berlin, die Kommunistische Partei Deutschlands in Dortmund und die KPD Marx/Lenin in Magdeburg, andere kommunistische Parteien noch nicht einmal mitgezählt. Die extreme Linke ist kein einheitlicher Block, aber sie hat neben ihrem in aller Regel kollektivistischen Menschenbild die Vorstellung gemeinsam, dass Gewalt ein legitimes Mittel politischer Aktionen ist. Deshalb spreche ich lieber von linker Militanz statt von Linksextremismus.
Was müssen die Länder tun, um gegen linke Gewalt vorzugehen? Auch hier muss man sehr genau analysieren, wer und wo genau die Zielgruppe ist. In den neuen Bundesländern findet man linke Militanz eher in den größeren Städten, auf dem Land gruppieren sich dagegen rechtsextreme Gruppierungen. Die Aktivitäten sollten deshalb da konzentriert werden, wo sie Sinn machen. In Berlin ballt sich die linke militante Szene. Hier gibt es Bedarf. Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Landeszentralen der Bundesländer sind zum einen relativ dürftig mit öffentlichen Mitteln ausgestattet und haben zum anderen wenig belastbare Erfahrungen, da der Linksextremismus lange Zeit wissenschaftlich vernachlässigt wurde. Salopp gesagt: Das Thema ist unterforscht.
Muss mehr Geld zur Verfügung stehen? Ja, jenseits der Präventionsprojekte durch die Polizei haben wir noch zu wenig fachlich erfahrene Ausbilder in der schulischen und außerschulischen Bildung. Gerade für den Einsatz von Sozialarbeitern, Schulungen für Lehrer und Sporttrainer und unkonventionelle Projekte, wie Präventionsarbeit in Haftanstalten muss kontinuierlich mehr Geld in die Hand genommen werden. Zurzeit wird jedoch in der politischen Bildung aufgrund der Haushaltslage gespart.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/51075/gewalttaetige-uebergriffe-sollten-im-lehrplan-thematisiert-werden/ | Politische Gewalt, die sich in brennenden Autos, Anschlägen auf die Bahn und Angriffen auf Polizisten manifestiert, sollte im Unterricht an den Schulen behandelt werden, fordert Thomas Krüger. | [
"Unbekannt (5273)"
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"Globalisierung" - eine wirtschaftsethische Reflexion | Ethik -Gesellschaft - Globalisierung | bpb.de | I. Einführung
Welchen Nutzen kann eine ethische Reflexion haben, die über die sozialwissenschaftlichen Analysen jenes Phänomens hinausgreift, das mit dem Begriff "Globalisierung" bezeichnet wird? Kann sie diesen Analysen ein methodisch originäres Deutungsmuster hinzufügen? Gegen eine ethische Reflexion der "Globalisierung" werden häufig vier Einwände erhoben:
- Moderne Gesellschaften, die in Teilsysteme ausdifferenziert sind, weisen der ethischen Reflexion die Aufgabe zu, "vor Moral zu warnen" . Denn solche Gesellschaften sind nicht durch eine allgemein anerkannte Moral zusammenzuhalten. Recht oder Wirtschaft werden durch funktionale Codes gesteuert, die moralisch indifferent sind. Eine moralisch aufgeladene Kommunikation würde die Teilsysteme bloß alarmieren, nicht jedoch gesellschaftlich integrieren.
- Eine ethische Reflexion scheint außerdem im Kontrast einer gesinnungs- und verantwortungsethischen Argumentation zerrieben zu werden, insofern kritische Anfragen an die Wirtschaft zwar als gut gemeint zugelassen, aber mit dem Hinweis auf unabsehbare und unbeabsichtigte Rückwirkungen als gegenproduktiv eingestuft werden .
- Falls jedoch eine ethische Reflexion solche Handlungsfolgen einbezieht, macht sie sich überflüssig; denn das ökonomische Prinzip des Kosten-Nutzen-Vergleichs der alternativen Verwendung knapper Mittel ist ein "Faktum der Vernunft" und gilt für jede Entscheidung. Das wirtschaftlich Vernünftige stimmt mit dem moralisch Gebotenen überein, wenn möglichst viele Folgen und Nebenwirkungen bedacht sind .
- Die Strukturen und Prozesse der "Globalisierung" überfordern eine Ethik, die prüfen will, wie das Handeln der Wirtschaftssubjekte auf den Pfad der Tugend zu lenken sei.
Eine ethische Reflexion, die solchen Einwänden zu entgehen versucht , vergewissert sich zuerst ihres praktischen Standorts: Aus welcher Perspektive von Betroffenen werden die Prozesse und Strukturen der "Globalisierung" betrachtet? Dann bemüht sie sich um eine Kohärenz sozialwissenschaftlicher Analyse und gesellschaftsethischer Reflexion: Welche sozialwissenschaftlichen Paradigmen wirken aus der Sicht der betroffenen Akteure überzeugend? Wie sind systemtheoretische und entscheidungstheoretische Hypothesen der Gesellschaft aufeinander zu beziehen? Und schließlich werden die Angehörigen partikulärer gesellschaftlicher Milieus, die zugleich Mitglieder pluraler Gesellschaften sind, in zwei Dimensionen als moralische Subjekte identifiziert: In der ersten Dimension wird ihr Handeln durch Orientierungen des guten Lebens bestimmt, in der zweiten Dimension unterstellen sie die Suche nach gesellschaftlich verbindlichen Normen dem "moralischen Gesichtspunkt", dass nämlich die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus der allgemeinen Befolgung einer Norm für die Interessen eines jeden Einzelnen ergeben, von allen Betroffenen zwanglos anerkannt werden können . Gemäß einem solchen Konzept soll im Folgenden die "Globalisierung" reflektiert werden: Der Wegnahme des öffentlichen Scheins der Globalisierungsdebatte folgt eine Präzisierung der Globalisierung, insofern sich die internationalen Finanzmärkte verselbständigen und die Asymmetrien wirtschaftlicher Macht sich verschärfen. Zur Gegenmachtbildung sind die bereits vorhandenen politischen Handlungsspielräume zu nutzen und zu erweitern. II. Die Entzauberung der Globalisierung
"Globalisierung" ist zum Modewort der neunziger Jahre geworden. Der öffentlich beherrschende Teil der Globalisierungsdebatte hat die früheren Standortdebatten abgelöst und wird weithin unter ideologischen Vorzeichen geführt. Meist muss die Globalisierung als Chiffre herhalten, um die wirtschaftlichen Veränderungen in der Welt seit 1989 zu deuten. Folglich wird sie äußerst inflationär und diffus verwendet. Man kann darunter die imperiale Expansion des westlichen Zivilisationsmodells in die sogenannte Dritte Welt verstehen, in deren Verlauf traditionelle Kulturen verschwinden, die Systeme einer kapitalistischen Marktwirtschaft und einer formalen Demokratie sich ausbreiten und die Einbindung der weniger entwickelten Wirtschaften in das von den Industrieländern dominierte Weltmarktregime erzwungen wird. Aber auch die Rückwirkung jenes "Globalisierungsdrucks" der Industrieländer auf die "kolonisierten" Länder des weltwirtschaftlichen Südens wird mit diesem Zauberwort belegt, nämlich ein verschärfter Anpassungsdruck, den neu industrialisierte Schwellenländer auf einzelne Unternehmen, Branchen und Regionen in Industrieländern ausüben.
Und häufig wird der "Globalisierung der Märkte" eine "Fragmentierung der Gesellschaft" entgegengehalten: Eine polarisierte Entwicklung, die für neu industrialisierte Länder der Dritten Welt festgestellt wurde, erfasst nun auch reife Industrieländer; gesellschaftliche Spaltung wird zu einer globalen Begleiterscheinung wirtschaftlichen Wachstums.
Zeitlich wird der Beginn der Globalisierung nicht weniger diffus angesetzt. Einige markieren einen Schnitt in den Jahren 1971/73, als die festen, aber anpassungsfähigen Wechselkurse durch floatende Wechselkurse abgelöst wurden. Andere beobachten den Einschnitt nach den beiden Ölpreisschocks von 1973 und 1980 . Eine säkulare Wende ist für viele das Jahr 1989, während in den europäischen Ländern und besonders in Deutschland die härteste Nachkriegsrezession 1993/94 zum Beginn eines unvergleichlichen Aufbruchs in den Weltmarkt und in die Weltgesellschaft stilisiert wird. Da die zeitliche Datierung derart diffus ausfällt, verdampft der "dramatische Globalisierungsschub" zum Phantom; die "Globalisierung" zeigt sich als ein langsamer, stetiger Prozess .
Wie diffus sich die Wahrnehmung der Globalisierung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit niederschlägt, zeigen die Titel einiger Bestseller des vergangenen Jahrzehnts . In der mediengestützen Globalisierungsdebatte geht es also vorwiegend um Wahrnehmungsmodelle und Deutungsmuster, die sich von der bezeichneten Wirklichkeit lösen und ein Eigenleben entfalten können. Deshalb konnte diese Debatte von der angebotsorientierten monetaristischen Propaganda besetzt werden. Deren drei Glaubenssätze lauten: Vertraue auf die Selbstheilungskräfte des Marktes und entregele den Arbeitsmarkt. Der schlanke Staat ist der beste aller möglichen Staaten, konsolidiere also den Staatshaushalt und privatisiere die öffentlichen Dienste. Wenn die Notenbank die Inflation rigoros bekämpft, stellen sich Wachstum und Beschäftigung automatisch ein, überlasse also der Notenbank die wirtschaftspolitische Hauptverantwortung. Mit missionarischem Eifer sind diese Glaubenssätze als angemessene Antwort auf den "Globalisierungsdruck" propagiert worden.
Wie sehr ein Teil der Globalisierungsdebatte zum Vehikel der neoklassischen Traumwelt geworden ist, lässt sich an der Formel von der "Systemkonkurrenz" ablesen. In dieser Hypothese wird der wirtschaftliche Wettbewerb, wie er für Güter- und Finanzmärkte gilt, auf staatliche Systeme etwa der Bildung, Gesundheit, Alterssicherung und öffentlichen Infrastruktur übertragen. Die Nationalstaaten konkurrieren angeblich um die souveräne Entscheidung von Wirtschaftssubjekten in Gestalt ausländischer Händler oder Investoren. Der Import eines Gutes oder eine ausländische Direktinvestition sowie die dadurch ausgelösten Güterströme und Faktorwanderungen werden als Nachfrage nach einem öffentlichen Leistungs- und Abgabenpaket gedeutet . Die Frage, ob am Ende die Pakete mit dem niedrigsten Sozialstandard, der geringsten Umverteilung und einer brachliegenden Verkehrsinfrastruktur als Angebote überleben , oder ob die verschiedenen Präferenzen der Kunden ein buntes, aber durchaus anspruchsvolles Spektrum an Rechts- und Sozialstaatlichkeit mit unterschiedlichen Kombinationen öffentlicher Infrastruktur und deren Finanzierung erzwingen, muss nicht weiter verfolgt werden. Denn die hohe Eleganz des Modells souverän kalkulierender Wirtschaftssubjekte mit individuellen Paketpräferenzen, rationalen Erwartungen und vollständiger Information steht im umgekehrten Verhältnis zu seiner praktischen Relevanz. Dass Länder wie Unternehmen miteinander konkurrieren, muss als eine fixe Idee bezeichnet werden, die nicht nur falsch, sondern auch gefährlich ist, weil sie wirtschaftspolitisch in die Irre führt und Handelskonflikte heraufbeschwört , zumal die Indikatoren der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes äußerst willkürlich gesetzt und wenig aussagefähig sind .
Um die "Globalisierung" ihres ideologischen Charakters zu entkleiden, ist es sinnvoll, den Begriff zu präzisieren und in die vier Teilaspekte der internationalen Handelsverflechtung, der ausländischen Direktinvestitionen, der Operationen transnationaler Unternehmen und der internationalen Finanzmärkte zu zerlegen . Die Rolle der Informations- und Kommunikationstechniken wird meist überschätzt , während die Arbeitsmigration in hohem Ausmaß auf den weltwirtschaftlichen Süden begrenzt bleibt, da sich die Industrieländer gegen die Zuwanderung wirksam abschirmen.
Die Reichweite der internationalen Handelsverflechtung ist nicht global. Allenfalls 30 Prozent der Weltbevölkerung sind direkt in die Weltwirtschaft integriert. Zwei Drittel des Welthandels bleiben innerhalb der drei großen Handelsblöcke, die sich nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation herausgebildet haben. Deutschland wickelt zwei Drittel des Außenhandels mit den westeuropäischen Industrieländern ab. Ähnlich sind die ausländischen Direktinvestitionen zu beurteilen. Sie werden zu 80-90 Prozent in entwickelten Industrieländern getätigt, um Märkte zu erschließen oder zu sichern . Allerdings machen die realen internationalen Kapitalbewegungen nur sechs Prozent der globalen Bruttoinvestitionen aus . Die transnationalen Unternehmen gelten zwar als die Motoren der "Globalisierung". Sie wickeln drei Viertel des Welthandels ab; ein Drittel des Welthandels ist konzerninterner Handel mit wachsender Tendenz.
Die Formen globalisierter Produktion sind jedoch vielfältig. Ausländische Direktinvestitionen sind oft Vorstufe oder Bestandteil multinationaler Wertschöpfungsketten. Ein global integriertes Produktionssystem setzt jedoch voraus, dass die Komponenten homogener, global angebotener Waren und Dienstleistungen an verschiedenen Orten hergestellt und zusammengefügt werden. Das Gewicht transnationaler Unternehmen sowie ihr Drohpotential gegenüber nationalen Regierungen sind jedoch mit guten Gründen zu relativieren. Denn auf sie entfallen bloß drei Prozent der weltweit produktiv organisierten Arbeitskräfte . Außerdem ergänzen sie ihre Planspiele, die auf globale Integration setzen, durch Komponenten regionaler Identität . Transnationale Unternehmen bleiben an ihren Ursprung in Hochlohnländern gebunden, pflegen in ihren Unternehmenskulturen weithin nationale Traditionen und erzielen ihr Hauptgeschäft dort, wo sie ihre "Heimatbasis" haben.
Die internationalen Finanzmärkte verdienen im eigentlichen Sinn das Prädikat: "global". Die Geschäfte auf diesen Märkten haben sich explosionsartig entwickelt. Noch rasanter sind die abgeleiteten Finanzgeschäfte angestiegen. Gleichzeitig mit dem Wachstum der Finanzmärkte wuchs 1975-1985 die Zahl der ausländischen Bankfilialen in den USA und Japan jeweils auf das Dreifache, in Großbritannien und Deutschland jeweils auf das Vierfache. Aber selbst die internationalen Finanzmärkte sind nicht so "global", wie sie in der Globalisierungsdebatte oft stilisiert werden. Zwischen Aktien-, Renten- sowie Geld- und Devisenmärkten gibt es Unterschiede der internationalen Verflechtung; eine totale Verflechtung müsste eigentlich zu einer Parität der Realzinsen und zu erheblichen Disparitäten nationaler Investitions- und Sparquoten führen, die so nicht zu beobachten ist, wenngleich sich der Zusammenhang zwischen nationalen Spar- und Investitionsquoten in den neunziger Jahren gelockert hat . Als "durchglobalisiert" gelten - allerdings nicht ohne die Vermittlung der neuen Informationstechniken - die Geld- und Devisenmärkte.
Die Entzauberung der Globalisierung und die Präzisierung dessen, was unter Globalisierung zu verstehen ist, rechtfertigen keine Alarmstimmung im weltwirtschaftlichen Norden . Die international am meisten wettbewerbsfähigen Länder sind zugleich Länder mit komfortablen sozialen Sicherungs- und Fürsorgesystemen. III. Eigenständigkeit der Finanzmärkte
Markante qualitative Veränderungen sind seit Mitte der siebziger und neunziger Jahre auf den internationalen Finanzmärkten zu registrieren. Sie rechtfertigen es, von einer wachsenden Vernetzung und Verdichtung grenzüberschreitenden Wirtschaftens zu sprechen. Als erstes fällt die Tendenz der Verbriefung von Forderungen auf, d. h., dass Wertpapiergeschäfte an die Stelle von Bankkrediten treten. Die Aktienmärkte übernehmen verstärkt die Funktion der Unternehmenskontrolle. Als zweites ist die Privatisierung des Wechselkursrisikos zu bemerken, eine Folge der Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems. Damit hat sich die Futurisierung der Finanzgeschäfte verstärkt. Indem Informationen über zukünftige Risiken global getauscht werden, spiegeln sich in den aktuellen Kursbewegungen subjektive Erwartungen und Werturteile.
Die Transaktionen institutioneller Großanleger, etwa der Pensionsfonds, tragen zu einer höheren Risikoneigung der Kapitaleigner bei, sobald sie darauf vertrauen können, dass der Internationale Währungsfonds und die Zentralbanken der Industrieländer riskante Operationen kollektiv absichern. In der Flatterhaftigkeit der Kurse und in den spekulativen Blasen, in technischen Rückkopplungen, irrationalen Stimmungsreflexen und kollektiven Infektionen, in den erheblichen, realwirtschaftlich schwer erklärbaren Wechselkursschwankungen beispielsweise der deutschen und der US-amerikanischen Währung vor 1999 sowie in spekulativen Währungsattacken beispielsweise gegen die mexikanische Währung Anfang 1995 und einige südostasiatische Währungen 1997, von deren Fernwirkungen Russland und Brasilien massiv getroffen wurden, werden Anzeichen dafür gesehen, dass sich die internationalen Finanzmärkte von den fundamentalen Wirtschaftskreisläufen abgelöst haben, aber negativ auf Investition, Produktion, Realeinkommen und Konsum zurückwirken .
Die Planungssicherheit von Unternehmen, die langfristige Investitionsentscheidungen treffen und Neueinstellungen auf lange Sicht vornehmen wollen, die den Arbeitsmarkt und die Budgets solidarischer Sicherungssysteme entlasten könnten, werden massiv beeinträchtigt. Spekulationsgewinne sowie Monopolgewinne, die durch Finanzinnovationen entstehen können, werden zur Orientierungsmarke von Renditeerwartungen auf den Finanzmärkten. Diese wiederum dienen den Unternehmen als Vergleichsmaßstab und Entscheidungsregel für die Rentabilität einer Investition.
Verschuldungswellen gehören zu den globalisierten Finanzmärkten wie das Wasser zum Meer . Aber der Auf- und Abbau der Schuldenberge in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren, die Finanzkrisen der asiatischen Länder Thailand, Indonesien, Philippinen, Malaysia und Südkorea 1997 sowie die Verschuldungskrisen in Lateinamerika und Afrika haben nicht vergleichbare Ursachen. Für die "Asienkrise" waren hohe Anteile der Privatwirtschaft, der kurzfristigen Auslandsschuld und des kurzfristigen Kapitalabflusses kennzeichnend. Die "fundamentalen" Wirtschaftsdaten dieser Länder waren als gesund eingeschätzt worden. Aber die außenwirtschaftliche Liberalisierung traf mit einem Kreditboom auf den internationalen Finanzmärkten zusammen. Die realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise waren verheerend, die Wirtschaftsleistung schrumpfte um 15-20 Prozent. IV. Machtverhältnisse
Ein Teil der Globalisierungsdebatte verfehlt in einem zentralen Punkt die real existierenden Prozesse und Strukturen, insofern die asymmetrischen Machtverhältnisse des Welthandels, der transnationalen Unternehmen und der internationalen Finanzmärkte fahrlässig ausgeblendet werden.
Der Welthandel folgt vorwiegend gerade nicht dem idealtypischen Modell der internationalen Arbeitsteilung, die aus den komparativen Kostenvorteilen und dem Verhältnis der Faktorausstattung der in den Weltmarkt integrierten Länder erklärt wird. Er ist weithin bestimmt durch Austauschbeziehungen zwischen reifen Industrieländern und innerhalb derselben Sektoren. Daneben hat das polare Verhältnis dominierender Zentren und abhängiger Peripherien einen hohen Erklärungswert. Weltmächte, die über dynamisch wachsende Wirtschaften, ausgedehnte Binnenmärkte, Leitwährungen und militärische Abschreckungspotentiale verfügen, setzen ihren politischen Willen in regionalen Bündnissen, internationalen Verträgen und Institutionen durch. So entstammen der Nord-Süd-Handel und parallel dazu die Direktinvestitionen in Schwellenländern auch einem kolonialen Erbe und waren militärisch flankiert. Oder sie verkörpern ein aktuelles geostrategisches Interesse der Hegemonialmächte. Die Bedingungen, unter denen Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft integriert werden, sind unter dem Schirm der Industrieländer formuliert. Das Ergebnis dieser "Macht im Tausch" sind normalerweise ein Regime des Güterhandels, das den Entwicklungsländern das Risiko sinkender Austauschverhältnisse beschert, und ein auslandsverschuldeter, abwertungsgetriebener Industrialisierungspfad . Einige Industrieländer organisieren ihre Volkswirtschaften offensiv exportlastig, halten strukturelle Leistungsbilanzüberschüsse über längere Zeit aufrecht und weigern sich, diese abzubauen. Dagegen provoziert das Auftreten von "Niedriglohn-Ökonomien", die unzutreffend für die hohe Arbeitslosigkeit in reifen Industrieländern verantwortlich gemacht werden, in erster Linie ein Verteilungsproblem. Der Strukturwandel ermöglicht ja allen beteiligten Ländern eine Wohlstandsvermehrung, ohne dass die faire Verteilung der Handelsvorteile automatisch gewährleistet wäre. Wenn Produktionen ausgelagert werden, die arbeitsintensiv hergestellt wurden, und gleichzeitig Investitionsgüter exportiert werden, die mit hohem Technikeinsatz erstellt worden sind, ist ein negativer Saldo in einigen Segmenten des Arbeitsmarkts reifer Industrieländer unvermeidlich. Folglich gehören die wenig qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu den Verlierern des Strukturwandels. Nun könnte eine angemessene Entschädigung der Verlierer dadurch erfolgen, dass die reifen Industrieländer sowohl ihre Anstrengungen in den technik- und kapitalintensiven Wirtschaftszweigen erhöhen als auch ihre Exportlastigkeit abbauen und die De-Industrialisierung beschleunigen. Sie könnten neue Märkte, auf denen personennahe Dienste im Inland nachgefragt und von kleinen und mittleren Unternehmen angeboten werden, erschließen. Eine stärkere Binnenorientierung, die für den europäischen Wirtschaftsraum selbstverständlich sein wird, könnte die Schieflage weltwirtschaftlicher Machtverhältnisse abbauen helfen.
Dem starken Gewicht der transnationalen Unternehmen in der Weltwirtschaft folgt das wachsende Interesse an rein mikroökonomischer Analyse. Aber gerade aus dieser Perspektive drängen sich klärende Unterscheidungen auf. Erstens treten strategische Allianzen, Kooperationsabkommen und Beteiligungen an inländischen Unternehmen oder deren (feindliche) Übernahme an die Stelle einer zentralistischen Steuerung von Produktions- und Wertschöpfungsketten. Zweitens wird eine kosteninduzierte und verfahrensorientierte Standortwahl, die Produktionsverlagerungen in so genannte Niedriglohnländer vorsah, von der Präferenz für dezentrale und ausdifferenzierte Betriebseinheiten in der Nähe kaufkräftiger Märkte, die im weltwirtschaftlichen Norden liegen, abgelöst. Drittens verlagert sich die Zentralisierung der unternehmerischen Entscheidungsprozesse von der Produktionsebene auf die Ebene der Dienstleistungen, nämlich Forschung und Entwicklung, Finanzierung und Marketing. Die Bündelung solcher Funktionen in einem scheinbar virtuellen "Hauptquartier" verwandelt transnationale Unternehmen in "global players", die in der Lage sind, die innere Souveränität einzelner, nicht aller Nationalstaaten gegenüber ihren Gesellschaften ganz erheblich einzuschnüren . Dieser Wandel ist begleitet vom Einsatz jener Bewertungssysteme, Rating-Agenturen und Benchmarking-Verfahren, die in den USA entstanden sind; wer mit ihnen zu spielen weiß, kann sich der globalen unternehmerischen Führungselite zurechnen . Derartige "global players" verdrängen das in der deutschen Nachkriegszeit gewachsene Konzept eines Unternehmens, das einen Personenverband oder ein Vertragsnetz derjenigen darstellt, die sich im Unternehmen persönlich und finanziell engagieren, nämlich der Manager, Belegschaften, Anteilseigner, Banken, Kunden, Zulieferer und Kommunen. Das Unternehmen wird ausschließlich als ein Vermögensgegenstand in den Händen der Anteilseigner verstanden. Diese können die Beteiligungsmehrheit erwerben und Manager einsetzen, die ihnen genehm sind. Sie schlachten die profitablen Unternehmenskerne aus und verkaufen oder "verschrotten" die Restbetriebe samt ihren Belegschaften.
Das lautstark vorgetragene Bekenntnis, dass die Staaten im Wettbewerb um das mobile Kapital ringen, soll wohl den Aberglauben festigen, als wären Finanzmärkte die "fünfte Gewalt" , die staatliches Handeln kontrolliert. Den internationalen Finanzmärkten wird zugetraut, dass sie authentische Informationen über das Leistungsvermögen von Volkswirtschaften und Unternehmen öffentlich zugänglich machen und die Geld- und Kapitalströme in die weltweit optimale Verwendung lenken. Sie gelten als selbststeuernd und verkörpern eine entpolitisierte ökonomische Effizienz. Als unbestechliche Schiedsrichter belohnen sie richtige politische Entscheidungen und bestrafen falsche. Aber unter dem Deckmantel einer erwünschten Modellwelt versteckt sich erstens die Anmaßung, von einem fiskalisch und monetär definierten archimedischen Punkt über politische Ziele urteilen zu können. Zweitens wird verheimlicht, dass die internationalen Finanzmärkte durch das Machtgefälle zwischen institutionellen Großanlegern, insbesondere den US-dominierten Pensionsfonds, und atomisierten Kleinanlegern geprägt sind. Die Chancen, bedeutsame Informationen zu gewinnen, weiterzuleiten und zu beeinflussen, sind asymmetrisch verteilt. Gewichtiger noch ist das Machtgefälle der hegemonialen Leit- oder Ankerwährungen gegenüber den nicht konvertierbaren Weichwährungen. Die Notenbanken der Leitwährungsländer räumen dem Kampf gegen die Inflation absoluten Vorrang ein. Die Länder mit abhängigen Währungen sind gezwungen, in dem heute schneller ausgetragenen Wettlauf um Geldwertstabilität mitzulaufen. In dem Maße, wie sie die Erwartungen der Ratin-Agenturen enttäuschen, müssen sie Zinsaufschläge für das Abwertungsrisiko akzeptieren. Wollen sie vermeiden, dass ausländische Direktinvestoren abgeschreckt werden, müssen sie eine "Dollarisierung" (oder "Euroisierung") hinnehmen. Von der Globalisierung der Finanzmärkte ist also nicht automatisch eine Anpassung der Wohlstandsniveaus und der Lebensqualität der weltwirtschaftlichen Peripherien an die der weltwirtschaftlichen Zentren zu erwarten. Unter den Bedingungen asymmetrischer Macht- und Tauschverhältnisse verschärft sie sowohl die Disparität zwischen ihnen als auch den Druck hegemonialer Währungen auf die von ihnen abhängigen Länder.
Dieser Druck kann auch zu einer Verdrängung des deutschen Finanzsystems führen, das die Unternehmen durch Banken und Kredite kontrolliert und über personelle und finanzielle Verflechtungen langfristige Investitionsentscheidungen ermöglicht. Das US-amerikanische Finanzsystem kontrolliert die Unternehmen über die Aktienmärkte und insbesondere die Pensionsfonds. Es zwingt die Manager, ihre Entscheidungen in erster Linie an den Börsenkursen ihres Unternehmens zu orientieren und das Image des Unternehmens in kurzen Zeitabständen den professionellen Analysten zu präsentieren. Die Dominanz des US-amerikanischen Finanzsystems setzt die umlagefinanzierten solidarischen Sicherungssysteme der Erwerbstätigen in Deutschland unter Druck, weil eine kapitalgedeckte private Vorsorge in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, niedriger Investitionsneigung und geringer Wachstumsraten, aber relativ hoher Kapitalmarktzinsen für Eigentümer von Geldvermögen vorteilhafter ist. Unter der Regie des Internationalen Währungsfonds werden den hoch verschuldeten Entwicklungsländern Anpassungsprogramme auferlegt, damit sie ihre Kreditwürdigkeit zurückgewinnen und für Auslandskapital attraktiv werden. Dass Kapitalimporte unverzichtbar seien, wird mit der Existenz einer "Sparlücke" begründet, als würden Sparfähigkeit und Sparneigung das Investitionsniveau und die Investitionsneigung bestimmen. Es gibt indessen gute Gründe für die Annahme, dass die Investitionsneigung der Unternehmen durch ihre Absatz- und Gewinnerwartungen ausgelöst wird, so dass die Unternehmer bei den Banken Kredite aufnehmen, Arbeitnehmer einstellen, Produktionsanlagen kaufen, produzieren, absetzen und die Kredite zurückzahlen. Das inländische Sparen ist dann das Resultat von Investition, staatlichem Defizit und Leistungsbilanzüberschuss. Der Schlüssel einer dynamischen Entwicklung liegt in der Geld- und Kreditschöpfung des heimischen Bankensektors, während Kapitalimporte dauernde Leistungsbilanzdefizite riskieren . V. Keine politische Ohnmacht
Dem Welthandel, den transnationalen Konzernen und den internationalen Finanzmärkten sind demokratisch legitimierte Entscheidungsträger nicht ohnmächtig ausgeliefert. Die Hypothese eines weltpolitischen Vakuums trifft nicht zu. Denn die grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Aktivitäten waren und sind weithin politisch gewollt. Und es gibt politische Handlungsmöglichkeiten im Rahmen regionaler Integration und internationaler Vereinbarungen.
Im europäischen Integrationsraum lässt sich das Drohpotential transnationaler Unternehmen bändigen, wenn Betriebsräte, Gewerkschaften und supranationale Organe miteinander kooperieren. Die ASEAN oder die NAFTA haben eine ähnliche Absicht und Vorgehensweise wie die EU. In Lateinamerika hängt die Kohäsion des MERCOSUR vom Verzicht auf hegemoniale Ansprüche der großen Länder, vom regionalen und sozialen Ausgleich, von der demokratischen Festigung sowie von der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure ab .
Außerdem gibt es bereits zahlreiche internationale Verträge und Institutionen. Allerdings sind die OECD, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation von den reichen und mächtigen Nationen dominiert. Die Notenbanken der führenden Industrieländer, deren abgestimmte Entscheidungen auf dem "Basler Komitee" von 1975, dem "Plaza-Agreement" von 1985, dem "Louvre-Akkord" von 1987 und dem "Basler-Abkommen" von 1988 gründen, haben sich als "Feuerwehrlöschzug" bewährt, nachdem sie zugunsten der mexikanischen Währung und zugunsten asiatischer Währungen intervenierten, um einen Absturz des globalen Finanzsystems zu verhindern. Sie könnten in Zukunft dem "Brandschutz" größere Aufmerksamkeit widmen. Der Testfall ihrer finanzpolitischen Kompetenz wird das Management der so genannten Schuldenkrise und ihr Beitrag zu einer internationalen Finanzarchitektur sein. Für das Krisenmanagement der neunziger Jahre ist nicht mehr der so genannte "Washington Consensus" maßgebend, sondern der "Post-Washington Consensus", für den der frühere Vizepräsident der Weltbank, Joseph Stiglitz wirbt: Basisgesundheitsversorgung, Grundbildung und öffentliche Infrastruktur müssten in den Strukturanpassungsprogrammen stärker gewichtet und die gesetzlichen Regeln neu geordnet werden .
Bausteine einer Finanzarchitektur zugunsten hoch verschuldeter Länder, wie sie in der aktuellen Diskussion genannt werden , sind die "Tobin-Steuer", eine Umsatzsteuer auf kurzfristige Finanzgeschäfte, Kapitalverkehrskontrollen in Entwicklungsländern, eine Stabilisierung der Wechselkurse von Leitwährungen innerhalb einer Bandbreite, vor allem jedoch ein internationales Insolvenzrecht: Das Schuldnerland soll ein Vergleichsverfahren beantragen dürfen, dessen Schiedsspruch sich an der eigenen Leistungsfähigkeit orientiert. Die Sicherung der Gesundheit, Bildung und Umwelt soll Vorrang haben gegenüber den Gläubigerinteressen.
Über eine indirekte demokratische Legitimation verfügen die Organisationen der Vereinten Nationen einschließlich ihrer Unterorganisationen, etwa die UNESCO, UNIDO, UNICEF, die WHO, FAO und ILO. Die Vereinten Nationen, die in den neunziger Jahren fünf Weltgipfelkonferenzen veranstalteten, haben immerhin dazu beigetragen, dass ein globales öffentliches Bewusstsein entsteht und in globalen zivilgesellschaftlichen Akteuren Gestalt annimmt, etwa in Amnesty International, Greenpeace, Gewerkschaften und Ortskirchen, insbesondere in der bisher größten globalen sozialen Bewegung, nämlich der Kampagne "Erlassjahr 2000" . Diese Initiative ist ein Beleg dafür, dass eine transnationale Kooperation zwischen staatlichen Entscheidungsträgern, internationalen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sehr wirksam sein kann.
Niklas Luhmann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989, Frankfurt/M. 1990, S. 41.
Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte Schriften, München 1921, S. 396-450, 439-450; Siegfried F. Franke, Sozialdumping durch Schwellenländer?, in: Hartmut Berg (Hrsg.), Globalisierung der Wirtschaft. Formen - Konsequenzen, Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF 263, Berlin 1999, S. 157-182.
Vgl. Karl Homann, Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/97, S. 13-21.
Vgl. Friedhelm Hengsbach, "Globalisierung" aus wirtschaftsethischer Sicht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/97, S. 3-12; ders., Beteiligt sein ist alles. Eine christliche Gesellschaftsethik, Darmstadt 2000.
Vgl. Jürgen Habermas, Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1989³, S. 75 f.
Vgl. Die Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit, München 1997, S. 48.
Vgl. Christoph F. Büchtemann/Ulf-Wilhelm Kuhlmann, Internationalisierungsstrategien deutscher Unternehmen: Am Beispiel von Mercedes-Benz, in: Pamela Meil (Hrsg.), Globalisierung industrieller Produktion, Frankfurt/M. - New York 1996, S. 60-63.
Vgl. Hans-Peter Martin/Harald Schumann, Die Globalisierungsfalle, Reinbek 1996; Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, Münster 1997; Kurt Hübner, Der Globalisierungskomplex, Berlin 1998; Daniel Cohen, Fehldiagnose Globalisierung, Frankfurt/M. 1998; Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die vielen Gesichter der Globalisierung, Bonn 1999; Ulrich Steger, Globalisierung gestalten, Berlin u. a. 1999.
Vgl. Theresia Theurl, Globalisierung als Selektionsprozess ordnungspolitischer Paradigmen, in: H. Berg (Hrsg.) (Anm. 2), S. 33-40.
Vgl. Hans-Werner Sinn, The Limits to Competition Between Economic Regimes, in: Empirica, Austrian Economic Papers, 17 (1990), S. 3-14.
Vgl. Paul Krugman, Wettbewerbsfähigkeit: Eine gefährliche Wahnvorstellung, in: Werner Fricke (Hrsg.), Zukunft der Industriegesellschaft, Jahrbuch Arbeit und Technik, Bonn 1996, S. 37-49.
Vgl. Hartmut Küchle, Zur Messung der Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften, in: WSI-Mitteilungen, 47 (1994), S. 180-190; Renate Ohr, Internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft: Zur Aussagefähigkeit ausgewählter Indikatoren, in: H. Berg (Anm. 2), S. 51-67.
Vgl. Hartmut Küchle, Deutschlands Position auf dem Weltmarkt, in: WSI-Mitteilungen, 49 (1996), S. 295-303.
Vgl. Kai Hafez, Medien-Kommunikation-Kultur: Irrwege und Perspektiven der Globalisierungsdebatte, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, Bonn 2000, S. 93-117.
Vgl. Kurt Hübner, Der Globalisierungskomplex: grenzenlose Ökonomie - grenzenlose Politik?, Berlin 1998.
Vgl. Horst Siebert, Disziplinierung der nationalen Wirtschaftspolitik durch die internationale Kapitalmobilität, in: Dieter Duwendag (Hrsg.), Finanzmärkte im Spannungsfeld von Globalisierung, Regulierung und Geldpolitik, Berlin 1998, S. 43.
Vgl. Hans-Erich Müller, Heimatlose Weltbürger?, in: Die Mitbestimmung, 43 (1997), S. 34-37.
Vgl. Herbert A. Henzler, Die Globalisierung von Unternehmen im internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Ergänzungsheft, (1992) 2, S. 83-97.
Vgl. Horst Gischer, Kapitalmarktintegration, Zinsvolatilität und gewerbliche Kreditnachfrage, in: H. Berg (Anm. 2), S. 183-206; Martin Feldstein/Charles Horioka, Domestic Saving and International Capital Flows, in: Economic Journal, 90 (June 1980), S. 314-329; H. Siebert (Anm. 16), S. 42.
Vgl. Theresia Theurl, Globalisierung als Selektionsprozess ordnungspolitischer Paradigmen, in: H. Berg (Anm. 2), S. 31 f.
Vgl. Hansjörg Herr, Geld, Währungswettbewerb und Währungssysteme. Theoretische und historische Analyse der internationalen Geldwirtschaft, Frankfurt/M. 1992; Manfred Nitsch, Vom Nutzen des monetär-keynesianischen Ansatzes für Entwicklungstheorie und -politik, in: Renate Schubert (Hrsg.), Neue Wachstums- und Außenhandelstheorie. Implikationen für die Entwicklungstheorie und -politik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF Band 269, Berlin 1999, S. 183-214.
Vgl. Hansjörg Herr, Finanzströme und Verschuldung, in: Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.), Globale Trends 2000, Frankfurt/M. 1999, S. 219-243.
Vgl. Hartmut Elsenhans, Globalisierung intensivieren: Chance des Südens und des Westens, in: Reimut Jochimsen (Hrsg.), Globaler Wettbewerb und weltwirtschaftliche Ordnungspolitik, Bonn 2000, S. 74-77.
Vgl. Wolfgang H. Reinicke, Globale Ordnungspolitik: Gedanken zu einem überfälligen Thema, in: Ullrich Heilmann/Dietmar Kath/Norbert Kloten (Hrsg.), Entgrenzung als Erkenntnis- und Gestaltungsaufgabe, Berlin 1998, S. 285-298.
Vgl. Ewald Nowotny, Der Machtfaktor multinationaler Unternehmen und ihre Funktion im globalen Wettbewerb, in: R. Jochimsen (Anm. 23), S. 253-288.
Rolf-E. Breuer, Die fünfte Gewalt, in: Die Zeit vom 27. 4. 2000, S. 21 f.
Vgl. Friedhelm Hengsbach/Bernhard Emunds (Hrsg.), Finanzströme in Entwicklungsländer - in welcher Form zu
wessen Vorteil, Frankfurt/M. 2000; Elmar Altvater, Monopoly spielen oder Mut machen, in: Frankfurter Rundschau vom 11. 7. 2000, S. 9.
Vgl. Wolfram Klein, Der Mercosur. Wirtschaftliche Integration, Unternehmer und Gewerkschaften, Freiburg 1996; Hartmut Sangmeister, Mercosur: Möglichkeiten und Grenzen der Integration, Heidelberg 1996.
Vgl. Reiner Falk, Die systemgerechte Verarbeitung von Schuldenkrisen in: Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung WEED (Hrsg.), Schuldenreport 1999, S. 26.
Vgl. Joseph E. Stiglitz, More instruments and broader goals. Moving toward the Post-Washington Consensus, in: Gudrun Kochendörfer-Lucius/Boris Pleskovic (Hrsg.), Development Issues in the 21st Century (Villa Borsig Workshop Series 1998), Berlin - Washington, D. C., DSE-Worldbank, S. 11-39.
Vgl. Andreas Hauskrecht, Anforderung an eine Weltfinanzordnung in einer globalisierten Welt, in: R. Jochimsen (Anm. 23), S. 98-123.
Vgl. Barbara Unmüßig, Die HIPC-Initiative. Kein Durchbruch für die hochverschuldeten armen Länder, in: Schuldenreport 1999 (Anm. 29), S. 26.
| Article | Hengsbach, Friedhelm | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25478/globalisierung-eine-wirtschaftsethische-reflexion/ | Ein beherrschender Teil der öffentlichen Globalisierungsdebatte ist mit diffusen Wahrnehmungen besetzt. Gleichfalls ist sie zum Vehikel einer neoklassischen Traumwelt oder zur Waffe im Verteilungskampf geworden. | [
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Umgang mit Verschwörungserzählungen | Verschwörungserzählungen | bpb.de |
Corona…Virus der Spaltung (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)
Verschwörungsideologien im eigenen Umfeld
Wenn es darum geht, mit Verschwörungsgläubigen zu diskutieren, wissen viele Menschen oft erst einmal nicht, wie sie reagieren sollen. Für Angehörige ist es besonders schwierig, wenn die eigenen Eltern oder nahestehende Menschen plötzlich überall dunkle Mächte am Werk sehen und für rationale Argumente immer weniger zugänglich werden. Diskussionen enden dann häufig in Streit über die Weltanschauung und das zuvor vertraute Gegenüber wird einem zunehmend fremder. Häufig hilft es da, erst einmal durchzuatmen und versuchen zu verstehen, welche Rolle diese Haltung für die Person spielt. Diese Weltsicht hat oft eine Funktion für diese, bedeutet vielleicht eine Art Heilsversprechen – auch wenn das von außen manchmal schwer nachzuvollziehen ist. Wichtig ist, bereits früh dagegen einzutreten und nicht erst dann, wenn sich das Weltbild des Gegenübers bereits verfestigt hat. Dabei sollte man klar in der Haltung, aber respektvoll im Umgang sein. Wer sich über andere nur lustig macht oder sich über sie erhebt, wird wahrscheinlich wenig Erfolg haben, die andere Person zu erreichen. Manchmal können es auch recht einfache Fragen sein, die einen Nachdenkprozess anstoßen. Wenn im Gespräch mit Betroffenen Verallgemeinerungen über komplexe Gruppen fallen gelassen werden, kann es helfen, an dieser Stelle einzuhaken. Nehmen wir einmal das Beispiel "die Wissenschaft": Die Institutionenlandschaft und die Menschen, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden, sind alles andere als homogen und zudem international verteilt. Eine Verschwörung, etwa zum Klimawandel, müsste daher Millionen von Menschen auf der ganzen Welt miteinschließen. In jeder Diskussion sollten allerdings klare Grenzen gezogen werden. Es gilt, Antisemitismus, Rassismus und extreme Positionen als solche klar zu benennen und sich dagegen zu positionieren. Fake News entlarven: Verschwörungserzählungen im digitalen Raum
Ein Großteil der Menschen hat auf die eine oder andere Weise bereits Falschmeldungen und Verschwörungserzählungen im digitalen Raum wahrgenommen. Unwahrheiten können sich dabei teilweise rasend schnell online verbreiten – und wenn sie einmal in der Welt sind, ist es oft schwer, sie wieder einzufangen und richtigzustellen. Dabei stehen Menschen zunächst oft vor der Frage, woran sie seriöse Quellen eigentlich erkennen können. 1. Quelle: Bewerten Sie die Herkunft und Qualität der Quelle. Ist es ein YouTube-Video von einem Kanal, der, wenn man sich die Playlist anschaut, schon öfter durch die Verbreitung von verschwörungsideologischen Inhalten aufgefallen ist? Gibt es ein Impressum auf der Webseite, das einem mehr Informationen gibt? Haben Sie eine Sprachnachricht über WhatsApp erhalten und wissen eigentlich gar nicht, wer die Person ist? 2. Argumentation: Schauen Sie sich die Argumentation genau an. Versuchen Sie, den Kern der Nachricht auf die folgenden Faktoren herunterzubrechen: Wer berichtet was genau von wo und wann? Wird viel mit Suggestivfragen gearbeitet, die zwar Emotionen hervorrufen, aber eigentlich kaum einen Informationswert haben? Falschnachrichten arbeiten oft genauso. 3. Intention: Manche Texte werden mit einer klaren Absicht geschrieben. Das ist nicht immer falsch oder verkehrt, nur sollte man sich das als Rezipientin oder Rezipient deutlich klar- machen. Falschnachrichten arbeiten häufig mit Beschuldigungen gegenüber Einzelpersonen oder Gruppen und emotionalisieren die Information. Analysen haben immer wieder gezeigt, dass Fake News oft genutzt werden, um menschenfeindliche Inhalte zu transportieren. 4. Glaubwürdigkeitsanalyse: Eine häufig angewandte Argumentation ist die des angeblich "unterdrückten Wissens". Dabei wird gerne behauptet, dass die Position bestimmter Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler kein Gehör fände. Selbst wenn es unbestreitbar auch in der Wissenschaft Machtgefälle gibt, wird bei solcher Argumentation oft komplett ignoriert, wie Wissenschaft funktioniert. Wenn jemand also den Prozess der wissenschaftlichen Qualitätssicherung unterläuft, sich der kritischen Prüfung und Diskussion der Fachwelt entzieht und nur eine PDF-Datei auf seiner eigenen Homepage hochlädt, ist diese Person vermutlich nicht "unterdrückt", sondern ihre Arbeit entspricht einfach nicht den wissenschaftlichen Standards. 5. Kontext: Man sollte sich insbesondere Bilder und Videos genau daraufhin anschauen, in welchem Kontext sie entstanden sind. Die Bilder sind vielleicht nicht falsch, können jedoch aus dem eigentlichen Zusammenhang gerissen worden sein. Das kann sowohl zeitliche als auch örtliche Gegebenheiten betreffen. Mit einer umgekehrten Bildersuche lässt sich oft schon prüfen, ob das Bild nicht einen ganz anderen Ursprung hatte. In Bezug auf YouTube-Videos kann der YouTube DataViewer helfen, das Ursprungsvideo zu finden. 6. Belege: Aussagen werden bei seriösen Texten durch externe Quellen unterlegt. Fake News arbeiten oft so, dass Aussagen nur durch Beiträge von den eigenen oder befreundeten Seiten belegt werden.
Corona…Virus der Spaltung (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-06T00:00:00 | 2020-11-11T00:00:00 | 2022-01-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/318710/umgang-mit-verschwoerungserzaehlungen/ | Im Gespräch mit Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, sollte man klar in der eigenen Haltung, aber respektvoll im Umgang bleiben, bei extremen und menschenverachtenden Aussagen aber dennoch klare Grenzen ziehen. Eine Checkliste hilft, Un | [
"Verschwörungstheorien"
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Political Correctness / Politische Korrektheit | Sprache und Politik | bpb.de | In einem alten englischen Kindervers heißt es tröstend: "Sticks and stones may hurt my bones, but words can never harm me." Die Verfechter einer "politisch korrekten" Sprache würden sich einer solchen Auffassung nicht anschließen. Sie argumentieren, "Worte" – also die Sprache – könnten in bestimmten Situationen ein weitaus wirkungsmächtigeres Instrument als physische Gewalt sein. Sprache spiegle nicht nur die Weltsicht des jeweiligen Sprechers wider, sondern darüber hinaus lasse sich über "Worte" sogar eine bestimmte Weltsicht konstruieren. Diese bestimme wiederum konkretes politisches Handeln im Alltag. Als "politically correct" und damit wünschenswert wird eine Sprachverwendung tituliert, bei der die Sprecher einen aktuellen Sprachgebrauch auf Grundlage bestimmter Normen kritisch hinterfragen. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse sowie auf historische Verwendungszusammenhänge können dann einzelne Wörter, Redewendungen oder Denkfiguren als unangemessen verworfen und gegebenenfalls durch Alternativen ersetzt werden.
Metasprachliche Reflexion und Sprachkritik, das heißt das Nachdenken über Sprache und über Sprachgebrauch, sind so alt wie die Sprache selbst. Die systematische Bewegung hin zu einer "politischen Korrektheit" entstand jedoch erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen von Antidiskriminierungsbestrebungen seitens der Neuen Linken in den USA. Die Bewegung hat ihre Wurzeln an den Universitäten und wurde der breiteren US-Öffentlichkeit über die Medien Ende der 1980er Jahre bekannt. Auch sprachlich sollten Menschen aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ethnischen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit, ihrer sozialen Stellung, ihres Alters oder aufgrund einer Behinderung nicht beleidigt und zurückgesetzt werden.
Forderungen der PC-Befürworter
In der Annahme einer engen Verbindung von Sprache, Denken und damit Handeln entstanden so Sprachreglementierungen, die zum einen den Gebrauch bestimmter Ausdrücke ächten, zum anderen (da die Dinge ja nun einmal benannt werden müssen), eine neue, "feinfühligere" Terminologie vorschlagen oder vorschreiben. Über den Sprachwandel soll ein Bewusstseinswandel und idealerweise auch eine kulturelle Veränderung weg von der kritisierten Diskriminierung erreicht werden. Das ursprünglich also aus dem angelsächsischen Raum stammende, inzwischen aber allgemein verwendete politische Schlagwort Political Correctness (als Kurzwort PC) ist auch gebräuchlich als Adjektiv politically correct und wird für die deutsche Sprache auch mit Politische Korrektheit bzw. politisch korrekt übersetzt. In Deutschland eingeführt wurde der Ausdruck Anfang der 1990er Jahre durch Zeitungsartikel, die über die amerikanische PC-Debatte und deren Auswirkung auf Kunst, Politik und Gesellschaft berichteten: So diskutierte 1993 etwa die Wochenzeitschrift "ZEIT" in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben, ob in Deutschland ähnliche Phänomene wie den USA zu beobachten seien.
Doch wie werden die oben skizzierten Forderungen konkret umgesetzt? Für das Deutsche beispielsweise kritisieren PC-Befürworter die Verwendung des generischen Maskulinums – der männlichen Form also, wenn Personen beiderlei Geschlechts gemeint sind. Diese Kritik stammt aus der feministischen Sprachwissenschaft. Als Alternativen, um Frauen auch sprachlich sichtbar zu machen, so das Argument, werden die Nennung der weiblichen und männlichen Form (Ärztinnen und Ärzte), die Binnen-I-Schreibung (LehrerInnen) oder neutrale Formulierungen (Arbeitnehmende) angeregt. Bestimmte Volksgruppen werden in den Massenmedien – durchaus abweichend vom tradierten Sprachgebrauch – mit ihren Eigenbezeichnungen benannt: Inuit statt Eskimos, Sinti und Roma statt Zigeuner. Ausländer werden zu Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Zuwanderungsgeschichte. Zum guten Ton gehört es, die Putzfrau als Raumpflegerin, den Toilettenmann als facility manager zu bezeichnen. Berufe mit schlechtem sozialen Prestige werden so zumindest sprachlich aufgewertet. Prinzipiell werden negativ konnotierte Spracheinheiten durch solche ersetzt, die beanstandete Teilaspekte ausblenden, positive Gesichtspunkte betonen oder aber, etwa als eher noch unbekanntes Fremdwort, bislang keinen Nebensinn hervorrufen.
Öffentliche Diskussion
Die Überlegungen in der öffentlichen Diskussion konzentrierten sich sehr bald auf die Frage, wie sinnvoll derartige Sprachregelungen sind. Im Zuge einer gehäuft kritischen Berichterstattung wandelte sich die ursprünglich – wenn zum Teil wohl auch früh ironisch verwendete – positive Eigenbeschreibung "politisch korrekt" seit Beginn der 1990er zu einem abwertend gebrauchten Kampfbegriff der politischen Gegner. PC wird vermehrt mit lächerlicher Euphemisierung und dogmatischer, intoleranter Politik assoziiert. Argumentiert wird von den Gegnern auf verschiedenen Ebenen: Konservative Gruppierungen stehen Antidiskriminierungsbemühungen von linker oder liberaler Seite naturgemäß prinzipiell ablehnend gegenüber. Daneben existieren Stimmen, die die hinter einer solchen Sprachpolitik stehende Motivation zwar anerkennen, die erwünschte Wirkung jedoch bestreiten: Ein Hauptargument ist, dass mit der Schöpfung neuer Begriffe keine Veränderung der sozialen Wirklichkeit einhergehe und die tatsächlichen Ursachen von Rassismus, Sexismus sowie anderer Diskriminierung durch Sprachpolitik nicht überwunden werden könnten. Im Gegenteil könne es unter dem Deckmantel mildernder Benennungen sogar zu einer Verharmlosung gesellschaftlicher Missstände, sozialer Ungerechtigkeiten und Vorurteile kommen.
Euphemismusketten
Unbestritten ist, dass sich die neuen, "politisch korrekten" Ersatzausdrücke abnutzen können, wenn sich die negative Konnotation nach einer Weile auch auf die Neubildung überträgt. Dies kann zu einer fortwährenden Neuschöpfung führen: Ein US-amerikanisches Beispiel ist hier die Kette Negros – black people – coloured people – African-Americans für Menschen mit einer dunklen Hautfarbe (ähnlich für den deutschen Sprachraum Neger – Schwarze – Farbige – Afro-Amerikaner). Aus sprachwissenschaftlicher Sicht geschieht dabei folgendes: Negros/Neger, dass sich vom lateinischen Wort niger = schwarz herleitet, wird (wohl wegen seines Anklangs an das Schimpfwort Nigger) ersetzt durch die direkte Übersetzung ins Englische bzw. Deutsche und ist am Anfang tatsächlich ganz neutral beschreibend (deskriptiv). Bei coloured people/Farbige steht zwar noch das Merkmal "Hautfarbe" im Vordergrund, die Formulierung ist jedoch viel weiter und schließt damit zumindest theoretisch auch Menschen anderer Hautfarbe ein. African-Americans/Afro-Amerikaner geht ganz weg von der Hautfarbe und bestimmt die benannte Gruppe über die Herkunft.
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Ein deutsches Beispiel für "Euphemismenketten" sind die schwer erziehbaren Kinder, die in offiziellen Kontexten zu verhaltensgestörten Kindern, dann verhaltensauffälligen Kindern und schließlich verhaltensoriginellen Kindern werden. Das Verhalten der Kinder erscheint zunächst als eindeutig negativ klassifiziert, dann ist es nur noch "auffällig" (hier bleibt ungesagt, in welche Richtung), und schließlich bietet "verhaltensoriginell" sogar positive Konnotationen. PC im Konflikt mit Sprachregeln
Ein "politisch korrekter" Sprachgebrauch kann im Konflikt mit grundlegenden erstrebenswerten Sprachregeln wie den Regeln der Sprachökonomie, der Verständlichkeit oder der Korrektheit stehen. Tatsächlich fällt auf, dass die Ersatzausdrücke zumeist länger als die Ersetzung sind. Und durch die Auslassung prägnanter Formulierungen (an denen in der Regel die Diskriminierung festgemacht wird, so dass der entsprechende Sachverhalt entweder umschrieben oder ausgelassen wird) sind sie meist auch schwerer verständlich: Setzt man für behindertes Kind das besonderes Kind ein, bleibt der Ersatzausdruck so vage, dass für den Kommunikationszusammenhang wichtige Informationen fehlen können. Gerade die Vermeidung des generischen Maskulinums kann sich durch sperrige Sätze negativ auf die Verständlichkeit des Textes auswirken oder zu absurden Formulierungen führen ("tote Studierende" etwa funktioniert nicht, da man entweder tot sein oder studieren kann). Allerdings ist es bei in der Presse immer wieder zitierten grotesken Neubildungen wie vertikal herausgefordert als Ersatzwort für kleinwüchsig oder chemisch unpässlich für betrunken unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich von PC-Befürwortern verwendet werden.
Unsicherheiten bei der Benennung von Personengruppen
Ein Straßenverkäufer in der Nähe von Berlin, 1996
Unsicherheiten gibt es vor allem bei einer Kommunikation mit und über bestimmte diskriminierte Personengruppen. Die Benennung Neger verbietet sich mittlerweile in der deutschen Sprache (vgl. dazu etwa den entsprechenden Eintrag im "Großen Wörterbuch der deutschen Sprache" des Duden-Verlages). Doch gilt dies für alle Kommunikationszusammenhänge? Wie ist es mit der Süßigkeit Negerkuss, die heutzutage in Schaum- oder Schokokuss umgewandelt wurde? Und ist es nötig, Buchtitel zu ändern, etwa Agatha Christies Kriminalroman "Zehn kleine Negerlein" (er basiert auf einem gleichlautenden Zählreim für Kinder) in "Und dann gabs keines mehr" (seit 2003; parallel dazu im Englischen "Ten Little Niggers"/"And Then There Were None")? Wie geht man damit um, dass Astrid Lindgren in ihren Kinderbüchern Pippi Langstrumpf als "Negerprinzessin" bezeichnet (und in ihrer Zeit damit sicherlich keine negativen Konnotationen verband)? Ein weiteres Beispiel ist der Ersatz des Ausdruckes Zigeuner durch Sinti und Roma. Eine Kritik an dieser Benennung bemängelt, dass andere Gruppen als Sinti und Roma, die aber mitgemeint sind, nun sprachlich verdeckt werden. Auf den Speisekarten der Restaurants indes bleibt das "Zigeunerschnitzel" erhalten, ebenso der "Zigeuner" in Texten der Volksmusik. Ein Kriterium für oder gegen bestimmte Vorschläge könnte die Frage sein, wie die entsprechenden Gruppen selbst benannt werden möchten. Und manchmal werden ursprünglich negative Bezeichnungen oder sogar Schimpfwörter zu positiven Selbstbenennungen umgewandelt: Dies geschah etwa bei den Homosexuellen (Schwule und Lesben) oder Prostituierten (Huren).
Sprache und Weltsicht
Es ist sicherlich richtig, dass der Sprachgebrauch des Menschen Aufschluss über seine Weltsicht gibt: Ob ich eine "Selbsttötung" als Freitod, Selbstmord oder Suizid bezeichne, kann meine Einstellung dazu verdeutlichen. Mit Ausdrücken wie Schwangerschaftsunterbrechung, Abtreibung, Embryomord (die sich ja auf denselben außersprachlichen Sachverhalt beziehen) werden unterschiedliche mentale Bilder hervorgerufen; bestimmte Bedeutungsmerkmale werden betont oder unterdrückt. So gab es etwa in der Bundesrepublik der 1970er Jahre eine Kontroverse darüber, ob die Terroristen um Andreas Baader und Ulrike Meinhof in den Medien korrekterweise als Baader-Meinhof-Gruppe oder als Baader-Meinhof-Bande zu bezeichnen seien. Deutlich wird: Welche Benennung als die eigentliche, "neutrale" anzusehen ist, hängt vom jeweiligen Sprachverwender ab, der von eigenen politischen und moralischen Grundsätzen beeinflusst ist.
So kann Sprache auch instrumentalisiert werden: Nicht nur diktatorische Staaten versuchen systematisch, die Meinungsbildung zu wichtigen Themen über die Verwendung bestimmter Benennungen bzw. das Verbot anderer Ausdrücke zu beeinflussen. Ob Sprachregelungen allerdings eine solch direkte Auswirkung auf Denkprozesse und Vorstellungswelten der Menschen haben, wie es George Orwell in seinem Roman "1984" beschreibt – dort übernehmen die Menschen mit den vorgeschriebenen Wörtern auch die vorgeschriebenen Inhalte – bleibt diskussionswürdig. Vorsicht ist allerdings immer dort geboten, wo gewisse Sprachnormen sich nicht aus einer Sprachgesellschaft heraus entwickeln, sondern von "höherer" Stelle, etwa einzelnen Organisationen, Verbänden oder Politikern, vorgegeben werden. Hier sollte hinterfragt werden, was einerseits durch die neue Sprachgestaltung betont und was andererseits ausgeblendet wird.
Fazit
Festzustellen bleibt: "Politisch korrekte" Sprache ist ein schwieriges Feld, es gibt viele Unsicherheiten und Fallstricke. Der Grat zwischen verantwortungsvollem Sprachgebrauch und unsinnigen, intoleranten Formulierungen ist schmal; gefragt ist hier die eigene Sprachkompetenz: Prinzipiell sollten wir unsere Sprachverwendung überprüfen und dort, wo wir mit Sprache Menschen verletzen können – denn, um den Kinderreim vom Anfang dieses Textes aufzugreifen: "Words" vermögen dies wohl tatsächlich – alternative Formen wählen. Dies ist aber immer vom Kommunikationszusammenhang abhängig, so dass ein generelles Verbot bestimmter Spracheinheiten und ein genereller, unbedingter und vorgeschriebener Gebrauch vieler Alternativen durch die oben aufgeführten Kritikpunkte ins Leere läuft.
Literaturhinweise
Sibylle Germann: Vom Greis zum Senior. Bezeichnungs- und Bedeutungswandel vor dem Hintergrund der "Political Correctness". Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag 2007.
Matthias Jung: Von der politischen Sprachkritik zur Political Correctness. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 78 (1996), S. 18-37.
Jörg Kilian: Pippi Langstrumpf als Negerprinzessin: Tabuwörter, Euphemismen und kritische Semantik im Deutschunterricht, in: Deutschunterricht 60, 2007, Heft 2, 15-19.
Caroline Mayer: Öffentlicher Sprachgebrauch und Political Correctness. Eine Analyse sprachreflexiver Argumente im politischen Wortstreit. Hamburg: Kovac 2002
Sabine Wierlemann: Political Correctness in den USA und in Deutschland. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2002.
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Ein Straßenverkäufer in der Nähe von Berlin, 1996
"Stöcke und Steine können meine Knochen verletzen, aber Worte können mir niemals weh tun.
| Article | Iris Forster | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-11-24T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/sprache-und-politik/42730/political-correctness-politische-korrektheit/ | Immer wieder werden neue Sprachreglementierungen gefordert und begründet. Doch nicht selten führt die vermeintlich "politische Korrektheit" der Sprache zu Unklarheit, Widersprüchen und neuen Verständigungsproblemen. | [
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Contra: Warum Sparen falsch ist | Themen | bpb.de |
Klaus Busch
Die Austeritätspolitik, welche die EU unter der deutschen Hegemonie im Jahre 2010 einleitete, basiert auf der Analyse, dass einerseits die übermäßigen Staatsschulden die Eurokrise verursacht und andererseits die übermäßige Lohn- und Sozialpolitik in etlichen EU-Staaten zum Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit geführt hätten. Die einzig mögliche Antwort sei deshalb ein rigider Sparkurs in der Haushalts-, Sozial- und Lohnpolitik. Diese einseitige Analyse der Krisenursachen übersieht, dass in vielen Staaten erst aufgrund der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 die Staatsschulden explodierten (einbrechende Steuereinnahmen, konjunkturstützende Ausgaben und Rettung von Banken) und einige der nach 2009 hochverschuldeten Staaten (Spanien, Irland) vor der Krise deutlich niedrigere Staatsschuldenquoten verzeichneten als der Musterstaat Deutschland. Sie ist auch gegenüber der Tatsache blind, dass gerade die deutsche Politik der - im europäischen Kontext - weit überdurchschnittlichen Lohnmäßigung einen großen Beitrag zu den Leistungsbilanzungleichgewichten in der Eurozone leistete (Busch 2012). USA kommen besser durch die Krise
Im Ergebnis produzierte diese Politik der starken Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (Reduktion der Haushaltsdefizite, Lohnabbau) in den Jahren 2012 und 2013 in der Eurozone eine weitere Rezession. Insbesondere in den Staaten, die am härtesten sparen mussten (Griechenland, Portugal, Irland, Spanien), kam es zu erheblichen Einkommenseinbußen, einer Explosion der Arbeitslosenraten, vor allem bei den Jugendlichen, und massiven Einschnitten in den sozialen Sicherungssystemen (Busch/Hermann/Hinrichs/Schulten 2012). Dass die Krise auch anders bekämpft werden kann, lehrt die Entwicklung in den USA seit 2008/2009. Mit Hilfe einer sehr expansiven Geld- und Fiskalpolitik haben die Vereinigten Staaten wesentlich bessere Wachstums- und Beschäftigungsdaten erzielt als die EU. Während sich die Eurozone in der Rezession befand, realisierten die USA 2012/2013 bereits wieder ein BIP-Wachstum von zwei und drei Prozent. Während die Arbeitslosenrate in der Eurozone mit über 12 Prozent 2013 auf einem historisch überdurchschnittlichen Niveau angesiedelt war, lag die Arbeitslosenrate in den USA bereits wieder unter 7 Prozent. Zwei idealtypische Wege
Es gibt ökonomisch idealtypisch zwei Wege eine Krise zu bekämpfen: Regierung und Zentralbank können auf einen Einbruch der Realwirtschaft mit einer Stützung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage reagieren und die dabei erzeugten Haushaltsdefizite nach Erreichen eines hohen Wachstumspfades wieder abbauen (so die USA). Der Staat kann aber auch eine Sparpolitik durchführen, welche die realwirtschaftliche Krise zunächst verstärkt, jedoch die Neuverschuldung senkt. Durch Anpassungen auf der Angebotsseite (Arbeitslosigkeit senkt Löhne und Preise) soll dann nach und nach der Output stabilisiert werden (so die Eurozone). Der zweite Weg erzeugt zum einen wesentlich höhere soziale Anpassungskosten als der erste Anpassungspfad (hohe Arbeitslosigkeit, größere Einkommenseinbußen), zum anderen vollzieht sich die Stabilisierung in der Regel langsamer als auf dem alternativen Weg. Obwohl auch internationale Institutionen, wie der Interner Link: International Währungsfonds IWF, auf diese Unterschiede hingewiesen haben und den harten Sparkurs in Europa kritisierten, hat sich insbesondere die deutsche Regierung, von der internationale Stimmen immer wieder Wachstumsimpulse einforderten, gegenüber der Kritik als äußerst hartleibig erwiesen. Die deutsche Regierung lehnte auch die Forderung ab, zur Entlastung der Staatsschulden der südeuropäischen Länder Eurobonds oder einen Schuldentilgungsfonds einzuführen. Beide Instrumente hätten die Zinskosten der hoch verschuldeten Staaten reduzieren können und wurden unter anderen von den südeuropäischen Regierungen und Frankreich, aber auch der Europäischen Kommission unterstützt. Auch den Wunsch der Südeuropäer, bei der Realisierung einer Bankenunion in der EU eine direkte Stabilisierung von Banken durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM zu ermöglichen, hat die deutsche Regierung abgelehnt. Die Politik der Bundesregierung orientierte auf die fiskalpolitische Disziplinierung und wettbewerbspolitische Normierung der Mitgliedstaaten. Sie war sehr stark durch nationale Interessen geprägt, denn sie wies die Forderungen nach einer stärker solidarischen Europapolitik in Form von Eurobonds, einem Schuldentilgungsfonds, einer expansiveren Wirtschafts- und Lohnpolitik sowie einem direkten Engagement des ESM bei Bankenrestrukturierungen allesamt ab. Sie nahm auch die strukturellen Ursachen der Eurokrise, die aus der Fehlkonstruktion des Maastrichter Vertrages resultieren (Europäische Kommission 2012; Rompuy/Barroso/Juncker/Draghi 2012), nicht in den Blick. Demokratisierung der EU
Dass eine gemeinsame Währung letztlich nur in einer gemeinsamen Politischen Union bestehen kann, die neben einer Geldregierung über eine gemeinsame Wirtschaftsregierung verfügt, lag nicht im Fokus der Europapolitik der schwarz-gelben Regierung. Sie unterstützte deshalb auch nicht die Bemühungen einer Demokratisierung der EU mit einer Stärkung der Rolle des Europaparlaments im Gesetzgebungsverfahren und dem Ausbau der Kommission zu einer demokratisch gewählten und kontrollierten europäischen Regierung. Ebenso wenig hatte sie damit Probleme, dass das Maastrichter System der Wettbewerbsstaaten - mit einer gemeinsamen Währung, aber nationalen Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken - dazu neigt, Dumpingpraktiken und damit Leistungsbilanzungleichgewichte zu erzeugen. In Deutschland ist die Sichtweise sehr verbreitet, dass die höher verschuldeten Staaten ihre Probleme selber erzeugt hätten und ebenso für ihre Leistungsbilanzdefizite selber verantwortlich seien. Dabei wird sowohl der Einfluss der internationalen Finanzkrise 2008/2009 negiert als auch die Verantwortung der deutschen Wirtschafts- und Lohnpolitik. Dieser Blick ist gleichzeitig mit der Auffassung gepaart, Deutschland werde aufgrund seiner Bürgschaften für die Krisenländer hohe Verluste einfahren. Die Vorteile, die Deutschland bislang aus der Krise gezogen hat – niedrigere Zinsen für seine Staatsschulden, Exportvorteile durch den niedrigen Eurokurs und Gewinnausschüttungen der Europäischen Zentralbank, die sich in hoch verzinslichen Staatspapiere der Krisenstaaten engagiert -, Vorteile, die sich vorsichtig geschätzt bislang auf über 100 Mrd. Euro belaufen, werden dagegen in Deutschland nicht wahrgenommen, geschweige denn diskutiert. Auch die neue schwarz-rote Bundesregierung setzt diesen wirtschaftspolitischen Kurs – trotz des konträren Wahlprogramms der SPD – in allen genannten Aspekten uneingeschränkt fort (Koalitionsvertrag 2013; SPD 2013). Literatur:
Busch, Klaus (2012): Scheitert der Euro? Strukturprobleme und Politikversagen bringen den Euro an den Abgrund. Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Berlin Busch, Klaus/Hermann, Christoph/Hinrichs, Karl/Schulten, Thorsten (2012): Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell. Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Berlin Europäische Kommission (2012): Ein Konzept für eine Vertiefte und Echte Wirtschafts- und Währungsunion – Auftakt für eine Europäische Diskussion, COM (2012) 777 final/2, Brüssel Koalitionsvertrag (2013): Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin Rompuy, Van Herman/Barroso, J.M./ Juncker, J.-C./Draghi, M. (2012): Towards a Genuine Economic and Monetary Union, Brussels SPD (2013): Das Wir entscheidet – Regierungsprogramm 2013-2017, Berlin
Klaus Busch
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-04-10T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europawahlen/europawahlblog-2014/182608/contra-warum-sparen-falsch-ist/ | Die Sparpolitik habe in der Eurozone in Zeiten der Krise eine weitere Rezession verursacht, sagt Klaus Busch. Die USA seien mit einer sehr expansiven Geld- und Fiskalpolitik besser durch die Krise gekommen. | [
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Warten auf die Bahn | bpb.de | "Diese Zeit gehört Dir", lautet seit 2015 der Slogan einer prominenten Werbekampagne der Deutschen Bahn. Reisezeit, so das Versprechen, sei keine verlorene, sondern (wieder)gewonnene Zeit, Bahnfahren das kurze Exil in einer hektischen Alltagswelt – ein raffinierter Ansatz im Kontext unserer höchst zeitsensiblen Gesellschaft, in der Schnelligkeit und selbstbestimmte (Reise-)Zeitnutzung einen hohen Stellenwert einnehmen. Gleichwohl trägt zur allgemeinen Zeitsensibilität des Bahnreisens nicht nur das Entspannen im Bordbistro, sondern auch die alltägliche Erfahrung von Wartezeiten bei. Laut der Deutschen Bahn waren im präpandemischen "Normalbetrieb" des Jahres 2019 75,9 Prozent aller Fernverkehrszüge pünktlich. Demnach kam gut ein Viertel der Züge unpünktlich an sein Ziel, wobei die Bahn in ihrer Statistik einen Halt erst dann als unpünktlich wertet, wenn die planmäßige Ankunftszeit um mehr als sechs Minuten überschritten wird. Ausgefallene Züge finden zudem keine statistische Berücksichtigung. Deutschland liegt damit im europäischen Vergleich im letzten Drittel – und das obwohl andere Länder Pünktlichkeit strenger auslegen. Offiziell fielen 2019 laut Bahn 3,74 Millionen Verspätungsminuten an, wobei Nahverkehrszüge von Verzögerungen grundsätzlich weniger betroffen sind als Fernverkehrszüge.
Das Warten auf die (verspätete) Bahn bildet zweifellos einen unweigerlichen Teilaspekt der Reiseerfahrung. Überhaupt stellte Verspätung bereits von Anbeginn des Bahnwesens eine feste Begleitgröße dar. Dies kann kaum treffender illustriert werden als durch die Eröffnung der ersten regulären Personenverkehrsstrecke zwischen Liverpool und Manchester am 15. September 1830, die den triumphalen Auftakt in ein neues Zeitalter der beschleunigten Raumüberwindung markieren sollte: Nicht nur mussten die 600 Passagiere des Festzuges in Liverpool bereits vor Abfahrt eine Wartezeit von gut 70 Minuten absolvieren, sondern traf der Zug auch erst mit zweieinhalb Stunden Verspätung in Manchester ein, nachdem auf halber Strecke ein entgegenkommender Zug den britischen Parlamentsabgeordneten und ehemaligen Minister William Huskisson erfasst hatte, der später seinen Verletzungen erlag.
Über dieses historische Ereignis hinaus eröffnet die Beschäftigung mit dem Warten einen Einblick in Konstitution und Wandel unserer modernen Zeitauffassung. Obwohl Wartesituationen aus Passagierperspektive seit jeher ein zentraler Aspekt der Mobilitätserfahrung sind, erhält die Thematik innerhalb der historischen Verkehrs- und Technikforschung bislang nur geringe Aufmerksamkeit. Vor diesem Hintergrund würdigt dieser Beitrag das Warten auf die Bahn nicht nur als eine zentrale Mobilitätspraxis, sondern unterzieht es auch einer bau- und rezeptionsgeschichtlichen Rekonstruktion. Wie und wo wurde in früheren Zeiten auf die Bahn gewartet, und war es schon immer so geächtet wie heute?
Warum wir auf die Bahn warten (müssen)
Die Entstehung von Verzögerungen und Wartezeiten im Bahnwesen hat viele Ursachen. Zu den infrastrukturell-technischen Ursachen zählen Probleme an Gleisanlagen, Fahrzeugen oder am Signal- und Leitungssystem, die Reparaturen oder die Einrichtung von Baustellen erfordern. Zu den betrieblichen Ursachen zählen die unzureichende Anzahl und Einsatzfähigkeit verfügbarer Züge und Ersatzzüge, aber auch Personalmangel. Zudem führen Wetterereignisse wie Sturm, Starkregen und starker Schneefall oder auch Streiks gelegentlich zu Verzögerungen. 2019 waren die drei häufigsten Verspätungsursachen von Zügen der DB Fernverkehr netzbedingte Verspätungsminuten (18 Prozent), Störungen an Fahrzeugen (11,8 Prozent) sowie Störungen an Leit- und Sicherheitstechnik (7 Prozent). Davon ist auch der Güterverkehr betroffen. So waren Güterzüge der DB Cargo im Jahresmittel von 2019 durchschnittliche 43,2 Minuten verspätet.
Der hohe Anteil an netzbedingten Verspätungen führt vor Augen, dass die Bahn als ein hochkomplexes und entsprechend störungsanfälliges Verkehrssystem zu verstehen ist. In einem solchen System können Störungen sich oftmals noch auf selbst weit entfernte Punkte auswirken, was Reisenden bisweilen in der besonders grotesk anmutenden Verspätungsursache "Verspätung aufgrund einer vorausgegangenen Verspätung" in Erinnerung gerufen wird.
Neben netzbedingten und betrieblichen Ursachen entstehen Wartesituationen jedoch auch seitens der Reisenden selbst. Sie resultieren aus der formalen Besonderheit, dass der Zugang zu einem öffentlichen Verkehrsmittel – das im Gegensatz zum Individualverkehrsmittel eine "örtliche und zeitliche Bündelung von Fahrtwünschen" ermöglicht – nur dann effizient und verlässlich realisiert werden kann, wenn sich Reisende einem gewissen Orts- und Sachzwang unterstellen. Die Abfahrt ist für Reisende folglich nicht frei wählbar, sie müssen sich schlicht zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfinden, um gemeinsam transportiert zu werden. Daher müssen selbst bei pünktlicher Abfahrt gewisse Zeitpuffer eingeräumt werden. So absolvieren Bahnreisende am Abfahrtsort ein mehr oder weniger langes Warten im Transitraum von Warteräumen und Bahnsteigen oder aber ein indirektes Warten in Restaurants und Geschäften. Der zeitliche Umfang dieses situativen Wartens vor Abfahrt kann durchaus erheblich sein. So erhob die Deutsche Bundesbahn 1979, dass 35 Prozent der Fernverkehrsreisenden vor der planmäßigen Abfahrt ihres Zuges eine selbstgewählte Wartezeit von 6 bis 15 Minuten, 32 Prozent eine Wartezeit von 15 bis 30 Minuten, 14 Prozent eine Wartezeit von 30 bis 60 Minuten und 5 Prozent gar eine Wartezeit von mehr als 60 Minuten verbrachten. Nur 12 Prozent der Fernverkehrsreisenden absolvierten ein Kurzzeitwarten von 0 bis 6 Minuten. Auch wenn keine vergleichbaren Statistiken aus jüngerer Zeit vorliegen, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Bahnreisenden nach wie vor solche Zeitpuffer einrichtet.
Historisch gesehen, nahm dieser seitens der Reisenden benötigte Zeitvorlauf noch weit größere Kapazitäten in Anspruch als heute. Grund dafür war unter anderem, dass ein geordnetes Verkehrsangebot aus Sicht der Eisenbahngesellschaften über weite Teile des 19. Jahrhunderts nur durch ein mehr oder weniger hohes Maß zeitlicher und räumlicher Kontrolle vor Beginn der Abfahrt ermöglicht werden konnte, um Ströme (sicher) zu lenken, Fahrberechtigungen zu prüfen oder Passagiere (klassenspezifisch) gruppieren zu können. Der neuartigen organisatorischen Herausforderung, viele Menschen gleichzeitig mit einem Verkehrsmittel zu synchronisieren, wurde folglich mit Kontroll- und Transferzonen begegnet. Die Gestaltung von Bahnhöfen im 19. Jahrhundert zielte demnach nicht nur auf die Errichtung symbolträchtiger Kathedralen der Mobilität, sondern auch auf die Einrichtung großer Wartezonen, um einen ordnungsgemäßen Übergang der Passagiere auf die Züge zu gewährleisten. Insbesondere das erste Jahrhundert der Eisenbahn stand dabei vielerorts im Zeichen der temporären Sammlung bereits abgefertigter Reisender in großen Wartesälen, die "aus Gründen der Sicherheit und Kontrolle noch nicht auf den Bahnsteig durften".
Warten ist "modern"
Dass Reisende einen Zug im Wartesaal oder am Bahnsteig erwarten, mag heute banal erscheinen. Tatsächlich aber ist diese Situation historisch gesehen relativ neu, denn ohne den organisierten Massenverkehr der Eisenbahnen wäre jener Zeitzwischenraum schlichtweg nicht entstanden. Zwar war zum Zeitpunkt der ersten Eisenbahnreisen das Warten an sich keineswegs neu: Menschen warteten schon immer auf ernährungsrelevante Ernten, auf transportrelevante Winde, auf spirituelle Erlösung und vieles mehr. Jedoch erfuhr das Warten als anthropologische Grundverfassung mit Beginn des Eisenbahnzeitalters in den 1830er Jahren eine "moderne" Erweiterung. Diese Form des Wartens war erst durch die allgemeine Bewegungs- und Beschleunigungszunahme der verkehrlichen Moderne erzeugt worden und unterschied sich in mindestens vier Merkmalen von der Erfahrung bis dahin typischer Wartesituationen.
Erstens war sie wesentlich kürzer als etwa ein vormodernes Langzeitwarten auf jahreszeitlichen Wandel oder das Erscheinen astronomischer Konstellationen zur Zeitbestimmung. Auch wenn es sich aus Sicht der Wartenden am Bahnhof manchmal wie eine Ewigkeit anfühlen mag, ist es verglichen mit vormodernen Wartesituationen von relativ begrenzter Dauer. Zweitens war dieses Warten wesentlich profaner und weniger existenziell, weil es eine formale Notwendigkeit des (neuen) Verkehrszugangs darstellte. Drittens war dieses Warten von weniger Ungewissheit gezeichnet. Wartende in modernen Systemzusammenhängen wie etwa am Bahnhof verfügten insgesamt über eine gewisse Prozesssicherheit, weil sie sich bereits im System befanden beziehungsweise Informationen durch Pläne oder Auskünfte erhielten, die die Ungewissheit des Wartens kompensieren konnten. Im Vergleich zu anderen Wartesituationen war das Warten auf die Bahn zudem stärker im Vorfeld plan- und absehbar und geschah dadurch weniger überraschend. Viertens trat das "moderne" Warten im Bahnkontext zudem häufiger und regelmäßiger auf. Das Wissen über Rhythmik der Entstehung, Erfahrung und Auflösung solcher systemischer Wartesituationen gehörte im Leben der Moderne zunehmend zur Alltagsroutine, weil diese auch in anderen Kontexten (Verwaltung, Dienstleistungen) auftraten und damit eine stärkere Routinisierung des Verhaltens ermöglichten. Nichtsdestotrotz waren und sind solche "modernen" Wartesituationen keineswegs psychologisch unproblematisch, denn die selbst im Kurzzeitwarten erzwungene Taktunterbrechung bildet unweigerlich den Wahrnehmungsmittelpunkt und kann negative Affektreaktionen hervorrufen, insbesondere im Verspätungsfall.
Vor diesem Hintergrund erforderte das Warten am Bahnhof eine neue Kulturpraxis, die erst erlernt werden musste. Zudem impliziert die Neuheit der Wartesituation, dass sie in den Betriebsablauf eingefügt und von einem entsprechenden Raumprogramm gerahmt werden musste. Baulicher Rahmen und kulturelle Rezeption können somit Aufschluss geben, welchen Wandel das Warten auf die Bahn durchlaufen hat.
Baugeschichtliche Konjunkturen
Wie und wo auf die Bahn in ihrer fast 200-jährigen Geschichte gewartet wurde, war auf engste mit den Entwicklungsphasen des Bahnhofsbaus verbunden. Darin spiegelten Lage und Stellung des wartebezogenen Raumprogramms jeweils wandelnde Betriebskonzepte des Verkehrszugangs, die den wartenden Passagier mehr oder weniger stark formalisierten und disziplinierten.
Während die Pionierphase der Eisenbahn (1830–1845) den Reisenden zum Teil noch recht große informelle Spielräume und Bewegungsfreiheiten bot, bildete sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Regime der Zwangsschleusung durch Wartesäle heraus, das dem Abfertigungsprinzip heutiger Flughäfen ähnelte und ungefähr bis zur Schwelle zum 20. Jahrhundert dominierte. Im Rahmen dieses "stationären Warteimperativs" war es den Reisenden in vielen europäischen Ländern vor Abfahrt nicht gestattet, den Bahnsteig oder bereitstehende Züge zu betreten. Vielmehr mussten sie sich so lange in nach bis zu vier Wagenklassen separierten Wartesälen aufhalten, bis ein Einstiegssignal ertönte. Dieser organisatorische Zwang zum Warten wurde als eine Art Zeitstrategie implementiert, um die betrieblichen Abläufe in der Gleishalle nicht zu gefährden. Der Zwang wurde jedoch durch Komfort- und Serviceeinrichtungen kompensiert. So ähnelten Wartesäle im deutschsprachigen Raum ab Mitte des 19. Jahrhunderts vielerorts großen Restaurants, in denen das Warten fast untrennbar mit dem Konsum von Speisen und Getränken verbunden war.
(© picture-alliance/dpa)
Der im Laufe des 19. Jahrhunderts wachsende Formalisierungsgrad der Abfahrtsorganisation war jedoch international nicht einheitlich. Während insbesondere im deutschen und französischen Kontext Reisende mancherorts förmlich in die Wartesäle eingesperrt wurden und die Wartezeit dadurch wesentlich angespannter und nervöser erlebt haben dürften, war es Reisenden in England von Anbeginn möglich, sich frei auf den Bahnsteigen zu bewegen. Hier wurden Wartesäle zum Teil gar nicht erst errichtet. Somit spiegelten wartebezogenes Raumprogramm und Abfahrtsorganisation auf den Bahnhöfen nicht zuletzt auch Gesellschaftsauffassungen der jeweiligen Nationen, die von einer patriarchalisch-ordnenden Auffassung (Deutschland, Österreich, Frankreich) mit tendenziell starker Reglementierung der Bewegungsfreiheit bis hin zu einer liberal-individualistischen Auffassung (England, Belgien) reichten, in der das Warten auf die Abfahrt wesentlich selbstbestimmter verbracht werden konnte.
Erst vor dem Hintergrund des wachsenden Verkehrsdrucks und der kategorischen Zielsetzung, kreuzungsfreie und reibungslose Passagierströme zu erlauben, wurde nach 1900 – angefangen mit den großen Kopfbahnhöfen der Metropolen – das stationäre Sammeln und Festhalten der Reisenden zugunsten einer moderneren, fluiden Zugangslösung aufgegeben. Den baulichen Rahmen bildete hierfür die Einrichtung eines Direktzugangs aus der Eingangshalle auf einen Quer- oder Kopfbahnsteig, der als selbstorganisierte Zirkulationszone zunehmend in funktionale Konkurrenz zum geschlossenen Wartesaal und dessen stationärer Nutzungspraxis trat. Repräsentiert durch stark verkleinerte und an die Ränder der Empfangsgebäude verlegte Wartesäle in Bahnhofsneubauten der 1920er und 1930er Jahre, wurde der lange stationäre Aufenthalt in einer auf Effizienz und reibungslose Passagierströme ausgerichteten Wegeführung zunehmend zur randständigen und damit optionalen Mobilitätspraxis, der mehrheitlich nur noch von Reisenden im Fernverkehr nachgegangen wurde. Motor dieser Entwicklungen war im deutschen Kontext insbesondere ein um 1900 wissenschaftlich betriebener Bahnhofsbau, der die Prozessabläufe der modernen Fabrik auf die Passagierströme im Bahnhof zu übertragen und dabei die großen Wartesäle zugunsten einer Flusslogik aufzugeben suchte. Das lange stationäre Warten wurde zunehmend als ineffizienter und unökonomischer Störfaktor der Betriebsabläufe, die riesigen Wartesäle als "fressendes Kapital" angesehen.
In den Bahnhöfen der Nachkriegsmoderne setzte sich der Bedeutungsverlust des wartebezogenen Raumprogramms dann noch weiter fort. Durch Verkleinerung und Umwidmung von Flächen im Bahnhofsinneren wurden Wartesäle meist zu Gewerbeflächen, sodass sich die Aktivitäten vor Abfahrt noch stärker als zuvor in Richtung des Konsums von Waren und Dienstleistungen verschoben. Ehemalige Wartesäle wurden zunächst in Kinos und Gaststätten, dann in ganze Ladenstraßen verwandelt. Erst im Zuge einer seit Mitte der 1990er Jahre programmatischen "Renaissance der Bahnhöfe" findet die Abfahrtssituation in Form der Errichtung separater Wartezonen und exklusiver DB-Lounges in Deutschland punktuell wieder eine bauliche Berücksichtigung.
Rezeptionsgeschichtliche Entwicklung
Parallel zur baugeschichtlichen Verhandlung weist auch die Rezeption des Wartens auf die Bahn in Literatur und Kunst einen deutlichen Wandel auf. Für die Pionierphase der Eisenbahn lässt sich bis auf punktuelle Beschwerden im Kontext unzulänglicher Betriebsverhältnisse zunächst keine explizite Thematisierung ausmachen. Vielmehr steht zu vermuten, dass die Wartezeit vor Abfahrt zunächst unter eine Gesamterfahrung des Neuen subsumiert worden sein dürfte. Die am Bahnhof verbrachte, meist lange Wartezeit erhielt darin mitunter die Qualität einer katalytischen Kraft, die die positiv aufgeregte Grundstimmung des "Eisenbahnfiebers" sogar noch weiter steigern konnte. Kontrastierend zur heutigen Zuschreibung eines meist unliebsamen Alltagsübels, stellte sich demnach der Beginn des Wartens auf die Bahn als ein tendenziell positiv konnotiertes, mitunter repräsentatives Ereignis dar.
Erste explizit literarisch-künstlerische Thematisierungen des Wartens zeigten sich mit einsetzender Gewöhnung an die Bahn zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Wiederum entgegen einer per se negativen Bewertung der Wartezeit am Bahnhof äußerte sich die literarische Verhandlung dabei interessanterweise häufig als kulturkritische Reflexion des neuen, eilenden Wartens und reziprok in der Romantisierung des langen, gemütlicheren Wartens auf die Postkutsche. So wurde zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht das eigentliche Warten auf den Zug als problematisch erfahren, sondern vielmehr der Umstand, dass das rationalisierte Verkehrssystem der Eisenbahn nicht mehr auf den Menschen wartete. Der gegenüber der Postkutschenreise ungewohnt kurze Aufenthalt am Bahnhof wurde demnach zum Symbol einer zeitgenössisch irritierenden Beschleunigungserfahrung.
Daneben erfolgte die literarische Entdeckung des Wartens auf die Bahn hier auch erstmals in Form der Thematisierung einer belastenden Routine und eines sozial wie geschlechtsspezifisch ungleich erlebten Temporalzustands. Die Wartepraxis transformierte sich dabei spätestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Richtung der Nutzung "imaginärer Ersatzlandschaften" in Form von Literaturmedien oder der Wahrnehmung gastronomischer Angebote, die nicht nur die Warte- und Fahrtzeit füllten, sondern auch die aufkommende Monotonie einer zunehmend auf das Verstreichen der Zeit gerichteten Wahrnehmung ausgleichen konnten. Das Warten auf und in der Bahn erhielt damit bereits vor mehr als einem Jahrhundert seine bis heute charakteristischen Züge einer Kommerzialisierung, Mediatisierung und Kulinarisierung.
(© bpk/Bröhan-Museum/Martin Adam)
Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Menschen an das durch die Eisenbahnen etablierte linear-mechanisierte Zeitregime gewöhnt. In zeitgenössischer Kunst und Literatur finden sich nun keine Hinweise mehr, die auf ein symbolisches Vermissen der Postkutsche schließen lassen. Vielmehr bildete das Eisenbahnmotiv häufig den selbstverständlichen Hintergrund oder den Rahmen literarischer Handlungen, in denen das Warten trotz seiner Ausreifung zu einer Kollektiverfahrung für Millionen von Reisenden gleichwohl nur äußerst spärliche Beachtung fand. Demnach erfuhr das Warten auf die Bahn bis zur Jahrhundertwende noch keine grundsätzliche Problematisierung.
Zeitgleich verursachte die wachsende Nutzung und Bedeutung des Nah- und Vorortverkehrs im Rahmen der voranschreitenden Urbanisierung, dass sich die Wartepraxis nunmehr in ein langes Warten im Saal (Fernverkehr) und ein vergleichsweise kurzes Warten am Bahnsteig (Nahverkehr) auftrennte. Jenseits dieser orts- und betriebsspezifisch bedingten Verkürzungen des Aufenthalts erreichte die Warteerfahrung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts angesichts reich ausgestatteter Säle in zu Dienstleistungszentren transformierten Bahnhöfen den Höhepunkt des Würdevollen. Dieser markierte zugleich auch den Höhepunkt des sozial getrennten Wartens. Die Großbahnhöfe der Kaiserzeit verfügten nicht nur über vier klassenspezifische Wartesäle, sondern zusätzlich auch über Damenzimmer und mancherorts über spezielle Auswanderersäle. Die Bandbreite der Wartesäle im Bahnhof erfüllte damit neben der rein betrieblich-technischen Funktion des Sammelns von Reisenden nicht zuletzt auch immer eine soziale Funktion der Trennung sozioökonomischer Positionen beziehungsweise der Aufrechterhaltung und Spiegelung gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse.
Mit einer sprunghaften Thematisierung markierte der Zeitraum von 1900 bis 1935 die literarisch-künstlerisch vielleicht ergiebigste Phase der Verhandlung des Wartens auf die Bahn. Der Aufenthalt im Wartesaal wurde im Kontext des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit besonders in den 1920er Jahren als Modus des existenziellen Daseins verhandelt und zur politisierten Explikation sozialer Missstände herangezogen. Die Zeichnungen und Lithografien eines Hans Baluschek, Eduard Braun oder Walter Ophey entdeckten im Rahmen eines gewachsenen Interesses an realen Lebenswelten das Motiv des Wartesaals der unteren Wagenklassen und illustrierten die dortige Atmosphäre als exemplarischen Schauplatz der sozialen Disparität, in dem das Warten für die Reisenden im Spektrum von Routine und Würdelosigkeit zu einer krisenhaften Kollektiverfahrung gereift war.
Darüber hinaus war das frühe 20. Jahrhundert auch durch eine allgemeine Verkürzung der Wartedauer im Bahnhof sowie Vermeidungs- und Umgehungsstrategien des Wartens charakterisiert. Sie ergaben sich erstens aus der mittlerweile erlernten Praxis der zugangsbeschleunigten Nahverkehrsnutzung, zweitens aus den baulich-betrieblichen Neuerungen eines Direktzugangs und drittens aus einer allgemein gewachsenen Zeitsensibilität der modernen Industriegesellschaft, die eine sinkende Toleranz gegenüber Wartezeiten zeigte. Baulich-technische Entwicklungen und veränderte Nutzungspräferenzen wirkten somit nach 1900 wechselseitig zusammen und resultierten in einer Abnahme der Wartesaalnutzung, die meist nur noch durch Fernverkehrsreisende erfolgte. Insgesamt verlagerte sich das Warten aus dem Saal zunehmend in die Fläche beziehungsweise direkt an den Bahnsteig, sodass nun auch die Wartepraxis (essen, lesen) – wie auch heute – oftmals in Bewegung stattfand.
Übergreifend bildete das frühe 20. Jahrhundert die entscheidende Zäsur der Rezeption des Wartens auf die Bahn, das aus dem Stand eines bis dahin weitgehend unhinterfragten Phänomens in den Stand eines modernen Kollateralschadens und einer temporalen wie sozialen Dysfunktionalität gehoben wurde. Die Kollektivzuschreibung eines unliebsamen bis krisenhaften Zustands, den das Warten auf die Bahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt, ist bis in die Gegenwart hinein wirksam.
Illusion der absoluten Pünktlichkeit
Das Warten auf die Bahn hat nicht nur eine reiche Vergangenheit, es wird wohl auch eine reiche Zukunft haben – nicht nur, weil die aktuell auf den Weg gebrachten betrieblich-technischen Investitionen erst nach Jahren spürbar und der Fachkräftemangel sowie die durch den Klimawandel zu erwartenden Extremwetterlagen die Bahn zunehmend vor Pünktlichkeitsprobleme stellen werden, sondern auch, weil Verzögerungen stets relationaler Bestandteil moderner Beschleunigungsbestrebungen bleiben. So weist der Soziologe Hartmut Rosa darauf hin, dass Verlangsamung und Hemmung in modernen Gesellschaften "in zunehmend gravierendem Maße und immer häufiger als unbeabsichtigte Nebenfolge von Akzelerationsprozessen" auftreten. Dieser unmittelbare Zusammenhang könnte in Gestalt des angestrebten Deutschlandtakts nochmals besonders sichtbar werden, bei dem in den kommenden Jahren durch optimierte Anschlüsse und dichtere Taktung Reise- und Wartezeiten sukzessive verkürzt werden sollen. Das Problem des ambitionierten Konzepts: Es erfordert noch mehr Pünktlichkeit als bisher, denn falls ein Zug nicht pünktlich am Knotenbahnhof eintrifft, fällt der Anschluss weg und die Wartezeit ungleich länger aus.
Die unerschütterliche Relationalität von Beschleunigung und Verzögerung erscheint zunehmend problematisch, weil Wartezeiten heute weit weniger tolerierbar erscheinen als in früheren Zeiten. Infolge des omnipräsenten Zeitdrucks unserer Gesellschaft wird die Pünktlichkeit der Bahn folglich zum zentralen Gradmesser ihrer Attraktivität und damit letztlich auch zu einem Gradmesser des Erreichens der verkehrspolitischen Zielsetzung einer Verdopplung des Bahnverkehrs bis 2030. So steht die Bahn zukünftig unter gewaltigem Druck sowie vor dem Dilemma, ihre Pünktlichkeit deutlich verbessern zu müssen, ihre systemimmanente Störanfälligkeit aber niemals gänzlich abstreifen zu können.
Zwar wird dieses Dilemma – wie schon immer in der Geschichte der Moderne – mit einem Mehr an Technologie zu lösen versucht werden. Vielleicht aber sollten wir uns vielmehr die Illusion der absoluten Pünktlichkeit eingestehen und sie zu anderen spätmodernen Illusionen wie der absoluten Sicherheit gesellen. Dies würde die Möglichkeit eines reformierten, konstruktiven Umgangs mit Wartezeiten eröffnen. Fernab ihrer poetischen Verklärung könnten beziehungsweise sollten wir (wieder) eine größere Toleranz gegenüber Wartezeiten im Bahnwesen entwickeln und ihre Systemimmanenz anerkennen, statt sie kategorisch zu ächten. Hilfreich könnte dabei nicht nur sein, die Beschleunigungsversprechen anderer Verkehrsträger stärker zu hinterfragen, weil Zeitverzögerungen dort gleichermaßen an der Tagesordnung sind. Hilfreich dürfte auch sein, dass uns Informationstechnologien heute wie nie zuvor in die Lage versetzen, Wartezeiten mobil zu nutzen und zu kompensieren.
Fraglos, die Bahn muss attraktiver werden, um im Rahmen der Verkehrswende eine noch gewichtigere Rolle einzunehmen. Zugleich ist fraglich, ob die Bahn der Pünktlichkeitserwartung jemals vollends entsprechen wird oder ob wir nicht im endlosen "Akzelerationszirkel" einer trotz erzielter Beschleunigungserfolge unzufriedenen Öffentlichkeit feststecken. Anstatt also Verspätungsminuten stets als Hochverrat an den Idealen der Moderne auszulegen oder, dem tradierten Geschwindigkeitsideal folgend, durch teure Streckenausbauten wenige Minuten Fahrtzeit einzusparen, stellt sich vielleicht die Frage, ob nicht günstige Fahrpreise und Serviceerweiterungen im Zug und am Bahnhof Anreize für eine allgemein erhöhte Zeittoleranz im Bahnverkehr schaffen und den Beschleunigungskreislauf durchbrechen könnten. Dieser zugegebenermaßen eher utopische Weg aus unserer gesellschaftlichen "Zeitkrise" würde dann erfolgreich begangen worden sein, wenn der DB-Werbeslogan fernab jeden Zynismus einmal lauten würde: "Diese (Warte-)Zeit gehört Dir." Bis dahin wird das DB-Personal aber wohl noch die eine oder andere Trost-Schokolade an die Fahrgäste verteilen müssen.
(© picture-alliance/dpa)
(© bpk/Bröhan-Museum/Martin Adam)
Vgl. Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 19/18864, 28.4.2020.
Vgl. James Walker, An Accurate Description of the Liverpool and Manchester Railway, Liverpool 1832, S. 68.
Der vorliegende Beitrag basiert auf Robin Kellermann, Im Zwischenraum der beschleunigten Moderne: Eine Bau- und Kulturgeschichte des Wartens auf Eisenbahnen, 1830–1935, Bielefeld 2021.
Vgl. BT-Drs. (Anm. 1).
Katrin Dziekan/Meinhard Zistel, Öffentlicher Verkehr, in: Oliver Schwedes (Hrsg.), Verkehrspolitik, Wiesbaden 2018, S. 348.
Vgl. Karl Radlbeck, Bahnhof und Empfangsgebäude: die Entwicklung vom Haus zum Verkehrswegekreuz, München 1981, S. 132.
Vgl. ebd., S. 13.
Vgl. Kellermann (Anm. 3), S. 242ff.
Adolf Goering/Moritz Oder, Handbuch der Ingenieurwissenschaften, Der Eisenbahnbau, Leipzig 1907, S. 4.
Vgl. Hans-Christian Andersen, Eines Dichters Bazar, Leipzig 1843, S. 24f.
Vgl. Friedrich Hackländer, Tag und Nacht. Eine Geschichte in 24 Stunden, Stuttgart 1860; Friedrich Gerstäcker, Auf der Eisenbahn, in: ders., Unter Palmen und Buchen: Gesammelte Erzählungen, Leipzig 1867.
Vgl. Honoré Daumiers Zeichen-Serie "Le wagon de 3e classe" (1862) und Anthony Trollope, The Belton Estate, Leipzig 1866.
Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt/M. 2000, S. 62.
Hartmut Rosa, Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005, S. 144f.
Ebd., S. 251.
Ebd., S. 451.
| Article | Kellermann, Robin | 2023-07-07T00:00:00 | 2022-02-17T00:00:00 | 2023-07-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/die-bahn-2022/505279/warten-auf-die-bahn/ | Wartesituationen gehören seit den Anfängen des Eisenbahnwesens zu Bahnreisen. Wie und wo wurde in früheren Zeiten auf die Bahn gewartet, und war es schon immer so geächtet wie heute? | [
"Eisenbahn",
"Schienenverkehr",
"Verkehrspolitik",
"Mobilität",
"Bahnhof",
"Reisen",
"Kulturgeschichte"
] | 890 |
Standardisierte Ablaufstrukturen | Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West | bpb.de |
Filmrolle (© AP)
Medienproduktion vollzieht sich heute in weitgehend standardisierten Abläufen. Diese Standardisierung soll die Qualität des Produkts sichern, die Fertigstellung innerhalb eines begrenzten Zeitraums ermöglichen sowie die Herstellungskosten gering halten und kalkulierbar machen. Standardisierungen sind deshalb mit der Überführung einer eher improvisierenden Produktionsweise, wie sie in den Anfangszeiten eines Mediums anzutreffen war, in eine routinierte, d. h. mehrfach durchgeplante und vorstrukturierte Produktion verbunden. Diese vorgeplante Produktionsweise wird häufig als 'professionell' bezeichnet. In der Historie eines Mediums werden jedoch unterschiedliche Formen der Produktion als 'professionell' bezeichnet, die Profession ist von den technischen Bedingungen und organisatorischen Ausdifferenzierungen des Mediums abhängig .
Am Beispiel des Genres Fernsehfilm bzw. TV-Movie sollen die standardisierten Ablaufstrukturen veranschaulicht werden. Die hier beschriebenen Abläufe finden sich in modifizierter Form auch in anderen Medienproduktionen.
Wie entsteht eine Sendung?
Bevor es zur Herstellung einer Sendung kommt, gibt es einen längeren Vorlauf, der nicht direkt etwas mit der Sendung zu tun hat. Der Sender, z. B. eine ARD-Anstalt, hat durch seine Abteilung 'Programm' ermittelt, welche Zuschauer welche Sendungen sehen; er hat daraus eine Vorstellung von ihren Zuschauern, deren Erwartungen und Programmvorlieben entwickelt. Gleichzeitig hat sie im Rahmen des Programmauftrags die ihr (aus Gebühren und sonstigen Einnahmen) zur Verfügung stehenden Mittel in einem Finanzplan auf die einzelnen Programmsegmente, die sie zu bedienen hat, verteilt, so dass die Redaktionen planen können. In einem Gemisch aus Anregungen von außen, Gespür der Redakteure, Ideen von Autoren und Regisseuren kommt es zu einem Ideenkatalog, der redaktionell diskutiert wird und aus dem ein Projektplan entsteht, mit dem weiter geplant werden kann. Erst wenn ein Konzept, ein Exposé und eine genauere Kostenkalkulation vorliegen und die übergeordneten Programmverantwortlichen bzw. die Wirtschaftsabteilung der Anstalt den Plan geprüft haben, kann mit der Herstellung der Sendung begonnen werden . In der Regel erhält das Vorhaben eine Produktionsnummer.
Produktionsabläufe bei nicht aktualitätsbezogenen Sendungen
Der Ablauf der Herstellung einer Sendung, die nicht aktualitätsbezogen ist, hat sich im Laufe der Jahrzehnte nicht wesentlich verändert. Ausgangspunkt ist das Manuskript eines Drehbuchautors. Es legt die Handlung fest, gibt Rollen und Szenerien an. Die Vorphasen des Drehbuchs (Exposé, Treatment etc.) müssen (wie auch das Drehbuch) von der Redaktion, in der Regel von der Abteilungsleitung und in strittigen Fällen auch vom Programmdirektor abgenommen werden, bevor es zur Produktion kommt. Häufig ist die erste Drehbuchfassung deshalb nicht die letzte. Die Produktionsabteilung bzw. Fernsehproduktionsfirma bildet dann mit dem Atelier, den Werkstätten, der Technik etc. die organisatorische Einheit, in die das Drehbuch als 'Vorlage' für den Film eingebracht wird. Der Regisseur entwickelt aus dem Drehbuch den Drehplan, Kulissen werden hergestellt, Außenaufnahmen festgelegt. Schauspieler proben mit dem Regisseur ihre Darstellung, schließlich wird die Szene mit der Kamera aufgenommen. Am Schluss werden die Aufnahmen montiert und geschnitten, der Film wird mit Titel, Vor- und Abspann in eine fertige Form gebracht.
Phasen der Filmproduktion
Filmproduktion gliedert sich heute im Wesentlichen in drei Phasen, wobei diese Phasen nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt sind:
Stoffentwicklung, Projektentwicklung und Produktion.
Zur Stoffentwicklung gehören alle Phasen von der ersten Idee über das Exposé und das Treatment bis zum Drehbuch, wobei jeweils mehrere Fassungen von unterschiedlichen Ideengebern, Dramaturgen und Autoren erstellt werden können. Erst wenn eine Drehbuchfassung von einem Produzenten bzw. von einem Geld gebenden Verleih oder Fernsehsender akzeptiert wurde, geht es in die weitere Projektentwicklung mit der genauen Kalkulation, der Auswahl des Regisseurs, der Besetzung der Hauptrollen und der Wahl der Drehorte ('Motive'). Die genaue Kostenkalkulation führt schließlich zur Produktion.
Diese setzt sich aus drei einzelnen Phasen zusammen:
Produktionsvorbereitung (Preproduction), Dreharbeiten (Production) und Endfertigung (Postproduction).
Produktionsvorbereitung
Die Produktionsvorbereitungen bestehen aus der Zusammensetzung des künstlerischen und technischen Stabes, zu dem neben dem Regisseur auch der Produktionsleiter, die erste und zweite Aufnahmeleitung, das Produktionssekretariat, die Filmgeschäftsführung, Regieassistenz, der Kameramann und die Kameraassistenz, Tonmeister und Tonassistenz, Script/Continuity, Cutter und Cutterassistenz, Spezialisten für die Szenographie (Filmarchitektur), Außen- und Innenrequisite, Kostüm, Garderobe, Maske, Beleuchtung und Bühne, Casting und zahlreiche andere Funktionen (u. a. die Produktionsfahrer) gehören. Vom Zusammenspiel dieser einzelnen Funktionen hängt das Gelingen eines Films wesentlich ab.
Dreharbeiten
Wenn die organisatorischen Vorbereitungen abgeschlossen sind, wird für die Dreharbeiten ein Herstellungsplan geschrieben, d. h. das gesamte Handeln wird mit Ablaufdaten versehen. Aus dem Drehbuch wird ein Auszug erstellt, der die Grundlage für die logistische Planung darstellt und für jede Szene ein Auszugsblatt enthält. Diese werden nach ihrer Rückbindung in die Kostenplanung wiederum nach Motiven, Schauspielern und anderen Anforderungen geordnet. Daraus wird dann ein Drehablauf (Drehplan) erstellt, in dem die einzelnen Tagesleistungen festgelegt werden. Der Ablauf der Dreharbeiten wird in einzelnen Tagesdispositionen fixiert und in Tagesberichten kontrolliert, das Controlling überprüft die Einhaltung der Kosten. Versicherungen sind in der Regel vorher abgeschlossen, Drehgenehmigungen (bei Außenaufnahmen) bereits eingeholt worden. Die Aufnahmen des Tages werden umgehend zum Kopierwerk gebracht, so dass am nächsten Tag auch Aufnahmen (Muster) per Augenschein kontrolliert und gegebenenfalls Szenen noch einmal nachgedreht werden können.
Endfertigung
Die Endfertigung (postproduction) beginnt nach dem Ende der Dreharbeiten . Der Cutter setzt (häufig unter Mitarbeit des Regisseurs) aus den – in der Regel nicht chronologisch – gedrehten Aufnahmen eine Rohfassung des Films zusammen. Dabei wird in einem Rohschnitt (roughcut) der Film auf Ablauffehler hin korrigiert, werden Tempo, Timing und dramaturgischer Ablauf geprüft. In einem Feinschnitt schließlich wird gemeinsam mit dem Regisseur dessen Fassung (directors cut) hergestellt. Diese kann dann vom Produzenten, Verleih oder dem Fernsehsender noch verändert werden. Nach dem Feinschnitt wird eine Tonfassung mit Sprecher, Filmmusik und Geräuschen hergestellt, für die gegebenenfalls Texte nachsynchronisiert werden. Die Bildendfertigung (Farbkorrekturen, Tricks, Blenden, Titelsequenzen) erfolgt heutzutage ausschließlich digital. Filmmaterial kommt nur noch selten zum Einsatz.
Unterschiede bei tagesaktueller Berichterstattung
Der hier idealtypisch beschriebene Ablauf gilt für die Spielfilmproduktion und in reduzierter Form für dokumentarische Filme. Die tagesaktuelle Form der Berichterstattung folgt anderen Regeln der Produktion, weil hier die Produktionsvorbereitung aufgrund bestehender Netze und ständig abrufbereiter Aufnahmeeinheiten etc. kürzer ist. Der Einsatz elektronischer Kameras erübrigt den Zwischenschritt über das Kopierwerk und führt zu einer elektronischen Endfassung, wenn nicht die Aufnahme live über den Sender geht.
Strukturelle Aspekte der Produktion
Regisseur Rainer Werner Fassbinder (links) bei Dreharbeiten in München 1980. (© AP)
Die einfache Beschreibung einer Produktion hat bereits deutlich gemacht, wie sehr der Ablauf von der Ökonomie vorherbestimmt wird. Dem Drehbuch kommt beim Fernsehen eine besondere Rolle zu, weil sich mit ihm das Endprodukt planen und berechnen lässt. Filme werden gelegentlich jedoch auch ohne Drehbuch gedreht und entstehen spontan in einem gemeinsamen Arbeitsprozess der Beteiligten (Rainer W. Fassbinder drehte z. B. einige Filme ohne Drehbuch). Das Drehbuch stellt für die Mehrheit aller Fälle eine Art 'Masterplan' dar, aus dem der Drehplan entwickelt wird. Das Drehbuch und die daraus resultierenden Planungen helfen, die Risiken der Produktion zu reduzieren.
Diskontinuierliche Produktionsweise
Die Produktion der einzelnen Sequenzen orientiert sich in der Regel nicht an der im fertigen Film vorgesehenen Reihenfolge, sondern wird von den ökonomischen Notwendigkeiten der Filmproduktion bestimmt. Tritt z. B. ein Darsteller in der ersten und letzten Sequenz im Film auf, werden die Dreharbeiten so organisiert, dass er nicht während der gesamten Drehzeit anwesend ist, sondern die Sequenzen, in denen er eingesetzt wird, unmittelbar nacheinander gedreht werden. Damit werden die Kosten für den Darsteller gering gehalten. Auf diese Weise ergibt sich eine diskontinuierliche Produktionsweise, die wiederum eine genaue Kontrolle über die Aufnahmen erfordert, damit es in der Montage des Films nicht zu Anschlussfehlern kommt. Das Beispiel zeigt, dass die ökonomischen Rahmenbedingungen der Herstellung eine eigene Produktionslogik erzeugen.
Planung und 'intuitive' Entscheidungen
Die stark schematisierten Ablaufstrukturen und die gleichwohl von vielen Unwägbarkeiten, Pannen, Irrtümern, Improvisationen und kurzfristigen Änderungen geprägten 'intuitiven' Entscheidungen ("Das macht man so!") gehen in der Fernsehproduktion eine enge Verbindung ein. Sie lassen die Sendungsherstellung für viele Beteiligte immer wieder ereignis- und erlebnisreich erscheinen. Der medienindustrielle Fertigungsprozess verschwindet hinter dem Produkt, das sich in seiner Endgestalt dem Betrachter zumeist als eine selbstverständliche Abfolge von Bildern und Sequenzen, Handlungen und Dialogen präsentiert. Der Fertigungsprozess als solcher ist im Film nicht mehr sichtbar.
Filmrolle (© AP)
Medienproduktion vollzieht sich heute in weitgehend standardisierten Abläufen. Diese Standardisierung soll die Qualität des Produkts sichern, die Fertigstellung innerhalb eines begrenzten Zeitraums ermöglichen sowie die Herstellungskosten gering halten und kalkulierbar machen. Standardisierungen sind deshalb mit der Überführung einer eher improvisierenden Produktionsweise, wie sie in den Anfangszeiten eines Mediums anzutreffen war, in eine routinierte, d. h. mehrfach durchgeplante und vorstrukturierte Produktion verbunden. Diese vorgeplante Produktionsweise wird häufig als 'professionell' bezeichnet. In der Historie eines Mediums werden jedoch unterschiedliche Formen der Produktion als 'professionell' bezeichnet, die Profession ist von den technischen Bedingungen und organisatorischen Ausdifferenzierungen des Mediums abhängig .
Am Beispiel des Genres Fernsehfilm bzw. TV-Movie sollen die standardisierten Ablaufstrukturen veranschaulicht werden. Die hier beschriebenen Abläufe finden sich in modifizierter Form auch in anderen Medienproduktionen.
Filmrolle (© AP)
Regisseur Rainer Werner Fassbinder (links) bei Dreharbeiten in München 1980. (© AP)
Filmrolle (© AP)
Quellen / Literatur
Interner Link: Phasen der Fernsehproduktion
Interner Link: Phasen der Fernsehproduktion
Vgl. Hickethier 2002.
Vgl. Reitz/Metz/Schultze 2009.
Vgl. Hickethier 2002.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-04T00:00:00 | 2017-04-01T00:00:00 | 2022-07-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/245771/standardisierte-ablaufstrukturen/ | Medienproduktion vollzieht sich heute in weitgehend standardisierten Abläufen. Diese Standardisierung soll die Qualität des Produkts sichern, die Fertigstellung innerhalb eines begrenzten Zeitraums ermöglichen sowie die Herstellungskosten gering halt | [
"Tele-Visionen",
"Fernsehen",
"Medienproduktionen",
"standardisierte Ablaufstrukturen"
] | 891 |
Ausbürgerung, Auslieferung | Grundrechte | bpb.de | Artikel 16
(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. (2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Art. 16 Abs. 1 GG schützt deutsche Bürgerinnen und Bürger vor dem Verlust der Staatsangehörigkeit. Unzulässig ist eine Entziehung der Staatsangehörigkeit, das heißt eine Ausbürgerung aus Gründen, die die Betroffenen nicht in zumutbarer Weise vermeiden können. Hierzu gehört insbesondere die Entziehung aufgrund einer politischen Anschauung, die in der Zeit des Nationalsozialismus massenhaft erfolgte. Es wird allerdings zwischen Entziehung und Verlust der Staatsangehörigkeit unterschieden. Mit Verlust sind die Fälle gemeint, in denen die Betroffenen durch ein in zumutbarer Weise vermeidbares Verhalten die Staatsangehörigkeit verlieren, etwa indem sie eine neue Staatsangehörigkeit annehmen. Artikel 16 Abs. 2 GG schützt alle deutschen Staatsangehörigen davor, gegen ihren Willen aus der Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert zu werden. Auslieferung bedeutet die Entfernung eines Bürgers aus der Bundesrepublik Deutschland und seine Überstellung an einen ausländischen Staat. Ein ausländischer Staat wird eine Auslieferung eines Bürgers von der Bundesrepublik Deutschland insbesondere dann verlangen, wenn der betreffende Bürger dort eine Straftat begangen hat und diese Tat geahndet werden soll. Die Bundesrepublik Deutschland möchte aber auch, dass die Völker verstärkt bei der Strafverfolgung zusammenarbeiten. Dies soll besonders auch im Rahmen der Europäischen Union geschehen, die zu einem "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" weiterentwickelt werden soll. Auch hat die Bundesrepublik Deutschland das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet. In diesem Rahmen war es erforderlich, ausnahmsweise auch die Auslieferung eigener Staatsangehöriger zu ermöglichen. Daher wurden im Jahre 2000 Einschränkungen des Auslieferungsverbots in dem neu eingefügten Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG vorgesehen. Danach sind Auslieferungen auf gesetzlicher Grundlage nur dann zulässig, wenn das Auslieferungsgesuch von Seiten anderer Mitgliedstaaten der EU oder von internationalen Gerichtshöfen kommt, die sich zur Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze verpflichtet haben. Auf dieser Grundlage wurde 2004 das Europäische Haftbefehlsgesetz erlassen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-19T00:00:00 | 2017-08-15T00:00:00 | 2022-01-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/grundrechte-305/254398/ausbuergerung-auslieferung/ | Art. 16 Abs. 1 GG schützt deutsche Bürgerinnen und Bürger vor dem Verlust der Staatsangehörigkeit. Unzulässig ist eine Entziehung der Staatsangehörigkeit, das heißt eine Ausbürgerung aus Gründen, die die Betroffenen nicht in zumutbarer Weise vermeide | [
"Ausbürgerung",
"Auslieferung",
"Grundrechte"
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Schwierigkeiten kultureller Assimilation | Alltagskultur Ostdeutschland | bpb.de | I. Weitgehende Assimilation der Neubürger
Mehrheitlich auf eigenen Wunsch und auf komfortable Art sind die Ostdeutschen aus ihren gewohnten gesellschaftlichen Zusammenhängen herausgerissen worden. Sie haben ihre Ursprungsgesellschaft überlebt und fanden sich nach der Auflösung bzw. Zerstörung fast des gesamten institutionellen Gefüges und der früheren Sozialstruktur in einer gänzlich anderen Gesellschaft wieder. Sie galten als Akteure eines Geschehens, das seit 1990 so deutlich hinter ihnen lag: eine abgeschlossene Zeit, jenseits derer ein neues Leben begann. Sie haben alle eine "Biographie", ihr früheres Leben ist schon Geschichte. Die Älteren erzählen davon wie von einer verlassenen Heimat: "Damals, zu unserer Zeit, da war das so . . ."
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War ihnen das Neue völlig fremd? Selbstverständlich hatten in den Jahren der Teilung viele Ostdeutsche das Geschehen im Westen verfolgt. Doch trotz aufmerksamer Nachbarschaft konnten auch sie die westlichen Strukturen und Institutionen nicht kennen, die 1990 unvermittelt auf ihren Lebensraum übertragen wurden. Markt, Wirtschaft, Technik, Recht, Politik, Massenmedien, Verwaltung, soziale Sicherungen - nichts davon ist östlich geblieben. Alle wurden "zu Fremden im eigenen Land, die noch einmal ganz von vorn anzufangen hatten" . Nicht ohne Geschick lernten sie und stellten viele ihrer Strategien und Techniken auf die neuen Umstände um. Der Assimilations- und Anpassungsprozess - der bislang weder in dieser Dimension noch in dieser exogen geprägten Form in hoch entwickelten Gesellschaften zu beobachten war - kann im Großen und Ganzen als gelungen interpretiert werden.
Aber eine neue innere Stimmigkeit aller Details ihres privaten und öffentlichen Lebens haben viele Ostdeutsche noch nicht erreicht. Ihr Handeln als Erwerbstätige, als Rechtssubjekte, als Männer, Frauen, Eltern, Nachbarn, Kollegen, ihr Auftreten als Staatsbürger in der politischen Sphäre, in den Tauschhandlungen, als Konsumenten usw. - alles zusammen muss sich auf den neuen Gleisen erst noch so einfahren, dass es wieder aus sich heraus adäquat und harmonisch ist. Eine vollständige kulturelle Assimilation dürfte nur nachwachsenden Generationen gelingen. Die heute lebenden "Eingeborenen" der neuen Länder werden sich nur unvollkommen und mit inneren Brüchen an die neuen Lebensregeln anzupassen vermögen. Sie fallen immer unerwartet aus der Rolle und beweisen damit, dass sie zugleich noch in ein anderes "Bedeutungsgewebe" eingebunden sind: Sie missverstehen die Situation, sprechen falsch, empfinden abstrus, geben sich unvorteilhaft, verlangen das Verkehrte, erwarten das Unmögliche und verstehen es nicht, ihre wirklichen Vorteile zu nutzen. Aber gerade weil ihnen die Selbstsicherheit fehlt, mit der Westdeutsche in allen Handlungsfeldern ihres vertrauten Gesellschaftssystems zu agieren vermögen, können sie sozial lernbegierig und kritisch sein.
Für Westdeutsche ist es mitunter kurios, wie die "Brüder und Schwestern" sich mühen, Marktwirtschaft, westliche Demokratie und Lebensstil zu erlernen, amüsiert bis ungehalten blicken sie auf Überanpassung wie auf Verweigerung. Gering ist ihre Neigung, ein altes Sujet der Zivilisationskritik wieder aufzunehmen und die Reaktionen des "naiven Wilden" als Spiegel der eigenen Kultur zu begreifen. Kritische Impulse, die aus der ostdeutschen Teilgesellschaft kommen könnten, sind kaum bemerkt oder gar fruchtbar geworden. Ist hier Furcht vor einer Überfremdung durch die Ostdeutschen im Spiele? Günter Gaus hat das kulturelle Spannungsfeld angedeutet, als er von "dummen Siegern" im Westen sprach, denen im Osten die Wendeverlierer entsprechen, die vergeblich versuchen, den Wessis nachzueifern.
Konfliktreich ist der Lernprozess der Ostdeutschen in allen Lebenssphären, doch das existenzielle Gewicht ist verschieden verteilt. Mit vielen der neuen Bedingungen kamen sie im Alltagshandeln schnell zurecht. Mit anderen - etwa mit der ungewohnten Verrechtlichung und Bürokratisierung aller Seiten ihres Lebens - werden viele noch lange ihre Mühe haben. Doch schwerer als solche eher technischen Probleme dürften die großen sozialen Umbrüche zu bewältigen sein. Die damit verbundenen Konflikte deuten auf beträchtliche Besonderheiten der ostdeutschen Lebensweise hin. Diese betreffen das Verhältnis zur Arbeit, zu Armut, Reichtum und Freiheit, zum Geld, zur Zeit, zum Geschlechterverhältnis, zur Religion, zum Kriege und zu sozialer Sicherheit. In diesen - im Folgenden aus Platzgründen nur zum Teil behandelten - Beziehungsfeldern hatte sich offenbar ein anderes Geflecht kultureller Übereinstimmungen ausgebildet, dessen Zerfall und Verschwinden jetzt in allen Lebensbereichen - wenn auch unterschiedlich intensiv - erfahren wird.
1. Arbeit
Die größten Übergangsschwierigkeiten dürften aus der subjektiv erlebten Abwertung der eigenen Arbeit folgen - vordergründig und mehrheitlich als Verlust der beruflichen Qualifikation und der Erwerbsmöglichkeit erfahren. Zugleich fällt es vielen Ostdeutschen schwer, die Arbeit nun als Job zu verstehen, den man suchen und annehmen muss, die Arbeit als Konkurrenz- und Karrierefeld zu begreifen, ihre ständige Gefährdung durch Arbeitslosigkeit zu verarbeiten und damit klar zu kommen, dass sie für die überwiegende Mehrheit heute ein Ort strikter Unterordnung und Anpassung ist.
Fast alles dies kollidiert mit ihrer starken Arbeitsorientierung. Im innerdeutschen Vergleich gilt sie übereinstimmend als mentale Besonderheit der Ostdeutschen, konnte sie doch in allen Milieus und Lebensstilgruppen nachgewiesen werden. Unter den sehr wichtigen Lebensbereichen nennen 34,7 Prozent der Westdeutschen die Arbeit (nach Familie, Freizeit und Freunden), dagegen 60,8 Prozent der Ostdeutschen (zweiter Platz nach der Familie). Auch einige Gründe für diesen Unterschied zum Westen scheinen auf der Hand zu liegen: Sie hatten kaum mehr Erfahrungen mit dem Arbeitsmarkt, verfügten über geringere Freizeitmöglichkeiten, waren einer arbeitszentrierten Ideologie ausgesetzt, lebten im Einflussgebiet protestantischer Tradition usw. Der Eintritt in die bundesdeutsche Gesellschaft musste darum gerade im Arbeitsverhältnis zu heftigen Irritationen führen - verstärkt durch die illusionäre Erwartung, dass nun endlich alle realsozialistischen Unzulänglichkeiten verschwinden würden, die den eigenen Leistungswillen bislang gebremst oder ins Leere hatten laufen lassen. Das ist der Grund dafür, dass sie 1990 noch fast alle ihren eigenen Fähigkeiten vertrauten, sich in der neuen Gesellschaft durchzusetzen.
Denn in den Umfragen von 1990/91 haben sich die Ostdeutschen noch als überzeugte Anhänger der Leistungsgesellschaft ausgewiesen, wurden dann aber durch eigene Erfahrung zu Skeptikern. Es trat ein Stimmungsumschwung in der Beziehung zum System der sozialen Marktwirtschaft ein, den Heiner Meulemann gerade auf die verbreitete "Arbeitsideologie", auf die überhöhten Erwartungen der Ostdeutschen und ihre Blindheit gegenüber den neuen Chancen zurückgeführt hat. Doch für die Mehrzahl der heute lebenden Ostdeutschen haben sich mit der Rückkehr in die Marktwirtschaft keine neuen Chancen eröffnet, sich durch Leistung in der Arbeit zu bestätigen. Die Zahl der Erwerbstätigen sank um 48 Prozent, fast die Hälfte schied also aus dem Erwerbsleben aus. Verlust der Arbeitsmöglichkeit und Entwertung der Berufserfahrung sind die individuelle Seite des Problems, weil daraus die Frage folgt, was die davon Betroffenen mit dem Rest ihres Lebens machen werden. Gesellschaftlich prekär ist die damit verbundene soziale Desintegration großer Bevölkerungsgruppen.
Selbstverständlich wird dieser Bruch in den ostdeutschen Milieus und Lebensstilgruppen unterschiedlich bewältigt und kulturell gedeutet. So ist sofort einsichtig, dass unter den von Annette Spellerberg im Osten identifizierten Lebensstilgruppen es diejenige mit der Vorliebe für Abwechslung, Freizeit, Sport, Kneipe, jugendliche Kleidung usw. ist, die das höchste Maß an Wohlbefinden ausweist. Alle anderen Gruppen weisen eine geringere subjektive Lebensqualität und zugleich eine höhere Arbeitsbindung aus als die westdeutschen Vergleichsgruppen. Es ließe sich verallgemeinern, dass Arbeit bei Ostdeutschen weit stärker den für sie hohen Rang des Dienstes, der Pflicht und des Fleißes besaß und besitzt. Leistung, Ehrgeiz und Verantwortung bewerten sie auch heute deutlich höher; das Leben verstehen sie eher als eine Aufgabe, in deren Mitte sie Beruf und Arbeitsfleiß sehen. Im Unterschied zu "den Westdeutschen" schätzen sie darum Arbeit höher als Freizeit; sie ist wichtiger für ihr Wohlbefinden und jenseits vom Geldverdienen ein hoher Wert.
Während sich im Westen der schon länger anhaltende Trend zu einer distanzierteren Haltung gegenüber der Arbeit fortsetzte, wuchs im anderen Landesteil die Identifikation mit der Arbeit noch. Heiner Meulemann vermutet darin nostalgischen Trotz und hinter der wachsenden Identifikation der Ostdeutschen mit "ihrer" verschwundenen Gesellschaft eine rückblickende Idealisierung der eigenen Arbeit. Regina Bittner hat in der "Ethnographie einer ostdeutschen Industrieregion" sichtbar gemacht, wie vielschichtig und differenziert die Transformation der alten "Arbeitskultur" verläuft und eine andere Deutung der anhaltenden Arbeitsorientierung gegeben: "In der Rede vom ,immer schon gearbeitet haben' konstruieren sie ein Selbstverständnis, das vor Verunsicherungen und Orientierungsnöten im Zuge des Umbaus der ostdeutschen Gesellschaft schützen soll. Darüber hinaus besitzt Arbeit im Werthorizont von ostdeutschen Arbeitern lebensweltlich Bedeutung: Identität, soziale Beziehungen und gesellschaftliche Anerkennung erfuhren sie in der ,Lebenswelt Betrieb'; mit der Entlassung aus den Kombinaten büßten die Chemiearbeiter ihre soziale Praxis ein." Sicher lassen sich die Beobachtungen aus der mitteldeutschen Industrieregion nicht auf alle "Werktätigen" übertragen, sie führen aber dennoch zum Kern der vergangenen ostdeutschen Gesellschaft und ihrem Lebensalltag.
Es ist trivial, dennoch muss es gesagt werden: Abhängige Erwerbsarbeit war und ist für Nichtbesitzende die einzige Quelle von Existenzmitteln, ist die Voraussetzung jeder Bedürfnis- und Genussdifferenzierung. Auf die Arbeit hin werden sie darum sozialisiert, sie allein ermöglicht ihnen persönliche Bewährung und gesellschaftliche Anerkennung und sie macht den Hauptteil ihres aktiven Lebens aus. Das haben in Deutschland die protestantische Arbeitsethik, bildungsbürgerlicher Idealismus, pietistische Lehrerseminare, die Sozialdemokratie und Walter Ulbrichts zehn Gebote gleichermaßen gepredigt. Das konnte in einer Gesellschaft nicht ohne nachhaltige Wirkung bleiben, in der für alle das Arbeitsvermögen die einzige individuelle Ressource war. Alle vorliegenden Untersuchungen bestätigen, dass die DDR eine "Arbeitsgesellschaft" war, wie Martin Kohli meinte und viele nach ihm mit Hinweis auf die Wertschätzung der Arbeit und die diversen Lebens- und Sozialfunktionen des Arbeitsortes bekräftigten. Arbeit bildete das Scharnier zwischen Gesellschaftssystem und Alltagsleben. Das erklärt, weshalb der "Arbeit eine eminent lebensweltliche Dimension zukam, wieso ,auf Arbeit sein' als Legitimation des eigenen Daseins gelten konnte" .
2. Armut, Reichtum und Gerechtigkeit
Eng verbunden mit Verlusterfahrungen in der Arbeit ist eine andere "Ernüchterung": Der Reichtum der neuen deutschen Gesellschaft hat offenbar auch andere Quellen, und er ist nicht der Reichtum aller Deutschen; der Anschluss an die Bundesrepublik hat die Ostdeutschen nicht zu Teilhabern, sondern mehrheitlich zu Alimentierten gemacht. Unvermutet war der große Kontrast zwischen Arm und Reich, fremd blieb die "Schamlosigkeit", mit der er als Antrieb und Folge des - gleichfalls ungewohnten - Konkurrenzverhaltens legitimiert wird. Daran gewöhnt, jede deutlich sichtbare Besserstellung als ein unrechtmäßiges Privileg zu begreifen (oder deren Rechtmäßigkeit zumindest anzuzweifeln), zeigen Ostdeutsche heute in allen Untersuchungen andere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und messen ihr (sofern Forscher eine solche Alternative aufzeigen) einen deutlich höheren Wert bei als der Freiheit. Die daraus folgenden Alltagskonflikte haben einigen Einfluss auf politische Entscheidungen.
Die ostdeutsche Gesellschaft war egalitär konzipiert, die reale Dauerspannung zwischen differenzierenden und egalisierenden Tendenzen kann als ihr sozialer "Grundwiderspruch" angesehen werden. In der Selbstthematisierung der DDR wie in der ideologischen Abgrenzung von der anderen deutschen Gesellschaft stand die Aufhebung sozialer Unterschiede immer im Mittelpunkt. Empfundene Ungleichheit, die Bildung von Gerechtigkeitssinn und von gruppensolidarischer Praxis mussten in einer auf Gleichheit programmierten Gesellschaft ohne Privateigentum (in Marx'scher Definition) anders ausfallen als in einer Gesellschaft, für die der Besitzunterschied konstitutiv ist und in der eine große Spanne zwischen der Lebenslage der Reichen und jener der Armen als gesellschaftliches Faktum angenommen wird.
Dagegen galten durch soziale Umstände verursachte und politisch zu verantwortende Ungleichheiten allgemein als ungerecht, ihre Abschaffung war das moralisch weithin legitimierte Ziel. Erst in den siebziger Jahren begannen Soziologen die "zu weit" getriebene Gleichheit als "Hemmnis" für Leistungsverhalten zu kritisieren, wurde die geringe soziale Differenzierung der sozialistischen Gesellschaften als Folge von "Gleichmacherei" auch negativ gesehen und als Ursache ihrer Stagnation kritisiert. Im Alltag überwog dagegen der Unmut über Handwerker, die Westgeld kassieren konnten, über reich gewordene Fleischermeister, Autoschlosser, Künstler und Chefärzte, kaum aber über die Dienstklasse (die war eher die Zielscheibe von Bürgerrechtlern, die meist selbst aus ihrem Umfeld kamen).
In dieser Gleichheitsfixierung dürfte eine wesentliche mentale Besonderheit der ostdeutschen Population bestehen. Sie richtet sich heute weniger gegen privaten Reichtum der ohnehin unsichtbaren Oberklasse. Der wird vielleicht erträumt und ist zugleich noch nicht ausreichend moralisch legitimiert. Unverständnis und Furcht aber löst das ungewohnte sichtbare Elend der unteren Randgruppen aus. Da sie nur aus den Sendungen Karl-Eduard von Schnitzlers bekannt waren, musste die Realitätserfahrung schockartig ausfallen. Ostdeutsche hatten keine Praxis im Umgang mit Obdachlosen, Asylsuchenden, Fixern, "überflüssigen Jugendlichen". Das möchten sie nicht gleichmütig hinnehmen und lasten es "dem System" an. Gerechtigkeitsvorstellungen und Angst vor eigener Ausgrenzung lassen die Mehrheit der Ostdeutschen den Staat als einzige für sie erkennbare Instanz anrufen, hier Abhilfe zu schaffen.
Heiner Meulemann hat darin den Kern der Ost-West-Differenz gesehen und sie auf zwei gegensätzliche kulturelle Prinzipien zurückgeführt: "Ergebnisgleichheit versus Chancengleichheit" . Andere Forscher sehen den Unterschied nicht im Ideologischen, sondern in der realen Lebenssituation. Chancengleichheit ist nicht gegeben und für Ostdeutsche auch in absehbarer Zeit nicht herzustellen. Richard Stöss hat die Politik darauf aufmerksam gemacht, warum die ostdeutschen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit lagebedingt anders strukturiert sind. Da die soziale Integration über die Arbeit auf längere Zeit unzureichend bleibe, müssten auf der Prioritätenliste von "Gerechtigkeitspolitik" hier die Verhinderung von Armut und - anders als im Westen - "dauerhafte soziokulturelle Angebote" als integrierende Institutionen obenan stehen.
3. Geld
Die Ostdeutschen erlebten die neuen Verhältnisse zunächst als Öffnung eines unüberschaubaren Marktes mit überwältigender Vielfalt und boten das Schauspiel einer naiven Freude an der "Banane". Vielerorts hinterließen sie den Eindruck "orientierungsloser Konsumidioten". Die Marktforschung relativierte das bald: Die konsumorientierten hedonistischen Milieus waren im Osten relativ klein. Die von überbordender Warenfülle ausgelöste euphorische Phase war kurz, mit der eigenen Markterfahrung und dem Wandel der Eigentumsverhältnisse wurden Eigenschaften der Marktwirtschaft erlebt, die vielfach kritisch als Verengung des Denkens auf den Geldkreislauf, als Zwang zum Egoismus gedeutet wurde. Zugleich erlebten sie an sich selbst, wie das Geldverhältnis seine volle kulturelle Funktion wieder gewann, anonyme Abhängigkeit auszudrücken und zu realisieren, die das Individuum nicht mehr als ganze Person betreffen. ("Es ist nicht mehr so viel menschliche Bindung, jeder macht jetzt mehr seins.") Geld wurde wieder ein Mittel individueller Souveränität, wurde als die Potenz erlebt, auf alle Waren und Dienstleistungen dieser Welt zugreifen zu können. Viele Aneignungs- und Erlebnisformen verwandelten sich wieder in monetär vermitteltes Handeln. Negativ ausgedrückt: "Kein Geld zu haben, bedeutet keineswegs nur eine materielle, sondern vor allem eine kulturelle Deprivation."
Diese Erkenntnis deutete sich als Ahnung erst an, als der Alltag plötzlich zu einer ungewohnten und belastenden Rechenaufgabe wurde. Bis dahin unbekannte Begriffe mussten nicht nur erlernt, sondern auch in ihrer Bedeutung für das eigene Leben abgeschätzt werden: Steuerklasse, Mehrwertsteuer, Preisvergleich, Kreditrahmen, Überziehungszinsen, Mietspiegel, Abschmelzung, Sonderkonditionen, Steuersparmodelle, Anrechnungszeiten, Abschreibung, Entgeltpunkte, Rezeptgebühr, Freibetrag, Kapitalertragssteuer, Skonti usw.
Aufgewachsen in einer Planwirtschaft, die auf die Herstellung von Gebrauchswerten ausgerichtet war, nicht auf Gewinn in Geldform, konnten und können viele Ostdeutsche die absolute Dominanz des Geldes in einer Markt- und Geldwirtschaft nur schwer begreifen. Geld ist für die Mehrheit immer noch das vertraute Tausch- und Zahlungsmittel, weshalb ihnen allein auf dieser Ebene des Geldverhältnisses die Anpassung leicht fiel. Freilich verhalten sie sich auch in diesen "einfachen" Geldangelegenheiten (Kaufstrategien, Preisvergleich, Rabatte, Kredite, Steuern, Sparen) bis heute deutlich anders als die Westdeutschen. Von der Kapitalfunktion des Geldes aber haben sie mehrheitlich keine Ahnung. Hören sie davon, so stehen sie ihr sogar ablehnend gegenüber. Der werbende Ratschlag einer Bank: "Lassen Sie Ihr Geld für sich arbeiten" lässt sie nur an Sparbuchzinsen denken.
Es ist erstaunlich, dass die "Wiederkehr des Geldes als Wert" von den Transformationsforschern nicht näher untersucht worden ist. Möglicherweise besaß der "Schrei nach der Westmark" eine solche Evidenz, dass die (ja fast immer westdeutschen) Wissenschaftler darin gar kein Problem gesehen haben. Vielleicht war er eine Medienerfindung? Als sicher kann angenommen werden, dass euphorisierte Mehrheiten kaum die wirtschaftlich zerstörerischen Wirkungen des Geldes ahnten, die mit der "Währungsunion" einsetzten; sie wussten noch nicht, in welcher Weise der Markt bald Schicksal spielen würde. Auch erstaunte, dass von allen bislang gültigen Werten nur der in der DDR wenig beliebte Haus- und Grundbesitz Bestand haben sollte. An dem einsetzenden Geschacher um die DDR-Überreste konnten Ostdeutsche nur ausnahmsweise mitwirken, weil ihnen Entscheidendes fehlte: Geld und Kreditwürdigkeit. Sie hatten auch keine Erfahrung auf diesem Felde und waren mental nicht darauf eingestellt.
Während die Kapitalgesellschaft in den Geldangelegenheiten nur wenige "sittenwidrige Geschäfte" kennt, tendierte die ostdeutsche Gesellschaft dazu, alles Geschäftliche als pejorativ anzusehen. Niemand konnte hier eine Idee "günstig vermarkten" oder sich selbst "gut verkaufen". Geschäftstüchtigkeit galt eher als üble Nachrede, und selbst unter den wenigen Prostituierten wurde Wert darauf gelegt, "es" nicht allein oder in erster Linie des Geldes wegen zu tun. Sicher schwangen da uralte und immer wieder belebte Vorstellungen von einer Redlichkeit mit, die allem Schacher abhold ist. Einst sind sie aus den Zünften in die Arbeiterkultur übertragen worden. Die Distanz der organisierten Arbeiter zu den Händlern und Dienstleistern ist bekannt: Sie haben keine ehrlichen Berufe, sie arbeiten nicht wirklich, sondern schmarotzen an dem, was der Hände Arbeit geschaffen hat. Wie sich solche Vorstellungen in der DDR halten konnten und zur Norm in allen sozialen Schichten wurden, ist noch aufzuklären.
Selbstverständlich war Geld auch im Alltag der DDR-Gesellschaft eine wichtige Größe. Vorrangig in Geldform wurde die Arbeitsbewertung ausgedrückt. Doch die Arbeit war für viele nicht das Mittel und das Geld der Zweck, schon weil es viele andere arbeitsabhängige Gratifikationen gab. Geld diente als eine Art Bezugschein für notwendige und begehrte Güter. Das Verhältnis war kalkulierbar, veränderte sich doch das limitierte Warenangebot nur langsam, auch die Preise blieben weithin stabil und waren im ganzen Lande gleich. Geld war ein praktisches Äquivalent, jedoch beileibe nicht für alles, und die Verfügung darüber war durch die eigene Arbeitsleistung begrenzt. Die Verführungen des "Geldmachens" fehlten, wie konnte Geld da an der Spitze der Werteskala stehen? Solch Umgang mit dem Geld lag nicht grundsätzlich außerhalb früherer Praxen. Josef Moosers Langzeitstatistiken vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik haben gezeigt, seit wann für Lohnabhängige das Geld etwas mehr werden konnte als das immer knappe Äquivalent für das Lebensnotwendige. Vor 1960 war es das jedenfalls nur ausnahmsweise. Und gerade da wurde die Ost-West-Trennung abgeschlossen.
Das Leben der Ostdeutschen war seitdem geprägt durch die weitgehende Abwesenheit von Privateigentum und von seinem Geldausdruck. Das galt auch für den persönlichen Besitz. Erbschaftsangelegenheiten waren meist ohne größere Bedeutung, Steuern galten eher als Überbleibsel und spielten für die Mehrheit keine große Rolle (Bauern zahlten keine, Arbeiter geringe, Angestellte, Handwerker, Gastwirte und andere Selbständige mussten mehr zahlen). Geld war nicht zweitrangig geworden, doch oftmals wirkte es gar nicht als allgemeines Äquivalent oder nur in Kombination mit "Beziehungen", mit Zugriffsmöglichkeiten, Findigkeit usw. Auch das begehrte Westgeld hatte als häufigste Quelle "persönliche Abhängigkeitsverhältnisse", und verwendbar war es zunächst nur im "Beziehungsgeldverkehr". Selbst die "Intershops" funktionierten anfangs so.
4. Zeit
Die kulturelle Umwertung des Geldes musste auch das Verhältnis zur Zeit ändern. Es ist vermutet worden, dass die individuelle Zeitsouveränität deutlich vor der Verfügung über Geld rangierte. Ferner ist auf den geringeren Leistungs- und Konsumdruck als Ursache hingewiesen worden. Als aktuelle Indizien gelten Klagen über einen ungewohnten Zeitdruck, über die Hektik der westdeutschen Gesellschaft und über eingetretenen Zeitmangel ("früher waren wir uns alle irgendwie näher, heute hat keiner mehr Zeit"). Daran wird in aktuellen Debatten über die Zukunft der Arbeit die Erwartung geknüpft, dass Ostdeutsche ihrer mentalen "Ausstattung" nach eher bereit sein könnten, für Zeitgewinn auf Geld zu verzichten. Sofern diese Neigung tatsächlich nachgewiesen werden kann, dürfte sie aus zwei Gründen wenig dauerhaft sein: Zum einen ist aktuell und auf absehbare Zeit nur eine kleine ostdeutsche Schicht materiell so ausgestattet, dass ihr die Konvertierung von Geld in Zeit möglich ist (aber gerade diese Gutverdienenden können sich keine Arbeitspausen leisten). Zum anderen verweisen alle Daten zum Medien-, Konsum- und Zeitverhalten auf die schnelle Assimilation der Ostdeutschen. Zwar bestehen noch deutliche Rückstände im Umfang der verfügbaren freien Zeit, auch wird der Tag anders eingeteilt (Ostdeutsche stehen eine Stunde früher auf und gehen entsprechend früher zu Bett ), aber die Zeitverwendung hat sich - von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - weitgehend angeglichen. Nahmen sich Ostdeutsche früher mehr Zeit für sich, für ihre Kinder, für gesellige Kontakte, für Fernsehen, zum Zeitunglesen, für Gartenarbeit und Reparaturen, so telefonieren sie heute entschieden häufiger, gehen in Fitness-Center, Freizeitparks oder zu Psychotherapeuten. Auch bei Reisen und Shopping haben sie aufgeholt. Die Annäherung an westliche Freizeitgewohnheiten ist im Ganzen weitgehend problemlos verlaufen. Denn auch die DDR hatte sich bei aller Arbeitsorientierung bereits in den siebziger Jahren zu einer "Freizeitgesellschaft" entwickelt. Dies sicher abgestuft nach Generationen und Milieus, für Mehrheiten aber kam es nach 1990 zu keiner generellen Veränderung der kulturellen Verhaltensweisen; auch die Öffnung neuer Möglichkeiten und der Gewinn neuer Genüsse schien für sie im Spektrum des Vertrauten zu bleiben.
Wenn in den Vorstellungen großer Gruppen dennoch die selbst bestimmte Zeit als Wert vor dem Geld rangiert, dann dürfte das an der noch unzureichenden kulturellen Legitimation des Geldes liegen. Es hält sich die Überzeugung, es gäbe einforderbare soziale Menschenrechte, die Vorrang vor allen Bilanzen haben. In diesem Punkt hadern selbst weitgehend Assimilierte mit den heutigen Zuständen. Aber in welchen Aktionen, welcher Bewegung, welchen Ereignissen sich diese mentale Verfassung heute noch kulturell objektivieren könnte, muss offen bleiben. Wahrscheinlich wird sie als Hintergrund für Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit überdauern.
5. Symmetrie der Geschlechter?
Gemäß dem asymmetrischen Geschlechtervertrag westlicher Industriegesellschaften liegt der Hauptakzent der männlichen Rolle darauf, die Familie zu versorgen. Als weibliche Lebensaufgabe wird es angesehen, die Familie zu erhalten. Beim Übergang in die westdeutsche Gesellschaft folgten daraus für ostdeutsche Frauen aller Altersgruppen und Schichten, für deren Lebensentwurf und Alltagspraxis die lebenslange Berufstätigkeit normal war, vielfältige Konflikte. Es kam zu einer neuartigen Doppelbelastung als Ostdeutsche und als Frau. Nun untauglich gewordene Emanzipationsstrategien mussten auf das neue Bedingungssystem umgestellt werden.
Ein Bild davon zeichneten bereits die frühen Studien zu den Lebensverhältnissen deutscher Frauen, etwa die "Schering-Frauenstudie '93", nach der 81 Prozent der ostdeutschen Frauen meinten, dass sich ihre Situation seit 1990 verschlechtert habe (nur 5 Prozent sahen eine Verbesserung). In der Sozialpolitik standen nicht mehr die Gleichzeitigkeit von Familie und Beruf im Mittelpunkt, sondern das Absichern von Zeiten der Erwerbslosigkeit. Frauen wurden und werden massenhaft und überproportional aus dem Erwerbsbereich verdrängt, ehemals frauentypische Bereiche von Männern erobert, die lukrativen und mit Macht verbundenen Arbeitsstellen noch mehr als zuvor von Männern besetzt. Die Folge ist, dass Armut "auch in Ostdeutschland immer weiblicher (und immer jünger)" wird. Bisher kann nur "ein kleinerer Teil ostdeutscher Frauen - überdurchschnittlich aktiv und überdurchschnittlich qualifiziert - die neuen Lebensmöglichkeiten erfolgreich" nutzen.
Weibliche Gegenwehr richtete sich vor allem gegen die Verdrängung aus der Berufstätigkeit. Denn schnell war offensichtlich, dass Lebenschancen und Möglichkeiten zu kultureller und politischer Teilhabe nun in noch höherem Maße von der eigenen Erwerbstätigkeit abhingen. Das motivierte zum Festhalten an der "Doppelstrategie" (jüngst auch an der erheblichen Zahl junger Frauen festgestellt, die nach 1989 in den Westen gegangen sind ).
Debatten über die neue Lebenssituation von Frauen waren meist emotional aufgeladen, reichten die neuen Konflikte doch vom "Intimleben" über das Verhältnis zu den Kindern bis in die hohe Politik und berührten damit immer zugleich das Selbstverständnis der Beteiligten. Es hat nicht an Prognosen gefehlt, dass sich der Sonderanspruch der ostdeutschen Frauen schnell verlieren werde (auch die - immer noch niedrige - Geburtenrate wurde als kurzfristiges Anpassungsverhalten interpretiert). Es wurde sogar ihr "unguter Hang zur Erwerbstätigkeit" als eine der Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit im Osten ausgemacht. Doch entgegen allen Widrigkeiten beharrten sie fast ausnahmslos auf ihrer vollen Erwerbsintegration. Das wirkt sich offenbar auch positiv auf die Familienbindung aus, denn ostdeutsche Frauen gewinnen deutlich mehr Freude aus der Familie, durch ihre Kinder und ihre Partnerschaft als westdeutsche.
An einer zusammenfassenden Aufzählung jener Faktoren, die im Osten eine Annäherung der Geschlechterpositionen bewirkt haben, lässt sich ablesen, in welchen Aspekten der Lebensalltag der ostdeutschen Frauen anders war und auf welchen Gebieten sie nach 1990 daher Zurücksetzungen erfahren haben. Karl Ulrich Mayer und Martin Diewald zählten zu den "umfassenden Gleichstellungsmaßnahmen . . . unter anderem die rechtliche Gleichstellung, die Herstellung der Gleichheit der Ausbildungsqualifikationen, die Vollerwerbstätigkeit, die Förderung der Frauen bei der Besetzung von Leitungspositionen, die Minimierung der Folgen und Kosten von geburtenbedingten Erwerbsunterbrechungen, umfassende Dienstleistungen für die Kinderbetreuung im Schul- und Vorschulalter, eine kinderfreundliche Wohnungsvergabe und - nicht zuletzt - die Herstellung einer Gleichheitskultur auf der Ebene offizieller Normen, Werte und Leitbilder" . Zu den Faktoren, die eine völlige Chancengleichheit verhindert hatten, gehörten auch die "weiterhin bestehenden patriarchalischen Einstellungen und Verhaltensweisen im Privatbereich". Und genau diese in der einstigen DDR fortbestehenden Asymmetrien im Geschlechterverhältnis sind es, die sich unter den neuen Bedingungen verstärken und die Rückkehr zu traditionelleren Formen der Partnerschaft und Familie befördern könnten. Das aber widerspräche kulturellen Trends auch der westlichen Gesellschaften; weibliche Widerständigkeit hat also Erfolgsaussichten.
6. Sicherheit und Freiheit
Zu den großen sozialen Umbrüchen, welche die Ostdeutschen zu verarbeiten haben, gehört die bis dahin unbekannte Unüberschaubarkeit und Unsicherheit der eigenen Existenz. Ihr früheres Leben war vor abwendbaren Folgen der Wechselfälle des individuellen Lebens und des sozialen Wandels weitgehend geschützt. Planung und Lenkung bewahrten sie vor den Marktkräften, sie lebten in einem "Versorgungsstaat", der idealiter "die Grundversorgung der Bevölkerung umfassend und gleichmäßig garantiert(e). Dazu dienten die Garantie des Arbeitsplatzes und ein niedrig gehaltenes Preisniveau ebenso wie der kostenlose Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem oder ein weitgehend nivelliertes Rentensystem." Die vom Wohlfahrtsstaat gebotene "Sicherheit und Geborgenheit" war für die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung eine so selbstverständliche Qualität ihres Alltags, dass sie diese wohl auch vom westdeutschen Sozialstaat erwartet haben. Doch dessen Sicherungssystem ist anders verfasst: Es schützt nicht vor den Marktkräften (die negativ vor allem als Arbeitslosigkeit, aber auch als Wohnungsverlust, Verschuldung, medizinische Unterversorgung usw. erfahren werden können), sondern federt deren sozial negative Folgen ab. So ist es nicht auf gleiche Absicherung (bei Krankheit, bei Arbeitslosigkeit, im Alter usw.) ausgerichtet, sondern macht sie von der Ergiebigkeit der Erwerbstätigkeit abhängig. Schwierigkeiten bei der Umorientierung auf dieses System veranlassen zum Vergleichen und zu nostalgischer Rückbesinnung, zusätzlich genährt durch die Debatten über den jetzt nötigen Umbau des Sozialstaats.
In der von Hans Günter Hockerts herausgegebenen Vergleichsstudie wird herausgearbeitet, wie die Nachfolgestaaten der Weimarer Republik aus deren "spannungsreicher Gemengelage" die "verschiedenen Optionen und Ordnungsideen" "in jeweils spezifischer Auswahl aufgegriffen" haben und wie sie "in besonderen Bahnen fortgeführt worden sind". Wenn solcherart die Ost-West-Unterschiede in Arbeitsverfassung, Gesundheitspolitik, Alters- und Familiensicherung, Wohnungspolitik und öffentlicher Fürsorge vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Vergangenheit vergli- chen werden, wird auch verständlich, wie unterschiedlich die jeweils ausgebildeten Wertvorstellungen und Strategien des Alltagshandelns ausfallen mussten, warum Ostdeutsche auf die Entlassung aus der Fürsorge und die damit verbundene "Unsicherheitserfahrung" mehrheitlich mit Forderungen nach sozialstaatlichem Ausgleich reagieren mussten, also alte Selbstverständlichkeiten auf neue Weise intonierten. Westdeutsche Beobachter deuteten dies als Sehnsucht nach einer miefigen Geborgenheit, aus der sie eben in eine Freiheit entlassen wurden, mit der sie offenbar nichts anzufangen wissen.
In diesem Geiste machten die Medien soziale Sicherheit und Freiheit zu einem Gegensatzpaar. In ihrem politischen Tagesgeschäft begann es für die deutsch-deutschen Unterschiede insgesamt zu stehen. Doch prüft man die Begriffsinhalte, in denen solche gravierenden Differenzen im Wertehaushalt geäußert werden, so ist zu sehen, dass Sicherheit und Freiheit in Ost und West anders verstanden und definiert werden. Ostdeutschen geht es weniger um Freiheitsrechte, dafür mehr um die Freiheit von ausschließenden und einschränkenden Lebensbedingungen. Dies mag in der "arbeiterlichen" Tradition liegen, in erkämpften sozialen Sicherheiten die Grundlage familiärer wie individueller Handlungsspielräume zu sehen. Es ist anzunehmen, dass diese mentale Eigenheit bei den gegebenen Besitzverhältnissen nicht so schnell verschwinden wird. II. Nachklingende typologische Unvereinbarkeit?
Kommt "ostdeutsches Verhalten" öffentlich zur Sprache, geht es fast immer um Abweichungen (von "westdeutschem Verhalten") grundsätzlicher Art: in den Ansprüchen an die Arbeit, in Vorstellungen von der Frauenrolle, von Gerechtigkeit und Freiheit, von Religion und Krieg. Es ist schwer zu sagen, ob die gesteigerte Empfindlichkeit für solche mentalen Ost-West-Unterschiede als Indiz für die inzwischen erreichte Nähe zu deuten ist oder ob sich darin das nur schwer zu unterdrückende Unbehagen äußert, das vom verschieden gestrickten, untergründigen Kulturgewebe des anderen erregt wird. Immer noch brechen bei den Ostdeutschen unvermutet Anpassungskonflikte auf, häufig durch Nichtigkeiten ausgelöst. Das gilt sowohl für kollektive Stimmungslagen wie für den Alltag der Einzelnen. Die weitgehende Beliebigkeit der Anlässe könnte darauf hindeuten, dass sich die subjektive Verfassung immer noch an dem ungewohnt organisierten Gesellschaftstypus reibt und abarbeitet. Die erstaunliche Zähigkeit, mit der Ostdeutsche in ganz verschiedenen Situationen immer wieder "falsch" handeln, scheint eine solche nachklingende typologische Unvereinbarkeit zu bestätigen. Es ist meist nicht die Unkenntnis der "Regeln", hier wirken offenbar systemische Eigenheiten früherer ostdeutscher Lebensweisen nach. Denn jenseits aller Konflikte und Interessengegensätze hatten sich in der untergegangenen Gesellschaft Plan- und Zuteilungswirtschaft, Arbeitspflicht, soziale Gleichheit, Gemeinschaftspflicht, Gebrauchswertorientierung, universelle staatliche Zuständigkeit usw. wechselseitig bedingt und gestützt. Sie hatten eine in sich stimmige Systemganzheit gebildet, auf die hin sich eine subjektive Logik des Alltagslebens ausbildete.
Den neuen Lebensbedingungen entspricht eine andere, gleichfalls stringente Verhaltenslogik. Denn auch hier gehören auf der objektiven Seite Konkurrenzökonomie, Privateigentum, Markt, Parteiendemokratie, Vertragsrecht, plurale Öffentlichkeit usw. zusammen, bedingen einander, stützen sich wechselseitig und erzeugen durch ihre widersprüchliche "Harmonie" auf der subjektiven Seite Verhaltensstrategien, die aufeinander verweisen, die ein "Bedeutungsgewebe" bilden. Offenbar erscheint dieses Netz kultureller Übereinstimmung "den Ostdeutschen" - nach Generation, sozialer Lage und kulturellem Milieu recht verschieden empfunden - noch nicht richtig geknüpft zu sein. Solche Unzufriedenheit könnte signalisieren, dass der enorme Anpassungsdruck, der mit der Komplettlösung des Systemtransfers verbunden war, ihre Initiativen nicht nur auf die Adaption an das Vorgegebene begrenzte, sondern inzwischen in eine kulturell produktive Situation mündet, die über das Reproduktive hinausgehen könnte. Internetverweise des Autors: www.zzf-pdm.de www.polwiss.fu-berlin.de www.berlinerdebatte.de www.zonentalk.de
Dieser Aufsatz beruht auf den Nachbetrachtungen des Verfassers zu dem von Evemarie Badstübner herausgegebenen Buch: Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000, S. 648-695.Robert Hettlage, Kulturelle Integration, in: ders./Karl Lenz (Hrsg.), Deutschland nach der Wende. Fünf-Jahres-Bilanz, München 1995, S. 17-18.
"Sie wußten nicht, wie die westlichen Gesellschaften aufgebaut sind, welche Institutionen wichtig sind, welche Rolle Parteien, Gewerkschaften, Vereine spielen, wie Interessen artikuliert und Konflikte ausgetragen werden. Ostdeutschen ist die Kultur des Westens fremd. Sich individuell auf die Bundesrepublik einzustellen, das ist den meisten mittlerweile ziemlich gut gelungen. Aber sie haben die westliche Gesellschaft nicht verinnerlicht." Rolf Reißig, Der Osten will nicht verachtet werden. Interview mit R. Reißig, in: taz - Magazin vom 23./24.Mai 1998, S. VI-VII.
"Der Mann, der nicht mehr träumt". Günter Gaus im Interview, in: Der Tagesspiegel vom 23. November 1999, S. 3.
"Auch wenn sich für sie vieles seit der Wende geändert hat - ihr Verhältnis zur Bürokratie, zum Mitmenschen, zur Arbeit, zum Geld, zur Zeit, ja sogar zum eigenen Körper - so haben sie Probleme der Umstellung doch inzwischen weitgehend gemeistert." Detlef Pollack/Gert Pickel, Die ostdeutsche Identität - Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellung der Ost-deutschen zu sozialer Ungleichheit und Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41-42/98, S. 9.
Vgl. Jürgen Gerhards/Jörg Rössel, Familienkultur in den USA und in West- und Ostdeutschland, in: Jürgen Gerhards (Hrsg.), Die Vermessung kultureller Unterschiede. USA und Deutschland im Vergleich, Wiesbaden 2000, S. 239.
Die "neue Gesellschaftsform bietet weniger Sicherheit und mehr Chancen; aber für den Novizen wiegt der Verlust an Sicherheit schwerer als der Gewinn an Chancen". Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, Weinheim - München 1996, S. 291.
Annette Spellerberg veröffentlichte (gestützt auf den Ansatz von Hans-Peter Müller) 1996 eine Ost und West vergleichende Untersuchung der Lebensstile: Soziale Differenzierung durch Lebensstile. Eine empirische Untersuchung zur Lebensqualität in West- und Ostdeutschland, Berlin 1996. Zusammengefasst in: Lebensstil, soziale Schicht und Lebensqualität in West- und Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13/97, S. 25-37.
"Der ,Gewinnertyp` ist der freizeitorientierte Sportler, der sich optimistisch, zufrieden und orientiert zeigt", Lebensstil, ebd., S. 34.
Sie könnten jetzt "die Arbeit vom System trennen, das sie um ihre Früchte betrogen hat. Vom Makel der Frustration durch das System befreit, kann Arbeit um so mehr als eigenständige schöpferische Leistung der Menschen gesehen werden, die zusammengearbeitet haben". H. Meulemann (Anm. 6), S. 383. Es mag dahingestellt bleiben, ob das mit der Distanzierung vom System so einfach ist.
Regina Bittner, Kolonien des Eigensinns. Ethnographie einer ostdeutschen Industrieregion, Frankfurt/M. 1998, S. 7.
Martin Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft?, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994.
R. Bittner (Anm. 10), S. 43.
Vgl. dazu Heinz-Herbert Noll, Wahrnehmung und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit 1991-1996, in: Heiner Meulemann (Hrsg.), Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland, Opladen 1998.
Ausführlich und zusammenfassend dazu: H. Meulemann (Anm. 6).
Vgl. dazu Alexander Thumfart, Politische Kultur in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39-40/2001, S. 6-14.
Vgl. dazu Ingrid Lötsch/Hansgünter Meyer (Hrsg.), Die Sozialstruktur als Gegenstand der Soziologie und der empirischen soziologischen Forschung, Berlin 1998. Siehe auch Manfred Lötsch, Ingenieure in der DDR. Soziologische Studien, Berlin 1988.
H. Meulemann (Anm. 6), S. 372.
Richard Stöss, Soziale Gerechtigkeit. Die ostdeutsche Perspektive. www.polwiss.fu-berlin.de, Juli 2001, S. 23.
Vgl. SINUS-Lebensweltforschung, Lebensweltforschung und soziale Milieus in West- und Ostdeutschland, Heidelberg 1992.
Christoph Deutschmann, Geld als soziales Konstrukt. Zur Aktualität von Marx und Simmel, in: Leviathan, 23 (1995) 3, S. 389.
Vgl. Ulrich Busch, Ossis mit schlechter Rendite. Geldverhalten - die Ostdeutschen sind in der Marktwirtschaft angekommen, aber noch nicht im Kapitalismus, in: Freitag, Nr. 33 vom 6. August 1999, S. 6.
So etwa in der Fernsehdokumentation "Huren unter Honecker" von Katja Herr für den MDR (Erstsendung 27. 3. 1996).
Selbst ein Kulturhistoriker legte sich in dieser Sache fest: ". . . wir haben die große, staatlich verordnete Lüge getauscht gegen die mehrheitsfähige, eben durchschnittliche Betrügerei, gegen das Prinzip bedingungsloser Vorteilsnahme, das uns in den Augen der 3. Welt die Seele zerstört . . ." Hans-Peter Lühr, Pluralismus von Identität. Das deutsch-deutsche Kulturbewusstsein, in: Problemkreise der angewandten Kulturwissenschaft, Heft 1, Karlsruhe 1997, S. 43.
Vgl. Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999.
Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900 - 1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt/M.1984.
Nicht nur wegen der notwendigen zusätzlichen Arbeiten in der Freizeit, sondern vor allem wegen längerer Arbeitszeit und kürzerem Urlaub. Für Frauen wurden etliche Zeitvergünstigungen abgeschafft und die Lebensarbeitszeit sogar um fünf Jahre verlängert.
Es ist die am Berufsleben in der Industrie und Landwirtschaft orientierte Einteilung der Tageszeit mit Arbeitsbeginn für alle zwischen sechs und acht Uhr.
Vgl. dazu Christine Eifler, Die deutsche Einheit und die Differenz weiblicher Lebensentwürfe, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41-42/98, S. 37-42.
Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.), Frauen in Deutschland. Lebensverhältnisse, Lebensstile und Zukunftserwartungen, Köln 1993, S. 24 f. Hier wird u. a. ausgewiesen, dass ostdeutsche Frauen unzufriedener mit ihrer Tätigkeit sind, sich weit stärkere Sorgen um die finanzielle Lage der Familie und die Zukunft ihrer Kinder machen und weit mehr über die soziale Entwicklung der Gesellschaft nachdenken.
Selbst Untersuchungen zum lokalpolitischen Feld zeigten, dass Frauen durch parteipolitische Männernetzwerke, durch geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Verwaltung und durch die Verschlechterung ihrer sozialen Situation aus der Kommunalpolitik verdrängt werden. Vgl. Brigitte Geißel/Birgit Sauer, Transformationsprozess und Geschlechterverhältnisse in den neuen Bundesländern. Auswirkungen auf der lokalen politischen Ebene, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39-40/2001, S. 32-38.
Ursula Schröter, Ostdeutsche Frauen im Transformationsprozess. Eine soziologische Analyse zur sozialen Situation ostdeutscher Frauen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/95, S. 42.
Ebd.
Vgl. Manuela Badur, Junge Frauen aus Ostdeutschland. Individualisierungsprozesse im Zuge der deutschen Einigung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/99, S. 27-33.
Vgl. dazu: Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.), Frauen in Deutschland. Lebensverhältnisse, Lebensstile und Zukunftserwartungen, Köln 1993.
Karl Ulrich Mayer/Martin Diewald, Kollektiv und Eigensinn: Die Geschichte der DDR und die Lebensverläufe ihrer Bürger, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46/96, S. 13.
Vgl. Ina Dietzsch/Irene Dölling, Selbstverständlichkeiten im biographischen Konzept ostdeutscher Frauen. Ein Vergleich 1990-1994, in: Berliner Debatte INITIAL, (1996) 2, S. 11-20.
Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 17.
Vgl. Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1996, S. 22.
Vgl. Lothar Fritze, Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/95, S. 3-9.
Vgl. dazu die kleine Studie von Margit Weihrich, Alltägliche Lebensführung im ostdeutschen Transformationsprozess, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/99, S. 15-26.
| Article | Mühlberg, Dietrich | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26952/schwierigkeiten-kultureller-assimilation/ | Die Eingliederung ihrer Gesellschaft in die Bundesrepublik machte die Ostdeutschen zu "Fremden im eigenen Land". Es zwang sie zu schneller Assimilation. | [
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Editorial | Dialog der Kulturen | bpb.de | Vor mehr als 50 Jahren begann mit der Anwerbung von "Gastarbeitern" aus den Mittelmeerländern die Migrationsgeschichte der alten Bundesrepublik. 1961 wurde auch mit der Türkei ein Anwerbeabkommen geschlossen. Die Migrantinnen und Migranten brachten ihre Kultur und Religion mit. Das Zusammenleben von Christen und Muslimen gehört seither zum Alltag in Deutschland.
Und doch geht spätestens seit dem 11. September 2001 das Schlagwort vom "Clash of Civilizations" um. Unter dem Eindruck globalen islamistischen Terrors wird immer häufiger zu einem "Dialog der Kulturen" aufgerufen - als Beitrag zur inneren und äußeren Sicherheit sowie zur Integrationspolitik. Vielerorts haben sich neue Dialoginitiativen und Islamforen zusammengefunden. Worum geht es in diesem Dialog, und wer sind die Gesprächspartner? Sind Kulturen oder Religionen gemeint? Welche Bedeutung hat die Religionszugehörigkeit?
Gewaltsame Auseinandersetzungen um Karikaturen, Streit um das Tragen von Kopftüchern sowie Boykottaufrufe gegen Bücher und Filme offenbaren die neue Brisanz religiöser Grundfragen. Häufig scheinen sich hinter dem Bekenntnis zum gleichberechtigten Miteinander Motive religiöser Selbstvergewisserung zu verbergen, die eher zur kulturellen Abgrenzung denn zur gesellschaftlichen Integration beitragen. Ein erfolgreicher "Dialog der Kulturen" wäre ein Verständigungsversuch darüber, was die von Migration geprägte Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts zusammenhält. Im Mittelpunkt müssten die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte einschließlich der Religionsfreiheit sowie der Vorrang der demokratischen Verfassungsordnung vor Glaubensfragen stehen. | Article | Golz, Hans-Georg | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29633/editorial/ | [
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Beim Kirchenasyl geht es um den Schutz des Einzelnen. Ein Gespräch. | Zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrationsgesellschaft | bpb.de | Die Kirche versteht sich als Anwältin für Benachteiligte und Schützerin der Menschenwürde und -rechte aller. Dies kann auch bedeuten, Schutzbedürftigen, denen eine Abschiebung in ein für sie unsicheres Land droht, Kirchenasyl zu gewähren. Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" gibt an, dass sich in Deutschland Mitte November 2018 etwa 883 Personen in 553 aktiven Kirchenasylen befanden. Bei der Mehrzahl der Menschen im Kirchenasyl geht es darum, eine im Rahmen des Dublin-Verfahrens vorgesehene Überstellung in ein anderes EU-Mitgliedsland zu verhindern, damit über den Asylantrag letztendlich in Deutschland entschieden wird. Ein Gespräch mit dem promovierten Theologen und emeritierten Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, Wolf-Dieter Just.
Herr Just, was genau ist Kirchenasyl?
Ein Kirchenasyl ist die befristete Aufnahme von Geflüchteten in den Räumen einer Kirchengemeinde, denen bei einer Interner Link: Abschiebung Folter, Tod oder menschenrechtswidrige Härten drohen. Es soll Zeit gewonnen werden, damit das Schutzbegehren der Geflüchteten noch einmal sorgfältig unter rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkten geprüft werden kann. So kann nachgewiesen werden, ob Entscheidungen der Behörden revisionsbedürftig sind oder nicht. Denn Irren ist menschlich – es kann immer zu Fehlentscheidungen kommen. Daher empfiehlt es sich in manchen Fällen, einen Asyl-Folgeantrag zu stellen. Direkt am ersten Tag werden die Behörden durch die Kirchenasyl gewährende Gemeinde informiert, dass sie einen Geflüchteten in Schutz genommen hat. Das Kirchenasyl ist also nicht geheim!
Seit wann gibt es die Tradition des Kirchenasyls?
Schon in der Antike gab es die Tradition, an heiligen Stätten wie Tempeln, Grabstätten oder heiligen Hainen Menschen Schutz zu gewähren. Innerhalb dieser Tabuzonen sollten Menschen z.B. vor Lynchjustiz oder Blutrache bewahrt werden, vor allem wenn nicht klar war, ob sie schuldig waren oder nicht. Im alten Israel musste Blutrache verübt werden, wenn ein Mensch getötet wurde. Der Tötende musste dann selbst wieder getötet werden – ein unheilvoller Kreislauf. Um das zu vermeiden, wurden sechs sogenannte Asylstädte auf beiden Seiten des Jordans gegründet. Dort konnten Menschen Schutz suchen, die von Blutrache bedroht waren. Die Asylstädte boten sozusagen Möglichkeiten der Revision des Gerichtsverfahrens in einem noch unausgebildeten Rechtssystem. Das eigentliche Kirchenasyl kam dann im Mittelalter: Die Schutzfunktion griechischer und römischer Tempel ging über an die Kirchen.
Das moderne Kirchenasyl hat in Deutschland 1983 begonnen mit drei palästinensischen Familien in Berlin, die von Abschiebungen in das Bürgerkriegsland Interner Link: Libanon bedroht waren. Sie mussten um ihr Leben fürchten, wenn sie in den Krieg zurückgeschickt würden. Die Heilig-Kreuz-Gemeinde schützte diese Geflüchteten in ihren Räumen, und am Ende war dieses Kirchenasyl erfolgreich. Sie haben nach einer gewissen Zeit Asyl erhalten und konnten in Deutschland bleiben. Dieser Fall und andere aus dem Ruhrgebiet waren die Anfänge, die sich dann weiterentwickelt haben. In Berlin wurde in den 1980er-Jahren das Netzwerk "Asyl in der Kirche" gegründet, dem bald 50 Gemeinden angehörten, die bereit waren, für Geflüchtete einzutreten und sie zu schützen, wenn ihnen im Falle einer Abschiebung Gefahr für Leib und Leben drohte.
Sie waren maßgeblich an der Gründung der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" beteiligt. Wie kam es dazu?
Nach der Gründung des Berliner Netzwerks "Asyl in der Kirche" entstanden weitere Ländernetzwerke, z.B. 1993 in NRW. Im Jahr 1994 wurde dann die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" bei einer Tagung der Evangelischen Akademie in Mülheim an der Ruhr gegründet. Die habe ich geleitet und zusammen mit dem Deutschen Caritasverband dazu eingeladen. Aus fast allen Bundesländern kamen Vertreterinnen und Vertreter, außerdem noch aus den Niederlanden, Österreich und der Schweiz. Zusammen haben wir die Bundesarbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen.
Was gab den Anstoß für die Gründung?
Anlass waren die drastischen Einschränkungen des Interner Link: Asylrechts in Deutschland durch den sogenannten Interner Link: Asylkompromiss von 1993 zwischen der regierenden schwarz-gelben Koalition und der damals oppositionellen SPD. Damit wurde eine Änderung des Asylartikels 16 im Grundgesetz beschlossen – zusammen mit dem Asylverfahrensgesetz und dem Asylbewerberleistungsgesetz. Das Asylbewerberleistungsgesetz sah soziale Leistungen für Asylbewerber und -bewerberinnen vor, die deutlich unter Sozialhilfeniveau lagen. Zudem hatte sich das asylpolitische Klima drastisch verschlechtert. Schon 1993 gab es ca. 35.000 Abschiebungen und ähnlich viele 1994. Man hatte nicht den Eindruck, dass der Einzelfall hinreichend geprüft wurde. In dieser Situation wollten viele Initiativen Geflüchtete schützen. Oft blieb als letzter Ausweg das Kirchenasyl, welches daraufhin auch zunehmend in Anspruch genommen wurde.
Darüber gab es allerdings bald Streit. Manche Politiker und Juristen meinten, Kirchenasyl sei Rechtsbruch, andere widersprachen. In der Bevölkerung gab es damals bereits eine überraschend positive Meinung. Eine Forsa-Umfrage von 1994 ergab, dass 62 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Gewährung von Kirchenasyl richtig fanden, wenn den Geflüchteten bei einer Abschiebung Schlimmes drohte. Nur 29 Prozent waren dagegen.
Inwiefern hat sich der politische Kontext seitdem verändert? Wie reagiert die Mehrheitsgesellschaft auf Kirchenasyl, insbesondere seit dem sogenannten Sommer der Migration 2015?
Schon 1992 kamen fast eine halbe Million Geflüchtete nach Deutschland. Das war der Grund für die Verschärfung des Asylrechts und asylfeindliche Stimmungen im Land. 2015 kamen noch mehr Asylsuchende ins Land, rund 890.000. Aber – anders als 1992 – war das gesellschaftliche Klima zunächst durchaus freundlich. Es gab eine Interner Link: Willkommenskultur, sehr viele Menschen engagierten sich für Interner Link: Geflüchtete. Externer Link: Untersuchungen haben gezeigt, dass sich nach dem Herbst 2015 mindestens jede/r zehnte Bundesbürger oder Bundesbürgerin in irgendeiner Weise für Geflüchtete einsetzt. Aber auch die Gegenkräfte wurden stärker. Was das betrifft, ist die Interner Link: Gesellschaft heute stärker gespalten. Nachdem 2015 viele Geflüchtete aus humanitären oder anderen plausiblen Gründen aufgenommen wurden, kam die Gegenreaktion von rechter Seite, insbesondere von der Interner Link: AfD, aber auch von den Unionsparteien. Dies fand seinen Niederschlag in erheblichen Verschärfungen des Asylrechts, den Interner Link: Asylpaketen 1 und 2 sowie im Interner Link: Integrationsgesetz. Geflüchteten soll damit deutlich gemacht werden, dass es sich nicht lohnt, nach Deutschland zu kommen. Mit Erfolg: Die Zahl der Geflüchteten ist seitdem deutlich zurückgegangen.
Auch das Kirchenasyl erlebt politisch heftige Gegenreaktionen: Die Interner Link: AfD z.B. macht Eingaben in den Landtagen, um gegen das Kirchenasyl vorzugehen. Die Partei hat sogar verlangt, Namen von Kirchen, ihren Gemeinden und von Geflüchteten im Kirchenasyl öffentlich zu machen und darüber Statistik zu führen.
Andererseits hat das Kirchenasyl inzwischen eine gewisse humanitäre Tradition, die auch von den regierenden Parteien in Bund und Ländern nicht bestritten wird. Das zeigte sich u.a. bei der Innenministerkonferenz im Juni 2018 und beim Interner Link: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Was diese jedoch kritisieren, ist, dass es zu viele Kirchenasyle seien. Ihre Kritik bezieht sich vor allem auf die so genannten Dublin-Kirchenasyle. Durch sie sollen Menschen davor geschützt werden, im Rahmen des Dublin-Verfahrens in andere EU-Mitgliedstaaten abgeschoben zu werden, wenn ihnen dort z.B. Haft oder Obdachlosigkeit drohen wie in Bulgarien, Ungarn, Italien und Griechenland. Stattdessen soll erwirkt werden, dass in Deutschland über ihren Asylantrag entschieden wird. Durch die Dublin-Kirchenasyle hat sich die Zahl der Kirchenasyle seit 2011 mehr als verzehnfacht: 2011 hatten wir 32 Kirchenasyle und jetzt, im November 2018, sind es 553. Die Zahl der Kirchenasyle ist aber auch gewachsen, weil die Zahl der Geflüchtete in Deutschland insgesamt erheblich zugenommen hat. Leider wird das Kirchenasyl durch die Politik immer mehr erschwert.
Die Innenministerkonferenz hat im Juni 2018 entschieden, dass die Frist zur Überstellung von Schutzsuchenden, die sich im Kirchenasyl befinden und für deren Asylverfahren gemäß der Dublin-Regelung ein anderer EU-Staat zuständig ist, von sechs auf 18 Monate verlängert werden darf, wenn kein Härtefall vorliegt. Was bedeutet das für das Kirchenasyl?
Zunächst einmal bedeutet das eine starke Belastung für die Geflüchteten, die ein ganzes Jahr länger im Kirchenasyl ausharren müssen, sich nicht frei bewegen können und auf fremde Hilfe angewiesen sind. Zum anderen bedeutet das natürlich auch eine höhere Belastung für die Gemeinden. Sie müssen sich in Zukunft genau überlegen, ob sie überhaupt in der Lage sind, so lange auf die entsprechenden Räume zu verzichten, die für ein Kirchenasyl erforderlich sind. Außerdem kostet es Geld und auch mehr Humanpower. Das erschwert die Sache des Kirchenasyls in unverhältnismäßiger Weise.
Sie kritisieren die Verschärfungen im staatlichen Umgang mit Kirchenasyl. Warum?
Wir halten die Verlängerung auf 18 Monate für rechtswidrig. Denn es heißt in der Dublin- Verordnung (Artikel 29 (2)): Wenn ein Geflüchteter "flüchtig" ist, verlängert sich die Überstellungsfrist auf 18 Monate. Geflüchtete sind aber nicht flüchtig, wenn vom ersten Tag an das Kirchenasyl und der neue Aufenthaltsort der Geflüchteten den Behörden gemeldet wird. Deswegen ist auch von Gemeinden gegen die Verlängerung der Dublin-Frist geklagt worden und einige Verwaltungsgerichte haben uns Recht gegeben. Einige Klagen haben sogar dazu geführt, dass nach sechs Monaten das Selbsteintrittsrecht erklärt werden musste, Deutschland also für das Asylverfahren zuständig wurde. Die Sache ist aber rechtlich noch nicht endgültig entschieden.
Welche Ziele und politische Forderungen verfolgt Kirchenasyl? Wofür soll eingestanden werden?
Das einzelne Kirchenasyl verfolgt keine unmittelbar politische Absicht. Es geht beim Kirchenasyl immer um den einzelnen Geflüchteten, der Schutz braucht. Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" versteht sich als Menschenrechtsorganisation. Es geht darum, dass wir Geflüchtete schützen, denen im Falle einer Abschiebung Menschenrechtsverletzungen drohen. Deutschland bekennt sich in Artikel 1 des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und zu unveräußerlichen Menschenrechten. Wenn aber die Politik diese normativen Vorgaben nicht mehr so ernst nimmt, wie das im Augenblick durch die Asylpolitik geschieht, dann ist es, denke ich, auch eine staatsbürgerliche Pflicht, dass Bürger und Bürgerinnen dagegen aufbegehren und im konkreten Fall Geflüchtete vor Unrecht bewahren. Wir wollen prinzipiell nicht Recht brechen, sondern Recht schützen. Grundsätzlich braucht der Staat Bürger und Bürgerinnen, die sich für die Verfassung einsetzen, für den Erhalt der Würde und Rechte jedes Einzelnen. Insofern ist die Zivilgesellschaft ein wichtiges Korrektiv.
Inwieweit ist Kirchenasyl ein Korrektiv?
In 80-90 Prozent der Fälle ist das Kirchenasyl erfolgreich, d.h. es wurde festgestellt, dass gar nicht abgeschoben werden durfte, da humanitäre Gründe dagegensprachen. Da stellt sich natürlich die Frage, wie grundrechtskonform das deutsche Asylverfahren eigentlich aufgestellt ist. Das Kirchenasyl ist eine Möglichkeit, Fehlentscheidungen der zuständigen Behörden und Gerichte zu revidieren. Aus dem Grund ist im Februar 2015 eine besondere Externer Link: Vereinbarung zwischen Katholischer Kirche, der Evangelischen Kirche sowie den evangelischen Freikirchen in Deutschland mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum Umgang mit Kirchenasylen getroffen worden. Teil der Vereinbarung ist die Durchführung einer Art Härtefallprüfung insbesondere bei Dublin-Fällen vor Beginn oder während eines Kirchenasyls. Darin liegt eine Anerkennung, dass humanitäre Härten im Einzelfall übersehen werden können.
Kein Gesetz ist so perfekt, dass es wirklich jeden Einzelfall in menschengerechter Weise löst. Darum gibt es ja auch in allen Bundesländern Härtefallkommissionen, die ebenfalls ein Erfolg der Kirchenasylbewegung sind. Sie können contra legem entscheiden, also gegen den Wortlaut einer geltenden rechtlichen Norm, dass ein Geflüchteter ein Bleiberecht erhält, wenn ihm unverhältnismäßige menschliche Härten drohen.
Die Migrations- und Asylpolitik der Bundesregierung ist also ein Konfliktfeld zwischen Kirche und Staat?
Die Kirchen haben nicht verhindern können, dass seit 2015 das Asylrecht erheblich verschärft worden ist. Ich finde es skandalös, dass die Europäische Union, die sich als "Wertegemeinschaft" versteht und zu den Menschenrechten bekennt, eine derartige Abschottungspolitik betreibt. Tausende Menschen ertrinken jedes Jahr im Mittelmeer und die Staaten schauen zu. Die Politik behindert sogar die zivile Seenotrettung und kriminalisiert Helfende, die Menschen vor dem Ertrinken retten wollen. Durch all das macht sich Europa unglaubwürdig in der Welt. Hier gibt es einen bisher ungelösten Konflikt zwischen den Auffassungen der Kirche und der Politik der Europäischen Union und Deutschlands.
In Ihrem Text "20 Jahre Kirchenasylbewegung" von 2003 schreiben Sie: "Es gibt kein kirchliches Recht, Asyl zu gewähren. Staatliches Recht gilt auch in Kirchen und soll nicht relativiert werden. Es gibt aber eine kirchliche Beistandspflicht, auf die sich Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, berufen können." Weiterhin schreiben Sie, dass Kirchenasyl in der Regel mit Rechtsvorschriften in Einklang steht und daher kein ziviler Ungehorsam ist. Das sehen die Innenminister von Bund und Ländern vermutlich anders.
Es ist auch in den Kirchen umstritten, ob Kirchenasyl eine Rechtsverletzung darstellt oder nicht. Denn nur im Falle einer Rechtsverletzung kann man von zivilem Ungehorsam sprechen. Ziviler Ungehorsam heißt ja, dass rechtliche Bestimmungen bewusst übertreten werden z.B. aus humanitären Gründen, weil man befürchtet, dass Menschenrechte verletzt werden. Ziviler Ungehorsam heißt also auch, dass man bestimmte Werte gegen geltendes Recht verteidigt, weil sich positives Recht auch zu Unrecht entwickeln kann und seine Legitimation verliert. Es kommt zu einer Spannung, einem Konflikt, zwischen Legalität und Legitimität.
Ursprünglich habe auch ich Kirchenasyl für zivilen Ungehorsam gehalten – so 1993 in meinem Buch "Asyl von unten". Später hat mich der ehemalige Justizminister Jürgen Schmude vom Gegenteil überzeugt, indem er gesagt hat: Nein, im Kirchenasyl liegt keine Rechtsverletzung vor. Warum sollen Kirchengemeinden nicht Flüchtlinge aufnehmen und ihnen beistehen? Es gibt doch eine kirchliche Beistandspflicht. So lange dem Staat bekannt ist, wo sich die Geflüchteten aufhalten, hat er ja die Möglichkeit, sie von dort wegzuholen. Es gibt aber eine gewisse Scheu von Seiten des Staates, mit Gewalt in Kirchen einzudringen. Kirchen sind immerhin Orte, an denen die Botschaft des Friedens und der Versöhnung gepredigt wird. Dort mit Polizei einzudringen ist ein Sakrileg. Da also Kirchengemeinden vom ersten Tag an den Behörden mitteilen, wo die Geflüchteten sich aufhalten, sehe ich im Kirchenasyl keine Rechtsverletzung und damit auch keinen zivilen Ungehorsam.
Welche politischen Veränderungen in Bezug auf die Wahrung der Grund- und Menschenrechte aller wünschen Sie sich für die Zukunft?
Keine Abschottung mehr: Die Inanspruchnahme des Asylrechts wird so gut wie unmöglich gemacht, indem man die Zugangswege versperrt und alle Menschen zu Illegalen erklärt, die trotzdem versuchen, ins Land zu kommen und Asyl zu beanspruchen. Daher verlangen wir von der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" schon lange legale Zugangswege zum Asylrecht in Europa und Deutschland. Außerdem sind wir für eine Abschaffung des nicht funktionierenden Dublin-Systems. Es sollte ersetzt werden durch ein System, das die Menschenrechte wahrt. Schließlich wünschen wir uns mehr Menschlichkeit im Umgang mit den Geflüchteten, die bereits hier sind.
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrationsgesellschaft".
Quellen / Literatur
Dethloff, Fanny/Mittermaier, Verena (Hrsg. 2011): Kirchenasyl. Eine heilsame Bewegung. Karlsruhe: Loeper Literaturverlag.
Just, Wolf-Dieter (2018): Kirchenasyl in Deutschland. Menschenrechtsschutz gegen Abschiebungen. In: Mautner, Josef P. (Hrsg.): Regionale Menschenrechtspraxis, Herausforderungen – Antworten – Perspektiven. Salzburg: Mandelbaum Verlag, S. 187-204.
Just, Wolf-Dieter/Sträter, Beate (Hrsg. 2003): Kirchenasyl. Ein Handbuch. Karlsruhe: Loeper Literaturverlag.
Just, Wolf-Dieter (Hrsg. 1993): Asyl von unten: Kirchenasyl und ziviler Ungehorsam; ein Ratgeber. Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag.
Pilgram, Martin (Hrsg. 1995): Wir wollen, dass ihr bleiben könnt. Kirchenasyl in Gilching - Ein Beispiel. Karlsruhe: Loeper Literaturverlag.
Dethloff, Fanny/Mittermaier, Verena (Hrsg. 2011): Kirchenasyl. Eine heilsame Bewegung. Karlsruhe: Loeper Literaturverlag.
Just, Wolf-Dieter (2018): Kirchenasyl in Deutschland. Menschenrechtsschutz gegen Abschiebungen. In: Mautner, Josef P. (Hrsg.): Regionale Menschenrechtspraxis, Herausforderungen – Antworten – Perspektiven. Salzburg: Mandelbaum Verlag, S. 187-204.
Just, Wolf-Dieter/Sträter, Beate (Hrsg. 2003): Kirchenasyl. Ein Handbuch. Karlsruhe: Loeper Literaturverlag.
Just, Wolf-Dieter (Hrsg. 1993): Asyl von unten: Kirchenasyl und ziviler Ungehorsam; ein Ratgeber. Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag.
Pilgram, Martin (Hrsg. 1995): Wir wollen, dass ihr bleiben könnt. Kirchenasyl in Gilching - Ein Beispiel. Karlsruhe: Loeper Literaturverlag.
Das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 der Dublin-III-Verordnung bedeutet, dass ein Staat sich für die Prüfung eines Asylantrags zuständig erklären kann, auch wenn er eigentlich nicht für das Asylverfahren zuständig wäre, weil die asylantragsstellende Person in einem anderen Land, in dem die Verordnung gilt, erstmals die EU betreten hat.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-19T00:00:00 | 2019-02-01T00:00:00 | 2021-11-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/285038/beim-kirchenasyl-geht-es-um-den-schutz-des-einzelnen-ein-gespraech/ | Kirchenasyl hat eine lange Tradition. Trotzdem kommt es darüber regelmäßig zu Spannungen zwischen Kirche und Staat. | [
"Migration",
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"Asyl"
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Kriegerische Konflikte: eine Übersicht | Kriege und Konflikte | bpb.de | Einleitung
Seit geraumer Zeit prognostiziert die Politikwissenschaft das Ende des Krieges als Mittel der Politik. Das Ende des Kalten Krieges 1989/91 schien die Menschheit diesem Traum ein gutes Stück näher zu bringen; das damals vorhergesagte "Ende der Geschichte" hätte ganz wesentlich auch ein Ende militärischer Auseinandersetzungen sein sollen. Man hatte sich gründlich geirrt. Die 1990er Jahre brachten u.a. auf dem Balkan, im Kaukasus sowie in West- und Zentralafrika damals kaum mehr für möglich gehaltene, vielfach als "ethnisch" oder "neu" bezeichnete Konflikte und kriegerische Exzesse, die alle Hoffnungen auf eine neue, friedliche Weltordnung blutig zunichte machten. Auch im politischen Instrumentarium der letzten Supermacht bleibt Krieg offensichtlich ein fester Bestandteil.
Was ist Krieg? Oder besser, was gilt in der empirischen Forschung als Krieg? Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg (AKUF) folgt bei ihrer Einschätzung der klassischen Definition des ungarischen Friedensforschers István Kende (1917 - 1988):
Kriege werden als solche gezählt, wenn erstens zwei oder mehr Parteien in bewaffnete Auseinandersetzungen verstrickt sind, wobei mindestens eine aus den regulären Streitkräften einer Regierung bestehen sollte; wenn zweitens ein "Mindestmaß" an zentral gelenkter Organisation der Kriegführung gegeben ist; und wenn drittens eine gewisse Kontinuierlichkeit der Feindseligkeiten herrscht. Wenn nicht alle diese Kriterien erfüllt sind, wird von bewaffneten Konflikten gesprochen. Andere Forschungsprojekte definieren zusätzlich eine quantitative Schwelle, in der Regel 1000 Kriegsopfer insgesamt oder pro Jahr. Formen der Gewalt: Krieg als " Chamäleon"
Was die inhaltliche Bestimmung des Begriffes "Krieg" betrifft, so kann man sich auch heute noch an den preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz halten; er spricht von der "wunderlichen Dreifaltigkeit" des Krieges: seiner "ursprünglichen Gewaltsamkeit", dem "Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls" und seinem instrumentellen Charakter eines "politischen Werkzeuges". Diese drei "Tendenzen" seien "tief in der Natur des Gegenstandes begründet und zugleich von veränderlicher Größe". Die erste meint den organisierten und kontinuierlichen Einsatz beträchtlicher militärischer Gewaltmittel und die dadurch verursachten Schäden; die zweite die Probleme der Kontrolle der entfesselten Kräfte; die dritte die zu erreichenden Zwecke, die Clausewitz auf rein politische eingrenzen möchte - getreu seiner Devise, dass "Krieg nichts anderes als die Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel" sei. Die Realität war und ist natürlich eine andere, wie auch Clausewitz wusste, "unserer Theorie zum Trotz". Kriege wurden und werden neben politischen zu mancherlei Zwecken geführt: Die Motive reichen von Religion und Ideologie über Bereicherung bis hin zu persönlicher Profilierung. Und schließlich wird Krieg nicht nur von Regierungen geführt, sondern von Akteuren der verschiedensten Art: von Aufständischen, Rebellen, Kriegsherren, Drogenbaronen, ja sogar Wirtschaftsunternehmen (wie z.B. der damaligen britischen Ostindien-Gesellschaft). Man kann somit von Akteuren und Zielen abstrahieren und "Krieg" vom Begriff her auf den organisierten und zeitlich andauernden Einsatz beträchtlicher Gewalt reduzieren. In seiner Erscheinung wird Krieg damit ein "wahres Chamäleon", wie es Clausewitz formulierte, "weil er in jedem konkreten Fall seine Natur etwas ändert". Dies gilt bereits für den zwischenstaatlichen Krieg, erst recht jedoch für Aufstände, Bürgerkriege, Revolutionen und Interventionen bis hin zum Terrorismus. All dies ist "Krieg", wenn es den organisierten und andauernden Einsatz von Gewaltmitteln impliziert, also nicht nur die Drohung mit diesen oder spontane Fälle von Gewalt.
Für eine Klassifizierung von Konflikten und Kriegen lassen sich zunächst zwei Dimensionen unterscheiden (vgl. die Abbildung der PDF-Version): die vertikale der Akteurskategorie, die von Dorfgemeinschaften bis hin zu Militärallianzen und Supermächten reicht; und die horizontale der Gewaltsamkeit. Auf dieser sind wiederum verschiedene Schwellen unterscheidbar: der Übergang zu einem sichtbaren Interessenkonflikt, der auf gewaltlose Weise abgearbeitet werden kann, bei Misserfolg dann über die Schwelle des Waffeneinsatzes gerät, was den Konflikt zum Krieg geringer Intensität macht. Eine weitere Schwelle ist jene des Einsatzes schweren militärischen Geräts, womit der Konflikt zum konventionellen Krieg mutiert. Die letzte Schwelle ist schließlich jene des Einsatzes von Nuklearwaffen. Die wichtigsten Konfliktformen seien nachfolgend skizziert.
Als innerstaatliche Konflikte bezeichnet man eine größere Klasse unterschiedlichster Ereignisse, bei denen in erster Linie innerstaatliche Gruppierungen und Parteien aufeinander treffen. Diese Konflikte werden zu innerstaatlichen Kriegen, wenn sie die Schwelle des Waffeneinsatzes überschreiten und die vorher genannten Merkmale andauernder und organisierter Gewaltanwendung aufweisen. Als tribale Kriege lassen sich organisierte, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Lokalgruppen in Regionen ohne staatliche Zentralgewalt bezeichnen, d.h. in Gegenden, in denen der nominal verantwortliche Staat sein Gewaltmonopol nicht durchzusetzen vermag.
Gerade der innerstaatliche Konflikt ist ein "Chamäleon", d.h. man findet eine Vielfalt von Erscheinungsformen, beginnend bei Parteien und Gruppen, die mit dem Instrument des passiven Widerstandes die jeweilige Staatsgewalt herausfordern. Aufstände tendieren dann zur Eskalation in den Bereich der Gewaltanwendung, wenn Behörden diese mit dem Einsatz militärischer Mittel niederzuschlagen versuchen. Wenn Aufständische der direkten Konfrontation mit den militärisch überlegenen regulären Streitkräften ausweichen und sich primär verdeckter Taktiken bedienen, nennt man sie Guerilla. In kleinen Einheiten agierend, setzen sie auf die Bekämpfung des Gegners etwa durch Attacken aus dem Hinterhalt oder hohe Kosten verursachende Sabotageakte. Wenn dies auch Anschläge auf Unschuldige und Unbeteiligte impliziert, spricht man von Terrorismus (siehe unten).
Als Staatsstreich oder Putsch bezeichnet man den irregulären Transfer der Regierungsgewalt, oft ohne den Einsatz militärischer Mittel, meist aber unter Androhung dieser, üblicherweise durch das Militär oder mit dessen Hilfe. Er bringt in der Regel einen zumindest temporären Wandel der politischen Ordnung mit sich. Revolutionen hingegen zielen immer auf die Umwälzung der politischen und sozialen Ordnung ab; sie tendieren ebenfalls zur Eskalation in den Bereich der Gewalt, wenn sich die Exponenten der alten Ordnung mit militärischen Mitteln wehren. Aufstände und Revolutionen werden auf diese Weise zu Bürgerkriegen.
Unter anderem als so genannte neue Kriege sind innerstaatliche Kriege und Konflikte seit Ende des Kalten Krieges wieder stark in der Diskussion. Diese zeichnen sich gemäß Herfried Münkler durch die Entstaatlichung und Privatisierung kriegerischer Gewalt aus, die häufig mit einer Kriminalisierung und Kommerzialisierung einhergeht. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre prophezeite der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld der Welt eine neue Form des Krieges und nannte als Beispiele Somalia, Angola, Kurdistan, Libanon, Sri Lanka und auch die Favelas von Rio de Janeiro; der herkömmliche, zwischenstaatliche Krieg sei ein Auslaufmodell. Nicht schwere, moderne Waffen kommen im neuen Krieg des 21. Jahrhunderts zum Einsatz, so van Creveld, sondern leichte, primitive und vor allem billige Kampfmittel. Nuklearwaffen spielten im 21. Jahrhundert keine Rolle mehr. Darin hat sich van Creveld aber wohl getäuscht: Der nukleare Nervenkrieg zwischen Indien und Pakistan vom Frühjahr 1998, der andauernde Konflikt um das nordkoreanische Nuklearprogramm sowie die nuklearen Ambitionen Irans erinnern daran, dass Nuklearwaffen weiterhin ein Problem sind. Auch hat der neue Krieg den "alten", zwischenstaatlichen Krieg nicht abgelöst, wie der zweite Golfkrieg vom Frühjahr 2003 zeigte. Zudem sind die Übergänge fließend: Innerstaatliche Kriege eskalieren namentlich dann, wenn sich weitere Staaten in den Konflikt zwecks Unterstützung der einen oder beider Seiten einmischen.
Die Bezeichnung "neuer Krieg" ist an sich irreführend, weil diese Form der militärischen Auseinandersetzung erstens historisch gesehen älter ist als der zwischenstaatliche Krieg, der erst mit der Entstehung des internationalen Systems als Nebeneinander souveräner Staaten möglich wurde, und weil zweitens kriegerische Auseinandersetzungen zwischen substaatlichen Gruppierungen immer schon häufiger waren als zwischenstaatliche Kriege. In der Konfliktforschung findet denn auch vermehrt eine Abkehr von der staatszentrierten Perspektive statt, wie dies etwa am Einbezug substaatlicher Konflikte ohne Regierungsbeteiligung durch Forschungsprojekte wie das Uppsala Conflict Data Project (UCDP) deutlich wird. Darüber hinaus wächst das Interesse an den trans- und internationalen Dimensionen interner Konflikte wie grenzüberschreitenden Prozessen der "Übertragung" oder "Diffusion" kollektiver Gewalt oder mit externen Interventionen einhergehenden Dynamiken. Terrorismus als Form des Krieges?
Der Krieg ist ein "Chamäleon", er hat viele Erscheinungsformen, und vieles spricht dafür, dass Terrorismus eine davon geworden ist. Terrorismus kann man als "politisch motivierte Form der Gewaltkriminalität" definieren, wie dies im "Brockhaus" geschieht, und ihn damit nach "unten" von allgemeinen Gewalttaten abgrenzen, denen das Motiv des Politischen fehlt. Die Abgrenzung nach "oben", in Richtung Krieg, ist schwieriger. Der Terrorismus bedient sich der Verbreitung von Angst und Schrecken durch die Anwendung von Gewalt, auch und vornehmlich gegenüber Unschuldigen, und zwar willkürlich und wahllos. Das Merkmal besonderer Rücksichtslosigkeit auch gegen Unschuldige reicht zur Abgrenzung des Terrorismus vom zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Krieg offensichtlich nicht aus, weil in allen Kriegen bis hin zum zweiten Golfkrieg 2003 Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest in Kauf genommen werden. Zudem gibt es genügend Beispiele, in denen die Kriegführenden sehr bewusst zivile Infrastruktur oder die Zivilbevölkerung ins Visier nehmen; man denke an die Flächenbombardierungen des Zweiten Weltkriegs oder die Exzesse marodierender Banden in afrikanischen Kriegen. Krieg wird damit zum Terrorismus.
Umgekehrt kann Terrorismus dann als Krieg gelten, wenn dieser den Charakter des Krieges annimmt und dessen Merkmale aufzeigt. Dem "gewöhnlichen" Terrorismus der Zeit vor dem 11. September 2001 fehlte in dieser Hinsicht zumeist das Merkmal organisierter, andauernder und in größerem Stile stattfindender Gewalt. Gerade in dieser Hinsicht hat nun der Terrorismus des frühen 21.Jahrhunderts völlig neue Qualität, und zwar weil er nach Massenvernichtungswaffen strebt bzw. mit minutiöser Planung und großer Ausdauer äquivalente Zerstörungen erzeugt, wie der Anschlag auf das World Trade Center gezeigt hat. Die Welt hat es zweifellos mit einer neuen Qualität der Bedrohung zu tun, und wenn der amerikanische Präsident bereits am 15. September 2001 bemerkte, die USA befänden sich nun im Krieg, so hatte man zumindest dies sehr genau begriffen. Der Vergleich der aktuellen terroristischen Bedrohung mit jener der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges, wie ihn die amerikanische Regierung unterstellt, ergibt jedoch wenig Sinn. Konfrontation zwischen Supermächten und großen Bündnissystemen
Als besondere Form des Konfliktes mit Potenzial zur Eskalation in eine große militärische und allenfalls auch nukleare Auseinandersetzung verdient die Supermacht-Konfrontation zumindest wegen des gerade zitierten Vergleichs mit den aktuellen terroristischen Bedrohungen einige Beachtung. Nach dem Ende des ost-westlichen Antagonismus kann dies in Form eines Rückblicks auf den Kalten Krieg und die beiden Weltkriege geschehen. Voraussetzung einer derartigen Konfrontation war eine politisch-ideologische Spaltung des Staatensystems in zwei Lager, die von rivalisierenden Groß- oder Supermächten geführt wurden. Notwendige Voraussetzung war ferner Konfliktstoff zwischen beiden Lagern, dessen Beseitigung für bedeutsame Mitglieder eines der beiden Lager tatsächlich oder vermeintlich eine Überlebensfrage darstellte und deshalb subjektiv keinen Aufschub vertrug. Die führenden Großmächte beider Seiten waren darüber hinaus davon überzeugt, dass die Lösung des Konflikts mit militärischen Mitteln denkbar oder mindestens einem demütigenden Einlenken vorzuziehen sei. Beide Weltkriege begannen nach diesem Schema. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West eskalierte mehrmals bis an den Rand der großen militärischen Auseinandersetzung, namentlich in den Berlinkrisen, in der Kuba-Krise 1962 und in der Folge der Nachrüstung der NATO in den frühen 1980er Jahren. Erst die Reformpolitik Michail Gorbatschows und die gemeinsamen Rüstungskontrollbemühungen von USA und Sowjetunion beendeten schließlich die bis dahin wohl gefährlichste Phase menschlicher Geschichte.
Die Zeit der großen Weltkriege und der Supermacht-Konfrontation ist vorbei. Das 21. Jahrhundert birgt jedoch neue Risiken. Könnte der vom Harvard-Politologen Samuel Huntington diagnostizierte Kampf der Kulturen, der "Clash of Civilizations", die Welt womöglich in eine neue, große Konfrontation im Stile der Weltkriege stürzen? Während die Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts ideologische Ursachen hatten, so Huntington, werde es im 21. Jahrhundert um kulturelle Differenzen gehen. In diesem Konflikt würden sich nun Allianzen bilden, namentlich jene zwischen konfuzianischer und islamischer Kultur, sodass am Ende der Westen gegen den Rest der Welt stehe: "the west versus the rest". Hier wäre also wiederum jene Teilung der Welt in zwei Lager, wie sie für Weltkriegssituationen konstitutiv ist. Huntingtons Thesen wären ohne den 11. September 2001 wohl aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden - zu Recht: Allzu pauschal wird die Welt in Kulturen aufgeteilt, wird über bedeutsame intrakulturelle Differenzen hinweggegangen. Insgesamt gesehen ist die Welt des frühen 21. Jahrhunderts zum Glück weiter denn je von jenen bipolaren Konstellationen entfernt, die im 20. Jahrhundert zu zwei Weltkriegen und einer Zeit gefährlicher Supermacht-Konfrontation geführt hatten.
Der Zerfall der Sowjetunion ließ die USA als einzige Supermacht zurück. Mit der gegenwärtigen Tendenz zur "Multipolarisierung" der Machtverteilung im internationalen System, wie sie auch von Verfechtern der Unipolaritätsthese eingeräumt wird, sind in Bezug auf die internationale Kriegswahrscheinlichkeit unterschiedliche Prognosen kompatibel. Während sich neue Spielräume für die Bildung von Bündnissen ergeben dürften, sind generelle Aussagen zur Gewaltanfälligkeit des internationalen Systems allein aufgrund der polaren Struktur der Machtverteilung kaum möglich. Kriegsursachen
Warum kommt es zum Krieg? Traditionell unterscheidet man in der Kriegsursachenforschung zwei Schulen oder Richtungen. Die eine bevorzugt einen systemischen Ansatz. Kriege sind aus dieser Sicht das Nebenprodukt sozialer, wirtschaftlicher und politischer Umwälzungen. Die andere Schule propagiert einen strategischen oder entscheidungstheoretischen Ansatz. Kriege sind aus strategischer Perspektive die Folge von Kalkülen, in denen sich Einzelpersonen, Stäbe, Gruppen oder Behörden für den Griff zur Waffe entschließen. Drei Richtungen der Forschung lassen sich hier unterscheiden: 1. der Ansatz der rationalen Entscheidung (rational choice): Wenn die Prämissen der Handelnden als gegeben unterstellt werden, lässt sich die Rationalität des Entscheides, zu den Waffen zu greifen, in einigen Fällen rein logisch nachvollziehen, in anderen Fällen werden dabei auch die Defizite dieser Entscheide (Irrtümer, Illusionen usw.) sichtbar. 2. Spieltheoretische Ansätze modellieren jene Dilemmasituationen, die dem Entscheid zwischen Krieg und Frieden zugrunde liegen, und machen damit das Kalkül der Verantwortlichen transparent. 3. Organisationssoziologische und -psychologische Ansätze erforschen außenpolitische Entscheide im Kontext bürokratischer und organisatorischer Strukturen, wobei rigide Strukturen, Glaubenssätze, Feindbilder, gruppendynamische Phänomene (group think) und ähnliche Vorgänge die Qualität der Entscheidungen stark negativ beeinflussen.
Die Schwäche dieser Ansätze ist nicht in erster Linie ihre Fixierung auf bloß zwischenstaatliche Kriege, wie Kritiker meinen. Tatsächlich lassen sich Modelle rationalen Handelns auch auf das Kalkül von Terroristen übertragen, wie dies Todd Sandler und Bruno Frey gezeigt haben. Problematischam entscheidungstheoretischen Ansatz scheint vielmehr, dass gerade jene Umstände, die Akteuren eine Wahl zwischen Krieg und Frieden aufnötigen und sie in Dilemmasituationen stürzen, als unabhängige (d.h. gegebene) Variable behandelt werden. Sollten nicht vielmehr just diese Prozesse im Mittelpunkt der Überlegungen stehen?
Auf diese konzentriert sich der so genannte systemische Ansatz. Der moderne Pionier der vergleichenden Kriegsursachenforschung ist zweifellos David Singer. Das von ihm initiierte Correlates of War-Projekt sollte so viele Informationen wie möglich über die zwischen- und innerstaatlichen Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts zusammentragen, um diese statistisch auf Regelmäßigkeiten zu untersuchen. Inzwischen sind Dutzende von Monographien und mehrere hundert wissenschaftliche Artikel erschienen, die über Forschungsprojekte auf der Basis der Daten dieses Projekts berichten. Es ist hier nicht der Platz, alle Ergebnisse auch nur ansatzweise zu referieren; von einer allgemein gültigen Theorie systemischer Kriegsursachen ist die Forschung jedoch noch weit entfernt. An den ursprünglichen Hoffnungen Singers und den eingesetzten großen Ressourcen gemessen enttäuschten die Resultate etwas. Relativ unbestritten ist jedoch die These vom demokratischen Frieden, die zum Gegenstand von inzwischen etwa 100 wissenschaftlichen Artikeln und Konferenzpapieren avancierte: Demokratien ziehen nicht gegen andere Demokratien in den Krieg, was weniger mit der Friedensliebe von Demokratien zu tun hat als mit der demokratischen Kontrolle des Militärs und wichtiger Entscheidungsprozesse sowie der faktischen Verflechtung zwischen Demokratien durch Diplomatie, Handel und Kapitalbeziehungen. Die Politikwissenschaft bezeichnet dieses Phänomen als komplexe Interdependenz. Entwickelt wurde der Gedanke durch die amerikanischen Politologen Robert Keohane und Joseph Nye bereits in den 1970er Jahren, und er hat seine Gültigkeit behalten. Diese Verflechtung verhindert keine Konflikte, aber die geschaffenen internationalen Institutionen - wie etwa die Welthandelsorganisation WTO - wirken als Leitplanken bei deren friedlicher Abarbeitung.
In der globalisierten Welt sind auch innerstaatliche Konflikte und Kriege längst eine Angelegenheit internationaler Politik geworden - wegen ihrer grenzüberschreitenden Folgen und (als Konsequenz) der wachsenden Neigung der Staatenwelt zur Intervention. Die Analyse von Gewalt innerhalb von Staaten - zunächst ein eigenständiges Thema der Konfliktforschung - ist inzwischen zumindest teilweise mit der traditionellen Kriegsursachenforschung zusammengewachsen. So finden in den Internationalen Beziehungen entwickelte Konzepte und spieltheoretische Modelle etwa auch in der Analyse "ethnischer Konflikte" Anwendung. Gleichzeitig werden angesichts der Heterogenität inner- bzw. substaatlicher Konflikte Entflechtungsbestrebungen in der Theoretisierung und Erforschung derselben fortgesetzt.
Innerstaatliche Kriege finden vornehmlich dort statt, wo Armut grassiert und der Staat schwach, umstritten oder beides ist, d.h. im Kontext gesellschaftlicher und/oder institutioneller Umwälzungen. In jüngerer Zeit haben politökonomische Ansätze an Popularität gewonnen, welche Bürgerkriegsursachen nicht in "Leidfaktoren" wie ethnischen Zerwürfnissen, politischer Unterdrückung oder sozialer Ungleichheit verwurzelt sehen, sondern Möglichkeitsstrukturen in den Vordergrund rücken - etwa Bedingungen, welche die Finanzierung von Rebellionen erleichtern (wie die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen) und die Opportunitätskosten der Rebellen senken. Obschon diesbezügliche Befunde mit der Interpretation konsistent sind, dass Rebellionen in erster Linie auf apolitischen, ökonomischen oder "quasi-kriminellen" Handlungslogiken beruhen, ist die Verknüpfung von Mikro- und Makroebene bzw. individuellen Motiven und gewaltsamen Konflikten selbstredend komplexer, als die Leid/Gier-Dichotomie (grievance/greed) suggeriert. Wie Kriege beginnen und enden
Politik ist die Abarbeitung konfliktiver Interessenkonstellationen unter Einmischung von Machtmitteln, unter Umständen eben auch militärischer. Zumeist sind entweder die zu erreichenden Ziele oder die verfügbaren Mittel in derartigen Konflikten begrenzt; in diesem Falle bleibt auch der entstandene Krieg begrenzt, soweit er überhaupt als ein solcher wahrgenommen wird oder gar auf die Konflikt- und Kriegslisten der Forschung gerät. Militärische Auseinandersetzungen, bei denen beide Seiten zusätzliche Mittel mobilisieren können und wollen, tendieren jedoch schnell zu einer Eskalation. Da sich die Kriegsziele üblicherweise im Verlauf eines Konfliktes ändern - expandierende Erwartungen bei "positivem" Verlauf einerseits, Problem des "Ausstiegs" angesichts schon erbrachter Opfer andererseits -, sind eskalierende Konflikte schwer zu beenden, namentlich auch dann, wenn keine Seite der anderen entscheidende Verluste zu bereiten vermag. Letzteres ist in sogenannten asymmetrischen Konstellationen (Regierungstruppen gegen irreguläre Kämpfer) oft der Fall, d.h. der Konflikt eskaliert und deeskaliert, aber er endet nicht. Der Griff zu den Waffen bedeutet für alle Akteure, private und staatliche, eine bewusste Schwellenüberschreitung. Zur Rechtfertigung benötigt die Politik dabei oft plausible Anlässe, die sich entweder von selbst einstellen, etwa in Form von Provokationen des Gegners, oder aber bei Bedarf inszeniert werden. Bei spektakulären Fällen kann man von einem katalytischen Kriegsbeginn sprechen.
Manche Kriege des 18. und des 19. Jahrhunderts entstanden in Form einer bewussten Verabredung zum Waffengang, wie bei einem Duell. Das genaue Gegenteil ist der Überfall, ein taktischer Schachzug, der auch einem schwachen Angreifer temporär Überlegenheit und damit Erfolg verspricht. Man findet diese Form des Kriegsbeginns auf allen Ebenen der Gewalt, von der tribalen Auseinandersetzung bis hin zum großen zwischenstaatlichen Krieg in den Feldzügen Adolf Hitlers. Das eigentliche Gegenteil ist der Kriegsbeginn infolge fehlgeschlagener Risikopolitik: Eine Krise wird bewusst inszeniert, d.h. dem Gegner werden konkrete militärische Maßnahmen für den Fall angedroht, dass gewisse Konzessionen ausbleiben. Wenn diese Drohung nichts fruchtet, muss sie entweder wahrgemacht werden, oder aber man riskiert eine diplomatische Niederlage und Gesichtsverlust.
Die Duellkriege des 18. und 19. Jahrhunderts wurden so beendet, wie sie begonnen wurden: auf Verabredung, durch Waffenstillstand, Kapitulation und allenfalls nachfolgendem Friedensvertrag. Mit dem Wandel der dominierenden Kriegsgestalt ist auch diese Form des Kriegsendes zunehmend seltener geworden. Innerstaatliche Kriege sind tendenziell von längerer Dauer als zwischenstaatliche; häufig verschwinden bewaffnete Konflikte auch nur temporär aus den entsprechenden Statistiken, um auf niedriger Stufe weiterzuschwelen - und zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufzuflammen. Immer weniger Kriege
In einem gewissen Gegensatz zum andauernden öffentlichen Interesse am Thema Krieg stehen die Zahlen: Wir erleben gegenwärtig einen dramatischen Rückgang der Anzahl der Kriege. Die Zahl der Bürgerkriege blieb während des 19. und bis Mitte des 20. Jahrhunderts unter zehn pro Jahr, um im Zuge der Dekolonisierung und der Folgekonflikte der Umwälzungen im Osten Europas nach dem Ende des Kalten Krieges stark anzusteigen. Während internationale Kriege bereits ab Ende der 1970er Jahre immer seltener wurden, ist seit den frühen 1990er Jahren auch ein deutlicher Rückgang an Bürgerkriegen zu verzeichnen. Folgerichtig rangieren Kriege und Konflikte in der Liste der "großen Menschheitsprobleme" des Kopenhagener Konsensus abgeschlagen auf Platz 18. Auf den vorderen Plätzen liegen jene Großprobleme, die heute weitaus die meisten Menschenleben fordern: ansteckende Krankheiten, Mangel an sauberem Trinkwasser, Hunger.
Erleben wir gegenwärtig also jenes Ende des Krieges, das die Politikwissenschaft seit mehr als einem Vierteljahrhundert prognostiziert? Andere Zeichen weisen in die entgegengesetzte Richtung: Nach einem Rückgang in den 1990er Jahren wachsen die Militärausgaben seit der Jahrhundertwende weltweit wieder kräftig. Nicht vom Fleck kommen auch neue, bedeutsame Rüstungskontrollprojekte, etwa bei den Kleinwaffen oder dem Verbot sämtlicher Nukleartests (Comprehensive Test-Ban Treaty, CTBT). Auch Erosionstendenzen beim Vertragssystem zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT) geben zu Sorge Anlass.
Schließlich steht der internationalen Gemeinschaft mit dem Aufstieg der großen Schwellenländer in den Rang der Großmächte ein bedeutsamer Wandel der "Machtgleichung" bevor, wie es beim diesjährigen World Economic Forum in Davos formuliert wurde. In früheren Jahrhunderten war dies regelmäßig ein Anlass großer Konflikte. Für eine generelle Entwarnung spricht also leider auch heute eher wenig.
Vgl. z.B. Werner Levi, The Coming End of War, Beverly Hills 1981.
Francis Fukuyama, The End of History, in: The National Interest, 16 (1989), S. 3-18.
Vgl. The White House, The National Security Strategy of the United States of America, September 2002, Washington 2002; The White House, The National Security Strategy of the United States of America, March 2006, Washington 2006.
Vgl. AKUF: http://www.sozialwiss.uni-hamburg. de/publish/Ipw/Akuf/index.htm.
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn 1966 (1.Ausgabe Berlin 1832-34), S. 111.
Ebd., S. 888, 852, 110.
Vgl. Jürg Helbling, Tribale Kriege. Konflikte in Gesellschaften ohne Zentralgewalt, Frankfurt/M. 2006.
Vgl. Benjamin Valentino/Paul Huth/Dylan Balch-Lindsay, Draining the Sea: Mass Killing and Guerrilla Warfare, in: International Organization, 58 (2004) 2, S. 375 - 407.
Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002.
Vgl. Martin L. van Creveld, The Transformation of War, New York 1991.
Vgl. Thomas Bernauer/Dieter Ruloff (Hrsg.), Positive Incentives in Arms Control, Columbia 1999.
Vgl. Sven Chojnacki, Kriege im Wandel. Eine typologische und empirische Bestandsaufnahme, in: Anna Geis (Hrsg.), Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse, Baden-Baden 2006.
Vgl. Walter Laqueur, The New Terrorism: Fanaticism and the Arms of Mass Destruction, Oxford-New York 1999.
Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations, in: Foreign Affairs, 72 (1993) 3, S. 22- 49.
Ebd., S. 39ff.
Vgl. Dieter Ruloff/Michael Cemerin, Verfrühter Abgesang. Zwischenstaatliche Kriege sind kein Auslaufmodell, in: Internationale Politik, 58 (2003) 11, S. 29 - 36.
Für eine ausführliche Übersicht vgl. Dieter Ruloff, Wie Kriege beginnen. Ursachen und Formen, München 2004(3), S. 14ff.
In: Todd Sandler/Daniel Arce M., Terrorism and Game Theory (unpubl. Manuskript), University of Southern California 2003.
Vgl. Bruno S. Frey, Dealing with Terrorism - Stick or Carrot?, Cheltenham 2004.
Vgl. David Singer/Melvin Small, The Wages of War 1816-1965. A Statistical Handbook, NewYork-London-Sydney-Toronto 1972; Daniel Geller/David Singer, Nations at War: A Scientific Study of International Conflict, Cambridge 1998.
Vgl. Ekkart Zimmermann, Vergleichende Krisen- und Konfliktforschung, in: Dirk Berg-Schlosser/Ferdinand Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1997(3).
Vgl. z.B. James Fearon, Commitment Problems and the Spread of Ethnic Conflict, in: David A. Lake/Donald Rothchild (Hrsg.), The International Spread of Ethnic Conflict, Princeton 1998; Barry Posen, The Security Dilemma and Ethnic Conflict, in: Survival, 35 (1993) 1, S. 27 - 47.
Vgl. Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, in: Oxford Economic Papers, 56 (2004) 4, S. 563 - 595. Für eine eher staatszentrierte Perspektive vgl. James Fearon/David Laitin, Ethnicity, Insurgency, and Civil War, in: American Political Science Review, 97 (2003) 1, S. 75 - 90.
Vgl. Stathis Kalyvas, The Ontology of "Political Violence": Action and Identity in Civil Wars, in: Perspectives on Politics, 1 (2003) 3, S. 475-494; Nicholas Sambanis, Using Case Studies to Expand Economic Models of Civil War, in: Perspectives on Politics, 2 (2004) 2, S. 259-279.
Vgl. D. Ruloff (Anm. 17), S. 31ff.
Vgl. ebd., S. 93ff.
Vgl. ebd., S. 144ff.
Vgl. Lotta Harbom/Stina Högbladh/Peter Wallensteen, Armed Conflict and Peace Agreements, in: Journal of Peace Research, 43 (2006) 5, S. 617 - 631.
Vgl. Human Security Centre, Human Security Report 2005. War and Peace in the 21st Century, Vancouver-New York-Oxford 2005; Kristian Gleditsch, A revised List of Wars Between and Within Independent States, 1816 - 2002, in: International Interactions, 30 (2004), S. 231 - 262.
Vgl. http://www.copenhagenconsensus.com.
Vgl. Stockholm International Peace Research Institute, Armaments, Disarmament, and International Security (SIPRI Yearbook 2006), Oxford 2006.
Der entsprechende Vertrag wurde zwar von 176 Staaten unterzeichnet und von 136 Staaten ratifiziert, bedeutsame Nuklearmächte wie Indien, Pakistan und zuletzt auch die USA stehen jedoch abseits.
| Article | , Dieter Ruloff / Schubiger, Livia | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30522/kriegerische-konflikte-eine-uebersicht/ | In seiner äußeren Erscheinungsform ist Krieg ein wahres "Chamäleon": Er reicht von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen politisch autonomen Lokalgruppen bis zum Terrorismus. | [
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Jugendmedientage ab Donnerstag im Deutschen Bundestag | Presse | bpb.de | Die Jugendpresse Deutschland, der Deutsche Bundestag und die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb laden vom 18. bis 21. Mai 2006 in den Deutschen Bundestag zu den "Jugendmedientagen 2006 Jugend und Politik – [k]ein Auslaufmodell?!" ein. Den Jugendlichen werden Einblicke in die Berliner Medien- und Politikwelt gewährt und sie diskutieren über entscheidende Zukunftsthemen u.a. mit Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert und SPD-Fraktionschef Dr. Peter Struck, Dirk Niebel, Generalsekretär der FDP, Petra Pau, Vizepräsidentin des deutschen Bundestages, Renate Künast, Fraktionschefin der Grünen, Sandra Maischberger, Moderatorin, Christoph Schlingensief, Regisseur und Günter Wallraff, Schriftsteller. Die 600 jungen Medienmacher im Alter von 15 bis 25 Jahren treffen im Deutschen Bundestag in Berlin vier Tage lang mit 150 Referenten aus Medien, Politik, Kultur und Gesellschaft zusammen, bilden sich in Workshops weiter und knüpfen Kontakte. Mit den Nachwuchsjournalisten diskutieren neben Spitzenpolitikern namhafte Journalisten wie Prof. Dr. Christoph Fasel, Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule oder Knut Teske, Leiter der Journalistenschule Axel Springer. Daneben treffen die Teilnehmer der Jugendmedientage Persönlichkeiten wie Georg Kardinal Sterzinsky, Erzbischof von Berlin, den finnischen Botschafter René Nyberg und den französischen Botschafter Claude Martin. Thomas Krüger, Präsident der bpb, zu den Jugendmedientagen: "Die Jugendmedientage sind eine einmalige Chance ein neues Verständnis von Politik zu schaffen. Wir wollen Einblick geben in Politik, ihre Strukturen und aktuelle Themen und mit den Diskussionen auf den Jugendmedientagen einen Ausblick auf die Zukunft wagen." Die Teilnehmer der Jugendmedientage 2006 sind Schüler- und Jugendzeitungsredakteure, junge Radio-, Fernseh- und Internetmacher, freie Mitarbeiter oder Praktikanten von Profimedien wie bei der ZEIT, bei SPIEGEL ONLINE und dem stern. Sie haben sich mit einer Vision zu ihrem Leben in 20 Jahren für die Jugendmedientage beworben. Aus über 1400 Bewerbern hat eine Jury die 600 Teilnehmer aus ganz Deutschland ausgewählt. Eröffnung
18. Mai 2006, 19.00 Uhr Ort
Akademie der Künste Hanseatenweg 10 10557 Berlin-Tiergarten Begrüßung
Schirmherrin Susanne Kastner, Vizepräsidentin des Deutschen BundestagesThomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische BildungSebastian Olényi, Vorstandssprecher der Jugendpresse Deutschland
Ausführliche Informationen über das Programm der Jugendmedientage sind in der Tagungsschrift im Internet zu finden unter: Externer Link: http://www.jugendmedientage.de Die Veranstalter laden zur Berichterstattung über die Jugendmedientage ein. Akkreditierung unter: E-Mail Link: presse@jugendmedientage.de Pressekontakt/Jugendmedientage
Jugendpresse Deutschland e.V. Maximilian Kall Pressesprecher Jugendmedientage 2006 Grolmanstraße 52 10623 Berlin Tel.: +49 (0) 171 - 280 78 78 E-Mail: E-Mail Link: m.kall@jugendpresse.de Internet: Externer Link: www.jugendmedientage.de Pressekontakt/bpb
Bundeszentrale für politische Bildung Pressearbeit Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: presse@bpb.de | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50585/jugendmedientage-ab-donnerstag-im-deutschen-bundestag/ | Die Jugendpresse Deutschland, der Deutsche Bundestag und die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb laden vom 18. bis 21. Mai 2006 in den Deutschen Bundestag zu den "Jugendmedientagen 2006 Jugend und Politik – [k]ein Auslaufmodell?!" ein. | [
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Psychologie des Risikos | Risikokompetenz | bpb.de | Erinnern Sie sich an den Vulkanausbruch auf Island mit seiner Aschewolke? Die Immobilienkrise? Was ist mit dem Rinderwahnsinn? Jede neue Krise macht uns Sorge, bis wir sie vergessen und uns wegen der nächsten sorgen. Viele von uns saßen in überfüllten Flughäfen fest, sahen sich durch wertlos gewordene Pensionsfonds ruiniert oder hatten Angst davor, sich ein saftiges Steak schmecken zu lassen. Wenn etwas schiefgeht, erzählt man uns, künftige Krisen ließen sich durch bessere Technik, mehr Gesetze oder aufwendigere Bürokratie verhindern. Wie können wir uns vor der nächsten Finanzkrise schützen? Strengere Vorschriften, kleinere Banken und bessere Berater. Wie können wir uns vor der Bedrohung durch den Terrorismus schützen? Größeres Polizeiaufgebot, Ganzkörperscanner, weitere Einschränkung der individuellen Freiheit. Was können wir gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen tun? Steuererhöhungen, Rationalisierung, bessere Genmarker. Ein Punkt fehlt auf dieser Liste: der risikokompetente Bürger. Das hat einen Grund.
Sind Menschen (zu) dumm?
"Menschen sind fehlbar: faul, dumm, gierig und schwach", hieß es einst im "Economist". Es heißt, wir seien irrationale Sklaven unserer Marotten und Begierden, süchtig nach Sex, Nikotin und elektronischen Spielzeugen. 20-Jährige kleben beim Autofahren an ihren Handys, ohne sich klarzumachen, dass sie damit ihre Reaktionszeit auf die eines 70-Jährigen verlangsamen. Ein Fünftel der Amerikaner glaubt, dass sie zu dem bestverdienenden 1 Prozent der Bevölkerung gehören, und noch einmal so viele glauben, dass sie demnächst zu dieser Gruppe zählen werden. Banker haben eine geringe Meinung von der Fähigkeit der Menschen, Geld zu investieren, und mehr als ein Arzt hat mir erzählt, den meisten seiner Patienten fehle es an der nötigen Intelligenz; es sei deshalb zwecklos, ihnen Gesundheitsinformationen zu geben, die sie in den falschen Hals bekommen könnten. All das lässt darauf schließen, dass die Bezeichnung Homo sapiens ("der weise Mensch") Etikettenschwindel ist. Irgendetwas ist schiefgelaufen mit unseren Genen. Die Evolution scheint uns drittklassige geistige Software angedreht und unsere Gehirne falsch verdrahtet zu haben. Mit einem Wort: Otto Normalverbraucher braucht ständige Anleitung wie ein Kind seine Eltern. Obwohl wir in der Hightech-Welt des 21. Jahrhunderts leben, ist eine gewisse Form der Bevormundung die einzig mögliche Strategie: Schließen wir die Türen, rufen wir die Fachleute zusammen und sagen wir der Öffentlichkeit, was das Beste für sie ist. Nach dieser fatalistischen Botschaft werden Sie in diesem Beitrag vergebens suchen. Das Problem ist nicht einfach individuelle Dummheit, sondern das Phänomen einer risikoinkompetenten Gesellschaft.
Risikointelligenz ist eine Grundvoraussetzung, um sich in einer modernen technologischen Gesellschaft zurechtzufinden. Die halsbrecherische Geschwindigkeit der technischen Entwicklung wird die Risikointelligenz im 21. Jahrhundert so unentbehrlich machen, wie es Lesen und Schreiben in früheren Jahrhunderten waren. Ohne sie setzen Sie Ihre Gesundheit und Ihr Geld aufs Spiel oder steigern sich möglicherweise in unrealistische Ängste und Hoffnungen hinein. Man sollte meinen, dass die Grundlagen der Risikointelligenz bereits vermittelt werden. Doch man wird in Schulen, juristischen und medizinischen Fakultäten und auch sonst vergebens danach suchen. Infolgedessen sind die meisten von uns risikoinkompetent.
Wenn ich den allgemeineren Begriff "risikokompetent" (risk savvy) verwende, meine ich damit mehr als Risikointelligenz, nämlich die Fähigkeit, auch mit Situationen umzugehen, in denen nicht alle Risiken bekannt sind und berechnet werden können. "Risikokompetenz" ist nicht das Gleiche wie "Risikoscheu". Ohne die Bereitschaft, Risiken einzugehen, gäbe es keine Innovation mehr, würden Spaß und Mut der Vergangenheit angehören. Risikokompetent zu sein heißt auch nicht, sich in einen tollkühnen Draufgänger oder Basejumper zu verwandeln, der die Möglichkeit, auf die Nase zu fallen, ausblendet. Ohne ein zuträgliches Maß an Vorsicht gäbe es die Menschheit schon lange nicht mehr.
Man könnte meinen: Wozu die Mühe, da man sich doch an Fachleute wenden kann? Aber so einfach ist das nicht. Weil die bittere Erfahrung lehrt, dass Expertenrat gefährlich sein kann. Viele Ärzte, Finanzberater und andere Risikoexperten sind selbst nicht in der Lage, Risiken richtig einzuschätzen oder sie anderen verständlich zu machen. Schlimmer noch: Nicht wenige befinden sich in Interessenkonflikten oder haben solche Angst vor rechtlichen Konsequenzen, dass sie ihren Patienten oder Klienten Ratschläge erteilen, die sie ihren eigenen Angehörigen nie geben würden. Sie haben keine Wahl, Sie müssen selber denken.
Ich möchte Sie einladen, mir in die Welt der Ungewissheit und des Risikos zu folgen. Beginnen wir mit Wetterberichten und einem sehr geringen Wagnis – nämlich pitschnass zu werden.
Regenwahrscheinlichkeit
In der Wettervorhersage eines US-amerikanischen Fernsehsenders wurden die Aussichten für das Wochenende einmal wie folgt angegeben: "Die Wahrscheinlichkeit, dass es am Samstag regnen wird, beträgt 50 Prozent. Die Aussicht, dass es am Sonntag regnet, liegt ebenfalls bei 50 Prozent. Daher wird es am Wochenende mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent regnen." Die meisten von uns werden darüber lächeln. Aber wissen Sie, was es bedeutet, wenn es im Wetterbericht heißt, dass es morgen mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent regnen wird? 30 Prozent von was? Ich lebe in Berlin. Die meisten Berliner glauben, es werde morgen während 30 Prozent der Zeit regnen, das heißt sieben bis acht Stunden. Andere meinen, es werde in 30 Prozent der Region regnen, das heißt höchstwahrscheinlich nicht dort, wo sie wohnen. Die meisten New Yorker halten beides für Unsinn. Sie sind der Überzeugung, es werde an 30 Prozent der Tage, für die diese Vorhersage gemacht wurde, Regen geben, das heißt, morgen werde es höchstwahrscheinlich nicht regnen.
Sind die Leute völlig verwirrt? Nicht unbedingt. Zum Teil liegt es daran, dass viele Experten nie gelernt haben, Wahrscheinlichkeiten richtig zu erklären. Wenn sie verständlich machen könnten, auf welche Kategorie sich die Regenwahrscheinlichkeit bezieht – Zeit? Region? Tage? –, würde die Verwirrung verschwinden. Tatsächlich wollen die Meteorologen damit sagen, dass es an 30 Prozent der Tage regnet, auf die sich die Vorhersage bezieht. Und "Regen" bezieht sich auf jede Menge oberhalb einer winzigen Schwelle, wie 0,1 Millimeter. Auf sich selbst gestellt, suchen sich die Menschen eine Referenzklasse aus, die ihnen sinnvoll erscheint – etwa wie viele Stunden, wo oder wie stark es regnet. Fantasievollere Befragte finden noch andere Klassen. Eine Frau in New York: "Ich weiß, was 30 Prozent bedeuten: Drei Meteorologen denken, es wird regnen, und sieben nicht."
Ich sehe das folgendermaßen: Neue Vorhersagetechniken haben den Meteorologen die Möglichkeit gegeben, rein verbale Äußerungen der Gewissheit ("Morgen wird es regnen") oder der Wahrscheinlichkeit ("Es ist möglich, dass …") durch numerische Exaktheit zu ersetzen. Aber größere Exaktheit hat nicht zu größerer Klarheit über die Bedeutung der Nachricht geführt. Die Verwirrung bezüglich der Niederschlagswahrscheinlichkeit hat vielmehr bestanden, seit diese in den USA 1965 zum allerersten Mal in der Wettervorhersage genannt wurde. Diese Verwirrung ist nicht auf Regen beschränkt, sondern macht sich stets bemerkbar, wenn eine Wahrscheinlichkeit mit einem einzelnen Ereignis verknüpft wird – zum Beispiel: "Wenn Sie ein Antidepressivum nehmen, haben Sie eine 30-prozentige Wahrscheinlichkeit, ein sexuelles Problem zu bekommen." Heißt das, dass 30 Prozent aller Menschen ein sexuelles Problem entwickeln oder dass Sie selbst ein Problem bei 30 Prozent Ihrer sexuellen Begegnungen haben werden? Die Auflösung dieses weitverbreiteten und lang andauernden Wirrwarrs ist überraschend einfach. Frage stets nach der Referenzklasse: "Prozent von was?" Wenn man Meteorologen beim Fernsehen beibringen würde, wie man den Zuschauern solche Sachverhalte vermittelt, bräuchte man noch nicht einmal zu fragen.
Pitschnass zu werden ist ein geringes Risiko, obwohl die Niederschlagswahrscheinlichkeit in manchen Fällen – für Autorennen etwa – durchaus eine Rolle spielt. Vor einem Grand-Prix-Rennen der Formel 1 ist eine der meistdiskutierten Fragen die Wettervorhersage – die Wahl der richtigen Reifen ist entscheidend für den Sieg. Gleiches gilt für die NASA: Die Wettervorhersage ist ausschlaggebend für die Entscheidung, ob der Start eines Spaceshuttles stattfinden kann oder verschoben werden muss – wie der "Challenger"-Unfall 1986 tragisch zeigte. Doch für die meisten Leute geht es nur darum, ob sie einen Familienausflug unnötigerweise absagen oder nasse Füße bekommen. Vielleicht missverstehen die Menschen die Niederschlagswahrscheinlich nur deshalb, weil so wenig auf dem Spiel steht. Sind wir risikokompetenter, wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht?
Pillenangst
Großbritannien hat viele Traditionen, eine von ihnen ist die Angst vor Antibabypillen. Seit Anfang der 1960er Jahre werden die Frauen alle paar Jahre durch Berichte aufgeschreckt, dass die Pille Thrombosen verursachen kann – potenziell lebensbedrohliche Blutgerinnsel in Beinen oder Lunge. Berühmt ist die Schreckensnachricht, die das britische Komitee für Arzneimittelsicherheit herausgab: Die Antibabypillen der dritten Generation verdoppeln das Thromboserisiko – das heißt, sie erhöhen es um 100 Prozent. Kann man mehr Sicherheit verlangen? Diese erschreckende Information wurde in sogenannten Dear Doctor Letters an 190000 praktische Ärzte, Apotheker und die Leiter von Gesundheitsämtern weitergegeben und in einer Eilmeldung an die Medien übermittelt. Überall im Land schrillten die Alarmglocken. Viele besorgte Frauen setzten die Pille ab, was zu unerwünschten Schwangerschaften und Abtreibungen führte.
Fragt sich nur, wie viel sind 100 Prozent? Die Studien, auf die sich die Warnung stützte, hatten gezeigt, dass von je 7000 Frauen, welche die Vorgängerpille der zweiten Generation genommen hatten, eine Frau eine Thrombose bekam und dass die Zahl sich bei Frauen, die Pillen der dritten Generation nahmen, auf zwei erhöhte. Das heißt, die absolute Risikozunahme betrug nur 1 von 7000, während die relative Risikozunahme tatsächlich bei 100 Prozent lag. Wie gesehen, können relative Risiken – im Gegensatz zu absoluten Risiken – beunruhigend groß erscheinen und viel Staub aufwirbeln. Hätten das Komitee und die Medien die absoluten Risiken genannt, so hätten wohl nur wenige Frauen Panik bekommen und die Pille abgesetzt. Höchstwahrscheinlich hätte niemand die Meldung auch nur zur Kenntnis genommen.
Diese eine Warnung führte im folgenden Jahr in England und Wales zu geschätzten 13000 (!) zusätzlichen Abtreibungen. Doch das Unheil währte länger als ein Jahr. Vor der Meldung gingen die Abtreibungsraten stetig zurück, aber danach kehrte sich dieser Trend um, und die Abtreibungshäufigkeit stieg in den folgenden Jahren wieder an. Viele Frauen hatten das Vertrauen in orale Kontrazeptiva verloren, und die Pillenverkäufe gingen stark zurück. Nicht alle unerwünschten Schwangerschaften wurden abgebrochen; auf jede Abtreibung kam eine zusätzliche Geburt. Die Zunahme der Abtreibungen und der Geburten war besonders ausgeprägt bei Mädchen unter 16 – dort kam es zu 800 zusätzlichen Schwangerschaften.
Paradoxerweise bergen Schwangerschaften und Abtreibungen ein größeres Thromboserisiko als die Pillen der dritten Generation. Die Pillenangst schadete den Frauen, schadete dem britischen Gesundheitssystem und sogar den Aktienkursen der Pharmaindustrie. Die durch Schwangerschaftsabbrüche verursachten Kosten für den National Health Service werden auf vier bis sechs Millionen Pfund geschätzt. Zu den wenigen Profiteuren gehören die Journalisten, die eine Geschichte für die Titelseiten hatten.
Die Tradition der Pillenängste dauert bis auf den heutigen Tag an, und immer bedient sie sich des gleichen Tricks. Die Lösung sind nicht bessere Pillen und raffiniertere Abtreibungstechniken, sondern risikokompetente junge Frauen und Männer. Es wäre nicht besonders schwierig, Teenagern den einfachen Unterschied zwischen einem relativen Risiko ("100 Prozent") und einem absoluten Risiko ("1 von 7000") zu erklären. Schließlich sind viele Leute, alte wie junge, mit Sportstatistiken verschiedenster Art vertraut – Prozentsatz der Asse beim Tennis oder des Ballbesitzes beim Fußball. Doch bis auf den heutigen Tag gelingt es Journalisten, Ängste mit großen Zahlen zu wecken, woraufhin die Öffentlichkeit Jahr für Jahr auf vorhersehbare Weise in Panik gerät. Auch hier bringt eine einfache Regel Abhilfe. Frage stets: "Wie groß ist die absolute Risikozunahme?"
Terroristen und unsere Gehirne
Die meisten Menschen erinnern sich genau, wo sie am 11. September 2001 waren. Die Bilder der Flugzeuge, die in die Zwillingstürme des World Trade Centers krachen, haben sich unauslöschlich in unser Gedächtnis gegraben. Inzwischen scheint alles über den tragischen Angriff gesagt zu sein. Um künftige Angriffe zu verhindern, richtete der drei Jahre später veröffentlichte "9/11 Commission’s Report", der Bericht der Untersuchungskommission zu den Anschlägen des 11. September, sein Augenmerk vor allem auf die Frage, wie sich der Terrorismus von al-Qaida entwickelte, und auf diplomatische Strategien, Justizreformen und technische Maßnahmen. Eine Maßnahme jedoch vernachlässigte der 636-seitige Bericht: risikokompetente Bürger.
Drehen wir die Uhr zurück auf den Dezember 2001. Stellen Sie sich vor, Sie leben in New York und möchten nach Washington, D.C., reisen. Würden Sie fliegen oder mit dem Auto fahren?
Wir wissen, dass viele Amerikaner nach dem Anschlag nicht mehr flogen. Blieben sie zu Hause oder stiegen sie ins Auto? Tatsächlich nahmen in den Monaten nach dem Anschlag die im Auto zurückgelegten Kilometer beträchtlich zu. Besonders deutlich war die Zunahme bei den ländlichen Interstate Highways, auf denen der Fernverkehr rollt: bis zu fünf Prozent in den drei Monaten nach dem Anschlag. Zum Vergleich: In den Monaten vor dem Anschlag (Januar bis August) waren die Zahlen für die individuellen Autokilometer pro Monat gegenüber dem Jahr 2000 nur um knapp ein Prozent angestiegen, was der üblichen jährlichen Zunahme entsprach. Diese zusätzliche Autonutzung hielt zwölf Monate an und ging dann wieder auf ihr Normalmaß zurück. Zu diesem Zeitpunkt war das Feuer in den Zwillingstürmen aus der täglichen Medienberichterstattung verschwunden.
Die Zunahme des Straßenverkehrs hatte ernüchternde Konsequenzen. Vor dem Anschlag entsprach die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle weitgehend dem Durchschnitt der vorausgegangenen fünf Jahre. Doch in jedem der zwölf Monate nach dem 11. September lag die Zahl der tödlichen Unfälle über dem Durchschnitt und meist sogar noch höher als alle Werte aus den vorangegangenen fünf Jahren. Alles in allem sind etwa 1600 Amerikaner infolge ihrer Entscheidung, die Risiken des Fliegens zu vermeiden, auf der Straße umgekommen.
Diese Todesrate ist sechsmal so hoch wie die Gesamtzahl der Passagiere (256), die bei den vier Todesflügen starben. Alle diese Opfer des Straßenverkehrs könnten noch leben, wenn sie geflogen wären, statt sich für das Auto zu entscheiden. Von 2002 bis 2005 haben US-amerikanische Fluggesellschaften 2,5 Milliarden Passagiere befördert. Nicht ein einziger starb bei einem Flugzeugabsturz. Obwohl stets berichtet wird, bei den Anschlägen vom 11. September seien 3000 Amerikaner ums Leben gekommen, müsste man also eigentlich noch einmal die Hälfte dazurechnen.
Terroristen schlagen zweimal zu: zuerst mit physischer Gewalt und dann mithilfe unserer Gehirne. Der erste Schlag zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Für die Entwicklung riesiger bürokratischer Strukturen, wie der Homeland Security, und neuer Technologien, wie Ganzkörperscanner, die nackte Hautoberfläche unter der Kleidung sichtbar machen, hat man Milliarden ausgegeben. Der zweite Schlag hingegen bleibt fast unbemerkt. Osama bin Laden, der Gründer von al-Qaida, erklärte einmal genüsslich, wie wenig Geld er aufwenden musste, um Amerika einen ungeheuren Schaden zuzufügen: "Al-Qaida hat für das Unternehmen 500000 Dollar ausgegeben, während Amerika durch den Vorfall und seine Folgen – nach zurückhaltendsten Schätzungen – mehr als 500 Milliarden Dollar verlor. Mit anderen Worten: Jeder Dollar von al-Qaida hat eine Million Dollar vernichtet." Es mag schwierig sein, Selbstmordattentate von Terroristen zu vereiteln, aber es ist gewiss leichter, sie daran zu hindern, unsere Gehirne als Waffen zu gebrauchen.
Welche psychologische Regel unseres Gehirns machen sich die Terroristen dabei eigentlich zunutze? Ereignisse mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, bei denen viele Menschen plötzlich getötet werden, sogenannte Schockrisiken (dread risks), bringen eine unbewusste Faustregel zur Anwendung: Wenn viele Menschen gleichzeitig sterben, reagiere mit Furcht und vermeide die Situation. Dabei gilt die Furcht nicht dem Sterben an sich, sondern dem Umstand, dass viele Menschen zur gleichen Zeit – oder in kurzen Zeitabständen – gemeinsam ihr Leben verlieren. Bei solchen Anlässen, etwa den Anschlägen vom 11. September, reagiert unser evolutionär geprägtes Gehirn mit großer Angst. Doch wenn genauso viele oder mehr Menschen über einen längeren Zeitraum verteilt sterben, beispielsweise bei Auto- und Motorradunfällen, bleiben wir eher gelassen. Allein in den USA sterben jedes Jahr rund 35000 Menschen bei Verkehrsunfällen, trotzdem haben nur wenige Leute beim Autofahren Angst. Anders als manchmal behauptet wird, liegt das nicht einfach an dem psychologischen Aspekt, dass Menschen beim Autofahren – im Gegensatz zum Fliegen – Kontrolle haben. Leute, die neben oder gar hinter dem Fahrer sitzen, haben auch keine Kontrolle und trotzdem wenig Angst. Paradoxerweise haben wir keine Angst davor, bei einem Unfall zu sterben, sondern zusammen mit vielen anderen umzukommen. Wir fürchten den seltenen Kernkraftwerksunfall, nicht die stetige Sterberate, die die Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke bewirkt. Wir fürchten die Schweinegrippepandemie, nachdem mehrere zehntausend mögliche Todesfälle angekündigt wurden – zu denen es nie kam –, während nur wenige Angst davor haben, zu den Zehntausenden zu gehören, die jedes Jahr tatsächlich der normalen Grippe zum Opfer fallen.
Woher kommt dieser Hang, Schockrisiken zu fürchten? Wahrscheinlich gab es eine Zeit in der Menschheitsgeschichte, als dies eine vernünftige Reaktion war. Über weite Strecken der Evolution lebten die Menschen in kleinen Verbänden von Jägern und Sammlern, die zwanzig bis fünfzig Personen umfassten und selten mehr als hundert Mitglieder aufwiesen – ähnlich entsprechenden Verbänden, die es heute noch gibt. In so kleinen Gruppen konnte der schlagartige Verlust vieler Leben das Risiko erhöhen, Raubtieren zum Opfer zu fallen oder zu verhungern, und damit das Überleben der ganzen Gruppe gefährden. Doch was in der Vergangenheit vernünftig war, muss es heute nicht mehr sein. In modernen Gesellschaften ist das Überleben des Individuums nicht mehr auf die Unterstützung und den Schutz von Kleingruppen oder Stämmen angewiesen. Trotzdem lässt sich diese psychologische Reaktion immer noch leicht hervorrufen. Bis auf den heutigen Tag sind reale oder vorgestellte Katastrophen in der Lage, Panikreaktionen auszulösen.
Der zweite Schlag der Terroristen geht in seiner Wirkung sogar noch über die geschilderten Zusammenhänge hinaus. Er hat zu einer Aufweichung der Bürgerrechte geführt: Vor dem 11. September galten Leibesvisitationen ohne triftigen Grund als Menschenrechtsverletzungen; heute hält man ihre Duldung für eine Bürgerpflicht. Dafür sind wir bereit, einiges hinzunehmen – in langen Schlangen auf Flughäfen ausharren, Flüssigkeiten in Plastiktüten verstauen, Schuhe, Gürtel und Jacken ablegen, den eigenen Körper von Fremden abtasten lassen. Höhere Ausgaben für Flugsicherheit haben im Gegenzug zu schlechteren Dienstleistungen und beengtem Sitzen geführt, als würden die Fluggesellschaften um den schlechtesten Service konkurrieren. Die Menschen sind ängstlicher geworden, sind nicht mehr so unbeschwert wie früher. Nicht zuletzt haben die Kriege in Afghanistan und Irak mehr als eine Billion Dollar gekostet, vom Leben Tausender Soldaten und einer sehr viel größeren Zahl von Zivilisten ganz zu schweigen. Diese finanziellen Belastungen haben vermutlich auch eine Rolle gespielt beim Ausbruch der Finanzkrise 2008.
Resilienz ist die Fähigkeit, Stress zu bewältigen und ohne nachteilige Auswirkungen wieder in das normale Verhalten "zurückzuspringen". Wenn wir wissen, woher die Angst vor Schockrisiken kommt, wenn wir lernen, sie zu bekämpfen, indem wir uns gegensätzliche Gefühle zunutze machen, falls uns die Vernunft nicht weiterhilft, und wenn wir die Risiken des Fliegens richtig einzuschätzen lernen, dann verfügen wir schon über drei Instrumente der Risikokompetenz. Sollte sich jemals ein ähnlicher Anschlag wiederholen, werden wir unsere Gehirne nicht mehr so leicht für einen zweiten Schlag missbrauchen lassen.
Kommen wir noch einmal auf die Frage zurück, die ich oben gestellt habe: fliegen oder fahren? Nehmen wir wieder an, Sie leben in New York und möchten nach Washington reisen. Sie haben nur ein Ziel: lebend anzukommen. Wie viele Kilometer müssten Sie mit dem Auto fahren, bis das Risiko eines tödlichen Unfalls genauso hoch wäre wie bei einem Nonstopflug? Diese Frage habe ich bei meinen Vorträgen Dutzenden von Expertengremien gestellt. Die Antworten waren bunt gemischt: 1000 Kilometer, 10000 Kilometer, dreimal um die Erde. Doch die genaueste Schätzung lautet: 20 Kilometer. Wenn Sie mit Ihrem Auto heil am Flughafen ankommen, haben Sie den gefährlichsten Teil Ihrer Reise wahrscheinlich schon hinter sich.
Sind wir vom Umgang mit Risiken überfordert?
Wie können so viele Menschen nicht merken, dass sie die Niederschlagswahrscheinlichkeit nicht verstehen? Ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen in Kauf nehmen, weil sie den Unterschied zwischen relativen und absoluten Risiken nicht kennen? Oder sogar vom Regen in die Traufe kommen? Schließlich leben sie mit den Niederschlagswahrscheinlichkeiten und Pillenängsten seit Mitte der 1960er Jahre, und die Angst vor Schockrisiken wiederholt sich mit jeder neuen Bedrohung, vom Rinderwahnsinn über SARS bis zur Vogelgrippe, in einem scheinbar endlosen Kreislauf. Warum lernen die Menschen nicht?
Nach Meinung vieler Experten sind die Menschen hoffnungslos überfordert. Versuche, sie von ihren Irrtümern zu befreien, schlügen in der Regel fehl. Ausgehend von dieser zutiefst pessimistischen Einschätzung der allgemeinen Öffentlichkeit, wurde sogar eine Liste mit Verstößen präsentiert, die wir "Homer Simpsons" gegen die Vernunft begehen. In populärwissenschaftlichen Büchern hat man diese Botschaft rasch aufgegriffen und verkündet nun, Homo sapiens sei "vorhersagbar irrational" und brauche "Anstöße" zum vernünftigen Verhalten durch die wenigen zurechnungsfähigen Menschen auf der Erde.
Ich sehe das anders. Unser Bildungssystem ist erschreckend blind im Hinblick auf Risikointelligenz. Wir lehren unsere Kinder die Mathematik der Sicherheit – Geometrie und Trigonometrie –, aber nicht die der Ungewissheit: statistisches Denken. Und wir unterrichten unsere Kinder in Biologie, aber nicht in Psychologie, die ihre Ängste und Wünsche prägt. Selbst viele Experten sind nicht dazu ausgebildet, der Öffentlichkeit Risiken verständlich zu vermitteln, was höchst schockierend ist. Und es kann durchaus Interesse daran bestehen, die Menschen zu erschrecken: um einen Artikel auf die Titelseite zu bekommen, Menschen einzureden, die Abschaffung der Bürgerrechte sei legitim, oder ein Produkt zu verkaufen. Alle diese äußeren Gründe tragen zu dem Problem bei.
Die gute Nachricht lautet: Es gibt eine Lösung. Wer hätte vor ein paar hundert Jahren gedacht, dass eines Tages so viele Menschen auf der Erde lesen und schreiben lernen würden? Jeder, der es will, kann risikokompetent werden. Wichtig dafür sind drei Einsichten:
Jeder, der den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, kann den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen. Experten sind eher ein Teil des Problems als die Lösung. Viele Fachleute haben selber Probleme, Risiken zu verstehen, keine angemessenen Kommunikationsfähigkeiten oder Interessen, die sich nicht mit den Ihren decken. Aus solchen Gründen gehen riesige Banken pleite. Wenig ist gewonnen, wenn man risikoinkompetente Institutionen zur Anleitung der Öffentlichkeit einsetzt. Weniger ist mehr. Wenn wir vor einem komplexen Problem stehen, suchen wir nach einer komplexen Lösung. Und wenn diese nicht klappt, suchen wir nach einer noch komplexeren Lösung. In einer ungewissen Welt ist das ein großer Fehler. Nicht immer verlangen komplexe Probleme komplexe Lösungen. Allzu komplizierte Systeme – egal, ob Finanzderivate oder Steuersysteme – sind schwer zu verstehen, leicht zu missbrauchen oder potenziell gefährlich. Und sie sind nicht geeignet, den Menschen Vertrauen einzuflößen. Dagegen können uns einfache Regeln klüger und die Welt sicherer machen.
"Kompetent" heißt sachkundig, versiert und klug. Doch risikokompetent ist mehr, als gut informiert zu sein. Man braucht Mut, um einer ungewissen Zukunft zu begegnen, um sich gegen Experten zu behaupten und um kritische Fragen zu stellen. Wir können die Fernbedienung für unsere Emotionen wieder selbst in die Hand nehmen. Es bedarf einer gewaltigen psychologischen Umstellung, um den eigenen Verstand ohne Anleitung durch andere zu nutzen. Eine solche innere Revolution sorgt für mehr Aufklärung und weniger Angst im Leben.
Risikokompetent werden
Immanuel Kant beginnt seinen Aufsatz "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" mit folgenden Worten: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"
Redefreiheit, Wahlrecht und Schutz vor Gewalt gehören zu den wichtigsten Errungenschaften seit der Aufklärung. Diese Freiheit ist kostbar. Sie entscheidet über die Türen, die Ihnen offenstehen, über Ihre Chancen. Heute hat jeder Internetnutzer freien Zugang zu mehr Informationen, als der Menschheit je zur Verfügung standen. Doch das Bild der offenen Türen ist ein passiver oder "negativer" Freiheitsbegriff. Positive Freiheit dagegen bedeutet mehr als freier Zugang. Die Frage ist, ob Sie in der Lage sind, durch diese Türen zu gehen, ob Sie Ihr Leben ohne die ständige Anleitung durch andere meistern können. Die drei oben diskutierten Beispiele stehen für verschiedene Möglichkeiten, an dieser Aufgabe zu scheitern: Experten, denen es an der Fähigkeit zur Risikokommunikation fehlt, und Laien, die Risiken missverstehen, ohne es zu merken; Frauen, die von Journalisten zu ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen verleitet werden; und Terroristen, die sich die emotionale Prägung unseres Gehirns zunutze machen. In demokratischen Gesellschaften, in denen die Menschen ihre Chancen erheblich verbessert haben, ist die positive Freiheit zur eigentlichen Herausforderung geworden.
Risikokompetente Bürger sind die unverzichtbaren Säulen einer Gesellschaft, die bereit ist zur positiven Freiheit. Wie die drei Beispiele zeigen, läuft Risikokompetenz auf ein grundlegendes Verständnis unserer intuitiven Psychologie und unserer statistischen Informationen hinaus. Nur mit diesen beiden Fertigkeiten und einer Portion Neugier und Mut werden wir in der Lage sein, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Der Text ist eine gekürzte und überarbeitete Version des ersten Kapitels aus dem Buch "Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft", das 2020 als Paperback im Pantheon Verlag erschienen ist. Übersetzt aus dem Englischen von Hainer Kober.
"Wink, wink. The Tories Are Placing too Much Faith in Interesting but Limited Ideas", in: The Economist, 26.7.2008.
Nicht wenige Wissenschaftler halten die Menschen im Grunde genommen für unfähig im Umgang mit Risiken. Zu diesem pessimistischen Lager gehören zum Beispiel Richard Thaler, Quasi Rational Economics, New York 1991; Stephen J. Gould, Bully for Brontosaurus: Further Reflections in Natural History, New York 1992; Dan Ariely, Denken hilft zwar, nützt aber nichts: Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen, München 2008; Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012. Ich lehne dieses düstere Bild ab. Vgl. z.B. Gerd Gigerenzer, Adaptive Thinking: Rationality in the Real World, New York 2000; ders., Rationality for Mortals: How People Cope with Uncertainty, New York 2008.
Wenn die beiden Ereignisse unabhängig voneinander sind, liegt die Wahrscheinlichkeit für Regen am Wochenende bei 0,75 oder – in Prozent ausgedrückt – bei 75 Prozent. Um auf diese Zahl zu kommen, berechnen wir zunächst die Wahrscheinlichkeit, dass es am Samstag nicht regnet (0,5) und multiplizieren sie mit der Wahrscheinlichkeit, dass es am Sonntag keinen Niederschlag gibt (0,5), was 0,25 (25 Prozent) ergibt. Das ist die Wahrscheinlichkeit, dass es an keinem der beiden Tage regnen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass es regnen wird, beträgt also 75 Prozent. Vgl. John Allen Paulos, Innumeracy: Mathematical Illiteracy and Its Consequences, New York 1988.
Vgl. Gerd Gigerenzer et al., "A 30% Chance of Rain Tomorrow": How Does the Public Understand Probabilistic Weather Forecasts?, in: Risk Analysis 3/2005, S. 623–629.
Doch selbst Meteorologen sind nicht immer einer Meinung. Beispielsweise erklärte das Königlich-Niederländische Meteorologische Institut 2003 die Regenwahrscheinlichkeit durch eine Kombination aus "Region" und "subjektiver Sicherheit des Meteorologen". Vgl. ebd.
Vgl. Ann Furedi, The Public Health Implications of the 1995 "Pill Scare", in: Human Reproduction Update 5/1999, S. 621–626.
Vgl. Gerd Gigerenzer, Dread Risk, September 11, and Fatal Traffic Accidents, in: Psychological Science 4/2004, S. 286f.; ders., Out of the Frying Pan into the Fire: Behavioral Reactions to Terrorist Attacks, in: Risk Analysis 2/2006, S. 347–351. Nachfolgende Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen.
Zit. nach Daveed Gartenstein-Ross, Bin Laden’s "War of a Thousand Cuts" Will Live On, 3.5.2011, Externer Link: http://www.theatlantic.com/international/archive/2011/05/bin-ladens-war-of-a-thousand-cuts-will-live-on/238228.
Vgl. Paul Slovic, Perception of Risk, in: Science 4799/1987, S. 280–285. Ich verwende den Begriff, wie im Text angegeben, in einem engeren Sinne.
Vgl. Mirta Galesic/Rocio Garcia-Retamero, The Risks We Dread: A Social Circle Account, in: Plos One 4/2012, Externer Link: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0032837.
Vgl. Stefan Schneider, Homo Oeconomicus oder doch eher Homer Simpson?, Deutsche Bank Research, 30.4.2010.
Vgl. z.B. den "sanften Paternalismus" bei Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin 2009.
Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift 12/1784, S. 481–494, hier S. 481.
Vgl. John Stuart Mill, On Liberty, London 1869.
| Article | Gigerenzer, Gerd | 2023-07-07T00:00:00 | 2022-06-01T00:00:00 | 2023-07-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/risikokompetenz-2022/508885/psychologie-des-risikos/ | Risikokompetente Bürger sind unverzichtbare Säulen einer freien Gesellschaft. Um risikokompetent zu sein, brauchen wir ein intuitives Verständnis von Psychologie und Statistik. | [
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Die Salafiyya – eine kritische Betrachtung | Islamismus | bpb.de | Salafiyya ist kein neues Phänomen des Islams. Bereits im neunten Jahrhundert trat Ahmad Ibn Hanbal mit der Forderung auf, die reine Textgläubigkeit zur religiösen Vorgabe zu machen. Dort, wo die Texte nicht offensichtlich genug sind, sollen sie nach dem Verständnis der Salaf/Altvorderen ausgelegt werden. Ibn Hanbals Einstellung war Ausdruck einer tiefen Abneigung gegen Philosophie, Logik und Verstand. So argumentierte er: "Ich bin keine Person der Diskussion/Philosophie und Kalam/Theologie. Ich bin nur eine Person der Überlieferungen und Berichte." Damit wollte er sich in aller Deutlichkeit von der Mu'tazila distanzieren. Dabei handelt es sich um diejenigen Muslime, die Verstand und Vernunft als Grundlage für den Umgang mit der göttlichen Offenbarung nutzten und den Islam lange Zeit prägten. Die Salafiyya wirft der Mu'tazila vor, sie würde dem Verstand Vorrang gegenüber der Tradition geben.
Die Ideenwelt Ibn Hanbals war Reaktion auf die politische Krise der damaligen islamischen Welt. Das Kalifat war von internen Machtkämpfen durchsetzt, die islamischen Eroberungen stockten oder waren nicht mehr Teil des Machtkalküls der herrschenden Elite am Kalifenhof in Bagdad. Diesem Zustand erklärte Ibn Hanbal damit, dass sich die damaligen Muslime durch Philosophie, Auslegung und Interpretation der Korantexte zu sehr von Gott entfernt hätten. Erst eine Rückorientierung und die direkte Anknüpfung an die ersten Gläubigen könnten demnach die Muslime aus ihrer Krise führen. Hier wird ein utopisches goldenes Zeitalter in den Gründergenerationen des Islams konstruiert und als Quelle jeglicher islamischer Praxis definiert. Der Weg in dieses utopische Zeitalter führt nach Ibn Hanbal nur über den Koran in seiner uninterpretierten, wörtlichen Fassung und über die Aussagen der Sunna bzw. die Tradition der Altvorderen.
Diese Vernunftfeindlichkeit im Bezug auf die Auslegung des Korans und das starre und weitestgehend unkritische Festhalten an der Tradition prägen auch heute das salafistische Denken und die salafistische religiöse Praxis. Ibn Hanbal lehnte die "Kultur der Ambiguität", der Mehrdeutigkeit, ab. Sie führte im Islam zu Ausdifferenzierungsprozessen und Variationen der Gottesvorstellungen bis hin zu Abweichungen in sozialer Organisation, Ritual und Textbezug. Diese Vielfalt prägte und prägt den Islam. Für die Salafisten ist diese Vielfalt eine Gefahr, die den Islam schwächt. Bei der Salafiyya handelt es sich um eine Ausrichtung des sunnitischen Islams hanbalitischer Ausprägung.
Die religiöse Grundlage der Salafiyya
Anhänger der Salafiyya sind Muslime, die für sich in Anspruch nehmen, den Weg ins Paradies zu kennen. Allen anderen Muslimen, die den Lehren der Salafiyya nicht folgen, erkennen sie das Muslimsein ab. Diese dualistische Weltanschauung prägt ihr Denken und Verhalten in allen Lebenslagen. Die Grundlage ihres Glaubens ist neben dem Koran die Wegweisung des Propheten Mohammed, wie sie in der Sunna/Prophetentradition überliefert ist. Die unveränderliche Befolgung der Tradition und ihre ständige Nachahmung ist ihre zentrale Forderung. Daher bezeichnen sie sich auch als ahl al-hadith/Anhänger der Prophetenaussagen oder ahl-al-salaf/Anhänger der Altvorderen. Sie betonen damit, dass sie stets die Handlungen, Aussagen, ja die gesamte Epoche des Propheten Mohammed in die Gegenwart projizieren und in der Praxis ausleben. Sie sind überzeugt, dass nur durch die Nachahmung des Verhaltens Mohammeds und seiner Gefährten in allen Lebensumständen die religiösen Gebote des Korans eingehalten werden können. Dabei gilt die Vermischung von göttlichen Anweisungen und menschlichen Gedanken als Sünde. Somit ist alles, was nicht in der Sunna des Propheten verankert ist, als eine verbotene Innovation/ bid´a zu betrachten. Die Salafiyya fordert die wörtliche Auslegung des Korans, jegliche allegorische Deutung ist für sie ein Missbrauch. Vertreter anderer Glaubensauffassungen innerhalb des Islams, die dies tun, gelten damit als Ungläubige, die mittels des Jihads bekämpft werden müssen.
Die Idealisierung der islamischen Urgemeinschaft in Medina und die Betonung der göttlichen Vorherbestimmung bieten der Salafiyya die Möglichkeit, die Konflikte nach dem Tode des Propheten auszublenden. Tatsächlich war die von der Salafiyya als Ideal definierte Zeit voller innerislamischer Machtkonflikte: Drei der ersten vier Kalifen wurden ermordet, es kam zu heftigen Kriegen und schließlich wurde die Familie des Propheten regelrecht ausgelöscht. Die Salafiyya blendet diese Ereignisse aus und idealisiert die Personen dieser Epoche. Mörder und Ermordete sind im gleichen Maße Vorbild, denn die Salafiyya weigert sich, über die beteiligten Kontrahenten zu richten und erklärt die Ereignisse, die zur Ermordung der Familie des Propheten führten, zum göttlichen Willen. Ihren Kritikern begegnet die Salafiyya mit dem Argument, dass es in dieser Zeit die größten militärischen Erfolge der islamischen Eroberung gab.
Die Vitalität dieser ersten Eroberergenerationen sei das Produkt ihres besonderen Islamverständnisses. Aus dieser Argumentation wird die politische Mission der Salafiyya deutlich. Sie urteilt nicht moralisch, sondern machtpolitisch. Mit der Überbetonung der Tradition und dem Verbot des innovativen Denkens in religiösen Fragen wächst die Notwendigkeit, möglichst viele Aussagen des Propheten zusammenzutragen. Diese Prophetentradition ist für alle Muslime von zentraler Bedeutung. Jedoch lehnt die Salafiyya auch hier die Vielfalt der Auslegung dieser Traditionen ab. Damit werden andere islamische Konfessionen, die die Worte des Propheten anders verstehen und ausleben, als unislamisch zurückgewiesen und wenn die Möglichkeit besteht, offen bekämpft. Innerhalb der Salafiyya kommt es zur "Vergesetzlichung" der Lehren des Islam. Der Koran mutiert zu einer Bedienungsanleitung. Einer Bedienungsanleitung, die nicht die Bedürfnisse heutiger Gesellschaften regelt, sondern dem Verständnis einer beduinischen Tradition des siebten Jahrhunderts entspricht. Heutige Lebenswirklichkeiten werden über abenteuerliche Analogien unter der Vorgabe, dass Verstand und Vernunft nicht zur Anwendung kommen dürfen, mit damaligen Situationen gleichgesetzt. Entscheidungen und Ratschläge werden aus ihrem zeitlichen bzw. historischen Kontext gerissen und in die Gegenwart katapultiert. Die Idealisierung der frühislamischen Zeit produziert eine rückwärts orientierte Utopie, die durch die strikte Einhaltung des Gesetzes erreicht werden soll.
In der Praxis reduziert die Salafiyya die Lehren des Islams auf das äußere Erscheinungsbild der Gläubigen. Aussehen, Kleiderordnung und Verhaltensvorschriften werden vorgegeben und als zentrale Merkmale eines Muslims deklariert. Wer diese Vorschriften nicht im Detail umsetzt, wird der Apostasie (Abfall vom Glauben) bezichtigt. Auch hierin unterscheidet sich die Salafiyya selbst vom orthodoxen sunnitischen Islam diametral. Diese Diskrepanz kann man u.a. damit erklären, dass viele Vertreter der Salafiyya im Unterschied zur traditionellen religiösen Geistlichkeit ('ulama') nicht über eine fundierte religiöse Ausbildung verfügen. Es sind vielmehr theologische Laien und Freizeitprediger.
Die Salafiyya hat sich zum Ziel gesetzt, den Ur-Islam und seine damaligen Kulturzustände wiederherzustellen. Sie lehnt es ab, die Aussagen der Scharia fortzuentwickeln und will den Islam von allen Zusätzen und Erweiterungen reinigen. Dabei sind sie theologisch betrachtet selbst eine Neuerung, eine Anmaßung, die weder im Koran noch in der Prophetentradition Erwähnung findet.
Salafiyya – die Politisierung des Sakralen
Die Salafiyya ist das islamische Projekt der Politisierung des Sakralen. In vielen islamischen Staaten ist sie eine aufsteigende politische Kraft, eine Gegenelite, die für sich beansprucht, eine Gesellschaft göttlichen Willens zu etablieren. Dabei handelt es sich bei der Salafiyya nicht um eine lokalisierbare Organisation. Vielmehr ist sie eine weltumspannende Geisteshaltung, eine Idee, die von losen netzwerkartigen Strukturen und flachen Hierarchien geprägt wird.
Der gemeinsame Nenner aller Salifiyya-Bewegungen ist in erster Linie der Bezug zu den Lehren des Islam und der Anspruch, das einzig wahre Verständnis vom Islam zu besitzen. Ihr Islamverständnis verbindet die Salafiyya, gleichzeitig grenzt es sie politisch und religiös von anderen Muslimen innerhalb und außerhalb islamisch geprägter Gesellschaften ab. Dabei sind Salafisten nicht die einzige politische Bewegung, die sich auf die Lehren des Islams beruft. In vielen Ländern existiert eine Vielzahl von Bewegungen, die sich alle auf den Islam begründen, aber zutiefst verfeindet sind und sich gegenseitig der Apostasie bezichtigen und entsprechend bekämpfen. Kultursoziologisch ist die Salafiyya Ausdruck einer defensiv-kulturellen Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne. Sie artikuliert sich ideologisch aggressiv, denn ihr Ziel ist es, die gesamte Welt nach dem eigenen universalistischen Design islamisch zu gestalten.
Der fundamentalistische Islamprediger Pierre Vogel am 09.07.11 in Hamburg. (© picture-alliance/dpa)
Daher ist die Salafiyya in ihrer aktuellen Gestalt ein Reaktionsmechanismus auf die Krisen islamischer Gesellschaften. Sie agiert auf der Grundlage einer totalitären Weltanschauung, die sowohl das öffentliche wie das private Leben der Menschen zu kontrollieren sucht. Geleitet werden die Salafisten von einer Weltanschauung, nach der der Islam eine absolut gültige Wahrheit darstellt, die durch Gottes Wort im Koran offenbart und dokumentiert wurde. Eine Annahme, die alle monotheistischen Religionen bezüglich ihrer jeweiligen Glaubensinhalte gemeinsam haben, wenn da nicht ein entscheidender Unterschied wäre: Durch die Politisierung dieser Überzeugungen stellen die Salafisten ein Herrschaftskonzept auf, das den Islam als al-hall al-Islami/die islamische Lösung für alle sozialen, wirtschaftlichen und organisatorischen Bereiche der Umma/islamischen Gemeinde sieht.
Das Konzept regelt das Verhältnis der Menschen untereinander und macht Vorschriften für alle Dinge des Alltags. Es definiert die Beziehung der Gläubigen zu den Ungläubigen sowohl im Staat als auch nach außen und liefert die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Herrschaft. Hierin sind zwei zentrale Charakteristika salafistischer Bewegungen wiederzufinden, die in allen Organisationen vertreten werden: die universalistisch-totalitäre Eigenschaft bestimmt erstens alle Bereiche der Gesellschaft und bedeutet auch die Aufhebung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Und zweitens die Ablehnung des Nationalstaats als Ordnungseinheit innerhalb des internationalen Systems zu Gunsten des Umma-Begriffes, der keine nationalstaatlichen Grenzen anerkennt und den Staatsbürgerbegriff negiert. Nach ihrer islamischen Überzeugung verbindet das Zugehörigkeitsgefühl zur khair Umma/besten Gemeinschaft (Koran 3/110) alle Muslime. Daraus leitet die Salafiyya ab, dass alles Handeln und Streben eines Muslims sich zu jeder Zeit am Wohl des Islams orientieren muss, denn alle Vorschriften für das individuelle Verhalten sind als Pflichten gegenüber Gott zu verstehen. Damit steht die islamische Offenbarung uneingeschränkt im Mittelpunkt des Interesses und das Individuum hat sich dem Gemeinwohl unterzuordnen. Die Salafiyya erhebt für ihr Islamverständnis einen Universalitätsanspruch.
Es ist eine Forderung, die der Vorstellung entspringt, dass der einzige Gott seine Lehre für die gesamte Menschheit als einen Weg zur Erlösung offenbart hat. Da alle Menschen Gottesgeschöpfe sind, gilt es, sie davon zu unterrichten und ihnen damit die Möglichkeit der Erlösung zu bieten. Die Salafisten politisieren diesen Anspruch und bestehen darauf, den von ihnen interpretierten Befehl Gottes, die Welt zu islamisieren, durchzusetzen. Die Autorität des religiösen und gleichermaßen politischen Führers gründet auf der uneingeschränkten Souveränität Gottes. Der Führer leitet die Umma/Gemeinschaft der Gläubigen und setzt den göttlichen Willen durch. Da´wa/Einladung zum Islam ist nach salafistischer Leseart die Hauptaufgabe des islamischen Staates. Eine Aufgabe, die notfalls auch mit dem Jihad kriegerisch erfüllt werden muss. Ein weiterer Aspekt wird durch Tauhid/die Einheit Gottes impliziert. Tauhid ist ein theologischer Begriff, der Gott als den absolut Einen beschreibt. Neben Gott soll keine weitere Autorität akzeptiert werden. Damit ist für die Salaffiyya-Anhänger jede Gesetzgebung, die nicht auf den göttlichen Willen fußt, nicht gültig. Sie ist sogar eine Idolatrie (Götzenverehrung), die zur Apostasie führt. Damit ist das politische Projekt der Salaffiyya zutiefst demokratiefeindlich. Salafisten in Ägypten rechtfertigen ihre Teilnahme an den Parlamentswahlen damit, dass sie hierdurch die Da´wa/ Einladung zum Islam effizienter über die staatlichen Strukturen umsetzen können.
Die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten ist durch Machtausübung und Unterordnung charakterisiert. Machtausübung und Unterordnung sind religiöse Pflichten, durch die der Mensch Gott näher kommt. Anhänger der Salafiyya sehen im Koran eine politische Ordnung, gar eine Verfassung. Aus der Koranstelle "Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von euch, welche die Macht besitzen"(4/59) leiten sie für die Gläubigen eine Pflicht zur Unterwerfung gegenüber dem Führer. Somit hat der weltliche Herrscher göttlichen Glanz, ihm ist als dem Gotterwählten Gehorsam zu leisten. Ein starker Führer ist der Garant für die Durchsetzung der Schari´a. Die Schari´a ist das islamische Recht, also alle Gesetze, die in einer islamischen Gesellschaft zu beachten sind. Sie ist aber keine feste Gesetzessammlung. Die Schari´a ist für die Salafisten Quelle und Ziel des Politischen und hat einen totalen Geltungsanspruch. Hierdurch entsteht ein deutlicher Widerspruch zu den Grundlagen des modernen pluralistischen Verfassungsstaates, der sich nicht religiös legitimieren lassen kann.
Die Jugend in den Umbruchstaaten Ägypten, Tunesien und Libyen ist auf die Straße gegangen, um bessere Lebensbedingungen, Demokratie, Freiheit und Schutz der Menschenwürde zu erlangen. Die Salafiyya hingegen mit ihrer dualistischen und menschenfeindlichen Weltanschauung zelebriert gar ihr Unvermögen, eine konstrutkive Rolle zu spielen bei der Lösung sozialer, ökonomischer und politischer Konflikte der Gesellschaften, in denen sie agiert. Salafisten glauben, sie könnten durch die Organisation und Mobilisierung auf Grundlage einer vergangenen Utopie eine andere, bessere Gesellschaft formen. Ihre ideologisch begründete Realitätsverweigerung zeigt sich in der aggressiven Beschneidung der Freiheit Andersdenkender ebenso wie in ihrer Unfähigkeit zur Selbstkritik. Die Salafiyya schafft tiefe Gräben zwischen den Muslimen, spaltet Nationen entlang konfessioneller Linien und provoziert globale Konflikte. In einem solchen System erhalten Nicht-Muslime nur einen nachgeordneten Status mit der Begründung, dass die staatstragende Ideologie der Islam sei. Und das bedeutet, dass nur wer sich zum Islam bekennt, bei der Organisation des Staates involviert werden kann. Die Salafiyya ist Geisel einer selbstkonstruierten Tradition und nimmt ihrerseits den Islam in Geiselhaft.
Die Salafiyya und der globale Jihad
Die Salafisten interpretieren Geschichte dualistisch als ewigen Kampf zwischen Glaube und Unglaube. Die logische Konsequenz dieser damit einhergehenden Politisierung des Sakralen ist für sie der Jihad. Der militante Jihad ist ein Mittel zur Erreichung des utopischen Zustands vom islamisch-salafistischen Frieden. Dabei muss bedacht werden, dass in der Denkstruktur der Salafiyya die Universalität des Islam und der Unglaube Gegensätze sind, die nicht gleichzeitig existieren können. Gott als Schöpfer aller Menschen soll von allen Menschen verehrt werden. Seine Gesetze müssen befolgt werden, damit ein Zustand seelischer Befriedung erreicht werden kann. Nur dadurch kann der Mensch in der Wahrnehmung der Salafiyya seinen natürlichen Platz innerhalb der Schöpfung wiedererlangen. Die Universalität des Islam und die damit verbundene Da`wa seien eine Rettungsaktion für die Menschheit, denn der Islam sei die Religion aller, die Recht, Gerechtigkeit und Freiheit wollen. Ein dichotomes Denkmuster entsteht: Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für das Gute und ordnen ihr Leben nach den von Gott geoffenbarten Regeln und Gesetzen. Die anderen, nämlich die Ungläubigen, erkennen menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden. Diese Gesetze müssen notfalls mittels des Jihads verhindert werden, da alle Gläubigen vor ihnen geschützt werden müssen.
Die Salafiyya will die Gläubigen zusammenschweißen und klare Rollenmuster, Handlungsweisen und Ziele prägen. Ihre Anhänger sollen sich zusammengehörig fühlen und zwischen sich und den anderen unterscheiden, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Unter den Anderen versteht die Salafiyya alle Ungläubige wie Christen oder Juden, aber auch liberale Muslime. Es kann sich auch um Regime, Systeme, Kollektive und Einzelpersonen handeln, die die Gedanken der Salafiyya nicht teilen.
Die Salafiyya will letztendlich die Umma herbeiführen, die Gemeinschaft aller Islamgläubigen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist Gewalt auch gegen Zivilisten ein legitimes Mittel. Die salafistische Weltanschauung erlaubt und fordert gar Gewalt gegen den tagut/ Tyrannen. Sie einigt dadurch alle, die sich als Opfer betrachten und reduziert deren mögliche Schuldgefühle, indem sie die eigene Aggression als Verteidigungshandlung, als Reaktion auf eine vom Gegner ausgehende Verschwörung, Aggression und Unterdrückung darstellt. Jeder Terroranschlag festigt somit die Identität der Kämpfer.
Betrachtet man die Führungselite der Jihad-Salafiyya, so handelt es sich keineswegs um ein reines Armutsphänomen. Jihadisten verstehen sich als Avantgarde des Islams. Die Argumentationslogik der Jihad-Salafiyya beschreibt den eigenen Kampf als Defensivkampf gegen Aggressoren, die islamisches Gebiet besetzen, die Schätze der Muslime plündern und die Bewohner demütigen. Des Weiteren wird die Besatzung und die damit verbundene Unterdrückung in Palästina instrumentalisiert. Damit emotionalisiert die Salafiyya ihre Anhängerschaft und polarisiert gegen die politischen Machthaber innerhalb der islamischen Welt, die unfähig waren, die Palästinenser zu schützen. Dieser Logik folgend haben die Feinde der Salafiyya eine Kriegserklärung an Gott, seinen Propheten und alle Muslime gerichtet. Und da nichts heiliger ist als das Vertreiben eines Feindes, der die Religion und das Leben bedroht, argumentiert die Salafiyya, dass "das Töten von Amerikanern und deren Verbündeten, ob Zivilisten oder Soldaten, die Pflicht eines jeden Muslims ist, der dazu fähig ist, egal, in welchem Land er die Möglichkeit dazu hat, um ihre Armeen aus allen Gebieten des Islam zu vertreiben, besiegt und unfähig, einen einzigen Muslim zu bedrohen".
Die Salafiyya und ihr Jihad verdeutlichen das Unvermögen einer ganzen Generation, am gesellschaftlichen Geschehen teilzunehmen. Der von der Salafiyya proklamierte Jihad entspringt einer Weltanschauung, die keineswegs mit dem Problem der Armut erklärt werden kann. Die Hauptakteure salafistischer Bewegungen vertreten einen machtpolitischen Anspruch. Ihre Strategien sind vielfältiger Natur. Die Bewegung teilt sich in Eliteformationen, die aus den "wahren“ Gläubigen bestehen, und Sympathisanten. Die Eliten sind die Träger und Verbreiter der Ideologie. Meist verstehen diese sich als Avantgarde, die die Muslime in das goldene Zeitalter des Islam zurückführen wird. Dabei geht es ihnen stets darum, sich als Erlöser zu präsentieren. Der gemeinsame Nenner vieler Sympathisanten der Salafiyya ist die Tatsache, dass es sich bei ihnen oft um gesellschaftliche Verlierer handelt.
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Die Salafisten schaffen es, mit ihrer religiös-totalitären Weltanschauung desorientierte Jugendliche zu mobilisieren. Die Salafiyya prosperiert unter den Bedingungen einer fortschreitenden "Vermassung der Gesellschaft": Junge Menschen, die unter dem Verlust sozialer Zuordnung leiden und nach Identität und Geborgenheit suchen, fühlen sich in den totalitären Gedanken der Salafiyya beheimatet. Sie steht für Rückzug, Identitätssuche, das Beharren und die Angst vor vermeintlichen Sünden. Sie definiert Gut und Böse, indem sie einen vermeintlich "reinen" Islam predigt. Ihr Erfolg resultiert daraus, dass die Salafiyya sich als sinngebende gesellschaftliche Formation darstellt, die Widerstand leistet gegen eine zunehmende Entzauberung des Göttlichen. Das beinhaltet gleichermaßen eine revolutionäre Gedankenwelt gegen die Moderne und all diejenigen, die für die Schwäche des Islams verantwortlich gezeichnet werden und ist eine sich konservativ gebende Ideologie, die die goldene Zeit des Islams beschwört. Diese Gleichzeitigkeit von revolutionärem Chaos und religiös-kultureller Kontrolle übt eine Faszination aus, die viele junge Menschen erreicht. Das salafistische Projekt vermittelt ihnen das Gefühl, Zeitgeschichte zu schreiben, da sie sich aus Sicht der Salafiyya nicht nur gegen die vorherrschenden Autoritäten auflehnen, sondern sich auch auf Gottes Seite positionieren. In ihren Kritikern und Gegnern sehen sie Anhänger des Teufels. Die Mitglieder und Sympathisanten der Salafiyya steigen somit auf zu Gotteskämpfern.
Hannah Arendt beschreibt totalitäre Bewegungen als Träger von Weltanschauungen, die die politische Ortlosigkeit der Massen durch die Artikulation übermenschlicher Gesetze von Geschichte und Natur aufzuheben suchen. Die Salafiyya erfüllt diese Beschreibung hinreichend.
Der fundamentalistische Islamprediger Pierre Vogel am 09.07.11 in Hamburg. (© picture-alliance/dpa)
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Hanbal b. Ishaq (1977): Dhikr mihnat al-imam Ahtnad b.Hanbal, Cairo, 1977, S. 54.
Thomas Bauer (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin
Al-Harmassi, Abd-Al-Mağid stellt fest, dass die Zersplitterung islamistischer Organisationen ein verheerendes Ausmaß erreicht hat und beschreibt die Situation im arabischen Maghreb, wo er alleine in Marokko dreiundzwanzig offizielle und mehr als hundertundfünfzig inoffizielle Abspaltungen zählt, die sich nur in kleinen Nuancen voneinander unterscheiden. Vgl. hierzu al-Harmassi, Abd-Al-Mağid (2001): Al-Harakat al-islamiyya fi al- Maghreb al-arabi (die islamischen Bewegungen im arabischen Maghreb), in: Hamad, Mağdi (2001): Al-harakat al-islamiya wa-al-dimuqratiya, dirasat fi al-fikr wa-l-mumarasa (die islamischen Bewegungen und die Demokratie, Studien über Ideen und Praxis), 2. Auflage, Beirut, S. 297
Arendt, Hannah (1968): Totalitarianism. Part Three of The Origins of Totalitarianism. San Diego, New York, London.
vgl. Mooren, Thomas (1991): Macht und Einsamkeit Gottes. Dialog mit dem islamischen Radikal-Monotheismus. Altenberge
Hourani, Albert (1962): Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939, London, S. 1-24.
Vgl. Btaji, Mohamad (Hrsg) (o.D.): Die Schriften von Mohamad Bin abd-al wahab, Riad.
Abou Taam, Marwan, Bigalke, Ruth (Hrsg.) (2006): Die Reden des Usama Bin Ladens, München S.76f.
Vgl. Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, S. 505.
Vgl. Weber, Max (1917/19): Wissenschaft als Beruf. Politik als Beruf, herausgegeben von: Mommsen, Wolfgang J. /Schluchter, Wolfgang, Tubingen 1992, S. 100f.
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., S. 607 ff.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-06-14T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/138468/die-salafiyya-eine-kritische-betrachtung/ | Schon im neunten Jahrhundert formulierte Ahmad Ibn Hanbal die zentrale Forderung der Salafiyya: Der Koran sei wörtlich und uninterpretiert zu verstehen, im Zweifel so, wie ihn die Altvorderen (Salaf) verstanden haben. Marwan Abou Taam beleuchtet die | [
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